Transkulturalität und Translation: Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext 9783110556438, 9783110555745

An international array of scholars working in the field of medieval German language provide a glimpse into the multifold

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German Pages 363 [364] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil I: Annäherungen – Transkulturalität
Sizilien: Eine Insel der Begegnung der Kulturen
Ästhetik der Polyphonie
Virginia Woolf liest Christine de Pizan
Teil II: Mittelalterliche Literatur als Imaginationsund Reflexionsraum
Teil II.1: Grenznarrative und Grenzlogiken
Über Grenzen. Narrative des Mittelalters
Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären
Fluid Texts, Distant Worlds
Teil II.2: Kulturwissenschaftliche Kategorien und literarische Konkretionen
Zorn als ‚glokales‘ Ereignis
Raum, Leib, Bewegung: Aspekte der Raumgestaltung in Gottfrieds Tristan
Anerkennung und Vertrauen
Das narrative Potential des Eremiten
Teil II.3: Mythen
Der Mythos von Odins Auge
Ende eines Mythos? Die Nibelungen im 21. Jahrhundert
Teil III: Mehrsprachigkeit – Brücken und Mauern
The Transcultural Multilingualism of the Strasbourg Oaths and its Modern Legacy
Sprachen als Brücke, Sprachen als Barriere
Mauern, Brücken und Orchideen
Teil IV: Translationen in und zwischen europäischen Literaturen
Erzählen in transkultureller Perspektive
Ein Hund, ein Sohn, eine Frau
Sprichwörtliche Tiere
Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta
Transkulturelle Gärten
Im Kreuzfeuer von Genus, Gender und Geschlecht
Teil V: Europa und die außereuropäische Welt
„Weltliteratur“ – Indisches bei Goethe
Übertragungen zwischen Alter und Neuer Welt
Register
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Transkulturalität und Translation: Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext
 9783110556438, 9783110555745

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Transkulturalität und Translation

Transkulturalität und Translation Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext Herausgegeben von Ingrid Kasten und Laura Auteri

ISBN 978-3-11-055574-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055643-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055589-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Ebstorfer Weltkarte, ca. 1300, wahrscheinlich im Ebstorfer Kloster (Lüneburger Heide). https://de.wikipedia.org/wiki/Ebstorfer_Weltkarte#/media/File:Ebstorfer-stich2.jpg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

| Für John Greenfield

Vorwort Die Planung des vorliegenden Bandes geht auf eine amerikanisch-deutschitalienische Initiative zurück, an der die Herausgeberinnen und Arthur Groos Jr. (Cornell University) sowie vor allem Ann Marie Rasmussen (University of Waterloo, Canada) beteiligt waren. Anlass war das zehnjährige Bestehen (und damit auch der Abschluss) des von der Europäischen Kommission geförderten Projekts „Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im europäischen Kontext“ (GLITEMA = „German Literature in the European Middle Ages“), das John Greenfield (Universidade do Porto) initiiert hat. In diesem Rahmen konnten von 2006 bis 2016 Intensivprogramme und postgraduierte Studiengänge (European Master / Erasmus Mundus) angeboten werden. In Kooperation mit anderen Universitäten, unterstützt auch von vielen Kolleginnen und Kollegen inner- und außerhalb Europas, hat John Greenfield dieses Projekt in leitender Funktion maßgeblich verantwortet. Mit seiner britisch-deutschen Herkunft und seinem Wirken als Altgermanist in Portugal steht er nicht nur beispielhaft für den Erfolg, den die literaturwissenschaftliche Mediävistik in der Gegenwart haben kann, sondern auch für eine neue europäische Transkulturalität, für welche die Vorstellung einer translatio studii leitend ist, in der die Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen nicht durch nationale Vorrangansprüche geprägt und eingeengt werden. Das Nachdenken über Transkulturalität und Translation, zu dem der vorliegende Band anregt, soll daher nicht zuletzt die Aktivitäten von John Greenfield würdigen, der sich um die Internationalisierung der Mediävistik besonders verdient gemacht hat. Wir freuen uns sehr, dass viele Kolleginnen und Kollegen, darunter ungewöhnlich viele aus nicht deutschsprachigen Ländern, unserem Aufruf zu einem Beitrag spontan gefolgt sind und damit die Internationalität des Fachs in diesem Band exemplarisch wie programmatisch repräsentieren. Ohne die unerwartete Unterstützung von vielen Seiten wäre dieser Band allerdings wohl nicht zustande gekommen. Für vielfältige Hilfe möchten wir hier vor allem Martin Baisch (Universität Hamburg), Elke Koch (Freie Universität Berlin) und Harald Haferland (Universität Osnabrück) danken. Dank gilt auch Christoph Semmler mit seiner lateinischen Expertise und nicht zuletzt Ina Spetzke, die eine unschätzbare Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung des Bandes gewesen ist. Laura Auteri und Ingrid Kasten Palermo / Berlin, April 2017

Inhalt Ingrid Kasten  Einleitung | 1

Teil I: Annäherungen – Transkulturalität  Laura Auteri, Palermo  Sizilien: Eine Insel der Begegnung der Kulturen | 21 Annette Gerok-Reiter, Tübingen  Ästhetik der Polyphonie. Der frühe deutschsprachge Minnesang | 29 Lydia Miklautsch, Wien  Virginia Woolf liest Christine de Pizan | 49

Teil II: Mittelalterliche Literatur als Imaginations- und Reflexionsraum  Teil II.1: Grenznarrative und Grenzlogiken  Mireille Schnyder, Zürich  Über Grenzen. Narrative des Mittelalters | 71 Elke Koch, Berlin  Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären | 85 Markus Stock, Toronto  Fluid Texts, Distant Worlds. Transculturality und Translatability in German Alexander Romances | 101

X | Inhalt

Teil II.2: Kulturwissenschaftliche Kategorien und literarische  Konkretionen  Evamaria Freienhofer, Berlin  Zorn als ‚glokales‘ Ereignis. Differenz und Zugehörigkeit in Aliscans und Willehalm | 111 Ingrid Kasten, Berlin  Raum, Leib, Bewegung: Aspekte der Raumgestaltung in Gottfrieds Tristan | 127 Martin Baisch, Hamburg  Anerkennung und Vertrauen. Günstlingsdiskurse in der Vormoderne | 145 Elisabeth Schmid, Würzburg  Das narrative Potential des Eremiten | 161

Teil II.3: Mythen  Larissa Naiditch, Jerusalem  Der Mythos von Odins Auge | 181 Michael Dallapiazza, Bologna  Ende eines Mythos? Die Nibelungen im 21. Jahrhundert | 191

Teil III: Mehrsprachigkeit – Brücken und Mauern  Sara S. Poor, Princeton  The Transcultural Multilingualism of the Strasbourg Oaths and its Modern Legacy | 205 Heinz Sieburg, Luxemburg  Sprachen als Brücke, Sprachen als Barriere | 217 Kristýna Solomon, Olomouc  Mauern, Brücken und Orchideen | 235

Inhalt | XI

Teil IV: Translationen in und zwischen europäischen Literaturen  Elisabeth Lienert, Bremen  Erzählen in transkultureller Perspektive | 243 Ingrid Bennewitz, Bamberg  Ein Hund, ein Sohn, eine Frau. Ziemlich beste Freunde und Feinde | 253 Álvaro Alfredo Bragança Júnior, Rio de Janeiro  Sprichwörtliche Tiere | 263 Luisa Rubini Messerli, Zürich  Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta. Zu zwei deutschen Übersetzungen aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert | 277 Stefan Matter, Freiburg/Schweiz  Transkulturelle Gärten. Zu den Ausgaben des Hortulus animae | 293 Catherine Squires, Moskau  Im Kreuzfeuer von Genus, Gender und Geschlecht. Deutsch-russischer Kulturtransfer um 1500 | 301

Teil V: Europa und die außereuropäische Welt  Volker Mertens, Berlin  „Weltliteratur“ – Indisches bei Goethe | 317 Christian Kiening, Zürich  Übertragungen zwischen Alter und Neuer Welt. Der Kolumbusbrief und seine Versionen | 331 Register|339 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 349

Ingrid Kasten

Einleitung Die Ursprünge der Germanistik in einer nationalen Bewegung machen es im Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung notwendig, die epistemologischen Grundlagen der Disziplin auf den Prüfstand zu stellen. Dies gilt nicht allein für die Germanistik, sondern für die Literaturwissenschaften allgemein.1 Sie alle sind verankert in Nationsbegriffen des 19. Jahrhunderts und entstanden im Rahmen nationaler, von kulturellen Vorrangansprüchen geprägten Strömungen, die sich selbst als ‚modern‘ und nicht selten in Abgrenzung zur klassischen Philologie konstituierten. Hierin liegen Ursprung und Erbe auch der germanistischen Mediävistik. Die Engführung von Literaturwissenschaft und Nation ist zwar in den letzten Jahrzehnten nachhaltig in Frage gestellt worden, wobei allgemeine und daher für viele andere Disziplinen anschlussfähige Kategorien – wie zum Beispiel Erzählen, Medialität, Raum und Zeit, Gender, Identität, Emotionalität – als leitende Paradigmen fungiert haben. Die Begriffe Nation und Nationalität werden deshalb mitunter für tot, obsolet und altmodisch erklärt, die damit verbundenen Vorstellungen aber bleiben verwurzelt in politischen Systemen, Territorien und grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen, durch welche die Menschen Modalitäten von Zugehörigkeit und Exklusion für sich selbst und andere schaffen. Die Einsicht, dass es in der globalisierten Welt neuer Anstrengungen bedarf, um die Verflechtungen der Kulturen2 in ihrer nicht zuletzt auch politischen Dynamik und ihren mehrdimensionalen historischen Schichtungen zu erfassen, hat zu einer intensivierten Suche nach neuen leistungsfähigen Kategorien und Metaphern geführt, die diesem Anspruch gerecht zu werden versprechen. In diesem Prozess haben zunächst die Begriffe der Multi- und Interkulturalität eine wichtige Rolle gespielt. Während der erste die Pluralität betont, ohne das Miteinander explizit anzusprechen, wird mit dem zweiten der Akzent auf den Austausch, auf produktive Interaktionen zwischen Kulturen gelegt. In der wissenschaftlichen Diskussion ist dem gegenüber betont worden, dass Kulturen

|| 1 Mit Blick auf den Umbruch, in dem sich die Literaturwissenschaften seit längerem befinden, hatten die Herausgeber der Deutschen Vierteljahrsschrift sich entschlossen, zum Ende des Jahres 2015 ein Sonderheft Zur Lage der Literaturwissenschaft herauszugeben, darunter auch ein Beitrag, in dem Christian Kiening (2015, 623) sich für die Etablierung einer Allgemeinen Mediävistischen Literaturwissenschaft ausspricht. 2 Gemeint ist hier mehr die inhaltliche als die extensionale Seite von Kultur, vgl. Welsch 2010, 39–42.

DOI 10.1515/9783110556438-001

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permanent Prozessen unterworfen sind, die zu vielfältigen Überlagerungen und Verflechtungen führen, welche die genannten Begriffe nicht in adäquater Weise abbilden. Die inzwischen viel diskutierte Kategorie der Transkulturalität scheint dieses Potential eher zu besitzen (vgl. dazu Mersch 2016). Das Präfix trans markiert die Setzung einer Grenze ebenso wie deren Überschreitung und öffnet damit einen Raum für die Erkundung von dynamischen Prozessen, Überlagerungen, Verschiebungen und hybriden Strukturen innerhalb einer Kultur wie auch zwischen verschiedenen Kulturen. Die Frage nach der Herkunft und nach der Entwicklung des Begriffs der Transkulturalität zeigt,3 dass er auch aus einem Unbehagen an dem Begriff der Nation heraus entstand und in der Reaktion auf die Globalisierung an Kontur gewonnen hat. Als Kategorie der Analyse wurde er zunächst vor allem auf Gesellschaften der Gegenwart bezogen, wobei wohl die Vorstellung mitspielte, dass Transkulturalität ein Phänomen der Moderne sei. Es ist gewiss nicht zu bestreiten, dass die fortschreitende Technisierung und Medialisierung der Welt zu immer neuen Verflechtungen und dichteren Vernetzungen und zu einer Globalisierung in zuvor unbekanntem Ausmaß geführt haben. Aber es ist gleichwohl erstaunlich, dass die Transkulturalität der vormodernen europäischen Kulturen zunächst nicht in den Fokus rückte, obwohl der Begriff der Nation diesen Kulturen im heutigen Sinn fremd war und sie gerade deshalb reichhaltiges Material für die Untersuchung von historischer Transkulturalität liefern. Vermutlich geschah dies deshalb, weil ‚das Mittelalter‘ im Diskurs über ‚die Moderne‘ antithetisch als monolithische Einheitskultur (mit positivem oder negativem Vorzeichen) entworfen wurde (vgl. etwa Geary 2007). Ausgeblendet wurde dabei, dass die europäischen Kulturen der Vormoderne von einem intensiven Austausch über linguistische, geographische und religiöse Grenzen hinaus geprägt waren. Die mittelalterlichen Kulturen Europas sind paradigmatisch zum einen in ihrer historischen und politischen Alterität und zum anderen für mehrsprachige Gesellschaften, in welcher Identität (noch) nicht maßgeblich von nationaler Zugehörigkeit bestimmt wird. Sie bieten sich daher als Reflexionsraum für eine globalisierte Gegenwart an, in der kulturelle Alterität als relationale Struktur von Ähnlichkeit und Differenz4 oft nur auf synchroner Ebene gedacht wird.

|| 3 Vgl. dazu Mersch (2016), die noch weitere Begriffe wie Rhizom und Palimpsest auf ihre Brauchbarkeit befragt. Die Diskussion über die Kategorie der Transkulturalität ist maßgeblich durch mehrere Studien von Wolfgang Welsch angeregt worden; ich verweise hier nur auf Welsch 2010. 4 Zu dieser nicht unumstrittenen Kategorie und einem Plädoyer für ihre Beibehaltung vgl. Kiening 2015.

Einleitung | 3

Wenn der Blick nicht darüber hinaus auch auf die diachrone Ebene gerichtet wird, führt dies zu einer Verkürzung der Denk- und Wissensmöglichkeiten. Alterität, Transkulturalität und Translation sind Kategorien, die in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik wichtige Ansatzpunkte bilden für die Reflexion über die historische Bedingtheit und Verfasstheit der heutigen Welt, in der Identität zunehmend nicht mehr ‚monologisch‘, sondern als ein vielschichtiges Phänomen verstanden wird. Vor allem die Geschichtswissenschaft hat viele Anstrengungen unternommen, um das Bild vom ‚einheitlichen Mittelalter‘ zu korrigieren (Kasten 2006). Sie hat auch die Diskussion über den Begriff der Transkulturalität vorangetrieben (vgl. etwa Borgolte / Tischler 2011), der in diesem Band als eine der Leitkategorien dient und damit die Frage aufwirft, ob und wie er in der mediävistischen Germanistik produktiv gemacht werden kann. Er zielt auf die Erfassung von Verflechtungen, hybriden Überlagerungen und Schichtungen, die in der Literatur sowie bei ihrer Produktion und Rezeption zu beobachten sind. Auf eine spezifischere Definition wurde verzichtet, um die Auseinandersetzung mit dem Begriff nicht von vornherein einzuengen. Neben Transkulturalität fungiert der Begriff der Translation als weiterer Leitbegriff. Mit ihm sind Austausch- und Vermittlungsprozesse gemeint, die sich vor allem auf die Sprache und die Literatur und ihre spezifischen Bedingungen in der semi-oralen Kultur des Mittelalters beziehen. Mit dem Fokus auf den Literaturen der europäischen Vormoderne sind Zusammenhänge mit außereuropäischen Kulturen keineswegs ausgeschlossen; sie haben in der Literaturgeschichte allerdings weniger Bedeutung erlangt und kommen in diesem Band nur am Rande in den Blick. In den Beiträgen läuft implizit, aber auch explizit die Frage mit, welchen Beitrag das Fach als Teil der Literaturwissenschaft, der Germanistik und der Mediävistik leisten kann, um die Reflexion über die Gegenwart aus historischer Sicht zu fördern. Dies schließt die Frage nach einem Verständnis von Geschichte ein, das nicht von einer folgerichtigen ‚Entwicklung‘ ausgeht, sondern mit Brüchen, Verschiebungen und unvorhersehbaren Konfigurationen rechnet. Als genuin interdisziplinäres Fach arbeiten die Vertreterinnen und Vertreter der Mediävistik mit einer großen Bandbreite an Methoden, um die vielfältigen und unterschiedlichen Bedingungen und Umstände zu erforschen, welche die vormoderne Produktion von Kultur und somit auch von literarischen Texten formten. Hierzu gehören soziale, politische und religiöse Faktoren ebenso wie mediale Bedingungen, die fast immer translinguale und transkulturelle Aspekte aufweisen. Komparatistische und interdisziplinäre Methoden sind daher, wie auch der vorliegende Band zeigt, ein grundlegendes Fundament der germanistischen Mediävistik. Sie überschreiten sowohl fachliche als auch nationale Gren-

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zen. In der Konfrontation mit der Alterität der mittelalterlichen Literatur kann das Fach einen relevanten Beitrag zu den Debatten über die gegenwärtige Kultur Europas und seiner Geschichte entwickeln, indem es zeigt, dass diese Debatten eine lange Geschichte haben und dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, (europäische) Gemeinschaften zu entwerfen und zu leben.

I. Transkulturalität – Annäherungen Die Beiträge im ersten Teil des Bandes stehen exemplarisch für verschiedene Konzepte von Transkulturalität, die an unterschiedlichem Material und mit unterschiedlichen Methoden erprobt werden. So geht Laura Auteri, die den Band mit einem Essay eröffnet, von einem konkreten Raumbegriff aus und wirft am Beispiel Siziliens ein Schlaglicht auf Transkulturalität im Mittelalter und auf die Faszinationskraft der Insel, die bis in die Gegenwart ausstrahlt. Im Mittelalter erlebten der kulturelle Synkretismus und die Vielsprachigkeit am Hof Friedrichs II. eine Blüte. Der Kaiser stammte aus dem schwäbischen Geschlecht der Staufer, sein Vater Heinrich VI. war mit Konstanze von Sizilien verheiratet. Die Grabmäler der Eltern sind noch heute im Dom von Palermo zu besichtigen. Die Insel brachte auch die – europäische Grenzen überschreitende – arabisch-normannische Kunst hervor, die sich in eindrucksvollen Bauten wie dem Dom von Monreale und dem Dom von Cefalù oder den berühmten Bauwerken in Palermo bewundern lässt. Das Bild des multiethnischen Siziliens inspirierte in den späteren Jahrhunderten viele Autoren, darunter auch deutsche, zum Beispiel Christoph Martin Wieland. In seiner Erzählung Clelia und Sinibald oder die Bevölkerung von Lampeduse (1783) landet ein Liebespaar nach einem Schiffbruch in Lampedusa, wo es mit anderen Gestrandeten eine Gesellschaft aufbauen will, die, vom Nord-Süd-Gefälle befreit, glücklicher zu leben hofft. Die Literaturwissenschaften und die Mediävistik können, so das Fazit, zum Wissen über historische Formen von Transkulturalität, über ihre Bedingungen, ihre Erfolge und ihr Scheitern und damit zur Reflexion über Veränderungen in der Gegenwart beitragen. Diesem Potential sollte die europäische Kulturpolitik auch mit ihren Bildungsprogrammen Rechnung tragen. Annette Gerok-Reiter verbindet die Kategorie der Transkulturalität mit den Begriffen Vielfalt, Diversität und Polyphonie und zeigt, wie dieser Ansatz zu einer epistemologischen „Neuperspektivierung mittelalterlicher Textkulturen“ führen kann. In zwei Modellanalysen macht sie deutlich, dass der früheste Minnesang weder als nationales Ursprungsdispositiv noch als Vorstufe, als bloßes

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Übergangsstadium zum ‚Hohen Minnesang‘ angemessen beschrieben wird, sondern dass er eine eigene Ästhetik besitzt, die aus seinerzeit aktuellen Auseinandersetzungen um Minne-, Gender- und Identitätsvorstellungen hervorgehe. Verhandelt werden dabei unterschiedliche Ansprüche im Spannungsfeld von klerikaler und laikaler Kultur. Die textuellen Zeugnisse könnten somit als Modelle eines „durch Pluralität geprägten Aufbruchs“ verstanden werden. Für eine literaturwissenschaftliche Mediävistik, die es vermag, „auf der Basis des tradierten Instrumentariums der Philologien historische Modelle trans- und interkultureller Produktivität analytisch zu erfassen und konstruktiv zu diskutieren“, sieht sie eine zentrale Aufgabe für die Zukunft. Lydia Miklautsch legt ihren Überlegungen wiederum einen anderen Begriff von Transkulturalität zugrunde. Indem sie Texte von Christine de Pizan und Virginia Woolf spiegelbildlich in Korrespondenz zueinandersetzt, überschreitet sie disziplinäre und zeitliche Grenzen. In den Texten der beiden Autorinnen finden sich, wie sie zeigt, überraschend ähnliche Aussagen über die Bedingungen und Schwierigkeiten weiblicher Autorschaft, obwohl die beiden Autorinnen in unterschiedlichen Kulturen und Sprachräumen sowie in zeitlich durch viele Jahrhunderte voneinander getrennten Epochen lebten. Um der damit verbundenen Problematik der Vergleichbarkeit zu begegnen, greift sie auf den Begriff des ‚Echoraums‘ (Christiaan L. Hart Nibbrig) zurück, der es ihr ermöglicht, ‚Stimmen‘ zu einer ähnlichen Problematik als ‚andere Sprache‘ zu fassen, die verschwinden und unter ganz anderen historischen Bedingungen wieder auftauchen kann, ohne dass es eine historische Verbindung gäbe. Das transkulturelle spiegelbildliche Leseverfahren, so Lydia Miklautsch, legt ein kritisches Potential frei, das bei einer ausschließlich historisch orientierten Lektüre verschlossen bliebe.

II. Mittelalterliche Literatur als Imaginations- und Reflexionsraum Es ist wenig überraschend, dass der Begriff der Grenze in vielen Beiträgen dieses Bandes eine Rolle spielt. Im ersten Abschnitt des zweiten Teils stehen Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen jedoch im Zentrum. Gefragt wird nach Grenznarrativen und Grenzdiskursen, die in der (literarischen) Kultur des Mittelalters prägend waren. Der zweite Abschnitt enthält Überlegungen, wie allgemeine kulturwissenschaftliche Kategorien mit literarischen Konkretionen in Be-

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zug gesetzt werden können. In einem dritten Abschnitt geht es um die Bildung und die Wirkungsmacht von Mythen im Mittelalter und in der Gegenwart.

II.1 Grenznarrative und Grenzlogiken Mireille Schnyder rückt den Begriff der Grenze in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen, indem sie nach Grenzen des Erzählens und nach erzählten Grenzen fragt: Eine Erzählung besteht immer aus Anfang und Ende, dazwischen werden Räume begrenzt (Zeitabschnitte, Perspektiven, Möglichkeiten des Wissens); somit kann es kein grenzenloses Narrativ, aber auch kein Narrativ ohne Grenzen geben. Grundlage für europäische Diskurse über Ausgrenzung, Differenzierung und Grenzziehungen, die immer auch mit dem Aushandeln und der Behauptung von Macht verwoben sind, bildet im Mittelalter das Großnarrativ der christlichen Heilsgeschichte. Die in der Bibel entwickelten topischen Ab- und Ausgrenzungslogiken prägten dementsprechend, wie man aus Reiseberichten weiß, die Wahrnehmung der Menschen, die Reisen ins Heilige Land oder den Fernen Osten unternahmen. Aber sie werden, wie Mireille Schnyder an drei Beispielen zeigt, auf verschiedene Weise dynamisiert und dadurch punktuell porös. Deshalb plädiert die Autorin dafür, den Blick nicht nur auf die ‚großen Erzählungen‘, sondern auch auf das Erzählen im Kleinen zu lenken. In der Mediävistik sollten Erzählungen stärkere Beachtung finden, in denen ein Ich ins Spiel kommt und ein Blick über die Grenze (oder nur auf sie zu) gewagt wird, Erzählungen „wo die Grenze nicht im Kopf ist, sondern unter den Füßen, wo sie begangen wird“, wo Zuordnungen aufbrechen und es zu „Zweifel-Knoten“ in den „Sinn-Netzen der Großnarrative“ kommt. Elke Koch verfolgt in ihrem Beitrag die Geschichte von Gog und Magog, die „zum geteilten Erbe der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition“ gehören, von biblischen Erwähnungen im Alten und Neuen Testament über die Alexanderlegende und den Brief des Priesters Johannes bis hin zu dem Prosatraktat Vom Antichrist aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Sie zeichnet eine Geschichte fortwährender Übertragungen nach, in der die Namen, die im Alten Testament einen König und sein Reich bezeichnen, zu Chiffren für barbarische Völker oder ihre Anführer werden, die entweder als Werkzeug Gottes oder als Verbündete des Teufels die Grenzen menschlicher Zivilisation und Kultur überschreiten und deshalb aus der Gesellschaft ausgeschlossen und eingemauert werden. Diese Gestalten sind insofern transkulturell, als in ihnen eine Zivilisations- und Kulturdifferenz figuriert ist, die „je neu für Bedrohungsszenarien in Dienst genommen“ und je nach Standpunkt für unterschiedliche ideologische, religiöse und politische Interessen funktionalisiert werden konnte. Besonderes

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Augenmerk richtet Elke Koch auf Widersprüche und Bruchstellen in den Erzählungen. So soll in dem Prosatraktat Vom Antichrist eine dreifach gesicherte Mauer die Christen von den – hier mit Juden identifizierten – barbarischen Völkern schützen. Doch als Relikt aus dem Traditionsbestand taucht ein Fluss auf, der zwar als Grenze fungiert, zugleich aber auch einen Übergang zwischen Christen und Juden ermöglicht. Wie die Beiträge von Mireille Schnyder und Elke Koch bereits erkennen lassen, ist das Bild des Fernen Ostens im kulturellen Imaginären der Epoche maßgeblich von der Geschichte Alexanders des Großen bestimmt, die in den europäischen Literaturen wieder und wieder erzählt wurde. Markus Stock zeigt, wie dabei die Beherrschung von Sprachen mit dem Anspruch auf kulturelle Hegemonie und dem Herrschaftsanspruch Griechenlands gegenüber anderen Völkern enggeführt wird. So hat Alexander ein Spracherwerbsprogramm durchlaufen, das ihn befähigt, problemlos mit den Vertretern der verschiedenen Kulturen zu kommunizieren, denen er auf seinem Eroberungszug begegnet. In spätmittelalterlichen deutschen Bearbeitungen (Seifrit, Wichwolt, Johann Hartlieb) wird das Problem der Fremdsprachlichkeit und Übersetzbarkeit jedoch zunehmend reflektiert und durch verschiedene formale Mittel markiert. Markus Stock veranschaulicht dies an der Gestaltung der Episode von Alexanders Begegnung mit den mehrsprachigen, orakelnden Bäumen, dem Sonnen- und dem Mondbaum. Zusammen mit in der Zeit üblichen kompilatorischen Praktiken, durch die auch widersprüchliche Aussagen nebeneinander stehen konnten, ohne dass die Widersprüche aufgelöst wurden, lassen sich die Reflexionen, so der Autor, als Schritte zu einer transkulturellen Hermeneutik verstehen, die über die bloße Beherrschung des Anderen hinausgehe.

II.2 Kulturwissenschaftliche Kategorien und literarische Konkretionen In den folgenden Beiträgen steht die Frage im Zentrum, wie der Blick auf das Allgemeine mit der Analyse eines historisch konkreten Einzelnen verbunden werden kann. So zielt Evamaria Freienhofer mit dem in der neueren Geschichtswissenschaft diskutierten Begriff des ‚Glokalen‘ auf den Erkenntnisgewinn, der aus der Relationierung von ‚globalen‘ Kategorien und ‚lokalen‘ Konkretionen resultiert. Hiervon ausgehend untersucht sie, wie in der französischen Erzählung Aliscans und in der deutschen Adaption des Stoffs, dem Willehalm Wolframs von Eschenbach, durch die literarische Gestaltung von Zorn Zugehörigkeit und Differenz erzeugt wird. Dabei interessieren Differenzen nicht primär als Unterschiede zwischen bereits als bestehend angenommenen Kultu-

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ren, sondern sie ergeben sich je neu aus sprachlich hergestellten Divergenzen. Die Autorin legt den aristotelischen Begriff von Zorn „als Schmerz über eine zugefügte Herabsetzung und Wunsch, diese zu vergelten“ zugrunde und arbeitet zunächst Differenzen in der Semantik zwischen altfranzösischen und mittelhochdeutschen Emotionswörtern heraus, bevor sie sich der vergleichenden Analyse zuwendet. Während die sprachliche Verkörperung von Zorn durch Gesten und physische Symptome in Aliscans einen zentralen Stellenwert erlangt, wird im Willehalm auf diese Mittel weitgehend verzichtet. Damit einher geht eine unterschiedliche Funktionalisierung des Zorns. In Aliscans erscheint er unter anderem als rechtmäßige Reaktion auf die Störung der verwandtschaftlichen Ordnung. Im Willehalm ist Zorn auch eine Reaktion auf diese Störung, doch es findet eine Verschiebung statt: Der Erzähler entschuldigt Willehalms Zorn zwar als verständlich, verurteilt aber die körperliche Performanz von Zorn als Verstoß gegen Normen der höfischen Kultur. Evamaria Freienhofer sieht den möglichen Grund für diese Heterogenität in unterschiedlichen ‚lokalen‘ Bedingungen und Kontexten. Mein eigener Beitrag gilt der Frage, welche Rolle Leiblichkeit bei der Raumgestaltung in einigen Episoden des Tristan Gottfrieds von Straßburg spielt, wie Räume durch Bewegungen und Interaktionen der Figuren konkretisiert oder auch erzeugt werden und wie umgekehrt die Raumgestaltung als Mittel der Charakterisierung von Figuren eingesetzt wird. Dabei richtet sich der Blick zunächst auf die Großräume Meer und Land und die Übergänge, die zwischen ihnen durch Schiffe und Schiffsfahrten hergestellt werden. Im Anschluss werden drei Episoden analysiert, die exemplarisch für das Erzählen von Reisen (am Beispiel von Ruals Suche nach Tristan), für die Konstruktion von Räumen außerhalb der höfischen Welt (nach der Entführung Tristans) und am Rande der höfischen Welt (in der Vorgeschichte) stehen. Insgesamt wird deutlich, wie unterschiedlich diese Räume hinsichtlich der Relation von Leib und Bewegung gestaltet und funktionalisiert werden. Martin Baisch greift mit dem Begriff der Anerkennung ebenfalls eine allgemeine Kategorie auf, die in letzter Zeit neue Aufmerksamkeit in der Philosophie und in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf sich gezogen hat. Er entwickelt den Begriff der (verkennenden) Anerkennung und verbindet ihn mit dem des Vertrauens. Seine Studie verfolgt das Ziel, das analytische Potential der auf diese Weise anerkennungstheoretisch näher umrissenen Kategorie zu erproben und Möglichkeiten zu erkunden, wie die von modernen Vorstellungen geprägte Kategorie im Rahmen einer inter- und transkulturellen literaturwissenschaftlichen Mediävistik historisiert werden kann. Ausgangspunkt ist der Hof, das zentrale soziale Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft, mit sei-

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nem Mittelpunkt, dem Herrscher. Die Konkurrenz um die Gunst des Herrschers bringt den Günstling und mit ihm den Günstlingsdiskurs hervor, dessen spezifische Muster und Funktionalisierungen Martin Baisch anhand von zwei Texten analysiert, dem Tristan Gottfrieds von Straßburg und dem anonym überlieferten Herzog Ernst. Das Verhältnis von Herrscher und Günstling, so stellt er abschließend fest, mag eine universale Struktur haben, sie werde aber je nach der sozialen Organisation einer Gesellschaft höchst unterschiedlich ausgebildet und in der Literatur diskutiert. Einen anderen Weg schlägt Elisabeth Schmid in ihrem Beitrag ein, in dem sie nach dem erzählerischen Potential fragt, das in der von der christlichen Tradition geprägten transkulturellen Figur des Eremiten angelegt ist. In ihrer sowohl von einer komparatistisch geleiteten als auch von einer diachronen Perspektive bestimmten Analyse zeigt sich, dass diese Figur in keinem der von ihr untersuchten Texte die Hauptfigur ist, weder in dem von René d’Anjou verfassten Roman Le livre du Cœur d’Amour épris (1457) oder dem Parzival Wolframs von Eschenbach (nach 1200) noch auch im Simplicissimus Teutsch von Grimmelshausen (Erstdruck 1669). Die Begegnung mit dem Eremiten stellt vielmehr eine entscheidende Zäsur auf dem Weg des jeweiligen Protagonisten dar. Er erscheint als eine Funktion in der Konstruktion des jeweiligen Protagonisten, als Mediator, als Akteur in einem Schwellenbereich, der zwischen verschiedenen Welten, zwischen dem Profanen und dem Religiösen, vermittelt. Diese Welten werden in den Texten mit den Gegensätzen von Natur und Kultur, von Wildnis und Zivilisation überblendet und in vielfältiger Weise ineinander gespiegelt.

II.3 Mythen Nordische Quellen bezeugen, dass Odin, der oberste Gott der skandinavischen Mythologie, durch einen physischen Mangel gekennzeichnet ist. Wie noch Wotan, der traurige Gott in Wagners Ring der Nibelungen, verfügt er nur über ein einziges Auge. Auf welche Weise Odin sein Auge verlor, wird in den Quellen unterschiedlich erzählt. So heißt es etwa, dass Odin einst dem Riesen Mimir ein Auge als Pfand gegeben habe, um aus dessen Brunnen trinken zu dürfen, oder er habe es geopfert, um etwas zu trinken zu bekommen. Nach Larissa Naiditch spiegeln sich in den Quellen unterschiedliche Schichten des Mythos wider, denen sie im Rückgriff auf die internationale Erzähl- und Mythenforschung nachgeht. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Bedeutung von ‚Auge‘ und ‚Wasser‘ (Brunnen, Quelle, Bach) sowie nach den Verbindungen, die zwischen ihnen hergestellt werden. Ein weiterer Bereich stellt das Thema des Durstes und des Verbots zu trinken dar, das, wie die Autorin vermutet, möglicherweise eine

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der ursprünglichen Schichten bildete. Schließlich beleuchtet sie den Zusammenhang von Odins Einäugigkeit mit seiner dämonischen Natur und seiner Gestalt als Todesgott. Mit dem Mythos der Nibelungen rückt Michael Dallapiazza einen zwar auch nordischen Quellen bekannten, aber doch ganz anderen Mythos ins Zentrum. Der Autor erinnert daran, dass der Nibelungenstoff im Mittelalter von nationaler Vereinnahmung frei war und erst im 19. und 20. Jahrhundert zum Ansatzpunkt für die Konstruktion eines ‚deutschen‘ Mythos und seine politische Funktionalisierung wurde. Die Nibelungenfestspiele in Worms bilden den Anlass für die Frage, ob und welche Rolle der Mythos in der deutschen Kultur der Gegenwart spielt. Um sie zu beantworten, stellt Michael Dallapiazza Bearbeitungen des Nibelungenstoffs ins Zentrum seiner Überlegungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Texte von Ulrike Draesner und das Theaterstück Siegfried von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, das 2014 am Volkstheater in München uraufgeführt wurde. Draesners Texte sind, wie er in seiner Analyse zeigt, von einer ungewöhnlichen sprachlichen Sensibilität und einem ebenso ungewöhnlichen Formbewusstsein geprägt. Sie arbeiten vor allem in Nibelungen. Heimsuchung einer Entmythisierung zu, indem Draesner den Dialog mit dem mittelhochdeutschen Text (und den Illustrationen von Carl Otto Czeschka) von einem betont subjektiven Standpunkt aus sucht. Bei dem Theaterstück von Zaimoglu und Senkel, zu dem wohl das Nibelungenlied und punktuell auch die Edda Material lieferten, ist dagegen ein kritischer Bezug auf den Mythos nicht zu erkennen. Es handelt sich um ein „skatologisches Rüpelspiel“, dessen Machart nicht der Analyse wert wäre, so Michael Dallapiazza, wenn es nicht eine so positive Resonanz in der Presse gefunden hätte. Erstaunlich daran sei vor allem, dass diese das Weiterleben des Siegfried-/ Nibelungen-Mythos im Bewusstsein der Deutschen umstandslos voraussetze.

III. Mehrsprachigkeit – Brücken und Mauern Mehrsprachigkeit ist in der mittelalterlichen Kultur selbstverständlich, aber sie beschränkt sich nicht auf das Lateinische einerseits und die Volkssprachen andererseits. Es hat vielmehr, wie im dritten Teil des Bandes exemplarisch deutlich wird, polyglotte Kompetenzen auch im Bereich der Volkssprachen gegeben. Die historischen Bedingungen, Formen und Bewertungen der Mehrsprachigkeit sind jedoch sehr unterschiedlich und bedürfen daher einer genauen Analyse. Der Beitrag von Sara S. Poor befasst sich mit den berühmten „Straßburger Eiden“ von 842, mit denen Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle öffentlich in

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deutscher und französischer Sprache schworen, sich gegenseitig gegen ihren älteren Bruder, Kaiser Lothar I., zu unterstützen. Während die ältere Forschung davon ausging, dass die beiden Brüder die Eide in ihrer jeweiligen Herkunftssprache leisteten und diese deshalb gleichsam als ‚Geburtsurkunde‘ der deutschen bzw. französischen Nation interpretierte, beleuchtet die Autorin die besonderen linguistischen Umstände, unter denen die Brüder aufwuchsen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Sprache der Mütter beider Brüder deutsch gewesen sei und Begriffe wie Herkunftssprache („native language“) oder Muttersprache („mother tongue“) den komplexen Formen von Mehrsprachigkeit nicht gerecht wird, die im 9. Jahrhundert in den politischen Eliten tatsächlich herrschten. Sie schlägt vor, für den Sprachgebrauch in den Eiden den Begriff der „customary language“ zu verwenden, der mehr politische Ansprüche kennzeichnet als kulturelle Grenzen. Die Mehrsprachigkeit der Straßburger Eide verweise daher nicht auf Teilung und Feindschaft, sondern auf Besitz und Zusammengehörigkeit. Heinz Sieburg setzt mit seinen Überlegungen in der Gegenwart an und betont die Bedeutung der Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit für die Europäische Union. Dies steht in diametralem Gegensatz zu dem im Mittelalter einflussreichen biblischen Mythos von der babylonischen Sprachverwirrung, in dem Sprachenvielfalt nicht als Chance für kulturellen Reichtum erscheint, sondern als Strafe Gottes für menschliche Hybris. In den folgenden Ausführungen zu den komplexen Sprachwandelprozessen vom Indoeuropäischen bis zum Neuhochdeutschen sind die Metaphern ‚Brücke‘ (Konvergenz) und ‚Barriere‘ (Divergenz) leitend; sie unterstreichen, dass Sprache als Identität und Zugehörigkeit stiftend, aber auch als Abgrenzungsmöglichkeit fungieren kann. Die Einflüsse anderer Sprachen wie des Lateinischen oder Französischen und des Englischen verdeutlichen transkulturelle Schichten in der Entwicklung der deutschen Sprache, wobei der aktuelle Status des Englischen als lingua franca dem Autor im Licht seiner diachronen Sprachbetrachtung nicht als stabiler Endpunkt, sondern als „Durchgangsstadium einer sprachhistorischen Entwicklungslinie“ erscheint. Kritische Überlegungen zu der Frage, ob ‚Plansprachen‘ (z. B. Esperanto) dazu geeignet sind, sprachliche Barrieren zu überwinden, bilden den Abschluss seiner Überlegungen. Der Beitrag von Kristýna Solomon wirft ein Schlaglicht auf die schwierige institutionelle Situation, in der sich die germanistische Mediävistik vor allem in vielen nicht deutschsprachigen Ländern zu behaupten hat. Ausgehend von Überlegungen zu Mauerbau und Brückenbau beleuchtet sie das konfliktreiche Verhältnis zwischen ‚Deutschtum‘ und ‚Tschechentum‘ in der Geschichte und zeigt, dass die Suche nach einer nationalen Identität auch die tschechische

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Philologie prägte. Nach dem Fall der Mauer habe das Hochschulwesen in Tschechien in den 1990er Jahren eine Blütezeit erlebt, was auch der germanistischen Mediävistik zu Gute kam. Das neu gegründete Fach konnte sich allerdings nach zehn Jahren der allgemeinen Pragmatisierungstendenz und damit einer Marginalisierung nicht mehr widersetzen. Damit ist eine Bildungschance merklich eingeschränkt, denn, so die Autorin, es gehe nicht (nur) darum, den tschechischen Studenten auf Deutsch verfasste mittelalterliche Literatur zu vermitteln, sondern vor allem darum, sie mit Kompetenzen im Austausch mit Partnern verschiedener Nationen auszustatten und ihnen den Erwerb von Kenntnissen über Bedingungen inter- und transkultureller Kommunikation in historischer Perspektive zu ermöglichen. Die Teilnahme am GLITEMA-Programm ermöglichte es der Olmützer Mediävistik dankenswerterweise, an der internationalen Vernetzung partizipieren.

IV. Translationen in und zwischen europäischen Literaturen Prozesse der Übertragung und Adaption von Texten aus anderen europäischen Literaturen des Mittelalters ins Deutsche sind außerordentlich vielfältig und können hier nur mit einigen Beispielen – vor allem aus dem Lateinischen, aber auch aus dem Französischen und dem Italienischen – in den Blick kommen. Eine Sonderstellung nimmt ein weiterer Beitrag ein, der sich mit der Übersetzung von Einblattdrucken (mit einem deutschen und einem lateinischen Text) ins Russische befasst. Das Erkenntnisinteresse von Elisabeth Lienert richtet sich auf Fragen der Erzählkohärenz, die mit der bekannten Widersprüchlichkeit in der europäischen Heldenepik verknüpft sind. Sie skizziert vergleichend Beobachtungen zu drei Textpaaren (Chanson de Roland und Rolandslied, Waltharius und Waldere sowie deutsche und skandinavische Nibelungen- und Dietrichdichtungen) und bezieht die Frage nach transkulturellen Konstanten und Variablen auf Verfahren des Umgangs mit Widersprüchen in den Handlungs- und Motivationsstrukturen. Bei der Bearbeitung von Heldenepen in anderen sprachlichen und kulturellen Kontexten würden Widersprüche abgeschwächt, beseitigt oder belassen; manchmal entstünden auch neue Widersprüche. Widersprüchlichkeit sei als Ergebnis komplexer Prozesse der Textkonstitution anzusehen und gelte deshalb als Merkmal heldenepischen Erzählens graduell und nicht absolut. Ob diese Widersprüchlichkeit als ein gattungsspezifisches Erzählprinzip verstanden werden

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kann, lässt die Autorin offen, sie plädiert aber dafür, sie als poetologisches und nicht als stoffliches Problem aufzufassen. Ingrid Bennewitz fokussiert mediale und überlieferungsgeschichtliche Aspekte sowie Funktionalisierungsmöglichkeiten eines ‚Erzählkerns‘, der bereits in der Antike ausgeprägt wurde und über das Mittelalter hinaus seine Beharrungsfähigkeit über sprachliche, gattungsspezifische und mediale Grenzen hinweg (unter anderem in den Gesta Romanorum und in der Sibille) behauptet und noch in der Literatur der Moderne produktive Effekte erzeugt hat (Thomas Mann). Es geht um die Frage, wer der beste Freund des (Ehe-)Mannes ist: ein Hund, ein Sohn oder die Frau, wobei die ‚richtige‘ Antwort die Befreiung aus einer prekären Situation verspricht. Trotz aller Unterschiede, welche die Autorin bei der Aushandlung der privilegierten Position eines der Beteiligten und in der Ausgestaltung sowie den Kontextualisierungen dieses ‚Erzählkerns‘ feststellt, wird der Status der nächsten Zugehörigkeit der Frau stets verweigert, erscheint sie als die aus der Trias Ausgeschlossene, während das domestizierte Tier vorgezogen wird. So zieht sich nach Ingrid Bennewitz die misogyne Botschaft von der Antike bis in die Moderne durch, die in der Relation von Tier, Frau und Mann das Herrschaftspotential des Ehemannes, seine Fähigkeit zur Kontrolle und Beherrschung von Tieren, Nachkommen und Ehefrauen zur Geltung bringt. Álvaro Alfredo Bragança interessiert sich für lateinische Sprichwörter in mittelalterlichen Handschriften, die aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Es geht ihm dabei vor allem um die Frage, welche Bedeutung darin Tieren zugeschrieben wird, indem sie beispielhaft gute als auch schlechte Eigenschaften des Menschen repräsentieren. In seinen exemplarischen Analysen folgt er weitgehend den Überlegungen von Joyce E. Salisbury (1994, The beast within. Animals in the Middle Ages) und macht durch Beispiele auch aus der mittelhochdeutschen und altfranzösischen Literatur deutlich, wie verbreitet die Sprichwörter über kulturelle Grenzen hinaus waren. Der Autor unterstreicht, dass die Sprichwörter, die unter anderem als didaktisches Mittel verwendet wurden, häufig auf reale, soziokulturelle Kontexte verweisen und gesellschaftsstabilisierende wie sozialkritische Tendenzen enthalten. Die Rezeption von Boccaccios Werken in der deutschen Literatur beginnt am Ende des 14. Jahrhunderts und verläuft diskontinuierlich, aber in wiederholten Anläufen. Hierzu zählen zwei Handschriften aus der Zeit um 1600, die Luisa Rubini Messerli in ihrem Beitrag vorstellt. In Boccaccios Frühwerk Fiammetta (um 1343 / 1344), so erläutert sie eingangs, tritt zum ersten Mal in der italienischen Literatur eine Frau als Subjekt einer literarischen Klage über Liebesleid und Melancholie auf, deren Liebe nicht an familiären oder sozialen Zwängen scheitert, sondern daran, dass der Geliebte ihre Liebe nicht mehr erwidert. Sie

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führt aus, dass Boccaccio die Figur in Auseinandersetzung mit antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Mustern von Heroinen der Liebe und als Reflexionsfigur eigener künstlerischer Ambitionen entwirft und vergleicht das italienische Werk dann mit den Übersetzungen von Johann Engelbrecht Noyse und Hans Ludwig Freiherr von Kuefstein, die ungedruckt blieben und nur handschriftlich zirkulierten. Von überlieferungs- und sozialgeschichtlichen Aspekten ausgehend, analysiert die Autorin die beiden Texte dann vor allem unter stilistischen und syntaktischen Gesichtspunkten. Im Mittelpunkt der Überlegungen von Stefan Matter stehen ebenfalls Fragen der Überlieferungs-, Übersetzungs- und Druckgeschichte. Am Beispiel des Hortulus animae, eines lateinischen Gebetbuchs, das die Vorlage verschiedener volkssprachiger spätmittelalterlicher Gebetbücher bildete, skizziert er die Vermittlungsprozesse, in denen Sprachgrenzen (Latein – Deutsch – Französisch) ebenso eine zentrale Rolle spielen wie die Grenze zwischen Geistlichen und Laien. Von der Drucktradition des Hortulus Animae ausgehend, Quelle der deutschsprachigen Texte Wurtzgarten und Seelengärtlein, macht Stefan Matter darauf aufmerksam, wie ungenügend die gedruckten Gebetbücher im Allgemeinen, die genannten Texte im Besonderen, bisher erforscht sind und welches Potential in ihnen schlummert. Deshalb sieht er eine Aufgabe der germanistischen Mediävistik darin, die Geschichte der verschiedenen Redaktionen und Übertragungen des Gebetbuchs zu erforschen, die als immer wieder neue Bemühungen um die Vermittlung geistlicher Formen und Inhalte über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg zu beschreiben seien. Der Beitrag von Catherine Squires ist der einzige, der sich nicht mit der Vermittlung eines fremdsprachlichen Textes ins Deutsche befasst, sondern mit der Rezeption eines deutsch-lateinischen Wort-Bild-Ensembles im Russischen. Es geht dabei um ein Zwiegespräch zwischen Leben und Tod, das von Bartholomäus Ghotan verfasst und 1484 in Lübeck als Einblatt gedruckt wurde. Zusammen mit einem erst kürzlich wieder aufgetauchten weiteren Einblattdruck des Textes in lateinischer Sprache, der mit einem großen Holzschnitt versehen ist, diente er als Vorlage für die Übersetzung ins Russische. Die Autorin rekonstruiert die verwickelte Überlieferungsgeschichte der Drucke und die Probleme, die sich für die Übersetzung zum einen aus Besonderheiten der russischen Grammatik und zum anderen aus der sprachlich-textuellen und der bildlichen Gestaltung ergaben. Diese Probleme werden im Spannungsfeld von Genus, Gender und Geschlecht besonders deutlich. So habe der Übersetzer versucht, den Tod als männliche Figur zu gestalten; später aber wurde sie in Annäherung an die russische religiöse Tradition in eine weibliche Figur umgedeutet. Die Autorin unterstreicht die Bedeutung der Werke Ghotans, welche erstmals die Vorstellung

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einer menschenähnlichen Todesfigur als Skelett mit Sense nach Russland vermittelt haben, wo sie eine wichtige Rolle in der Verbreitung der TotentanzIkonographie gespielt hat.

V. Europa und die außereuropäische Welt Volker Mertens erinnert daran, dass das Konzept der ‚Nationalliteratur‘ bereits im 18. und 19. Jahrhundert durch Konzepte einer ‚Weltliteratur‘ in Frage gestellt worden war, wie sie von Wieland und Herder, doch vor allem von Goethe entwickelt wurden, dessen Auseinandersetzung mit der indischen Kultur er in seinem Beitrag nachgeht. Der Autor zeigt, dass Goethe von dieser Kultur bereits in seiner Jugend fasziniert war und sich in verschiedenen Phasen seines Lebens mit ihr beschäftigte. So erkannte Goethe in der indischen Religion, der er insgesamt ablehnend gegenüberstand, eine positive Auffassung von Sinnlichkeit, die er aufgriff, um sich von der in der christlichen Tradition ausgeprägten Sinnenfeindlichkeit zu distanzieren. Einen Zugang zur indischen Kultur eröffnete sich ihm vor allem durch Werke der indischen Literatur; die Lektüre hat ihren Niederschlag unter anderem in Die Wahlverwandtschaften, in den Faustdramen und im Westöstlichen Divan gefunden. Goethes Begriff der ‚Weltliteratur‘ ist, wie Volker Mertens feststellt, vielfältig, doch läuft sie nicht auf die Aufgabe des ‚Eigenen‘ hinaus, sondern wird als Möglichkeit gesehen, sich in der Auseinandersetzung mit fremden Literaturen „zu freieren Regionen“ (Zitat Goethe) zu erheben. Er kommt zu dem Schluss, dass „ein Kulturtransfer nicht die Akzeptanz, ja, nicht einmal die Beschäftigung mit allen wichtigen Aspekten der fremden Kultur zur Voraussetzung hat, um die eigene bereichern zu können.“ Der Beitrag von Christian Kiening zum Kolumbusbrief und seiner Rezeption beschließt den Band mit einem Ausblick auf die „Neue Welt“. Verschiedenen Quellen zufolge soll Cristobal Colón unmittelbar vor und nach seiner Rückkehr von seiner Westfahrt im März 1493 Briefe geschrieben und von seinen Entdeckungen in der „Neuen Welt“ berichtet haben. Der Autor stellt zwei Zeugnisse in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, einen Druck von 1493 und eine Handschrift, die um 1500 datiert wird. Der Vergleich arbeitet heraus, dass die Texte je nach den Adressierungen subtile und höchst kalkulierte Strategien der Kommunikation enthalten. Welcher der beiden Texte zuerst entstand, sei nicht zu entscheiden, sie stünden in einem Ergänzungsverhältnis zueinander. Der Brief begründete einen Diskurs über die „Neue Welt“, in dem zunächst eine frühe lateinische Bearbeitung der Druckversion eine Vermittlerrolle übernahm. Allerdings entfernte sie sich deutlich von Colóns Text. Diese Tendenz verstärkt sich

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in der weiteren europäischen Rezeption des Briefs, die Christian Kiening in ihren medialen Dimensionen und thematischen Akzentsetzungen skizziert. Der durch Colón angestoßene Diskurs, so das Fazit, verselbständigte sich zunehmend, und er selbst, der sich dazu auserwählt gesehen hatte, das Christentum nach Übersee zu bringen, verlor seine Stellung als Diskursbegründer.

Abschließende Bemerkungen Der Band versteht sich insgesamt als ein kleiner Beitrag zu der Aufgabe, die Christian Kiening (2015, 624) kürzlich für die Zukunft der literaturwissenschaftlichen Mediävistik vorgezeichnet hat: „Nur wenn es ihr gelingt, deutlich zu machen, worin ihr spezifischer Beitrag zum Verstehen der in unseren Gegenwartshorizont eingelagerten historisch-imaginativen Möglichkeiten besteht, wird sie weiterhin Resonanz finden.“ Die Beiträge zeigen, wie unterschiedlich die Kategorien Transkulturalität und Translation von internationalen Vertretern und Vertreterinnen des Fachs für die Analyse mittelalterlicher Texte auf verschiedenen Ebenen fruchtbar gemacht werden können. Der Band dokumentiert damit exemplarisch, wie vielfältig die ‚Selbstverständnisse‘, die Gegenstände und Methoden der internationalen germanistischen und literaturwissenschaftlichen Mediävistik sind. Mehr als eine Momentaufnahme ist dies zwar nicht, aber auch nicht weniger. Die Beiträge vermitteln einen Einblick in das Leistungspotential des Fachs, lassen Perspektiven für die Zukunft aufscheinen, machen aber auch auf institutionelle Probleme und länderspezifische Besonderheiten im akademischen Bereich aufmerksam. So wirken in einigen Ländern ältere philologische Traditionen nach, in denen etwa altnordische Texte noch als Teil der Germanistik angesehen wurden und die Sprachwissenschaft sich noch nicht als eigene Disziplin etabliert hatte. Hieraus wird ersichtlich, dass die Frage nach der Setzung, Verschiebung und Aufhebung von Grenzen auch das Fach selbst im historischen Wandel betroffen hat und weiterhin betrifft.

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Literaturverzeichnis Geary, Patrick J. „,Multiple Middle Age‘ – konkurrierende Meistererzählungen und der Wettstreit um die Deutung der Vergangenheit.” Historische Zeitschrift. Meistererzählungen vom Mittelalter. Beiheft 46. Frank Rexroth (Hg.). München: Oldenbourg, 2007, 107–120. Kasten, Ingrid. „Eine europäische Erfindung: das Mittelalter“. Germanistik [in und für] Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Konrad Ehlich (Hg.). Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2006, 49–68. Kiening, Christian. „Literaturwissenschaftliche Mediävistik/Mediävistische Literaturwissenschaft“. DVjs. 89/4 (2015), 616–624. Mersch, Margit. Transkulturalität, Verflechtung, Hybridisierung – ‚neue‘ epistemologische Modelle in der Mittelalterforschung. In: Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne. Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte 3. Wolfram Drews und Christine Scholl (Hgg.). Berlin/München/Boston: de Gruyter 2016, 239– 251. Transkulturalität. Klassische Texte. Basis-Scripte. Reader Kulturwissenschaften Bd. 3. Andreas Langenohl, Ralf Poole, Manfred Weinberg (Hgg.). Bielefeld: [transcript], 2015. Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika. Michael Borgolte und Matthias M. Tischler (Hgg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011. Welsch, Wolfgang. „Was ist eigentlich Transkulturalität?“ Hochschule als transkultureller Raum? Bildung und Differenz in der Universität. Kultur und soziale Praxis. Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg und Claudia Machold (Hgg.). Bielefeld: [transcript], 2010, 39–66.

| Teil I: Annäherungen – Transkulturalität

Laura Auteri, Palermo

Sizilien: Eine Insel der Begegnung der Kulturen Anmerkungen zu dem Erasmus-Mundus-Projekt German Literature in the European Middle Ages Friedrich II. (1194–1250), der Enkel Friedrich I. Barbarossas (1122–1190), nahm, als er zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs ernannt wurde, seinen Sitz in Palermo. Seine weltlichen Reste liegen noch im dortigen Dom in einem Sarkophag, neben denen seines Vaters Heinrich VI. (1165–1197), der sich in seiner Jugend auch als Minnesänger, als deutschsprachiger Trobador, hervorgetan hatte und denen seiner Mutter Konstanze von Sizilien (1154–1198), Tochter von Roger II. Das ist bekannt, wie auch, dass sein Schicksal eng mit demjenigen der Insel verknüpft ist, die eine Zeitlang, wie andere Teile der italienischen Halbinsel, dem Reich angehörte, und dass die Epoche seines Reichs als Sinnbild der kulturellen Einheit Europas betrachtet wurde.1 Was nicht hieß und nicht heißt, dass es eine ausschließlich europäische Kultur gäbe und je gegeben habe, eine Devise heute, um die Grenzen des alten Kontinents dichtzumachen und die von außerhalb lauernde Gefahr von fremden Eindringlingen heraufzubeschwören. Denn die kulturelle Einheit des Abendlandes2 gründet auch in jenen Begegnungen, die in weit zurückliegenden Jahren in Süditalien und anderswo in Europa zwischen verschiedenen Kulturen stattgefunden haben. Und dabei handelt es sich, wie Margit Mersch (2016, 241) schreibt, nicht um zusammentreffende simple Polaritäten, sondern um die Entstehung von komplexen kulturell gemischten Gesellschaften. Denkt man auch nur kurz an die Geschichte Siziliens, werden jedem Unvoreingenommenen die engen Vernetzungen zwischen der europäischen Kultur und etwa der arabischen deutlich vor Augen stehen. Die Insel, in deren westlichen Teilen die Phönizier Städte wie Palermo gegründet hatten, war im Mittelalter ein dezidiert transkultureller und multisprachlicher Raum. Schon im vierten Jahrhundert n. Chr. strömten Barbaren (Vandalen und Westgoten) durch das || 1 Vgl. z. B. Delle Donne et al. 2010. 2 Vgl. Benz 2013. Nach Benz bezeichnete der Begriff ‚Abendland‘ ursprünglich nur die westlichen Regionen des 476 untergegangenen Römischen Reichs; später diente er dann dazu, den Zusammenhalt der nicht-katholischen bzw. reformierten Christenheit zu betonen und den Nahen Osten sowie die muslimische Welt aus dieser Gemeinschaft auszugrenzen.

DOI 10.1515/9783110556438-002

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noch von den Griechen und, überwiegend, von den Römern besetzte Sizilien. Im sechsten Jahrhundert siedelten die Byzantiner aus dem Östlichen Römischen Reich über, 827 wurden sie von den Arabern verdrängt, bis 1060 die Normannen aus dem Norden kamen und die Araber besiegten. 1194–1266 regierten die Schwaben, deren Herrschaft 1268 durch die der Anjou ersetzt wurde, aber die Franzosen blieben nur kurze Zeit, bis 1282. Dann mussten auch sie fremden Mächten, den Spaniern aus dem Hause Aragon, weichen und so folgten weitere Machtwechsel. Es ging wohl bunt genug zu und es ist hier nicht der Ort, um Gründen und Auswirkungen des bewegten sizilianischen Mittelalters nachzugehen. Festzuhalten ist nur, dass damals, wie allerdings auch heute, die Insel zur Werkstatt einer Begegnung der Kulturen wurde. Eine gelungene Integration der aus unterschiedlichen Ländern hinzugekommenen Teile der Bevölkerung führte damals zu einer kulturellen Blüte. Denn als die Normannen kamen, ein reines Heer ohne Frauen und Familien, verbanden sie sich leicht mit den Ansässigen und ebenso mit deren vormaligen Herrschern, den Arabern, die maßgeblich zum Aufschwung von Leben und Kultur der Insel beigetragen hatten. Es entstand hieraus jene arabisch-normannische Kunst, die vor kurzer Zeit die UNESCO als Kulturerbe der Menschheit anerkannte. Auftraggeber waren die Normannen, Planer, Projektleiter und Arbeitnehmer Araber und Byzantiner: Man denke an den Dom von Monreale und den von Cefalù, an die Cappella Palatina, das Schloss La Zisa in Palermo, an den in der weltlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg aufbewahrten, aber in Palermo von arabischen Handwerkern angefertigten Krönungsmantel von Roger II. Am Hofe Friedrichs II., wohin Leute von Rang, wie etwa der Philosoph Michael Scotus (um 1175 – um 1235), berufen worden waren, lebten und wirkten, wie in der ganzen Stadt, Sizilianer, Juden, Araber, Normannen, Griechen. Aufgrund des Zusammenlebens verschiedener Ethnien herrschte auch eine verbreitete Mehrsprachigkeit, von der noch heute kuriose Zeugnisse vorhanden sind, wie ein im Museum des Schlosses La Zisa aufbewahrter Grabstein, auf dem in vier Sprachen – Lateinisch, Griechisch, Arabisch, Hebräisch – Hinweise auf die verstorbene und unter dem Stein begrabene Frau eingraviert wurden. Um diese fruchtbare Transkulturalität zu würdigen, ließ die Stadtverwaltung von Palermo vor einigen Jahren die Beschilderung mancher Straßen des historischen Zentrums erneuern: Die Namen der Straßen sind nun auf Italienisch, Arabisch und Hebräisch zu lesen. Der Plurilinguismus und die aktive, sowohl inner- als auch extraeuropäische Transkulturalität wirkten wie ein Wunder auf das kulturelle Leben der Stadt und der Insel. Jenseits vermeintlicher Sprachbarrieren, die doch keine waren, zirkulierten Ideen, die zur Entstehung einer gemeinschaftlichen Identi-

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tät beitrugen. Am Hofe blühte auch die sogenannte Sizilianische Schule (1220– 1260), auf die die Anfänge der italienischen Literatursprache zurückgeführt werden. Sie wurde sowohl von der französischen Lyrik der Trobadors als auch von der – ohnehin über Spanien mit der französischen verbundenen – arabischen Lyrik beeinflusst, und sie prägte ihrerseits den dolce stil novo und somit indirekt Dante, einen der ‚Väter‘ der italienischen Sprache und Literatur. Der dort wirkende Dichter Cielo (Ciullo) d’Alcamo wird als der Initiator der italienischen Lyrik betrachtet, und Giacomo da Lentini als der ‚Erfinder‘ des Sonetts (Vgl. I Poeti della Scuola Siciliana 2008). Auch Friedrich II., der fließend mehrerer Sprachen mächtig war (es heißt unter anderem, er habe zwei von Theodor von Antiochia aus dem Arabischen ins Latein übersetzte Traktate über die Falkenjagd eigenhändig korrigiert), verfasste Liebesdichtungen auf Italienisch.3 Von der durch Transkulturalität gekennzeichneten Epoche Siziliens, die mehr als nur das schwäbische Zeitalter umfasst, gingen auch später Impulse aus, die eine fruchtbare Wirkung nicht zuletzt auf deutsche Autoren ausübten. Vor zirka 200 Jahren faszinierte sie z. B. Goethe, der, was seine italienische Reise betraf, behauptete, Sizilien sei „[...] der Schlüssel zu allem“ (Goethe, Kap. 42, 13. April 1787). Goethe-Forscher mögen den berühmten Satz unterschiedlich auslegen und darüber diskutieren, welche Türe der Schlüssel öffnet, mir scheint auf jeden Fall, dass Sizilien bei ihm zum Sinnbild par excellence der Begegnung der Kulturen wird. Als er, in jenen südlichen Grenzgebieten des europäischen Raums auf den Wegen der alten Normannen spazierend und an Homer und Nausikaa denkend, das Gestern und sein Heute zu verbinden wusste, während er die wiedererwachten Regungen seiner in den Weimarer Pflichten eingeschlummerten Schöpfungskraft verspürte, fanden seine kosmopolitischen Ansichten einen Beweis ihrer Durchführbarkeit, seine These der Weltliteratur eine Bestätigung. Goethe ist auch der berühmteste, doch nicht der einzige und nicht der erste deutsche Autor, der sich in das alte Sizilien hineinversetzt. Schon 1783, ein paar Jahre bevor er bei Nacht und inkognito Weimar verließ, publizierte z. B. Christoph Martin Wieland (1733–1813), der zwar zu Hause blieb und doch als erster Begriffe wie Weltbürgertum und Weltliteratur erarbeitete (Riedel 2008), ein kleines Epos – eine etwas altmodische Gattung für die Epoche,4 oder aber ein

|| 3 I Poeti della Scuola Siciliana 2008, Band II, 437–494, Dolze meo drudo, e vaténe („Mein süßer Lieber, dann gehe doch“); De la mia dissïanza („Der Gegenstand meiner Begierde“); Poi ch’a voi piace, Amor („Da Euch die Liebe gefällt“). 4 Das Schema des antiken Liebes- und Abenteuerromans, das in der europäischen Literatur eine nachhaltige Wirkung entfaltet hat (vgl. dazu z. B. Baisch und Eming 2014), wird auch in Wielands Dichtung noch produktiv gemacht.

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überzeitliches Genre, wie man es nehmen will –, dessen Handlung in Palermo zur Zeit der Normannen einsetzt: Clelia und Sinibald oder die Bevölkerung von Lampeduse. Gleich am Anfang stellt er Sinibald vor, einen jungen Mann „[...] Aus Tankreds edlem Blut [...]“ (Wieland 1984, 171), der sich wegen einer Erbschaft in „Rogers schönem Reich“ (Wieland 1984, 175) befindet. Die Integration erfolgt im Nu dank des heißen Temperaments des Jungen. Er verliebt sich, sucht Hilfe, verbindet sich mit anderen Jugendlichen, die genau so leidenschaftlich und träumerisch wie er und die Jugend schlechthin fühlen und handeln. Doch kein Leben und keine Liebe ohne Probe: Vom Winde verweht und von den Piraten entführt (Rosine und Clelia findet man als Sklavinnen wieder), landen die involvierten Paare Jahre später einzeln in Nordafrika, zwischen Tripolis und Kairo, um alle irgendwann nach Damaskus zu gelangen, wo sie, nicht schlecht behandelt, doch voller Sehnsucht nacheinander und nach der Heimat, eine Zeitlang festgehalten werden. Als sie per Zufall aufeinander stoßen, erreicht die gemeinsame Rührung einen Höhepunkt, und als die Mutter Saladins davon erfährt, erwirkt sie sogar deren Freilassung. Sie schiffen ein in Richtung Palermo / Europa. Das Mittelmeer, schon seit Homers Odyssee eine der gefährlichsten Seen der Welt, zeigt sich wieder von seiner schlechten Seite: Sie erleiden Schiffbruch und landen auf Lampedusa – man spreche den schicksalhaften und symbolhaften Charakter von Ortschaften nicht ab! Dort treffen sie einen Bekannten, den Eremiten Paul, der irgendwann selbst mit einem Neffen auf der winzigen Insel nahe Tunis gestrandet war, und der nun in dem Schiffbruch ein Zeichen der Vorsehung sieht. Er erklärt sich von seiner Priesterwürde frei, will heiraten und mit den anderen auf der Insel ein glücklicheres Volk begründen, das weder dem Norden noch dem Süden zuzuordnen ist. Eine ironische Utopie, die der Darstellung und Erschließung der Realität dient: Wieland greift auf die Vergangenheit zurück, um sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Die Utopie, die eine, im Werk Wielands einmalige, Absonderung von der Welt auf einer kleinen Insel impliziert, gleicht auch einer Absage an Europa (Manger 2015). Die „glückliche“, wie sie genannt wird, Bevölkerung von Lampedusa evoziert allerdings gleichermaßen die wielandsche Vorliebe für eine bestimmte Phase der Antike, die nun für das Mittelalter produktiv gemacht wird. Pries Winckelmann die „edle Einfalt und stille Größe“ der griechischen Kultur des Zeitalters von Perikles (um 485 – um 429 v. Chr.), so privilegierte Wieland das Ineinanderfließen der kulturellen Elemente (vgl. Kunze 1986 und Auteri 2005). Die Handlungen seiner in der Antike spielenden Romane haben den gesamten Mittelmeerraum von Kleinasien nach Sizilien bis hin zur Kyrenaika als Kulisse und sind im Jahrhundert des höchsten kulturellen

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Synkretismus angesiedelt, dem 2. Jahrhundert n. Chr., das der mehrsprachigen und multikulturellen Schwabenzeit auf Sizilien ähnelt (Kunze 1986). Und das führt uns, nach dem kurzen literarischen Exkurs, auf unser Thema zurück und wir kommen auf den letzten im Titel angedeuteten Aspekt: Was bleibt von der Mediävistik in der Lehre an den Universitäten? Welche Rolle spielt dabei die literaturwissenschaftliche Mediävistik? Wenig, so lautet die prompte Antwort auf die ohnehin rhetorische Frage. Denn werden die romanistische Mediävistik an den italienischen Universitäten und die Altgermanistik in deutschsprachigen Ländern auch weiterhin betrieben, so haftet ihnen vermehrt der Beigeschmack der elitären akademischen Nische an. Was auf den ersten Blick auch richtig scheint, wenn die Erfahrung nicht lehrt, welche Begeisterung die Auseinandersetzung mit Texten und Zusammenhängen älterer Zeiten bei den Studierenden hervorzurufen vermag, vor allem, wenn die Lehre die gesamte europäische Ebene nicht außer Acht lässt, und die einzelnen Traditionen vergleichend und auf die Vernetzungen hinweisend untersucht und gelehrt werden. Die Frage ist, wie die literaturwissenschaftliche Mediävistik neu verortet werden kann, und ob die Politik die Chance wahrnimmt und in die gewünschte Richtung steuert. Die Geschichte lehrt, dass die Reaktionen der Kulturpolitik nur langsam vonstattengehen. Ehe verstanden wird, welche Rolle die mittelalterlich orientierten Geisteswissenschaften – und die meisten Geisteswissenschaften überhaupt – zum europäischen Selbstverständnis und zur Ausbildung eines unabhängig denkenden Menschen beitragen könnten, sind manche Fächer ganz aus den Lehrplänen verschwunden und kaum einer forscht mehr in diesen Gebieten, denn schließlich müssen sich auch Forscher und Forscherinnen um ihren Lebensunterhalt kümmern. Sieht man von einer nicht immer zu begrüßenden, weil irreführenden Aktualisierung des Mittelalters (Jauss 1977) ab, passt die literaturwissenschaftliche Mediävistik nicht in das auf den Arbeitsmarkt hin orientierte europäische Bildungsprogramm. Denn wie sie, und so allerdings manche andere Geisteswissenschaften, beruflich ausgeübt werden kann, gehört nicht zu den unmittelbar festzustellenden Tatsachen. Es lohnt sich, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. So erzielte z. B. das von John Greenfield koordinierte Erasmus Mundus GLITEMA („German Literature in the European Middle Ages“: www.glitema.up.pt), dessen fünfte und letzte Kohorte im Sommer 2016 das Studium abschloss, einen unverhofften Erfolg bei Studierenden und KollegInnen in Europa und außerhalb Europas. Zwar konnte sich das Programm wegen der niedrigen Zahl der zahlenden Studierenden nur dank der EU-Finanzierung aufrechterhalten, doch die zuständige EU-Kommission, die es zuließ, muss seinen potenziellen Wert eingesehen und die Tatsache erkannt haben, dass es nicht um das tapfere Vorantreiben

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einer kleinen Nische von mehr oder weniger Gleichgesinnten ging, sondern um die Förderung des Verständnisses unserer Geschichte und somit unserer Gegenwart und unserer Zukunft. Die Internationalisierung des Fachs, die auch aus der Notwendigkeit erfolgte, die Lehre an den drei Universitäten des gegründeten Konsortiums (Bremen, Palermo, Porto) zu unterstützen, ist nicht der geringste Verdienst von GLITEMA gewesen. Die Internationalisierung, in der Forschung nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern schlechthin eine Tautologie, erwies sich auch didaktisch als extrem vorteilhaft. Die aus unterschiedlichen Ländern stammenden Studierenden wurden von den jeweiligen Kompetenzen der aus mehreren Universitäten stammenden DozentInnen besonders angesprochen. Es zeichnete sich somit ein Weg ab, der auch vorbildlichen Wert für andere nationale Literaturwissenschaften und überhaupt haben mag. Die Internationalisierung der Lehrkräfte steigerte die Motivation der Studierenden, denen durch die jeweiligen wissenschaftlichen Schwerpunkte der Lehrenden eine bessere Grundlage für den Erwerb unterschiedlicher Kenntnisse ermöglicht und durch die oft auch divergierenden wissenschaftlichen Positionen zu einzelnen Fragen ein Modell unterbreitet wurde, wie eine faire Auseinandersetzung und Diskussion ausgetragen werden kann, die für alle Beteiligten bereichernd wirkt. Das GLITEMA-Programm trug schließlich auch zum Nord-Süd-Dialog bei, nicht nur, weil viele Studierende aus anderen Kontinenten, in erster Linie aus Afrika, daran teilnahmen und an den Universitäten des Konsortiums studierten, sondern auch und vor allem, weil durch das Studium ihnen die kulturell produktiven Vernetzungen im Hohen und Spätmittelalter zwischen Nord- und SüdEuropa, aber auch zwischen Europa und anderen Kontinenten deutlich wurden – oder immerhin: hätten deutlich werden sollen. Das Studium kann nur Stoff und Methoden vermitteln, jeder hat sich selbst das eine und das andere anzueignen, und somit das Seine zur eigenen Bildung beizutragen; so wie die Begegnung der Kulturen, die Vielfalt der Sprachen nicht an und für sich, sondern durch einzelne Leistungen jene konstruktive und weltoffene Einstellung initiieren, die immer wieder eine „glückliche“ Bevölkerung zu gründen vermag.

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Literaturverzeichnis Texte Goethe, Johann Wolfgang. Italienische Reise. Hamburger Ausgabe. Herbert von Einem (Hg.). München: DTV Klassik, 1988. I Poeti della Scuola Siciliana. 3 Bde. Roberto Antonelli, Costanzo Di Girolamo und Rosario Coluccia (Hgg.). Centro studi filologici e linguistici siciliani der Universität Palermo. Milano: Mondadori, 2008. Wieland, Christoph Martin. Clelia und Sinibald. Sämtliche Werke. VIII, I. Hg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, in Zusammenarbeit mit dem Wieland Archiv und Hans Radspieler. Reprint der Ausgabe letzter Hand. Hamburg: Greno, 1984, 161–396.

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Annette Gerok-Reiter, Tübingen

Ästhetik der Polyphonie Der frühe deutschsprachige Minnesang als Austragungsort kultureller Diversität Sind die Literaturwissenschaften im Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung neu zu konzeptualisieren? Diese Frage richtet sich an alle Philologien, besonders an jene, die sich mit mittelalterlichen Texten und Kulturen Europas beschäftigen. Der Grund hierfür liegt in der Hypothek ihrer Geschichte. Die Philologien entstanden bekanntlich in der Rückbesinnung auf die eigenen nationalsprachlichen Textüberlieferungen, verbunden mit der Entdeckung der mittelalterlichen Texte und Geschichte(n) als Fundus, aus dem – so die implizite Vorgabe – ein nationalhistorisch verankertes Selbstbewusstsein zu gewinnen war. Zwar haben sich die Philologien, auch und gerade die literaturwissenschaftliche Mediävistik, von dieser Herkunftsgeschichte im Selbstverständnis, in Theorie und Praxis nachhaltig gelöst, wobei die Wende zu den Kulturwissenschaften hier nochmals eine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Gleichwohl ziehen sich unübersehbare Restspuren dieser Geschichte bis in unsere Gegenwart. Diese Restspuren in einer globalisierten Welt sind es, die der Frage nach einer Neukonzeption der Literaturwissenschaften ihre Virulenz verleihen. Andererseits liegt in der Geschichte auch ein Vorteil: Die mittelalterlichen Kulturen Europas basieren auf „mehrsprachige[n] Gesellschaften, in welchen Identität (noch) nicht maßgeblich von nationaler Zugehörigkeit bestimmt wird“.1 Sie bieten sich damit trotz und wegen ihrer historischen Distanz in besonderer Weise als „Reflexionsraum“ für Probleme wie Perspektiven der heutigen Welt an, „in der Identität zunehmend nicht mehr ,monologisch‘, sondern als ein vielschichtiges Phänomen verstanden wird“.2 Im vorliegenden Beitrag geht es nicht um eine Neukonzeptualisierung des Faches insgesamt. Auch eine vergleichende oder komparatistische Analyse wird nicht verfolgt. Sehr wohl aber geht es um die Frage, ob und wie die Kategorien der Inter- und Transkulturalität3 zu einer Neuperspektivierung mittelalterlicher

|| 1 Kasten, Einleitung in diesem Bd. S. 2. 2 Kasten, Einleitung in diesem Bd. S. 3. 3 Unter Interkulturalität wird im Folgenden der ein- oder doppelseitige Austausch zwischen konkreten Kulturen (Regionen, Sprachen, Wertegemeinschaften) verstanden; in der Regel geht es hierbei um Prozesse der ‚Translation‘ vom einen Bereich in den anderen bzw. vice versa. Der

DOI 10.1515/9783110556438-003

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Textkulturen beitragen können und inwiefern sich von dieser eingegrenzten Fragestellung aus Brücken zur Gegenwart und dem Aufgabenbereich der heutigen literaturwissenschaftlichen Mediävistik finden lassen. Exemplifiziert werden diese Fragen an einem Textkorpus wie Forschungsfeld, an dem sich die angesprochenen polyphonen Möglichkeiten der Identitätsfindung ebenso wie die forschungsgeschichtlichen Widersprüche und Hypotheken wie kaum an einem anderen paradigmatisch aufzeigen lassen: dem Textkorpus des frühen deutschsprachigen Minnesangs. Zu analysieren ist hier, (1.) inwiefern die nationalsprachlich orientierten Anfänge der Minnesangforschung noch immer wirksam sind, (2.) welche Alternativen sich durch einen Interpretationsansatz der Trans- und Interkulturalität für das Textkorpus sowie (3.) für dessen ästhetische Kategorien ergeben und (4.) ob und wie von hier aus an die „Debatten über die gegenwärtige Kultur Europas und seiner Geschichte“4 anzuschließen ist.5

1 Zur Forschungsgeschichte des Frühen Minnesangs – die Hypothek Die älteren Forschungsansätze zum frühen Minnesang lassen sich in zwei konkurrierenden Deutungsoptionen bündeln, welche die Frage nach den inter- und transkulturellen Anfängen des frühen Minnesangs kontrovers beantworten. Die erste Deutungsoption verdankt sich den Versuchen der Romantiker und ihrer Nachfolger, die ‚altdeutsche‘ Literatur insgesamt, insbesondere aber den Minnesang als nationales und das hieß ‚ursprüngliches‘, ‚unverstellt-eigenes‘ Identifikationsmuster in ästhetischer wie kultureller Hinsicht nutzbar zu machen. Dieses ‚ursprüngliche‘ Identifikationsmuster – oft auch mit den Begriffen des Innigen oder Einfältigen versehen – sollte den Initialimpuls abgeben für ein neues kulturell begründetes nationales Selbstbewusstsein (vgl. etwa Tieck [1803] 1820, Görres 1817, Schlegel [1818 / 1819] 1913). Als im Verlauf der Rezeption und Wissenschaftsgeschichte der interkulturelle Einfluss der europäischen Tradition, insbesondere der französischen Trobadorlyrik, auf den deutschspra-

|| Begriff ‚Transkulturalität‘ wird hiervon abgesetzt. Er zielt auf Verflechtungsprozesse bzw. die Partizipation der einzelnen Kulturen an übergeordneten Diskursen oder Werten (vgl. Welsch 2010, Mersch 2016). 4 Kasten, Einleitung in diesem Bd. S. 4. 5 Der Beitrag bietet die argumentative Entfaltung der Skizze Gerok-Reiter 2015. Weitergedacht werden zudem die Ausführungen des Aufsatzes Gerok-Reiter 2013.

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chigen Minnesang immer stärker einbezogen und thematisiert wurde, bot sich für die alten, emphatisch vertretenen Ursprungsideologien, die zuvor auf den gesamten Minnesang bezogen waren, als Residuum der früheste Minnesang an. Von hier aus schreibt sich der Sonderstatus des frühesten, donauländischen Minnesangs als heimisch-unberührte Phase ‚einfältig‘-unmittelbaren Ausdrucks gegenüber dem völlig neuen Ansatz des durch Frankreich beeinflussten höfischen Minnesangs in den Literaturgeschichten fest (paradigmatisch: Scherer 1885; vgl. etwa Frings 1957). Diese Festschreibung ist als hartnäckiger Status quo bis in die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zu verfolgen (GerokReiter 2013, 80–81). Die zweite Deutungsoption setzt – auf den ersten Blick – gegenteilig an: Der französische Einfluss sei durchaus bereits beim frühesten Minnesang festzustellen (so schon Schönbach 1898, Singer 1920; weiter unter anderen Wolf 1983, Kasten 1986, Touber 1998, Schnell 2012). Wurden die Adaptionen in der ersten Deutungsoption als Übergriff der „romanischen Mode“ gesehen (Ehrismann [1935] 1959, 220), so in der zweiten als produktive Offenheit gegenüber dem avantgardistischen Minnediskurs der Romania.6 Als Folge dieser Integration rangierte der früheste Minnesang nun vorrangig als Vorstufe, als Übergangsstadium auf dem Weg zur Hohen Minne (etwa Lüderitz [1904] 1976, Kolb 1958), ein Weg, der nur über das französische Konzept des paradoxe amoureux zu begehen war. Als Vorstufe, indiziert durch eine Beschreibungssemantik des ,schon‘ oder ,noch nicht‘, fiel der früheste Minnesang dann jedoch eben dort konsequent aus dem Interessenraster heraus, wo der ,eigentliche‘ Minnesang mit dem Zentrum der Dienst- bzw. Hohen Minne fokussiert wurde, deutlich insbesondere bei den sozialgeschichtlichen und psychologischen Erklärungen des Minnesangs (bei Elias [1939] 1977 noch eingesetzt als Gegenbild; ausgespart etwa bei Köhler 1970; vgl. auch Müller 1986) ebenso wie beim Erklärungsmuster des Minnesangs als poésie formelle (Guiette 1960). Die zwei Deutungsoptionen bestehen somit entweder in der Zuschreibung eines euphorisch hervorgehobenen, von interoder transkulturellen Einflüssen abgelösten Sonderstatus oder in der Beurteilung als zwar offene, dennoch aber lediglich vorläufige Vorphase des ,eigentlichen‘ Minnesangs, in dem sich das paradoxe amoureux nach französischem Vorbild in der Translation in den deutschen Sprachraum, verbunden mit der

|| 6 Dass die These des ebenso konstatierten antik-mittellateinischen Einflusses auf den frühesten Minnesang (Schwietering 1924, Brinkmann 1926) weitaus weniger wirkmächtig blieb, zeigt umso deutlicher, dass sich der früheste Minnesang offenbar nur aus seiner Isolation befreien und nachhaltig an die abendländischen Traditionen anschließen ließ, indem er innerhalb einer Entwicklungslogik auf den Hohen Minnesang hin verortet werden konnte.

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versierten, ästhetisch ausgereiften Kanzonenstrophe, in hochreflektierter Form, folgt man der Handschriftenüberlieferung (Tervooren 1993), durchgesetzt habe. Beide Deutungsoptionen fallen in ihren Wertungen äußerst unterschiedlich aus. Gleichwohl partizipieren doch beide – und dies gilt es festzuhalten – an demselben, oft unausgesprochenen Interpretationsmodell kultureller Anfänge bzw. kultureller Entwicklung. Dieses Modell ist im Prinzip einer organisch-naturalen Genesevorstellung verpflichtet, d. h. der Vorstellung einer Abfolge von Keim und entwickelter Pflanze, von Knospe und Blüte, von Frühling und Sommer, von Kindes- und Mannesalter. Im deutschsprachigen Bereich dürfte für dieses kulturelle Genesemodell insbesondere Herder Pate gestanden haben, doch es firmiert weit über diesen Kontext hinaus, ja es stellt gleichsam die Grundformel für die großen teleologischen Kultur- und Geschichtserzählungen, deren Ziel- und Erfüllungspunkt – nach der Setzung einfacher Anfänge – in der Regel über Stadien der Entwicklung die jeweilige Gegenwart mit ihrer Ausdifferenzierung, Vielfalt und kaum mehr zu übertreffenden Komplexität darstellt (vgl. Haug 1998). Nun hat sich jedoch in der jüngeren Forschung nicht nur im Allgemeinen und weit über die Mediävistik hinaus ein Unbehagen an solchen ‚großen Erzählungen‘ eingestellt, sondern auch im Detail sind innerhalb der Forschungen zum frühen Minnesang kritische Gegenfragen und -positionen entstanden. Das stärkste Gegenargument bilden dabei die inzwischen wiederholt vermerkten Beschreibungskriterien der ‚Vielfältigkeit‘, der ‚Diversität‘ und ‚Polyphonie‘7 gerade des frühesten Minnesangs, denn diese versprechen einen von dem genannten Interpretationsmodell kultureller Anfänge unabhängigen Zugang. So stellen sich die genannten Kriterien per se sowohl gegen eine einlinige Ursprungssemantik des Einfältig-Unmittelbaren, die inter- oder transkulturelle Einflüsse zu negieren sucht, als auch gegen eine einlinige Entwicklung zur Dienstminne und Hohen Minne hin, in der inter- und transkulturelle Einflüsse lediglich als (notwendiges) Durchgangsstadium für die ‚Schöpfung‘ des ‚Eigenen‘ erscheinen.

|| 7 Die drei Begriffe sind nicht austauschbar, wenngleich ihre Semantik ineinander übergeht: Der Begriff ‚Vielfalt‘ zielt im aufgezeigten Kontext vor allem auf die numerische Hervorhebung pluraler Motive, Formen, Themen, Rollen etc. Der Begriff der ‚Diversität‘ unterstreicht – darüberhinausgehend – in erster Linie die Unterschiedlichkeit des Vielen. Der Begriff der ‚Polyphonie‘, den das Forschungsprojekt der Verf. Potentiale der Polyphonie im frühen Minnesang neu ins Spiel gebracht hat, möchte den Blick insbesondere auf die unterschiedlichen kulturellen Stimmen und deren diachrone und synchrone Interaktionen lenken. Der Begriff wird damit weiter gefasst als etwa in der linguistischen Fokussierung bei Bachtin 1979 und soll einer teleologischen Literaturgeschichtsdeutung, wie sie Bachtin mit Hilfe des Begriffs vorgenommen hatte, entgegenwirken (vgl. Kasten 1995a, Gerok-Reiter 2013, 96 Anm. 62).

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Genannt hatte das Kriterium der ‚Vielfalt‘ bereits Singer 1920; als grundsätzliche Beschreibungskategorie des frühesten Minnesangs bietet es auch die jüngere Forschung an (Tervooren 1993, Braun 2007a, Haustein 2008 u. a.). Ausführlich expliziert wurde es in neuerer Forschung jedoch meist nur in Bezug auf den Kürenberger (etwa Sayce 1982, Erfen-Hänsch 1986). Symptomatisch erscheint, dass die beiden einzigen Monographien zum frühesten Minnesang ebendieses Kriterium zwar durchaus auch in positiver Weise favorisieren, es jedoch in der Analysepraxis nicht einholen (Grimminger 1969, Hensel 1997). Die Hypothek der bisherigen Forschungsansätze spiegelt geradezu paradigmatisch die bislang jüngste Arbeit zum frühesten Minnesang: Hensel geht es ausdrücklich um das „Herausarbeiten der nuancenreichen gattungsinternen Vielfalt“ (1997, 24), er spezifiziert dies jedoch nicht als Merkmal des frühesten Minnesangs, sondern arbeitet in seiner Analyse – methodisch kontradiktorisch – einem Stufenmodell der Hohen Minne zu und fällt damit hinter seinen eigenen Anspruch zurück. Trotz der verschiedenen bemerkenswerten Versuche, mit diesen Beschreibungskategorien zu operieren, konnten diese bisher im Forschungsfeld nicht wirklich Fuß fassen, zu punktuell wurde der alternative Zugriff vertreten, zu wenig der Ansatz als konzeptuelle Kehrtwende thematisiert, vor allem: zu fest saßen ältere Deutungsmuster und Zugriffsweisen. Die Aufgabe einer literaturwissenschaftlichen Analyse unter inter- und transkulturellen Vorzeichen gibt den Kategorien der Vielfalt, der Diversität und Polyphonie jedoch im Anschluss an die genannten sowie gegenwärtige Bemühungen (Lahr 2018, Leidinger 2018) eine weitere Chance.8 So soll im Folgenden ausdrücklicher als zuvor versucht werden, diese Kategorien für den Beginn deutschsprachigen Minnesangs produktiv zu machen und in ihrem Potential zu überdenken. Erst dann lassen sich – so die These – die Anfänge deutschsprachigen Minnesangs entgegen der forschungsgeschichtlichen (nationalen) Hypothek neu perspektivieren, d. h. erst dann kann gerade und vor allem der früheste Minnesang als eigenständiger Austragungsort extremer kultureller Spannungen und Dynamiken in den Blick treten. Wie also sieht eine Lektüre unter dem Fokus inter- und transkultureller Diversität aus? Ich möchte dies an zwei sehr bekannten, vierzeiligen Strophen in knappen Skizzen exemplifizieren. Anschließend ist zu fragen, was dieser Perspektivwechsel in Hinblick auf ästhetische wie kulturhistorische Wertungs-

|| 8 Ergänzend hinzuweisen ist darauf, dass ein Prämissenwechsel auch unter anderen Vorzeichen eingeleitet wurde, etwa unter dem Vorzeichen der Fiktionalität (Reuvekamp-Felber 2001) bzw. der Artifizialität (Braun 2007a und 2011); unter editorischen Gesichtspunkten (Haustein 2000, Brunner 2005); unter dem Aspekt der Autorschaft und der gesamten „Konstellation“ des frühen Minnesangs (Benz 2014, 576).

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optionen bedeutet ebenso wie in Hinblick auf das Selbstverständnis einer heutigen Mediävistik.

2 Inter- und transkulturelle Diversität als Interpretament – zwei Beispiele 2.1 Der von Kürenberg: Wîp unde vederspil (MF 10,17) Wîp unde vederspil diu werdent lîhte zam. swer sî ze rehte lucket, sô suochent sî den man. als warb ein schoene ritter umbe eine vrouwen guot. als ich dar an gedenke, sô stêt wol hôhe mîn muot.9 Frauen und Falken sind leicht zu zähmen. Wenn einer sie richtig zu locken versteht, fliegen sie auf den Mann. So warb ein schöner Ritter um eine edle Dame. Wenn ich daran denke, so bin ich hochgestimmt.

Der von Kürenberg „gilt als der älteste namentlich bekannte Minnesänger“ (Brunner 2005, 196). Seine Lieder werden auf etwa 1150 / 1160 datiert. Überliefert ist ein kleines, aber hochinteressantes Œuvre. Die vorliegende Strophe wird gemeinhin als sogenannte „Prahl-Strophe“ (Kasten 1995b, 593) mit männlicher „Renommiergeste“ (Knapp 1994, 252) verstanden, als „Musterbeispiel“ (Kasten 1995b, 593) einer feudal-selbstbewussten, noch nicht literarisch gebrochenen frühhöfischen Auffassung von Liebe. Dabei formuliert sie, so Horst Brunner (2005, 200), „einen für Frauen eher weniger schmeichelhaften Sachverhalt“: Frau und Jagdvogel werden parallelisiert. So wie der eine ist die andere zwar durchaus kostbar, aber doch zu zähmen, zu locken und prinzipiell zu erlangen: Aufgerufen ist das topische Bild der affektgeleiteten Frau mit Einschreibungen des feudalen, patriarchalisch organisierten Diskurses. Zur Diskussion soll jedoch nicht primär der feudal-selbstbewusste Gestus stehen, der hier greifbar wird. Entscheidend ist vielmehr eine Diversität innerhalb der Strophe, die durch einen formalen, stilistischen und semantischen Registerwechsel10 entsteht. Denn nach den ersten beiden Versen wechseln || 9 Text nach Des Minnesangs Frühling, 1982. 10 Der Registerbegriff wird hier nicht im soziologisch bipolaren Verständnis von Bec 1977, 33– 44, verwendet, sondern schließt an Zumthor 1972, insbes. 231–232, 239–243 an, der ihn offener als „convention communicative“ (239) versteht. Vgl. zur Diskussion: Linden 2017, Kap. F.2.4.d.

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Sprechhaltung, Semantik und Bildlichkeit komplett. Statt der allgemeinen Geschlechtsbezeichnungen man (V. 2) und wîp (V. 1) tauchen in Vers 3 und 4 die Vokabeln ritter und vrouwe, schoene und guot auf, dezidiert Vokabeln des neuen höfisch-sozialen Wertediskurses; statt um eine Erfolgsgeschichte des Lockens (lucket V. 2) geht es nun um ein Werben des Mannes (als warb V. 3), das gemäß dem neuen aus Frankreich importierten höfischen Minneideal Distanz, Unterordnung und Dienst verlangt; statt um die Explikation einer kollektiv gültigen Regel in Vers 1 (Sentenz) und 2 (swer [...], sô [...]) werden eine IchPerspektive (V. 4) und eine Haltung des Gedenkens (als ich daran gedenke V. 4), des vorsichtigeren Erinnerns favorisiert. Und dieses vorsichtige Gedenken, das sich offenbar in einer bloßen Haltung, nicht in der Tat erfüllt, führt schließlich zum hôhen muot (V. 4) und erlangt mit dem Kernbegriff des neuen höfischen Kulturanspruchs höchste Auszeichnung. Offensichtlich stehen sich hier der ältere, feudal-chauvinistische Anspruch der ,heimischen‘ Tradition und der neue Dienstgedanke der französischen Trobadorlyrik, der sich seit etwa 1100 in Südfrankreich, später auch im Norden und im deutschsprachigen Territorium ausbreitet, gegenüber und damit einerseits ein eher lebenspraktischer Entwurf, angekoppelt an das umgebende soziale Umfeld, und eine literarisch idealisierende Alternative andererseits, ein literarisches imaginaire, das an der „gedachte[n] Ordnung“ höfischer Repräsentation (Müller 2010, Müller 2007, 9–17) gleichwohl mitwirkt. Von diesem widersprüchlichen Befund aus sind drei Deutungen möglich: Man könnte den Registerwechsel so verstehen, dass der selbstgewisse Redegestus der Verse 1 und 2 als nicht mehr recht zeitgemäß empfunden und gleichsam in den Versen 3 und 4 mit Hilfe höfischen Vokabulars ‚aufgefangen‘ bzw. ‚austariert‘ wird – gleichsam eine inkohärente Fingerübung in Sachen divergenter, alter und neuer Minnekonzepte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der strophische ‚Verschnitt‘ sich als „präzise kalkulierte Antwort auf das trobadoreske Modell“ der Romania lesen lässt (Braun 2007a, 109) in dem Sinn, dass im vollen Bewusstsein der unterschiedlichen Sprach- und Minneregister die Verse 3 und 4 mit ironischem Unterton dargeboten worden wären, um von der kruden Lockmechanik aus die Rede vom hohen muot, vom werben und gedenken als literarisch-leeres, neumodisches ,Gerede‘ zu entlarven und deren Anhänger auf den Boden der altbewährten ,Tatsachen‘ zurückzuholen. Die Vergleichsvokabel als (V. 3) wäre dann ironischer Umschlagsort. Denkbar wäre jedoch auch, dass der Vergleich ernst gemeint ist. Dann würden der Zielvorstellung höfischen Werbens in V. 3 und 4 deren Voraussetzungen in V. 1 und 2 vorangestellt, die gerade nicht das ,leichte‘ ,Zähmen‘ der Frau in Aussicht stellen, sondern das schwierige Bemühen, das nur ,vielleicht‘ gelingt und daher ein besonders kunstvolles

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Werbungsverhalten (Kasten 1986, 211) einfordert (‚Nur wenn einer sie in der richtigen Weise zu locken versteht ...‘), auch wenn das gewählte Vokabular in Lexik und Semantik verrät, dass sich dieses Werbungsverhalten nicht recht aus den alten Mustern zu lösen vermag. Wie auch immer man entscheiden möchte: Wichtig ist nicht die eine Haltung und Stimme, die hier zum Ausdruck kommt, sondern die Diversität zweier Ansätze, die – je nach Deutung – in Opposition zueinanderstehen oder ineinander changieren, ohne dass die Differenz aufgehoben würde. Genau dadurch gewinnen aber die Zeilen ihre ästhetisch wie literarhistorische Spannkraft, genau dadurch werden sie zu mehr als einer „männliche[n] Renommiergeste“. So spiegelt die Inkohärenz an der Textoberfläche vielmehr in actu die interkulturellen Verhandlungen und Konkurrenzsituationen unterschiedlich praktizierter Minnekonzepte und rivalisierender Redeweisen zwischen alt und neu, zugleich die kaum aufzuhebende transkulturelle und grundsätzlichere Divergenz zwischen einem feudalen Erfolgsdiskurs, der im französisch- wie im deutschsprachigen Gebiet Geltung beansprucht haben dürfte, und einer neuen, ganz andersartigen, sensuellen Semantik der Minne, deren Faszinationspotential sich auch bereits bei den frühen deutschsprachigen Lyrikern niederschlägt, deren Translation jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht recht gelingen will oder brüsk der Lächerlichkeit anheimgestellt wird. Nicht die eine Überzeugung und Wertung, sondern die Heterogenität der Ansprüche, der sich die zeitgenössische feudale Hörerschaft zu Beginn des Minnesangs ausgesetzt sah und die kaum mit mehr Ironie, ja bissigem Spott aus- und bloßgestellt werden könnte, macht die Strophen so interessant. Erst im Blick auf seine formal-stilistische Diversität an der Textoberfläche wird das Lied somit mehr als eine lyrische Meinungsäußerung, wird vielmehr zum historischen Zeitdokument einer spannungsreichen Pluralität an Möglichkeiten, zum überindividuellen Zeugen einer aufgeladenen vielstimmigen Auseinandersetzung um Minne-, Gender- und Identitätskonzepte.

2.2 Mich dunket niht so guotes (MF 3,17) Mich dunket niht sô guotes noch sô lobesam sô diu liehte rôse und diu minne minnesam. diu kleinen vogellîn diu singent in dem walde, dêst menegem herzen liep. mir enkome mîn holder geselle, ine hân der sumer wunne niet.11

|| 11 Minnesangs Frühling 1982. Die Konjektur MF V. 2 minne mîns man ist nicht notwendig (Kasten 1995b, 581).

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Mir scheint nichts so gut noch so lobenswert wie die leuchtende Rose und die liebe Liebe. Die kleinen Vögel, die singen im Wald, das gefällt vielen Herzen. Wenn nicht mein Liebster kommt, habe ich nichts von der Sommerfreude.

„Die handschriftliche Zuweisung dieser Strophe an Niune und Alram von Gresten gilt“, so kommentiert Ingrid Kasten, „allgemein als falsch. Nach Inhalt und Form gehört dieser Text zu den ältesten Zeugnissen der mhd. Lyrik, die um 1160 datiert werden“ (Kasten 2000, 206). Möchte man eine spätere Entstehungszeit ansetzen, würde man durch die Langzeilen, den rührenden Reim bzw. Assonanzreim und die Einstrophigkeit im Verbund mit der weiblichen Stimme, die offen ihr Sehnen artikuliert, eine Imitation der älteren Lieddichtung annehmen müssen. In beiden Fällen erweist sich das einstrophige Lied jedoch keineswegs als so harmlos und widerspruchsfrei, wie es zunächst scheint. Denn es demonstriert drei kulturelle Neuerungen, die nicht nur im zeitgenössischen Kontext der frühen deutschsprachigen Lieddichtung durchaus nachhaltig irritieren mussten, sondern – wie im Beispiel zuvor – auch auf transkulturelle Veränderungen tradierter europäischer Kulturmuster verweisen. Ablesbar wird diese Auseinandersetzung ebenfalls an einem der Strophe eingeschriebenen Registerwechsel in Lexik, Personalstruktur und Satzmodus. Zu den irritierenden Neuerungen gehört zunächst, dass nicht ein Allgemeines der Rede wert ist, sondern das, was ein einzelnes Ich fühlt, denkt, wahrnimmt: Mich dunket [...] (V. 1). Vierfach (mich V. 1, mir, mîn, ine V. 4) rekurriert die kurze Strophe auf dieses Ich: Das Ich schält sich dabei gleichsam aus dem grammatischen Objektstatus über das vermittelnde Possessivpronomen heraus, gewinnt bis zuletzt Subjektstatus. Dieses herausgestellte, ja insistierende Sprechen von einem Ich her ist nun keineswegs gewöhnlich im Kontext der vorausgegangenen überlieferten deutschsprachigen Lyrik, für die Tanzlied und Spruch Anhaltspunkte geben können. Beiden Typen, Tanzlied wie Spruch, ist gemeinsam, dass in der Regel von einem Kollektiv ausgegangen wird, gefasst in einer allgemeinen Aussage, oft einer Sentenz.12 Man mag diese kollektive Identität mit || 12 Für die Überlieferung der vorausgegangenen Liebeslyrik haben wir allerdings nur äußerst spärliche Zeugnisse: Vgl. etwa das Verbot von Karl dem Großen im Kapitulare vom 23. März 789 an geistliche Frauen, Liebeslieder zu schreiben oder mitzuteilen (winileodos scribere vel mittere) oder die kritische Äußerung Otfrids von Weißenburg, dass man dem ‚anstößigen‘ Gesang der Laien (cantus obscoenus laicorum) etwas entgegensetzen müsse (Otfrid 1987, 17). Als Beispiel für den kollektiven Charakter des Tanzliedes sei verwiesen auf MF VI: Swaz hie gât umbe, / daz sint alles megede, / die wellent ân man / allen disen sumer gân; für einen sentenzartigen Spruch auf MF II: Tief vurt truobe / und schône wîphuore / sweme dar wirt ze gâch, / den gerûit iz sâ.

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der Luhmannschen These, dass sich Identität in mittelalterlichen Kontexten über Inklusion herstelle (Luhmann 1989, 154–173), oder mit Dinzelbachers Formulierung des „Sozial-Leibs“ (1993, 26) verbinden. Entscheidend ist, dass im Beispiellied Mich dunket nun ein Ich gegenüber dieser kollektiven Identität deutlich heraustritt, indem es gleichsam Raum gewinnt, einen eigenen Aussageraum einfordert. Es geht dabei – zweitens – um das Thema einer weltlichen, personal gedachten Minne: die minne minnesam. Auch dies ist vor dem europäischen Hintergrund der bisher fast ausschließlich geistlich geprägten schriftlichen Überlieferung höchst ungewöhnlich. Dabei ist Kennzeichen dieser neuen Art von Liebe auch ein neues sensitives Vokabular, das nicht nur von Tanzlied und Spruch deutlich unterschieden ist, sondern auch vom Traditionsstrang der lateinischen Liebesdichtung: Liebe als Affekt oder passio, etwa als Krankheit oder Brand wie bei Ovid, oder Liebe als ungehemmtes, fröhlich vitales Naturprinzip, das ohne Umweg zum Erfolg zu kommen sucht, wie es etwa in der Vagantenlyrik begegnet – von beidem kann hier nicht die Rede sein. Gewählt wird stattdessen eine Semantik, die die Erfahrung der Minne über eine Vielfalt an Sinneseindrücken in synästhetischer Überblendung indirekt zu umschreiben sucht, grundiert von der Möglichkeit des Schmerzes, den eine Nicht-Begegnung bedeuten würde. Beides, das Heraustreten des Ichs aus dem Kollektiv sowie die neue sensitive Sprache einer personalen Minne, wird nun – drittes Irritationsmoment – einer Frau in den Mund gelegt mit durchaus positiver Konnotation. Auch diese positive Konnotation – und gerade diese – überschreibt tradierte Kulturmuster neu, gemessen an dem nach wie vor misogynen Frauenbild des kirchlich-kanonistischen Diskurses, in dem Weiblichkeit in der Regel der gegenüber der Ratio inferioren Affektseite zugeschrieben wird. Die wenigen Zeilen versammeln somit drei Irritationsmomente: Das Heraustreten des Ich aus dem Kollektiv, die neue sensuelle Minnethematik, die Affektivität im Wertetableau der Zeit umbesetzt, eine Frauenstimme, die von ihrer und über ihre Minne positiv zu reden beansprucht. In Vers 3 und 4 erfolgt jedoch ein deutlicher Umschwung in der Sprechhaltung: Die Mittelzeilen präsentieren ein Sprechen ohne personalen Bezug, ein Sprechen im Rekurs auf die Vielen, erzählend, fast sentenzhaft vorgetragen. Warum erfolgt dieser Registerwechsel, der die Ich-Aussage für zwei Verse zurückdrängt? Was die Zeilen kolportieren, ist, so meine ich, der fast versteckte Versuch einer Legitimation des dreifach Irritierenden. Weil das Heraustreten des Ich in dieser Weise nicht selbstverständlich, sondern vor dem zeitgenössischen soziokulturellen Hintergrund prekär ist, inszeniert das Lied neben dem

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Ich-Bezug eine zweite Ebene, die nunmehr die Rückbindung ans Kollektiv und den göttlichen ordo ins Spiel bringt: diu kleinen vogellîn diu singent in dem walde, dêst manigem herzen liep.

Das, was die Vielen erfreut, ist das Natürlichste auf der Welt: das Singen der Vögel. Es erfreut zu Recht, nicht weil es das Natürlichste ist, sondern weil das Natürliche auf die Schönheit von Gottes Schöpfung, den göttlichen ordo, verweist. Von diesem Rüchbezug kann jedoch im Analogieschluss dann auch die leuchtende Rose profitieren und die – in der Beiordnung – parallel gesetzte Liebe (V. 2). Das also, was das Natürlichste auf der Welt ist, das Singen der Vögel und das Leuchten der Rose, was dem göttliche ordo entspricht und alle erfreut, ebendies kann nur guot sein: Mich dunket niht sô guotes noch sô lobesam / sô diu liehte rôse und eben dann auch: diu minne minnesam. Ja noch mehr: So richtig das Lob über die leuchtende Rose ist (V. 1), so richtig kann dann auch nur, wie implizit suggeriert wird, ein Sprechen über die eigene Liebe sein. Empfindungs- und Darstellungsebene verschränken sich wiederum im Vollzug des Liedes. Das Lied etabliert somit ein personales, sich selbst behauptendes Ich in anwie abgrenzender Relation zum Kollektiv. Es artikuliert den Anspruch einer weltlichen Minne und legitimiert diesen Anspruch durch nichts Geringeres als die Analogie zur gottgewollten Schöpfung. Es positiviert weiblich-affektives Sprechen gegen die Dominanz einer weitgehend misogynen klerikalen Tradition. Und es erlaubt dem männlichen Sprecher, von dem wir wohl ausgehen müssen, eine Sprache der Emotionen unter positiven Vorzeichen einzuüben (Kasten 2000, 22). Dass dieses Sprechen über Minne, Emotion und Identität, das transkulturell den Aufbruch der volkssprachigen Lyrik kennzeichnet, im zeitgenössisch-feudalen Kontext ein außerordentlicher, ja ein befremdlich-verunsichernder Akt gewesen sein muss, lässt sich dabei nicht nur über die literarhistorischen und sozialen Kontextualisierungen, die ich vorgenommen habe, zeigen, sondern ist wieder ablesbar an den ,Signaturen‘ der Textoberfläche, den ‚Verwerfungen‘ in den Zeilen selbst, die Diversität markieren und indizieren: im Registerwechsel der Sprechhaltung, in der vorsichtigen Relativierung: mich dunket, im offenen Schluss. Eben in dieser Setzung des Außerordentlichen bei zugleich spürbar bleibender fragiler Vorsicht, in dieser ganz und gar unspektakulären Formulierung des zugleich Spektakulären wird auch dieses Lied zu mehr als einer personalen Liebesklage. Es wird zur „aufgezeichneten Spur“ (Angermüller 2001, 8) eines kulturellen Umbruchs und seiner impliziten Spannungen.

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3 Potentiale der Polyphonie – ästhetische Perspektiven Mit dem Blick auf die Divergenzen des frühesten deutschsprachigen Minnesangs, die sich mit Hilfe der Kategorien der Inter- und Transkulturalität deutlicher als zuvor als zeithistorische Dokumente aktueller Auseinandersetzungen um Minne-, Gender- und Identitätsvorstellungen lesen lassen, gewinnt nicht nur die historische Situierung des frühen Minnesangs an Profil, sondern auch seine ,Ästhetik‘.13 Denn von der Ebene des discours aus erweisen sich – über die zwei Beispiele hinaus – die eingeschriebenen Registerwechsel, die semantischen Umbruchsstellen, die Umsprünge in Lexik oder Satzart, die Konfrontation von Ich und Kollektiv, die Heterogenität in Sprechhaltung oder Bildlichkeit als charakteristisch, und dies nicht nur, wie bisher in der Forschung hervorgehoben, von Strophe zu Strophe oder von Lied zu Lied, sondern auch, ja gerade innerhalb einzelner Strophen. Ebendies dürfte das entscheidende Differenzkriterium zur späteren Vielfalt des Minnesangs sein, wie sie sich etwa bei Walther zeigt. D. h., gerade für den frühesten Minnesang erscheinen die Verwerfungen der Kohärenz an der Textoberfläche oder, besser gesagt, die additive ‚Fügung‘ von disparaten formalen Elementen, Motiven, Semantiken und Bildern als ästhetischer Index. Ja, man ist versucht zu sagen, dass der früheste Minnesang durch seine vergleichsweise offen zutage liegenden sprachlichen Schnittstellen und Registerwechsel nicht nur zum ausgezeichneten Dokument und Agens einer sich erst neu etablierenden Kultur wird, in der differierende inter- und transkulturelle Ansprüche ebenso interagieren wie konkurrieren, sondern auch eine Ästhetik sui generis repräsentiert. Der ästhetische Reiz des frühesten Minnesangs bestünde so gerade in seinen flexiblen Angeboten jenseits einer maßgeblichen Norm, seiner – in manchem – ungeschliffenen Parataxe der Perspektiven und Stimmen, seiner Heterogenität auf allen Ebenen. Damit entzieht sich der früheste deutschsprachige Minnesang sowohl in seinen Themen als auch in seiner ästhetischen ‚Signatur‘ einer Deutungsoption des ‚ursprünglich Naturhaften‘, aber auch der Wertungsoption unausgereifter Vorläufigkeit. Nicht ‚Einfachheit‘, ‚Naivität‘ und ‚Unschuld‘, sondern die Pluralität ganz disparater Stimmen sowie die Polyphonie an Möglichkeiten zeichnen somit die früheste deutschsprachige Lyrik aus, die gerade dort, wo sie sich am weitesten in neue kulturelle Domänen

|| 13 Zur Berechtigung dieses Begriffs, dessen prominente Bedeutung sich erst mit Baumgartens Aesthetica im 18. Jahrhundert durchsetzt, auch in Bezug auf ältere Texte und Kontexte vgl. insbes. Braun 2007b, 1–6; Gerok-Reiter et al. 2018.

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vorwagt, am entschiedensten auch traditionelle Kulturmuster, Motive, Semantiken und Formelemente aufruft – so das Alte mit dem Neuen konfrontierend in pluralen Settings, die ihren eigenen kulturellen und ästhetischen Verfahrensweisen folgen. Eine in dieser Weise konturierte ästhetische Verfahrensweise lässt sich am ehesten als eine ‚additive Ästhetik‘ bzw. eine ‚Ästhetik der Polyphonie‘ auf den Begriff bringen. Sie entspricht im Bereich des frühesten Minnesangs sicherlich keinem intentionalen Konzept, keiner reflexiven Programmatik und dürfte daher eher als ‚geworden‘ und ‚einfach akzeptiert‘ denn als ‚gesetzt‘ oder ‚komponiert‘ gelten. Es ist eine Ästhetik nicht des Kalküls oder der Reflexion, sondern der volkssprachigen Praxis des zwölften Jahrhunderts. Weil diese Praxis Konsequenz zeigt, verdient sie gleichwohl den Namen ‚Ästhetik‘. Die ästhetische Praxis der additiven Fügung (Gerok-Reiter 2015) des Heterogenen bestimmt die Überlieferung bis zum Dietmar-Korpus als Kennzeichen der Anfänge bzw. der Übergangszeit (Leidinger 2018). Ebendies belegt ein zeitgenössisches Verständnis von ästhetischer Gestaltung und Form, das es – jenseits einer Vorstufenreduktion – zu konstatieren, in seiner Anschluss- und Experimentierfreudigkeit zu würdigen und in seinen ästhetischen Valeurs zwischen Ausdruck und Leerstelle, zwischen bildlicher Verdichtung und Bildsprung, zwischen Formtradition und Gedankenschnitt neu wahrzunehmen gilt.

4 Die Signatur kultureller Aufbrüche – historische Modelle Der Beitrag wollte zeigen, inwiefern der frühe deutschsprachige Minnesang weder außerhalb der transkulturellen europäischen Reflexionsräume noch durch einseitige Zuschreibungen zu einem der möglichen Einflussbereiche zu fassen ist, sondern sich in seiner Eigenart nur von den Reibungsstellen der unterschiedlichen kulturellen Traditionen, historischen Diskurse und formellen Angeboten des europäischen Sprachraums her verstehen lässt. Die disparaten, z. T. diskrepanten Ansprüche der kulturellen Aufbruchszeit des zwölften Jahrhunderts werden vielfach in Relation gesetzt, miteinander austariert oder gegeneinander ausgespielt, offen oder verdeckt, direkt oder in leisen Anspielungen, als Objekt des Spottes oder in fragilen Korrelationen verhandelt und zur Diskussion gestellt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungsprozesse, die im frühen Minnesang oftmals erst auf den zweiten Blick sichtbar werden, sind keine normativen Maßstäbe und rigiden Gegenkonzepte. Vielmehr handelt es

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sich um tastende Versuche neuer Minne-, Gender und Identitätsentwürfe, die ihre Überzeugungskraft und produktive Dynamik gerade aus den offenen, fluiden Suchbewegungen zwischen den diskrepanten kulturellen Angeboten, Mustern und Traditionen beziehen. So konnte gezeigt werden, wie bereits die frühen Lieder sich an Minne- und Identitätskonzepten ganz unterschiedlicher kultureller Provenienz abarbeiten und auf diesem produktiven Verhandlungsweg nicht nur zu eigenen Aussagen kommen, sondern implizit auch eine ‚Ästhetik der Polyphonie‘ entwickeln – als adäquate Antwort auf den heterogenen europäischen Resonanzraum des zwölften Jahrhunderts. Abschließend ist die Ausgangsthese – Vielfalt, Diversität und Polyphonie seien das spezifische Kennzeichen des frühesten Minnesangs – in ihrer Reichweite und ihren Konsequenzen für die Frage nach der Signatur kultureller Aufbrüche abzuwägen und zu diskutieren. Folgt man der These und fasst die vielfältigen Erscheinungsformen des frühesten Minnesangs nicht (nur) als Resultate der Unfertigkeit, Unschlüssigkeit und Vorläufigkeit, sondern als Zeugnis intensiver kultureller Verhandlungen zwischen laikalen und klerikalen Ansprüchen, zwischen alten und neuen Gefühlskulturen, zwischen kontroversen Inszenierungen weiblicher und männlicher Identitätsmuster, zwischen disparaten Raum- und Zeitparadigmen, zwischen Kollektiv und personalem Ich etc., so lässt sich die produktive Dynamik des frühesten Minnesangs im Schnittpunkt von neuem Kulturanspruch der Volkssprache und europäischer Tradition erst eigentlich ermessen (Gerok-Reiter 2013, 94–97). Erst vom Ansatz der Inter- und Transkulturalität her lässt sich somit plausibilisieren, dass gerade der früheste Minnesang, so wie die Überlieferung ihn präsentiert, nicht (nur) als vorbereitende Phase zu werten ist, sondern als Zeugnis einer ‚Hochphase‘ intensiver kultureller Diskussion und eines ebenso intensiven Kulturtransfers. Es geht so auch wohl kaum um einen ‚Anfang‘ im Sinne einer Stunde ‚Null‘, um die Erfindung von etwas Neuem, sondern um eine Bündelung und Formation, ja vielleicht Neuformation (in diesem Sinn auch Translation) vorhandener Denkmuster, Traditionslinien und Ansprüche. Die daraus entstehenden heterogenen Produkte mögen sich in der kalkulierten Reflexionskraft und -tiefe von den späteren Liedern eines Morungen, Reinmar oder Walther unterscheiden. In Hinblick auf ihre kulturelle und ästhetische Energie, die Energie eines Aufbruchs, kommt ihnen zweifellos ein herausragender Rang zu. In der Konsequenz aber heißt dies, dass ‚Pluralität‘ und ‚Diversität‘ nicht nur als Faktoren kultureller Ausdifferenzierung etablierter Traditionen, sondern ebenso als maßgeblich stimulierendes Potential junger Kulturen am Umschlagsort neuer Traditionsbildungen in Anschlag zu bringen sind. Die wechselseitige produktive Spannung von „Pluralisierung und Autorität“ (Müller et. al 2010) ist

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nicht erst Signum der Frühen Neuzeit, sie zeigt sich in den agonalen Strukturen der Auseinandersetzung und Genese etwa auch der volkssprachigen Lyrik des zwölften Jahrhunderts. Nicht die „Verwilderung“ der vorausgegangenen Ordnung (Stierle 1980), wohl aber das Ungeregelte, Vielfältige und Diverse als Voraussetzung weitreichender Neuentwürfe wird man in verwandter Form in den vielstimmigen, oftmals noch ungeschliffen erscheinenden, tastenden Angeboten des durch keine normative Poetik festgelegten volkssprachigen Minnesangs wiedererkennen können: die Polyphonie im ebendort sich vielfach einstellenden, durchaus abenteuerlichen Zusammenschnitt nicht nur interkultureller französischer und ‚heimischer‘, sondern auch transkulturell wirksamer antiker, christlicher und volkssprachig-weltlicher Traditionen. Modelle eines solchen durch Pluralität geprägten Aufbruchs haben mit einem natural-diachronen Konzept von Keim und Blüte nichts zu tun. Sie lenken den Blick vielmehr auf die agonal-synchronen Strukturen der Polyphonie von sozialen, religiösen, politischen Stimmen und Gegenstimmen. Wenn das in diesem Sinn Vielstimmige und Agonale, wie die jüngere Kreativitätsforschung betont (Blamberger 1991), notwendiges Stimulans kultureller Aufbrüche ist, bietet eben dieser Zusammenhang nicht nur den Schlüssel für ein verändertes historisches und ästhetisches Verständnis des frühesten Minnesangs. Er bietet ebenso ein Modell für eine Zukunftsperspektive, die – auch und gerade angesichts der extremen Vielfalt einer globalisierten Welt – von Zuversicht getragen sein könnte. Eine literaturwissenschaftliche Mediävistik, die es vermag, auf der Basis des tradierten Instrumentariums der Philologien historische Modelle trans- und interkultureller Produktivität analytisch zu erfassen und konstruktiv zu diskutieren, sollte eine solche Diskussion daher mehr denn je zu ihren zentralen Aufgaben zählen.

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Lydia Miklautsch, Wien

Virginia Woolf liest Christine de Pizan Have not we too? —yes, we have Answers, and we know not whence; Echoes from beyond the grave, Recognised intelligence! (William Wordsworth, The Mountain Echo)

Vorbemerkung Ich verdanke dem Erasmus Mundus GLITEMA- Studiengang die vielleicht spannendsten und ungewöhnlichsten Seminare meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin, was ganz wesentlich damit zu tun hatte, dass so viele der Studierenden aus dem außereuropäischen Raum stammten und in der Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Texten Betrachtungsweisen aufzeigten, die die Dialogizität und das transkulturelle Potential dieser Texte immer wieder deutlich werden ließen. Die gemeinsame Arbeit mit diesen, im positiven Sinne, heterogenen Gruppen inspirierten auch zu experimentelleren Unterrichtsformen und zu stärker interdisziplinär und komparatistisch ausgerichteten Themen, für die sich die europäischen Literaturen des Mittelalters in ihrer historischen und politischen Alterität ohnehin besonders eignen. Dazu gehörte ein Seminar mit dem Thema: Frauen – Schreiben – Räume, das ich 2015 gemeinsam mit Arno Dusini in Palermo abgehalten habe und in dem wir Christines de Pizan Buch von der Stadt der Frauen (Le Livre de la Cité des Dames, um 1405) in Korrespondenz zu Virginia Woolfs Essay Ein eigenes Zimmer (A Room of One’s Own, 1929) lasen. Anstoß für das Seminar war der Eindruck, dass sich Virginia Woolfs Aussagen über die Bedingungen und Schwierigkeiten weiblicher Autorschaft mit Christines Selbstaussagen in vielfältiger und teilweise verblüffender Weise berühren. Bei aller Problematik einer Vergleichbarkeit der Schriften einer Autorin des beginnenden 15. Jahrhunderts und einer Autorin des frühen 20. Jahrhunderts, aus unterschiedlichen Kulturkreisen und verschiedenen Sprachen, hat sich ein praktikabler Zugang über den Begriff des „Echoraums“ ergeben, der im Bereich der Literaturwissenschaft – ausgehend von Michail Bachtins Konzept der Polyphonie über Julia Kristevas Intertextualitätstheorie – neuerdings etwa von Christiaan L. Hart Nibbrig zur Diskussion gestellt wurde. Literarische Texte, so

DOI 10.1515/9783110556438-004

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seine These, erzeugen einen Resonanzraum.1 Von daher gilt es, einen literarischen Text als Partitur von Stimmen zu lesen, die nicht mehr an die jeweiligen Figuren gebunden sind, sondern von deren Körpern abgelöst, auf die Möglichkeit einer anderen Sprache hinweisen. Diese andere Sprache scheint – unserem Verständnis nach – lange Zeit sozial unterbrochen oder verschwunden zu sein, um dann plötzlich, unter ganz anderen historischen Bedingungen, wieder aufzutauchen. Gerade was weibliche Autorschaft anbelangt, scheint es diese Stimmen und Resonanzräume über Orte, Sprachen und Zeiten hinweg zu geben, ganz so wie Christine es prophezeit: Und die, die sie [d. i. die Erzählungen] verstehen, werden Gutes darüber sagen. Und künftig wird mehr von dir die Rede sein als zu deinen Lebzeiten. Denn so viel sage ich dir noch, du kamst in eine schlimme Zeit [...]. Nach deinem Tod wird der Fürst voller Klugheit und Weisheit kommen, der sich angesichts dessen, was deine Bücher aussagen, wünschen wird, du habest in seiner Zeit gelebt und sehnlich danach verlangen, dich mit eigenen Augen gesehen zu haben.2

Kein Ort für Frauen Im Jahre 1405 vollendet Christine ein in vielerlei Hinsicht hochkomplexes Werk, die dreiteilige allegorische Prosaschrift l’Advision Christine (auch Avision). Wie der Titel bereits sagt, handelt es sich um eine Traumvision, in der die Autorin drei verschiedene spirituelle Welten durchquert, zunächst das Territorium || 1 Nibbrigs Studie ist weniger als wissenschaftliche Abhandlung mit ausgefeilter Theorie zu verstehen, denn als eine Collage von Lektüren verschiedener Literaturen über das Thema sich verselbständigender, vom Körper abgelöster Stimmen. Die Studie endet – Benjamins Aufgabe des Übersetzers – zitierend mit folgender Beobachtung: „An der Stelle [...] wo das Original gerufen werden, Stimme bekommen kann, um, als Echo übersetzt, auch vernommen zu werden, an dieser Stelle hört die Übersetzung auf, zum Original in einem Verhältnis zur Substitution, der Metapher also, zu stehen. Sie steht [...] ‚nicht anstatt des anderen, sondern anstelle des anderen‘, ja recht eigentlich: statt solchen Anstatts an dieser Stelle. An dieser Stelle, dort, hausen die Geister. Dort und da und fort/da wie das Echo sind unsere Stimmen vernehmbar. Im Echoraum Literatur“ (Nibbrig 2001, 135). 2 Et ceulx qui lentendront en diront bien Et le temps a venir plus en sera parle que a ton vivant. Car tant te dis ie encore que tu es venue en mauvais temps [...] Mais apres ta mort venra le prince plein de valour et sagece qui par la relacion de tes volumes desirera tes iours avoir este de son temps et par grant desir souhaidera tavoir veue (Avision, 144, Z. 27–35; 145, Z. 1–4). Eine deutsche Übersetzung der Visionen gibt es bedauerlicherweise nicht, wohl aber eine englische: McLeod, Willard 2005. Wenn nicht anders angegeben, stammen die deutschen Übersetzungen der Zitate aus der (mittlerweile vergriffenen) Einführung von Zimmermann 2002.

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Frankreich, dann die Pariser Universität und schließlich ein Kloster, dem die Philosophie als Äbtissin vorsteht. Die gelehrten Gespräche, die Christine als Person mit den Allegorien führt, erhalten, vor allem im dritten Buch, den Charakter einer Autobiographie: Wir erfahren von Christines Kindheit und Jugend, von ihrer Ehe und Mutterschaft, vor allem aber von ihrer literarischen Entwicklung, die für ihre Zeit mehr als ungewöhnlich ist. Als eine der Grundbedingungen ihrer literarischen Tätigkeit nennt sie den Zugang zur Bildung, zu den Bibliotheken, zu den Räumen der Gelehrsamkeit, die ihr weitgehend verschlossen sind. Voller Dankbarkeit spricht sie von ihrem Vater und ihrem Mann, die ihr diesen Zugang – wenn auch eingeschränkt – ermöglicht haben. In ihrem großen geschichtsphilosophischen Werk Das Buch von den Wechselfällen des Schicksals (Le Livre de la Mutacion de Fortune, 1402/1403) beschreibt Christine ihre ersten Lebensjahre am französischen Hof des Königs Karl V. als glücklich und sorglos und spricht voller Bewunderung von ihrem Vater, der als Berater des Königs hohes Ansehen genießt und der ihr eine für die damalige Zeit außergewöhnliche Bildung zukommen ließ. Dennoch habe sie aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ihren Wissensdurst nicht stillen können, die konventionelle Mädchenerziehung der Zeit ließ dies nicht zu. Sie bedauert, dass sie sich damals darauf habe beschränken müssen, nur einige „kleine Münzen“ aus diesem Schatz zu bergen: Aber da ich nun einmal als Mädchen das Licht der Welt erblickt hatte, war es nicht vorgesehen, mich von den Wissensschätzen meines Vaters profitieren zu lassen. Wenn ich dieses Erbe nicht antreten konnte, so hatte dies weniger mit Recht als mit einem alten Brauch zu tun. Wenn das Recht regierte, so verlöre das Mädchen ebenso wenig wie der Junge. [...] Und obgleich mir als Frau dies alles nicht zustand, ging meine Neigung doch in diese Richtung, weil ich eben so veranlagt war und ich meinem Vater nacheifern wollte. Ich konnte also nicht umhin, winzige Teilchen, Hälmchen, Pfennige und kleine Münzen zu stehlen, die für mich von seinem unermesslichen Reichtum abfielen, über den er im Übermaß verfügte. Und obwohl ich im Verhältnis zu meinem Heißhunger nur weniges und alles nur durch Diebstahl bekam und auf diese Weise ein bescheidenes Gut erwarb, so zeigt mein Werk deutliche Spuren davon (Mutacion, Z. 21–22, Übersetzung Zimmermann 2002, 23).

Der Wille und der Anspruch von Frauen, in die Wissensräume der Männer zu gelangen, ist auch in der Welt des frühen 20. Jahrhunderts problematisch: Als

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die Erzählerin Mary Beton3 im ersten Kapitel von A Room of One’s Own die Bibliothek betreten will, wird ihr der Zugang verwehrt: – aber hier stand ich tatsächlich vor der Tür, die in die Bibliothek selbst führt. Ich muß sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien, wie ein Schutzengel mit einem Geflatter schwarzen Talars statt weißer Flügel den Weg versperrend, ein abwehrender, silbriger, freundlicher Herr, der, indes er mich fort winkte, mit leiser Stimme bedauerte, daß Damen nur Zutritt zu der Bibliothek haben, wenn sie von einem Fellow des College begleitet werden oder ein Empfehlungsschreiben vorweisen (Ein eigenes Zimmer, 11).

Virginia Woolf, von den Eltern und von Privatlehrern unterrichtet, empfand ihre Bildung als mangelhaft, vor allem im Vergleich zu ihren Brüdern Thoby und Adrian, die in Cambridge studierten. Immer wieder versuchte sie diesen Mangel durch exzessives Selbststudium auszugleichen. In den Drei Guineen (Three Guineas, 1938) heißt es: Und wenn wir überlegen, daß alle Berufe, auf die eine Universitätsausbildung ihre Brüder vorbereitete, ihr selbst verschlossen waren, muß ihr Glaube an den Wert von Bildung und Erziehung noch stärker erscheinen, da sie an die Bildung um ihrer selbst willen geglaubt haben muß. Und wenn wir weiter bedenken, daß die Meinung vorherrschte, der eine Beruf, der ihr offenstand – die Ehe –, erfordere keine Bildung, sondern vielmehr so beschaffen, daß Bildung eine Frau ungeeignet mache, ihn auszuüben, ist es nicht überraschend, festzustellen, daß sie jeden Wunsch nach oder Versuch zu eigener Bildung aufgeben [...] (Drei Guineen, 159).

Lassen wir Christine darauf antworten: Einmal bot ich einem Mann, der meinen Wissenshunger missbilligte, Paroli. Er behauptete, Gelehrsamkeit stehe Frauen nicht an, wie es ja auch nur wenige gelehrte Frauen gebe. Ich entgegnete ihm, Unwissenheit stehe Männern noch weniger an, auch wenn es zahlreiche unwissende Männer gebe (Avision 109, Übersetzung Zimmermann 2002, 30).

Männer (be)schreiben Frauen Als wesentliche Bedingungen für weibliche Autorschaft nennt Virginia Woolf in A Room of One’s Own finanzielle Unabhängigkeit (von Männern) und das Recht

|| 3 Die Ich-Erzählerin in The Room of One’s Own wechselt kapitelweise den Namen: „Da war ich also (nennen sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer es Ihnen gefällt – es ist vollkommen unwichtig).“ Woolf, Ein eigenes Zimmer, 8.

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auf einen eigenen Raum, der nicht nur ein privates Zimmer, sondern auch einen Raum in der Kulturgeschichte der Menschen meint: Denn Frauen haben seit Millionen Jahren in geschlossenen Räumen gesessen, so daß inzwischen sogar die Wände durchdrungen sind von ihrer Schaffenskraft, die in der Tat die Aufnahmefähigkeit von Ziegelsteinen und Mörtel so überfordert hat, daß sie sich zwangsläufig auf Stift und Pinsel und Wirtschaft und Politik werfen muß. Aber diese Schaffenskraft unterscheidet sich erheblich von der Schaffenskraft der Männer. Und man muß zu dem Schluss kommen, daß es unendlich schade wäre, würde sie behindert oder vergeudet, denn sie wurde durch Jahrhunderte strengster Disziplin erworben, und es gibt nichts, was sie ersetzen kann (Ein eigenes Zimmer, 86–87).

Woolf fordert die Erforschung einer weiblichen Literaturgeschichte, Frauen sollten in ihrem Vermögen als Schriftstellerinnen wahrgenommen werden und nicht nur Gegenstand von Abhandlungen sein: „Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Bücher über Frauen im Laufe eines einzigen Jahres geschrieben werden? Haben Sie eine Vorstellung, wieviele von Männern geschrieben sind? Ist ihnen bewußt, daß sie vielleicht das am häufigsten abgewandelte Tier des Universums sind?“ (Ein eigenes Zimmer, 29). Diese Sätze sind in die Bücherreihen des British Museum hinein gesprochen, in der sich die Ich-Instanz mit einem Notizbuch und einem Bleistift begeben hat, um über das Thema Frauen und Literatur zu recherchieren. Bald stellen sich „Erstaunen, Verblüffung und Fassungslosigkeit“ (ebd.) über die Omnipräsenz der männlichen Autoren ein: „Einige dieser Bücher waren allem Anschein nach frivol und mokant; andererseits waren viele ernst und prophetisch, moralisierend und ermahnend“ (ebd., 29– 30). Zum Thema Frauen und Literatur finden sich in dieser großen Bibliothek keine geeigneten Unterlagen: „Was immer der Grund sein mag, dachte ich, den Stapel auf meinem Pult musternd, all diese Bücher sind für meine Zwecke wertlos“ (ebd., 35). Frauen, so stellt Woolf deprimiert fest, sind von Wissenschaft und Literatur nicht nur ausgeschlossen, vielmehr geht mit diesem Ausschluss auch ein diskriminierender und verächtlicher Umgang mit dem weiblichen Geschlecht einher. Fünf Jahrhunderte zuvor wendet sich die junge Witwe Christine de Pizan gegen die frauenfeindliche Buchtradition der Männer und löst einen Streit aus, der in die Literatur- und Kulturgeschichte als der Beginn der Querelle des Femmes, der Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern, gesehen wird (vgl. Bock 1997, Bidwell-Steiner 2001). Die Argumente, die Christine in dieser Debatte gegen die Sichtweise der männlichen Autoren vorbringt, könnten auch von Mary Beton stammen, die über die hohe Zahl der von Männern verfassten Literatur über Frauen resigniert feststellt:

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Was immer der Grund sein mag, dachte ich, den Stapel auf meinem Pult musternd, all diese Bücher sind für meine Zwecke wertlos. [...] Sie waren im roten Licht der Emotion geschrieben worden und nicht im weißen Licht der Wahrheit. [...] Alles, was ich aus der Arbeit dieses Vormittags herausdestilliert hatte, war diese eine Tatsache des Zorns [der Professoren auf die Frauen] (Ein eigenes Zimmer, 35).

In einer der ersten Schriften Christines, dem Sendbrief vom Liebesgott (Epistre au Dieu d’Amours, 1399) wird von der Autorin in der Rolle des königlichen Hofsekretärs Amors Brief, der eine Antwort auf die Klage der Frauen gegen frauenfeindliche Äußerungen ist, öffentlich verlesen. Es heißt darin, „dass nicht die Frauen die Bücher / verfassten, noch jene Dinge aufschrieben, / die man dort gegen sie und ihre Sitten liest [...] / Aber wenn die Frauen die Bücher geschrieben hätten, / dessen bin ich mir sicher – ,dann sähe alles ganz anders aus, / denn sie wissen sehr wohl, dass man sie zu Unrecht beschuldigt“4. Bereits in ihren frühen Schriften empört sich Christine gegen die beleidigenden und abwertenden Aussagen der Männer über die Frauen. Die Kritik der Autorin richtet sich dabei vornehmlich gegen den von Jean de Meun verfassten zweiten Teil des Rosenromans. Jean de Meun war aber nicht nur irgendein Autor, sondern ein angesehener Professor an der Pariser Universität. Der öffentliche Angriff Christines erregte schon deshalb großes Aufsehen unter den Intellektuellen der Stadt. Es entstanden zwei Lager, die „Rhodophoben“, die das Buch als töricht und gefährlich ablehnten, und die „Rhodophilen“, die es als bedeutendes philosophisches Werk ansahen. Diese erste, vorwiegend in Briefen ausgetragene, Literaturdebatte zwischen Christine und ihrem Unterstützer Jean Gerson (Prediger und Theologe) und den Gegnern Jean de Montreuil, dem Kanzler des Königs, sowie den Gelehrten der Universität Paris Pierre und Contier Col wird von Christine selbst zusammengestellt und der französischen Königin Isabeau de Bavière mit einem Begleitbrief überreicht. In einem in dieser Sammelhandschrift enthaltenen Brief an Contier Col argumentiert sie kämpferisch und direkt auf ihr Dasein als Frau verweisend: Und da ich wirklich und wahrhaftig weiblichen Geschlechts bin, kann ich in dieser Angelegenheit mit größerer Berechtigung Zeugnis ablegen als jemand, dem es an eigener Erfahrung gebricht und der stattdessen auf der Grundlage von Vermutungen einfach aufs Geratewohl losredet. [...] Sehen wir uns noch weiter in diesem Buch um. Wozu dient es, wem nutzt es, dass sein Autor so häufig und so maßlos, so heftig und so völlig zu Unrecht

|| 4 Stummer 1987, 29. Der „Sendbrief“ war vielbeachtet und wurde bereits 1402 ins Englische übertragen.

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die Frauen zahlreicher schlimmer Laster bezichtigt, sie aus diesem Grunde tadelt, verleumdet und bekundet, ihr Verhalten sei in jeder Hinsicht pervers [...]?5

Angegriffen und kritisiert wird die totalitäre Schreibmacht der Männer, gefordert eine Revision des Schreib- und Leseprozesses zugunsten einer anderen auf Erfahrung und Wahrheit aufbauenden Rezeptionshaltung. Und Christine hat Erfolg damit, sie gewinnt die Aufmerksamkeit, die es ihr ermöglicht, als erste Autorin des Spätmittelalters von ihren Einkünften zu leben.

Ein eigenes Zimmer

Abb. 1: Christine de Pizan in ihrem Studierzimmer, Harley MS 4431, f. 4r (London: British Library, Bereitgestellt unter der Creative Commons-Lizenz CC0 1.0 Universal: http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=39620, letzter Besuch: 22.6.2017).

|| 5 Originaltext: Hicks 1977, 19. Übersetzung Zimmermann 2002, 64–65.

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Was hat Christine dazu veranlasst, im Alter von knapp dreißig Jahren mit dem Schreiben zu beginnen? Eine Zäsur war der Tod ihres Ehemanns, mit dem sie zehn Jahre verheiratet war. Sie bezeichnet ihre Ehe als außerordentlich glücklich, weshalb sie beschließt, nie wieder zu heiraten und lieber im prekären Status der Witwenschaft zu bleiben. Um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und um ihre Gemütslage zu verbessern, beginnt sie mit dem Schreiben. Christine betont, dass es allein die Lebensform der Witwe gewesen sei, die ihr diese Verwandlung in eine Schriftstellerin ermöglicht habe. Die Lösung aus ehelich-familiären Bindungen und Verpflichtungen erscheint hier in aller Deutlichkeit als Voraussetzung für ihre neue Existenz als Intellektuelle, denn, so Frau Philosophie im Gespräch mit Christine im dritten Buch der Avision: was dich angeht, so steht eines fest: Lebte dein Ehemann noch, dann hättest du dich zweifellos nicht in so hohem Maße wie jetzt deinen Studien widmen können, denn die Beschäftigung mit Haushaltsdingen hätte dies verhindert. Du kannst dich also beim besten Willen nicht als eine unglückliche Frau bezeichnen, verfügst du doch neben den anderen Gaben zusätzlich über eine weitere, deren Besitz dich in höchstem Maße entzückt: über die süße Lust des Wissens und Lernens (Avision, 123, Übersetzung Zimmermann 2002, 30).

Christine ist eine äußerst vielseitige und hochproduktive Schriftstellerin, kleinere Schriften und Balladen gehören genauso zu ihren Werken, wie umfangreiche allegorische und politisch didaktische Prosaschriften. Zudem ist sie auch noch Verlegerin; sie stellt insgesamt drei Sammelhandschriften ihrer Werke zusammen, eine Abschrift ihrer gesammelten Werke, die sogenannte Handschrift der Königin, zählt aufgrund der zahlreichen Miniaturen und der sorgfältigen Ausführung zu den schönsten Prachthandschriften des Spätmittelalters.6 Sie schafft damit etwas, was in den nächsten Jahrhunderten nur wenigen Frauen gelingen wird. In den Buchreihen des British Museum, die Mary Beton konsultiert, fehlen nicht nur die Werke Christines, sondern auch jene Schriften von Frauen, die aufgrund der Umstände erst gar nicht entstehen konnten: Aber für Frauen, dachte ich, die leeren Regale betrachtend, waren diese Schwierigkeiten unendlich viel schlimmer. Zuerst einmal war ein eigenes Zimmer – gar nicht zu reden von einem ruhigen Zimmer oder einem schalldichten Zimmer – ganz undenkbar, wenn ihre Eltern nicht außerordentlich reich oder sehr vornehm waren, sogar noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. [...] Die Welt sagte zu ihr nicht, wie sie zu ihnen [d. i. den Männern] sagte: Schreib, wenn du magst; mir ist das einerlei. Die Welt sagte mit einem Hohnlachen: Schreiben? Wozu soll deine Schreiberei nütze sein? (Ein eigenes Zimmer, 53–54).

|| 6 Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Handschrift der Königin seit dem 18. Jahrhundert in der British Library befindet (London, B. L., Harley 4431).

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Christines literarische Entwicklung jedenfalls ist ohne ihren Rückzug in die Einsamkeit der Studierstube nicht denkbar. „Daraufhin verschloss ich meine Pforten, das heißt, meine Sinne, um mich gegen die Verlockungen der Außenwelt abzuschotten. Ich griff nach schönen, gewichtigen Büchern und sagte mir, ich würde das in der Vergangenheit Versäumte schon noch nachholen“ (Avision, 110, Übersetzung Zimmermann 2002, 29–30). Nach ihrer Auseinandersetzung mit den Wissenschaften beginnt sie poetische Werke zu lesen, die Inspiration, selbst zu schreiben, bezeichnet sie als eine Entfaltung natürlicher Anlagen, als Ausdruck ihrer Identität. Für ihre ersten Schreibversuche bemüht sie zwei Metaphern, von der die eine der männlichen, die andere der weiblichen Sphäre zuzuordnen ist: Die Tätigkeit des Schreibens wird zunächst mit der eines Schmiedes verglichen, das Produkt soll von einer Dauerhaftigkeit sein, wie ein feuerfestes und hartes Werkstück. Das Schaffen neuer Werke dagegen, wird mit einem schmerzhaften Geburtsvorgang parallelisiert.

Männlich oder Weiblich oder man-womanly oder woman-manly? Es ist ein wesentliches Element von Christines Selbstdarstellung als Autorin, dass sie Bildbereiche heranzieht, die sowohl männlich als auch weiblich konnotiert sind. Ihre Entscheidung, sich nicht wieder zu verheiraten und allein für ihre Familie zu sorgen, beschreibt sie als einen Geschlechterwechsel, den sie im Buch von den Wechselfällen des Schicksals folgendermaßen beschreibt: Eines Tages schlief ich [d. i. auf dem Schiff] ein, müde und erstarrt vom langen Weinen. Da kam meine Herrin [d. i. Fortuna], die manch einem die Freude abschnürt, zu mir und berührte meinen gesamten Körper. Ich erinnere mich daran, wie sie jedes einzelne Glied bewegte und in ihren Händen hielt. Dann entschwand sie und lies mich allein zurück. Und da plötzlich unser schutzlos den Wellen des Meeres ausgesetztes Schiff mit großer Wucht gegen einen Felsen geworfen wurde, erwachte ich und bemerkte sofort, dass ich völlig verwandelt war! Ich spürte, wie meine Glieder viel kräftiger als zuvor waren, und die Verzweiflung und Trauer, die mich zuvor beherrscht hatten, waren verschwunden. Mit großer Verwunderung berührte ich mich. Fortuna hatte mich also nicht gehasst, wenn sie mich in dieser Weise verwandelte, denn auf einmal wichen jene große Angst und Furcht, die mich zuvor am Boden zerstört hatten. Ich fühlte mich sehr viel leichter und spürte, dass mein Gesicht sich verändert und an Festigkeit gewonnen hatte, meine Stimme viel lauter, der Körper widerstandsfähiger und behänder geworden waren. [...] Dann erhob ich mich ohne jede Mühe, denn nichts hielt mich mehr in jener Trägheit des Weinens, die meine Verzweiflung nur gemehrt hatte. Ich spürte mein starkes und kühnes Herz, staunte

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darüber und merkte, dass ich wahrhaftig ein Mann geworden war (Mutacion, 50–51, Übersetzung Zimmermann 2002, 31–32).

Ausgestattet mit diesem „männlichen Willen“ gelingt es ihr, in ihrer neuen Lebenssituation zu überleben und den Zustand der Depression zu überwinden, dennoch bedauert sie es, nur mit Hilfe eines männlichen Habitus in der Gesellschaft ihrer Zeit überleben zu können: Wie ihr hört, bin ich noch immer ein Mann, schon seit geschlagenen dreizehn Jahren. Aber es wäre mir dreimal lieber, eine Frau zu sein, wie damals, als ich noch mit Hymenaios sprach. Da mich Fortuna jedoch von dort vertrieb, werde ich an diesem Ort nie mehr heimisch werden und ein Mann bleiben [...] (Mutacion, 51–52, Übersetzung Zimmermann 2002, 33).

Entscheidend dabei ist, dass dieser männliche Habitus, den sie aus Überlebensgründen gezwungen ist zu übernehmen, keinesfalls ungebrochen auf ihre Autorschaft bezogen ist: Christine präsentiert sich jedoch nicht nur als eine von ihren literarischen Fähigkeiten überzeugte und an der Verbreitung ihrer Werke interessierte, sondern auch als eine ihres exzeptionellen Status als schreibende Frau bewusste Autorin. So nimmt sie nicht nur die Ambivalenz ihres außergewöhnlichen Status zur Kenntnis – ihre weibliche Geschlechtsidentität ist einerseits für die Resonanz und die weite Verbreitung ihrer Werke verantwortlich, andererseits gibt sie Anlass zum Zweifel an ihrer Autorschaft – sondern sie trägt dieses Selbstbewusstsein in der Formel ‚Je, Christine‘ auch zu Schau (Zühlke 1994, 98).

In A Room of One’s Own ist es das visionäre Bild des Zusammentreffens eines Mädchens mit einem jungen Mann, die in einer Droschke davonfahren, die Mary Beton über die Frage nach der Geschlechtlichkeit des schöpferischen Geists nachdenken lassen: Wenn man ein Mann ist, muß dennoch der Frauenanteil des Gehirns eine Wirkung haben, und eine Frau muß auch Umgang mit dem Mann in sich haben. [...] Nur wenn diese Verschmelzung stattfindet, erreicht der Geist seine vollste Fruchtbarkeit und nutzt all seine Fähigkeiten. Vielleicht kann ein Geist, der rein maskulin ist, ebensowenig schöpferisch sein wie ein Geist, der rein feminin ist, dachte ich. Aber es wäre gut zu überprüfen, was man mit männlich-weiblich und umgekehrt mit weiblich-männlich meinte, indem man innehielt und sich das eine oder andere Buch ansah (Ein eigenes Zimmer, 97).

Der menschliche Geist wäre demnach als ein androgyner zu fassen, der abseits von der biologischen Geschlechterdifferenz als eine Aufhebung der Spannung zwischen Männlichem und Weiblichem zu begreifen sei. Es ist zwar jedem Schriftsteller und jeder Schriftstellerin aufgetragen, nach den Voraussetzungen

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des biologischen Geschlechts zu schreiben, wesentlich ist es aber, die dem Geist inhärente androgyne Spannung schöpferisch zu entfalten: Es ist tödlich, ein Mann oder eine Frau und nichts anderes zu sein; man muß weiblichmännlich oder männlich-weiblich sein. [...] Eine Art Zusammenarbeit muß zwischen der Frau und dem Mann im Geist stattfinden, ehe die Kunst der Schöpfung vollbracht werden darf (Ein eigenes Zimmer, 102).

Utopische Orte für / von Frauen

Abb. 2: Christine de Pizan in ihrem Studierzimmer, ihr gegenüber die Personifikationen von Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, rechts davon beginnen Christine und Frau Vernunft mit der Errichtung der Stadt, Harley MS 4431, f. 290r (London: British Library, London: British Library, Bereitgestellt unter der Creative Commons-Lizenz CC0 1.0 Universal: http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=28637, letzter Besuch: 22.6.2017).

In dem in Briefform geschriebenen Essay Three Guineen stiftet die Autorin eines der drei Geldstücke den Frauencolleges mit dem Argument, dass diese, trotz aller Kompromisse, die sie mit den traditionell männlich bestimmten Bildungsstätten gezwungen waren einzugehen, die Bildung einer neuen, von Frauen bedachten friedlicheren Gesinnung besser gewährleisten könnten. Für eine Auto-

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rin des frühen 20. Jahrhunderts ist dieses College aber mehr als nur eine Lehranstalt für Frauen, es ist die Vision einer neuen von Frauen gegründeten und gelebten Gesellschaft: Lassen Sie uns also dieses neue College gründen; dieses arme College; in dem das Lernen um seiner selbst willen angestrebt wird; wo Renommiergehabe abgeschafft ist; und es keine akademischen Grade gibt; und keine Vorlesungen gehalten und keine Predigten gepredigt werden, und die alten vergifteten Eitelkeiten und Paraden, die Rivalitäten und Neid gedeihen lassen... (Drei Guineen, 170).

Aus der Verbindung von Sozialkritik und Utopie entsteht auch Christines heute bekanntestes Werk, die didaktisch moralische Schrift Die Stadt der Frauen (Le Livre de la Cité des Dames, um 1405), in der sie eines ihrer Leitthemen, die Verteidigung des weiblichen Geschlechts gegenüber den misogynen Schriften der Männer, wieder aufgreift. Darstellungsprinzip ist die Errichtung einer Stadt, die die intellektuelle Tätigkeit des Verfassens eines Buchs symbolisiert. Die Gebäudeallegorie wird im Rahmen einer Vision entwickelt – die Tugenden Vernunft, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit erscheinen Christine und unterstützen sie bei der Errichtung des Gebäudes, das als ein Rückzugsort und Schutzraum für Frauen gedacht ist. In der berühmten Eingangsszene des Buchs inszeniert sich die Autorin als eine gelehrte und kritische Leserin: Als ich eines Tages meiner Gewohnheit gemäß, die meinen Lebensrhythmus bestimmt, umgeben von zahlreichen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten, in meiner Klause [ma celle] saß und mich dem Studium der Schriften widmete, war mein Verstand es zu jener Stunde einigermaßen leid, die bedeutenden Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandersetze zu durchdenken. Ich blickte also von meinem Buch auf und beschloss, diese komplizierten Dinge ruhen zu lassen und mich stattdessen bei der Lektüre heiterer Dichtung zu zerstreuen (Die Stadt der Frauen, 1990, 35).

Das Buch erweist sich als ein Fehlgriff, es ist die frauenfeindliche Schrift des Matheolus, dessen Lektüre sie in tiefe Melancholie versetzt. Da erscheint Frau Vernunft und beauftragt sie mit einem Bauwerk ganz besonderer Art, dazu bestimmt, „künftig allen hochherzigen und rechtschaffenen Frauen einen Ort der Zuflucht, eine umfriedete Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer zu bieten“ (Die Stadt der Frauen, 1990, 42). Wie Margarete Zimmermann vermerkt, vollzieht sich an dieser Stelle der „Übergang von der zurückgezogenen gelehrten Lebensform in der Studierstube, der vita contemplativa zur vita activa einer Erbauerin der Stadt der Frauen“ (Zimmermann 2002, 70):

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Jetzt fang an, Tochter. Laß uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinausgehen aufs Feld der Literatur: dort soll die Stadt der Frauen auf einem fetten, fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art. Nimm die Spitzhacke deines Verstandes, grabe tief und hebe überall dort einen tiefen Graben aus, wo es mein Lot dir anzeigt (Die Stadt der Frauen 1990, 48).

Im ersten Buch werden die Gräben für die Fundamente ausgehoben und die Befestigungsmauer errichtet, die Steine dafür werden durch Exempla von Frauen versinnbildlicht, die sich durch außerordentliche körperliche und intellektuelle Fähigkeiten hervorgetan haben. Das Buch schließt mit der Feststellung, dass Frauen keinesfalls schwächer seien als Männer und genauso wie diese über die theoretische und lebenspraktische Intelligenz und sogar Mut und Körperkraft verfügten. Im zweiten Buch werden die Häuser und Paläste im Inneren der Stadt errichtet, der Schwerpunkt der Diskussion mit Frau Rechtschaffenheit liegt auf Familie, Ehe und Gesellschaft. Ein Thema ist der Zugang der Frauen zur Bildung, deren Ermöglichung die „guten“ von den „schlechten Vätern“ unterscheide: Nicht alle Männer, und am wenigsten die weisesten unter ihnen, sind also der [...] Meinung, daß Bildung den Frauen schadet. Eins steht jedoch fest: zahlreiche Männer, die selbst nicht sonderlich klug sind, verbreiten dies, weil es ihnen mißfiele, wenn Frauen ihnen an Wissen überlegen wären. Dein eigener Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das Erlernen einer Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große Freude, als er deine Neigung für das Studium der Literatur erkannte (Die Stadt der Frauen, 185).

Im dritten und letzten Buch hilft Frau Gerechtigkeit mit, die Stadt mit der Errichtung der goldenen Dächer zu vollenden. Die Königin der Stadt, die Jungfrau Maria und mit ihr alle weiblichen Heiligen ziehen nun ein, es folgt eine Exempelreihe von Heiligenbiographien. In einem Epilog fordert Christine alle tugendhaften Frauen dazu auf, diese Stadt nicht nur zu besiedeln, sondern gemäß der vielen Exempla vorbildlicher Frauen, die in diesem Buch genannt sind, zu leben. Ihr geht es also keinesfalls um eine „Emanzipation“ der Frau vom traditionellen Rollenverhalten, das wäre von einer Frau an der Schwelle des 15. Jahrhunderts auch gar nicht zu erwarten. Letztlich ist die Stadt der Frauen ein Tugendspiegel, dessen Anliegen es ist, durch zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Frauen deren Selbstwertgefühl zu stärken und „im Rahmen eines gesellschaftlich sanktionierten geschlechtsspezifisch definierten Verhaltenskodex, zu tugendhaftem Verhalten anzuleiten“ (Zühlke 1994, 105).

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Dennoch, die Utopie eines getrennten Raumes, eines Raumes, der nicht nur physisch von der Welt der Männer getrennt ist, ist eine interessante Konstruktion und scheint viel mit Vorstellungen weiblicher (Selbst)entfaltung zu tun zu haben. Für Zimmermann entwirft Christine mit ihrer Stadt der Frauen einen neuen Imaginationsraum für Weiblichkeit. Bilder femininer Idealität ersetzen die vielen diffamierenden Bilder, denen mittelalterliche Frauen im Zerrspiegel frauenfeindlicher Schriften und Denkweisen auf Schritt und Tritt begegneten. Oft befreit Christine auch ganz einfach eine Frauenfigur von den Schlacken einer misogynen Überlieferungstradition, so etwa im Fall der Xanthippe, der Medea und der Circe. Auf diese Weise wie auch durch den Entwurf einer frühen Form von Frauengeschichte und eines gynozentrischen Kanons begründet sie eine Veränderung des weiblichen Selbstbewusstseins (Zimmermann 2002, 78).

Das Buch von der Stadt der Frauen ist mehr als nur eine Utopie, es ist der Versuch, den Frauen ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Ort zu geben. Die Bewohnerinnen der Stadt werden – und das wiederholt Christine mehrfach – ausschließlich „Frauen guten Charakters“ sein, „tugendhafte Frauen“, egal, ob sie Jungfrauen sind oder nicht, ob Mütter oder Witwen, ob arm oder reich. Männer, männliches Begehren und das Begehren nach dem Mann sind aus der Stadt verbannt. Das, was manche Interpretinnen als Prüderie bezeichnet haben, hat – betrachtet man Christines Lebensweg – durchaus Sinn. Das mittelalterliche Ideal der Tugendhaftigkeit und sexuellen Enthaltsamkeit kann auch als eine für Frauen befreiende Wahl verstanden werden. Sie kann als eine Entscheidung gewertet werden, sich nicht vom begehrenden Zugriff eines Mannes beherrschen zu lassen. Was ihre persönliche Geschichte betrifft, scheint sich Christine an das Modell gehalten zu haben. Sie erhebt ihre Stimme das letzte Mal im Juli 1429 mit einer Hymne auf Jeanne d’Arc (Ditié de Jehanne d’Arc). Es wird vermutet, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in die Abtei von Poissy zurückgezogen hatte, wo sie im selben Jahr im Alter von etwa 65 Jahren stirbt. Ihre Entscheidung, sich nach ihrer Verwitwung mit 25 Jahren nicht mehr zu verheiraten, ermöglichte ihr – trotz großer Entbehrungen und Anfeindungen durch die männliche Elite – ein konstruktiv tätiges Leben als Gelehrte und Autorin. Ehe und Mutterschaft als Last und Bürde und letztlich als Verhinderung der Selbstfindung und Entfaltung von Begabungen wird auch in A Room of One’s Own immer wieder thematisiert. Besonders eindrücklich ist das Bild von Shakespeares fiktiver Schwester Judith, die, hätte sie die gleiche Begabung ihres Bruders gehabt, verführt und schwanger geworden wäre und Selbstmord begangen hätte, ohne eine Zeile zu schreiben (Ein eigenes Zimmer, 40–49). Ganz anders, und damit sind wir im 20. Jahrhundert, liest sich Virginia Woolfs Vorstellung

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eines utopischen Frauenraums, der keinesfalls eine Bestätigung gesellschaftlich anerkannter und etablierter Zustände sein darf, sondern: Es muss folglich ein experimentelles College sein, ein wagemutiges College. Lassen Sie es auf eigenen Prinzipien aufgebaut sein. Es darf nicht aus gehauenem Stein und gemaltem Glas erbaut sein, sondern aus einem billigen, leicht brennbaren Material, das keinen Staub anzieht und keine Traditionen verewigt. Verzichten Sie auf Kapellen. Verzichten Sie auf Museen und Bibliotheken mit angeketteten Büchern und Erstausgaben in Glasvitrinen. Lassen Sie die Bilder und die Bücher neu und immer veränderlich sein. [...] Das Ziel des neuen College, des billigen College sollte nicht sein, zu trennen und zu spezialisieren, sondern zu verbinden. Es sollte die Wege erkunden, wie Geist und Körper dazu gebracht werden können, zu kooperieren; entdecken welche neuen Kombinationen ein gutes Ganzes im menschlichen Leben ergeben (Drei Guineen, 169).

Die Chancen dafür, dass es tatsächlich so ein College geben könnte, beurteilt Virginia Woolf als äußerst schlecht. Zu groß seien die Macht und der Einfluss der etablierten, ausschließlich männlich dominierten akademischen Zentren: deshalb sollte die Guinee mit dem Vermerk ‚Lumpen. Benzin. Streichhölzer‘ versehen werden. Und folgende Notiz sollte an ihr befestigt werden. „Nehmen Sie diese Guinee und brennen Sie das College damit bis auf die Grundmauern nieder. Stecken Sie die alten Heucheleien in Brand. Lassen Sie das Licht des brennenden Gebäudes die Nachtigallen aufschrecken und die Weiden verkokeln. Und lassen Sie die Töchter gebildeter Männer um das Feuer herumtanzen und mit vollen Armen trockenes Laub und die Flammen häufen. Und lassen Sie ihre Mütter aus den Fenstern der oberen Stockwerke lehnen und rufen ‚Laßt es lodern! Laßt es lodern! Denn wir haben diese ‚Bildung und Erziehung‘ satt!“ (Drei Guineen, 171).

*** Christine de Pizan und Virginia Woolf sind zwei Stimmräume der Literatur, die sich über ihr Thema „Frau und Schreiben“ zum Echoraum öffnen lassen: so wird das Frühere im Späteren und das Spätere im Früheren hörbar. Dass die beiden Autorinnen den Echoraum jeweils selbst schon in der Utopie des eigenen Raums vorweggenommen haben, unterstreicht nur, dass – gegen das Gebot einer eindimensional arbeitenden Literaturwissenschaft – Texte verschiedener Epochen im Rezeptionsprozess spiegelbildlich aufeinander bezogen werden können. Durch genaue Lektüre in ein unbefangenes Verhältnis kritischer gegenseitiger Erhellung gesetzt, geben sie Aspekte frei, die einer ausschließlich historisch interessierten Lesart verschlossen bleiben. Solche Aspekte ergeben – und das hoffe ich durch die Zusammenstellung der Zitate gezeigt zu haben – verblüffende Übereinstimmungen und Einsichten.

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Der vorliegende Ansatz geht allerdings einen entscheidenden Schritt über Nibbrigs Überzeugung hinaus, dass nämlich die Unwiderstehlichkeit literarischer Texte weniger in „Identifikationsangeboten“ als in der Anstrengung eines „aktiv hörende[n] Lesen[s]“ (Nibbrig 2001, 37) liege. Ich versuchte zu zeigen, dass die thematische (im Vorliegenden genderspezifische) Spiegelung dem gegenwärtigen Lesen über die Zeit hinweg ein kritisches Potential eröffnet, das schon in den originalen Stimmen die historischen Bedingungen ihrer Zeit zu transzendieren versuchte, paradoxerweise aber durch die (literatur-) geschichtliche Rekonstruktion dieser Bedingungen wieder Gefahr läuft, zum Verschwinden gebracht zu werden. Für eine transkulturelle und interdisziplinär verstandene Mediävistik wäre dies die Anregung, ungewöhnliche, ‚unmögliche‘ und spielerische Lektüren im Sinne einer Wiederentdeckung und Dynamisierung von Stimmen längst vergangener Zeit zuzulassen.

Literaturverzeichnis Texte Christine de Pizan. Das Buch von der Stadt der Frauen. Margarete Zimmermann (Hg. und Üs.). München: dtv, 1990. [Die Stadt der Frauen] Christine de Pizan. Lavision-Christine. Sister M. L. Towner (Hg.). Washington, 1932. Reprint New York: AMS Press, 1969. [Avision] Christine de Pizan. Le Livre de Mutacion de Fortune. 4 Bde. Suzanne Solente (Hg.). Paris: Picard, 1959–1966. [Mutacion] Christine de Pizan. Oeuvres poétiques. 3 Bde. Maurice Roy (Hg.). Paris: SATF, 1886–1896. Christine de Pizan. Der Sendbrief vom Liebesgott. Maria Stummer (Hg. und Üs.). Graz: Leykam, 1987. Hicks, Eric (Hg.). Le Débat sur le „Roman de la Rose“. Christine de Pizan, Jean Gerson, Jean de Montreuil, Gontier et Pierre Gol. Bibliothèque du XVe siècle 43. Paris: Champion, 1977. La Querelle de la Rose: Letters and Documents. University of North Carolina Studies in the Romance Language und Literatures 199. Joseph L. Baird and John R. Kane (Eds. and transl.). Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1978. Woolf, Virginia. Ein eigenes Zimmer. Klaus Reichert (Hg. und komm., Deutsch von Heidi Zernig). Frankfurt am Main: Fischer, 2001. [Ein eigenes Zimmer] Woolf, Virginia. Ein eigenes Zimmer. Drei Guineen. Zwei Essays. Klaus Reichert (Hg., Deutsch von Heidi Zerning und Brigitte Walitzek). Frankfurt a. M.: Fischer, 2001. [Drei Guineen]

Virginia Woolf liest Christine de Pizan | 65

Forschungsliteratur Bidwell-Steiner, Madleine. Streitpunkt Geschlecht. Historische Stationen der Querelles des Femmes in der Romania. Wien: Turia + Kant, 2001. Bock, Gisela und Margarete Zimmermann (Hgg.). Die europäische „Querelle des Femmes“. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung Bd. 2. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1997. Nibbrig, Christiaan L. Hart. Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Göttingen: Velbrück Wissenschaft, 2001. Zimmermann, Margarete. Christine de Pizan. Hamburg: Rowohlt, 2002. Zühlke, Bärbel. Christine de Pizan in Text und Bild. Zur Selbstdarstellung einer frühhumanistischen Intellektuellen. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1994.

| Teil II: Mittelalterliche Literatur als Imaginationsund Reflexionsraum

| Teil II.1: Grenznarrative und Grenzlogiken

Mireille Schnyder, Zürich

Über Grenzen. Narrative des Mittelalters Es ist nicht zuletzt die Lehrerfahrung in dem GLITEMA-Kurs in Palermo, die mir deutlich vor Augen führte, wie eingegrenzt, wie festgefahren und wie selbstgenügsam wir in der germanistischen Mediävistik oft unser Wissen verwalten. Dabei sind die nationalen Konturierungen des Gegenstandes schon länger aufgebrochen, die diskursiv bedingte Vielperspektivität der Texte wie auch der Lektüren sind Konsens moderner Literaturwissenschaft. Kultur wird auch als Austauschphänomen zwischen sprachlich, herrschaftlich, religiös sich differenzierenden Gebieten gesehen. Doch in Palermo, gegenüber Studierenden aus allen Kontinenten der Welt, werden Fragen aufgeworfen, die so in keinem germanistischen Kurs innerhalb Europas aufkommen: Axiome unseres Wissens und unseres wissenschaftlichen Denkens werden unsicher und damit in ihrer Relativität deutlich. Oder anders: Der „europäische Kontext“ verlangt nach Begründung seiner Definition. In der Konfrontation mit einem fremden Blick, einer mit fremdem – nicht in unserem Schulsystem domestizierten – Wissen aufgeladenen Neugier, wird das Eigene, so sicher Eingegrenzte, zum beschränkten Garten. Anderseits kann der fremde Blick von außen aber auch mit einem Zerrbild des Eigenen konfrontieren, mit einer exotisierten Idealisierung des Eigenen, oder aber einer (zum Beispiel in Missionsschulen) vermittelten Sicherheit des Wissens, wie sie im Eigenen schon nicht mehr da ist. So wurde das Gespräch mit den Studierenden immer auch zu einer Begegnung mit der eigenen Geschichte der (kulturellen) Selbstdefinition, mit der Erwartung an ein historisch-politisch sich zum Ideal zeichnenden Eigenen und aber auch der Konfrontation mit anders gesetzten gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Werten. Literatur, mittelalterliche europäische Literatur im Rahmen solcher Fragen zu lesen, führt unweigerlich zu der Frage nach der Grenze, nach den Grenzen des Erzählens, aber auch nach erzählten Grenzen.1

|| 1 Die hier skizzierten Überlegungen zur Grenze sind auch ein Dank an John Greenfield für die mit dem Projekt GLITEMA geschaffenen Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Herausforderung unseres Faches, ja, unserer Fächer. Das Thema der europäischen Grenzen und ihrer Geschichte ist in den Geschichtswissenschaften seit einigen Jahren neu reflektiert. Vgl. dazu unter anderem Herbers 2007.

DOI 10.1515/9783110556438-007

72 | Mireille Schnyder, Zürich

1 Grenzen des Erzählens Es gibt kein grenzenloses Narrativ. Um etwas erzählen zu können, muss ich einen Anfang setzen und ein Ende im Blick haben. Jede Erzählung hat ein A und ein O und ein Dazwischen, in dem sich gliedernd immer neue Anfänge und Enden stiften und Strukturen einziehen, die Räume begrenzen, Zeitabschnitte definieren, Perspektiven bestimmen und Möglichkeiten des Wissens eröffnen und einschränken. An diesen Grenzen der Wahrnehmung und des Wissens entzünden sich aber auch das Imaginative, das Denken, das Wissen-Wollen, die Kraft der Vor-Stellung. So gibt es nicht nur kein grenzenloses Narrativ, sondern auch ohne Grenzen kein Narrativ. Die poietische Potenz des Anfangs und die narratologische wie im kulturellen Kontext notwendige Schöpfung des Anfangs haben seit einiger Zeit Studien zu Ursprungsmythen und Anfangserzählungen gezeigt, ein Feld, auf dem sich Literatur-, Religions-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften treffen.2 Anderseits hat die Narratologie – verstärkt seit der Entdeckung von Lotmans Sujet-Begriff und dessen Instrumentalisierung für die Erzählforschung – die intradiegetischen Binnengrenzen sozusagen als unabdingbaren Motor für sinnstiftendes und fortschreitendes Erzählen definiert. Das Überschreiten von Grenzen, das Scheitern an Grenzen, aber auch das Einrichten von Grenzen treibt das Erzählen voran und ermöglicht es.3 Sieht man im Erzählen einen Akt der Welt-Schöpfung und des Ordnens auf einen Sinn hin, sind es die Grenzen, von denen her eine Geschichte möglich, sinnvoll, wahrnehmbar, vermittelbar und damit in einem größeren – kulturellen – Kontext gültig und gesellschaftlich relevant werden kann. Dass sich im Moment der narrativen Weltkonstituierung und der sich darüber bildenden Sinnordnung, wenn das Erzählen zum wiederholbaren Narrativ wird, die poietische Potenz der Grenze verlieren kann und die Grenze zum Ordnungsraster gefriert, der mit stärkeren Narrativen (von neuen Grenzen her) erst neu dynamisiert werden kann, gehört zu diesen Schöpfungsprozessen, ist aber auch Gefährdung. Ideologie kann als eine Form von versteinertem Narrativ gesehen werden. Wie ‚Mittelalter‘ im aufgeklärten Narrativ des Westens als eine Zeit des Dazwischen und als solche auch eine Art Leerstelle definiert wurde, als ein Chaos, dessen unförmige Gestalten, vorrationale Bilder, dann aber auch Figuren der Macht und der in die Körperlichkeit gedrängten politischen Gewalt zu einem

|| 2 Angehrn 1996; Besse 2011; Gidion 2005; Koschorke 2007 und 2012; Wolfram 1993. 3 Susi K. Frank et al. 2012; Frank 2009; Renner 2004; Velmezova 2015.

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Fundus für Ursprungsmythen werden konnten, aus dem sich die Narrative der Neuzeit gern bedienten und bedienen, soll hier nun weniger interessieren. Was hier kurz skizziert werden soll, sind Grenz-Narrative (Ausgrenzungen, Differenzierungen, Grenzziehungen), die die Zeit des Mittelalters prägen und auf die das Reden von einer westlichen Kultur notwendig zurückgreift. Aufgabe der Mediävistik ist es, einerseits diese Strukturen bewusst zu halten und bewusst zu machen, anderseits im genaueren Blick die kleineren Erzählungen herauszustellen, diese Grenz-Geschichten, die die Ordnungsmuster der Großnarrative in Frage stellen, schwierig machen und letztlich die Dynamik des Geschehens in die Geschichte bringen.

2 Ausgrenzung Wenn im sechsten Jahrhundert der wirkmächtigste Ausschluss- und Definitionsbegriff der römischen Zivilisation, ‚barbarisch‘, jetzt römisch-christlich konnotiert, auch für die ‚Heiden‘ gebraucht werden konnte und Ende des siebten Jahrhunderts die Begriffe ‚Barbar‘ und ‚Heide‘ – sowie ‚Häretiker‘ – Synonyme waren,4 übertrugen sich damit auch die klassisch-semantischen Aufladungen des Barbaren-Begriffs auf den Begriff des Heiden: Diese sind nicht nur unzivilisiert, wild, kampfwütig und ungebildet, sondern eben auch bestialisch. Entsprechend wird Christianisierung mit Zivilisierung gleichgesetzt.5 Der BarbarenDiskurs (in seiner politischen, moralischen, anthropologischen Dimension) wird zum Glaubensdiskurs. Mit der Institutionalisierung der Kirche als eines Machtraums wird dann der ideologisch ausgeschlossene Raum des Heidentums auch wieder territorial bestimmt. Gregor VII., 1073 zum Papst ernannt, spricht von den Grenzen des Christentums, den fines christianitatis, hinter denen eine weitgehend unbekannte Welt der Heiden liegt. Dieser Glaubensraum als geographischer Machtraum braucht aber seine Grenz- und Ordnungsnarrative, um sich ideologisch zu sichern. Er muss narrativ legitimiert werden. Und so wird die Heilsgeschichte, als eine Geschichte von Geschichten von Trennungen, Grenzziehungen und ihren imaginären Überwindungen, zum struktur- und sinngebenden Hintergrund jeder Ich- und Wir-Erzählung.

|| 4 Jones 1971, 387; Koselleck 1989. 5 Zur Zivilisierung als Christianisierung vgl. auch Jones 1971, 392 und Hay 1960, 65–66.

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Dies zeigt sich deutlich in den Weltchroniken: In der im Auftrag von Konrad IV. († 1254) von Rudolf von Ems verfassten ersten deutschen Weltchronik, die trotz ihrer 36.338 Verse Fragment geblieben ist, wird die Welt in ihrer räumlichen und zeitlichen Struktur in ein gigantisches Narrativ gebracht (Rudolf von Ems 1915). Dessen Grundstruktur ist eine Zweiteilung in der rehten mere rehtiu ban („der richtigen Geschichte richtige Bahn“, V. 3103) beziehungsweise ihre biwege und nebinganc („Nebenwege und Seitengänge, V. 3114, 3117). Begründet werden diese zwei Erzählstränge in der mit den Nachkommen von Adam und Eva (Kain und Seth, dem Ersatz von Abel; vgl. Gen 4,25) installierten Dichotomie von Segen und Fluch, die sich in deren jeweiligen Geschlechtern fortsetzt und sich nach dem Neuanfang mit Noah in der Verfluchung Chams und dessen Geschlecht neu installiert.6 Diese in die ersten Anfänge des Menschengeschlechts hineingelesene Differenz orientiert sich einerseits an der ursprünglichen Wertung durch Gott mittels Verfluchung oder Segnung, argumentiert dann aber vom heilsgeschichtlichen Ende her: Ist das Seth-Geschlecht auf die Zukunft gerichtet und gründet sich in einer vom materiellen Dasein losgelösten Erwartung göttlichen Lohns, setzt das Kains-Geschlecht auf weltliche Macht und Reichtum in der Gegenwart. Eingeschrieben in die Grunddifferenz zwischen den verfluchten und gesegneten Geschlechtern, die in der augustinisch-theologischen Lesung dann auch zu einer Differenz zwischen Christen und Heiden wird, sind also auch ethischmoralische Zuordnungen: Gehören Habsucht, Sexualität, Haftung am Sichtbaren und technisches Können zum Geschlecht Kains, ist das Geschlecht Seths gekennzeichnet durch Asexualität, Zukunftshoffnung, Glauben an das nicht Sichtbare und Vertrauen auf Gottes Fürsorge (Vgl. Augustinus, De civitate Dei I,10.). Gleichzeitig werden, mit der Geschichte der Welt-Besiedlung durch Noahs Nachkommen, auf die, wie gesagt, Gottes Segen sehr unterschiedlich verteilt ist, (heilssemantische) Grenzen zwischen die von ihnen besiedelten Räume gezogen. Die von Cham bewohnte Weltgegend, Afrika, ist aus dem direkten Heilswirken ausgeschlossen, während die von Sem besetzten Gebiete des Nahen Ostens bis nach Indien zum Ort des Heilsgeschehens werden, so wie das von

|| 6 Augustinus (De Civitate Dei XV, 20) sagt bezüglich des Kainsgeschlechts respektive des damit identifizierten weltlichen Staats: „Es wurde durch die Sintflut ganz verschlungen, ist aber aus den Söhnen Noahs wieder hergestellt worden“ (usque ad diluvium quo totum illud genus terrenae civitatis absumptum est, sed reparatum est ex filiis Noe). Vgl. auch Rudolf von Ems 1915, V. 475–618.

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Japhet bewohnte Europa – im westlich-lateinischen Narrativ, wie es Rudolf von Ems aufnimmt – später zum Zentrum des Christentums wird.7 Auf dem Hintergrund dieser heilsgeschichtlich strukturierenden und sich an den biblischen Texten orientierenden sinnstiftenden Ordnungen der Welt und ihren topischen Grenznarrativen sowie dichotomen Ab- und Ausgrenzungslogiken, kommt es im Rahmen eines kirchlich institutionalisierten und machtpolitisch getragenen Christentums zu Auseinandersetzungen mit dem Nichtchristlichen im Zusammenhang von Pilger-, Missions- und Handelsreisen sowie kriegerischen Unternehmungen. Diese Begegnungen mit dem Fremden, als dem Nicht-Christlichen, werden einerseits in Reiseberichten verschiedenster Art erzählt, anderseits in literarischen Werken aufgegriffen. Es sind diese Geschichten, diese Erzählungen, durch die die so klar gezogenen Grenzen eines „den rechten Lauf der Welt“ bestimmenden Heils-Narrativs schwierig werden können. In ihnen werden Momente fassbar, wo die dogmatisch gefrorenen Grenznarrative sich verflüssigen und in ihrer Ausschließlichkeit von Neuem überschrieben werden. Drei Beispiele solcher dynamisierender Narrative will ich hier kurz vorstellen.

3 Grenzspiele 3.1 ‚Heiliges Land‘ Die Reise ins ‚Heilige Land‘ war in erster Linie eine Reise in eine über religiöse Texte schon lange angeeignete Welt, deren Topographie als imaginäre Realität die Karte des Glaubens prägte. Und so ist der Weg durch das ‚Heilige Land‘ ein Weg des Erzählens als eines vergegenwärtigenden Erinnerns. Die Erzählungen sind dabei Teil der Legitimation und Begründung der eigenen Präsenz sowie

|| 7 Die Zuordnung der einzelnen Söhne zu den drei bekannten Weltgegenden hat ihre eigene Geschichte, die ins erste Jahrhundert zurückweist, wo Flavius Josephus wohl als erster, zumindest als wichtigste Quelle für die späteren christlichen Exegeten, die verschiedenen Weltgegenden den Söhnen zuteilt. Die so klare Zuteilung wie bei Rudolf von Ems installiert sich aber wohl erst im achten Jahrhundert. Vgl. zu der Geschichte der Interpretation der Noahsöhne, ihrer Heilssemantik und ihrer Instrumentalisierung in der Interessensgeschichte unter anderem Braude 1997.

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Mittel des Herrschaftsanspruchs auf einen über diese Narrative auch sakralisierten Raum.8 Anderseits war es eine Reise in eine weitgehend durch fremde Macht beherrschte Welt, die als Raum göttlichen Heilswirkens Vergangenheit geworden ist und von einer fremden, unheilig wirkenden Präsenz des Heidnischen überschrieben wurde. So war das ‚Heilige Land‘ sozusagen ein Palimpsest, das gerade deshalb auch in der direkten Begegnung Raum der Imagination bleiben konnte. Deutlich zeigt sich dies in dem Bericht von Ricoldus von Monte Croce (*1243). Dieser reiste im 13. Jahrhundert mit dem Evangelium in der Hand auf den Wegen Christi, damit er jene Orte „physisch sieht“ (corporaliter viderem), die Christus „körperlich besuchte“ (corporaliter visitavit).9 In dieser parallelisierenden Formulierung steckt das ganze Programm der Pilgerreise. Denn an allen Orten, die Ricoldus mit seinen Weggefährten besuchte, lasen oder besser: sangen sie die entsprechenden Stellen aus dem Evangelium. Darauf vollzog Ricoldus jeweils eine aktualisierende Allegorisierung des Gelesenen auf ein persönliches Heils- und Erlösungsgeschehen hin. Wenn es im Abschnitt über Nazareth heißt: „alle diese Orte in Galiläa, vom ersten bis zum letzten, fanden wir von den Sarazenen besetzt in Frieden und Ruhe,“ (Riccold de Monte Croce 1997, 46) hindert das nicht, dass in der imaginären Wiederbelebung der Stationen Christi die Angst der Jünger vor den Juden als eigene Angst vor den Sarazenen provoziert wird, so dass sich Juden und Sarazenen als Feinde der Jünger Christi zusammenschließen.10 Es ist die Imagination einer präsentischen Heilswirkung, in der sich vergangenes Geschehen wiederholen lässt und gleichzeitig Gegenwärtiges, aktuelle Erfahrung, in ein Heilsgeschehen hineinerzählt wird. Diese scheinbar ungetrübte Vereinnahmung in einen imaginären Raum christlicher Herrschaft wird jedoch ständig herausgefordert durch andere, konkurrierende Erzählungen der jüdischen und muslimischen Tradition, aber auch der ostchristlichen Gemeinden, die diese Stätten in fremde, wenn auch nicht ganz andere Heilsnarrative einbinden. Die scheinbar gesicherte Wahrheit wird

|| 8 Bei Johannes von Würzburg erscheint das Land auch als ein beschriftetes Land, indem jede Stätte, jeder Ort mit auf die Heilsgeschichte verweisenden Inschriften versehen vorgestellt wird (Iohannes Wirziburgensis 1994, 92–93). 9 transiui mare ut loca illa corporaliter uiderem que Christus corporaliter uisitauit (Riccold de Monte Croce 1997, 38). 10 […] in eodem loco suptus est mansio ubi sero erant discipuli congregati propter metum Iudeorum et locus ubi stetit in medio eorum et dixit pax uobiscum; ibi est altare ubi celebrauimus et predicauimus gementes et flentes et uehementer timentes occidi a sarracenis (Riccold de Monte Croce 1997, 50).

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so prekär. Im Blick auf einzelne zentrale Orte des ‚Heiligen Landes‘ werden die eigenen Geschichten brüchig, und in der Konkurrenz der Narrative der drei abrahamitischen, monotheistischen Religionen wird immer neu die Frage nach der Wahrheit aufgeworfen. Dabei geht es nicht um die Wahrheit des Dogmas, sondern um die Wahrheit der Erzählung als Bestätigung eines früheren Geschehens und Ermöglichung von dessen Re-Präsentation. Bei Johannes von Würzburg, der zwischen 1160 und 1170 einen Bericht über seine Pilgerfahrt in das ‚Heilige Land‘ verfasste, sind es vor allem die Erzählungen der Jakobiten, die die bekannte Auslegung der Bibel auf der Ebene des Literalsinns bedenkenswert machen. Er weist auf die Differenzen zur eigenen Tradition der Auslegung hin, will sich aber nicht festlegen: „Wie aber auch immer, der Wortsinn der Schrift ist in dieser Sache schwer zu verstehen […].“11 Ist dies im innerchristlichen Narrativ eine Frage der literalen Auslegung des biblischen Textes, sind solche Konkurrenznarrative da, wo es um die anderen Religionen geht, klarer gewertet. Bezüglich des Tempels in Jerusalem, der für alle drei monotheistische Religionen ein Ort der Verehrung ist, kommt es zu Narrations-Überlagerungen, die aufschlussreich sind. Denn hier muss nun hierarchisiert werden. Bei Johannes von Würzburg heißt es mit Blick auf die verschiedenen Verehrungen im Tempel: An jenem Altar, der früher unter freiem Himmel mehr als 22 Schritte entfernt vom Tempel stand, erlitt Zacharias, des Barachias Sohn, den Martertod, und auf seinem Altar opferten die Juden im alten Testamente gewöhnlich Turtel- und andere Tauben. Später wurde er von den Saracenen in eine Sonnenuhr verwandelt und kann bis heute noch gesehen werden und ist bemerkenswert, weil auch noch gegenwärtiger Zeit viele Saracenen zu ihm kommen, um zu beten, da er gegen Süden schaut, in jene Richtung, in welche sie beten.12

Die hier sich überlagernden Orte der Verehrung sind in der narrativen Darstellung deutlich voneinander unterschieden. So befand sich der Altar für das Tau-

|| 11 Verumtamen lectio evangelii de hoc eodem facto valde est implicita et etiam diligentem auditorem reddit dubium de hoc … (Iohannes Wirziburgensis 1994, 112, Z. 800–802 ; deutsche Übersetzung 123). So verdoppeln zum Beispiel die Jakobiten in ihren Erzählungen Maria Magdalena und kennen – zur Irritation von Johannes von Würzburg – noch eine zweite Maria, Schwester des Lazarus. 12 In templo ad altare quod extra erat sub divo, remotum a templo plusquam per XX duos passus, Zacharias filius Barachiae martyr occubuit, supra quod in veteri testamento Iudei turtures et columbas sacrificare solebant. Quod a Sarracenis postea mutatum est in horologium, et adhuc videri potest et notari quod plures Sarraceni etiam hodie ausa orandi ad ipsum, versus meridiem dispositum, ad quem ipsi orare solent, veniunt (Iohannes Wirziburgensis 1994, 91–92, Z. 315–321; deutsche Übersetzung 116).

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benopfer der Juden früher nicht nur unter freiem Himmel und etwas abseits vom Tempel, sondern das Taubenopfer ist auch, zitiert als Ritual des Alten Testaments, in eine Vorzeit verlegt und damit einer anderen Zeit zugehörig. Die Installierung einer Sonnenuhr durch die Sarazenen dagegen ist eine deutliche Profanierung des Ortes. Indem nun aber das Mittel dieser Profanierung, die Sonnenuhr, syntaktisch zum Objekt der noch heute gültigen Verehrung dieses Orts durch die Sarazenen wird, wandelt sich die sarazenische Verehrung dieses heiligen Ortes zum Kult der Sonne. Unter der Hand, im syntaktischen Bezug sozusagen, werden die Sarazenen zu Götzenanbetern, was dann auch explizit gesagt wird: […] wenn sie auch nicht an Christi Leiden glauben, so haben sie doch grosse Verehrung für diesen Tempel, weil sie ihren Schöpfer hier verehren, was nichts desto weniger als Abgötterei muss erklärt werden mit Bezug auf das Gewicht Sant Augustins, der sagt, dass alles Abgötterei ist, was ohne Glauben auf Christus gethan wird.13

3.2 Ferner Osten In den Gegenden jenseits der „fines christianitatis“ dagegen gibt es keine Konkurrenz-Narrative bezüglich historisch fassbarer und in einer Kartographie der Heilsgeschichte verzeichneter Orte, sondern höchstens ausgezeichnete (natürliche) Orte, die über eine Erzählung in die Heilsgeschichte eingebunden und damit besetzt, das heißt aber auch definiert, werden. Über solche Narrative wird nicht nur die unbekannte Gegend in bekannte Erzählzusammenhänge hereingeholt, sondern auch die ganze Welt, bis hin zu ihren extremsten Gegenden, in ein heilsgeschichtliches Sinngerüst gespannt. Irgendwo im äußersten Osten liegt der Anfang der Menschheitsgeschichte, das irdische Paradies, und im höchsten Norden, wo nur Grauen und Kälte herrschen, wohnen die Teufel. Dazwischen erstreckt sich die Welt als Ort der Auseinandersetzungen, der Spannungen, der Verunklärungen, Vermischungen, aber auch als Ort der teuflischen Verzweiflung und eschatologischen Hoffnung, zwischen Himmel und Hölle. Das Wasser

|| 13 Super hunc strictiorem parietem erigitur in altum testudo rotundus intus depictus, foris plumbo coopertus, cui signum sanctae crucis in supremo a Christianis est appositum, quod Sarracenis est valde contrarium et multi auri sui dispendio vellent esse remotum. Nam licet fidem passionis Christi non habeant, tamen hoc Templum venerantur cum in eo Creatorem suum adorent, quod tamen pro idolatria habendum est teste Augustino, qui asserit idolatriam esse quicquid fit preter fidem Christi (Iohannes Wirziburgensis 1994, 94, Z. 377–385; deutsche Übersetzung 118).

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der vier Paradiesflüsse zieht sich wie Adern durch den Körper dieser Welt, zeigt sich bald hier und bald da in Form eines heilenden oder duftenden Quells. Einzelne Orte im Osten, nahe beim Paradies, können so mit Geschichten der frühesten Zeit belegt sein. Doch ist hier, anders als bei den Erzählungen im ‚Heiligen Land‘, in dieser fremden, nicht-christlichen und von unsicheren Zeichen bestückten Welt, Vorsicht geboten. So heißt es zum Beispiel in dem Bericht von Oderich von Pordenone, der in den Jahren 1314/1318–1330 bis nach Indien und China reiste, über die Insel Vistami (Ceylon): Ein ander jnsel ist da, genant Sistami. ist an dem vmbgankch wol zwaihundert wellischer meil weit. Da ist vil slangn vnd natern vnd anderß gewúrmß inn, die gar grósß sind, vnd besunderlich helffant. Jn dem land ist ein grosser perkch, vnd sprechent die lantleẃt daselbß, Adam hab seinen sun darauff gechlagt dreẃhundert jar. Enmitten auff dem perg ist ein schónew ebn. Darjnn jst ein see, nicht gar groz, doch hat er vil wasserß. Da sprechnt si, der see sey Adamß vnd Euen zeher, die si da gewaint habnt vmb den sun, daß doch nicht ze glawbn ist. Jn dem see sind vil edler stain. Die werdnt auch da von der krafft gotteß vnd der natúr.14

Die Geschichte, die die Leute von Ceylon erzählen, kann nicht wahr sein, auch wenn sie sich an die ‚wahren Geschichten‘ der Schrift anlehnen. Anders als die eigenen Erzählungen im ‚Heiligen Land‘, deren Wahrheit sich in der Schrift legitimiert, sind die Erzählungen aus dem Mund der nichtchristlichen Fremden illegitim. Sie bezeichnen keine Orte des Glaubens, haben dadurch auch nicht die Potenz der Vergegenwärtigung. Es ist eine falsche Lektüre der von Gott (und der Natur) geschaffenen Steine und entsprechend eine falsche Erzählung. Im lateinischen Text wird diese Geschichte mit dem Hinweis darauf verworfen, dass das Wasser aus dem Innern des Berges hervorquelle.15 Gleichzeitig wird auf die Schöpferkraft Gottes verwiesen, der die Wunder dieser Welt geschaffen habe, auch die kostbaren Steine in dem See. Oderich von Pordenone erzählt auch, wie er nach Cansaye (Camsay/Hangtschou) kommt, einer Stadt, die er in ihrer Anlage und Schönheit mit Venedig vergleicht. Sie ist bewohnt von ettlich gar tugntlich leút vnd cristn, haidn vnd abgóttrer der mérer tail vnd gar vil chaẃffleẃt, wie es in der deutschen Übersetzung von Konrad Steckel heißt (1968, 91, Z. 500–501).

|| 14 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Konrad Steckel von 1359 (Konrad Steckel 1968, 75, Z. 334–342). 15 Konrad Steckel 1968, 74: Quod tamen non creditur esse verum, cum ibi intus nascatur aqua illa („Was aber nicht für wahr gehalten werden kann, da dieses Wasser aus dem Inneren quillt“).

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Oderich kam da im Haus eines reichen, von den Franziskanern bekehrten Herrn unter. Eines Tages nun nimmt dieser ihn mit auf eine Besichtigungstour, um daß lant vnd den sit dez glaubn hie (91, Z. 509–510) zu sehen. In einem Boot setzten sie zu einer Insel mit einem gróssn Minster über, wo der Führer einem geistlichn haidnischn mann ruft und ihn bittet, dem Fremden, der ist her chómen von dem occident, daß ist von den landn, da die sun vnder get, etwas zu zeigen, da er von ze sagn hab in seinen landn (91, Z. 513–514).16 Es geht also darum, dem Fremden Seltsamkeiten und Neuigkeiten vorzuführen. Der Geistliche nimmt daraufhin zwei Körbe mit Brot und führt Oderich in einen großen Garten, in dessen Mitte sich ein kleiner Berg erhebt, dicht bewachsen mit Bäumen. Der Geistliche klingelt mit einem Glöcklein, worauf verschiedene Tiere vom Berg her gelaufen kommen, zahm und freundlich. Diesen gibt er die Brot-Brosamen; und dann heißt es: Do si geessn hetn, do leẃt er aber. Do lieffn si wider an ír stett. Dez lacht jch vnd vragt, waß ez bedeẃt vnd waß ez wér. Do antwúrt er vnd sprach, ez wérn menschn sell vnd aller maist edler leẃt. ‚Die speisn vnd nern wír hie durich got.‘ Do sprach jch: ‚Fúrbar, ez sind tyr vnd bestie, daß ist, daz nicht menschlichn sel noch vernunft noch die wírdichait hiet der vntódleichait‘ (92, Z. 526–531).

Der Geistliche lässt sich aber nicht belehren, auch wenn ihm Oderich den Irrtum gern ausgetrieben hätte: er belaib in seiner herttichait alß ein adamaß, wie es in der deutschen Übersetzung heißt (92, Z. 535). In Erwartung von mirabilia und curiosa (Seltsamkeiten, Fremdheiten), die sich zuhause erzählen lassen, kommt Oderich in den Genuss einer Tierfütterung. Indem die Fütterung von einem geistlichn haidnischn mann (91, Z. 512) in einem religiös codierten Raum ausgeführt wird, wird die Handlung mit einer religiösen Signifikanz aufgeladen, die Oderich nicht verstehen kann und die ihn überrascht. Seine Reaktion ist eine lachende Frage: Dez lacht jch vnd vragt, waß ez bedeẃt vnd waß ez wér (93, Z. 527). Die folgende Erläuterung des Mönchs, dass es sich hier um Menschenseelen handle, die ihrer Tugendhaftigkeit gemäß nach dem Tod in verschiedenen Tieren wiedergeboren worden seien, weist Oderich dezidiert und argumentativ deutlich zurück: Es sind Tiere und Bestien, denn sie sind weder durch Vernunft noch Unsterblichkeit ausgezeichnet. Sein Gegenüber antwortet: verum non est (92); Da sprach er, jch het nicht war (93, Z. 531). Die Konfrontation der Wahrheiten löst sich nicht auf. Oderich lässt sich

|| 16 Im lateinischen Text heißt es: Ideo sibi ostendas aliquid quod ipse videre possit si hic est mirabile, ut si vereteretur ad suas contratas etiam dicere possit: tale quid novum vidi in Camsay (Konrad Steckel 1968, 90).

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so wenig überzeugen wie der andere, dessen Missionierung an seiner diamantharten Verstocktheit scheitert. So prallen zwei Glaubenswahrheiten aufeinander, auf denen die semantisierende Wahrnehmung der an sich harmlosen Szene gründet. Das Lachen von Oderich zeigt genau diesen Moment an, wo die auffallende, unterhaltende Szene durch den religiösen Kontext zu einer signifizierten Seltsamkeit und darüber signifikanten Fremdheit wird, deren Sinnsystem nicht zu entziffern ist. Das Lachen indiziert die Grenze als Moment der Sinn- und Verstehensleere, aber auch als Moment einer Verunsicherung.17

4 Schlussbemerkung Was sich in diesen kleinen, hier kurz angesprochenen Beispielen zeigt: Die Mittelalter-Narrative im Sinne der großen Erzählungen der Welt, getragen von Trennungsmomenten, von Grenzziehungen, werden zwar immer wieder als Gerüst des kulturellen Machtblicks gebraucht, sie festigen die Grenzen des Eigenen, der eigenen Religion, der eigenen Kultur. Da aber, wo im Kleinen erzählt wird, wo ein Ich ins Spiel kommt, wo ein Blick über die Grenze, oder schon nur ein Schritt auf die Grenze geschieht, wo die Grenze nicht im Kopf ist, sondern unter den Füßen, wo sie begangen wird, kommen Figuren ins Spiel, die die Zuordnungen aufbrechen, die sich der sprachlichen Einordnung entziehen, kommt es zu Begegnungen, so dass die Grenzen schwierig werden und es zu Zweifel-Knoten kommt in den Sinn-Netzen der Großnarrative. In den Erzählungen heidnischer Gegebenheiten und Geschichten sowie den Schilderungen nicht-christlicher Bräuche wird man – um das Bild von Rudolf von Ems aufzunehmen – in das Unterholz, auf kleine Nebenwege geführt. Und es sind diese Umwege, diese kleinen Pfade – im Gegensatz zu denen sich die Hauptstraße definiert – durch die eine Perspektivenvielfalt und Komplexität aufgemacht wird, über die jede selbstgenügsame Sicherheit aufbricht. Aufgabe der Mediävistik ist es, auch diese Geschichten zu erzählen und bewusst zu machen.

|| 17 Vgl. zu dem Lachen dieser Szene ausführlicher Schnyder 2017.

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Literaturverzeichnis Texte Augustinus. De civitate Dei. Christoph Horn (Hg.). Berlin: Akademie-Verlag, 1997. Iohannes Wirziburgensis, „Peregrinatio“. Peregrinationes tres. Seawulf, Iohannes Wirziburgensis, Theodericus. Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 139. R. N. C. Huygens (Hg.). Turnholt: Brepols, 1994, 78–141. Konrad Steckels Deutsche Übertragung der Reise nach China des Odorico de Pordenone. Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 20. Gilbert Strasmann (Hg.). Berlin: Erich Schmid, 1968. Riccold de Monte Croce. Pérégrination en Terre Sainte et au Proche Orient. Texte latin et traduction. Lettres sur la chute de Saint-Jean d’Acre. Traduction par René Kappler. Textes et traductions des classiques français du Moyen Âge, 4. Paris: Éditions Honoré Champion/Slatkine, 1997. Rudolf von Ems. Weltchronik aus der Wernigeroder Handschrift. Deutsche Texte des Mittelalters 20. Gustav Ehrismann (Hg.). Berlin: Weidmann, 1915.

Forschungsliteratur Angehrn, Emil. „Ursprungsmythos und Geschichtsdenken“. Der Sinn des Historischen: geschichtsphilosophische Debatten. Herta Nagl-Docekal (Hg.). Frankfurt a. M: Fischer, 1996, 305–332. Besse, Maria. „Familie, Genealogie und Ursprungsmythen in der älteren deutschen Literatur“. Ethnizität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 164. Rita Franceschini (Hg.). Stuttgart: Metzler, 2011, 51–70. Braude, Benjamin. „The Sons of Noah and the Construction of Ethnic and Geographical Identities in the Medieval and Early Modern Periods“. William and Mary Quarterly. Third Series IV, 1, 1997, 103–142. Frank, Michael C. „Die Literaturwissenschaften und der ‚spacial turn‘. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“. Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spacial Turn. Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hgg.). Bielefeld: transcript, 2009, 53–80. Frank, Susi K. [et al.]. (Hgg.). Explosion und Peripherie. Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited. Bielefeld: transcript, 2012. Gehrlach, Andreas. Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016. Gidion, Jürgen. „Die Vertreibung aus dem Paradies. Der Ursprungsmythos (Genesis 3) als Herausforderung für Philosophie und Literatur der Neuzeit“. Neue Sammlung 45/3, 2005, 365–375. Hay, Denys: „Italy and Barbarian Europe“. Italian Renaissance Studies. A tribute to the late Cecilia M. Ady. E.F. Jacob (Hg.). London: Faber and Faber 1960, 48–68.

Über Grenzen. Narrative des Mittelalters | 83

Herbers, Klaus. „Europa und seine Grenzen“. Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa. Europa im Mittelalter 7. Klaus Herbers und Nikolas Jaspert (Hgg.). Berlin: Akademie Verlag 2007, 21–41. Jones, W. R. „The Image of the Barbarian in Medieval Europe“. Comparative Studies in Society and History 13, 1971, 376–407. Koschorke, Albrecht. „Zur Logik kultureller Gründungserzählungen“. Zeitschrift für Ideengeschichte I.2, 2007, 5–12. Koschorke, Albrecht. Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/M.: Fischer 2012. Koselleck, Reinhart. „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“. Ders. Vergangene Zukunft: zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 211–259. Renner, Karl N. „Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von J. M. Lotman“. Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien, Wirtschaft. Wolfgang Lukas und Gustav Frank (Hgg.). Passau: K. Stutz, 2004, 357– 381. Schnyder, Mireille: „Lachen oder schweigen? Inszenierungen von Macht und Ohnmacht an den Grenzen des Verstehens“. Lachen und Schweigen. Grenzen und Lizenzen der Kommunikation in der Erzählliteratur des Mittelalters. Trends in Medieval Philology 26. Werner Röcke und Hans Rudolf Velten (Hgg.). Berlin: de Gruyter, 2017, 7–19. Wolfram, Herwig. „Origo et religio: Ethnische Traditionen und Literatur in frühmittelalterlichen Quellen“. Mittelalter. Annäherung an eine fremde Zeit. Schriftenreihe Universität Regensburg 19. Wilfried Hartmann (Hg.). Regensburg: Universitätsverlag Regensburg, 1993, 27– 39. Velmezova, Ekaterina (Hg.): L’école sémiotique de Moscou-Tartu / Tartu-Moscou. Histoire, épistémologie, actualité. Toulouse: Laboratoire „Lettres, Langages et Arts“, 2015.

Elke Koch, Berlin

Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären Was haben Gog und Magog, die der Johannesoffenbarung zufolge am Ende der Zeiten auf der Seite Satans in die letzte Schlacht ziehen werden, in einem Band zu suchen, der mit den titelgebenden Konzepten ‚Transkulturalität‘ und ‚Translation‘ der Vermittlung zwischen den Kulturen gewidmet ist? Stehen doch die Namen Gog und Magog, die Schrecken erregende Völker oder ihre Anführer bezeichnen, als Chiffren für Bedrohung, Unmenschen, Erz- und Endfeinde.1 Bei näherem Hinsehen gehören Gog und Magog zum geteilten Erbe der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition; ihre Geschichte ist als eine Kette fortwährender Übertragungen zu verstehen.2 Transkulturell ist die Figuration einer Zivilisations- und Kulturdifferenz in diesen Gestalten, die je neu für Bedrohungsszenarien in Dienst genommen werden konnte, „wenn die sinn- und kulturstiftenden Repräsentationssysteme der jüdischen, christlichen und islamischen Gesellschaft unter Druck gerieten“ (Brall-Tuchel 2001, 202). In einer Perspektive, welche die Übertragungen der schließlich zu einer Formel zusammengetretenen Namen Gog und Magog in den Blick nimmt, offenbart sich die innere Widersprüchlichkeit der mit ihnen verbundenen Abgrenzungsprozesse und die Standpunktabhängigkeit der Zumessung von Zivilisation. Diese Perspektive soll hier verfolgt werden, wobei nur Schlaglichter auf einige Stationen von Gog und Magog geworfen werden können, die sie von den biblischen Nennungen bis zum vierzehnten Jahrhundert durchlaufen.3

|| 1 Das Spektrum der Kandidaten, die im Lauf der Geschichte zur Identifizierung von Gog und Magog genannt worden sind, reicht von den Skythen bis zu den USA. Eine Liste von Identifizierungen von der Antike bis in die Neuzeit bietet Anderson 1932, 12–14; zu neueren Spekulationen im Internet vgl. Jaber 2007. 2 Die Forschungsliteratur zum Thema einschließlich der Fachliteratur zu den Texten, in denen Gog und Magog vorkommen, ist unübersehbar. Einschlägig für einen Überblick ist nach wie vor Anderson 1932. Zur islamischen Tradition vgl. van Donzel und Schmidt 2009. 3 Hierbei bleiben die bekannteren literarischen ‚Orte‘ von Gog und Magog in der deutschen Literatur des Mittelalters – Alexanderromane, Chroniken, Reiseliteratur – unberücksichtigt, dies zugunsten einer Rückschau auf Wandlungen in der Vorgeschichte, die zur Ausbildung des Motivs, wie es in der volkssprachigen Literatur begegnet, beigetragen haben. Zu Gog und Magog in der deutschen Literatur des Mittelalters vgl. Brall-Tuchel 2001, mit Hinweisen auch zu deren Verortung in der mittelalterlichen Kartographie.

DOI 10.1515/9783110556438-006

86 | Elke Koch, Berlin

1 Japhets Söhne und Jahwes herrliches Opfer Die Herkunft der Namen Gog und Magog ist historisch nicht dingfest zu machen.4 In der Völkertafel der Genesis, die von den Söhnen Noahs ausgeht, ist Magog ein Sohn Japhets (Gen 10,2). Sein Stamm ist dem Norden zugeordnet (vgl. Kochanek 2004, 8–10). Als Begriffspaar erscheinen Gog und Magog erstmals im hebräischen Prophetenbuch Ezechiel;5 hier bilden sie bereits das Produkt von Übertragungsprozessen. Die Kapitel 38 und 39, die den Überfall des Königs Gog aus dem Land Magog auf die Israeliten schildern, greifen auf frühere Prophezeiungen zurück, die den Angriff von Völkern aus dem Norden thematisieren. Diese feindlichen Mächte, mithilfe derer Gott „mit seinem Volk die Schlussabrechnung führt“ (Eichrodt 1969, 369), werden je nach historischer Situation unterschiedlich identifiziert: zur Zeit Jesajas mit den Assyrern, zur Zeit Jeremias mit Babylon. Im Buch Ezechiel wird der Feind aus dem Norden in ein endzeitliches Geschehen versetzt und noch einmal neu personifiziert. Als Fürst des Landes Magog wird er durch seine Herrschaft über weitere Länder am Ufer des Schwarzen Meeres genauer lokalisiert, sodass er als der noch zu erwartende Feind aus dem Norden erkennbar ist.6 Gog und sein gewaltiges Heer fungieren im apokalyptischen Entwurf des Buches Ezechiel als Instrumente Gottes. Dieser zwingt den Fürsten Gog geradezu in den Feldzug; durch ihn konfrontiert er die ohne Schutzmaßnahmen lebenden Bewohner der Berge Israels mit einem furchteinflößenden, übermächtigen Gegner, um dann den chancenlosen Israeliten mithilfe seines Beistandes und kosmischer Gewalten einen spektakulären Sieg zu verschaffen (Vgl. Bøe 2001, 117–118). Der Untergang von Gog und seinen Kriegerscharen erscheint so

|| 4 Einen Überblick über Thesen zum Ursprung der Namen gibt Lust 1999a und 1999b. 5 Das Buch Ezechiel ist in den ersten Jahrzehnten des 6. Jh. v. Chr. entstanden, vgl. Zimmerli 1982, 769. 6 Als afrikanische Völker erscheinen Gog und Magog im dritten und ältesten Buch der Sibyllinen; lokalisiert ist ihr Land „inmitten der Äthiopier Flüsse“ (μέσον οὖσα Αἰθιόπων ποταμῶν; Sibyllinische Weissagungen, III, 319–320; Übers. Gauger). Die Orakel dieses Buches sind nach Meinung der Forschung hellenistisch-jüdischen Ursprungs und wurden größtenteils zwischen dem ersten vor- und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert in Ägypten verfasst (Rosso Ubigli 2000, 242). Das Land von Gog und Magog wird hier unter die Reiche eingereiht, denen ein schreckliches Strafgericht geweissagt wird: Babylon, Ägypten, Libyen und Rom. In dieser illustren Reihe tritt es nicht besonders hervor, auch fehlt die Dimension der feindlichen Aggression: Vielmehr wird das Land seinerseits von Angreifern heimgesucht (vgl. III, 512–13).

Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären | 87

als überwältigende Demonstration der Macht Gottes.7 Ausführlich wird erzählt, wie die Leichen der Krieger den aasfressenden Tieren übergeben werden sollen. Sverre Bøe arbeitet mittels einer semantischen Analyse heraus, wie dabei das Heer Gogs als Opfer gekennzeichnet wird. Die Mobilisierung und Niederschlagung von Gogs Heer bis hin zu dessen Aufzehrung in einem orgiastischen Festmahl stehen im Zeichen der Selbstheiligung Jahwes.

2 Satans Mitstreiter aus aller Welt In der Johannesoffenbarung wird unter Verwendung von Elementen aus den jüdischen Prophetenschriften eine christliche Endzeitvision mit komplexer Bildsprache ausgeformt. Zahlenschemata und Narrative wie die Erzählung vom finalen Kampf zwischen Gut und Böse strukturieren die Vision. Gog und Magog, die nun als Ländernamen erscheinen, werden in diesem Szenario nicht von Gott manipuliert, sondern von Satan, der nach tausendjähriger Gefangenschaft entfesselt wird. Im Unterschied zum Buch Ezechiel ist die personale und lokale Konkretheit der Bezeichnungen verunklart, geschildert wird eine weltweite Mobilisierung: Der Satan verführt die Völker „an den vier Ecken der Erde, den Gog und Magog“ (ἐν ταῖς τέσσαρσιν γωνίαις τῆς γῆς, τὸν Γὼγ καì Μαγώγ; Apk 20,8; NT Interlinearübersetzung 1989) und sammelt sie zur Schlacht.8 Die Angabe der „vier Ecken der Erde“ ersetzt nicht nur, sondern überschreibt geradezu die genaue Himmelsrichtung, welche die eschatologischen Feinde mit der Geschichte Israels verknüpft.9 Dies ermöglicht neue historische Besetzungen und Lokalisierungen von Gog und Magog. Die Johannesoffenbarung überträgt die hergebrachten Namen in einen Kontext, der durch allegorische Verfahren geprägt ist. Meint Gog im Buch Ezechiel eine Person der Zukunft aus dem Stamm Magog, so werden Gog und Magog, die ursprünglichen Feinde der Israeliten,10 in der Johannesoffenbarung als Chiffre für die Widersacher der Christen lesbar.

|| 7 „Meinen heiligen Namen aber mache ich bekannt inmitten meines Volks Israel, und ich werde meinen heiligen Namen nicht mehr entweihen! Und die Nationen werden erkennen, dass ich der HERR bin, heilig in Israel“ (Ez, 39,7, Übersetzung: Zürcher Bibel 2007). 8 Zum Verhältnis der Darstellung von Gog und Magog in der Johannesoffenbarung zu Ezechiel vgl. umfassend Bøe 2001. 9 Die Universalisierung bei Johannes konstatiert auch Bøe 2001, bes. 308–311. 10 Zu diesem ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ in der jüdischen Tradition vgl. Bøe 2001, 189– 208; 232.

88 | Elke Koch, Berlin

3 Barbaren im Norden und Geißeln Gottes Folgenreich für das Fortleben von Gog und Magog im Imaginären unterschiedlicher Religionen und Kulturen ist ihre Verbindung mit der Alexandersage. Dabei werden Gog und Magog zu Funktionsfiguren eines Gründungsnarrativs. Die Verknüpfung des Welteroberers Alexander mit Gog und Magog wird im 7. Jahrhundert erstmals literarisch ausgestaltet;11 sie verläuft über ein spezifisches Motiv, das bereits sehr viel früher, in der griechisch-jüdischen Historiographie des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, erstmals greifbar wird: Alexander verschließt einen Bergpass, durch den unzivilisierte Aggressoren aus dem Norden in die bekannte und geordnete Welt diesseits des großen Gebirges einfallen.12 Literarisch ausgeformt findet sich das Motiv der Ausschließung von Gog und Magog durch Alexander in der syrischen Alexanderlegende. Diesen Text datiert Gerrit J. Reinink aufgrund von politischen Bezügen zur Regentschaft des byzantinischen Kaisers Heraclius (610–641) auf bald nach 628 (vgl. Reinink 2003, 161). Dem ungenannten Verfasser der Alexanderlegende spricht Reinink die propagandistische Intention zu, Heraclius als ‚neuen Alexander‘ erscheinen zu lassen (vgl. Reinink 2002, 86). Im Zentrum dieser Deutung steht Heraclius’ Krieg gegen den persischen Schah, der nach dem Sieg der Byzantiner 628 mit einem Friedensvertrag beendet wurde. Die Alexanderlegende erzählt nicht die gesamte Alexanderbiographie, sondern im Wesentlichen eine Episode, wobei durch apokalyptische Ausgriffe die heilsgeschichtliche Bedeutung Alexanders herausgestellt wird. König Alexander fasst den Plan, den Aufbau der gesamten Welt zu erkunden. Nachdem er Armenien, Aserbeidschan und persische Gebiete durchquert hat, gelangt er an einen schwer zu überschreitenden Berg im Norden. Am Pass

|| 11 Die von Pfister 1931 [1987], 911–913 vertretene Ansicht, dass bereits im 1. Jh. n. Chr. bei Flavius Josephus Gog und Magog mit der Alexandersage amalgamiert erscheinen, und dass dies die Grundlage für die spätere Darstellung bei Ps.-Methodius bilde, wird inzwischen als unpräzise beurteilt, vgl. Doufikar-Aerts 2007, 39; Schmidt 2008, 90; Einwände und Differenzierungen bereits bei Anderson 1932, 20, Anm. 1. 12 In Flavius Josephus’ De Bello Judaico (VII, 7, 4) findet sich die erste Erwähnung von eisernen Toren, die einst Alexander erbaute. Zur Zeit Vespasians seien diese Tore vom Herrn des Passes einem Skythenvolk geöffnet worden. Die Skythen, deren unzivilisierte Sitten bereits bei Herodot beschrieben sind und für Josephus einen Gemeinplatz bilden (vgl. Contra Apionem, II), identifiziert er im ersten Buch seiner Antiquitates Judaicae (I, 6, 1), als Nachfahren des Stammes von Magog, dem Sohn Japhets. Vgl. zu den Auffassungen über den skythischen Norden in der Antike Kochanek 2004, 77–99, zu Herodot 82, zur Weitertradierung des Skythentopos bes. 265–268.

Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären | 89

der einzigen Handelsstraße lässt er weise Männer zusammenholen, von denen er Auskunft über die Herrschaft des Königs Tûbârlâk in diesen Gebieten erhält, und die ihm von den Hunnen berichten, den Völkern, die im unzugänglichen Bergland wohnen und sie schon mehrfach überfallen haben. Unter den fünfzehn Königen der Hunnen sind auch „Gôg and Mâgog and Nâwâl the kings of the sons of Japhet“ (Alexanderlegende, 150). Die Hunnen werden geschildert als Kriegervolk mit amazonenhaften Frauen, kannibalischen Sitten („they eat the raw flesh of everything which dies of theirs; and they drink the blood of men and of animals“, Alexanderlegende, 151) und einem besonders abstoßenden Waffenzauber, für den das ungeborene Kind einer erbeuteten Schwangeren verwendet wird. Mit diesem Zauber erzeugen die Hunnen bei denen, die Opfer ihrer Überfälle werden, die Wahrnehmung, dass bei jedem Mann hundert weitere stünden und Scharen von Dämonen ihnen zu Hilfe kämen. Die Hunnen, so Alexanders Informanten, agieren jedoch ausschließlich als Instrumente des Zorns Gottes. Alexander kündigt eine Wundertat an und lässt einen metallenen Wall bauen, in den Durchgänge eingebaut sind. Eine Inschrift verkündet, dass nach 826 Jahren der Zorn Gottes die Hunnen aufrührt und sie nach der Öffnung des Tors verlangen werden. Das Tor wird zerstört werden und die Hunnen werden zu einem Feldzug aufbrechen, der zur gegenseitigen Vernichtung von Hunnen, Persern und Arabern führt. Das römische Königreich der Griechen aber wird als Sieger aus diesem Krieg der Völker hervorgehen und als einziges bestehen bleiben. Alexander schlägt eine Schlacht gegen Tûbârlâk, die er mit dem Beistand Gottes gewinnt. Persische Seher bestätigen die auf dem Tor eingravierte Prophezeiung. Van Donzel und Schmidt sehen in dieser Erzählung ein durchgängiges Thema der syrischen Darstellungen von Gog und Magog realisiert: „The terror, impurity and cruelty of the horsemen are the reason for Alexander to exclude them of the habituated world of the oikumene, and thus secure peace for the civilized nations“ (van Donzel und Schmidt 2009, 46).13 Bei näherem Hinsehen macht der Text dies jedoch weder als Motivation Alexanders noch als Funktion des Walles explizit. Die Inschrift, die Alexander auf dem Tor anbringen lässt, markiert den Wall nicht als ausschließende Grenze, sondern als Durchgang. Sie beginnt mit den Worten: „The Huns shall go forth and conquer the countries of the Romans and the Persians [...] and shall return and enter their own land“ (Alexanderlegende, 154, Hervorheb. E. K.). Die Befriedung der Länder diesseits des Berges erfolgt nicht in erster Linie durch die Sicherung gegen die Hunnen, sondern vielmehr durch ihre Befreiung von der Herrschaft Tûbârlâks. Daher || 13 Ebenso Doufikar-Aerts 2007, 38–39.

90 | Elke Koch, Berlin

lässt der Bau der staunenswerten Pforte ihn auch nicht als Bewahrer eines griechischen (oströmischen) Kulturvorsprungs erscheinen, sondern als Baumeister Gottes, der dessen Willen in einem architektonischen Wunder konkretisiert. Die hunnischen Krieger bleiben demnach auch nach dem Bau des Walls nicht eingesperrt bis zum Ende aller Tage, sondern werden nur offensichtlicher reguliert, indem das Tor mit der Inschrift verdeutlicht, dass sie ausschließlich als Werkzeuge Gottes durch dieses ausfallen.14 Das Zurückbleiben der Hunnen hinter zivilisatorischen Standards, gar noch ihr Dämonenglaube ist Bedingung dafür, dass sie den Schrecken des göttlichen Zornes in der von Alexander politisch neu zu ordnenden Welt diesseits der Berge spürbar machen. Entsprechend erscheinen die Hunnen in der Prophetie der Inschrift nicht als satanische Macht, sondern als gehorsame Diener des christlichen Gottes: „And the Lord will gather together the kings and their hosts which are within this mountain, and they shall all be assembled at His beck, and shall come with their spears and swords, and shall stand behind the gate, and shall look up to the heavens, and shall call upon the name of the Lord, saying, ‚O Lord, open to us this gate‘“ (Alexanderlegende, 154). Die Hunnen unter der Führung Gogs und Magogs sind in dieser Erzählung weit von den Heerscharen des Satans der Johannesoffenbarung entfernt, obwohl die syrische Alexanderlegende die apokalyptische Dimension funktionalisiert, um die Alexanderfigur politisch und religiös aufzuladen.

4 Unmenschen Gegen Ende des 7. Jh. entsteht in Syrien ein weiterer Text, in dem Alexanders Wallbau eine zentrale Rolle spielt: ein apokalyptischer Traktat, den der anonyme Verfasser als Werk des heiligen Bischofs und Märtyrers Methodius von Patara ausgibt. Die syrische Apokalypse des Pseudo-Methodius15 wird bald ins Griechische und Lateinische übersetzt und findet im Westen weite Verbreitung. Dieser Text greift auf die Alexanderlegende zurück, gestaltet aber die Gründungstat Alexanders anders aus. Hier ist der Mauerbau nicht mehr Ausweis der politischen und heilsgeschichtlichen Bedeutung des Perserbezwingers, sondern ein Akt, mit dem Alexander den größten vorstellbaren Schrecken für eine ge|| 14 In diesem Sinne wäre auch der Blutschwamm zu deuten, der als Zeichen Gottes am Tor befestigt ist, und an dem die Hunnen ihre Köpfe mit Blut beschmieren: Dies wäre als ambivalente Stigmatisierung zu interpretieren, die auf die Stigmata der Passion zurückverweist. 15 Im Folgenden zitiert mit der Abkürzung Syr. Ps.-M. Zitate aus der Einleitung des Herausgebers werden mit ‚Reinink 1993‘ und römischer Seitenzahl ausgewiesen.

Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären | 91

wisse Anzahl von Millenien aus der Welt bannt. Diese Erzählung und die Rolle, die Gog und Magog darin spielen, schaffen erst das historisch so folgenreiche Narrativ, das van Donzel und Schmidt als wiederkehrendes Thema auffassen. Die Apokalypse des Pseudo-Methodius wird verfasst, als Syrien bereits unter arabischer Herrschaft steht und der Islam in Konkurrenz zu den hergebrachten monotheistischen Religionen getreten ist. Der Text beginnt mit einer welt- und heilsgeschichtlichen Rückschau und geht dann in eine apokalyptische Erzählung über. Er baut auf die in der Deutung des Buches Daniel entwickelte Weltreichelehre auf und bezieht Elemente weiterer alttestamentlichen Prophetien ein. Reinink kontextualisiert die religiöse und politische Stoßrichtung dieser Schrift in einer Situation, in der syrische Christen Anlass hatten, an der heilsgeschichtlichen Bedeutung des christlich-byzantinischen Reichs zu zweifeln, und in der die Konversion zum Islam an Attraktivität gewann. Mitnichten werden aber Gog und Magog mit den Arabern identifiziert, vielmehr geht es um die Einordnung der arabischen Herrschaft in die von der Abfolge der Weltreiche bestimmte Heilsgeschichte. Es gilt, nach Reininks Deutung, dem Eindruck entgegenzuwirken, dass dieser Herrschaft überhaupt der Status eines Weltreichs zukomme, zumal dieses dann als das letzte Friedensreich erscheinen müsse, was die Suprematie des Islam belegen würde. Pseudo-Methodius löst dieses Problem, indem er die arabischen Eroberungen als eine zeitlich beschränkte „Kasteiung Gottes“ (Reinink 1993, XVI) darstellt: Sein eigentliches Interesse betrifft [...] die Idee, daß die arabisch-islamischen Eroberungen, die als eine zeitweilige Strafe Gottes für die Sünden der Christen zu betrachten seien (Kap. XI, 5–7), die letzte Phase der Weltgeschichte einleiten, mit der die letzte Weltherrschaft des von Alexander dem Großen gegründeten ‚Königreich der Christen‘ verbunden ist. [...] So wie der gläubige Alexander der Große [...] nach Osten zog und die Länder eroberte, die eschatologischen Völker Gog und Magog usw. mit Gottes Hilfe hinter dem von ihm gebauten Tor des Nordens einschloß und das vierte Reich Daniels gründete (Kap. VIII, 2–10), so werde der kommende christliche Kaiser von Byzanz ausziehen, die arabische Herrschaft vernichten, die ganze Welt erobern, und das christliche Endreich gründen (Reinink 1993, XXXIII–XXXIV).

Diese Konstruktion stellt Gog und Magog, die hier, anders als in der Alexanderlegende, als Völkernamen aufgefasst sind (vgl. Syr. Ps.-M., Kap. VIII, 10), in ein Spannungsverhältnis zu den Arabern. Die materiellen, sozialen und moralischen Verheerungen durch die „Söhne der Wüste“ (Syr. Ps.-M., Kap. XI, 17) scheinen die Gräuel der apokalyptischen Völker nachhallen zu lassen. Doch im Verhältnis zu diesen gesehen, sind jene bloß vorläufig und lassen die grundsätzliche Kulturfähigkeit der Eroberer erkennen. Auf diese Weise wird ihr Schrecken im Sinne der Beschwichtigungsstrategie des Textes depotenziert.

92 | Elke Koch, Berlin

Umso grauenhafter ausgemalt ist die Bedrohung durch die im geschichtsteleologischen Plan bedeutsameren Gog und Magog. Deren Horror wird durch kalkulierten Ekel evoziert, denn die grundlegenden symbolischen Unterscheidungen, die kulturelle Ordnung stiften, kennen die Gog und Magog nicht. In ihren Sitten ist Essbares und Nicht-Essbares so wenig getrennt wie Tod und Geburt, und selbst das archaische Gesetz der Verwandtschaft ist ihnen fremd. Umso gewaltiger erscheint demnach Alexanders Gründungstat ihrer Einschließung, die nun erstmals durch die Unreinheit der Völker motiviert wird: Und als er sah, [...] daß sie das Gewürm der Erde aßen, Schlangen und Skorpione, Mäuse und Hunde und Katzen und Tiere und tote und unreine Körper und Fehlgeburten des Viehs zusammen mit unreinen Nachgeburten und toten Körpern der Tiere, und (daß sie) ihre Toten nicht einhüllten und begruben, und die Leibesfrüchte, die die Frauen abtrieben, wie eine Delikatesse aßen, und als Alexander ihre Unreinheit und ihren Gestank sah, rief er, damit sie nicht zu diesem heiligen Land hinaufsteigen und es verunreinigen würden, Gott zu Hilfe. [...] Und er führte sie aus dem Osten hinaus und führte sie hinein und schloß sie ein in die Grenzgebiete des Nordens innerhalb des Einganges, der das Tor der Welt im Norden ist (Syr. Ps.-M., Kap. VIII, 4–6).

Alexanders politischer und sakraler Gründungsakt setzt gegen das Chaos der unterschiedslosen Einverleibung eine Grenze und markiert dadurch eine (griechische) Sphäre von Menschlichkeit, Ordnung und Zivilisation. Entsprechend wichtig ist die vollständige Abschließung dieser Völker: „Und es gibt keinen anderen Eingang und Ausgang in den Grenzgebieten der Welt von Ost bis West“ (Syr. Ps.-M., Kap. VIII, 6). Auch wenn die griechischen und lateinischen Übersetzungen des Traktats die Gräuelschilderungen des syrischen Textes mildern (vgl. Aerts und Kortekaas 1998, 13), ist doch das Bild der unreinen, eingeschlossenen Völker nun in aller Deutlichkeit geprägt: Gog und Magog sind Unmenschen geworden. Damit steht ein Motiv bereit, das durch die Verbreitung des Pseudo-Methodius im Westen16 in das religiöse ‚Wissen‘ über die Endzeit eingeht und als Gussform für andere Ausgrenzungen verwendet werden kann. Als fatal erweist sich seine Verbindung mit einem Motiv der jüdischen Tradition.

|| 16 Zur lateinischen Überlieferung vgl. die Einleitung in der Ausgabe von Aerts und Kortekaas 1998, 19–35. In die volkssprachige Literatur findet die Ausgestaltung von Gog und Magog bei Pseudo-Methodius Einzug über Quellen des Alexanderstoffes, und zwar über interpolierte Versionen der Historia de Preliis, die auf dessen Schilderung zurückgehen; vgl. dazu Anderson 1932, 34 und 49–50.

Gog und Magog: Von Ein- und Ausschlüssen im kulturellen Imaginären | 93

5 Verlorene Stämme und Bestien an der Kette Das alttestamentliche zweite Buch der Könige erzählt davon, wie der König von Assur Samaria einnimmt und die Ansässigen in sein Reich verschleppt, wo er sie an verschiedenen Orten ansiedelt (2 Kön 17,5–6). Dies wird als Strafe Gottes für die Götzenverehrung gedeutet, der sich die Israeliten auf dem Weg aus der ägyptischen Gefangenschaft zugewandt haben. Zvi Ben-Dor Benite (2010) zeichnet nach, wie diese und andere Geschichtserzählungen von Verschleppungen der Israeliten nach Assyrien in nachbiblischer Zeit zu einem Narrativ jüdischer Universalgeschichte ausgebaut werden, das vom Verlust der zehn verlorenen Stämme Israels handelt. Doch bevor es um die Amalgamierung der beiden Geschichtsmythen gehen soll, gilt es, einen Blick auf einen einflussreichen Text im kulturellen Imaginären des lateinischen Westens zu werfen, in dem die verlorenen Stämme Israels und die von Alexander eingeschlossenen Gog und Magog in Nachbarschaft erscheinen: der Brief des Presbyters Johannes.17 Dieses fingierte Schreiben des angeblichen Herrschers über ein christliches Großreich in Indien, das seit der Mitte des 12. Jahrhunderts im Westen zirkulierte, ist zugleich die wichtigste Quelle, aus der die mittelalterlichen christlichen Autoren Kenntnis von der jüdischen Vorstellung der verlorenen Stämme erhalten konnten.18 In diesem Brief erscheinen die zehn Stämme Israels im Herrschaftsbereich des Johannes angesiedelt. Wie in der jüdischen Tradition leben sie hinter einem wundersamen Fluss, der aus Steinen besteht und nur zu bestimmten Zeiten stillsteht, an denen man ihn überqueren kann.19 In der C-Redaktion des Johannesbriefs, die seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert überliefert ist (vgl. Wagner 2000, 179), sind Passagen ergänzt, derzufolge auch Gog und Magog zu den Tributpflichtigen des Priesterkönigs gehören.20 Ihren Kannibalismus macht er sich bei der Erhaltung seiner Macht zunutze, indem er seine Feinde ‚Mann und Maus‘ von ihnen verspeisen lässt:

|| 17 Der Text wird zitiert nach der Ausgabe von Zarncke, zur Textgeschichte Wagner 2000. 18 Der Mythos der verlorenen Stämme war durch die Berichte von Eldad ha-Dani (9. Jh.) ausgebaut worden, vgl. dazu Ben-Dor Benite 2010. Zu Fragen nach dem Quellenverhältnis zwischen dem Sefer Eldad und dem Johannesbrief vgl. Wasserstein 1996; zu Gog und Magog in hebräischen Versionen des Johannesbriefs vgl. Gow (1995, 40–41) mit weiterer Literatur. 19 Zum Fluss Sambatyon vgl. Ben-Dor Benite 2010, 77–82. 20 Anderson (1932, 48) geht davon aus, dass diese Passage durch Pseudo-Methodius beeinflusst ist; vgl. auch Wagner 2000, 567; Gow (1995, 40) hingegen behauptet: „The description is drawn from the tradition of the [...] Alexander cycle.“

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Quas cum volumus ducimus super inimicos nostros et data eis licentia a maiestate nostra, quod eos devorent, continuo nullus hominum, nullum animalium remanet, quin statim devoretur. Inimicis namque devoratis, reducimus eas ad propria loca. Et ideo reducimus, quia, si absque nobis reverterentur, omnes homines et universa animalia, quae invenirent, penitus devorarent (Priester Johannes, § 17–18). Wenn wir wollen, führen wir diese [menschenfressenden Völker] gegen unsere Feinde, und sobald ihnen durch unsere herrscherliche Macht die Erlaubnis gegeben wird, diese zu verschlingen, bleibt kein Mensch, kein Tier zurück, ohne sofort verschlungen zu werden. Wenn dann die Feinde verschlungen sind, führen wir sie zu ihren eigenen Orten zurück. Und wir führen sie deswegen zurück, weil sie, wenn sie ohne uns zurückkehren würden, alle Menschen und sämtliche Tiere, die sie fänden, ganz und gar verschlängen [Übers. E. K.].

Die apokalyptische Dimension der Völker wird der politischen Darstellungsabsicht entsprechend modifiziert und durch eine herrschaftsstützende Funktion ergänzt.21 Gog und Magog, die eine Reihe menschenfressender Völker anführen, erscheinen als zwei besonders grauenerregende Spezies der verschiedenen monstra und bestiae, welche die indischen Reiche des Presbyters bewohnen. Gleich scharfen Kettenhunden kann er sie auf seine Feinde loslassen, um sie dann wieder sicher an ihrer Wohnstatt zu verschließen, damit sie am Ende der Zeiten ihre heilsgeschichtliche Rolle spielen können. Beide Funktionen, die politische wie die heilsgeschichtliche, lassen es plausibel erscheinen, dass die blasphemische Sakralisierung des Kannibalismus bei den Gog und Magog im christlichen Reich des Priesterkönigs ihren Platz hat.22 Alexander Gow zeichnet nach, wie Texte, die beide Geschichtsmythen nebeneinanderstellen, den Boden dafür bereiten, dass schließlich die eingeschlossenen Völker mit den zehn verlorenen Stämmen Israels in eins gesetzt werden konnten (1995, 38–42). Es ist Petrus Comestor, der in seiner Historia scholastica (um 1170) diese erstmals zusammenfallen lässt. Freilich überträgt Petrus nicht die Namen Gog und Magog auf die zehn Stämme, sondern allein das Narrativ der Einschließung. In seiner Darstellung der Alexandergeschichte (vgl. Historia Scholastica, Lib. Esther, Cap. IV–V, PL 198, 1496a–1498c) trifft der Welteroberer bei den Kaspischen Bergen auf Gesandte der Nachfahren der zehn Stämme, die vom assyrischen König dorthin verbracht wurden. Diese bitten ihn nun um ihre || 21 Vgl. Wagner (2000, 291): „Das Vorgehen des Bearbeiters erscheint daher von der Intention geleitet, die Vollkommenheit des indischen Staatswesens noch zu steigern und in der Hand des Priesterkönigs Machtmittel zusammenzufassen, die alle nur vorstellbaren äußeren Gefährdungen seiner Position ausschlossen.“ 22 Ihr Credo wird wiedergegeben als: „Sacratissimum est humanam carnem manducare“; Priester Johannes, §15, Übers.: ‚„Menschenfleisch zu essen ist das Heiligste“.

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Freilassung. Als Alexander erfährt, dass sie zur Strafe für ihre Anbetung des Goldenen Kalbes in Gefangenschaft sind und ihnen von Gottes Propheten vorhergesagt wurde, sie würden daraus nicht zurückkehren, versucht er den Bergpass zu verschließen. Im Zweifel, ob das Menschenwerk standhalten werde, betet Alexander zu Gott, der daraufhin durch ein Wunder die Berge undurchdringlich zusammenrücken lässt und auf diese Weise kundtut, dass die Eingeschlossenen bis zum Ende der Zeiten nicht herauskommen sollen. Ohne dass die Israeliten als Gog und Magog benannt werden, sind sie mit dieser Erzählung als jene der Tradition nach ‚unreinen‘ apokalyptischen Völker identifiziert. Es scheint, als ob durch die in der Johannesoffenbarung vorgegebene Assoziation von Gog und Magog mit dem Antichrist die verlorenen Stämme Israels nun als Feinde der Christen markiert würden. Gow bezieht diese Umbesetzung auf eine antijüdische Haltung des Verfassers (1995, 42–48). Diese Einschätzung ist jedoch in der Forschung nicht unumstritten (Morey 1993, 12–13). In der Passage über Alexander und die zehn Stämme Israels ist es jedenfalls nicht die Christenheit, sondern die Menschheit, die von den Götzenanbetern endzeitlichen Schrecken zu gewärtigen hat: Egredientur tamen circa finem mundi, magnam hominum stragem facturi (Historia Scholastica, Lib. Esther, Cap. V, PL 198, 1498b., Übers. [E. K.]: „Sie werden jedoch am Ende der Welt herausgelassen, als die, welche den Untergang der Menschen herbeiführen werden“). Im Kontext seiner Erzählung von Alexander steht offenbar die Einbindung dieser Gestalt in die christliche Heilsgeschichte stärker im Vordergrund als die Abgrenzung gegenüber ‚den‘ Juden, wird doch Alexander geradezu als Funktionsfigur zur Verknüpfung alttestamentlicher Geschichte mit christlicher Heilsgeschichte eingesetzt.23 Nicht zuletzt unterstreicht Petrus, dass Alexander darum bemüht ist, den von den Propheten offenbarten Willen Gottes durchzusetzen, wenn ihm dies allein auch nur unvollständig gelingt. Unabhängig von Petrus’ eigenen Intentionen konnte seine Darstellung verwendet werden, um die Codierung Gogs (und Magogs) in ihr Gegenteil zu verkehren – vom endzeitlichen Feind der Israeliten zu ebendiesen, die als Feinde der Christen figurieren. Diese Gleichsetzung der ‚unreinen‘ Völker mit jüdischen Stämmen wurde insbesondere von deutsch schreibenden Autoren des Spätmittelalters vollzogen, die die Mitstreiter des Antichrist als ‚Rote Juden‘ identifizierten (dazu umfassend Gow 1995).

|| 23 Entsprechend ausführlich ist die Darstellung von Alexanders Aufenthalt in Jerusalem, während Petrus den Sieg über Porus ebenso übergeht wie die mirabilia des Aristoteles-Briefs.

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6 Jüdische Handelspartner Der Prosatraktat Vom Antichrist,24 eine Bearbeitung des lateinischen Passauer Anonymus,25 die zum Werk des Österreichischen Bibelübersetzers gehört (vgl. Knapp 1999, 216) und zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstanden ist, stellt in der Art eines Handbuchs Wissen über das Wesen des Antichrist und sein Wirken bereit. Im zehnten Kapitel unterrichtet der Verfasser, dessen antijüdische Haltung auch in weiteren seiner Werke zum Ausdruck kommt,26 seine Adressaten über die Völker Gog und Magog. In ihnen sieht er Nachkommen aller zwölf [!] jüdischen Stämme, die einst von Alexander eingeschlossen worden seien und die er als ‚Rote Juden‘ bezeichnet. Obwohl er damit auf die hergebrachten Narrative zurückgreift, steht seine Version, so der Herausgeber Paul-Gerhard Völker, „[v]öllig allein“ (Vom Antichrist, Kommentar, 124). Der Österreichische Bibelübersetzer betont die Feindschaft zwischen Juden und Christen, indem er die endzeitliche Freisetzung als Bedrohungsszenario für die Christen entwirft: „So verhenget in got, das sy auß varend uf die cristenhait vnd wellend die verderben vnd tuond den cristen laid vnd angst [...]“ (Vom Antichrist, Z. 863–865). Mit Blick auf die stark antijüdische Tendenz wäre nun erwartbar, dass die Gräuel der Speisegewohnheiten aus der Tradition ausgebreitet werden, um diese nun den ‚Roten Juden‘ zuzuschreiben. Jedoch geht der Verfasser einen anderen Weg: Aufgrund der Bedrohung der Christen scheint es umso wichtiger, sicher zu gehen, dass diese zur Zeit noch gebannt ist: Wa von aber die roten juden ze diser zeit nit auß mugent komen, das ist guot ze wissen (Vom Antichrist, Z. 880–881). Gog und Magog bzw. die ‚Roten Juden‘ sind hier durch eine dreifache Staffel von Hindernissen eingesperrt, die keine Entsprechung im Passauer Anonymus hat (Vom Antichrist, Kommentar, 125): Nicht nur ein Gebirge, so hoch, dass kein Vogel es überfliegen kann, sondern auch eine undurchdringliche Finsternis umgibt ihr Reservat, schließlich auch ein reißender, Felsbrocken aufwirbelnder Fluss (Vom Antichrist, Z. 889–893). Dieser Fluss, der aus dem Johannesbrief bekannt sein konnte, verweist auf die jüdische Herkunft des Motivs, teilt er doch nicht nur die Steine, sondern auch die Eigen-

|| 24 Zitiert wird die Ausgabe von Völker. Auf die Wiedergabe diakritischer Zeichen wird verzichtet, allein über u oder v gestelltes o wird hier nachgestellt. Schaft-s wird typographisch als Rund-s wiedergegeben. 25 Vgl. dazu die Untersuchung von Patschovsky 1968. 26 Zu weiteren Adversus-Judaeos-Traktaten und zum Evangelienwerk des Österreichischen Bibelübersetzers, die das „ganz und gar negative Judenbild“ des Verfassers bezeugen, vgl. Niesner 2005, bes. 51–301 (Zitat 300).

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schaft, zu bestimmten Zeiten stillzustehen, mit dem Fluss Sambatyon, hinter dem in der jüdischen Tradition die verlorenen Stämme im Exil leben. In der Darstellung des Antichrist-Traktats steht dieser Fluss nur an einem einzigen Tag im Jahr still. Doch auch an diesem Tag können die Eingeschlossenen ihn zu ihrem Leidwesen nicht überqueren. Dies gilt aber überraschenderweise nicht für Christen: „des selben tages vert ettwenne ain cristen in das selb land seines kauffes willen. Der muoß auch daz gantz jar dar inne beliben“ (Vom Antichrist, Z. 893–895). Vor dem Hintergrund der Tradition, die Gog und Magog zu menschenfressenden Unholden gemacht hat, tritt die Besonderheit dieses Entwurfes scharf hervor: Dass sich Kaufleute auf den Weg machen, um Handel mit ihnen zu treiben, ist so wenig wahrscheinlich, wie es plausibel ist, dass sie die gerade im Antichrist-Traktat noch vervielfachten Hindernisse überwinden können, die Gog und Magog vom Rest der Welt trennen. Die Durchlässigkeit dieser verdreifachten Grenze für den Handel zwischen Christen und Juden offenbart die wohl abgründigste Umbesetzung der apokalyptischen Völker, die in diesem Text begegnet: Gog und Magog werden als ‚Rote Juden‘ transparent auf alle Juden, auch die, denen die christlichen Zeitgenossen des Verfassers im alltäglichen Wirtschaftsleben begegnen. Das vermeintlich verstärkte Bollwerk steht in Wahrheit für die Entgrenzung der apokalyptischen ‚Feinde‘. So kann diese Episode idealtypisch die diskursiven Bruchstellen hervortreten lassen, welche die Darstellungen von Gog und Magog vielfach kennzeichnen. Hat der Durchgang gezeigt, wie ihre imaginären Einschlüsse und Ausschlüsse in Raum und Zeit für ideologische, religiöse und politische Zwecke genutzt werden, so lassen Bruchstellen wie der Fluss des Antichrist-Traktats ihre innere Widersprüchlichkeit durchscheinen. Kulturelle Fiktionen von Homogenität und Stabilität hängen davon ab, dass Grenzen gezogen werden, zugleich bleiben aber diese Grenzen als disponible noch dort sichtbar, wo ihre maximale Beständigkeit ‚bis ans Ende der Zeiten‘ behauptet wird. Auch der Österreichische Bibelübersetzer kann bei aller Perfidie seiner Übertragung von Gog und Magog die Vielstimmigkeit des von ihm beanspruchten Traditionsbestandes nicht tilgen, sondern verstärkt sie noch. Nicht zuletzt bildet der Fluss zugleich Grenze und Übergang zwischen Christen und Juden, setzt sich mit ihm der Transfer zwischen den Traditionen fort.

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Markus Stock, Toronto

Fluid Texts, Distant Worlds Transculturality and Translatability in Late Medieval German Alexander Romances In his plea for a broader application of transcultural approaches to literary studies, Josef Fürnkäs described a characteristic tension which erupted after the formerly ›national‹ philologies were complemented by more interdisciplinary approaches to German Cultural Studies, at the latest in the 1990s and 2000s: Philological competencies, deemed as old-fashioned, found themselves on the wrong side of a new pluralism of “Multi- und/oder Inter- und/oder Transkulturalität” (Fürnkäs 2008, 84). It is no coincidence that Fürnkäs as a germanist working outside the German-speaking lands was particularly alert to this discussion: One could argue that German as Fremdsprachenphilologie was an early adopter of research into the transcultural condition of German culture and of putting this condition front and centre in its scholarship and teaching. The experience of cultural multitude seemed to have sensitized scholars (and students) outside the German language areas to the transcultural offerings in German culture and their study (Noyes and Stock 2010, 330). John Greenfield has taken this insight one step further by asking similar questions not only about German Studies in general, but focusing specifically on the “mehrfache Alterität” that the study of medieval German literature and culture brings to the table. He was able to show that the study of historically remote cultures provide additional opportunities for reflecting identities and (trans)cultural conditions of one’s own and of others, and thereby offers the chance to uncover unreflected prejudices and stereotypes (Greenfield 2014). If there is one result of the debate in the field of German Studies around the best methodological response to the tension between cultural studies and ›rephilologization‹ of the early 2000s (Erhart 2004), it is that the turn to transcultural approaches should not come at the cost of philological diligence. Fürnkäs stipulates an “anamnetische Selbstbesinnung” (Fürnkäs 2008, 84) and a “selbstreflexive Philologie” (ibid.), which should co-design the ›cultural turn‹ according to its own rules and procedures. According to Fürnkäs, a transcultural Literaturwissenschaft should “interdisziplinäre bzw. transdisziplinäre Problemstellungen aufgreifen, zu denen sie selbst durch formsemantische und medienästhetische Analysen den Kulturwissenschaften besondere und eigenstän-

DOI 10.1515/9783110556438-007

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dige Beiträge liefern kann. Philologisch kontrolliertes Wissen von Intertextualitäten eröffnet hierzu viele Möglichkeiten” (Fürnkäs 2008, 86). Following this vein, I will investigate a specific tradition, namely the medieval legends of Alexander the Great as they play out in three late medieval German texts, with an emphasis on the issues of tranculturality and translatability they raise. My case studies will be informed by such ‘philologically-controlled knowledge’ that Fürnkäs recommends, including attention to poetic form, as it plays out in the Latin source texts and the German adaptations, as well as the variance and manuscript/print transmission of the texts. Stories about the life of Alexander the Great are among the most significant medieval sources of transcultural narrative knowledge in the Middle Ages (Stonman 2008; Stock 2016). For medieval and early modern literatures and cultures of Europe, the Mediterranean and Asia, telling stories about Alexander the Great is acutely touching on transcultural concerns, not only because medieval Alexander legends form a transcultural field, but also because the subject matter, Alexander’s life, is a paradigm of translatability. Following Alexander’s trail into the far reaches of the Eastern world, medieval Alexander literature touches on the transgressions of limits, on seeing the hitherto unseen, and on communicating about and with the Other. The aim of this paper is to highlight some special and noteworthy aspects of transculturality in three late medieval German Alexander texts: Seifrit’s verse Alexander, probably written in Austria and finished in 1352, which was comparatively broadly transmitted in the fifteenth century; and two prose lives of Alexander from the fifteenth century, the texts by Meister Wichwolt and Johann Hartlieb, both extant in manuscripts and print. Together with the multitude of encounters that the Macedonians face in the Eastern parts of the world, and with the economy of letters, objects, and information which dominate the medieval Alexander romance tradition, comes, implicitly and sometimes explicitly, the problem of representation: The texts engage in finding methods and levels of depiction, in order not only to enable, but also to problematize understanding. This is visible in the medieval Alexander romances, especially as they lead their protagonist into ever stranger parts of the world. To be sure, the re-telling of Alexander’s journey always had a narrative advantage over the mere enumerations of places and marvels of the East displayed in Isidore or high medieval encyclopedic works such as the Imago Mundi of Honorius Augustodunensis: In the romances, the narrative setup has characters experience these wonders, which heightens empathic identification. One of the challenges in narrativizing these wondrous encounters is, however, that the fabulous nature and the otherness of the peoples and encounters described occasionally create frictions with rules of probability, even for medieval

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authors and, presumably, their audiences. For example, the question of how characters communicate when encountering foreign cultures from very remote areas of the world, i.e., how they deal with interculturality on the level of language, is a recurrent theme in the late medieval Alexander romances. As far as I am aware, Seifrit creates the first German Alexander text which addresses this looming interlingual question directly. How can you witness, understand, and communicate the wonders of the East and interact with foreign peoples without knowing all the languages of these remote parts of the world? One short digression (Seifrit, Alexander, ll. 5903–5990; for its interpretation, see Schöller 1997, 39–44) is particularly significant in this respect, especially against the backdrop of earlier medieval German Alexander texts, in which, as far as I can see, problems of language and communication play a minor role. Addressing his audience directly, the narrator names the main locations on Alexander’s journey, in order to stress the extraordinary nature of this language problem: in Egyppto (Seifrit, Alexander, l. 5912), zu Capadocia (l. 5915), in Persia (mentioned two times, ll. 5916 and 5923), zu Jerusalem (5917), zu India (5928): How could Alexander manage, lingually, in all of these places? The reason, we are told, is to be found in the cosmopolitan vibrancy and radiance of Greek education. In Athens, all wise men of all lands came together pey alten zeitten (l. 5939) and all monarchs would send their children there, so that everywhere in the world people would speak Greek, allowing Alexander to easily converse wherever he went. Of course, this counteracts the Othering of the Eastern world, which appears far less foreign or impenetrable. If all rulers have been educated in Greece, then the cosmopolitan model prevalent in the material itself is toned down to a centralized one, with Greece and Athens at its centre (on cosmopolitanism in the early historiographical Alexander tradition see Hahn 2016). Thus, Seifrit not only rationalizes the language question, but the distant parts of the world themselves. The traffic of young aristocrats to a place of learning in Alexander’s own sphere precedes and parallels the imperial gesture of the conqueror. Lingual dominance and world dominance complement each other, as Robert Schöller has argued (Schöller 1997, 43, following Schnell 1974). While all texts treating the subject matter of Alexander’s journey to the East implicitly pose this question of transcultural hermeneutics, the late medieval German texts can be given credit for realizing and explicitly discussing this problem. This claim can be further substantiated through an analysis of a significant legendary episode: Alexander’s visit to the two oracular trees, the trees of the sun and the moon, predicting his imminent death. Even the early versions of this episode, as far as one can tell, already seemed to have been commenting on a cultural problem closely tied to lan-

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guage: The insecure identity of Alexander between Greek / Macedon and Persian, which seems to have its roots in Alexander’s biography itself and how his peers and contemporaries saw him (see Cartledge 2004). In the episode of the oracular trees, this Greek/(Macedon)/Persian identity ambiguity is transposed to a Greek/›Indian‹ language problem: in the Latin versions one tree starts its prophecy in ›Indian‹ and ends in Greek, the other starts in Greek and ends in ›Indian‹. Seifrit omits this episode, but it is interesting to see how the fifteenthcentury texts, Wichwolt’s and Hartlieb’s, respond to this explicit foreign language problem. This passage, which stems from the Letter of Alexander to Aristotle, is transmitted in many versions in the classical and medieval traditions (see Stoneman 2008, 187–190). Passing through fabulous regions of India, Alexander is offered the opportunity to find out about the future through two speaking trees. He consults a local wise man on how to communicate with them. The version of Meister Wichwolt adds a particular twist to the scene. At first, Wichwolt’s version closely follows the traditional sequence of the episode as transmitted by the Latin texts. According to the wise man, the solar tree speaks indisch at first and ends in Greek; sunder der mone bawm verkert das (Wichwolt, Alexander, 157, “but the lunar tree does it the other way around”). But when the oracular trees’ speech is represented in Wichwolt’s text, it is represented in Latin language, thus marking their otherness in the German text in a peculiar way. To explain this bilingual approach by Wichwolt at least partly, one has to go back to the Latin tradition from which this text is derived: the J3 redaction of the Historia de preliis. One of its distinguishing aspects is that the prophetic words of the trees are not rendered in prose but in hexameters (Historia de preliis J3, 158, ll. 16-24), stressing the words’ medially different status: these are foreign elements in the text, which require markers of otherness. In the J3 redaction of the Historia de preliis, the marker of otherness is verse as opposed to prose. Wichwolt recognized the Latin hexameters within the prose of the Latin version as a formally alien element marking the otherness of the trees’ speech by its deviant metrical form, endowing the words with added gravitas. In an attempt to capture this formal and stylistic difference, he simply inserts the Latin hexameters in his German prose text. Latin thus serves as the marker of alterity in this scene. In effect, thus, the oracular trees of the German version, which the text says speak “Indian” or “Greek”, speak in Latin hexameters that are additionally translated by the narrator (not by a character) into German, introduced by such phrases as Das ist als vil gesprochen and Das bedewtet also (Wichwolt, Alexander, 157). It should be noted that the low German incunabula of Wichwolt’s text (for information on this print, see Ehlert 1994, 18) even sets the Latin

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text graphically apart, adding the term versus in the line above (Wichwolt, Alexander, Incunabula, fol. 51v). Another fifteenth-century German treatment of this episode, by the renowned doctor and author Johann Hartlieb, follows a slightly different version of the Latin Alexander Romance Liber Alexandri Magni. Hartlieb, who had excellent connections to the duke of Bavaria, created his Alexander around 1450 in Munich (Fürbeth 1992, 74). Unlike Wichwolt’s treatment, Hartlieb’s Alexander presents the tree prophecies in the same metrical form and in the same language, German, as the rest of the text. The scenes leading up to the event are much longer than in other German versions. What makes these new preliminary passages of the episode interesting for our topic is that questions of translation and translatability come to the fore again, albeit in a different form than in Wichwolt. In Hartlieb, Alexander gets to ask a local dignitary – an old, naked, furry, black, dog-toothed bishop (on this figure, see Stoneman 2008, 188-190) – about the exact modalities of a possible conversation with the trees: da fraggt ich den werden alten bischoff, ob ich mitt den heyligen pawmen soltt reden kchriechischen oder indisch (Hartlieb, Alexander, ll. 6380–6382). The Latin source text has the enigmatic answer common to certain traditions of this episode, namely that the tree of the moon would begin his answer in Greek and end it in Indian lingual. The German text says about the sun tree that it speaks all languages, but is more specific about the moon tree, and the attempt to rationalize the enigma is clearly visible: the moon tree, says the bishop, will recapitulate the question and ask clarifying counter-questions in Greek, but will provide its oracular answer in Indian (Hartlieb, Alexander, II. 6385–6387; cf. Liber Alexandri magni II, 1948–1959). When Alexander actually talks to the trees, the sun tree answers in Indian, which Alexander, according to the text, finds so hard to understand that he employs interpreters (Hartlieb, Alexander, II. 6426–6446); the moon tree, contrary to the hairy bishop’s prediction, answers in Greek and not in Indian (Hartlieb, Alexander, II. 6458). The contradiction to the bishop’s words remains unexplained. In Hartlieb, thus, lingual and cultural alterity is not, as in Wichwolt, expressed by formal-poetic means, but intra-diegetically, i. e., in the story-world itself: the passage displays and highlights the need to ask for advice. Intercultural challenges are heightened by the marked bodily differences of the advisor, the unreliability of his words, the need for interpreters, the insecurity not only about what the trees would say, but also in which language they would say it. In comparison with Seifrit’s digression, which is all about domination, Hartlieb’s Alexander reads much more like an explorer struggling to come to terms with what presents itself to him, struggling to create comprehension, understanding,

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and interpretation. In sum, Hartlieb’s text provides a more tentative version of an intercultural approach to understanding than the earlier texts. As we can see from the three texts in question, these intercultural options coexist. Given the fluidity of the medieval Alexander material, it is no wonder that they can even co-exist in one text. A concrete example of this are two manuscripts of Hartlieb’s Alexander now housed in the Bayerische Staatsbibliothek in Munich, which contain prose excerpts from Seifrit’s texts that are added to Hartlieb’s text: cgm 272, written in 1462 in the Tegernsee monastery in Bavaria (Schneider 1970, 210–211) and cgm 580, written in 1464 in Swabia (Schneider 1978, 174–176). In both manuscripts, the Seifrit digression which I discussed at the outset of this paper is inserted (in cgm 272, on fol. 167r), creating a copresence of these two notions, i.e., the notion of pan-Greek cosmopolitanism (minimizing the interlingual problem of intercultural hermeneutics) co-exists with the complex interactions in the episode of the oracular trees. Of course, both the compilatory aspect itself and the fact that the compilation creates interpretive friction through its competing notions, are nothing unusual for the medieval Alexander tradition; in fact, these frictions are the most prominent feature of its fluid, open textuality. The tentative approach to intercultural communication on the level of the histoire is in Hartlieb accompanied by a problematizing stance towards language and representation on the level of the discours. These problems are mirrored in the way Alexander sets out to describe the marvels of the East in his letter to Aristotle. As we have seen, Alexander as a character of Hartlieb’s text explores the marvels of the East, struggling to come to terms with what presents itself to him, struggling to create comprehension, understanding, and interpretation. It is this reflexive mode that also characterizes Hartlieb’s Alexander at the beginning of his letter to Aristotle, where he questions the ability of language to cope with the representation of the objects seen: The land (erdtreich) India is so thoroughly marvellous (wunderleich), that Alexander claims not to be able to describe it (daz ich daz nichtt beschreiben mag). The land India engenders so many marvellous objects, animals, and creatures (sach, thyer vnd gestaltt), that nobody can describe it fully (volsagen), for one animal is half of this, half of another shape, so that nobody can explain and understand of which breed (geschlachtt) it came (all quotations from Hartlieb, Alexander, ll. 5390– 5397). Even when taking into account that this follows the rhetorical topos of authorial modesty, both in comparison to the Latin source text and to other German treatments, Hartlieb’s Alexander seems much less reassured and reassuring. Thus, the letter to Aristotle travels back to the West, carrying not only written accounts on the marvels of the East but also some sort of a deconstruc-

Fluid Texts, Distant Worlds | 107

tive virus: doubts about the representational qualities of language. Again, this is engrained in the whole Alexander tradition, but Hartlieb’s Alexander might be the medieval German text going farthest in making these doubts explicit. By this, the text might betray its modernity after all – a new stance towards transcultural hermeneutics going beyond mere domination of the Other.

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| Teil II.2: Kulturwissenschaftliche Kategorien und literarische Konkretionen

Evamaria Freienhofer, Berlin

Zorn als ‚glokales‘ Ereignis Differenz und Zugehörigkeit in Aliscans und Willehalm

1 Einleitung Denkt man über Transkulturalität im Mittelalter nach, so kommen einem zunächst konkrete Begegnungen und Migrationen in den Sinn, wie sie in den zuletzt erschienenen Bänden des Schwerpunktprogrammes „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ verhandelt werden (vgl. Borgolte et al. 2012, Borgolte und Tischler 2012). Auch Fragen danach, wie sich das Eigene in Abgrenzung zum Anderen konstituiert und wie sich beide unter Umständen mischen, sind anhand sehr verschiedener Konstellationen bereits mehrfach untersucht worden (vgl. Borgolte et al. 2011, Borgolte und Schneidmüller 2010). Statt um Begegnungen zwischen Menschen oder Vorstellungen soll es im Folgenden um das Zusammentreffen zweier Erzählungen gehen – und damit der Aspekt der Sprache und der literarischen Gestaltung in den Vordergrund rücken. So vergleiche ich die altfranzösische Chanson Aliscans in der Form des Manuskripts M und den Willehalm Wolframs von Eschenbach, wobei ich beide Erzählungen als Teil der „changierenden Prozesse von Durchdringung, Austausch, Adaption, Kopie, Beeinflussung, Abstoßung, Symbiose wie Osmose“ begreife, die Borgolte und Schneidmüller (2010, 7) als „historische Grundmuster“ ansehen.1 Differenzen interessieren unter einer solchen Perspektive nicht primär als Unterschiede zwischen bereits als bestehend angenommenen Kulturen, sondern als sich je neu ergebende und sprachlich hergestellte Divergenzen. Mit der Gestaltung und Funktion von Zorn wähle ich einen Fokus, der bisherige Interessen transkultureller Forschungen in zentraler Weise berührt. So kommen bei der Untersuchung dieser Emotion die Konstruktion von Eigenem

|| 1 Auch Kugler (2010) behandelt die Bedeutung von romanisch-germanischen Literaturtransfers innerhalb von transkulturellen Verflechtungsprozessen. Er macht für die AlexanderGeschichte, die Kreuzzugslyrik und den Niuwen Parzival aber vor allem die Fernperspektive als wichtiges Element stark. Das heißt, die Außengrenzen Europas stellen für ihn den zentralen Bezugspunkt dar, wohingegen im Folgenden eher die Verschiedenheit innerhalb des mittelalterlichen Europas im Mittelpunkt steht.

DOI 10.1515/978311055643-008

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und Fremdem, von Differenzierungen im Inneren, am Rand und gegen Außen sowie die Strukturierung von Gemeinschaft im Allgemeinen in den Blick. Gleichzeitig erlaubt die Konzentration auf Zorn, wie sich zeigen wird, eine globale und lokale – eine ‚glokale‘ – Deutung, die vor allem methodisch eine Differenzierung darstellt.2 Anders formuliert: Ich untersuche, von Zorn ausgehend, wie Aliscans und Willehalm Differenzen und Zugehörigkeiten herstellen (und wie sie sich dabei jeweils auch voneinander unterscheiden).3 Emotionen bieten sich besonders dafür an, Aspekte von Transkulturalität zu reflektieren. Als Zustände, deren Empfinden in jedem Menschen angelegt ist, sind sie universell. Als Reaktionen, die auf bestimmte soziale Gegebenheiten und Konstellationen erfolgen, sind sie zugleich historisch und kulturell geprägt.4 Sie vereinen also die für eine transkulturelle Perspektive so zentralen Momente von Übereinstimmung und Differenz, mit deren Hilfe Verflechtungen allererst beschreibbar sind. Eine Differenz ist bereits zu erkennen, wenn man sich den Wort- und Bedeutungsfeldern von Zorn im Altfranzösischen und im Mittelhochdeutschen nähert: Während altfranzösisch ire sowohl „Trauer“ als auch „Zorn“ oder beides zusammen bezeichnen kann, ist das mittelhochdeutsche zorn auf die Bedeutung „Zorn“ beschränkt. Überdies decken zahlreiche Wörter je verschiedene Bedeutungsnuancen von Zorn ab. Im Altfranzösischen sind das im wesentlichen ire, curucus, fureur, maltalent, im Mittelhochdeutschen vor allem zorn, nît, haz, grimme, erbolgen, wuoten, toben.5 Neben aller Differenz zwischen beiden Sprachen ist dennoch eine auf Übereinstimmungen beruhende gemeinsame Grundlage anzunehmen. Dabei lege ich die aristotelische Definition von Zorn als Schmerz über eine zugefügte Herabsetzung und Wunsch, diese zu vergelten, zugrunde.6 Ich schlage also auch hier die bereits in || 2 Zum Begriff des Glokalen und seiner Bedeutung für die Betrachtung transkultureller Verflechtungen siehe auch das Progamm des Brackweder Arbeitskreises zur 23. Jahrestagung 2016 mit dem Titel Akteure und Orte. Glokale Perspektiven auf Gruppierungen im Mittelalter. 3 Kiening (1989) hat hier – allerdings ohne Bezug auf Zorn – einen zentralen Beitrag geleistet, indem er die Darstellung des Französischen und der Franzosen in Aliscans und im Willehalm untersucht und den Transformationsprozess als Eingliederung des Fremden bei gleichzeitiger Betonung der Differenz beschreibt. 4 Zu Zorn siehe Rosenwein (1998), Lehmann (2012), Baisch et al. (2014). 5 Zu zorn, nît und haz siehe Grubmüller (2003). Zu ire siehe Kleiber (1978). 6 Siehe Aristoteles, Rhetorik, II, 2, 1378 a: „Es soll also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung sein für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht.“ Zitiert nach der Übersetzung von Rapp (2002, 73). Dies deckt sich auch mit dem Ergebnis von Lehmann (2012, 16), der ein Vorherrschen der aristotelischen Definition für die Vormoderne konstatiert.

Zorn als ‚glokales‘ Ereignis | 113

meiner Dissertation (Freienhofer 2016) gewählte mehrdimensionale Herangehensweise vor: eine semasiologische Suche nach Zorn-Wörtern kombiniert mit einem onomasiologischen Ansatz, der von der aristotelischen Zorndefinition ausgeht, sowie – und das ist im Bisherigen noch nicht genannt – das Einbeziehen bestimmter Gesten und Symptome, also der Verkörperung von Zorn. Die zentrale Handlung, der Kampf zwischen Christen und Heiden, stimmt in Aliscans und Willehalm überein.7 Ein Vergleich beider Erzählungen hinsichtlich der Frage, welche Rolle Zorn in sozialen Ordnungsprozessen spielt, steht noch aus.8 Obwohl im engen Rahmen dieses Beitrages keine systematische und erschöpfende Gegenüberstellung möglich ist, sollen dennoch anhand einiger Beispiele Tendenzen für die unterschiedliche Gestaltung und Funktionalisierung von Zorn herausgestellt werden. Neben Kampfzorn und Zorn, der sich mit Trauer um Vivien vermischt, bildet Zorn als Reaktion auf Herabsetzungen und Geringschätzung den größten Komplex in Aliscans. Hier sind zwei Figuren zentral: Guillelme, der sich am Hof von Laon mithilfe seines Zornes Achtung und Hilfe für die Befreiung Guiborcs verschafft, und Renoart, der mit seinem Zorn auf den Spott und die Erniedrigungen antwortet, die ihm Knappen und Küchenangestellte am Hof des Königs Loois zuteil werden lassen. In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die Unterschiede von Guillelmes und Willehalms Zorn und werfe am Ende ein kurzes Schlaglicht auf Renoart bzw. Rennewart.

2 Textanalyse 2.1 Verkörperungen von Zorn in Aliscans Die beiden wesentlichen Merkmale von Zorn in Aliscans lassen sich bereits an einem der stehenden Beinamen Guillelmes erkennen. So wird er oft als marchis

|| 7 Für eine erste Gegenüberstellung von Aliscans und Willehalm sowie einen thematisch sortierten Überblick über Sekundärliteratur siehe Bumke (2004, 276–406). Siehe auch Greenfield und Miklautsch (1998). 8 Für den Willehalm ist insbesondere die Ankunft des Titelhelden am Hof von Munleun als paradigmatische Stelle dafür ausgemacht worden, dass Zorn eng mit Macht verbunden ist (Koch 2006, 130). Haug (1971, 229) sieht in den Umformungen vor allem die Verabschiedung eines überkommenen Heldenideals: „Wolframs Kritik an Willehalms zorn trifft diese ganze Welt mit, sie trifft sie in der Vorlage, die gezielt umgeformt wird, und sie trifft sie im literarischen Typus, der im Bewußtsein des Publikums präsent ist.“

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au vis fier/fer (Aliscans, 1022, 1054, 1753, 1782, 2514, 2542, 2686, 3209, 3244, 4081, 7218, 7694) bezeichnet, was Knapp vereinfachend als „Markgraf mit dem wilden Antlitz“ übersetzt.9 Da fier aber sowohl die Bedeutungsdimension „wild“ als auch „stolz“ vereint, geht die so benannte Zornbereitschaft mit dem Anspruch auf Wertschätzung einher. In der Wortwahl fier ist Zorn also mit dem Streben nach Macht verbunden, was eine starke Gegenreaktion bei drohender Degradierung erwartbar macht. Zugleich – und das ist das zweite Charakteristikum – wird der körperlichen Dimension von Zorn eine große Bedeutung beigemessen: Er wird im wild aussehenden Gesicht für alle wahrnehmbar ausgestellt. Die extrovertierte Verkörperung von Zorn ist nicht zuletzt für die Szenen charakteristisch, in denen Guillelme mit Kampfzorn reagiert, das heißt, in denen er zornig gegen Feinde oder Beleidiger losschlägt. Hier besteht die Verkörperung vor allem im Ausagieren von Gewalt.10 Es finden sich aber – besonders in der Auseinandersetzung mit dem König Loois am Hof von Laon – noch weitere physische Ausdrucksformen von Zorn in Gesten und Symptomen, die nicht unmittelbar mit Gewalt verbunden sind. Die Reihe von Verkörperungen beginnt mit einer Drohgeste, die Guillelme außerhalb des Hofes unter einem Olivenbaum vollzieht: Li cons s’asist, n’i ot a lui qe irer, / Sor ses jenoç a mis son brant d’acier („Der Graf setzte sich, nur Zorn im Innern. Auf seine Knie legte er sein stählernes Schwert“, Aliscans, 2681–2683). Hier wird Zorn nur genannt und im Innern der Figur verankert, zugleich macht das Zur-Schau-Stellen des Schwertes Guillelmes Machtanspruch kontrolliert, aber sinnfällig sichtbar. Da dies unbemerkt bleibt, kommt es zu einer Steigerung des körperlichen Ausdrucks von Zorn. Guillelme provoziert König Loois in aller Öffentlichkeit, indem er ihn mit Morddrohungen konfrontiert (Aliscans, 2702–2711). Dabei zeigen sich nun auch (unwillkürliche) physische Symptome der Emotion: Lor comença les elç a ruïller, / Les denz a croist[r]e e la teste a lochier, / Au mal telent q’il ot prist soi a baisler („Da begann er die Augen zu rollen, mit den Zähnen zu knirschen und den Kopf zu schütteln. Im Zorn,11 den er hatte, versuchte er sich zu beruhigen“, Aliscans, 2712–2714). Das Moment der Kontrolle, das in der Gemessenheit der Schwertgeste noch sehr deutlich zum Ausdruck kommt, scheint hier || 9 Es wird hier wie im Folgenden nach der Ausgabe von Holtus (1985) und der deutschen Übersetzung von Knapp (2013) zitiert. 10 Beispiele dafür sind: Aliscans, 47–50; 547–548; 1122; 2378–2381. Zum Konzept des Kampfzorns siehe Ridder (2003). 11 Hier – wie im Folgenden noch dreimal – weiche ich von der Übersetzung von Knapp (2013) ab. Denn „Unmut“ ist zwar die lexikalische Bedeutung für maltalent, trifft aber die Heftigkeit der geschilderten Emotion nicht. In Aliscans wird konsequent das im Vergleich zu ire von Trauer freie Wort maltalent verwendet, um (starken) Zorn zu schildern.

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nur mehr in dem Versuch, sich zu beruhigen, auf. Ansonsten werden Guillelmes Gesicht und Kopf zur Bühne einer unkontrollierten Besessenheit, die an Senecas (1992, 97–98) Schilderungen von Zorn als Wahnsinn erinnert. Diese Darstellung macht anschaulich, wie sehr die Missachtung des Hofes Guillelme in den Grundfesten erschüttert: Da ihn die anderen nicht beachten, gehen Selbstbeherrschung und Selbstbewusstsein verloren und er gerät in einen Zustand heftiger Rage. Dies setzt sich auch in der folgenden Verkörperung fort und wird hier sogar explizit gemacht: Voit lo li cons, le sen cuida (g)rager, / De mal talant cominça a trasüer („Der Graf sah es und glaubte, den Verstand zu verlieren. Vor Zorn12 begann er zu schwitzen“, Aliscans, 2721–2722).13 Ein Umschwung in der Verkörperung von Zorn – sowohl was die Symptome und Gesten als auch was die Wirkung angeht – erfolgt erst, nachdem Guillelme sich zum Handeln entschlossen hat: Trop ai soffert, mult sui vil et honis; / S’or no me vange, je enraierai vis („Zu viel habe ich erduldet, ich bin ganz erniedrigt und geschmäht. Wenn ich mich nicht räche, werde ich leibhaftig verrückt“, Aliscans, 2846–2847). Daraufhin springt er auf und spricht in der Mitte des Saales so laut, dass jeder ihn hören kann, eine weitere Drohung gegen den König und dessen Frau, seine Schwester, aus.14 Erst dieser Ausbruch zeitigt Wirkung: Ot lo [li] roys, li sans li est fremis, E la raÿne volsist estre a Paris O a Hestampes o a borg saint Donis. N’i ot François, n’i soit tuit esmaris (Aliscans, 2864–2867). Der König hörte es, und sein Blut geriet in Wallung, und die Königin wäre lieber in Paris gewesen oder in Etampes oder in der Stadt Saint-Denis. Keinen Franzosen gab es, der nicht völlig in Panik geraten wäre.

Doch führt auch diese Einschüchterung und weitere, die sich anschließen, nicht dazu, dass der König seine Hilfe zur Befreiung Guiborcs zusagt (Aliscans, 2903– 2919).15 Es folgt ein erneuter verbaler Angriff auf den König und seine Frau, der durch Zornesgesten und -symptome eingeleitet wird: Li cons les garde por mult

|| 12 Knapp (2013) übersetzt „Unmut“. 13 Eine Wirkung auf andere wird auch hier nicht – ebenso wenig wie bei den weiteren kurzen Benennungen von Guillelmes Zorn (Aliscans, 2792, 2804) – erwähnt. 14 Diese wiederholt eine Morddrohung, die Guillelme bereits zuvor bei seinem Gastgeber geäußert hat (Aliscans, 2778–2781). 15 Im Gegensatz zur Schwester und zum König versichert Guillelmes Mutter Ermengart, ihrem Sohn im Kampf zu helfen, sobald sie von dessen Not hört. Sie will selbst kämpfen und bietet Geld für den Ankauf von Söldnern an (Aliscans, 2920–2939).

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grant iree, / De maultalant a la chiere lumenee / Les gregnons leve, s’a la teste acolee („Der Graf blickte sie mit übergroßer Wut an, von Zorn16 flammte sein Antlitz, die Barthaare stellte er auf, den Kopf umfasste17 er“, Aliscans, 2962– 2964). Anders als zuvor kommt hier nicht primär Wahnsinn oder Außer-sichSein in den Gesten zum Ausdruck, sondern die Metaphorik des Entflammens verweist auf die Hitze und Gefährlichkeit des Zorns und die gesträubten Barthaare signalisieren den mit der Emotion einhergehenden Machtanspruch.18 Die anschließende Drohung wirkt zunächst bei Loois, aber nicht bei Guillelmes Schwester, die er erst noch an den Zöpfen zieht und der er die Krone vom Kopf reißt, bevor sie schließlich die Flucht vor ihm ergreift (Aliscans, 3008–3017).19 Als auch der König sich erneut einem Hilfeversprechen zu entziehen versucht, zeigen sich die körperlichen Symptome von Guillelmes Zorn in gesteigerter Form: Guillelmes l’ot si taint cum un carbon, / De mal talant a forçe lo gregnon („Guillelme hörte es und wurde rot wie (glühende) Kohle. Vor Zorn20 stellte er den Schnurrbart auf“, Aliscans, 3262–3263). Letztlich bedarf es weiteren Zornes Guillelmes (Aliscans, 3306 und 3311) sowie einer Rede, die Loois nochmals an seine Verpflichtung erinnert (Aliscans, 3312–3331), um diesen zum Einlenken zu bewegen. Guillelme muss also mehrmals mithilfe von Zorn seine Angriffsbereitschaft signalisieren und auch zu tatsächlicher Gewalt greifen, um seine Interessen durchzusetzen. Auffallend und für die Macht-Thematik zentral ist, dass der Erzähler die Auseinandersetzung stets auf den Gegensatz von arm und reich hin perspektiviert. Auch Guillelme bemerkt bereits kurz nach seiner Ankunft in Laon zu Samson, einem Abgesandten des Königs: Dites li roy, ja mal en dotereç, Qe je ving ci paubres et esgareç.

|| 16 Knapp (2013) übersetzt „Unmut“. 17 Knapp (2013, 142) zweifelt hier die Handschrift an und übersetzt s’a la teste crollee („den Kopf schüttelte er“) nach der Formulierung für eine Zorngeste, die in anderen Texten häufig vorkommt. Ich plädiere dafür, den Wortlaut der Handschrift ernst zu nehmen. Es bleibt zu prüfen, ob das Umfassen des Kopfes als Zorngeste noch an weiteren Stellen zu finden ist und welche Bedeutung ihm genau zukommt. 18 Zum Bart als Zeichen der Macht und seiner Bedeutung für Zorn siehe Freienhofer (2016, 68– 77, 87, 99, 118–122, 197). 19 Erst ihre Tochter Aelis vermag sie davon zu überzeugen, dass es ein Fehler war, Guillelme die Hilfe zu verweigern (Aliscans, 3040–3054). Und erst Aelis besänftigt auch Guillelme nach einem erneuten Zornausbruch, der mit Erröten und dem Zücken des Schwertes einhergeht (Aliscans, 3102–3149). 20 Knapp (2013) übersetzt „Unmut“.

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Or verai je s’unqes fui mis privez, Contre moy isent e ses riches berneç, Lor(e) (je) saura je coment je sui ameç. A la bisogne est amis esproveç; S’aconc li faut, puis n’i a seürteç (Aliscans, 2604–2610). Sagt dem König – es wäre ein Übel, wolltet Ihr es ihm verheimlichen –, daß ich arm und hilflos hierhergekommen bin. Nun werde ich erfahren, wie ich geliebt werde. In der Not wird der Freund erprobt. Wenn er einem dann fehlt, dann gibt es keine Verlässlichkeit.

Der folgende Verlauf der Handlung erweist, dass er in diesem Sinne keine Freunde am Hof hat. Diejenigen, die er zuvor reich beschenkte, wenden sich jetzt von ihm ab, was der Erzähler auch im Folgenden auf die Armut Guillelmes zurückführt: Isi vait d’ome qi qeit in povertez, / Ja n’ert serviz, chiers tenuç ni ameç („So ergeht es dem Manne, der in Armut fällt. Man verweigert ihm Dienste, Wertschätzung und Liebe“, Aliscans, 2639–2640). Die Situation der Ablehnung sowie deren Deutung durch den Erzähler als Gefälle zwischen arm und reich kehren mehrfach wieder (Aliscans, 2664–2668, 267–2673 und 2799–2802), so auch kurz bevor Guillelme zum ersten Mal in Zorn gerät und die Schwertgeste vollführt: Si je portasse e argent e or mer, Cil [m’]honorassent e [me] tenissent chier; Por cel q’il voient qe d’aÿ ai mestier, Me noment vil cum autre pautonier (Aliscans, 2676–2679). Brächte ich Silber und reines Gold, würden diese mich ehren und wertschätzen. Da sie aber sehen, daß ich Hilfe benötige, verachten sie mich wie einen anderen Hergelaufenen.

Der Gegensatz zwischen arm und reich tritt zwar in der direkten Konfrontation mit dem Königspaar zurück, wird aber auf der Ebene der Darstellung fortgeführt. So wird Guillelme freilich als körperlich stark beschrieben, sein ärmliches Aussehen (Aliscans, 2948–2958) aber steht in Kontrast zu der goldgekrönten Königin (Aliscans, 2950). Zugleich erscheint der goldene Knauf von Guillelmes Schwert (Aliscans, 2529) aber auch als ebenbürtiges Äquivalent der goldenen Krone: Die Macht und Anerkennung, die der König und die Königin mit Reichtum aufrecht erhalten, verschafft sich Guillelme mit seinem Schwert. Ein weiteres Charakteristikum von Guillelmes Zorn ist, dass der Erzähler ihn als rechtmäßig und angemessen bezeichnet. Schon im Streit mit dem Kastellan von Orléans – als Guillelme noch gar nicht in Laon angekommen ist – kommentiert der Erzähler: Li çastelains fu ples de vilanie, / Cum plus li cons vers lui s’umilie, / Tant li dit il plus orgoil e folie („Der Kastellan war voll unedler Gesin-

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nung. Je mehr sich der Graf vor ihm demütigte, desto mehr strotzte seine Rede von Hochmut und Dummheit“, Aliscans, 2341–2343). Die mangelnde Achtung gegenüber Guillelme wird hier als Hochmut, also als unrechtmäßige Überschätzung der eigenen Position, disqualifiziert. Angesichts dessen erscheinen Guillelmes zorniges Zuschlagen und die Tötung des Kastellans als legitime Reaktionen, die dazu dienen, die vom Erzähler für richtig befundene Hierarchie wiederherzustellen. Diese Legitimierungsstrategie kennzeichnet auch die Schilderung von Guillelmes Zorn und Gewaltausbruch in Laon. So deutet der Erzähler im Nachhinein das unkooperative Verhalten des Königs als Hochmut und sieht im Verhalten Guillelmes die einzig richtige Reaktion: Li roys comande, la table soit dricie, Celle qe es a fin or entaylie. Ce a Guillelmes conqis por sa stoldie; Ensi vai(n)t d’ome qi orguil[o]s castie, Ja n’en jora si mot bien n’en manie (Aliscans, 3191–3195). Der König befahl die Tafel aufzustellen, diejenige, welche mit feinem Gold eingelegt war. Dies hat Guillelme mit seiner Gewalttat erreicht. So ergeht es einem Manne, der den Hochmütigen züchtigt. Er wird mit ihm nicht fertig werden, wenn er ihn nicht ordentlich misshandelt.

Indem der König Guillelme endlich die zuvor verweigerte Ehrerbietung – sinnbildlich im goldenen Tischtuch – erweist, sind die in den Augen des Erzählers richtigen Machtverhältnisse wiederhergestellt. Die Verweigerung von Anerkennung und Hilfe wird hingegen als Hochmut markiert und damit werden Zorn und Gewalt als angemessene Reaktionen gerechtfertigt. Insgesamt suggeriert diese Episode, dass Macht entweder durch Reichtum oder durch Zorn gewonnen und erhalten werden kann. Ein Konzept von Freundschaft, das diesem Grundsatz widerspräche, hält der Text nicht bereit. Nur ein Teil der Familie unterstützt Guillelme auch im Zustand der Armut und Hilflosigkeit. Hier sind vor allem seine Mutter und seine Nichte Aélis zu nennen, wohingegen seine Schwester und sein Schwager mithilfe von Zorn und Gewalt erst zum Beistand gezwungen werden müssen.21

|| 21 Auch Renoarts Zorn kann als abwehrende Reaktion auf Herabsetzungen gelesen werden, die sich aber erst im Laufe der Erzählung stärkt. Während zu Beginn noch Guillelme an seiner Stelle über Beleidigungen wütend wird: Donc lo comence tote l’ost a gaber. / Li cons Guillelmes s’en prist mult a irer, / Saint Julïen comence a jurer, / Se Renoars no va deu fust fraper / Ne mangiera de pain a son soper („Da begann das ganze Heer sich lustig zu machen. Den Grafen Guillelme packte der große Zorn; beim heiligen Julian begann er zu schwören, er werde, wenn

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2.2 Verschiebungen: Zorn im Willehalm als Reaktion auf enttäuschte Erwartungen Wolfram übernimmt den stehenden Beinamen Guillelmes au vis fier für Willehalm nicht, was als paradigmatisch für die veränderte Zorndarstellung angesehen werden kann. So ist insbesondere die Verkörperung von Zorn im Willehalm im Vergleich zu Aliscans stark zurückgenommen. Dies zeigt sich schon an den wenigen Stellen, in denen Willehalm überhaupt Kampfzorn – oder besser Zorn im Kampf – zugeschrieben wird. Statt, wie für Kampfzorn eigentlich typisch, unmittelbar mit einer Gewalttat verbunden, äußert sich der Zorn hier vor allem sprachlich: in sime zorne er do sprach („Voll Zorn sprach er“, Willehalm, II, 58, 14) und der marcgrave mit zorne sprach („Zornig sprach darauf der Markgraf“, Willehalm, II, 80, 16).22 Bei der ersten Szene folgt ein langer Monolog und keine körperliche Gewalt; im zweiten Beispiel schließt sich eine ebenfalls ausgiebige Rede sowie die nur indirekte Schilderung einer Gewalttat an: Arofel wart alda erslagen („Arofel wurde dort erschlagen“, Willehalm, II, 81, 12). Indem der Erzähler hier das Passiv verwendet, lässt er Willehalm als denjenigen, der Arofel erschlägt, gleichsam aus dem Bild rutschen. Der Markgraf erscheint so nicht als derjenige, der tötet, und sein Zorn nicht als unmittelbarer Antrieb dazu. Diese Tendenz – die Schilderung von Zorn und Gewalt zurückzunehmen oder von der Figur Willehalms zu lösen – bestimmt auch den weiteren Verlauf der Erzählung. So bleibt bei der Episode mit den Bürgern von Orléans, die in Aliscans von Zorn und Gewalt bestimmt ist, die Emotion gänzlich unerwähnt und die Tötung des Richters steht wiederum im Passiv: des houbtes er do kürzer wart („Er wurde um einen Kopf kürzer gemacht“, Willehalm, III, 113, 29). Auch ein Angriff der Bürger wird nur im Konjunktiv als nicht verwirklichtes Vorhaben erwähnt: het er sünde niht ervorht, / da wære von im der schade geworht, / des den werlichen ie gezam („Hätte er nicht gefürchtet, Unrecht zu tun, er hätte sie geschlagen wie in einem richtigen Kampf“, Willehalm, III, 114, 27–29).23

|| Renoart sie nicht mit dem Holzstück erschlägt, keine Brot bei seinem Abendessen verzehren“, Aliscans, 3862–3866), äußert sich am Ende das neue Statusbewusstsein Renoarts darin, dass er sogar Guillelme zürnt, als dieser ihn vergisst (Aliscans, 7100–7239). 22 Hier wie im Folgenden zitiert nach der Ausgabe und Übersetzung von Kartschoke (2003). 23 Desgleichen wird bei der Begegnung mit seinem Bruder Ernalt die Tötung im Konjunktiv geschildert: dem marcgraven was so zorn,/ daz er in gern het erslagen („Den Markgrafen erfüllte solcher Zorn, daß er ihn am liebsten erschlagen hätte“, Willehalm, III, 118, 14–15). Die Nennung von Zorn ist hier neu; in Aliscans bleibt die Emotion an dieser Stelle unerwähnt. Dies könnte als erstes Indiz dafür gelesen werden, dass im Willehalm Zorn eng mit (problematischer) Verwandtschaft verbunden ist.

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Diese Tendenz, Zorn und Gewalt für die Figur Willehalms im Vergleich zu Guillelme abzuschwächen, bestimmt auch die Szene in Munleun.24 Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Umfunktionalisierung der Schwertgeste: [S]ines komens heten haz der künec und swer da vürsten saz: ir neheiner was so wol geborn, sine widersæzen sinen zorn. der marcrave an den stunden, daz swert niht ab gebunden ructe er vür sich inz schoz, sines sitzens da bi in verdroz, ich wæne, ir ieslichen, den armen und den richen (Willehalm, III, 141, 1–10). Seine Ankunft verwünschten der König und die anwesenden Fürsten. Keiner von ihnen war von so hoher Abkunft, daß er seinen Zorn nicht hätte fürchten müssen. Nun rückte der Markgraf das Schwert, das er nicht abgelegt hatte, vor sich auf die Knie. Daß er vor ihnen zu sitzen wagte, ärgerte, glaube ich, sie alle ohne Ausnahme.

Ein zentraler Unterschied zu Aliscans besteht darin, dass Willehalm die Schwertgeste nicht unter dem Olivenbaum im Freien, sondern vor der versammelten Hofgesellschaft im Inneren des königlichen Herrschaftsbereichs vollzieht. Auffallend ist, dass die Geste nicht vom Zorn Willehalms begleitet wird; der Erzähler fokussiert vielmehr die Wirkung der Geste auf die Umstehenden (haz, verdroz). Der Gegensatz von arm und reich wird hier dazu genutzt, um ihre Stärke auszudrücken: den armen und den richen („sie alle ohne Ausnahme“, Willehalm, III, 141, 10). Die in Aliscans so wichtige Diskrepanz zwischen dem armen, hilflosen Guillelme und der reichen Hofgesellschaft, wird auf letztere übertragen und mar-

|| 24 Dies gilt schon für das Vorfeld. So äußert er gegenüber dem Kaufmann Wimar, der ihn aufnimmt, nur gemäßigt seinen Unwillen: ez muoz mir missevallen / ich han der mangen hie bekannt, / die vil gerne miner hant / etswenne durh mine gabe nigen / und mich nu grüezen hant verswigen („Es ärgert mich zurecht, denn ich kenne hier viele, die sich einst höchst bereitwillig bei mir für meine Geschenke bedankten und mir nun den Gruß schuldig geblieben sind“, Willehalm, III, 131, 16–20). Dies setzt die bisherige Darstellung von Willehalms Zorn fort, der eher verbal, ohne Taten, Gesten oder Symptome nach außen tritt. Sinnbildlich dafür ist Willehalms Zorn im Bett: Als er hier sein Missfallen darüber äußert, dass keiner ihn gegrüßt hat, und droht, alle unter Anklage zu stellen, sodass noch zukünftige Generationen davon berichten werden (Willehalm, III, 136, 22–30), heißt es lapidar: [I]n zorne er ane slafen lac, / unz uf in schein der liehte tac („Zornig und ohne Schlaf lag er da, bis ihm der helle Tag ins Gesicht schien“, Willehalm, III, 137, 1–2). Erst dann rüstet er sich und spricht eine Drohung gegen den König aus (Willehalm, III, 138, 6–8).

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kiert kein Machtgefälle zwischen dem Ankömmling und den ihn Empfangenden. Willehalms Zorn erscheint hier nicht als stark verkörperter Ausdruck seiner Herabsetzung, sondern ist als nicht verkörperte Potentialität gleichgesetzt mit seinem Machtanspruch. So schließt die lange, auf die Geste folgende, Reihe von Kommentaren der Franzosen ebenfalls mit der Feststellung, dass Willehalms Wunsch nachzukommen ist, weil sonst dessen Zorn droht: man muoz im eine hervart / noch hiute swern oder loben, / oder man siht in drumbe toben („Man wird ihm eine Heerfahrt noch heute versprechen oder schwören müssen, oder man wird ihn rasen sehen“, Willehalm, III, 142, 12–14). Im Vergleich zu Aliscans wird wenig von den Möglichkeiten körperlicher Ausdrucksformen von Zorn Gebrauch gemacht wird. So tritt Willehalm, der zornbære man („zornige25 Mann“, Willehalm, III, 145, 4), etwa vor, um den König daran zu erinnern, dass er es gewesen sei, der ihm die königliche Macht verschafft habe. Allein im Angriff auf die Schwester, der in Aliscans nicht ausdrücklich als Zornhandeln markiert ist, wird Willehalms Zorn in heftiger körperlicher Gewalt manifest: die krone er ir von dem houbte brach und warf se daz diu gar zebrast. do begreif der zornbære gast bi den zöpfen die künegin (Willehalm, III, 147, 16–19). Er riß ihr die Krone vom Haupt und warf sie zu Boden, daß sie zerbrach. Dann ergriff der zornige Gast26 die Königin bei den Zöpfen.27

Während in Aliscans an zwei Stellen, bei der Begegnung mit dem Bruder Ernalt und der Züchtigung der Schwester, von Zorn keine Rede ist, werden sie im Willehalm mit Zorn verbunden. Damit sind Beispiele genannt, die der allgemein zu beobachtenden Tendenz, Verkörperungen von Zorn zu vermeiden, zuwiderläuft; sie werfen aber ein Licht darauf, dass dem Zorn eine andere Funktion zu-

|| 25 Kartschoke (2003) übersetzt „zornbebend“ und überbetont damit meiner Meinung nach die körperliche Symptomatik. 26 Kartschoke (2003) übersetzt „der zornbebende Mann“, wobei das Moment der Fremdheit, des Gast-Seins, nicht zum Ausdruck kommt. 27 Der Züchtigung der Schwester folgt später eine Beschimpfung: den marcgraven zorn gebot daz er dennoch sine swester schalt, diu etswa unschulde engalt („Den Markgrafen aber trieb sein Zorn, daß er noch immer seine Schwester beschimpfte, die in diesem Fall wirklich unschuldig büßte“, Willehalm, III, 152, 28–29). Erst Alyze bringt Willehalms Zorn „zum Schweigen“: swaz er zornes kunde sprechen, der wart vil gar durh si verswigen („Der Zornesausbruch, der ihn hingerissen hatte, verstummte völlig um ihretwillen“, Willehalm, III, 154, 4–5).

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geschrieben wird. Er dient hier nicht dazu, das Machtgefälle von arm und reich zu markieren und zu überwinden, sondern dazu, verwandtschaftliche Solidarität einzufordern.28 Diese These lässt sich dadurch untermauern, dass Willehalm sich – anders als Guillelme – mehrfach und ausgiebig in Gedanken ausmalt, dass er den Beistand seiner Verwandten erhält, noch bevor er überhaupt am französischen Hof ankommt. So äußert er gegenüber Gyburc seine Zuversicht, dass ihm seine Verwandten, insbesondere sein Vater und sein Schwager, beistehen werden (Willehalm, II, 95, 25–29). Schon kurz bevor der Streit ausbricht, imaginiert er wiederum die Solidarität seines Vaters und seiner Brüder (Willehalm, III, 139, 9–15) und im Konflikt selbst denkt er nochmals daran, dass seine Mutter, sein Vater und seine Brüder ihm beistehen werden (Willehalm, III, 144, 23–30). Sehr ausführlich – und im krassen Gegensatz zum tatsächlichen Empfang bei Hofe stehend – erwartet er auch von seiner Schwester Mitleid und Hilfe: kumt mine vrouwe diu küneginne dar, des möht ich helfe enphahen. ir ensol daz niht versmahen, sine mane den künec umbe mich: den site hiez ich swesterlich (Willehalm, III, 122, 14–18). Wenn meine Herrin, die Königin, dorthin kommt, dann könnte ich wohl Hilfe erlangen. Sie wird nicht zögern, den König für mich zu bitten; das wäre auch nur schwesterlich gehandelt.

Willehalm stellt sich hier den König als zu überzeugenden Part vor, wohingegen er für die Königin annimmt, dass sie bereits auf seiner Seite steht. Es wird also eine Erwartung aufgebaut, die sich bei der Ankunft am Hof nicht nur nicht bestätigt, sondern sich in ihr Gegenteil wendet. Denn bei der Zurückweisung von Willehalms Hilfsersuchen ist seine Schwester die treibende Kraft, die ihn regelrecht aussperren lässt:

ungerne wesse ich in hinne. iuwer deheiner kom hin vür: besliezet vaste zuo die tür;

|| 28 Dass der Gegensatz von arm und reich im Willehalm nicht das zentrale Moment der Auseinandersetzung zwischen Willehalm und dem Hof von Munleun ist, zeigt sich bereits daran, dass der Erzähler die Pracht der von Willehalm getragenen Rüstung Arofels ausführlich, und mit expliziter Abhebung von der altfranzösischen Erzählung, beschreibt (Willehalm, III, 125, 8– 30 und III, 128, 10 – 129, 3).

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Ob er uzen klopfe dran, daz man in wise iedoch hin dan (Willehalm, III, 129, 28 – 130, 2). Ich will ihn nicht hier drin sehen. Niemand von euch soll hinausgehen. Schließt die Tür fest zu! Wenn er draußen klopft, soll man ihn abweisen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich der Macht-Konflikt am Hof von Munleun – sowohl was die Verkörperung von Zorn als auch was seine Funktion angeht – im Willehalm auf völlig andere Weise darstellt. Körperliche Gesten und Symptome, die eng mit der Emotion verbunden sind, werden kaum gebraucht. Stattdessen rückt die potentielle, drohende Wirkung der Emotion in den Blick. Zudem ist sie hier nicht darauf ausgerichtet, das Gefälle zwischen machtvoll (reich) und machtlos (arm) auszustellen und zu überwinden, sondern dient dazu, mangelnde verwandtschaftliche Solidarität erfolgreich einzufordern. Ähnlich wie der Erzähler in Aliscans, der Guillelmes Zorn und Gewalt als angemessene Reaktion auf den ihm entgegengebrachten Hochmut legitimiert, kommentiert auch der Erzähler im Willehalm den Zorn seiner Hauptfigur und gibt dadurch Aufschluss über die veränderte Darstellung und Funktion der Emotion: [M]ich müet ouch noch sin kumber. dunk ich iemen deste tumber, die smæhe lid ich gerne. swenne ich nu rede gelerne, so sol ich in bereden baz, war umbe er siner zuht vergaz, do diu küneginne so brogete, daz er si drumbe zogete. des twanc in minne und ander not und mage und lieber manne tot (Willehalm, IV, 163, 1–10). Mich schmerzt noch heute sein Leid. Hält mich deshalb jemand für töricht, so trage ich solche Schmach gern. Wenn ich die richtigen Worte finde, werde ich ihn noch besser erklären, warum er unbeherrscht gewesen ist, als die Königin sich so überhob, daß er sie dafür an den Haaren zog. Minneleid und Kampfesnot zwangen ihn dazu und der Tod von Verwandten und treuen Vasallen.

Der Erzähler spricht hier für Willehalm und suggeriert, dass Zorn bei manchen Verstößen erklärbar ist. So verurteilt er das Verhalten der Schwester, die ihrem Bruder keinen Beistand in der Not zuteilwerden lässt und keinerlei Mitleid für ihn empfindet. Zugleich sieht er Zorn aber nicht – wie der Erzähler in Aliscans – als rechtmäßige Reaktion an. Vielmehr wird das Ausleben von Zorn als Verstoß gegen die höfische Erziehung (er siner zuht vergaz) bezeichnet. Dies erklärt auch

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die Zurücknahme von physischen Ausdrucksformen. Zorn hat hier zwar eine Funktion, er soll aber am Körper möglichst unsichtbar bleiben.29

3 Schluss: Zorn als ‚glokales‘ Ereignis Globale – im Sinne von Zeiten und Räume überspannende – Thesen zu Zorn gibt es genug. Das Mittelalter bildet dabei allzu häufig einen blinden Fleck oder eine schematische Kontrastfolie.30 Dabei ist gerade hier, in einer Zeit, die sich ähnlich wie die heutige durch transkulturelle Verflechtung und regionale Besonderheiten auszeichnet, ein differenzierter Blick auf Konzeptionen und Funktionen von Zorn möglich. Ein komparatistisches Vorgehen (gefasst als genauer Sprach- und Textvergleich) vermag Verflechtungen über Sprach- und Kulturgrenzen hinaus nachzuweisen. Dass die Geschichte von Guillelme im deutschsprachigen Teil des Reiches aufgenommen und adaptiert wird, macht Verflechtungen an Binnengrenzen des mittelalterlichen Europas deutlich. Zugleich lässt die unterschiedliche Darstellung und Funktionalisierung von Zorn in beiden Texten eine Heterogenität erkennen, die wahrscheinlich auf ‚lokale‘ Bedingungen zurückzuführen ist. Hiermit können Entstehungskontexte gemeint sein, in denen bestimmte Differenzierungen und Zugehörigkeiten wichtiger oder problematischer sind als andere und die deshalb in Erzählungen besonders verhandelt werden: Während Aliscans in diesem Sinne Besitz als wichtige Voraussetzung von Macht hinterfragt, lotet der Willehalm vor allem die Problematik von mangelnder verwandtschaftlicher Solidarität aus. Zugleich können die beiden Erzählungen zwei unterschiedlichen „emotional communities“ (Rosenwein 2006) zugerechnet werden, die jeweils eine andere Sicht und Funktion von Zorn vertreten: Während Aliscans auf Symptome und Gesten rekurriert, die der Emotion einen drastischen Ausdruck am Körper des Zornigen selbst verleihen, wird

|| 29 Wiederum passt die Gestaltung von Rennewarts Zorn zu dem hier formulierten Befund. Auch bei ihm wird die Emotion eher nicht als angemessene Reaktion auf Herabsetzungen gezeigt, sondern als Ausbruch nach langer Beherrschung (Willehalm, IV, 190, 11) oder nach zu hohem Alkoholkonsum gestaltet (Willehalm, VI, 276, 11–14). An zwei Stellen wird Rennewarts haz gegen seine eigene Sippe eingeführt, weil sie ihn nicht befreit (Willehalm, VI, 285, 1 und VI, 292, 21–22). Der für Willehalm so zentrale Zusammenhang von Zorn und verwandtschaftlicher Solidarität ist dabei ebenfalls zu erkennen. 30 Ein Paradebeispiel dafür ist Sloterdijks Buch Zorn und Zeit: ein politisch-psychologischer Versuch (2006), in dem der Autor den Sprung von der Antike zur Moderne als Verlust spontaner Zornfähigkeit beschreibt. Anders Rosenwein (1998).

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im Willehalm auf solche Verkörperungen weitgehend verzichtet und Zorn als Verstoß gegen die höfische Kultur (zuht) gesehen. Diese Untersuchung hat aber auch noch eine ‚lokale‘ Besonderheit zutage gefördert, die sich auf die sprachliche Konzeptualisierung von Zorn selbst bezieht: In Aliscans wird (ganz anders als etwa in der Chanson de Roland) konsequent maltalent für starken Zorn verwendet und so die Emotion von Trauer oder Diskursen, die mit ire verbunden sind, freigehalten. Diese Strategie arbeitet einer der zentralen Tendenzen des Textes zu, Zorn nicht zu verurteilen, sondern die Verkörperung der Emotion als selbstverständliches und erfolgreiches Mittel zur Durchsetzung von Macht zu zeigen. Diese Unterschiede auf verschiedenen Ebenen machen deutlich, dass es sich lohnt, Zorn bei aller Einbindung in ‚globale‘ Perspektiven immer auch als ‚lokales‘ Phänomen zu sehen.

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Ingrid Kasten, Berlin

Raum, Leib, Bewegung: Aspekte der Raumgestaltung in Gottfrieds Tristan 1 Einleitung Der Tristan Gottfrieds von Straßburg stammt aus der Zeit um 1200 und ist Teil einer vielfältigen transkulturellen und diachronen Auseinandersetzung mit einem Stoff, dessen Ursprünge vermutlich in mündlich verbreiteten keltischen Erzählungen liegen. Diese wurden später aufgezeichnet und bildeten die Grundlage für altfranzösische Erzählungen, die ihrerseits als Vorlagen weiterer Bearbeitungen in den europäischen Literaturen des Mittelalters dienten. Darüber hinaus bewahrte der Stoff seine Faszinationskraft bis in die Moderne; man denke nur an Richard Wagner und Thomas Mann. Vermutlich rührt diese Faszination vor allem von der Ehebruchsthematik her, denn im Zentrum steht die illegitime Liebesbeziehung, die Tristan zu der irischen Königstochter Isolde unterhält, der Ehefrau König Markes, seines Onkels. Vergleichende Analysen zu Adaptionen des Tristanstoffs gibt es viele und gewiss lassen sich mit einer komparatistischen Methode noch weitere Erkenntnisse zutage fördern. Ich wähle für meine Überlegungen jedoch einen anderen Ansatz, indem ich nach Aspekten der Raumgestaltung ‚nur‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg frage. Zeit und Raum sind allgemeine Kategorien des menschlichen Bewusstseins, aber so universal die Erfahrung von Raum und Zeit auch ist, so ist sie doch von je historischen, gesellschaftlichen und individuellen Umständen abhängig und kulturell entsprechend unterschiedlich codiert. Wie sich die Wahrnehmung von Raum und Zeit im Laufe der europäischen Geschichte verändert hat, lässt sich grob gesehen anhand weniger Faktoren veranschaulichen. Religiöse Muster der Weltdeutung sind zurückgetreten, so dass etwa die in der christlichen Tradition entwickelte Unterscheidung von Himmel, Hölle und Erde heute im allgemeinen Bewusstsein nicht mehr dominant ist. Einen Ansatzpunkt für einen historischen Zugriff liefert die Differenzierung zwischen zwei Zeitkonzepten, zwischen dem Konzept der zyklischen Zeit und dem Konzept der linearen Zeit. Für das europäische Mittelalter wird vielfach angenommen, dass seinerzeit die zyklische Zeit das Bewusstsein maßgeblich geprägt hat, das heißt, die Vorstellung von der Zeit als zyklische Wiederkehr von Naturräumen, dem Wechsel der Jahreszeiten. Dagegen war, so eine ebenfalls verbreitete Auffassung, das heute vorherrschende Konzept

DOI 10.1515/9783110556438-009

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der linearen Zeit mit der Trennung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kaum oder doch noch nicht so stark ausgebildet. Der sowjetische Mediävist Aaron J. Gurevich, der die Alterität der Raum- und Zeiterfahrung im Mittelalter nachdrücklich betont, hat deshalb die These vertreten, dass die Irrreversibilität der Zeit weit weniger das Bewusstsein bestimmt habe als heute (Gurevich 1985, 33). Gleichzeitig hebt er die ‚Konventionalität‘ der Raumgestaltung in literarischen Texten hervor und führt sie auf die Prägung der Autoren durch die religiös-symbolische Interpretation der damaligen Welt zurück. Außerdem geht er davon aus, dass es zwar keine einheitlichen Kategorien von Raum und Zeit gegeben habe, aber dass sie konkret und gegenständlich gedacht worden und noch keine Abstraktionen gewesen seien wie in jüngeren Zeiten. Die Menschen hätten sich im Mittelalter noch nicht so scharf von der Natur abgegrenzt und die Vorstellung eines der Natur entfremdeten Körpers noch nicht entwickelt. Damit knüpfte er an Überlegungen an, die der ebenfalls in der Sowjetunion wirkende Michail M. Bachtin in Studien über den Körper und über die Relationierung von Zeit und Raum in der erzählenden Dichtung von der Antike bis in die Gegenwart angestellt hatte. Um die verschiedenen Zeit-Raum-Relationen zu markieren, hatte Bachtin den Begriff des Chronotopos eingeführt und versucht, die Entwicklung vom Epos zum Roman anhand verschiedener Chronotopoi nach dem Grad ihrer ‚Welthaltigkeit‘, nach dem Grad der Konkretisierung von Zeit und Raum zu beschreiben.1 Für meine Überlegungen bietet der französische Mediävist Paul Zumthor (1963) bessere Anschlussmöglichkeiten. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Leiblichkeit der Raumerfahrung im Mittelalter besonders stark ausgeprägt war und betont, dass der Leib die Quelle von zahllosen Raummetaphern ist, die unser Denken bis heute bestimmen, etwa Richtungen wie links und rechts, oben und unten, vorne und hinten, oder Entfernungen wie fern und nahe. Raum ist, so lässt sich folgern, vom menschlichen Leib her gedacht und damit immer schon mehrfach codiert, denn der Leib ist selbst Raum, der sich im Raum bewegt, und er ist Zentrum der Wahrnehmung von Raum, der er in seiner Zeitlichkeit irreversibel unterworfen ist; die Leiblichkeit der Wahrnehmung macht verständlich, warum wir von einem Raumgefühl und einem Zeitgefühl sprechen können. Nicht zufällig spielt die Leiblichkeit bzw. der Körper in neueren theoretischen Überlegungen zur Kategorie des Raums eine zentrale Rolle (vgl. etwa Böhme 2015, Warning 2015).

|| 1 Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung des Begriffs Chronotopos vgl. Frank 2015.

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Der Begriff Raum ist, ob konkret physikalisch, geographisch, architektonisch oder auch metaphorisch gedacht, seit dem sogenannten spatial turn in den Literaturwissenschaften allgegenwärtig: Die Rede ist von kosmischen Räumen, von öffentlichen und privaten Räumen, von Innen- und Außenräumen, von sozialen Räumen und Naturräumen, von Kommunikationsräumen, von Zwischenräumen, Spielräumen, Klangräumen, Zeiträumen, um nur einige Beispiele zu nennen. Zugleich wird die Kategorie Raum auch mit anderen Begriffen wie etwa dem der Heterotopie, der Grenze oder dem des Geschlechts in Relation gesetzt.2 Die mediävistische Forschung hat längst gezeigt, dass Darstellungen von Räumen in der Literatur des Mittelalters keineswegs bloßen Konventionen folgen und auch nicht umstandslos mit religiösen Denkmustern verrechnet werden können.3 Auch die Relation von Raum und Bewegung in der Literatur des Mittelalters ist wiederholt Gegenstand von Untersuchungen gewesen,4 nur gelegentlich ist allerdings explizit nach der Gestaltung der leiblichen Wahrnehmung gefragt worden.5 Dies gilt auch für den Tristan. In einer umfassenden Untersuchung hat sich Ingrid Hahn (1963), von der Toposforschung ausgehend, um eine systematische Erschließung der Gestaltung von Raum und Landschaft in Gottfrieds Roman bemüht, wobei auch die Aspekte Bewegung und sinnliche Wahrnehmung gestreift werden. Neuere Untersuchungen haben den Blick dagegen auf „Zwischenräume“ (Müller 2007) gelenkt, die zwischen ‚öffentlichen‘ und ‚privaten‘ Räumen aufscheinen, in anderen Überlegungen geht es um den Begriff des ‚virtuellen Raums‘, mit dem das mittelalterliche Herrschaftszentrum, der institutionell noch nicht verfestigte Hof, gemeint ist, der durch Rituale und Performanzen der adligen Gesellschaft je neu hergestellt wird, aber auch die mittelalterliche Literatur selbst, in der dies reflektiert wird.6 Eine Studie, die sich mit der Konstruktion von „intimen Räumen“ befasst, bietet vor allem mit dem Begriff der eingeschränkten Zugänglichkeit punktuelle Anschlussmöglichkeiten für meine Überlegungen

|| 2 Einen Überblick vermittelt das von Dünne / Mahler herausgegebene Handbuch Literatur und Raum 2016. 3 Vgl. den Überblick bei Gerok-Reiter / Hammer 2015. 4 Vgl. Störmer-Caysa 2007, 34–76. In ihren Überlegungen zum Zusammenhang von Raum und Bewegung spielt der Leib als Kategorie der Analyse keine Rolle. Dies gilt auch für Brinker-von der Heyde 2005. 5 Eine Ausnahme bildet etwa Lechtermann 2005. Ihre Studie bezieht sich zwar nicht auf den Tristan, berührt sich aber mit meinen Erkenntnisinteressen. 6 Schlechtweg-Jahn (2005) schlägt vor, das Verhältnis von realem und fiktionalem Raum im Tristan im Blick auf die semi-orale Kultur des Mittelalters neu zu denken. Ähnlich zum Begriff des ‚virtuellen Raums‘, doch mit breiterem Bezug auf die Literatur des Mittelalters vgl. Wagner 2015.

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(Baier 2005).7 Dies gilt auch für zwei Publikationen, die dem Zusammenhang von Herkunftsräumen und Genealogie (Hammer 2016) bzw. der Raumdarstellung im Tristan am Beispiel des Hofes nachgehen (Gerok-Reiter / Hammer 2015). Im Folgenden frage ich, welche Bedeutung der Leiblichkeit der Figuren bei der Raumgestaltung in einigen Episoden des Tristan zugeschrieben wird, wie Räume durch Bewegungen und Interaktionen der Figuren konkretisiert oder auch erzeugt werden und wie umgekehrt die Raumgestaltung die Charakterisierung der Figuren bestimmt. Mein Erkenntnisinteresse richtet sich nicht auf eine systematische Erfassung dieses Zusammenhangs, sondern auf die Frage, wie unterschiedlich die Relation von Raum, Leib und Bewegung in einigen Episoden gestaltet ist und wie unterschiedlich sie funktionalisiert wird. Ausgangspunkt sind Überlegungen zur Semantik der Großräume Meer und Land und den Verbindungen, die zwischen ihnen hergestellt werden. Dabei tritt das Schiff als Chiffre für Grenzüberbrückung und Grenzüberschreitung in den Blick, als „ein Stück schwimmenden Raumes“, als Metapher für „Heterotopie par excellence“,8 als Zeichen für einen ‚realen‘ und zugleich imaginären Ort. Ganz anders wird der Zusammenhang von Bewegung, Leib und Raum im Erzählen von Reisen, bei der Erzeugung von Klageräumen und bei der Gestaltung von Räumen im Kontext des Hofes gestaltet, so dass – wie ich hoffe – exemplarisch deutlich wird, wie dieser Zusammenhang durch textuelle Operationen erzeugt wird und welche Strategien der symbolischen Sinnproduktion dabei leitend sind.

2 Textuelle Gestaltung von Räumen 2.1 Großräume: Meer und Land Charakteristisch für die Organisation des Raumes im höfischen Roman ist im allgemeinen, vereinfacht gesagt, eine Zweiteilung in den Bereich des Hofes und in den des Abenteuers, der âventiure, ein Bereich, der außerhalb des Höfischen liegt und nicht selten im Wald oder in einer Wildnis angesiedelt ist. Im Tristan ist der Hof zwar ebenfalls ein zentraler Ort, aber der Gegensatz zu einer nicht-höfischen

|| 7 Baier (2005). Im Zentrum seiner Analyse zum Tristan steht die Inszenierung von Intimität in der Brautnacht-Episode und in den Baumgartenszenen. 8 Zu diesem Zitat von Foucault und dessen Begriff der Heterotopie vgl. Warning (2015) und Garnier (2015, 90). Es wäre vermutlich ein lohnendes Unterfangen, die Kategorie der Heterotopie für die Interpretation des Tristan produktiv zu machen. Im Rahmen dieser Studie kann dies allerdings nicht geschehen.

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Welt bestimmt nicht in gleichem Maße die Raumordnung. Im Tristan wird ein Großraum konstruiert, der aus Meer und Land besteht. Das Meer ist ein fluides Medium und damit ein bewegter und bewegender Raum. Um eine Verbindung zwischen Meer und Land herzustellen, bedarf es eines Transportmittels, sind Schiffe oder Boote notwendig, die auch im Tristan wiederholt genutzt werden. Sie führen etwa den Helden von Cornwall nach Irland und wieder zurück, und so erlangt das Schiff Bedeutung als Raum im Meeresraum, als Brücke zwischen Land und Meer. Dabei sind die Fahrten über das Meer nicht nur mit Grenzüberschreitungen, sondern auch mit Gefahren, Unvorhergesehenem, ja, schicksalhaften Einbrüchen verknüpft. Land erscheint im Tristan dagegen als unbewegter Raum, der mehr Stabilität verspricht. Diese Stabilität kann jedoch trügerisch sein, denn Land interessiert vornehmlich als Objekt von Herrschaft, es konstituiert sich gleichsam als Teil des Herrscherkörpers, dessen Bestand durch kriegerische Händel und Machtkämpfe stets gefährdet ist. So fällt der Vater Tristans, Riwalin, der herre in Parmenîe (V. 245), mit seinen Leuten in das Land seines Lehnsherrn Morgan ein und besiegt ihn. Sobald Morgan sich aber von der Niederlage erholt hat, greift er seinerseits das Land Riwalins an und tötet den Rebellen. Blanscheflur, die Gattin Riwalins, überlebt dessen Tod nicht und stirbt kurz nachdem sie einen Sohn geboren hat. Rual, ein treuer Vasall Riwalins, gibt das Kind als eigenen Sohn aus, um es vor der Rache Morgans zu schützen. Durch den Tod des Vaters wird die genealogische Folge gestört und die enge Verbindung von Land und Herrscherkörper gelockert und schließlich aufgelöst.9 Die Gliederung in die beiden Großräume Meer und Land transportiert also eine Sinnebene, die mit der Konstruktion der Figur des Helden unmittelbar verknüpft ist. Tristan tritt das Erbe seines Vaters nicht an, er wird die Herrschaft über das Land Parmenîe nicht übernehmen, obwohl es ihm nach vielen Jahren gelingt, den Tod Riwalins an Morgan zu rächen und damit das Land zurück zu erobern. Er wird der lantlôse Tristan (V. 5868) bleiben, in dessen Leben das Land als Herrschaftsbereich keine Rolle spielt, während Meer und Schiff wiederholt Schauplätze einer schicksalhaften Wende sind: Als Heranwachsender wird Tristan von Kaufleuten auf einem Schiff entführt und gelangt auf diese Weise zufällig nach Cornwall, in das Land König Markes. Im Kampf gegen Morold, einen Feind des Königs, wird er tödlich verwundet und sieht sich genötigt, mit dem Schiff nach Irland zu reisen, weil nur die dortige Königin Isolde, die Schwester Morolds, über ein Heilmittel gegen das tödliche Gift verfügt. Nach dem glücklichen Ausgang des

|| 9 Zur Loslösung Tristans aus seiner genealogischen Identität vgl. Koch 2006, 258–262.

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gefährlichen Unternehmens an den Hof Markes zurückgekehrt, erklärt sich Tristan bereit, trotz der drohenden Gefahr, als Mörder Morolds erkannt zu werden, erneut nach Irland zu reisen, um die Tochter der Königin, Isolde Weißhand, als Braut für Marke zu werben. Das Schiff, mit dem er Isolde nach Cornwall bringt, erweist sich dabei als ein in sich gegliederter Raum. In ihm befindet sich eine Kajüte, die Tristan den Frauen vorbehalten hat, es ist also ein von den anderen Räumen abgetrennter Raum im Schiff, der eine geschlechterspezifische Grenze markiert. Er ist nur beschränkt zugänglich und besitzt damit ein Merkmal, das für die Konstruktion intimer Räume im Tristan charakteristisch ist (Baier 2005). Doch Tristan überschreitet diese – von ihm selbst gesetzte – Grenze gelegentlich und betritt den Innenraum, um Isolde in ihrem Abschiedsschmerz zu trösten. Die Raumgliederung nach dem Prinzip der Verschachtelung gibt hier Bewegungs- und Handlungsspielräume vor und hat mithin maßgeblichen Anteil an der Bedeutungsproduktion. Die Kajüte ist es auch, in der die beiden unwissentlich den nicht für sie bestimmten, folgenschweren Minnetrank zu sich nehmen, dessen Wirkung eine Sequenz von Transgressionen einleitet.10 Bezeichnenderweise findet dieses Ereignis während eines Zwischenaufenthalts an Land statt, also genau an der Grenze zwischen Meer und Land.

2.2 Bewegung in Raum und Zeit: Ruals Suche nach Tristan Konkrete Details der Reisen, zum Beispiel die Beschaffenheit der Transportmittel oder Vorgänge während der Schifffahrt, werden nur selten erwähnt. Meist sind die Angaben über den Reisevorgang von bemerkenswerter Knappheit. Als es Tristan gelungen ist, unter dem Decknamen Tantris durch die irische Königin Isolde von seiner tödlichen Wunde geheilt zu werden, erhält er von ihr die Erlaubnis, nach Cornwall zurückzukehren. Zu dieser Reise heißt es und enbeit ouch dô niemêre, / er vuor von dannen z’Engelant, / von Engelanden al zehant / ze Curnewâle wider heim (V. 8222–8225; „Und so blieb er denn nicht länger, er fuhr davon nach England und von England gleich wieder heim nach Cornwall“). Mehr wird nicht gesagt; Körper, Bewegung und Raum werden nicht in Beziehung gesetzt. Ähnlich wortkarg wird die Ankunft des irischen Ritters Gandin in Cornwall beschrieben, der Isolde Marke mit einem Trick ablistet: in den zîten kam ein / kiel ze Curnewâle in Markes habe. / da reit ein ritter ûz und abe, / ein edel barûn von Îrlant, / der was Gandin genant

|| 10 Die unauflösbare Spannung zwischen Liebe und Ehe wird bereits in der Vorgeschichte aufgebaut und bildet ein Strukturprinzip der Narration (Warning 2003).

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(V. 13104–13108; „In der Zeit legte ein Schiff in Markes Hafen in Cornwall an. Aus ihm ritt ein Ritter heraus, ein hochgemuter irischer Baron, sein Name war Gandin“). In kaum zu überbietender Kürze werden Herkunft und Stand des Reisenden sowie die Transportmittel Schiff und Pferd benannt, ohne dass eine nähere Relation zwischen Raum und Bewegung hergestellt würde. In Anbetracht dieser lakonischen Knappheit stellt sich die Frage, welche Bedeutung es hat, wenn Bewegungen im Raum konkreter beschrieben werden, wie es bei der Suche Ruals nach dem entführten Tristan der Fall ist. Der treue Vasall macht sich mit großen Gütern per Schiff auf den Weg, fest entschlossen, nicht ohne Tristan zurückzukehren. Er landet zunächst in Norwegen (V. 3765; Norwæge) und durchsucht „früh und spät“ – wie viele Tage, Wochen oder Monate dabei vergehen, wird nicht gesagt – das Land, aber ergebnislos. Dann geht die Reise nach Irland (V. 3773) weiter, wo er ebenso erfolglos bleibt. Währenddessen sind seine Reisemittel erheblich geschrumpft. So verkauft er sein Pferd, bezahlt von dem Erlös die Heimreise seiner Begleiter und setzt seinen Weg zu Fuß fort. Bettelnd zieht er von rîche ze rîche, / von lande ze lande (V. 3784–3785) wol driu jâr oder mêre (V. 3787), ohne aufzugeben, obwohl er über die Zeit ergraut und äußerlich verwahrlost, so dass er wie ein Bettler aussieht. Im vierten Jahr schließlich gelangt er nach Dänemark (V. 3801; Tenemarke), wo er auf zwei Pilger trifft, denen Tristan bei seiner Ankunft in Cornwall begegnet war. Auf Ruals Frage hin beschreiben sie den Knaben, den sie vor mehr als drei Jahren getroffen hatten (sein Gesicht, seine Haare, wie er sprach, wie er sich benahm, seinen Leib, seine Kleidung, seine Sprachkenntnisse und vuoge), und Rual weiß sofort, dass es sich um Tristan handeln muss. Von den Pilgern erfährt er, dass sie ihm in Tintajol in Cornwall (V. 3828; ez waere in Curnewâle / ze Tintajêle in der stat) begegnet sind und er macht sich sogleich auf den Weg dorthin. Ohne sich einen halben Tag Ruhe zu gönnen, eilt er zum Meer, stößt dort aber auf ein Hindernis, durch das seine Reise verzögert wird. Weil gerade kein Schiff zur Fahrt bereit ist, muss er warten. Als er schließlich in Britannien angelangt ist, läuft er mehrere Tage von morgens bis in die Nacht hinein durch das Land, um nach Cornwall zu kommen. Mehr als drei Jahre ist er unterwegs gewesen, bis er schließlich sein Reiseziel Tintajol erreicht hat. Nun werden die räumlichen und zeitlichen Angaben plötzlich überraschend konkret: Es ist ein Samstagmorgen, man geht zur Messe, und Rual stellt sich vor dem Münster auf, um nach dem Verbleib Tristans zu forschen (V. 3881–3884; und kam ze Tintajêle zuo / eines sunnenâbendes vruo, / dô man ze messe solte gân. / sus gieng er vür daz münster stân). Die punktuelle Konkretheit nimmt die leibliche Nähe Tristans voraus und kündigt so erzählerisch das unmittelbar bevorstehende Wiedersehen an.

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Der Reiseweg weist also mehrere Etappen auf, wobei die Bewegung Ruals räumlich und zeitlich markiert ist. Die Konstruktion des Raums ist dabei nicht primär an die Wahrnehmung der Figur gebunden, vorherrschend bleibt die Perspektive der auktorialen Erzählerinstanz. Hinweise auf die Dauer der Reiseetappen bringen die Zeit ins Spiel, Veränderungen in der Art der Fortbewegung Ruals führen zu einer gewissen Konkretisierung der leiblichen Bewegung im Raum. So wird die Schiffsreise abgelöst durch mühselige Fußmärsche, bei denen Rual allein auf seine körperlichen Kräfte angewiesen ist. Die Verzögerung vor dem Ende der Reise, die ihn dazu zwingt, auf die Einschiffung von Dänemark nach Britannien zu warten, löst Ungeduld bei ihm aus, womit für einen Moment seine Wahrnehmung von Zeit fokussiert wird. Bevor er schließlich sein Ziel erreicht, stehen ihm nach einer erneuten Schiffsreise nochmals mehrere Tage Fußmarsch bevor. Die vergleichsweise detaillierten Angaben stehen in Kontrast zur Gestaltung des Raumes, den Rual bereist. Mit England, Britannien und Irland werden Namen historisch und geographisch identifizierbare Länder und auch darin liegender Städte genannt, aber als Räume erhalten sie weder Materialität noch Plastizität.11 Sie wecken die Vorstellung eines sehr weiten Raumes, wobei die Nennung der Länder- und Städtenamen allenfalls auf die „Evokation einer referentiellen Illusion“ (Neumann 2016, 97) zielt. Es wäre deshalb verfehlt, hieraus eine defizitäre, spezifisch mittelalterliche Wahrnehmungsmöglichkeit abzuleiten, wie es in der älteren Forschung gelegentlich geschehen ist. Die Hervorhebung der leiblichen Bewegung Ruals im Raum unterstreicht vielmehr umso deutlicher, wie stark seine Bindung an Tristan ist, sie veranschaulicht die vorbehaltlose Treue, mit der er dem Sohn seines verstorbenen Lehnsherrn ergeben ist und die – nicht zufällig – deutliche Spuren an seinem Körper hinterlässt.12 Die Erzählung von Ruals Reise hat also die Funktion, die Beziehung zwischen Rual und Tristan zu veranschaulichen und sie als eine hierarchische zu kennzeichnen. Die Bewegung Ruals im Raum dient letztlich der Charakterisierung der herausragenden zentralen Figur der Erzählung.

|| 11 Störmer-Caysa (2007, 45–46) weist darauf hin, dass die Geographie des Romans zwei Zeitstufen sowie eine mythische Dimension in sich trägt. 12 Koch (2006, 258–262) vermutet einen weitergehenden Verweisungszusammenhang zwischen der Konstruktion von Tristans und Ruals Körper.

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2.3 Klageräume Räume dienen häufig dazu, die Gestimmtheit einer Episode oder einer Figur zu konturieren und die Rezipienten daran partizipieren zu lassen oder sie auf eine Erzählsequenz einzustimmen. Neben dem Wald und dem sogenannten Lustort, dem locus amoenus, finden sich im Tristan weitere Naturräume, die durch topische Muster weniger vorgeprägt sind. Nach der Entführung Tristans bildet die Natur den Schauplatz von Klagen, einerseits der zurückgebliebenen Pflegefamilie und andererseits des Entführten, den die Kaufleute an der Küste Cornwalls ausgesetzt haben. Der Schmerz, den Rual und seine Angehörigen über den Verlust Tristans empfinden, ist so heftig, dass er die Trauernden förmlich ‚in Bewegung setzt‘. Sie bleiben nicht für sich in ihrem Zuhause, um still zu trauern, sondern agieren in einem gleichsam zeremoniellen Akt ihren Kummer körperlich aus, indem sie sich mit ihrem Gefolge genau an die Stelle begeben, an der Tristan ihnen entrissen wurde, an die stat, an das Ufer des Meeres, an den Strand. Hier, an der Grenze zwischen Land und Meer, stimmen sie eine vielfältige Klage an, die sie Tristan gleichsam hinterherschicken (V. 2381–2385): sus giengen sî dô beide in ir gemeinem leide und al ir ingesinde nâch ir verlornem kinde weinen ûf des meres stat. Und sie gingen beide, vereint im Leid, zusammen mit dem ganzen Hof ans Ufer des Meeres und weinten nach ihrem verlorenen Kind.

Der Ort selbst, das Ufer, an dem sie über ihren Verlustschmerz klagen und Gott bitten, Tristan zu beschützen, wird nicht näher beschrieben, er bleibt gewissermaßen leer und gewinnt Raum allein durch die vielstimmigen Klag en , die hier ertönen und die sich schließlich, als es Abend wird und die Klagenden in ihre Unterkünfte zurückkehren, zu einem einstimmigen Gebet vereinigen (V. 2392–2398): […] ir clage, diu ê was undertân, diu wart dô gâr einbære: si triben dô niuwan ein mære, si riefen hie, si riefen dort niht anders wan daz eine wort: „bêâs Tristant, curtois Tristant, tun cors, ta vie a dê commant […]“

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[…] da wurden ihre Klagen, die zuvor verschieden klangen, ganz und gar einhellig: sie wußten nur noch das eine zu sagen und riefen hier und riefen dort einzig diese Worte: „Beau Tristant, courtois Tristant, ton corps, ta vie je recommande à Dieu […]“

In ihrem Kummer beschwören die Trauernden die Präsenz und das Wohl des Abwesenden, bis ihre Stimmen zu einer Einheit verschmelzen und der Meeresstrand zum Klageraum wird.13 Erneut wird so die leibliche Verbundenheit Ruals und seiner Familie mit Tristan in einem leiblich-sinnlichen Akt zum Ausdruck gebracht. Die Reaktion Tristans nach seiner Entführung steht in starkem Kontrast hierzu. Ist der Ort der Klage Ruals und seiner Familie der Meeresstrand, so ist es für Tristan die schroffe Küste Cornwalls, an der er ausgesetzt wurde. Es ist bemerkenswert, dass der Naturraum hier näher beschrieben wird, und zwar aus der Figurenperspektive, in der Wahrnehmung Tristans.14 Tristan erfährt sich als Subjekt, das sich einem menschenleeren Naturraum gegenüber gestellt sieht, der ihn mit Furcht und dem Gefühl der Verlorenheit erfüllt (V. 2500–2510): „nu warte ich allenthalben mîn und sihe niht lebendes umbe mich. dise grôze wilde die vürht ich: swar ich mîn ougen wende, dâ ist mir der werlde ein ende; swâ ich mich hin gekêre, dâ’n sihe ich ie nimêre niuwan ein toup gevilde und wüeste unde wilde, wilde velse und wilden sê. disiu vorhte tuot mir wê […]“ „Ich schaue mich hier nach allen Seiten um und erblicke keine lebende Seele. Ich habe Angst vor dieser gewaltigen Wildnis: wohin ich schaue, scheint mir dies das Ende der Welt zu sein, wohin ich mich wende, sehe ich nichts und wieder nichts als ödes Land, als Wüste und Wildnis, als zerklüftete Felsen und das wilde Meer. Das macht mir quälende Angst.“

Diese Schilderung zeigt, dass er keineswegs in dem Raum aufgeht, in dem er sich befindet, sondern ihn als Bedrohung empfindet und alles daran setzt, um der Wildnis zu entkommen. So beschließt er aus Angst vor den wilden Tieren und in

|| 13 Ähnlich Koch (2006, 246–247), die in ihrer Interpretation die Identitätsproblematik besonders betont. Hahn (1963, 62–63) und Gerok-Reiter (2015, 4501–4502) verwenden den Begriff des „Klangraums“ für durch akustische Signale erzeugte Räume, gehen aber nicht auf die hier besprochenen Stellen ein. 14 Dies betont auch Hammer (2016, 170–173).

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Anbetracht der nahenden Dunkelheit, auf einen der umstehenden Berge zu klettern, um von dort Ausschau nach einem bewohnten Ort zu halten. Merkwürdig wirkt es, dass der Erzähler gerade an dieser Stelle einige Zeit auf die Beschreibung von Tristans kostbarer Kleidung verwendet und betont, wie sehr sie seinen schönen Leib zur Geltung bringt. Die Erlesenheit der Kleidung und die Schönheit des Leibes erscheinen dabei als eine Einheit, die in Kontrast steht zu der bedrohlichen Natur, der Tristan zu entkommen sucht. Um sein Ziel zu erreichen, ist er genötigt, sich in ungewohnter Weise körperlich zu bewegen und sich an der Materialität der rauen Natur abzuarbeiten, ohne Rücksicht auf den adligen Leib und die edle Kleidung (V. 2563–2573): er’n hæte weder wec noch pfat, wan alse er selbe getrat. mit sînen vüezen weget’er, mit sînen handen steget’er: er reit sîn arme und sîniu bein. über stoc und über stein wider berc er allez clam, unz er ûf eine hœhe kam. dâ vand er von geschihte einen waltstîc âne slihte mit grase verwahsen unde smal […] Es gab da weder Weg noch Pfad außer denen, die er selber trat. Indem er mit den Füßen einen Weg bahnte und mit den Händen Durchgänge freimachte, arbeitete er sich mit Armen und Beinen voran. So kletterte er über Stock und Stein beharrlich nach oben, bis er eine Anhöhe erreichte. Dort stieß er zufällig auf einen verschlungenen, grasüberwachsenen engen Waldweg […]

Der Text betont, dass Tristan sich selbst mit dem Einsatz aller körperlichen Kräfte, mit Händen und Füßen, einen Weg durch die Wildnis bahnt und sich so aus seiner misslichen Lage befreit. Die Engführung der Materialität des Raums mit der Materialität des Körpers zeigt, welche Schwierigkeiten Tristan zu überwinden in der Lage ist, um der Bedrohung durch die Natur zu entkommen, sie gleichsam zu bezwingen.15 Die Thematik des schwierigen Weges hat im Übrigen durchaus topischen Charakter, die einen symbolischen Sinn transportiert, aber hier von einem spezifischen Gestaltungswillen geleitet ist. Die Schilderung des Kampfes gegen die unwirtliche Natur korrespondiert mit der Körpermetaphorik, die in der Darstellung des Widerstands gegen die Erfahrung der Liebe nach dem || 15 Hammer (2016, 173–174) hebt in ihrer Studie den Aspekt der „Selbstproduktion“ Tristans besonders hervor.

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Genuss des Minnetranks in den Reflexionen Tristans und Isoldes verwendet wird und erinnert zudem an die Beschreibung der Wildnis, von der die Minnegrotte umgeben ist. Die Beschreibung von Tristans Kampf gegen die Natur ist so in ein innertextuelles Verweisungsgefüge eingebunden und hat hier eine vorausdeutende Funktion. Die Interaktion von Körper und Raum hat zudem den Effekt, dass Tristan als Überwinder der unwirtlichen Natur erneut als Ausnahmefigur profiliert wird. Als Tristan kurze Zeit später über einen Waldweg auf eine breite und gut begehbare Straße gelangt, setzt er sich nieder, um sich von den Strapazen auszuruhen, und beginnt erneut zu klagen. In seiner Verlorenheit kommen ihm nun die Seinen und das ihm vertraute Land in den Sinn. Bezeichnenderweise aber beklagt er weniger das eigene Unglück als das Leid, das – in seiner Imagination – Rual und seine Familie über seinen Verlust empfinden (V. 2600–2617): „[…] und alle, die mir gunden gelückes unde guotes, die sint nu swæres muotes und sêre trûric umbe mich. â süeziu muoter, wie du dich mit clage nu quelest, daz weiz ich wol: vater, dîn herze ist leides vol […] wan zwâre ich weiz vil wol, daz ir kûme oder niemer werdet vrô, ez’n gevüege danne got alsô, daz ir bevindet, daz ich lebe.“ „[…] und alle, denen mein Glück und Wohlbefinden am Herzen lag, die sind nun schwer bedrückt und tieftraurig meinetwegen. Ach, liebe Mutter, wie Du Dich nun klagend quälst, das weiß ich wohl. Vater, Dein Herz ist von Leid erfüllt […] Denn wahrlich, ich weiß sehr wohl, daß Ihr schwerlich oder nie mehr froh sein könnt, wenn Gott es nicht fügt, daß Ihr erfahrt, daß ich am Leben bin.“

Wenn Tristan nicht das eigene Leid, sondern den Schmerz der Eltern um seinen Verlust in den Vordergrund rückt, dann wird damit herausgestellt, wie sehr er von ihnen geliebt und wertgeschätzt wird – nicht aber, wie sehr er sie liebt und vermisst. Auch fragt Tristan sich nicht, wie er den Kummer der Eltern lindern könnte. Weder hier noch später denkt er daran, die räumliche Trennung zu überwinden und nach Parmenîe zurückzukehren. Sein Blick ist allein nach vorn gerichtet, auf die Suche nach einem von Menschen bewohnten Ort. Erst als Rual an Markes Hof kommt, tritt die Vergangenheit wieder in sein Bewusstsein. Durch die unterschiedliche Konstruktion der Klageräume wird erneut die hierarchische

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Struktur in der Beziehung zwischen Tristan und Ruals Familie und die Besonderheit der Tristanfigur herausgestellt.

2.4 Raumgestaltung im Kontext des Hofes Der Hof ist im Tristan wie in anderen mittelalterlichen Romanen der zentrale gesellschaftliche Raum. Über seine Bedeutung als Institution oder die dort herrschenden räumlichen Verhältnisse oder bauliche Beschaffenheit finden sich meist keine oder nur vage Angaben.16 Der Hof als Raum konstituiert sich je neu „über den erweiterten Körper des Herrschers“ (Gerok-Reiter 2002), über die leibliche Kopräsenz von Personen (Schlechtweg-Jahn 2005) und deren Interaktionen, beispielsweise bei Beratungen, bei der Jagd, bei Ritterspielen oder bei der Rezeption von Literatur und Kunst. Dadurch entstehen Räume unterschiedlicher Art. Ein Beispiel dafür liefert die Vorgeschichte des Tristan. Als Riwalin an den Hof Markes kommt, ist weder von einem architektonischen Raum der Repräsentation noch von der dort lebenden Gesellschaft und ihrer sozialen Struktur die Rede, erzählt wird vielmehr von einem Fest, das gerade veranstaltet wird. Das Fest findet an einem besonderen Ort statt, gefeiert wird wie jedes Jahr den ganzen Mai über auf „der schönsten Aue“ (V. 525), welche die unverkennbaren Züge eines locus amoenus aufweist. Der Hof ist hier, in der Ausnahmesituation des Festes, in die Natur verlagert, und er konstituiert sich zuallererst durch die Zusammenkunft von Personen, und zwar durch das gesinde, durch Angehörige der Hofgemeinschaft Markes, und durch geste (V. 600), die von auswärts kommen, durch Ritter und ihre Damen aus Engelant. In der Natur, auf dem Gras, sind Unterkünfte für arm und reich aufgebaut worden, manchen genügt auch, wie es heißt, die Linde über dem Kopf. In der Ausnahmesituation des Festes erscheint der Hof als ein Raum, an dem der Gegensatz von Kultur und Natur, von arm und reich, aufgehoben ist. Und auch andere Grenzen sind suspendiert. Denn Angehörige beiderlei Geschlechts, Ritter und Damen, haben die Gelegenheit, sich im Rahmen des Festes ungezwungen zu begegnen, sich zu vergnügen und miteinander zu kommunizieren. Die Ritter vertreiben sich die Zeit unter anderem mit Ritterspielen vor den Damen, die das Geschehen beobachten und kommentieren. Als sich die Kampfspiele in ihre Richtung verlagern, wird die Wirkung Riwalins in der Wahrneh-

|| 16 Zu weiteren Einzelheiten der Gestaltung des Hofes im Tristan vgl. Gerok-Reiter / Hammer (2015, 499–503).

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mung der Damen gespiegelt, die von seiner körperlichen Erscheinung und seinem Gebaren begeistert sind.17 Mit seinen ritterlichen Attributen erscheint er ihnen wie aus einem Guss gemacht (V. 704–719): „seht“ sprâchen sî „der jungelinc der ist ein sæliger man: wie sæleclîche stêt im an allez daz, daz er begât! wie gâr sîn lîp ze wunsche stât! wie gânt im sô gelîche in ein diu sîniu keiserlîchen bein! wie rehte sîn schilt z’aller zît an sîner stat gelîmet lît! wie zimet der schaft in sîner hant! wie wol stât allez sîn gewant! wie stât sîn houbet und sîn hâr! wie süeze ist aller sîn gebâr! wie sæleclîche stât sîn lîp! ô wol si sæligez wîp, der vröude an ime belîben sol!“ „Seht“, sagten sie, „dieser junge Mann, wie herrlich ist er doch! Wie herrlich nimmt sich alles aus, was er vollführt! Wie ist er körperlich vollkommen! Wie ebenmäßig strecken sich seine hochadeligen Beine! Wie fest, ja gleichsam angegossen sitzt sein Schild, da wo er hingehört! Wie trefflich fügt der Speer sich seiner Hand! Wie vorzüglich steht ihm seine Kleidung! Wie eindrucksvoll sind Haupt und Haare! Wie entzückend sind seine Gebärden! Was für eine göttliche Erscheinung! O wohl der glücklichen Frau, der er zur bleibenden Freude wird!“

So beherrscht Riwalin mit seiner körperlichen Präsenz den höfischen Naturraum. In der Begegnung zwischen ihm und Blanscheflur entsteht dann allmählich ein

|| 17 Auch als Tristan später erstmals an Markes Hof kommt, ist von dessen räumlicher Beschaffenheit kaum die Rede. Erwähnt werden allein ein Tor und der palas, das Hauptgebäude. Im Vordergrund des erzählerischen Interesses steht vielmehr eine kunstvoll arrangierte Choreographie, nach der die Mitglieder der Jagdgesellschaft die einzelnen Teile des erlegten Wilds in wohl geordneter Form herbei tragen, sowie der Bericht des Jägers über die Begegnung mit Tristan. Als Marke die Jäger in ihre Quartiere entlassen hat, eilen junge Leute der Hofgesellschaft herbei und führen Tristan formvollendet zum König. Dabei lenkt der Erzähler mit einer Beschreibung den Blick erneut auf den schönen Leib Tristans, der so den höfischen Raum füllt (V. 3334). Erst später, als Tristan zum Favoriten Markes aufgestiegen ist, wird der Hof in Gestalt von Baronen, die Tristan seine Stellung neiden, als gesellschaftliche Struktur greifbarer.

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weiterer, ein exklusiver Raum. Zunächst ist es Blanscheflur, die durch den Anblick Riwalins überwältigt wird, ihre Begegnung mit ihm wird als eine geradezu gewaltsame Inbesitznahme ihres Leibes geschildert, als Eindringen in ihren Körper, in ihr Herz, worin er die ‚Herrschaft‘ übernimmt. Innerhalb des höfischen Naturraums entsteht so ein innerer Raum, der zunächst nur für Blanscheflur zugänglich ist. Als die Ritterspiele vorbei sind und Riwalin mit seinem Pferd ‚zufällig‘ in ihre Nähe kommt, ergreift Blanscheflur die Gelegenheit, um ihm in verschlüsselter Form von der Existenz dieses Innenraums Mitteilung zu machen und ihm damit die Möglichkeit zu eröffnen, ihn mit ihr zu teilen. Im Nachsinnen über ihre Äußerungen errät er schließlich deren Sinn und entflammt nun seinerseits in Liebe für sie (V. 806–812: daz enzunte ouch sîne sinne, / daz sî sâ wider vuoren / und nâmen Blanschefluoren / und vuorten sî mit in zehant / in Riwalînes herzen lant / und crônden sî dar inne / im z’einer küniginne). Erneut dient die Herzmetaphorik als Mittel der Veranschaulichung dieses Vorgangs, und so entsteht auch in Riwalin ein exklusiver, nur ihm zugänglicher Raum. Allerdings wird ihm dabei ein aktiver, bewegender Part zugewiesen: Während Blanscheflur von seiner Erscheinung leiblich überwältigt wird, verleibt er sie sich in seiner Imagination (sîne sinne) förmlich ein, indem er sie in sein Herz führt und sie dort zur ‚Herrscherin‘ macht, sie zur Königin krönt. Die in der Ausnahmesituation des Festes entstandenen inneren Räume bleiben zunächst getrennt, um sie zu einem gemeinsamen Raum zu machen, bedarf es weiterer Bewegungen. Die Liebenden verständigen sich durch Blicke (V. 1086), welche die räumliche Distanz überwinden und nun einen exklusiven Kommunikationsraum zwischen den Liebenden erzeugen. Dieser Kommunikationsraum erfährt nach dem Fest eine weitere Konkretisierung, als Blanscheflur den sterbenskranken Riwalin heimlich an seinem Krankenbett aufsucht. Er ist allein, und nachdem Blanscheflur das Krankenzimmer betreten hat, wird die Tür verriegelt. Damit ist die Voraussetzung für die Entstehung eines geschaffen. Von der Einrichtung dieses Ortes ist, abgesehen von Riwalins Krankenlager – es wird lediglich erwähnt, nicht aber beschrieben – nicht weiter die Rede, der Raum entsteht hier durch die nahezu wortlose Kommunikation der Liebenden und die Interaktion ihrer Körper: Blanscheflur „sitzt“ dort zunächst wie blind (V. 1292), ihre Wange an die Riwalins geschmiegt, dann fällt sie in Ohnmacht und „liegt“ eine Weile besinnungslos (V. 1307), bis sie wieder zu sich kommt, den Geliebten in die Arme nimmt, ihn an sich drückt und mit Küssen bedeckt, bis auch seine Lebensgeister wieder erwachen (V. 1317–1326): ir munt der tete in vröudehaft, ir munt der brâhte im eine craft, daz er daz keiserlîche wîp

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an sînen halptôten lîp vil nâhe und inneclîche twanc. dar nâch sô was vil harte unlanc, unz daz ir beider wille ergienc und daz vil süeze wîp enpfienc ein kint von sînem lîbe. Ihr Mund machte ihn lustvoll, ihr Mund gab ihm solche Kraft, daß er die herrliche Frau eng und innig an seinen halbtoten Körper drückte, und dann dauerte es nicht lange, bis sie sich ganz einander hingaben, wobei die so liebreizende Frau ein Kind von ihm empfing.

3 Fazit Trotz der im Rahmen dieses Beitrags unvermeidlichen Skizzenhaftigkeit dürfte deutlich geworden sein, wie unterschiedlich Räume in den untersuchten Episoden des Tristan entworfen, mit Leib und Bewegung relationiert und funktionalisiert werden. Räume können als Bewegungs- und Handlungsspielräume vorgegeben sein, sie können aber auch durch Bewegungen und Interaktionen erst erzeugt werden. Als wichtiges Moment der Gestaltung hat sich dabei die Frage erwiesen, aus welcher Perspektive das Geschehen wahrgenommen wird. Die Raum-Leib-Bewegungen tragen, wie die Gestaltung der Großräume Meer und Land zeigt, nicht unwesentlich zur Charakterisierung der Figuren bei. Über die Erzeugung von Räumen durch leibliche Bewegungen werden zudem soziale Hierarchien, werden Zugehörigkeiten und Exklusivität hergestellt. Als Prinzipien der Darstellung wurden räumliche Gliederung durch ‚Einschachtelung‘ (die Frauenkemenate auf dem Schiff) und Konkretisierung der Wahrnehmung als Zeichen der körperlichen Annäherung (Ruals Ankunft in Tintajêle) ermittelt. Im Ergebnis kommt Schwellen eine besondere Bedeutung zu, die Grenzen oder deren Überschreitung markieren: der Tür zur Frauenkemenate als Grenze zwischen den Geschlechtern, dem Ufer als Grenze zwischen Land und Meer, der Wildnis als Grenze zwischen Natur und höfischer Kultur, dem locus amoenus des Festes als Grenzen aufhebender höfischer Naturraum. Es bleibt zu fragen, inwiefern diese Beobachtungen sich für den Tristan vertiefen und verallgemeinern lassen.

Raum, Leib, Bewegung: Aspekte der Raumgestaltung in Gottfrieds Tristan | 143

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Martin Baisch, Hamburg

Anerkennung und Vertrauen Günstlingsdiskurse in der Vormoderne Was fremd geworden ist, ist das Geschichtliche als solches. Das Mittelalter nicht nur als Raum des Fantastischen, sondern als Zeit der Spannung zwischen Weltlichem und Geistlichem, Hingabe und Reflexion, Diesseitsgestaltung und Jenseitsfürsorge. Das Buch als historisches Objekt. Die Schrift als nicht ohne Weiteres lesbare. Der Text als sich unserer Lebens- und Erfahrungswelt entziehender. Kurz all das, was aus dem Horizont einer zwar immer mehr Vergangenes medial integrierenden, aber dabei Historizität selbst absorbierenden Gegenwart herausfällt (Kiening 2015, 618).

1 Anerkennung und Vertrauen Die Kategorie der ‚Anerkennung‘ hat in letzter Zeit in der Philosophie, aber auch in sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen neue Aufmerksamkeit erfahren und eine rege Debatte angeregt.1 Auch in der Literaturwissenschaft beginnt man darüber zu reflektieren, welches Potential diese Analysekategorie für die Untersuchung literarischer Texte besitzen könnte: Denn für eine Philologie, die auf soziale und kulturelle Kontexte referiert, bieten Konzepte von Anerkennung in gesellschafts-, kultur- oder subjekttheoretischer Perspektive reichhaltige Anschlussmöglichkeiten2 (vgl. Stierle 1994, 283). Der vorliegende Beitrag erkundet skizzenhaft die Möglichkeiten, das in der Regel für die Moderne entwickelte Konzept intersubjektiver und interkultureller Anerkennung im Rahmen einer inter- und transkulturellen literaturwissenschaftlichen Mediävistik zu historisieren und seine Analysefähigkeit zu erproben. Die höfische Literatur entwirft bekanntermaßen einen Raum des Imaginären, in dem der „Traum einer kommunikativen Welt im Zeichen der cortoisie“ (Stierle 1994, 283) zur Anschauung gelangt, in dem den Dynamiken des Sozialen und der Identitätskonstruktionen nachgespürt wird, in dem aber auch die prekären und negativen Folgen scheiternder Verständigung aufscheinen und Szenarien von Kränkung, Beschämung und Neid entworfen werden. Die Kategorie der „verkennenden Anerken-

|| 1 Vgl. Bedorf 2010; Honneth 1994; Honneth 2010; Honneth 2015; Siep 2014; Hénaff 2014; Hénaff 2009; Butler 2001; Butler 2007; Ricoeur 2006; Kuch 2013; Ikäheimo 2014. 2 Vgl. Erhart 2007; Wierlacher 2003; Albrecht [et al.] 2017; Baisch 2017; Kanz und Stamm 2017.

DOI 10.1515/9783110556438-010

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nung“ (vgl. Bedorf 2010) erlaubt, diese Dynamiken von sozialen Interaktionen adäquat zu beschreiben und zu analysieren. Im Anerkennen liegt im Gegensatz zum Erkennen eine praktische Dimension, durch welche das Verhältnis zweier oder mehrerer Personen zueinander determiniert wird. Während Erkennen darauf abzielt, die Identität des Anderen zu erkennen, ist die Anerkennung darauf aus, den Anderen in einer bestimmten Rolle, in einem bestimmten Aspekt und so weiter, das heißt als jemanden anzuerkennen. Anerkennung besitzt, wie Thomas Bedorf betont, damit eine dreistellige Struktur, die sich mit der folgenden Formel veranschaulichen lässt: x erkennt y als z an. Die Variable z lässt sich daher vielleicht als das Medium der / von Anerkennung begreifen.3 Daraus folgt auch, dass der oder die Anerkannte niemals als er selbst oder sie selbst anerkannt werden kann, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht. Dabei entsteht eine Differenz zwischen dem eigentlichen Anzuerkennenden und dem tatsächlich Anerkannten. Um dies nachzuvollziehen, lohnt es sich, den Prozess des Anerkennens im Hinblick auf die Frage der Identitätskonstitution genauer zu betrachten. Die Günstlingsdiskurse des Mittelalters, die in der Geschichtswissenschaft – auch unter transkultureller Perspektive4 – intensiv bearbeitet wurden, scheinen in Hinblick auf anerkennungstheoretische Fragestellungen besonders ergiebig zu sein. Denn die soziale Position des Favorits oder Günstlings am Hof zeichnet sich bekanntermaßen als Nahbeziehung einerseits durch Exklusivität und Intimität (zum Herrscher) aus, andererseits aber auch durch ihre potentielle Instabilität: Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Gunstbezeugung des Herrschers, um die sich die Mitglieder der Hofgesellschaft bemühen. Der Günstling genießt in besonderer Weise die Gunst seines Herrn und kann daher als ‚normbrechende Einzelfigur‘, aber ebenso als ‚normgemäße Figur des Vertrauten und des Freundes‘ verstanden werden, und das bedeutet, daß eine Gönner-Favorit-Beziehung immer eine Gratwanderung zwischen normkonform und normbrechend ist, abhängig von der jeweiligen Wahrnehmung der Umwelt (Krüger 2011, 290–291).

Diese Beziehungen lassen sich unter Zuhilfenahme der Kategorie der (verkennenden) Anerkennung und des Vertrauens auf komplexe Weise analysieren.

|| 3 Bedorf (2010, 122) stellt fest, „daß die zweistellige Relation x erkennt y an das Verhältnis (innerhalb von Anerkennungsprozessen) nur unzureichend beschreibt. Vielmehr handelt es sich um eine dreistellige Relation, in der x y als z anerkennt. Nur so kann der Tatsache Rechnung getragen werden, daß die anzuerkennende Identität nicht mit der Identität des Anerkannten zusammenfällt.“ 4 Vgl. Drews 2015; Hirschbiegel 2004; Asch 2006; Althoff 22014.

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2 Was ist der Hof? Ich bin bei Hof und spreche vom Hof, aber ich weiß nicht, was der Hof ist, nur Gott weiß das. Ich weiß, dass der Hof nicht die Zeit ist, aber er ist zeitlich, wandelbar und vielgestaltig; er ist an einem Ort gebunden und irrt doch umher, niemals bleibt er im gleichen Zustand. Wenn ich ihn verlasse, kenne ich ihn genau; bei der Rückkehr finde ich nichts oder wenig von dem, das ich verließ. Das Äußere sehe ich, der ich ein Fremder geworden bin. Der Hof ist derselbe, aber die Glieder haben gewechselt. Wenn ich den Hof beschreiben sollte, wie Porphyrius das genus definiert, so werde ich nicht lügen, wenn ich sage, dass er eine Menge darstellt, die auf ein Prinzip ausgerichtet ist. Wir sind eine nicht begrenzte Menge, die einem Einzigen zu gefallen sich bemüht.5

Wie Walter Map Ende des 12. Jahrhunderts den Hof König Heinrichs II. von England und seine Erfahrung mit ihm zu skizzieren versucht, ist oft Gegenstand historischer Hofforschung gewesen.6 Der walisische Theologe fragt u. a. danach, was der Hof ist, fragt, wer zu ihm gehört, fragt nach Nähe und Ferne (zum Herrscher) als konstituierende Elemente des Hofes. Die neuere Hofforschung in der Geschichtswissenschaft betont dabei die für das System Hof enorme Wichtigkeit des Herrschers: Von zentraler Bedeutung für das höfische System ist, dies sei nochmals hervorgehoben, die Existenz einer Herrschaft ausübenden Mittelpunktsfigur. Ein Hof ohne Herrscher ist nicht denkbar, ob dieser nun stets anwesend ist oder nicht, ob dieser selbst Entscheidungen trifft beziehungsweise treffen kann oder nur Instrument zur Durchsetzung anderweitiger Interessenlagen ist: Das System Hof hat ohne den Herrn keine Überlebenschancen (Hirschbiegel 2003, 119).

Schließlich sind Elemente wie Gunst und Anerkennung, Freundschaft und Vertrauen von Bedeutung, die als Motor des sozialen Zusammenhalts (am Hof) zu begreifen sind: Die Konkurrenz um die Gunst eines Herrschers dürfte tatsächlich eine der Triebkräfte der Höflinge gewesen sein, denn so wie diese den Aufstieg möglich machte, konnte auch ihr Verlust drohen, wenn die Zuwendung eines Herrschers nachließ und der Entzug einer Po-

|| 5 Ego simili possum admiratione dicere quod in curia sum, et de curia loquor, et nescio, Die scit, quid sit curia. Scio tamen quod curia non est tempus; temporalis quidem est, mutabilis, et varia, localis et erratica, nunquam in eodum statu permanens; in recessu meo totam agnosco, in reddito nihil aut modicum invenio quod dereliquierim, extraneam video factus alienus. Eadem est curia, sed mutata sunt membra. Su descripsero curiam, ut Porphyrius diffinit genus, forte non mentiar, ut dicam eam multitudinem quodammodo se habentam ad unum principium. Multitudo certe sumus infinita, uni soli placere contendens (Walter Map 1983, 2–3). 6 Vgl. Oschema 2009; Melville 2004; Hirschbiegel 2015a.

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sition in seiner Nähe drohte. Wenn mit ‚Gunst‘ aber ein höfisches Strukturprinzip benannt ist, das für den auf einen Herrscher zentrierten Hof maßgeblich war, ist zu fragen, ob der ‚Begünstigte‘ letztlich der höfische Normalfall war, wie schon Johan Huizinga schrieb, oder ob der ‚Favorit‘ als Sonderfall gelten muss. Als ‚Günstling‘ erscheint er zudem als eine tendenziell negativ bewertete Figur, von seinen Gegnern als Aufsteiger geschmäht und mitunter blutig zu Fall gebracht (Hirschbiegel 2015).

Wenn die Gunst des Herrschers tatsächlich die soziale Energie darstellt, welche die Form des Hofes prägt, ist die Rolle des Günstlings, wie immer man sie bewerten möchte, jene unmittelbare Folge, die aus dem sozialen Zusammenspiel der Instanzen am Hof emergiert. Die Geschichtswissenschaft betont hierbei die besondere Rolle des Vertrauens bei der Genese von Bindungen zwischen Herrscher und Günstling: Nur ein Vertrauter konnte Über- und Unterordnungsverhältnisse überwinden, denen freilich nicht nur der Vertraute, sondern jedwedes Personal am Hof unterlag. Freundschaftsbeziehungen, die wie Liebesbeziehungen auf gegenseitiges persönliches Vertrauen abgestellt sind, ignorieren diese hierarchische Differenz. Vertrauensbeziehungen hingegen überbrücken sie, lassen diese damit bestehen und vermitteln somit auch zwischen formalen und informellen Strukturen: Interpersonal orientierte Vertrauensbeziehungen in stratifizierten Gesellschaften sind gleichwohl paritätische, auf Gegenseitigkeit angelegte dialogische Sozialformen, allerdings situativ, okkasionell und temporär bedingt und begrenzt (Hirschbiegel 2015).

Der Aspekt des Vertrauens, der in engem Verhältnis zu Prozessen der Anerkennung steht, erfährt in der interdisziplinären Forschung vielfach Aufmerksamkeit.7 Ganz im oben angeführten Sinne ist Vertrauen hier als ein Medium sozialer Kohäsion zu begreifen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist ebenso der temporale Aspekt von Vertrauen: „Das Prinzip Vertrauen ist als in die Zukunft gerichtetes Engagement als eine ‚auf Kenntnis und verstetigter Beziehung beruhende Erfahrung‘ bestimmt, als eine ‚Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen‘“ (Hirschbiegel 2015). Auch für den Bereich der höfischen Literatur, in der bekanntermaßen Entwürfe sozialen Zusammenhalts diskutiert werden, ist die Bedeutung von Vertrauen erkannt worden: Vertrauen ist ein zentrales Moment in den höfischen Nahbeziehungen, und es ist davon auszugehen, dass dieses Moment sowohl Vertrauen in Freunde als individuelle Personen als auch in ritualisierte Freundschaftspraktiken umfasst. Die politische amicitia etwa

|| 7 Vgl. Luhmann 42000; Frevert 2000; Frevert 2014; Haferland 2005; Bleumer 2005.

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funktioniert nach bestimmten Regeln, die beide Seiten kennen und auf die sie daher vertrauen können [...] (Krüger 2011, 264).8

Akte wie Effekte von (verkennender) Anerkennung sind dabei, wie zu zeigen sein wird, in die Praktiken höfisch-adliger Beziehungen integriert.

3 Textanalyse 3.1 Tristan In der höfischen Literatur des Hochmittelalters scheint mir die Figur des Tristan aus Gottfrieds Romanfragment diejenige zu sein, die das bekannteste und vielschichtigste Beispiel eines Günstlings bietet.9 Große Teile der ersten Hälfte von Gottfrieds Roman lassen ein Interesse an gesellschaftlichen Zusammenhängen und sozialen Prozessen erkennen, so dass dieser weniger als Liebesroman denn als Hofroman erscheint (Jaeger 2003). Gottfried erzählt von einem höfischen Wunderkind, das nach einer umfassenden Ausbildung über beeindruckende Fertigkeiten und Fähigkeiten verfügt. Als dieses an den Hof von König Marke gelangt, entwickelt sich zwischen Tristan und dem Herrscher rasch eine intensive und exklusive Bindung. Die Geschichte Tristans ist eine vom Aufstieg und Fall eines Günstlings und von der Ambivalenz, vielleicht sogar Unmöglichkeit einer – politischen – Freundschaft zwischen Herrscher und Favorit. Sowohl Marke als auch Tristan sabotieren durch ihr Verhalten den Erfolg einer solchen Beziehung und destabilisieren das Gesellschaftsgefüge am Hof, und umgekehrt verhindern spezifische Konstellationen des Hofes eine dauerhafte Freundschaft zwischen König und potentiellem Nachfolger (Krüger 2011, 289).

Noch bevor es Tristans Ziehvater Rual gelingt, die Verwandtschaft von Marke und Tristan ans Licht zu bringen, erreicht Tristans Karriere als Höfling ihren Höhepunkt. Öffentlich benennt der König Tristan zu seinem Erben und Nachfolger: „Tristan ist als Vertrauter und Berater über alle anderen Hofmitglieder mit

|| 8 Vgl. auch Krüger 2011, ebd.: „Vor allem im Bereich des Hofes spielt die Frage des Vertrauens und der Aufrichtigkeit eine Rolle, denn hier ist wichtig, den wahren Freund vom Schmeichler und Heuchler, oder noch gefährlicher, vom falschen Freund, der eigentlich Feind ist, zu unterscheiden.“ 9 Vgl. u. a. Gruenter 1993; Periano 1995; Diem 2009; Michaelis 2011; Krüger 2011, 274–289; Lieberich 2014.

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vergleichbaren Positionen gestellt und konzentriert daher in seiner Person und Position Macht und Einfluß“ (Krüger 2011, 289). Tristan ist damit am Hof Markes ein Eindringling, dem ein rascher Aufstieg gelingt, der große Anerkennung und Legitimation erfährt und dadurch Neider und Rivalen auf den Plan ruft (vgl. auch Haferland 1989). Der Held bedroht die gewohnte Ordnung, er erscheint der Hofgesellschaft zweifellos durch seine Fähigkeit und Wissen als deutlich überlegen, während zugleich nicht klar ist, was eigentlich die Absichten dieses jungen Mannes sind, der wie aus dem Nichts aus Cornwall auftaucht, sich als der Neffe des Königs entpuppt und von diesem zum absoluten Günstling gemacht wird (Krüger 2011, 290).10

Marke jedenfalls ist von Tristan begeistert und überschüttet ihn mit Vertrauen und Geschenken: Der künec sprach: ‚Tristan, hœre her: an dir ist allez, des ich ger; du kanst allez, daz ich will: jagen, sprâche, seitspil. nu suln ouch wir gesellen sîn, du der mîn und ich der dîn. tages sô sul wir rîten jagen, des nahtes uns hie heime tragen mit höfschlichen dingen: harphen, videlen, singen, daz kanstu wol, daz tuo du mir; sô kann ich spil, daz tuon ich dir, des ouch dîn herze lîhte gert: schœniu cleider unde pfert, der gibe ich dir swie vil du wilt: dâ mite hân ich dir wol gespilt. sich, mîn swert und mîne sporn, mîn armbrust und mîn guldîn horn. geselle, daz bevilhe ich dir: des underwint dich, des pflic mir und wistu höfsch unde vrô!‘ (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 3721–3741). Der König sagte: „Tristan, hör her; Du hast alles, was ich wünsche; Du kannst alles, was ich will: jagen, Sprachen, Saitenspiel. Ich möchte, daß wir nunmehr auch Freunde sind, Du mein Freund und ich der Deine. Am Tag laß uns auf die Jagd reiten, am Abend wollen

|| 10 Vgl. auch Lieberich 2014, 226: „Tristan (als Bewunderter) verfügt über Güter (Objekte der Bewunderung), die die Gesellschaft (die Bewundernden), in der er sich aufhält, wertschätzt, aber selbst nicht besitzt.“

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wir uns hier zu Hause höfisch unterhalten: Harfe spielen, fiedeln, singen, was Du so gut kannst: tu das für mich. Ich kann auch ein Spiel; ich spiel’s für Dich, wonach vielleicht Dein Herz ebenfalls verlangt: schöne Kleider und Pferde, davon kannst Du haben, soviel Du willst. Damit biete ich Dir ein ausgewogenes Spiel. Sieh, mein Schwert und meine Sporen, meine Armbrust und mein goldenes Horn, lieber Freund, all das vertraue ich Dir an; nimm es für mich in Deine pflegliche Obhut; und lebe ein höfisch frohes Leben!“

Eingefädelt und gefestigt wird die Bindung zwischen Herrscher und Günstling durch einen Akt der Anerkennung, nämlich durch das Ritual des Gabentauschs: Die exklusive Bindung zwischen Marke und Tristan basiert (auch) auf Gabe und Gegengabe.11 Tristans besondere Fähigkeiten erfahren die Wertschätzung und Anerkennung Markes, der dafür Kleider und Pferde, ja das eigene Schwert, seine Sporen, seine Armbrust und sein goldenes Horn zu geben bereit ist, wodurch sich der Status des landfremden Kaufmannssohns und Spielmanns dramatisch erhöht: „Tristan durchbricht auf diese Weise die Ordnung des Ständesystems. Seine gesellschaftliche Position wird ständig neu bestimmt. Status und Rang klaffen zunächst auseinander und lassen sich erst am Schluss in Einklang bringen“ (Lieberich 2014, 230). Zunächst gelingt Tristan dadurch die Inklusion am Hof, wie der Erzähler feststellt: sus was der ellende dô / dâ ze hove ein trût gesinde (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 3742–3743; „So war nun der Heimatlose zum Liebling der Hofgesellschaft geworden“). Ob die Geschenke tatsächlich dem Rang des Emporkömmlings angemessen sind, wie die Forschung kritisch moniert, ist vielleicht dann weniger irritierend und erscheint angemessen, wenn man sich die Exorbitanz Tristans und seiner höfisch-adligen Fertigkeiten vor Augen führt. Als Vertrauter und Ratgeber hat Tristan zunächst großen Erfolg: „Er rät Marke zur Konfrontation mit Morold, um die langjährige Abhängigkeit zu beenden und stellt sich selbst zum Zweikampf, er rät auch zur Brautwerbung, als die Stimmung am Hof umschlägt und sich gegen Markes Nachfolgepläne und vor allem gegen Tristan richtet [...]“ (Krüger 2011, 292). Doch Tristan ist auf dem Höhepunkt seiner Macht am Hofe Markes angelangt. Nachdem die irische Königin Isolde ihn von den Folgen des Kampfes mit Morold geheilt hat und er an den Hof Markes zurückgekehrt ist, sieht Tristan seine soziale Position gefestigt, wähnt er sich angekommen in einem neuen und glücklichen Leben: Der wol gemuote Tristan der greif dô wider an sîn leben. im was ein ander leben gegeben:

|| 11 Althoff benennt als Akte der Anerkennung und der Huld eines Herrschers gegenüber einem Günstling die Übergabe von Geschenken, die ehrenvolle Hervorhebung und Bevorzugung in aller Öffentlichkeit sowie das vertrauliche Gespräch (vgl. Althoff 2014, 215).

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er was ein niuborner man. ez huop sich êrste umbe in an; er was dô geil unde vrô. künec unde hof die waren dô ze sînem willen gereit, biz sich diu veige unmüezekeit, der verwâzene nît, der selten iemer gelît, under in begunde üeben, der hêrren vil betrüeben an ir muote und an ir sîten, daz si in der êren benîten unde der werdekeite, die der hof an in leite und al daz lantgesinde. si begunden vil swinde reden ze sînen dingen und in ze mære bringen, er waere ein zouberære (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 8310–8331). Tristan nahm hochgestimmt sein gewohntes Leben wieder auf. Er hatte ein zweites Leben empfangen, er war neu geboren. Erst jetzt fing es eigentlich an: er war voll froher Lebenslust. Der König und der Hof waren ihm zu willen, bis verfluchte Machenschaften, der verdammte Neid, der nie völlig ruht, sich unter ihnen auszubreiten und vieler Herren Herz und Handeln zu verdunkeln begann, indem sie ihm sein Ansehen und die Ehrenstellung missgönnten, die der Hof und das ganze Land ihm zugestanden. Sie begannen, übel von ihm zu reden und das Gerücht zu verbreiten, er sei ein Zauberer.

Es zeigt sich, dass Tristans Hoffnungen auf ein glückendes Leben am Hof Markes auf Sand gebaut sind: Die Institution des Hofes ist ein dynamisches Gebilde – form- und veränderbar durch das nicht nachlassende Begehren der Höflinge um die Gunst des Herrschers, das sich negativ ausdrückt durch den Neid, der nicht schläft, auf die Stellung Tristans. Man fordert Marke auf, sich eine Frau zu nehmen, um Tristan zu schaden. Markes wenig diplomatische Reaktion, dass solange Tristan lebe, es keine Königin an seinem Hofe geben werde, befriedet die Situation am Hofe nicht, sondern schürt vielmehr auf dramatische Weise den Neid von Tristans Gegnern. Die Folge ist, dass Tristan ein Attentat befürchtet und er in ständiger Angst lebt (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 8365–8378). Tristan und Marke beraten sich in großer Vertrautheit über die politische Lage und diskutieren Neid als negative Form der Anerkennung: Die so neu entstandene Ordnung erweist sich jedoch schon bald als brüchig. Interessant ist, dass ihre Vorteile und Gefahren nicht auf der Handlungsebene ausagiert, sondern in Form eines Reflexionsprozesses auf der Figurenebene explizit verhandelt werden. In der

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Diskussion zwischen Marke und Tristan stehen sich zwei Perspektiven auf die Folgen des Neids gegenüber. Marke entwirft das Bild einer Neidgesellschaft als Normalfall. In der durch Neid erzeugten Isolation von der Gruppe spiegele sich Tristans Überlegenheit. Tristan hingegen betont die Macht der Neider. Sie seien es, die die Handlungsgewalt hätten, da sie ihn mit dem Tod bedrohten (Lieberich 2014, 233).12

Der weitere soziale Abstieg des Günstlings Tristan – eine Folge seiner Brautwerbung bzw. des Ehebruchs, der ihn und Isolde am Hof unter permanenten Verdacht stellt und diesen prekär destabilisiert – soll hier nicht nachgezeichnet werden. Aus dem Fall Tristans ist deutlich geworden, dass für den Günstling „die Kopplung von Freundschaft und Politik in der Beziehung zum Herrscher“ von erheblicher Bedeutung ist: „Das Verhältnis der beiden läßt sich nicht trennen in eine privat-freundschaftliche bzw. verwandtschaftliche und eine politische Beziehung, in der Tristan als Berater des Königs auftritt“ (Krüger 2011, 293–294). Wo sich Freundschaft13 seit der Antike durch das Prinzip der Gleichheit (der Freunde) auszeichnet, zeigt sich die Bindung zwischen Herrscher und Günstling strukturell durch eine Asymmetrie geformt, die durch Akte der Anerkennung nicht auf Dauer überwunden, aber augenblickshaft ausgesetzt werden kann. Tristans Karriere am Hof Markes folgt dem Gesetz von Aufstieg und Fall des Favoriten, wie er sich an vielen historischen Beispielen vor allem im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit belegen läßt. Auf den rasanten Aufstieg [...] folgt die Machtakkumulation und schließlich der Höhepunkt mit der Ernennung zum Thronfolger. An diesem Punkt entzündet sich der Widerstand der Hofgesellschaft und Tristan muß um sein Leben fürchten. Neid und Mißgunst des Hofes auf Tristans Erfolg wird als allgemeine Stimmung des Hofes geschildert (Krüger 2011, 293).

3.2 Herzog Ernst Von einem temporären Einrücken in eine persönliche Gunst- und Vertrauensstellung erzählt auch der im 12. Jahrhundert entstandene, gattungsgeschichtlich zwischen heldenepischem und höfischem Erzählen changierende Herzog Ernst:

|| 12 Vgl. hierzu auch Gruenter 2013; Jaeger 1984. 13 Auch für Tristan gilt: Der Favorit ist charakterisiert durch „eine persönliche und tendenziell exklusive Gunst des Herrschers, die über das übliche Vertrauen gegenüber wichtigen Amtsträgern hinausgeht. Diese Gunst beruht vielfach auf persönlicher Freundschaft oder Zuneigung, die unter Umständen auch eine erotische Komponente besitzen kann, (...) gelegentlich auch bei den Favoriten männlicher Herrscher“ (Asch 2003, 37). Vgl. hierzu aus germanistischer Perspektive: Diem 2009; Michaelis 2011.

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man sagt, dô im sîn vater starp, / er was ein kleinez kindelîn (Herzog Ernst, V. 60– 61; „Als ihm der Vater gestorben war, erzählt man, da war er noch ein kleiner Junge“). Früh verliert Herzog Ernst – so erzählt es die Kernfabel des gleichnamigen höfischen Erzähltextes – seinen Vater. Auffällig scheint, dass der Tod des Vaters erzählerisch nur karg ausgestaltet ist: Dieser erhält keinen Namen, eine Sterbeszene findet sich nicht im Text, noch erhält der Sohn eine väterliche Lehre, wie man z. B. ein guter Herrscher wird und ist.14 All dies hätte Ernst in seiner Identitätsbildung zweifellos unterstützt, ihm in der Auseinandersetzung mit der kaiserlichen Gewalt, mit der er im Verlauf des Epos in Konflikt gerät, weitergeholfen. Lehnsmänner sowie die junge Mutter Adelheid sorgen für den jungen Ernst. Sie übernehmen damit grundsätzliche Funktionen wie Ernährung und Erziehung, die sonst der väterlichen Instanz zugeschrieben werden. Doch bildet der Vatertod eine Lücke, die gefüllt werden muss. Denn die genealogische Normalität ist mit dem Verlust des Vaters unweigerlich gestört. Doch der Verlust des Vaters ermöglicht im Herzog Ernst erzählerisch den Fortgang der Handlung in doppelter Hinsicht. Auf die Witwe fällt nämlich die Aufmerksamkeit des ebenfalls verwitweten Kaisers: Otto ist nach dem Tod Ottegebes frei für eine erneute Bindung und Heirat. Adelheids Sohn, narrativ die zweite Folge des Todes von Ernsts Vater, wird zum Stiefsohn und engsten Vertrauten des Kaisers. Otto empfängt nach seiner Hochzeit mit Adelheid, die sich das Einverständnis ihres Sohnes in Bezug auf ihre Heirat mit dem Kaiser gesichert hat,15 deren Nachkommen mit folgenden Worten: „jungelinc gemeit, ez ist dir sæliclich ergân. ich wil dich zeime sune hân die wîle und wir bêde leben. ich wil dir lîhen und geben sô vil mînes guotes, daz du dîns holdes muotes nimmer entwîchest mir.“ (Herzog Ernst, V. 582–589). „Stolzer junger Mann, dir ist viel Glück zuteil geworden. Ich will dich als meinen Sohn betrachten, so lange wie wir beide leben. Ich will Dir von meinem Besitz so viel als Lehen geben, dass du mir immer dar zugeneigt bleiben sollst.“

|| 14 Für derartige Motive lassen sich in der mittelhochdeutschen Literatur um 1200 vielfache Belege anführen. Vgl. etwa die Textbeispiele bei Keller (et al.) 2006. 15 Adelheid setzt alles daran, um die êre von Ernst zu steigern. Auch ihre Hochzeit mit Kaiser Otto – ein Mittel adliger Herrschaftspolitik – ist in dieser Perspektive zu sehen. Vgl. Kasten 2002.

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Doch erhält Ernst als Akte der Anerkennung des Kaisers nicht nur Lehen und vielfältige Gaben – Silber und Gold bekommt er geschenkt von Otto, ohne dass diese abgewogen würden! [A]ls ein einigez kint (Herzog Ernst, V. 610; „wie seinen eigenen Sohn“) behandelt der Herrscher den Herzog. Ernst ist in der Folge oft am Hofe und genießt aufgrund seiner Ratgeberschaft außerordentliches Vertrauen und Ansehen: sîn name stuont in allen obe / die ze manigen jâren / des keisers rat wâren (Herzog Ernst, V. 632–634; „sein Name stand an der Spitze von allen denjenigen, die lange Zeit schon des Kaisers Ratgeber waren“). Der Mangel, der die Vaterlosigkeit Ernsts in genealogischer Perspektive bedeutet, ist durch das auf Anerkennung zielende Handeln des Kaisers aufgehoben. Es scheint aber, als ob dieser Mangel latent vorhanden bleibt, als ob die machtpolitischen Folgen, die mit dem Tod des Vaters verbunden sind, nicht bewältigt werden können. Denn Ernsts Stellung im Machtgefüge um den Kaiser ist aufgrund seiner plötzlichen Favoritenstellung, wie die gegen ihn in Gang gesetzte Intrige zeigt, prekär, unsicher und instabil. Anders ausgedrückt: Wenn es stimmt, dass Konzeptionen von Vater-Sohn-Beziehungen in der Regel entweder als Kontinuitätsbeziehungen oder als Konkurrenzbeziehungen charakterisiert werden können (vgl. Mecklenburg 2006), dann scheint der Herzog Ernst beide Konzeptionen zu überblenden. Mit dem vorzeitigen Tod des Vaters droht die Kontinuität genealogisch zu einem Problem zu werden, mit der Heirat von Otto und Adelheid ist dann die Kontinuitätsproblematik (scheinbar) aufgehoben. Doch sind diese Verbindung und die daraus entstehenden Folgen für Ernst der Grund, ein Grund dafür, dass sich das Verhältnis von Stiefvater und Stiefsohn zu einer Konkurrenzbeziehung entwickelt, die offenbar durch die Vertrauen bildenden Maßnahmen des Kaisers, seine Akte der Anerkennung, nicht aufgehoben werden können. Sein späterer Ersatzvater bietet Ernst aber derart viel Macht an, dass die Forschung von „einer Art ‚Mitregentschaft‘ gesprochen hat“ (Meves 1976, 152; vgl. auch Ebel 2000). Otto bittet nämlich seinen Stiefsohn: „und hilf daz ich daz rîche sô bewar und sô geslîhte, daz ieman dar inne rihte weder roup noch den brant: des ich dir, edele wigânt, mit triuwen immer lônen will.“ (Herzog Ernst, V. 595–601). „und hilf mir, dass ich das Reich so bewahre und so verwalte, dass niemand darin Raub oder Feuersbrunst anstifte. Dafür will ich dich, edler Held, stets belohnen.“

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Ein solches Angebot, das vielleicht doch nicht für „Ottos Geschick“ spricht, „daß er ihn [Herzog Ernst; M.B.] von Anfang an in die Verwaltung des Reiches einbezieht“ (Behr 2004, 64) macht das etablierte Machtgefüge instabil. Der Kaiser selbst ruft durch sein Verhalten die Intrige eines Verwandten hervor, der sich durch die hervorgehobene Stellung Ernsts zurückgesetzt sieht. Doch ist dies nicht nur ein persönlicher Beweggrund: Der Neid Heinrichs ist Ausdruck der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Systems am Hof (vgl. Behr 2004, 64). Der Aufstieg des neuen Günstlings kann von den Strukturen des ‚Personenverbandsstaats‘ nämlich nicht aufgefangen werden, er erzeugt unweigerlich Dynamik und Konkurrenz. Auf die Intrige, das Listhandeln des Pfalzgrafen vom Rhein, fällt der Kaiser rasch herein. Konkrete Beweise, dass Ernst sich an die Stelle Ottos bringen will, kann Heinrich nicht und muss Heinrich nicht beibringen. Er kann und muss Otto nur glaubhaft – vom Hörensagen! – versichern, dass Herzog Ernst an der ganzen Macht des Kaisers interessiert sei, er also einen Umsturzversuch plane und die anderen Fürsten schon hinter sich versammelt habe. Heinrich hält sich bei seiner Intrige an die Spielregeln höfischer Machtpolitik und sichert dadurch seinen Erfolg: „Teil der Intrige Heinrichs ist, dass er vorgibt, sich an diese indirekten Kommunikationsregeln zu halten: Angeblich verwendet sich Heinrich als Mittelsmann für die Belange eines Dritten […]“ (Ebel 2000, 193). Auffälliger Weise zeigt Otto an dieser Stelle keine Neigung, den Vorwürfen des vermeintlich besorgten Ratgebers auf den Grund zu gehen, etwa dadurch, dass er den ‚Zeugen‘, auf den Heinrich sich beruft, persönlich befragt oder in Kontakt mit Ernst selbst tritt und ihm damit sein Vertrauen zeigt. Ihm mangelt es hier an Neugier, an einer Art von Wissen, das Ernst vielleicht in Griechenland kennengelernt hatte. Er gibt sich damit zufrieden, dass Heinrichs „Einhaltung strikt reglementierter, kommunikativer Regeln im Gespräch“ mit ihm „der Intrige Plausibilität verleiht“ (Ebel 2000, 194). Damit ist ein erster Schritt des (rasch eskalierenden) Gunstentzugs vollzogen, der in einem langjährigen militärischen Konflikt zwischen Otto und Ernst mündet.

4 Ausblick Beide Beispiele aus dem Bereich der höfischen Literatur zeigen und betonen – nicht untypisch – das Scheitern eines Günstlings am Hof; beide Beispiele zeigen auch die Überblendung spezifischer Muster, die das Institut des Günstlings im literarischen Diskurs auszeichnen: Dazu gehören jene der Verwandtschaft (Vaterlosigkeit) und der (politischen) Freundschaft, des exklusiven Vertrauens und der bindenden Anerkennung. Der Günstling bietet auch deshalb ein wichtiges

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und reiches Forschungsfeld, weil es einerseits „ein epochenübergreifendes politisches Phänomen“ (Drews 2015, 109) behandelt und andererseits eine transkulturelle Erscheinung darstellt. Es ist keine Frage, „dass sich die Rolle des Günstlings in vielen unterschiedlichen historischen Konstellationen ausprägen konnte“ (Drews 2015, 146). Nach den Formen und Funktionen von Günstlingen in sozialen Gefügen (wie dem Hof) zu fragen, heißt auch Fragen zu stellen nach der Konstruktion von je divergierenden Identität(en) und Anerkennungsprozessen. Allerdings sollte dabei Beachtung finden, dass sich das Verhältnis von Herrscher und Günstling – so universal diese Struktur auch sein mag – doch in erheblicher Unterschiedlichkeit ausbildet: Wenn man mit Niklas Luhmann ‚Rangunterschiede, damit das Vorhandensein einer stratifizierten Gesellschaft als elementare Voraussetzung für das Herausbilden einer dem Verhältnis Herr/Favorit verwandten Patron/Klient-Beziehung bestimmt‘, dann bleibt zu bedenken, dass solche Annahmen von spezifisch westeuropäischen Strukturen ausgehen, die für die byzantinische, islamische oder ostasiatische Welt jeweils gesondert zu hinterfragen sind (Drews 2015, 146).

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Elisabeth Schmid, Würzburg

Das narrative Potential des Eremiten Schlägt man in Elisabeth Frenzels Motiven der Weltliteratur das Stichwort Einsiedler auf (Frenzel 1992, 128–148), findet man einen Eintrag von 20 Seiten. Vertreten sind in der jüdisch-christlichen Tradition beinahe alle literarischen Gattungen, und die Beispiele reichen vom biblischen Johannes dem Täufer über die Viten der Wüstenväter im 4. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert, in dem die Konjunktur abzuflauen beginnt. Als die vielleicht prominenteste Gestaltung der Moderne sei Gustave Flauberts Prosagedicht La Tentation de Saint Antoine (publiziert 1874) erwähnt. Das Motiv des Eremiten interessiert mich, weil es in der ja eminent christlich geprägten Literatur der Vormoderne erstaunlich vielfältige Aspekte und Facetten des jeweiligen kulturellen Selbstverständnisses darbietet. Den Einsiedler finden wir bereits in den vielleicht ältesten Romanen des Mittelalters als feste Größe etabliert, und nicht nur als religiöse Ingredienz in einem ansonsten weltlichen Genre. Bereits die ältesten Großerzählungen, der Tristanroman Berols und Eilharts und der Percevalroman des Chrétien de Troyes (entstanden zwischen 1170 und 1190) setzen den geistlichen Ratgeber nicht nur als Anlaufstelle für die in ihre weltlichen Sünden verstrickten Romanhelden ein, sondern auch für die Organisation des Erzählzusammenhangs: So fungiert der Eremit in den Tristan-Erzählungen als Vermittler zwischen den Liebenden und König Marke, sorgt aber auch dafür, dass die Handlung weitergeht: Als Tristan und Yseut nämlich bei Berol den Eremiten Ogrin zum zweiten Mal aufsuchen, diesmal zur Reue bereit, da der Trank seine Wirkung verloren hat, treffen sie den im wilden Wald eingenisteten Mann merkwürdiger Weise lesend an: L’ermite Ogrin trovent lisant (Berol 1962, V. 2292). Die Erzählung führt ihre Eremitenfigur somit als literarisch gebildeten Kleriker ein. Durch diesen Kunstgriff exponiert sie den Einsiedler zugleich im Spannungsfeld der Wildnis und der zivilisierten Welt und motiviert zudem die spezielle Mittlerfunktion dieses in der Schriftkultur versierten Ratgebers. Die besteht nämlich hier darin, dem König Marke einen Brief zu schreiben (Berol 1962, V. 2355–2432). Eilhart wiederum verstärkt darüber hinaus sowohl die theologische als auch soziologische Mittlerfunktion des geistlichen Mannes, indem er den Eremiten zu König Markes Beichtvater macht (Eilhart von Oberge 1877, V. 4702–4814). Damit teilt er gerade dem vom Weltleben Abgekehrten eine bedeutende kommunikative Rolle zu. Eilharts Einsiedler waltet als Mediator zwischen dem Jenseits und dem menschlichen Sünder sowie zwischen den aus der Gesellschaft Ausgestoßenen und der weltlichen Macht. In Chrétiens Percevalroman schließlich wird die Einkehr beim Einsiedler zur Keim-

DOI 10.1515/9783110556438-011

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zelle der Erzählform, welche die unterschiedlichen Traditionen des Gralromans ausbilden werden, namentlich der Prosa-Lancelot und besonders die Queste nach dem Gral. Dort dienen die wiederkehrenden Stationen bei einem Einsiedler nicht nur dazu, den Rittern auf der Suche Rat und Unterkunft zu bieten, sondern ihr oft geheimes und prophetisches Wissen befähigt die Eremiten dazu, die Abenteuer der Ritter zu perspektivieren und geistlich auszulegen. Somit bildet sich die Einsiedlerepisode in den Artus-Gralromanen zu einem hervorragenden strukturellen Moment der Erzählung aus. Interessanter Weise haben in den genannten Beispielen die in ihre weltlichen Leidenschaften verwickelten Ratsuchenden auf ihre eigene Art Anteil an der wilden Lebensform, die ihr geistlicher Ratgeber angenommen hat. Tristan und Yseut haben sich im wilden Wald nur von Wurzeln genährt, Perceval ist seit fünf Jahren durch die wüste Wildnis geirrt. Zusammengenommen spielen die genannten Konstellationen die semantische Mehrwertigkeit des Zustandes in der Wildnis aus. Als Negation zivilisierten Lebens ist der Aufenthalt in der Wildnis im Fall von Tristan und Yseut die Metapher ihrer gesellschaftlichen Ächtung, steht der verwilderte Zustand in Percevals Fall für die Gottferne des Gralhelden und markiert er beim Einsiedler schließlich dessen Abkehr von den Regeln, welches die weltliche Gesellschaftsordnung vorschreibt. Die literarischen Zeichnungen des Einsiedlerlebens reflektieren durchaus die von Historikern gesammelten Zeugnisse der neuen eremitischen Lebensformen, wie sie im Laufe des 10. Jahrhunderts aufkommen – das heißt, soweit wir sie kennen. Denn da die Einsiedler – aus naheliegenden Gründen – ihre Lebensweise nicht schriftlich dokumentierten, ist diese oft nur durch knappe Nachrichten in Chroniken bekannt (Mertens 1978, 51) Einige Eremiten gründeten jedoch in ihrer späteren Lebenszeit Klöster oder eremitische Gemeinschaften, so dass ihr Andenken bewahrt wurde (Mertens 1978, 50–51). Mertens hat seinerzeit in seiner Studie über Hartmanns Gregorius aus den aufgezeichneten Vitae herausragender Eremitengestalten eine Typik der Lebensform des Einsiedlers entworfen. Ihr zufolge erscheint die Weltflucht motiviert durch eine plötzliche Umkehr. Das kann die Reaktion auf persönliches Unglück sein oder die Buße für eine Verfehlung oder aber auch eine freiwillige geleistete Buße (poenitentia spontanea et gratuita) sein (Mertens 1978, 49–50). Dabei ist die Kluft zu betonen, welche das Einsiedlerleben von der klösterlichen Lebensform trennt. Nicht zuletzt das Klostergärtlein und der Name ‚Himmelspfort‘ mancher Klöster zeigt an, dass die Mönche ihr Klosterleben als kulturelle Leistung und den Klosterraum als eine Art geschlossenes Paradies begreifen. Der Eremit dagegen sucht gerade einen unwirtlichen Ort auf (Wald, Schlucht, wüste Insel) und stellt sich durch radikale Weltverneinung in den Gegensatz zu den Formen zivilisierten Lebens (Mertens 1978, 50). Indem die Eremi-

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ten sich durch ein strikt kontemplatives Leben, jedoch insbesondere durch ihre Predigten außerhalb der kirchlichen Institutionen stellen, erregen sie Argwohn sowohl seitens der Orden als auch der Amtskirche (Mertens 1978, 51–52). Der Eremit wolle heiliger sein als heilig, lautet der Vorwurf.1 Nicht zuletzt nehmen Weltgeistliche und Mönche Anstoß am verwilderten Aussehen der Einsiedler (Mertens 1978, 47). Das eremitische Programm eröffnete jedoch eine heiligmäßige Lebensform für einen Laien und versprach die höchste Stufe der Heiligung (Mertens 1978, 53). Gerade die radikal gelebte Einsamkeit, die Askese und Armut der Eremiten begründeten deren Glaubwürdigkeit bei der ungebildeten Bevölkerung und erklärt den großen Einfluss der Eremitenpredigt auf die Laien (Mertens 1978, 49). In meinem Beitrag kommen drei Beispiele aus Romanen zur Sprache, die unterschiedlichen Epochen der Vormoderne angehören: erstens, Le livre du Cœur d’Amour épris („Der Roman vom liebesentbrannten Herzen“) des René von Anjou, verfasst 1457; zweitens, der Parzival Wolframs vom Eschenbach, kurz nach 1200 entstanden; und drittens, der Simplicissimus Teutsch des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, zuerst erschienen 1669. In allen drei Fällen ist der Einsiedler nicht die Hauptfigur eines durchgängigen Narrativs, sondern die Einkehr beim Eremiten bildet eine Episode auf dem Weg des Protagonisten. Dabei ist der Eremit jedes Mal durch seine Intervention in einer Krise der Hauptfigur von Bedeutung. Insofern gehören die drei Beispiele in eine gemeinsame Tradition. Darüber hinaus ist ihnen gemeinsam, dass der Eremit nicht in seiner episodischen Funktion aufgeht, und vor allem, dass in jeder der drei literarischen Gestaltungen des Einsiedlermotivs das religiöse und das profane Leben, die Wildnis und die adlige Zivilisation, Natur und Kultur – sehr unterschiedlich, aber stets prägnant – ineinander gespiegelt werden.

1 Le livre du Cœur d’Amour épris ist in erster Linie berühmt seiner Miniaturen wegen. Sie werden heute allgemein dem flämischen Miniaturenmaler Barthé lemy van Eyck zugeschrieben, der jedenfalls in den Jahren 1447 / 1470 in den Diensten des Herzogs René von Anjou stand. Dieser lebte von 1409 bis 1480 und war seinerseits nicht nur ein hochmögender Fürst und Veranstalter prunkvoller Turniere, sondern auch ein Autor und bedeutender Mäzen.2 An seinem Hof ent-

|| 1 „geretteter“: magis salvus (Mertens 1978, 52). 2 Lexikon des Mittelalters. Bd. VII, 1995, Sp. 727–728.

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stand z. B. die französische Übersetzung von Boccaccios Filostrato und Teseida.3 Er sei einer der ersten gewesen, sagt die Literaturgeschichte, der in Frankreich die italienische Dichtung Petrarcas bekannt gemacht habe. Das Buch vom liebesentbrannten Herzen hat der Autor, so heißt es im letzten Vers des Epilogs, im Jahr 1457 verfasst. Es handelt sich dabei um einen allegorischen Roman, der – kurz gesagt – die Erzählstruktur zweier mittelalterlicher Romane verbindet: zum einen die allegorische Traumerzählung des ersten Rosenromans, dessen Personal aus moralischen Eigenschaften und Instanzen der Seele besteht, die zugunsten des Liebenden oder gegen ihn interagieren; einerseits also Personifizierungen höfischer Tugenden wie Courtoisie, Bel accueil, Honneur, Largesse, aber auch geistlich relevante Größen wie Pitié und Espérance. Dagegen intrigieren der Liebe feindlich gesinnte Mächte wie Zurückweisung, Widerstand, Verleumdung, Scham, Melancholie, Eifersucht, Sorge und Zorn. Zum anderen realisiert die Abenteuersuche als Stationenweg die Erzählform der Queste mit deren diversen Einkehren bei Eremiten, wie sie der Lancelot-Gral-Zyklus entwickelt hatte. Allerdings begibt sich die ‚das Herz‘ genannte Personifikation des IchErzählers als fahrender Ritter nicht auf die Suche nach dem Gral, sondern auf die Suche nach Doulce Merci („Süße Erhörung“). Zweimal findet im Roman eine Einkehr in einer Eremitage statt. In der zweiten Station trifft das Herz einen den weltlichen Liebenden wohlgesonnenen Einsiedler an, bei dem bereits Frau Hoffnung zu Gast ist und der den Ritter Herz und seinen Begleiter Begehren freundlich aufnimmt, verköstigt und beherbergt. Die erste Einsiedelei aber, sie bildet auch die erste Episode der Queste, stellt sich als Falle heraus: Nachdem die Ritter Herz und Begehren von Frau Hoffnung moralisch für ihre Suche gerüstet worden waren, brechen sie auf. Begehren sprengt zuerst davon, schlägt den breiten Weg linkerhand4 ein, und das Herz folgt ihm bereitwillig über Berg und Tal. Wir jedoch sind gewarnt und vermerken, als das Herz endlich, nach Tagen entbehrungsreichen Reitens, eine Eremitage vor sich auftauchen sieht, die Epitheta, die den sich neben ihr erhebenden mächtigen Wald charakterisieren: greulich, finster, fürchterlich. Die Einsiedelei ist eine in altertümlicher Art (d’ancienne fazçon), heißt es, erbaute Kapelle (René d’Anjou 2003, 110, 34). Auf höchst subtile Weise markiert die Abbildung die historische Distanz der eigenen || 3 Dictionnaire des Lettres françaises 1992, 1259 4 Der traditionellen Richtungssymbolik zufolge führt der Weg linkerhand in die verkehrte Richtung. Die Kennzeichnung der Breite wiederum spielt auf den Vers Mt 7,13 an, demzufolge die breite Straße ins Verderben führt.

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Gegenwart zur Hochzeit der eremitischen Bewegung nach dem Jahr 1000 (Mertens 1978, 45), indem sie uns ein im romanischen Stil gehaltenes Gebäude vorstellt. Da springt aus der Pforte eine hässliche Zwergin, eine weibliche Missgestalt. Ihrer Beschreibung nach ist sie eine entfernte Verwandte des Waldmenschen aus dem Yvainroman: eine wilde Frau. Aber anders als im Yvain ist hier das monströse Aussehen dieses Geschöpfs der Ausdruck von dessen ungeheurem Wesen. Der Name des weiblichen Ungeheuers ist Jalousie, was in diesem Fall wohl am treffendsten durch Missgunst wiederzugeben ist. Frau Missgunst gibt vor, als Sprachrohr eines vorgeblich in der Klause hausenden Einsiedlers zu fungieren. Ihren Worten zufolge ist dessen Gelübde des einsamen Lebens so streng, dass er bereits die Berührung mit der weltlichen Liebe ergebenen Leuten als unerträgliche Sünde ansehen würde. Ne pouez ceans herberger Car l’ermite qui est tout seulx N’a cure de gens amoureux, Car contre ses veuz feroit, Dont grandement mesferoit; Et quant vous le vouldrez forcer, Le feu vouldra ceans bouter. Comme il l’a dit je vous le rapporte, Et m’a dit que ferme la porte.

Ihr könnt hier nicht übernachten, Denn der Einsiedler, der ganz allein ist, Kann nichts anfangen mit verliebten Leuten, Denn er würde gegen sein Gelübde verstoßen, Was eine schwere Verfehlung wäre; Und wenn ihr ihn zwingen wollt, Wird er die Wohnung in Brand setzen. So, wie er es gesagt hat, berichte ich es euch. Und er hat mir gesagt, ich soll die Türe zuschließen.

(118, 232–240)

Diese Zeichnung des Einsiedlers als rabiater und menschenscheuer Eigenbrötler ist eine Karikatur, wie sie wohl der weltlich gesinnte Klerus und die der Weltlust ergebenen Höflinge goutieren mochten. Doch der angebliche Bericht ist natürlich eine Erfindung, es gibt in dieser Klause gar keinen Eremiten. Die Beschreibung kommt aus dem Mund der Missgunst, und die ist eine hässliche Zwergin. Die Erzählung charakterisiert sie als Verächterin zivilisierter Umgangsformen und als heimtückische Verräterin an den Liebenden. Diese Untugend ist jedoch nicht nur im Kategoriensystem der höfischen Tugenden, das in diesem Roman Geltung hat, verpönt, sondern die Missgunst diskreditiert sich in der Optik dieser Erzählung selbst als das Asoziale schlechthin. Dennoch weist diese Menschenfeindin eine gewisse Verwandtschaft mit demjenigen Typus des Einsiedlers auf, der in frommer Absicht dem Leben in der Gesellschaft abgeschworen hat. In dieser Hinsicht ist es höchst interessant, dass Frau Missgunst, diese ungeheure Gestalt, in unserer Erzählung das Gehäuse eines Eremiten usurpiert hat.

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2 Die Bedeutung von Frau Missgunst, der falschen Einsiedlerin, reicht über die ihr gewidmete Episode hinaus. Der Weg, den sie den Gefährten weist, führt nämlich nicht wie angekündigt zum Hotel „Schöner Aufenthalt“, sondern in wüste Gegenden, wo Melancholie, Trauer und Seufzen hausen und Kämpfe gegen Sorge und Zorn zu bestehen sind. Dennoch darf sich ihre Einbindung in den Er zählzusammenhang nicht messen mit der Vernetzung des Einsiedlers Trevrizent im Beziehungssystem von Wolframs Parzival. Denn dieser geistliche Ratgeber – von dem sich dann herausstellt, dass er der Bruder von Parzivals Mutter ist – ragt in weit auseinander liegende Erzählräume und entfernte Etappen der weit verzweigten Geschichte hinein. Zuerst erfährt Parzival im fünften Buch nach seinem verunglückten Besuch auf Munsalvaesche durch seine Cousine Sigune von einem Mitglied der Gralsfamilie, ein Bruder des gelähmten Königs habe sich einem Leben in Armut ergeben: durch got für sünde er daz tuot: / der selbe heizet Trevrizent (Wolfram von Eschenbach 1994, 251, 14–15). Viel später wird dann erklärt, dass dessen Bekehrung zum Leben eines Büßers die Reaktion auf eine familiäre Krise war. Trevrizent ist der Bruder des Gralskönigs und hat dem Ritterleben entsagt, um Gott dazu zu bewegen, den kranken König von seinem Leiden zu erlösen (480, 10–18). Zum zweiten Mal fällt sein Name, als Parzival nach der Begegnung mit Sigune aus der den Gralsbereich umgebenden Wildnis in die Welt der Ritterabenteuer zurückkehrt. Jetzt wird Parzival von seiner Vergangenheit eingeholt, und zwar in Gestalt der armen Herzogin Jeschute, der er seinerzeit in kindlichem Unverstand Gewalt angetan hatte und der ihr Mann Orilus für ihre vermeintliche Untreue seither ein elendes Leben bereitete. Durch seinen Sieg im Zweikampf kann Parzival diesen Ritter dazu zwingen, sich mit der von ihm zu Unrecht verfolgten Freundin zu versöhnen. Um deren Unschuld an seinem einstigen kindlichen Übergriff jedoch zu beweisen, ist Parzival bereit, einen heiligen Eid zu schwören. Der geweihte Gegenstand, auf dem der Eid abzulegen ist, findet sich in einer offenbar nahe gelegenen Höhle, der Behausung eines Einsiedlers.

si bêde und ouch diu frouwe riten für eine klôsen in eins velses want. eine kefsen Parzivâl dâ vant: ein gemâlet sper derbî dâ lent. der einsidel hiez Trevrizent. (268, 26–30)

Diese beiden und die Dame ritten zu einer Klause hin in einer Felswand. Da fand Parzival ein Reliquienkästchen, daneben lehnte ein bemalter Speer, der Einsiedler hieß Trevrizent.

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An diesem Punkt führt die Erzählung haarscharf an der Begegnung des Helden mit dem Einsiedleronkel vorbei, zu der sie es indessen mit Bedacht erst im neunten Buch, viele Dreißiger später, kommen lassen wird, als die Zeit gekommen ist, Parzival die Geheimnisse des Grals zu eröffnen (453, 5–10). Die Felshöhle ist leer, jedoch stoßen an diesem Ort ritterliches Tjostiergelände, unwirtliche Wildnis und liturgischer Raum hart aufeinander und laden ihn mit Bedeutung auf. Neben dem religiösen Gerät – als hätten wir es mit einem emblematischen Arrangement zu tun – ist ein profanes Requisit des Rittertums ausgestellt, der Speer. Im neunten Buch wird Parzival den Einsiedler in eben dieser Höhle vorfinden, woran uns die Erzählung explizit erinnern wird (452, 13–30). Der sakrale Gegenstand und die Waffe, beide Requisiten, dienen nun dazu, den während seiner Irrfahrt aus der Zeit gefallenen Parzival wieder räumlich und zeitlich zu verorten. Die kefse (vgl. lat. capsula), die Reliquienkapsel also, steht immer noch da, und Parzival erkennt mit dem geweihten Gegenstand, durch den er seinen Eid geheiligt hatte, den Ort wieder. Mit dem Kästchen kommt auch die Erinnerung an den Speer zurück, den er bei dieser Gelegenheit mitgenommen und tags darauf bei den Blutstropfen im Schnee, im Zustand der Trance, verstochen hatte. An den Speer aber erinnert sich auch der Einsiedler, ein Besucher hatte ihn einmal in seiner Höhle vergessen. Der Einsiedler zückt seinen Psalter und rechnet seinem Gast nun anhand des in seinem Psalter eingetragenen Kalenders die Jahre und die Zahl der Wochen vor, die seither vergangen sind – es sind genau viereinhalb Jahre und drei Tage (460, 22) – und holt den Orientierungslosen damit in das zeitliche Kontinuum – und in die Zeit des Heils – zurück. Der fromme Einsiedler Trevrizent ist kein geweihter Priester, jedoch, wie in der Tristanerzählung Berols, buchgelehrt. Er beruft sich zur Beglaubigung der Unterweisung, die er seinem Gast verabreicht, auf die Heiligen Schriften: doch ich ein leie wære, der wâren buoche mære kunde ich lesen unde schrîben. (462, 11–13)

Obwohl ich ein Laie bin. habe ich gelesen, was die wahren Bücher berichten, und ich kann schreiben.

Wolframs Einsiedler ist zudem, wie wir später erfahren, als er Parzival von seinen Sünden losbindet, mit sakramentalen Befugnissen ausgestattet. Außerdem wird er Parzivals religiöse Unterweisung endigen, indem er – und das ist vielleicht untypisch für das traditionelle Profil des Eremiten – ein Lob des Priester-

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stands anstimmt. Vielleicht folgt er damit der Vorgabe des Conte du Graal, wo der Einsiedleronkel Perceval den regelmäßigen Kirchgang ans Herz legt.5 Wolframs Einsiedler ist eine höchst individuell gestaltete Figur, ein gemischter Charakter und insofern den offensichtlichen Mischwesen der erzählten Welt – etwa der Gralsbotin Cundrie la surziere – in gewisser Weise verwandt. Als theologische Autorität ist er schroff und unerbittlich, etwa wenn er auf Parzivals Anklage Gottes reagiert: sît rede und werke niht sô frî, wan der sîn leit sô richet daz er unkiusche sprichet, von des lône tuon i’u kunt, in urteilt sîn selbes munt. (465, 14–18)

Seid nicht so freimütig mit eurer Rede und eurem Tun, denn wer sich für sein Leiden so rächt, dass er unverschämte Reden führt: den Lohn, den der bekommt, sage ich Euch: ihm spricht sein eigener Mund das Urteil!

Und am Ende des Aufenthalts, nachdem beinahe alle Probleme ausgesprochen und die Verwandtschaftsverhältnisse geklärt sind, trägt Parzival nach, wie er zu seinem Pferd mit dem Gralswappen gekommen ist, indem er es nämlich im Kampf einem Ritter von Munsalvaesche abnahm. Da kann der fromme Gottesmann weder seine Treue zu seinem angestammten Clan noch sein cholerisches Temperament verleugnen: wiltû sgrâles volc sus rouben und dâ bî des gelouben, dû gewinnes ir noch minne, sô zweient sich die sinne. (500, 15–18)

willst du das Volk des Grals auf diese Weise berauben und dabei noch meinen, dass du noch einmal ihre Liebe erringen wirst, dann gehen die Meinungen weit auseinander.6

ouwê ist bereits das erste Wort, das wir von ihm hören, als er Parzivals in seinem ritterlichen Aufzug ansichtig wird.

ouwê, hêr, daz iu sus geschach in dirre heileclîchen zît. […]

Oh weh, Herr, dass es Euch so ergehen musste, an diesem heiligen Tag. […]

|| 5 Vgl. Wolfram von Eschenbach 1994, 502, 7–22 und Chrétien de Troyes 1993, 6440–6458. 6 Ich folge hier der Auffassung von Peter Knecht (Wolfram von Eschenbach 1998). Dieter Kühn übersetzt: „dann spaltet sich dein Denken auf“ (Wolfram von Eschenbach 1994).

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sô stüende iu baz ein ander wât, lieze iuch hôchferte rât. nû ruocht erbeizen, herre, (ich wæne iu daz iht werre) und erwarmt bî einem fiure. (456, 6–15)

Euch stünde ein anderes Gewand besser zu Gesicht, würde es Euch Euer Hochmut gestatten. Nun steigt ab, Herr, seid so gut, (ich glaube, das wird Euch nicht schaden) und lasst Euch bei einem Feuer warm werden.

In der Aufforderung abzusteigen zeigt sich Trevrizents Doppelcharakter geradezu exemplarisch: Zum einen tadelt er, dass sein Gast sich dem Ort der geistlichen Einkehr, dazu noch an einem Karfreitag, hoch zu Pferd nähert und nicht zu Fuß, wie es die Pilger vorgemacht haben, die Parzival den Weg zum Einsiedler gewiesen hatten. Zum andern ist die Einladung abzusteigen der Ausdruck einer in den höfischen Gepflogenheiten versierten Gastfreundschaft. Trevrizent legt gleich zu Beginn der Begegnung Wert darauf, von seinem Gast nicht für einen Einsiedler vom Typus des unbedarften, scheuen Waldbewohners gehalten zu werden, wie wir ihn z. B. aus Hartmanns Iwein kennen (Hartmann von Aue 2004, V. 3283–3299), sondern er streicht seine Vergangenheit als Ritter und adliger Weltmann heraus (ich was ein riter als ir sît / der ouch nâch hôher minne ranc, 458, 6–7). Der Einsiedler nimmt das Pferd des Gastes beim Zaum und besteht darauf, es eigenhändig zu versorgen. Dessen Unterkunft ist zwar nur ein schattiger Platz unter einer Felswand (ein wilder marstal, 458, 29), durch den eine Quelle hindurchrinnt: ein Waldstall, doch ein eigens für das Pferd reservierter Ort (458, 14–30). Durch diese kundige Fürsorge weist der Eremit gezielt auf seine Herkunft aus der adligen Reiterkaste hin. Indem er das tut, was in der adligen Kultur die Aufgabe der Pferdeknechte wäre, übt er sich zugleich in christlicher Demut. Bereits diese erste Finesse zeigt, wie detailgenau der Dichter arbeitet und wie sehr ihm daran gelegen ist, in seiner Gestaltung des Einsiedlermotivs das religiöse Leben in den Ausdrucksformen der profanen Adelskultur zu spiegeln. Denn das Felsengeklüfte, das Trevrizent bewohnt, bildet – im Register der Wildnis – Punkt für Punkt die höfische Raumordnung nach. Zuerst wird Parzival in eine Höhle geführt (gruft, 459, 5), in der ein Kohlenfeuer Wärme verbreitet und ein Teppich aus Farn und Stroh aufgeschüttet ist. Damit erfüllt dieser Raum die Funktion der Kemenate in der Ritterburg. Hier schimmert zwar nicht wie auf der Gralsburg eine Fülle von Kerzen von Decke und Wänden, jedoch immerhin eine Kerze zündet der Gastgeber an, dem Gast wird die Rüstung abgenommen und ihm wird – nicht anders als in jeder anständigen Ritterburg – ein Gewand angelegt (459, 7–20). Darauf wird er in eine zweite Höhle geleitet, die als Bibliothek fungiert […] dâ inne was / sîniu buoch dar an der kiusche las, 459, 21–22), aber auch als Hauskapelle, denn hier steht ebenfalls ein Altarstein, der der Karwoche gemäß am Karfreitag kein Altartuch trägt. Jedoch steht darauf

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das bereits erwähnte Reliquienkästchen, das Parzivals Erinnerung auf die Sprünge helfen soll (459, 23–25) und das noch einen anderen Anknüpfungspunkt bietet, von dem anschließend die Rede sein soll. Schließlich kommt auch die Küche in Trevrizents wildem Haushalt vor, allerdings in defizitärem Zustand: mîn küche riuchet selten: / des muostu hiute enkelten (485, 7). „Es gibt bei mir nur kalte Küche – du wirst es heute ertragen müssen“, übersetzt Dieter Kühn (Wolfram von Eschenbach 1994) und macht damit auf den sog. Küchenhumor aufmerksam, der in Wolframs Karfreitagsszene im Kontext des Fastens des Öfteren aufgeboten wird. Denn natürlich ist mîn küche riuchet selten eine Litotes, die besagt, dass die Küche in den Räumlichkeiten des Einsiedlers nicht existent ist. Denn dieser Einsiedler isst nicht nur am Karfreitag ausschließlich Wurzeln, sondern auch „an manchem Montag“ (452, 16), wie es heißt, und das meint „immer“. Dabei wird dessen Askese, was den Speisezettel betrifft, detailliert geschildert (452, 15–23). Auch die Praxis des Wurzelsuchens und Ausgrabens wird beschrieben. Weil der Einsiedler keinesfalls vor der None etwas zu sich nimmt, hängt er das auf der Nahrungssuche Ausgegrabene jeweils vorerst an Staudenäste. Auch hier bietet die Demonstration der strengen Askese wieder die Gelegenheit, Komik zu entfalten. Denn, so heißt es weiter: durch die gotes êre manegen tac ungâz er gienc, so er vermiste dâ sîn spîse hienc.

Zur höheren Ehre Gottes ging er durch manchen Tag mit leerem Magen, wenn er nämlich die Stelle, wo seine Nahrung hing, nicht wiederfand.

(485, 27–30)

Von einem reichhaltigen Menü wie beim Gral (an dessen Bewirtung übrigens bei der Gelegenheit erinnert wird) kann hier keine Rede sein, also weder von spîse warm noch spîse kalt (238, 15–16). Jedoch die obligatorische Ingredienz des höfischen Speiserituals, der Inbegriff der zivilisierten Esskultur: das Händewaschen, wird keineswegs vergessen (486, 5–6). Parzivals Besuch beim Einsiedleronkel ist eingebettet in die Schilderung der asketischen Lebensform, die den Widerpart zur Lebenshaltung der höfischen Gesellschaft bilden soll. Interessanterweise wird jedoch im Parzivalroman – wenn ich recht sehe – kein anderer Aufenthalt erzählt, der den Lebensstil der höfischen Kultur und ihre Rituale so vollständig schilderte, wie sie ex negativo unter den Bedingungen der Wildnis zum Vorschein gebracht wird. Wilde, wenn auch in einer neuen semantischen Dimension, ist auch das Stichwort, als Trevrizent, der ergebene Gottesmann auf seine vergangene Ritterkarriere zu sprechen kommt. In dieser Hinsicht erscheint er als eine Doublet-

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te seines Bruders Anfortas; wie dieser hat er in seiner Jugend das für Gralsritter geltende Keuschheitsgebot übertreten, indem er aus Liebe zu einer Frau als deren Ritter auf Kämpfe ausritt. Dabei interessierten ihn aber nicht die in der heimischen Ritterkultur gebräuchlichen Kampfrituale: die wilden âventiure mich dûhten sô gehiure, daz ich selten turnierte. (495, 19–21)

In den Abenteuern auf freier Wildbahn (Kühn7) war ich derart in meinem Element, dass ich kaum je auf Turniere fuhr.

gein der wilden verren ritterschaft (495, 26), gein der wilden tjoste (497, 14) habe es ihn mit Macht gezogen, in unbekannte Weltgegenden also, in die exotische Ferne. In allen drei Erdteilen, in Europa, Asien und selbst im fernen Afrika habe er gewaltige Tjosten vollbracht (496, 1–5). In diesem Zusammenhang werden Orte einer fabulösen Geografie genannt: z. B. Fâmurgan, das ist der Reich der Fee Terdelyschoye (der Spitzenahnin des Artusgeschlechts); oder Agremontin: das ist eine Weltgegend, in der sich der dem Parzival immanenten Mythologie zufolge Feirefiz tummelt (812, 19–23), der ist bekanntlich Parzivals schwarzweiß gemusterter Halbbruder. Im Zusammenhang von Trevrizents ruhmrediger Ritterzählung wird auch das sakrale Requisit zeitlich verortet, die ominöse kefse, die Reliquienkapsel, die Parzival auf dem Altarstein in Trevrizents Kapellenhöhle wiedererkannt hatte. Auf einer seiner ausgedehnten Fahrten hat der einstige Ritter nämlich Gahmuret kennengelernt: dînen vater (496, 23). Der war zu dieser Zeit erst kurz mit Parzivals künftiger Mutter verheiratet. Gahmuret erkannte Trevrizent an der Ähnlichkeit mit Herzeloyde als seinen Schwager und schenkte ihm einen kostbaren Edelstein ([…] noch grüener denne der klê, 498, 10), aus dem dieser, zum Einsiedler geworden, ein Reliquienkästchen arbeiten ließ (497, 21 – 498, 12). So erfahren wir im neunten Buch, wie es kommt, dass Parzival den heiligen Eid, durch den er im fünften Buch den eifersüchtigen Ritter Orilus zur Raison brachte, auf einem Reliquienbehälter ablegt, dessen Material ein Edelstein ist, der aus dem Schatz stammt, den Parzivals Vater einst auf seinen Ritterfahrten erbeutet hatte …

3 Die ersten beiden Abschnitte haben das religiöse Leben des Einsiedlers unter kulturgeschichtlichen Aspekten betrachtet. Am Beispiel des Livre du Cœur wur-

|| 7 Wolfram von Eschenbach 1994.

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de gezeigt, wie der eremitischen Lebensform im Medium der falschen Einsiedlerin Missgunst der Zerrspiegel vorgehalten wird. In Wolframs Einsiedlerszene galt das Augenmerk der literarischen Inszenierung der religiösen Lebensform, der Askese als kultureller Praxis. Dabei blieb die spezielle Religiosität dieses Einsiedlers unterbelichtet. Z. B. bietet Trevrizent als Theologe eine interessante Theorie über das Schicksal der gefallenen Engel (471, 15–25) und führt vor allen Dingen einen originellen Beweis der Verbundenheit Gottes mit den Menschen, indem er diese in den Kategorien der Blutsverwandtschaft ausdrückt (464, 28– 465, 10). Das Modell der Treue ist für den Ritter Parzival, den mit Gott hadernden Gralshelden, das im feodalen Lehensrecht des Mittelalters begründete Verhältnis zwischen Lehensherrn und Vasall. In Trevrizents Theologie dagegen hat Gott seine Treue bewiesen, indem der Gottessohn Mensch geworden ist, und das heißt, dass er sich mit den Menschen verwandt gemacht hat. sît er uns sippe lougent niht (465, 3). Die Frage, ob es einen gerechten Gott gibt, stellt die Parzivalerzählung also im Medium des an der Treue seines Herrn zweifelnden ritterlichen Lehnsmanns. In der Argumentation des adligen Eremiten Trevrizent wiederum wird die ebenfalls in der feodalen Gesellschaft des Mittelalters geltende, durch die Verwandtschaft begründete Verbindlichkeit (476, 19–20 und 488, 3–15) mit dem christlichen Dogma der Menschwerdung Christi kurzgeschlossen. Zum Schluss soll beleuchtet werden, welche Gestalt das Gottesproblem in einem rund 450 Jahre späteren Text der Vormoderne annimmt. Gemeint ist die Einsiedlerepisode in Grimmelshausens Simplicissimus . Die religiöse Problematik, die in diesem deutschen Picaroroman zur Sprache kommt, ist keine ganz andere, doch ist sie anders gelagert. Denn in der Einsiedlerepisode wird eine Frage gestellt, welche die Philosophie des 17. Jahrhunderts in ihrer eigenen Terminologie beschäftigt: Ist der Glaube, dass die Schönheit der Schöpfung die Güte des Schöpfers preist, wie es viele christliche Andachtslieder wollen, gerechtfertigt, oder anders gesagt: Darf die Schöpfung als Rechtfertigung Gottes (Theodizee) in Anspruch genommen werden? Und zwar wird die Frage nicht als theoretischer Diskurs erörtert, sondern durch die literarische Gestaltung reflektiert. Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ist 1669 zum ersten Mal im Druck erschienen. Die Episode, welche die Begegnung des kindlichen Helden mit dem Einsiedler schildert, markiert den Beginn der wahrhaft abenteuerlich zu nennenden Karriere der Ichfigur. Sie nimmt in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges ihren Ausgang. Dabei schildert der Autor einerseits die Erlebnisse des kindlichen Ichs aus der zeitlichen Distanz des wissend gewordenen – und mit allen Wassern gewaschenen – Weltmanns; andererseits führt er uns die Welt vor Augen, wie sie sich aus der

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Sicht des unbedarften Kindes ausnimmt, das er einmal war und das in so verwahrlosten Verhältnissen aufwuchs, dass es nicht einmal weiß, dass es einen Namen hat (37, 4–5). Wollte man die Einsiedlerepisode dieser Erzählung unter den Gesichtspunkten betrachten, die uns im Parzival interessierten, gäbe es einige Motive, die sich direkt anschließen ließen. Zum Beispiel das biographische Dispositiv: Auch dieser Eremit war einst ein adliger Herr. Ihm ist im Krieg auf der Flucht seine hochschwangere Frau verloren gegangen, worauf er sein weltliches Leben aufgegeben hat (79–85). Wie im Parzival ist der Protagonist mit dem Einsiedler, der ihn leiblich und spirituell betreut, durch eine besondere Beziehung verbunden, das Band der Verwandtschaft. In beiden Fällen wird diese Beziehung auch narratologisch produktiv. Im Parzival stellt sich der geistliche Ratgeber als der Bruder von Parzivals Mutter heraus. Im Simplicissimus Teutsch offenbart sich viel später (nach 400 Seiten im Text der Dünndruckausgabe, 477–480), dass der geistliche Vater, der ihn ins christliche Leben einführte, der leibliche Vater war und wie es kam, dass er bei bitterarmen Bauern aufwuchs. In beiden Fällen wird die Einsiedlerexistenz durch die Schilderung des Lebens in der Höhle markiert, nur, dass im Simplicissimus Teutsch die Höhle im agrarischen Register beschrieben wird, als überdachtes Erdloch: wie […] die Bauren an theils Orten ihre Rubenloecher haben (42, 25–26), und diese Hütte ist so niedrig, dass einer kaum aufrecht darin sitzen kann. Das Zusammentreffen der Ichfigur mit dem Einsiedler soll uns interessieren, weil die Erzählung in dieser Episode den Zustand der Welt aus gegensätzlichen Perspektiven schildert und ihn Punkt für Punkt sowohl mittels einer profanen als auch einer geistlichen Semantik illustriert. Der Knabe, den der Einsiedler später Simpel nennen wird, wächst bei armseligen Bauern im einsamen Spessart auf, so völlig unwissend, dass er keinen Schimmer hat, dass es abgesehen von seinem Knan und seiner Meuder und dem Gesinde noch andere Menschen und eine Welt außerhalb des Hofes gibt – bis der Krieg in diese Einöde einbricht. Als er den Hof verwüstet sieht und mit ansieht, wie Vater und Knecht gefoltert werden, hört, wie die Frauen schreien und schließlich die Magd im Stall in einem erbärmlichen Zustand antrifft, versteht er das Geschehen nicht. Jedoch befolgt er den Rat, wegzulaufen, entkommt in den Wald, befindet sich auf einmal in der Wildnis – und weiß nicht ein noch aus: die stockfinstere Nacht bedeckte mich zwar zu meiner Versicherung / jedoch bedauchte sie meinen finstern Verstand nicht finster genug / dahero verbarg ich mich in ein dickes Gesträuch / da ich so wol das Geschrey der getrillten Bauren / als das Gesang der Nachtigallen hoeren konnte / welche Voegelein sie die Bauren / von welchen man theils auch Voegel zu nennen pflegt / nicht angesehen hatten / mit ihnen Mitleiden zu tragen / oder ihres Ungluecks halber das liebliche Gesang einzustellen / darumb legte ich mich auch ohn alle Sorg auff ein Ohr und entschlieff (30, 19–29).

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Am nächsten Morgen jedoch, als aber der Morgenstern im Osten herfür flackerte (30, 29–30), sieht der Knabe das Haus des Knan im Flammen stehen. Erneut wird er von einem Trupp von Reitern gesichtet, die ihre Karabiner auf ihn abfeuern, von welchem urplötzlichen Feuer und unversehnlichem Klapff / den mir Echo durch vielfältige Verdoppelung grausamer machte ich dermassen erschreckt ward / […] dass ich also bald zur Erden niederfiele / (31, 11–15).

Deswegen lässt man ihn für tot liegen. Die folgende Nacht sucht das Kind Zuflucht in einem hohlen Baum und ist eben dabei einzuschlafen, als er durch menschliche Laute geweckt wird. Was er hört, allerdings nicht versteht, ist das Gebet eines Einsiedlers, der die Nacht wachend und betend verbringt. Der Einsiedler, dessen abscheulicher Anblick zunächst bei dem Knaben blankes Entsetzen auslöst, beruhigt und tröstet den völlig Verwirrten, gibt ihm zu essen und legt ihn in seiner Hütte zur Ruhe (31–34, 25). Um Mitternacht wird das Kind zum zweiten Mal geweckt, nicht durch die Laute der Naturwesen, sondern durch den Morgengesang des Einsiedlers. Dieses Lied ist eine Kontrafaktur zu Philipp Nicolais Andachtslied Wie schön leuchtet uns der Morgenstern.8 Der Inhalt der ersten Strophe steht im Gegensatz zu der eben zitierten Passage aus dem Erzähltext und lautet folgendermaßen: KOmm Trost der Nacht / O Nachtigall / Laß deine Stimm mit Freudenschall / Auffs lieblichste erklingen: / : Komm / komm / und lob den Schöpffer dein / Weil andre Vöglein schlaffen seyn / Und nicht mehr mögen singen: Laß dein / Stimmlein / Laut erschallen / dann vor allen Kanstu loben Gott im Himmel hoch dort oben (Str. 1, I, 34, 29 – 35, 6).

Das Deutungssignal gibt zuerst die auf den Choral Der Morgenstern verweisende Liedform,9 dieweil die Naturerscheinung selbst im Erzähltext bereits aufgetreten war, wobei dort der Morgenstern aber bezeichnenderweise nicht leuchtete, sondern im Osten herfuer flackerte (30, 29–30). Wie sich herausstellt, spielen die Liedstrophen beinahe alle Motive durch, welche die Erzählung in einem ganz anderen Register entfaltet hatte. Das hat die || 8 Vgl. Grimmelshausen 1989, 807 (Anm. zu 34, 26 – 36, 7). 9 Der explizite Hinweis auf Nicolais Lied erfolgt im Nachhinein (36, 10–11).

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einschlägige Forschung detailliert herausgearbeitet (Weydt 1968, 163–187). Das Nachtigallenmotiv zunächst setzt die etablierte Tradition des Kirchenliedes voraus, welches die Nachtigall als Verkünderin des Göttlichen in der Natur im geistlichen Sinn festlegt.10 In der Erzählung kommt die Nachtigall, im Lied Trost der Nacht, in der Mehrzahl und als Naturwesen zum Einsatz. Diese Kreaturen erzeugen in dem zitierten Textstück die schärfste Dissonanz zur Theodizee des Andachtsliedes. Die Nachtigallen sind sich zu gut, die anderen Voegel, die der Text als die Bauern denotiert, ihres Erbarmens zu würdigen. Indem sie die gleichsam niedrigen Vogelarten nicht für ihresgleichen erachten, treten sie metaphorisch als adlige Standespersonen in Erscheinung. Damit weisen sie auf die gesellschaftliche Ordnung hin, in der das Menschsein eine Frage des sozialen Standes ist. Doch vor allem lässt die Erzählung die tierischen Kreaturen, gleichgültig gegenüber dem Geschrei der gequälten Bauern, mit ihrem wohllautenden Gezwitscher fortfahren. Dadurch beschreibt sie die Singvögel als Naturwesen ohne Sinn und Verstand und widerspricht damit dem Glauben an die Zeichenhaftigkeit der Natur, dem Glauben an eine Schöpfung, in der sich die Güte Gottes offenbart. Die Finsternis, die in der Erzählung die Nacht, den Wald und den Verstand des Helden kennzeichnete, ist im Lied nicht trostlos: Ob schon ist hin der Sonnenschein / Und wir im Finstern muessen seyn / So koennen wir doch singen : / : Von Gottes Guet und seiner Macht / (Str. 2, 35, 7–10).

Das Echo, das in der Erzählung, durch den Knall der Karabiner hervorgerufen, den Knaben zu Tode erschreckt hatte, ist hier als Motiv der bukolischen Dichtung11 zum Preis Gottes eingesetzt:

Echo, der wilde Widerhall / Will seyn bey diesem Freudenschall / Und laesset sich auch hoeren : / : Verweist uns alle Müdigkeit / Der wir ergeben allezeit / Lehrt uns den Schlaff bethoeren (Str. 3, I, VII, 35, 17–22).

|| 10 Vgl. Grimmelshausen 1989, 807 (Anm. zu 34, 29). 11 Vgl. Grimmelshausen 1989, 807 (Anm. zu 35, 17).

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Doch auch im Andachtslied des Einsiedlers steht der Wohllaut des Nachtigallenschlags nicht umstandslos im Dienste der Theodizee, sondern in dessen Lobgesang zeigt sich auch immer wieder eine Brechung des geistlichen Sinns. So wird der vielstimmige Freudenschall im einsamen Gesang des wachenden Einsiedlers beschworen; als Trost der Nacht für uns, die wir im Finstern müssen seyn. Dabei ist hier auch die Finsternis nicht nur eine traditionelle Metapher für den Zustand der Sünde. Vielmehr weisen die entsprechenden Verse Ob schon ist hin der Sonnenschein / Und wir im Finstern muessen seyn / So koennen wir doch singen zugleich auf die aktuelle Befindlichkeit der ihr unterworfenen Subjekte und die Conditio humana überhaupt hin; aus ihr spricht nicht nur das fromme Gottvertrauen des Einsiedlers, sondern auch die Angst vor der gottverlassenen Betrübnis. Im Übrigen scheint der Einsiedler dem Schall der Nachtigall und dem Widerhall des Echos einen dissonanten Ton hinzufügen. Denn die Ichfigur, das Kind, das davon erwacht, vernimmt die Verse: Auch die Eul die nicht singen kan / Zeigt doch mit ihrem heulen an / Daß sie Gott auch thu preisen (Str. 4, 35, 27–29).

Und es kommt ihm so vor, als wann die Nachtigall so wol als die Eul und Echo mit eingestimmt haetten (36, 9–10.). Zu guter Letzt wird noch eine komische Distanzierung durch die Reaktion des kindlichen Schläfers bewirkt. Der Aufgesang der letzten Strophe des Andachtslieds lautet: Nun her mein liebstes Voegelein / Wir wollen nicht die faeulste seyn / Und schlaffend ligen bleiben : / : Sondern biß daß die Morgenröt / Efreuet diese Wälder öd / Jm Lob Gottes vertreiben (Str. 5, 35, 31–36).

Obwohl der Zusammenklang dem Kind so wohl gefällt, dass es gern eingestimmt hätte, hätte es nur den Morgenstern (d. h. das Lied) gekannt, zeitigt die geistliche Botschaft keine unmittelbaren Folgen, sondern es entschlummert und schläft – wie es heißt – biß wol in den Tag hinein (I, VII, 36 ,15).12

|| 12 Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags erscheint in Kunst des Erzählens. Würzburger Ringvorlesungen 15. Michael Erler und Dorothea Klein (Hgg.). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, 103–128.

Das narrative Potential des Eremiten | 177

Literaturverzeichnis Texte Berol. Tristan und Isolde. Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. Übersetzt von Ulrich Mölk. München: Eidos Verlag, 1962. Chrétien de Troyes. Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Kritische Ausgabe nach allen Handschriften. Keith Busby (Hg.). Tübingen: Niemeyer, 1993. Chrétien de Troyes. Yvain. Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. Bd. 2. Übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff. München: Wilhelm-Fink Verlag, 1983. Eilhart von Oberge. QF XIX. Franz Lichtenstein (Hg.). Straßburg: Trübner, 1877. Hartmann von Aue. Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Bibliothek des Mittelalters. Bd. 6. Volker Mertens (Hg. und üs.). Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 2004. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Werke I.1. Bibliothek der Frühen Neuzeit. Bd. 4/1. Dieter Breuer (Hg.). Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1989. René d’Anjou. Le livre du Cœur d’Amour épris. Texte présenté, établi, traduit et annoté par Florence Bouchet. Paris: Le livre de poche, 2003. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mhd. Text nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin/New York: de Gruyter, 21998. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Bibliothek des Mittelalters. Bd. 8/1 und 8/2. Nach der Ausgabe Karls Lachmanns [6. Aufl., 1926] revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn. Frankfurt: Deutscher Klassikerverlag, 1994.

Forschungsliteratur Dictionnaire des Lettres françaises. Le Moyen âge. Neu bearbeitet von Geneviève Hasenohr und Michel Zink. Paris: Fayard, 1992. Frenzel, Elisabeth. Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner, 41992. Gousset, Marie-Thérèse, Daniel Poirion und Franz Unterkirche. Le Cœur d’Amour épris. Reproduction intégrale en fac-simile des miniatures du Codex Vindobonensis 2597 de la Bibliothèque nationale de Vienne. Paris: Philippe Laubaud, 1981. Lexikon des Mittelalters. 9 Bde. München: LexMA Verlag 1980–1998. Mertens, Volker. Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption. München: Artemis-Verlag, 1978. Weydt, Günther. Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern/München: Francke, 1968.

| Teil II.3: Mythen

Larissa Naiditch, Jerusalem

Der Mythos von Odins Auge Altisländische Texte in vergleichender Perspektive

1 Einführung Altnordische Texte bieten wohl die wichtigsten Quellen unserer Kenntnisse des germanischen Götterpantheons, da die Schriftzeugnisse des kontinental-germanischen Gebiets spärlich sind. Die Gestalt des Gottes Odin (altisländisch Óðinn) ist in vielen Mythen vertreten. Odin ist Hauptgott der Skandinavier; er wird mit Totenkult sowie mit Dichtung und Krieg assoziiert. Er wirkt mal dämonisch, mal schamanisch und verfügt über die Fähigkeit sich zu verwandeln. Odins Gestalt wurde zum Gegenstand zahlreicher philologischer Forschungen (vgl. z. B. Simrock 1878; De Vries 1931; Liberman 2011). Im vorliegenden Beitrag geht es mir um einige Anmerkungen und Vermutungen zu einem der Odin-Mythen, die keine breiteren Verallgemeinerungen beanspruchen. In einem Odin-Mythos wird erzählt, wie er sein Auge dem Riesen Mimir, dem Besitzer des Zauberbrunnens, als Pfand für einen Trunk aus dieser Quelle gegeben hat. Über diese Episode, die oft als Walvaters1 Pfand bezeichnet wird, ist aus der Völuspa (Vp) in der poetischen Edda und aus Gylfaginning (Gf) in der prosaischen Edda bekannt.2 Dort lesen wir (Vp): Allein saß sie3 außen, da der Alte kam, Der grübelnde Ase, und ihr ins Auge sah. Warum fragt ihr mich? was erforscht ihr mich? Alles weiß ich, Odhin, wo du dein Auge bargst: In der vielbekannten Quelle Mimirs. Meth trinkt Mimir allmorgentlich Aus Walvaters Pfand! wißt ihr was das bedeutet? Ich weiß Heimdalls Horn verborgen […]

|| 1 Walvater bedeutet „Vater der Toten“, „Vater der Leichen“. 2 Weiter werden die Ältere und die Jüngere Edda in deutscher Übersetzung nach Simrock 1876 zitiert. Den altisländischen Text der Älteren Edda siehe in Neckel und Kuhn 1983. Zur Erläuterung von Vp und Gylfaginning siehe z. B. Dronke 1997, Text Vp 8–24, Kommentar 25–153. 3 Hier spricht die Seherin von sich selbst in der dritten Person, in anderen Fällen in der ersten.

DOI 10.1515/9783110556438-012

182 | Larissa Naiditch, Jerusalem

Unter dem himmelhohen heiligen Baum. Einen Strom seh ich stürzen mit starkem Fall Aus Walvaters Pfand: wißt ihr was das bedeutet? (Simrock 1876, 6, Str. 21–22)

In der Jüngeren Edda (Gf): Da fragte Gangleri: Wo ist der Götter vornehmster und heiligster Aufenthalt? Har antwortete: Das ist bei der Esche Yggdrasils: da sollen die Götter täglich Gericht halten. Da fragte Gangleri: Was ist von diesem Ort zu berichten? Da antwortete Jafnhar: Diese Esche ist der größte und beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel. Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: die eine zu den Asen, die andere zu den Hrimthursen, wo vormals Ginnungagap war; die dritte steht über Niflheim, und unter dieser Wurzel ist Hwergelmir und Nidhöggr nagt von unten auf an ihr. Bei der andern Wurzel hingegen, welche sich zu den Hrimthursen erstreckt, ist Mimirs Brunnen, worin Weisheit und Verstand verborgen sind. Der Eigner des Brunnens heißt Mimir, und ist voller Weisheit, weil er täglich von dem Brunnen aus dem Giallarhorn trinkt. Einst kam Allvater dahin und verlangte einen Trunk aus dem Brunnen, erhielt ihn aber nicht eher bis er sein Auge zum Pfand setzte (Simrock 1876, 258).

Es seien hier einige Themen aus dieser Episode näher betrachtet.

2 Auge – Brunnen / Quelle / Bach Wasserquelle ist ein wichtiges Thema im altnordischen Epos, was auch aus den oben angeführten Auszügen ersichtlich ist. Vgl. auch die folgenden Texte aus der Jüngeren Edda (Gf). Unter der dritten Wurzel der Esche, die zum Himmel geht, ist ein Brunnen, der sehr heilig ist, Urds Brunnen genannt: da haben die Götter ihre Gerichtsstätte [...] Auch wird erzählt, daß die Nornen, welche an Urds Brunnen wohnen, täglich Waßer aus dem Brunnen nehmen und es zugleich mit dem Dünger, der um den Brunnen liegt, auf die Esche sprengen, damit ihre Zweige nicht dorren oder faulen. Dieß Waßer ist so heilig, daß Alles was in den Brunnen kommt, so weiß wird wie die Haut, die inwendig in der Eierschale liegt (Simrock 1876, 259–260).

Die beiden im betrachteten Mythos vertretenen Themen – Wasser und Auge – sind in der Tradition vieler Völker zu finden (Ivanov 2000; s. auch Carey 1983, wo eine irische Parallele angegeben wird). Die Vorstellung vom Wasser als Urquelle des Lebens ist allgemein bekannt und kommt in vielen nationalen Überlieferungen in Texten, Riten, Aberglauben, Metaphern unter anderem zum Ausdruck.

Der Mythos von Odins Auge | 183

Gottesauge, auch das allsehende Auge, ist wichtiges Sinnbild in manchen Religionen, vgl. das Auge von Horus im Alten Ägypten, das Hand-Auge Symbol im Nahosten (Hamsa, das Auge von Fatima); das Gottesauge symbolisiert im Judentum die Gegenwart Gottes; das allsehende Auge erscheint in manchen christlichen Bildern. Es lohnt sich die Verbindung der mythologischen Begriffe Wasser und Auge eingehender zu untersuchen. Die ältere Philologie, vor allem die der naturmythologischen Schule, sah die Grundlage dieses Sujets darin, dass Odin Sonnengott sei und die Widerspiegelung der Sonne im Wasser als Odins Auge zu deuten wäre. Jakob Grimm (1992 [1835], Kap. 22) verband den Mythos von Odins Auge mit dem Sonnenkult (siehe auch Simrock 1878, 210–212; Hoffmann-Krayer 1930–1931, Sp. 965–969). Karl Simrock (1878, 210) schrieb: „Odin war Sonnengott, ehe ihn Freyr [...] aus dieser Würde verdrängte [...]. So bedeutet sein eines Auge die Sonne“. Das im Brunnen verpfändete zweite Auge Odins könnte nach der ursprünglichen Version des Mythos der „Widerschein der Sonne im Wasser sein“ (Simrock 1878, 211). Es wurde auch angenommen, dass das Paar Mimir und Odin dem Mond und der Sonne entsprächen – eine sekundäre Umdeutung des Mythos nach Simrock (1878, 210). Heute wird die Verbindung eines heidnischen Gottes mit einer bestimmten Naturerscheinung abgelehnt. Odin wird in neueren Forschungen nicht unmittelbar als Sonnengott aufgefasst. Auch die christliche Umdeutung des Mythos, so wie wir sie bei Elard Hugo Meyer (1889) finden, der die Quelle als Sinnbild von Gottvater, das Auge als dasjenige von Jesus Christus und das fließende Wasser als den Heiligen Geist interpretiert, ist nicht überzeugend und fand keine Nachfolger. Die Auffassung des Auges von Odin als des Gefäßes, woraus Mimir trinkt, die manchmal in älteren und in neueren Publikationen zu finden ist (Simrock 1878, 211), scheint mir ebenfalls zweifelhaft (siehe eine Diskussion darüber in Lindow 2001, 230–232): Unter af veði Valfǫðrs in Vp „aus Walvaters Pfand“ ist hier „aus dem Brunnen“ und nicht „aus dem Gefäß“ gemeint, obwohl af „aus“ theoretisch auf beide bezogen werden könnte; vgl. drekr af horninu Gjallarhorni „trinkt aus dem Horn Gjallarhorn“. Trotz vieler Publikationen scheint eine sprachwissenschaftliche Gegebenheit in der Forschung beinahe vernachlässigt zu sein, obwohl schon Elard Hugo Meyer darauf hingewiesen hat: „Die hebräische, persische und chinesische Sprache bedienen sich desselben Ausdrucks für Quell und Auge“ (Meyer 1889, 126). Ausführlicher wird diese Nähe zweier Begriffe in Mythen und Riten neuerlich von Vjačeslav V. Ivanov (2000) erörtert, der die Begriffe der Blindheit, der Sicht und Einsicht in älteren Kulturen analysiert. Er führt Beispiele des Zusammenhangs von den Begriffen Wasserquelle und Auge an. Ivanov erwähnt z. B. die hethitische

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Etymologie der Benennung der Quelle, zu der die Priesterin im Ritus ša-ku-ni-a pa-iz-zi geht, was „in Richtung Quelle geht“ bedeutet, wobei das hethitische šakua als ‚Augen‘ übersetzt wird. Ivanov gibt zahlreiche Parallelen des etymologischen Zusammenhangs der Lexeme Wasser und Auge sowohl in indoeuropäischen als auch in anderen Sprachen, so z. B. serbokroatisch oko „Auge“, „auch tiefe Stelle im Wasser, wo auf dem Boden eine Quelle rinnt“, lettisch velna acis „Teufelsauge“, „See“ u. ä. Besonders anschaulich sind die Angaben der semitischen Sprachen: im Arabischen, Hebräischen, Akkadischen werden „Auge“ und „Quelle“ mit ein und demselben Wort bezeichnet: *ʕayn. Das von Ivanov (2000, 93–94) erwähnte akkadische īnum gleichzeitig „Auge“ und „Quelle“ (Soden 1981, 383) ist auch desselben Stammes4. Wir können auch die Angaben des modernen Hebräischen hinzufügen, wo (ʕ)ain „Auge“ auch in der Bedeutung „Quelle“ heute in Toponymie gebraucht wird: (ʕ)Eyn Gedi, (ʕ)Eyn Kerem. Als die ursprüngliche altertümliche Motivierung des Zusammenhangs zwischen Gewässer und Auge wird die Vorstellung vom Auge als Tränenquelle, woher ein Bach entsteht, genannt. Da diese sprachliche Nähe in vielen genetisch nicht unmittelbar verwandten Sprachen beobachtet wird, betrachtet sie Ivanov als Spur eines altertümlichen Archetyps. Die auf solche Weise gedeutete Verbindung weist auf die Urquelle der Gewässer hin, die als Auge, aus dem das Wasser fließt, vorgestellt wird. Obwohl diese altertümliche Motivierung eindeutig klar ist, sind auch andere Motivierungen sekundärer Art nicht auszuschließen. So sind die „Augen-Benennungen“ der Seen und Teiche oft durch ihre geometrische Form bedingt. Z. B. heißt der Quellenteich der Lippe im Bad Lippspringe im Volksmund Odins Auge; Blaues Auge ist ein Teich in Halle (Saale); Auge Gottes ist ein kleiner See in der Venedigergruppe der Alpen; in Russland gibt es Katzenauge, Rehauge, Meeresauge als Benennungen der Seen in wortwörtlicher Übersetzung. Hier spielt auch die Tatsache mit, dass das Wort Auge sowie die Bezeichnungen für andere Körper- und Gesichtsteile metaphorisch gebraucht werden. Das ist sowohl auf der lexikalischen Ebene (Augen als Fetttropfen auf einer Flüssigkeit und als Punkte auf einem Spielwürfel, Auge, wie auch Öhrchen, in der Knotenkunde der Seemannssprache u. ä.), als auch für den verbreiteten Gebrauch in der Dichtersprache gültig: Seen werden mit blauen Augen verglichen oder metaphorisch als Augen

|| 4 Ich bin Herrn Professor Eran Cohen (The Hebrew University of Jerusalem) für seine Hilfe und Beratung in Bezug auf semitische Sprachen herzlich dankbar.

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bezeichnet; Augen als schöne Seen.5 Man kann hier zahlreiche Beispiele in manchen Sprachen finden. Kehren wir zum betrachteten Odin-Mythos zurück, so ist dessen ursprünglicher Zusammenhang mit den oben genannten altertümlichen archetypischen Motiven klar. Es gibt aber auch eine zusätzliche Deutung des Augen-Mythos. Odins Auge ist im Brunnen (im Bach) verborgen. Das heißt, dass es im Bach oder am Brunnenboden liegt und gesehen werden kann oder selbst die am Ufer Stehenden ansieht, anblitzt. Dass etwas im Gewässer verborgen ist, ist auch ein Thema des Epos, so z. B. der Nibelungenhort im Rhein: Den Anstoß zu diesem Glauben gab selbstverständlich die Gewinnung von Seifengold aus den Flüssen. Die Vorstellung von den im Gewässer und unter dem Gewässerboden verborgenen Gegenständen und das Leben dort ist archetypisch und in Riten und Folklore wiederzufinden; vgl. das Märchen Frau Holle, zahlreiche Sagen über Nixen und ähnliche Wesen. Der Zusammenhang von Gewässern mit der Vorstellung von der Totenwelt in indoeuropäischen Kulturen ist bekannt und wurde auch mit der nordischen Mythologie in Verbindung gebracht (Ström 1967; Lincoln 1982). Auge im Bach und im Brunnen, Auge als Quelle des Bachs, als Widerspiegelung oder als verborgener Schatz – diese Motive haben wohl archetypischen Ursprung und weisen aller Wahrscheinlichkeit nach alte indoeuropäische Züge auf. Es könnte sein, dass die ursprüngliche Grundlage des Mythos mehrmals umgedeutet, mit anderen, z. B. äthiologischen, Sujets zusammengeflochten wurde und in einigen uns unbekannten Volksglauben und -erzählungen erscheint.

3 Odins Pfand wofür? In der Jüngeren Edda (Gf) wird erzählt, dass in Mimirs Brunnen „Weisheit und Menschenwitz“ (spekt ok mannvit) verborgen sind; Mimir sei weise, weil er aus diesem Brunnen trinkt. Der Schluss liegt nahe, dass Odin aus diesem Brunnen trinken wollte, um Weisheit zu schöpfen. So wird diese Episode auch von den Forschern interpretiert – vermutlich mit Recht. Ich nehme jedoch an, dass die

|| 5 Tropen solcher Art sind in vielen Texten, auch in denjenigen, deren künstlerische Qualität manches zu wünschen übrig lässt, zu finden: „Wie glänzende Augen, die italienischen Seen“, „Blaue Augen der slowakischen Berge“, „Wie dunkle Augen schauen die Seen empor“, „Augen so unergründlich wie tiefe Seen“, „Die Augen wie Seen, / Die Lippen wie Blut“. Aus einem populären russischen Lied über das seenreiche Karelien (wortwörtliche Übersetzung): „Die Wimpern der Fichten über den blauen Augen der Seen“. Weitere Beispiele kann man leicht im Internet finden.

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ursprüngliche Grundlage dieses Sujets anders war. Einer ist so durstig, dass er bereit ist, für einen Schluck alles, sogar das Wertvollste hinzugeben. In Mimirs Weigerung, Odin einen Schluck Wasser aus seinem Brunnen zu geben, sehe ich die für das Märchen typische Funktion des Verbots (die Erlaubnis kann nur durch ein Opfer erhalten werden): Dem Helden wird ein Verbot erteilt (Propp 1969, 30– 31). Das Thema des Durstes und der Gefahr aus einer Quelle zu trinken ist in manchen Märchen zu finden. Das verbreitetste Sujet ist ATU 450, Brüderchen und Schwesterchen (Grimm KHM 11; siehe auch Bolte und Polívka 1913, 79–96; Barag und Berezovskij 1979, 112–114). In der Sammlung der Brüder Grimm z. B. hat Brüderchen Durst, darf aber nicht trinken, weil alle Brunnen von der Hexe verwünscht wurden. Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh; wer aus mir trinkt, wird ein Reh.“ Das Schwesterchen sprach: „Ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort.“ Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein niedergekniet, hinabgebeugt und von dem Wasser getrunken und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen (Grimm, KHM 11).

In anderen nationalen Versionen dieses Sujets (den litauischen, den ukrainischen, den russischen) trinkt der Bruder trotz des Verbots aus den Fußstapfen eines Geißleins und verwandelt sich in dieses Tier. Das Thema des Durstes und der schweren Folgen des Trinkens ist auch sonst vertreten (so z. B. in ATU 313 A). Hier beginnt das Märchen mit dem Versuch des Wanderers aus einem Brunnen zu trinken; dem folgt die Forderung eines dämonischen Wesens, ihm dafür sein neu geborenes Kind zu geben.6 Im Märchen Die Gänsemagd in (KHM 89, ATU 533) bekommt die Königstochter Durst und verliert im Bach das Läppchen mit den Blutstropfen, das sie beschützt. Interessanterweise wird in diesem Märchen der Kopf des Pferdes Falada zum Ratgeber der Heldin, was an das Sujet mit dem Kopf von Mimir, den Odin um Rat bittet, erinnert.7 Eine ferne, jedoch logisch vergleichbare Parallele bildet eine Episode aus dem Alten Testament (Gen. 25, 29–34), wo erzählt wird, wie Esau, der sehr hungrig ist, sein Erstgeburtsrecht seinem Bruder Jakob für ein Linsengericht verkauft. || 6 Siehe zahlreiche ostslavische Varianten in Barag und Berezovskij 1979, 112–114. 7 In der Ynglinga Saga (der Sage über die Ynglinge), Kap. 4 und 7, wird Folgendes erzählt: Mimir, der durch seine Weisheit bekannt war, wurde von Asen zu ihren Feinden, den Wanen, als eine der Geiseln geschickt – der Geiseltausch entsprach dem Friedensvertrag zwischen diesen beiden Völkern. Die Wanen schlugen Mimir den Kopf ab und sandten diesen zu den Asen. Odin hat den Kopf Mimirs durch Zaubermitttel und -sprüche bewahrt, er trug ihn immer mit und bat ihn stets um Rat. Mimirs Kopf teilte ihm geheime Kenntnisse und Nachrichten mit.

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Obwohl es sich hier nicht um Durst handelt, sondern um Hunger, ist die Grundlage der Erzählung der von uns behandelten ähnlich: Etwas Hochwertiges wird gegen etwas Geringes getauscht. Wie oben erwähnt, ist das Motiv des Wissensdurstes, des Strebens nach Weisheit in den betrachteten altnordischen Texten allgemein anerkannt. Es stellt sich aber berechtigterweise die Frage, ob es nicht sekundär sei und ob doch der einfache physische Wunsch zu trinken, das Verbot und die Gefahr wegen eines Trunkes primär wären. Das Gesagte schließt das Thema von Odins Opfer nicht aus, was in diesem Sujet und in der Erzählung darüber, wie Odin sich selbst als Opfer an den Weltenbaum gehängt hat, zum Ausdruck kommt.8 Es ist möglich, dass unterschiedliche Sujets und Erzählschichten zusammengeflochten und vermischt wurden.

4 Auge als Pfand Man sagt: „Etwas wie seinen Augapfel hüten“. Das Sehvermögen ist in vielen altertümlichen Kulturen das Sinnbild des Lebens, die Blindheit dagegen dasjenige des Todes. Einäugigkeit wird in Märchen und Sagen als Merkmal des Bösen aufgefasst. Als Beispiele der Einäugigkeit in Mythen und Legenden werden gewöhnlich Polyphemus und andere Zyklope in der altgriechischen Mythologie angeführt. Im russischen Volksglauben und in russischen Märchen veranschaulicht die Person licho odnoglazoe („das einäugige Unheil“) die Gefahr, den Tod, einen bösen Dämon; es wird als eine alte hässliche einäugige Frau geschildert. Svetlana M. Tolstaja (2008, 284–286) führt zahlreiche ostslavische Ausdrücke an, wo der Teufel euphemistisch krivoj, d. h. „der Einäugige“ oder krvaja nečistaja sila „die einäugige unreine Kraft“ genannt wird, wobei krivoj „einäugig“ bedeutet und der Ausdruck als „der einäugige Böse“ verstanden werden soll. Vladimir Ja. Propp stellt fest, dass Blindheit und Einäugigkeit der dämonischen Personen in Zaubermärchen auf deren Angehörigkeit zum Reich der Toten hinweist: Die Hexe (Baba Jaga) schnuppert und spürt, eigentlich sieht sie nicht. Nach Propp war es ursprünglich aber so, dass die anderen sie nicht sehen, sie ist unsichtbar für die Lebenden, d. h. tot (Propp 1986, 72–73; vgl. auch zahlreiche || 8 Vgl. Die Ältere Edda, Hávamál („Odins Runenlied“), Str. 139: „Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum / Neun lange Nächte, / Vom Sper verwundet, dem Odhin geweiht, / Mir selber ich selbst, / Am Ast des Baums, dem man nicht ansehn kann / Aus welcher Wurzel er sproß“ (Simrock 1876, 55). Diese Episode wird von Forschern oft mit den Handlungen von Schamanen verglichen.

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Beispiele in Ivanov 2000, 78–104). In Zusammenhang mit der Verwechslung zwischen nicht sehen und unsichtbar werden in sehr altertümlichen naiven Vorstellungen möchte ich eine Beobachtung einführen. Kleinkinder drücken ihre Augen zu und glauben, dass sie auf solche Weise unsichtbar geworden sind. Somit bekommt die Einäugigkeit von Odin neue Deutungsschattierung: Sie betont seine Verbindung mit der Unterwelt. Im nordischen Götterpantheon ist es nicht nur Odin, dessen Körper etwas fehlt. Tyr hat nur eine Hand. Es heißt in der Jüngeren Edda: Als die Asen den Fenriswolf überredeten, sich mit dem Bande Gleipnir binden zu laßen, traute er ihnen nicht, daß sie ihn wieder lösen würden, bis sie zum Unterpfande Tyrs Hand in seinen Mund legten. Und als die Asen ihn nicht wieder lösen wollten, biß er ihm die Hand an der Stelle ab, die nun Wolfsglied heißt. Seitdem ist Tyr einhändig, gilt aber den Menschen nicht für einen Friedensstifter (Simrock 1876, 265).

Die sakrale Bedeutung der physischen Mängel kommt in einer Art Zaubersprüche zum Vorschein, wo die Auflistung der Lebewesen, denen etwas fehlt, an und für sich vor Schäden und Krankheiten schützen soll (Segen von Drei sonderbaren Männern oder Tieren): Jetzt komme ich in ein großes Haus, da gucken drei große, starke Männer heraus. Der erste hat keine Lunge, Der zweite keine Zunge, Der dritte keinen Magen, Der liebe Gott will alles zum besten machen Wolf ohne Lunge, Storch ohne Zunge, Taube ohne Galle, Herzspann du musst fallen (Seyfart 1979 [1913] 124–127).

Oskar Ebermann (1903, 141–142) vergleicht diese Art Zaubersprüche mit Volksrätseln. Sie sind in manchen nationalen Traditionen vertreten (Kljaus 1997, 78–80. N 1 / V.5.2 / A4; Svešnikova 2002, 377–383).

5 Schluss Der hier betrachtete und in Vp und in Gf dargelegte Mythos gibt unterschiedliche Seiten des Odinkults wieder und erlaubt, wie uns scheint, unterschiedliche Schichten dieses Kults aufzudecken. Da ist erstens der Zusammenhang von Auge

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und Brunnen / Bach in den altertümlichen Vorstellungen. Zweitens ist da das Thema des Durstes, des Verbots zu trinken, das möglicherweise eine der ursprünglichen Schichten des Mythos bildete. Und schließlich ist da die Verbindung von Odins Einäugigkeit mit seiner dämonischen Natur und mit seiner Gestalt als Todesgott.

Literaturverzeichnis Texte [Edda: Texte] Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Gustav Neckel (Hg.; 5. verbesserte Auflage von Hans Kuhn). Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1983. [Edda: Übersetzungen] Die Edda, die ältere und jüngere nebst den mythischen Erzählungen der Skalda übersetzt und mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock. 6. verbesserte Ausgabe. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, 1876. The Poetic Edda. Volume II. Mythological Poems. Ed. with Translation, Introduction and Commentary by Ursula Dronke. Oxford: Clarendon Press, 1997. [KHM] Jakob und Wilhelm Grimm. Kinder- und Hausmärchen. 7Bd.1, 11. Göttingen: Verlag der Dieterich’schen Buchhandlung, 1857.

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Ende eines Mythos? Die Nibelungen im 21. Jahrhundert Zu Ulrike Draesner und Feridun Zaimoglu Der Nibelungenstoff ist ein Mythos von beachtlicher Kraft, aber es ist kein deutscher Mythos. Münkler und Storch (1988) haben beschrieben, wie man daraus deutsche politische Mythen schuf, und was die Nibelungen für Deutschland wurden, stand im Titel des Bandes von Heinzle und Waldschmidt (1991): Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Die Kraft dieser politischen Mythen war von kurzer Dauer. Der Spuk begann mit dem Sieg des deutschen Reiches im Krieg gegen Frankreich 1870/1871, zumindest in dessen ideologischem Vorfeld, und er verschwand mit dem Ende des Nazireiches.1 Für die „ästhetische Nationalisierung der Massen“, dient bis 1945 das Nibelungenlied, zusammen mit Wagners Ring, als „mythisches Reservoir“ und wird damit „prägender Bestandteil der deutschen Geschichte“ (Münkler / Storch 1988, 9) Das Resümee, das Münkler und Storch ziehen, ist tröstlich (1988, 132): „Der Mythos war zu Ende agiert, der Bann löste sich. Seit 1945 haben die Nibelungen keine Gewalt mehr über die Köpfe der Deutschen, und die Deutschen sind keine Nibelungen mehr.“ Dem ist insoweit zuzustimmen, als wohl niemand mehr Siegfried als den deutschen Nationalhelden begreift und das Nibelungenlied als sein Epos. Inwieweit dieser Befund belastbar ist, wird zu fragen sein. Unabhängig davon ist die Kraft des Nibelungen-Mythos weiter ungebrochen. Zu Quentin Tarantinos Django Unchained (2012), der sich der Siegfried-Sage über Wagner bedient, stellt Ingrid Bennewitz fest „Hier wird gezeigt, wie die Wirkungsmacht dieses Mythos‘ als Interpretationsmuster aktiv wird – und zwar zu einer anderen Zeit in einem völlig fremden kulturellen Kontext, nämlich dem der Sklaverei. Ein wunderbares Beispiel für die Produktivität des Stoffes!“2 Tarantinos Film ist der Beleg für die Lebendigkeit einer Geschichte, die weitererzählt, umerzählt oder neu erzählt werden kann. Subjektive Auseinandersetzungen, wie im Falle Ta-

|| 1 Die frühe Nibelungenrezeption mag ebenso politisch-ideologisch zu verorten sein, doch ist die nationalromantische Vereinnahmung, auch noch diejenige durch Wagner von deutlich anderer Qualität als jene, die Identität im Sinne des Sieg-Friedens dort zu finden hofft. 2 So der Wortlaut in einer Ankündigung der Universität Bamberg vom 28.05.2014. In ihrem Beitrag (Bennewitz 2013, 144) formuliert sie das etwas vorsichtiger.

DOI 10.1515/9783110556438-013

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rantinos, sind keineswegs auf die Kenntnis des Stoffes bei seinem Publikum angewiesen. Etwas ganz anderes ist es, wenn Versatzstücke aus dem Lied zur Formierung politischer Mythen genommen werden, etwa für den Mythos der ‚Nibelungentreue‘. Der politische Missbrauch gelingt dann, wenn das Publikum den Text zwar auch nicht kennt, ihn auch gar nicht ‚wirklich‘ kennen darf, man ihm aber suggerieren kann, aus diesem eine überhistorische Wahrheit extrahiert zu haben. 2002 wurden in Worms die Nibelungenfestspiele ‚wiederbelebt‘. Dass diese Spiele zu einem Event geworden sind, aufgeführt auf einer Freilichtbühne direkt vor dem Dom, ein Publikumsmagnet, sollte zu denken geben. Inszeniert wurden dort anfangs Bearbeitungen des Hebbelschen Trauerspiels sowie verschiedene Fassungen des Stücks von Moritz Rinke, der Hebbel teilweise wörtlich übernimmt. Die Homepage der Festspiele spricht von einer Vision, das mittelalterliche Werk und den „Originalschauplatz“ wieder einem breiten Publikum bekannt zu machen und behauptet, eine regelrechte Nibelungenrenaissance in Deutschland ausgelöst zu haben.3 Wenn diese Aufführungen von Anbeginn an Publikumserfolge wurden, stellt sich die Frage, was der Grund dafür ist. Ist es vorstellbar, das deutsche Publikum hätte das ‚mittelalterliche‘ Werk lange nach der Nazizeit plötzlich wiederentdeckt, nachdem dieses pflichtschuldigst entnazifiziert worden war?4 Haben diese Inszenierungen wieder zum alten Text hingeführt, wie suggeriert wird? Ein solcher Erfolg ist nur denkbar, wenn beim Publikum diffuse Kenntnisse, Bilder darüber abrufbar sind. Gallé will den Erfolg durch die Freilegung eines „magischen Milieus“ erklären, welches inzwi-

|| 3 http://www.nibelungenfestspiele.de/nibelungenfestspiele/chronik/?cAccAll=1 (letzter Zugriff: 27.12.2016). 4 Der mit der Konzeptentwicklung betraute Gallé (2013, 97) betont, Voraussetzung der Festspiele sei, die „Aufarbeitung des Missbrauchs im Nationalsozialismus“ voran zu bringen. Aber auch in der Nazizeit wusste man durchaus darum, dass das Nibelungenlied vielleicht völlig untauglich war für die intendierten Zwecke der Nazi-Ideologie. Die Verwendung des Nibelungenlieds zur Konstruktion deutscher politischer Mythen findet zwar innerhalb jener Prozesse statt, die dann zum Nationalsozialismus führen. Wenn aber allenthalben betont werden muss, mit jeder Inszenierung an dieser „Aufarbeitung“ zu arbeiten, trifft das den historischen Sachverhalt nur zum Teil. Das Nibelungenlied wurde weniger in den 12 Jahren der deutschen Katastrophe missbraucht, als vielmehr in den 80 Jahren davor. Man denke an das berüchtigte Gedicht Felix Dahns (Grimm 2011, 198). Dieses schließt mit der hellseherischen Drohung: Brach Etzels Haus in Glut zusammen, als er die Nibelungen zwang, / so soll Europa stehn in Flammen / bei der Germanen Untergang. Das Gedicht wurde 1859 verfasst und ist die wüst-rassistische Gewaltphantasie eines Nationalsozialisten ante litteram, und auch hier durchsetzt mit dem, was man dem „deutschen Volksgeist“, gerade in der Nibelungenkritik oft unterstellt: der ‚Todessehnsucht‘.

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schen als Teil der „Moderne und dem aufgeklärten Bewusstsein“ akzeptiert sei. „Magisches und mythisches Denken“ erleichtere die Sinnfindung in menschlichen Kulturen“, und das Nibelungenlied sei dieser Sphäre zuzurechnen (Gallé 2013, 95–96). Es irritiert, wenn ausgerechnet bezüglich des beschworenen „Missbrauchs“ auf ein „magisches Milieu“ verwiesen wird, dem sich das neue Interesse am Text verdanke. Natürlich will niemand hier bewusst an nationalistische oder nationalsozialistische Mythisierungen anknüpfen, aber ist es abwegig zu vermuten, dass mit dem gleichen Material und mit den gleichen Bildern von Helden, Drachen und betrogenen Frauen bestimmten „Ängsten und Erwartungen ‚der‘ Deutschen“ einmal wieder „eine Stimme“ gegeben wird?5 Neben dem andauernden Wormser Nibelungenspektakel6 sind in allerjüngster Zeit zwei Bearbeitungen des Nibelungenstoffes erschienen, die sich ausdrücklich auf das mittelhochdeutsche Nibelungenlied beziehen, ansonsten aber nichts miteinander gemeinsam haben. 2014 wurde das Stück Siegfried von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel am Volkstheater in München uraufgeführt. 2016 erschien Ulrike Draesners Nibelungen. Heimsuchung. Mit den Illustrationen von Carl Otto Czeschka. Draesner, eine der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur und als Romanautorin wie Lyrikerin einem in dieser Zeit eher ungewöhnlichen Formbewusstsein verpflichtet, war zuerst mit einer Dissertation zur Intertextualität bei Wolfram von Eschenbach hervorgetreten. In ihrem letzten Lyrikband Subsong sollte auch ein Nibelungengedicht aufgenommen werden, welches jedoch in der Druckausgabe fehlt. Man findet es im Netz.7 Als Quelle allerdings wird dort Subsong angegeben. Abgedruckt ist es nun in dem Sammelband Nie gelungen Lied (2013, 25). Damit will ich hier beginnen. Es heißt heinobar:

|| 5 Nell (2013, 155) bezieht sich nicht auf die Nibelungenfestspiele wenn er schreibt: „Spätestens seit Wagners Ring […] stellen Götterdämmerung und Todessehnsucht, Nebel und Unterwelt, Siegfried und die Nibelungen, Heldenwahn und Liebesverrat zentrale Bildbereiche und Sinnbezüge […] wenn es darum gehen soll, den Strebungen und Gemütslagen [...] ‚der‘ Deutschen eine Stimme zu geben […] zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen, die Gefühle der Unbehaglichkeit […] auch eines Zu-kurz-gekommen-Seins […] zu beschreiben“ . 6 Die Reaktionen der Tagespresse sind meist zurückhaltend gewesen, auch wenn man den Nibelungenautoren des 21. Jahrhunderts wohlwollend begegnet. Ostermaiers Stück Gemetzel von 2015, mit Musikanleihen beim Metal-Stil, mit Batman und Game-of-Thrones-Reminiszenzen, war wohl ein Publikumserfolg, aber die Presse sprach vom „missratenen Abend“, von der „Läppischkeit“ des Stücks. 7 Unter http://www.lyrikline.org/de/gedichte/heinobar1009#.WFbGNvnhDIU (letzter Zugriff: 19.5.2017).

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insekten in den goldenen locken siegfried in worms in der konditorei. bitte nicht so leuchtend starren es ist die heinobar ganz hag-gedeck teppich hün’sch: hei! leih mir dein ohr. transnationale mücken zischen zierlich: hellebarden langobarden bardenglut afghanistan. siegfried knackt selbst erneuernden heinokeks in zwergenform brütet dem einsatz nach: was sind traumatheorien gegen krümelkummer in der seele saelde (sold)? hellebarden langobarden (falsch) bardengut. siegfried in zwergenform: ist es geheuer keine lust auf umkommen zu hag- haghaben? heidschi-bumm: tarnkappenund ohrtransplanja, sig, auch so stabt sich TAT. bist bloß ... soldat? einfache lösung: kleiner werden, smart dust um einmal noch kämpfend die erde zu umrunden als mythischer staub sig! dein logo steht: resolutes behagen. staub? ach. staben statt schlachten für schland.8

Es handelt sich um ein gestisches Gedicht, entindividualisiert, bei Auflösung der Kohärenz von Raum und Zeit. Das allein kennzeichnet es als in der Tradition der lyrischen Moderne stehend, die von Draesner gerade im zuletzt erschienenen Gedichtband weitergeschrieben wird. Mehrsprachig (Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch / Englisch), morphologisch wie lexisch nicht mehr stabil, assoziativ, Assonanzen und Stabreime verwendend, scheint es sich einem klaren Verständnis entziehen zu wollen, will aber gleichwohl ‚Wirklichkeit‘ erfassen. Die ersten beiden Verse umreißen den Ort der beobachteten Jetztzeit, von der aus die nähere und fernere Vergangenheit sowie die Zukunft (die erde zu umrun|| 8 Die Rechte an dem Gedicht liegen bei der Autorin. Sie hat den Abdruck an dieser Stelle genehmigt.

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den / als mythischer staub) in den Blick gerät: Ein blonder Mann in einer Konditorei in Worms, er wird mit Siegfried assoziiert, er isst Gebäck und hört wohl Musik dazu. Er ist ein Afghanistan-Rückkehrer und sinniert über den erlebten Einsatz. Die Assoziationskette beginnt bei Worms / Siegfried, mit den Hellebarden erscheint die Gewalt, die alte wie die neue, Afghanistan, in die Deutschland verwickelt ist, die Vision eines alten wie modernen, atomaren Weltuntergangs (mythischer Staub), zieht sich über sterben (umkommen), Soldaten, töten (schlachten) zum verschluckten / zerstörten letzten Wort schland, wie es in schlecht artikulierten Politikerreden statt Deutschland mitunter zu hören ist, und nun mit fast alle Worte der letzten Verse umfassender stabender Assonanz zum grotesken schlachten für schland wird. Draesner zieht also das Siegfried-Motiv erneut in einen deutschen, kriegerischen Kontext. Dies ist nur möglich, wenn der Ort, Worms, in seinem heutigen Nibelungenzusammenhang gedacht wird, in dem aufs Neue Nibelungisches vielleicht doch auch in den alten Bildern beschworen wird. Einen zwar bösen, aber treffenden touch erhält das Gedicht durch den Titel heinobar. Natürlich denkt der Leser an den seit Jahrzehnten deutsches Volksliedgut singenden blonden Heino, der nicht selten mit deutschnationalen Strömungen in Bezug gebracht wird und nun auch noch seine Texte im Metal-Stil neu bearbeitet hat. Dies ist wohl die Musik, die in der Konditorei zu hören ist, die Bardenglut beziehungsweise das Bardengut, und so ist auch die Assoziation im nicht ganz ausgesprochenen Wort ohrtransplan einzuordnen, ebenso wie das so gern gehörte und immer tränenrührend interpretierte Heidschi Bumbeidschi, dessen Verkürzung auf bumm wiederum Assoziationen mit Krieg und Schlachtenlärm zulässt. Das Gedicht nähert sich also nicht dem Nibelungenlied an, sondern deutschen Mythen, „deutschen“ Bildern. Die Assoziation erfolgt über Worms, eben weil sie wieder Nibelungenstadt ist, und den blonden Soldaten. In Nibelungen. Heimsuchung dagegen unternimmt Ulrike Draesner eher eine Entmythisierung, indem sie den (heute noch möglichen) Dialog mit dem mittelhochdeutschen Text sucht, aber auch den Dialog mit den Bildern von Carl Otto Czeschka. Die Polysemie des Wortes Heimsuchung, das in den letzten Jahren mehrmals literarisch verwendet wurde (Erpenbeck 2008), weist bereits in die Richtung ihres Dialogs. Darin ist einerseits die an den „deutschen Wahn“ erinnernde Bedeutung des hereinbrechenden Unheils, des Schicksalsschlags zu hören, andererseits aber hört man neben der Bedeutung Unheil das, was auch bei Jenny Erpenbeck wohl im Vordergrund steht, obwohl sie nicht im Duden zu finden ist: die Suche nach dem Zuhause. Damit sind wir sehr nahe am Diltheyschen Begriff der Hermeneutik: Auseinandersetzung mit Literatur als Nachfühlen fremder

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Seelenzustände, um die eigenen zu begreifen. Das macht Ulrike Draesner in diesem Buch. Ulrike Draesner hatte bereits 2013 im Band Heimliche Helden eine bestechende und (notwendigerweise) sehr subjektive Darstellung des Nibelungenliedes vorgestellt. Begleitet von den Illustrationen Czeschkas, die über das ganze Buch verteilt sind, finden sich im ersten Teil lyrische Variationen zu Motiven und zentralen Szenen des mittelhochdeutschen Textes. Diese Gedichte unterschiedlicher Länge, formal und sprachlich dem Gedicht heinobar vergleichbar, sind als Entmythisierung des Stoffes zu verstehen. Es sind Versuche, im überlieferten Text historische Subjektivität9 aufzuspüren, mit der sich das moderne Individuum auseinandersetzen, auf die es sich beziehen kann, um dort Unabgegoltenes der Geschichte zu entdecken. In einem der Texte des zweiten Teils heißt es: Die Welt ist immens literarisch; und wir, als Leser oder Hörer, spiegeln uns noch einmal in ihr, um sie uns, nein, um uns uns selbst zu erklären. Brechen das Gelesene in Muster, sehen Wiederholungen, ziehen Schlüsse daraus. […] Geschichte lehrt ständig. Aber wer hört schon zu (Draesner 2016, 16).

Diese Reflexionsebene, in der nun ein ständig präsentes Ich unter Betonung seiner Subjektivität den gesamten Text aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu fassen versucht, folgt auf den lyrischen Teil und ist überschrieben mit Immer wieder vergesse ich … was im Nibelungenlied geschieht. Dieser Satz wird in den insgesamt 19 kurzen Texten häufig wiederholt. Damit sollen alle Facetten des mittelalterlichen Textes ausgelotet werden. Diese Facetten sind in den Motiven der Gewalt, der Brutalität einer Welt zu finden, auf die ein moderner Subjektbegriff noch nicht anzuwenden ist. Und es ist vor allem die Gewalt, die von Männern gegen Frauen ausgeübt wird. Die insgesamt 17 Prosa-Variationen, das Nibelungenlied zu erzählen (dazu zwei kürzere Abschnitte als Einleitung und Schluss), tragen den Titel Roman, also beispielsweise Der Exotikroman, der Liebesroman, der Staatsroman, der Tränenroman. Den Annäherungen an die Spuren des Unabgegoltenen im Nibelungenlied, wie sie in den Prosatexten erfolgt, etwa an solche der realen und „körperlichen Erfahrung“ (Bennewitz 2013, 141) von Leid und Gewalt, stehen den vorangehenden lyrischen Texte gegenüber, bedingen sich gegenseitig. Die vier Hauptkapitel heißen kriemhilt, sîvrit, brünhilt, hagen höchstselbst, woran sich noch ein

|| 9 Den Begriff der historischen Subjektivität benutze ich in Anlehnung an Bertau (1983, 145– 164), der ihn, wenn nicht geprägt, so doch in seinen Beiträgen beispielsweise zu Wolfram von Eschenbach vertieft und produktiv angewendet hat.

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dialogisches Kapitel die söhne anschließt. Sie fragen nach deren Seelenzuständen, versuchen das nachzufühlen, worüber der mittelalterliche Text nichts berichtet. Sie suchen also Leerstellen, die über den Horizont des modernen Lesers gefüllt werden könnten. Vergleichbar ist diese Intention mit derjenigen Hebbels, als er einer ganz anderen Zeit seine Vorstellungen, solche Leerstellen zu füllen, angeboten hatte. Die Gedichttexte reflektieren, spielen durch, wie die Personen möglicherweise, vor allem die beiden Frauen, sich über die jeweilige Situation hätten bewusstwerden können, versuchen beispielsweise, das Schicksal von Kriemhilds Kindern aus der emotionalen Sicht der Mutter zu erfassen, aber auch Szenen wie die des Donauübergangs oder des Gemetzels in der Halle an Etzels Hof sowie die Geschehnisse, in denen Brünhild von den Männern betrogen wird, in der Brautnacht etwa. Die lyrischen Texte sind in Sprache und Form bisweilen noch radikaler in ihrer Distanz zur rationalen Sprachnorm, als es heinobar war, denn es handelt sich eben um Annäherungen an normsprachlich nicht darstellbare Innenwelten.10 Die sprachliche Form des Dialogs der Söhne ist dagegen die grammatikalisch normgerechte der Umgangssprache. Mittels eines Videospiels scheinen sie das Geschehene korrigieren zu wollen. Ulrike Draesners philologisch-historisch gut begründete Sicht auf das alte Lied ist in den Prosateilen stets nachvollziehbar. Die lyrischen Texte fordern den Leser heraus, sich mit der Erfahrung zu konfrontieren, welche die Autorin, das moderne historische Subjekt, in ihrem Dialog mit der historischen Subjektivität im Nibelungenlied in Worte zu fassen versucht. Ratlosigkeit ist dagegen die erste Reaktion bei der Lektüre der Theaterbearbeitung von Zaimoglu / Senkel (2015). Die Vorlage scheint der mittelalterliche Text selbst gewesen zu sein, nicht Wagner, aber auch die Edda-Texte wurden herangezogen: die Namen der drei Walküren entsprechen weitgehend der altisländischen Form. Ein „magisches Milieu“ ist also auch hier gegeben. Die Bearbeitung endet mit dem Tod Siegfrieds (im letzten Bild lacht er allerdings schallend aus einem gläsernen Sarg). Die erste Szene spielt am Hof der Eltern und führt vor, wie Siegfried von diesen und einem Hauslehrer mit absurden Sinnsprüchen auf das Leben vorbereitet wird. Die zweite Szene zeigt Siegfried und den Schmied Mimer, der ihm in geschraubtem Deutsch vergleichbar groteske Dinge erzählt und ihn über den gefährlichen Drachen aufklärt (Zaimoglu 2015, 20: „Der Drache furzt im Schlaf. Riechst Du an dem, was ihm entweicht, fällst Du tot um“). Die dritte Szene spielt nach der Abschlachtung des Drachen, dessen Fleisch und Körperteile auf einer großen Waldfläche verteilt ist. Dabei stellt || 10 Genauer gesagt an sprachlich nicht darstellbare, jenseits des sprachlich Ausdrückbaren liegende Innenwelten.

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sich heraus, dass der Drache ein ‚Weibchen‘ war, der Hauslehrer schnuppert betört an einer Schamlippe. In der vierten Szene bemächtigt sich Siegfried des Nibelungenschatzes. Die fünfte Szene, wie auch die siebte, führt nach Island, die sechste an den Hof von Worms, wo besonders der schwule Giselher auffällt. Die achte, neunte und zehnte Szene sieht Alberich und Siegfried am Hof der Burgunder, Gunther am Tisch sitzend und Brünhild nach ihrer Entjungferung mit einer Walküre (die ihrerseits zeitgleich vom Zwerg Alberich entjungfert wurde). Es lassen sich also mehr oder weniger angedeutet die wichtigsten narrativen Elemente der Geschichte aus dem ersten Teil des Nibelungenlieds erkennen. Nibelungenkomödien hat es zu allen Zeiten gegeben. Dies hier wäre, bei allem Wohlwollen, ein skatologisches Rüpelspiel. Hier dominiert eine entfesselte Fäkalsprache (verbunden mit vielen Elementen der vulgären Sexualsprache), die alle Personen verwenden, nicht allein der Zwerg Alberich, der geradezu als skatologischer Wortschöpfer erscheint. Den Schatz muss Brünhild in einer Amphore voller „Scheiße“ suchen, dazu sind verschiedenste Körperausscheidungen des Drachen Teil der Geschehnisse auf der Bühne. Naheliegend wäre die Vermutung, einer Provokation beizuwohnen, die aber offensichtlich nicht funktioniert. Publikum und Presse waren außer sich vor Begeisterung, nicht vor Empörung. Und recht eigentlich kann auch keine Demontage des Siegfried-Mythos gemeint sein, die einerseits ins Leere laufen müsste, andererseits aber doch wieder Siegfried als Helden erscheinen lassen soll. Er überlebt in einem Sarg aus Glas, triumphiert, so möchte man sagen, über sein gesamtes Umfeld. Frauen übrigens, ob nun Kriemhild, Brünhild oder die Walküren, aber auch die Mütter von Siegfried und Kriemhild, sind nicht mehr als blasses Personal einer männlichen, sexualisierten Welt, die nirgendwo zu erkennen gibt, auf welche Wirklichkeit sie sich eventuell bezieht, und in der die Frauen sich sexualisiert im Sinne männlicher Phantasien verhalten. Bereichert wird die Geschichte noch mit wohlfeilen Gewaltphantasien. So bedient man sich beim Weitwerfen statt Steinen einiger Köpfe, die beim Aufprall zerplatzen. Das Tauziehen erfolgt unter Verwendung des Darms einer frisch ausgeweideten Leiche. Eine kritische Dimension wird man in diesem Stück vergeblich suchen. Aber es ist auch kein absurdes Theater, das etwa die Absurdität der Welt darstellen wollte. Das Spiel an sich erlaubt kaum eine eindringliche Analyse, das Interessanteste an ihm sind die positiven Reaktionen des Publikums. Zaimoglu hat sich in Interviews ausführlich zu seinem Stück geäußert. „Siegfried bleibt ein Held, auch wenn er tot ist“, so lässt sich der Autor vernehmen. „Er kracht in diese Welt der höfischen Etikette und Regeln hinein auf die Gefahr hin, dass er als Depp dasteht; als einer, der unterrichtet werden muss. Er ist ein junger, naiver Trampel, der noch reifen muss – und trotzdem besteht er

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alle Abenteuer!“ Und weiter: „Ich sehe es nicht ein, dass Geschichten, die dem Volk gehören – also buchstäbliches Volksgut – nicht mehr so erzählt werden, wie sie nun mal erzählt worden sind, nur weil sie von den Nazis missbraucht wurden.“11 Auch wenn man Autoren nicht trauen sollte, wenn sie von ihren Intentionen beim Verfassen eines Werks reden, so sollte die Betonung, Siegfried als Held darstellen zu wollen, aufhorchen lassen. Sollte er dann auch noch als Rebell gesehen werden, der sich gegen die sterile adlige Oberschicht, der er selbst angehört, wehrt, an seinen Abenteuern wächst und sie besteht? Völlig absurd, aber eben nicht im Sinne eines Ionesco oder Beckett, wird es, wenn Zaimoglu sich dazu versteigt, das Nibelungenlied als Volksgut zu propagieren, das einmal so erzählt worden sei, wie er es erzähle. Unbestreitbar ist der Erfolg, den das Stück am Münchener Volkstheater und unisono in der Tagespresse erzielte. Hier hätten sich „zwei große Jungs zusammengefunden, die gemeinsam Mal so richtig die Sau raus lassen wollten“ hieß es im Deutschlandradio.12 Im Deutschlandfunk war von einem neuen, zotigen Blick auf eine alte Sage die Rede: „Das Münchner Volkstheater hat die germanische Sage um Siegfried und den Nibelungenstoff vom Rhein an die Isar geholt. Unter der Regie von Christian Stückl ist der Siegfried von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel mit seinen tumben Figuren und seiner zotigen Sprache ein parodistischer Totalausverkauf für den deutschen Nationalmythos – und ein reines Vergnügen zuzuschauen.“13 In anderen Rezensionen dominierten die Versuche, eben doch eine kritische Botschaft herauszulesen: „Entlarvung durch Übertreibung, die germanische Heldensage als genau der Kokolores, als den wir uns die Beschwörung von Herrschaft und Männlichkeit heute hoffentlich nur noch vorstellen können“,14 und in der Süddeutschen Zeitung schrieb Cornelia Fiedler von der „Demaskierung der versammelten Helden: als triebgesteuert, machtgeil, ehr- und hirnlos“, der „Bruch mit sämtlichen, bis heute geläufigen, heroischen Verklärungen“ sei

|| 11 http://www.wormser-zeitung.de/lokales/kultur/worms-schriftsteller-feridun-zaimogluund-sein-kuenstlerischer-partner-setzen-sich-mit-siegfried-figur-auseinander_16014843.htm, vom 18.08.2015 (letzter Zugriff: 5.1.2017). 12 http://www.deutschlandradiokultur.de/siegfried-am-muenchner-volkstheater-mal-richtigdie-sau.1013.de.html?dram:article_id=315577, vom 27.3.2015 (letzter Zugriff: 5.1.2017). 13 http://www.deutschlandfunk.de/feridun-zaimoglus-siegfried-ein-zotiger-neuer-blickauf.691.de.html?dram:article_id=315600, vom 28.3.2105 (letzter Zugriff: 5.1.2017). 14 http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10739: siegfried-christian-stueckl-urinszeniert-die-mythos-aufbereitung-von-feridun-zaimogluundguenter-senkel-am-volkstheater-muenchen&catid=38&Itemid=40, vom 27.12.2016 (letzter Zugriff: 5.1.2017).

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„ein sympathischer Ansatz“ und „zeitweise“ zumindest „spaßig anzuschauen“.15 Nun werden doch wieder alle Vorstellungen von Siegfried und den Nibelungen abgerufen, die der Vergangenheit anzugehören schienen. Zaimoglu biete eine Neufassung des „Nibelungenmythos“.16 Während man sich mit dem von Zaimoglu formulierten Interpretationsmuster nicht länger aufzuhalten braucht, ist die in den Rezensionen wahrgenommene entgegen gesetzte Sinnebene überraschend. Sie setzen das Weiterleben des Siegfried/Nibelungen-Mythos voraus. An der germanischen Heldensage aber ist sicherlich nichts mehr zu entlarven, da ist Siegfried längst kein Held mehr, der demaskiert werden könnte. Aber auch die oberflächlicheren Besprechungen gehen vom Nationalhelden und von einem Nationalmythos aus, worum es hier ginge. Es ist aber offensichtlich nicht so, dass in einem nennenswerten Teil der ‚Deutschen‘ noch eine mehr als bloß diffuse Vorstellung, die zu einem solchen Verständnis nötig wäre, existiert. Inwieweit jedoch Bildbereiche und Sinnbezüge ‚der‘ Deutschen auch hier angesprochen werden könnten, wie Nell im obigen Zitat formulierte, ist eine ganz andere Frage. Solcherart Sinnbezüge sind auch herstellbar ohne jede Kenntnis der Sage oder der Überzeugung, Siegfried sei der deutsche Nationalheld. Solche Bildbereiche könnten in der (erwarteten?) Reaktion des Publikums zu finden sein, die dann einer dritten Verständnisebene anzugehören scheint. Diese war auch in den meisten Besprechungen mit angesprochen („reines Vergnügen“, tief in die Sexual- und Fäkalsprache „langen“, um dem Stoff „Erdung und Zunder“ zu geben17 etc.): der Spaß, das Vergnügen, das ein vermeintliches Volksstück (von „Volksgut“ sprach Zaimoglu) an einem Volkstheater hervorruft. Was aber kann daran so herrlich spaßig sein, wenn unentwegt „Arsch“ und „Scheiße“ gerufen wird?18 Leerstellen des Lieds werden durch dieses Stück nicht gefüllt.

|| 15 Süddeutsche Zeitung am 30.3. 2015. 16 So in einer Verlautbarung zur Inszenierung im Schloßtheater Moers. 17 Deutschlandfunk (wie Anm. 13). 18 Es fällt schwer, hier nicht an das Buch des Ethnologen Alan Dundes (1984) zu denken, das hierzulande durchaus auch Unmut hervorgerufen hatte. Dort hatte er zu belegen versucht, dass in deutschen Traditionen sehr viel für einen anal fixierten Volkscharakter spräche. Können sich die Deutschen also wieder in den Nibelungen erkennen, wenn diese auf der Bühne als anal gestörte Idioten dargestellt werden? Dies wäre auf den ersten Blick kein unbedingt beunruhigender Sachverhalt. Bedenkt man aber, dass nach Freud die Unterdrückung der analsadistischen Phase durch extreme Reinlichkeitsdressur und Forderung nach absolutem Gehorsam zu den bekannten psychischen Deformationen führt und kennzeichnend für den autoritären Charakter ist, schließt sich vielleicht ein Kreis. Sollte das die Botschaft des Textes sein?

Ende eines Mythos? Die Nibelungen im 21. Jahrhundert | 201

Bei allem guten Willen, den man den Verantwortlichen des Wormser Spektakels zugestehen will, bleibt doch der Event irritierend, der plötzlich im neuen Jahrtausend möglich wurde. Den dort aufgeführten Werken allein ist er wohl nicht zu verdanken. Der Verdacht, dass spezifisch ‚Deutsches‘ der Art, wie es Thomas Mann im Doktor Faustus vorgeführt hat, in der ‚deutschen Seele‘ fortwest, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Dass im alten Stoff, unabhängig davon, aktualisierbare Kraft zu entdecken ist, zeigt der Umgang Tarantinos damit, und dass das mittelhochdeutsche Nibelungenlied wie so manch anderer mittelalterlicher Text weiterhin, auf ganz andere Weise ‚für uns‘ ist, Ulrike Draesners Heimsuchung.

Literaturverzeichnis Texte Draesner, Ulrike. Heimliche Helden. Über Heinrich von Kleist, James Joyce, Thomas Mann, Gottfried Benn, Karl Valentin u. v. a. München: Luchterhand Literaturverlag, 2013. Draesner, Ulrike. Subsong. München: Luchterhand Literaturverlag, 2014. Draesner, Ulrike. Nibelungen. Heimsuchung. Mit den Illustrationen von Carl Otto Czeschka. Stuttgart: Reclam, 2016. Erpenbeck, Jenny. Heimsuchung. Frankfurt: Eichborn 2008. Nibelungen-Gedichte. Ein Lesebuch. Gunter E. Grimm (Hg.). Marburg: Tectum, 2011. Nie gelungen Lied. Der Nibelunge Nôt. Zusammengestellt von Detlef Goller und Nora Gomringer. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 252. Göttingen: Wallstein, 2013. Zaimoglu, Feridun und Günter Senkel. Siegfried. Reinbek: Rowohlt Theaterverlag, 2015.

Forschungsliteratur Bennewitz, Ingrid. „Siegfried Unchained, oder: Die gefährliche Brautwerbung des Quentin Tarantino“. Nie gelungen Lied. Der Nibelunge Nôt. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 252. Zusammengestellt von Detlef Goller und Nora Gomringer. Göttingen: Wallstein, 2013, 140–144. Dundes, Alan. Life is Like a Chicken Coop Ladder: A Portrait of German Culture Through Folklore. New York: Columbia University Press, 1984. [Deutsch: ders. Sie mich auch. Das Hinter-Gründige in der deutschen Psyche. Bad Soden im Taunus: Beltz, 1984.] Gallé, Volker. „Das Heldenepos und seine offenen Türen. Kurze Geschichte der Nibelungeninszenierungen in Worms“. In: Nie gelungen Lied. Der Nibelunge Nôt. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 252. Zusammengestellt von Detlef Goller und Nora Gomringer. Göttingen: Wallstein, 2013, 95–100.

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Heinzle, Joachim und Anneliese Waldschmidt (Hgg.). Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffes im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991. Münkler, Herfried und Wolfgang Storch. Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin: Rotbuch, 1988. Nell, Werner. „Siegfried und die ‚Nebeljungen‘. Einige Nibelungen. Motive im Schatten des Nationalsozialismus“. In: Nie gelungen Lied. Der Nibelunge Nôt. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 252. Zusammengestellt von Detlef Goller und Nora Gomringer. Göttingen: Wallstein, 2013, 151–162.

| Teil III: Mehrsprachigkeit – Brücken und Mauern

Sara S. Poor, Princeton

The Transcultural Multilingualism of the Strasbourg Oaths and its Modern Legacy In 842, the second and third living sons of Emperor Louis the Pious (778–840) – Louis the German (810–876) and Charles the Bald (823–877) – swore publicly to persist in their united front against their elder brother, Emperor Lothar I (795– 855), an event that was recorded in the Historiarum Libri IV of the Frankish historian Nithard (d. 844) and is known as the “Strasbourg Oaths.”1 The oaths are striking, because the assumption has often been made that each King swore the oath in the supposed “native language” or “mother tongue” of the other and his followers (Yildiz 2012, 2). That is, Charles, whose native language was supposedly Romance (a spoken form of Latin used in the Western part of the empire) swore the oath in Frankish (a form of Old High German) and Louis, whose native language was supposedly Frankish (the language spoken in the Eastern part of the empire), swore the oath in Romance. In the oath, they both swear to protect the other and not to enter into any agreements with their mutual opponent, Lothar. In a second oath, the leaders of their respective armies swear (this time in their own tongues) not to follow their king if said king should break the oath he just made to his brother.2 Precisely because the divisions of the realms made in the following year in the treaty of Verdun remain largely consistent into the modern era and because the languages in which the oaths are sworn are thereby connected to those divisions, this moment has been viewed as, at the very least, a turning point. After this treaty, German was the vernacular firmly associated with the Eastern region from which the modern nation of Germany emerged and French was firmly associated with the Western region from which the modern nation of France emerged (e. g., Classen 1963). Thus, while Charlemagne is typically thought to be a founding political and cultural figure for both present-day Germany and France, in the nineteenth century it was his grandson, Charles the Bald, who could much more easily be || 1 This essay grew out of a paper for a seminar on “The Rise and Fall of Monolingualism” at the GSA annual meeting in 2015. A longer version will appear in a forthcoming special issue of the German Studies Review, edited by Bethany Wiggin and David J. Gramling. For the English translation of Nithard, see Scholz and Rogers 1970 and for the original, Nithard 1907, III, 5; 35– 37. For an analysis of both kings’ oaths as they appear in the one surviving manuscript from the medieval period (10th c.), Gärtner and Holtus 1995. 2 For the text of the oaths in the original and in translation, see below.

DOI 10.1515/9783110556438-014

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claimed to be the first French King and thus the founder of France (Classen 1963, 2). Clearly a similar argument could be made about Charles’s half brother, Louis, aptly named “the German,” whose dominion was over lands that have consistently been thought of as comprising Germany since the nineteenth century. Indeed, an inscription on an obelisk erected in 1860 at the site of the famous battle of Fontenoy that preceded the oath-making reads: “The victory of Charles the Bald separated France from the Western empire and founded the independence of the French nation” (Nelson 1992, 1). However, as Janet Nelson has pointed out in her biography of Charles the Bald: In fact French unity and French nationality were largely post-medieval; and they were unnatural. For Charles’s was a kingdom of manmade frontiers, superimposed on nature. The Carolingians’ heartlands, that is the area where most of their estates were clustered, and where Franks had been settled for centuries, spanned modern Belgium and the Netherlands, northern France, and western Germany, thus laying athwart the ‘natural’ frontiers of the Ardennes forest, and the rivers Meuse and Rhine (Nelson 1992, 2).

Further, many sub-domains within the Frankish lands, too, were imposed by leaders and were not the same as domains of the same name even a few hundred years later. “The political units of the ninth century were thus very different from those imagined by nineteenth-century patriots,” Nelson concludes (1992, 2). One of the indications of this significant (and often overlooked) difference is the remarkable situation in which two brothers have different native languages. In what follows, I try to shed light on this situation by exploring in more detail the context of the oaths and the curious linguistic circumstances it highlights. This exploration leads to the insight that terms like “native language” and “mother tongue” are inadequate. The more appropriate term, I argue, is “customary language” (Stacey 2007, 246). Finally, the use of customary languages in the oath-making event turns out to be political, but not in the way it has been traditionally interpreted by our nationally defined humanistic disciplines. I then conclude with brief comments about the modern legacy of the oaths.

Context The Strasbourg oaths mark a major moment in what historians call the “great Carolingian civil war” (Goldberg 2006, 86). This war grew out of the decision of the father of Lothar, Pippin, Louis, and Charles – Louis the Pious (778–840) – to

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bypass the usual inheritance practice of dividing the patrimony equally among the living sons and instead to maintain the unified empire he had inherited from his father, Charlemagne.3 In 817, just three years after he himself had ascended to the imperial throne, Louis the Pious therefore made his eldest son, Lothar, co-emperor of the imperial lands in central Francia (Neustria, Austrasia, and Burgundy) as well as Frisia, Saxony, Thuringia, Alemannia, Alsace, and Italy and named him as his successor. He named his other sons (initially Louis the German and Pippin, for Charles the Bald had not yet been born) kings of outlying kingdoms: Pippin would keep Aquitaine; and young Louis the German was slated to become king of Bavaria.4 Neither Pippin nor Louis the German would be particularly happy about this turn of events, but while their father lived, they accepted it. Complicating Louis the Pious’s decree was the death of his first wife Ermengard in 818, a year after which he married Judith, a noblewoman from two prominent families of the Eastern Frankish realms. In 823, Judith bore Louis the Pious a fourth son, whom Louis named Charles. In 829, Louis the Pious announced a new division of the empire for his sons, designating Alemannia, Alsace, Chur, and parts of Burgundy for the new addition to the family, later known as Charles the Bald. All three of the other sons protested, but Lothar was the most vocal and as a result was dismissed back to Italy, his co-emperorship revoked. The years between 830 and Louis the Pious’s death in 840 then witnessed repeated rebellions from various combinations of the four sons with varying degrees of success and with all of the parties changing sides multiple times. When the eldest son, Pippin, died in 838, the distribution of the kingdoms was announced again: Charles received Aquitaine and Neustria and Lothar, who had reconciled with his father and been recalled from Italy, was confirmed as ruler of everything else except Bavaria, which was again left to Louis the German. Just before he died in 840, Louis the Pious split the kingdom again, but this time in two, between Lothar and Charles, leaving Louis the German out of the picture entirely. After his father died, Louis the German fought back by turning his energies against Lothar, who in turn, decided to attack Charles, whom Lothar saw as weaker. This attack took place in 841. In || 3 For a detailed account of this historical narrative, see Goldberg 2006, 24-116. On Louis the Pious’s life, Boshof 1996. 4 Johannes Fried argues that Louis the Pious got this idea from his father, who, when he first announced the succession in 806, left a larger kingdom of Francia to his eldest son Charles and the outer-lying regna of Aquitaine and Bavaria to his other sons, Pippin and Louis respectively (Fried 2013, 543–547). The two elder sons died before they could inherit, however, and Louis the Pious became emperor of the entire empire upon Charlemagne’s death in 814.

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response, Charles reached out to Louis the German for help. Louis answered his younger brother’s call, marching his army swiftly eastward where they then confronted Lothar at the famous battle of Fontenoy.5 Whereas in most previous conflicts, actual battle was avoided in favor of negotiations or retreat, this time no one backed down. Although Louis and Charles were victorious, the armies of all parties involved suffered significant casualties. The various rebellions leading up to this battle and the toll of the battle itself provide the full context for the Strasbourg oaths. In the aftermath, the nobles who had been crucial in all of these conflicts – in each of the rebellions, each leader had to garner the support through landgrants and other types of payments (bribes) – balked at the idea of this battle possibly not being the end of the war (Goldberg 2006, 106; Geary 2013, 82). They had seen all of the Carolingian lords break their oaths repeatedly and the result was not only a great loss of life, but also the devastation of many of the lands between Austrasia and Bavaria. Both Louis and Charles, but especially Louis were well aware that they could not secure sovereignty or authority without the support of the aristocracy and the armies their vassals brought with them. In order to ensure the continued support of their nobles, then, Louis and Charles gave the famous Strasbourg oaths.

The Oaths As mentioned above, Louis and Charles each swore allegiance to the other in their fight against Lothar. The oath-taking was recorded in great detail by Nithard, who takes pains to explain who is speaking in which language. Before the actual oaths, each king gives a short speech explaining why they are making the oaths – namely to reassure the nobles that they are united in their desire to defeat Lothar and thus end the war: “one … in German and the other in Romance.”6 The brothers then address the problem of trust explicitly with the oaths to each other, but to make sure everyone involved really understands their assurances, they assert them publicly in both vernaculars. Nithard underscores the importance of the language choice when he writes down the oaths themselves verbatim, not in the official Latin of record-keeping, but in each of the vernaculars. First Louis in Romance:

|| 5 For a detailed account of this battle, Nelson 1992, 114–122. 6 Nithard III, 5, 35; Scholz 1970, 161: alter Teudisca alter Romana alloquuti sunt.

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Pro Deo amur et pro Christian poblo et nostro commun saluament, d"ist di in auant, in quant Deus sauir et podir me dunat, si saluarai eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dist, in o quid il mi altresi fazet; et ab Ludher nul plaid numquam prindrai, qui meon uol cist meon fradre Karle in damno sit (Nithard 1907, III, 5, 36). For the love of God and for our Christian people’s salvation and our own, from this day on, as far as God grants knowledge and power to me, I shall treat my brother with regard to aid and everything else as a man should rightfully treat his brother, on condition that he do the same to me. And I shall not enter into any dealings with Lothair which might with my consent injure this my brother Charles (Scholz 1970, 162).

Once Louis was done, Charles swore “in the German language by the same words as follows:” In Godes minna ind in thes Christanes folches ind unser bedhero gealtnissi, fon thesemo dage frammordes, so fram so mir Got geuuizci indi mahd furgibit, so haldih tesan minan bruodher, soso man mit rehtu sinan bruodher scal, in thiu thaz er mig sosoma duo; indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango, zhe minan uuillon imo ce scadhen uuerhen (Nithard 1907, III, 5, 36). For the love of God and for the Christian people’s and our salvation, from this day on, as far as God grants me knowledge and power, I shall treat my brother as a man rightfully should treat his brother, on condition that he do the same to me; and I shall not enter into anything with Lothair that might with my consent injure Louis (Scholz 1970, 162).

Following the kings’ oaths, Nithard reports that each group of nobles swears to make sure their own lord keeps his word and he records these oaths in the two vernaculars as well. Important to note here is that, although the vernaculars were meant to ensure that everyone involved understood what was being promised, the identification of the vernacular with a place and culture should not necessarily be assumed. In another case where multilingual oaths are recorded, for example, the languages used had to be switched around because some of groups involved had switched sides.7 In other words, rather than one king swearing the oath in the language of the opposing king, in this case both languages were used for both sides because some groups had shifted their affiliations during the conflict.

|| 7 For the details of this agreement (finalized in Koblenz in 857) see Geary 2013, 83–84.

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“Native Language” or “Mother Tongue”? As previously mentioned, for someone coming to the Strasbourg oaths for the first time, they seem noteworthy not just for the evidence they provide of multilingualism among the Carolingians, but also because of an assumption that is often made about the “native languages” of the brothers. The term “native language” in modern usage commonly refers to the language of those not merely who live in a particular place, but who also are indigenous to it, who were born there and as such identify themselves with the place. However, as is clear from the discussion thus far, native language is a term that seems inadequate in this context. Examining the language situation of Charles and Louis more closely illustrates more clearly why this is the case. One must first recall that Louis and Charles were only half brothers. Louis the Pious (778–840), their father and Charlemagne’s heir, had three sons with his first wife Ermengard, whom he married in 794, who died in 818, and who was the daughter of a Frankish Count (from an area around present-day Belgium): Lothar, Pippin, and Louis the German. With his second wife, Judith, whom he married in 819, who died in 843, and who was the daughter of the prominent Bavarian Count Welf, he had a daughter (Gisele, ca 821 – after 874) and a son (Charles the Bald). Louis and Charles therefore had different mothers and were approximately fifteen years apart in age. For this reason, the term “mother tongue” begins to resonate. Louis is usually thought to have German as his first language because he spent a large part of his youth at his father’s imperial court in and around Aachen. And although his mother stems from a family whose homelands were in Hesbaye, near Liège (an area we now associate with French speakers), in the ninth century, this region was part of the Carolingian heartlands and therefore likely populated with Frankish/German speakers. Louis’s German could thus be attributed to the linguistic identity of his mother. However, Eric Goldberg notes that Louis was most likely tri-lingual: in addition to Germanic / Frankish (the assumed native language) and Latin (language of government, church, and education), he clearly also knew Romance, “which he presumably learned as a young boy in Aquitaine” (Goldberg 2006, 32–33). Before Louis the Pious became emperor, he was king of Aquitaine (781–814) and therefore resided there during his reign. Louis the German was born in 810 and thus spent his infancy and early childhood in this Romance-speaking area. Further, though his mother was Frankish and a German speaker, his wet-nurse would likely have been a local from Aquitaine and therefore a Romance speaker; Louis would likely have acquired a good deal of his early language from his nurse. One could thus plausi-

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bly argue that Louis’s native language was Romance while his mother tongue was German. Charles’s mother on the other hand was an Eastern Frank, with ancestral links to Alemannia (Nelson 1992, 76). Judith’s father was from the family of the Frankish Welfs from Bavaria and her mother was a woman of high birth from a Franco-Saxon family called the Ecbertiner (Goldberg 2006, 54). Using the actual mother, then, as the index of the “mother tongue,” Charles’s mother tongue would be German / Frankish as well, though quite possibly a different dialect than Louis’s. Moreover, again as Charles’s biographer, Janet Nelson, points out, Though the court of Louis [the Pious] was surely bilingual in Romance and Germanic, Charles’s birthplace (and hence the implied origins of his nurse – which may be more relevant here than his mother’s), and the likely residence-pattern of his early years suggest (again paradoxically for a future ‘French’ king) that his native language was, as in Walahfrid’s case [probably his tutor], a form of German (Nelson 1992, 85).

In other words, while the idea of an originary concept of a German nation derives from the link between the division of the empire in the 840s and the evidence of the oath of allegiance given by Louis the German in the purported “native language” of his brother Charles (Romance), the reality seems to be that Louis the German’s first language may actually have been Romance, since his wet-nurse was likely a Romance speaker. Similarly, while the idea of an originary concept of a French nation derives from the link between the division of the empire in the 840s and the oath given by Charles in the native language of his brother (Old High German), the reality seems to be that Charles’s first language was actually Old High German. The near impossibility of determining the first and thus presumably “native” language or “mother” tongue of each of these figures is, needless to say, striking. In both cases it seems that the brothers have perhaps different “native” languages but the same or at least a similar “mother” tongue. This more nuanced understanding of the linguistic reality of the ninth century political elite calls into question any notion that either of these men, along with the other elites involved in their story, had just one native or first language. The oath-making in the vernaculars is thus not meaningful in the ways that modern interpreters might want it to be since this early medieval context was clearly multilingual in every sense of that word. More recent historical analyses of the oaths have argued for understanding the oaths in terms of the job they are doing in the political context.8 In some of

|| 8 Young and Gloning 2004, 60; argued in more detail in Nelson 1992, Geary 2013, and Goldberg 2006.

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these works, however, assumptions continue to be made about the relationship between language on the one hand and geographical and cultural boundaries on the other. For example, in a recent study, Robin Stacey uses the Strasbourg oaths as compared to medieval Irish law to discuss the performative legal aspects of oathmaking, remarking on the code switching and the separate space this switch demarcates: It began when each king abandoned his native tongue and temporarily assumed the linguistic identity of his brother; it ended when each king reverted to his own political identity by resuming his customary language (Stacey 2007, 246).

We see here the persistence of the idea that each brother is speaking in the native language of the other - each king is said to have “abandoned” his “native tongue” and “temporarily assumed the linguistic identity of his brother.” Whereas we have seen that in the case of these Carolingians, native and mother tongues are not always the same, Stacey combines the terms here. Yet the second half of the sentence demonstrates a shift in perspective, which can be seen in the absence of the key terms from the first part of the sentence. The important historical moment “ends” when each king “reverts” to his “own political identity” when he resumes his “customary” language. Important new terms appear in this description. We are no longer talking about native tongues or linguistic identities, but rather about customary languages that relate more to political claims than to cultural boundaries. Hence, Stacey argues that the oaths tell us more about kingship than about who speaks what language more “naturally”. Yet not even this argument can be made without continuing to assert a binding connection between language, culture, and place: Within the performative space, each king temporarily became in effect, a resident of the lands of the other, swearing his oath to his fellow countrymen in the language in which they lived and worked and fought. The identities of the supporters, by contrast, were limited both within and without the performative space of the oath: the kings could transcend the linguistic and cultural boundaries of the empire, but ordinary men could not (Stacey 2007, 246, my emphasis, S. P.).

Because the borders of the various political entities were constantly moving in this period, as evident in the details of the civil war, the kings’ political use of the vernaculars is characterized here as an assertion of living in or at least being of the same place and thus having a claim to it. Stacey also points here to an alternative reading of the code-switching – rather than ensuring that all parties understand, the kings are demonstrating their own ability to move between the different linguistic / political boundaries versus the nobles’ inability. Yet it is

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still difficult to see precisely how language can indicate a boundary of culture or place at this time when both of these are clearly in such constant flux. The more striking conclusion here is the larger claim being made by the use of the vernaculars. As Stacey argues, in deploying the oath against their elder brother, the emperor, Louis and Charles are asserting both separate political identities and a claim on the unity of the empire at the same time. Or put another way, the mastery of two languages, the multilingualism of these men is performed not as an assertion of separate cultural or proto-national identity, but rather as a reflection of the unity and coherence of the empire, of the idea that the pieces of the empire ruled by the brothers belong together. We have established that to assert that the kings were speaking in the others’ native language is inaccurate vis à vis the multilingual reality. And Stacey’s position questions the more common revision of the nationalist explanation that the two languages were used to make sure everyone in both groups understood what was being promised. In my view, while the performance of the oaths may not prove the existence of a shared linguistic identity tied to a specific place, it surely asserted a connection between language and association by fealty. These associations were in some cases connected to particular regions, even though the exact borders of the regions were often in flux. But the remarkable thing about this is that these performative articulations of specific, intersecting political / customary linguistic identities are used to promote the idea of a wider political unity that would hold, encompass, and govern all of the more particular, linguistically diverse parts. This historical moment presents us with a very obvious case of multilingualism that paradoxically attests to the larger idea of empire as aspired to by the ambitious grandsons of Charlemagne.

The Modern Legacy While only a few manuscripts of Nithard’s text survive from the Middle Ages, a new study by Andreas Beck establishes that there were many and varying interpretations of the oaths circulating in early modern Europe, in French, Latin, and German printed books (Beck 2014). While I do not have space to go into detail here, this study suggests that the trend towards understanding the oaths as a beginning of monolingualism can be detected in the earliest of the French and German printings. Indeed, this early modern reception can perhaps be said to resonate with Benedict Anderson’s explanation of the rise of nationalism: “the convergence of capitalism and print technology on the fatal diversity of human language created the possibility of a new form of imagined community, which

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in its basic morphology set the stage for the modern nation” (2006, 46). Once the technology appears, Anderson argues, the production of books in the vernacular, spurred on by the Reformation, allows for peoples speaking different versions of a language to develop the ability to read a standardized version and this ability leads to a self-identification with other readers of the same standard. This explanation seems plausible when we view it next to the relative dearth of medieval reception of the oaths in contrast to the bounteous reception in the early modern period. Even if the authors of the 1860 inscription on the obelisk are wrong to imagine a medieval origin in Charles the Bald for their idea of France, the biased association of language with land and culture was clearly not a nineteenth-century invention either.9 However, perhaps it is time to turn away from this narrative of origin once and for all and instead refocus our attention, as I have tried to do in this essay, on the multilingual context of the oaths. We need not adopt the imperial claims of Louis and Charles when we consider their legacy for us to be the idea that multilingualism could signal belonging and togetherness instead of division and enmity. Indeed, this re-thinking seems especially relevant in light of today’s worldwide movements of peoples and communities due to the devastation of war.

Works Cited Primary Text Nithard. Historiarum Libri IV, ed. Ernest Müller, Monumenta Germaniae Historica (eMGH) SRG 44. http://clt.brepolis.net/eMGH/pages/Toc.aspx. Hanover 1907. Vol. III. (September 29, 2016).

Secondary Literature Anderson, Benedict. Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. Revised ed. New York: Verso, 2006.

|| 9 David Bell argues for the origin of French nationalism in the French Revolutionary War period: “In the French Revolution, for the first time, large numbers of French came to draw the common modern equation between the legal character of nationality and the cultural fact of language” (1995, 1405).

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Heinz Sieburg, Luxemburg

Sprachen als Brücke, Sprachen als Barriere Divergenz- und Konvergenzprozesse vom Mittelalter bis heute

1 Einleitung Als Zoon politikon (Aristoteles) ist der Mensch auf Sprache als das entscheidende Kommunikationsinstrument angewiesen. Schlicht gilt: Der Mensch als Gesellschaftswesen ist zugleich Sprachwesen. Sprachliche Interaktion setzt, modern gesprochen, einen gemeinsamen sprachlichen Code voraus. Nur so funktioniert Verständigung, wird Sprache zur ‚Brücke‘. Die Gegenmetapher der ‚Barriere‘ gilt dort, wo ein gemeinsamer Sprachbesitz nicht gegeben ist und die Grenzen der eigenen Sprache den Kommunikationsradius limitieren. Während die Brückenmetapher Konvergenz (Zusammenfall von Sprachen) voraussetzt, korrespondiert in diachroner Perspektive das Bild der Barriere mit Prozessen der Divergenz (Sprachenspaltung). Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, Brücke und Barriere leitmotivisch zu verwenden, um anhand von Konvergenz- und Divergenzphänomenen einige Grundsystematiken der europäischen, spezieller noch der deutschen Sprachgeschichte nachzuzeichnen. Dabei kommt dem Blick auf das Mittelalter – und mithin der Mediävistik – eine besondere Relevanz zu, da in dieser Epoche wesentliche Grundlagen für die modernen Gesellschaftsordnungen, insbesondere in kultureller und eben auch in sprachlicher Hinsicht gelegt wurden. Zunächst sind dafür einige weitere grundsätzliche Voraussetzungen zu betonen: Kommunikation ist zwar gebunden an Sprache, jedoch wäre es naiv, Sprache allein auf ihre referentielle (Bezeichnungs-) Funktion reduzieren zu wollen. Eine solche technokratische Sichtweise verstellt wesentliche (weitere) Funktionen der Sprache. Hess-Lüttich (2004, 491) etwa weist auf die sozial-symbolische Funktion der Sprache und ihre identitätssteuernde Relevanz für den jeweiligen Sprecher hin: Seine Äußerung von Zeichen ist zugleich, im schönen Doppelsinn des Wortes, eine ‚Äußerung‘ seiner selbst: er kehrt nach außen, was ihn den anderen als ‚Person‘ identifiziert, als ‚soziales Subjekt‘, nicht nur als ‚Sender‘, der Botschaften übermittelt, nicht nur als ‚Handelnden‘, der Äußerungsakte produziert.

DOI 10.1515/9783110556438-015

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Mit Sprache haben sich von Anfang an Vorstellungen von Identität, Zugehörigkeit und auch Abgrenzung verbunden, egal ob die dadurch konstituierte Sprachgemeinschaft mit Begriffen wie Stamm, Volk, Nation oder sonst wie belegt wurden. Problematische Kehrseite hierbei ist die Tatsache, dass Sprache oft genug mystifiziert oder Sprachpolitik im Sinne der Homogenisierung gegen andere gewendet oder die Betonung des Wertes der eigenen Sprache Grundlage der Abwertung anderer Sprachen (und deren Sprecher) wurde. Diese, man könnte sagen ideologisch-identitäre ‚Aufladung‘ von Sprache verbindet sich unter Umständen mit einer religiös-rituellen Sprache. In diesem Sinne ist sie integraler Bestandteil religiöser Weltanschauungen und ritueller Praktiken. Eine solche Auffassung spiegelt sich in Bezeichnungen wie Hieroglyphen (‚heilige Zeichen‘), der Verwendung von Runen zu kultisch-magischen Zwecken, überhaupt einem auch das Mittelalter prägenden magischen Zeichenverständnis und letztlich auch in der Dignität der großen ‚Buch‘-Religionen und der ‚Sakrosanktitas‘ der ihnen zugehörigen (heiligen) Sprachen.1 Auch im Europa der Gegenwart, zumal in der Europäischen Union, spielt die Sprachenfrage eine wesentliche Rolle – und ist zugleich eine enorme Herausforderung. Vielsprachigkeit2 wird hier als wesentlicher Ausdruck kultureller und identitärer Vielfalt geschätzt und gefördert. Der Sprachbarrierenproblematik, die dem Zusammenwachsen der unterschiedlichen Einzelstaaten und Sprachgemeinschaften entgegensteht, soll durch eine gezielte Förderung von Mehrsprachigkeit begegnet werden: Die allgemeine Sprachenpolitik der EU zielt darauf ab, die sprachliche Vielfalt zu schützen und Sprachkenntnisse zu fördern. Ziel ist es, die kulturelle Identität und soziale Integration zu fördern. Darüber hinaus sind mehrsprachige Bürger eher in der Lage, bildungspolitische, berufliche und wirtschaftliche Chancen, die ein integriertes Europa bietet, zu nutzen. Ziel ist ein Europa, in dem jeder Bürger neben seiner Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen spricht.3

Die zu bewältigenden kommunikativen Aufgaben im Rahmen international stark vernetzter Strukturen, sei es bezogen auf supranationale (z. B. EU), natio-

|| 1 „Am Anfang war das Wort“, heißt es etwa zu Beginn des Johannesevangeliums. 2 Vielsprachigkeit, ebenso wie Sprachenvielfalt, meint hier die Vielfalt unterschiedlicher Sprachen. Im Gegensatz dazu meint Mehrsprachigkeit die polyglotte Kompetenz einzelner Sprecher oder auch Sprachgemeinschaften. 3 Europäische Kommission, Sprachenpolitik. Online unter: http://ec.europa.eu/dgs/scic/beco me-an-interpreter/language-policy/index_de.html (letzter Zugriff: 23.01.2017).

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nale (z. B. Universitäten) oder individuelle Ebenen, machen Strategien zur Überbrückung der Sprachbarrieren unumgänglich. Als Schlüssel zur Lösung des Problems gilt, wie gesehen, generell der Fremdsprachenerwerb, wobei sich das Englische mehr und mehr als ‚Passepartout‘ durchsetzt. Dieser Sprachbefund erweist sich im Lichte einer diachronen Sprachbetrachtung nicht als stabiler Endpunkt, sondern als Durchgangsstadium sprachhistorischer Entwicklungslinien. Auffällig hierbei ist der stetige Wechsel von Divergenz- und Konvergenzprozessen und die damit verbundene Entwicklung und Abfolge von sprachlichen Brücken- und Barrierephänomenen.

2 Sprachmythisches Ein angemessenes Verständnis Europas lässt sich – wie bereits angedeutet – nur mit Blick auf die mittelalterlichen Voraussetzungen gewinnen. Das Masternarrativ des Mittelalters ist das Christentum und die damit verbundene Vorstellung eines vorbestimmten göttlichen Heilsplans. Oder, um Hans Arens (1969, 41) zu zitieren: „Der mittelalterliche Mensch steht vor lauter fraglosen Gegebenheiten, deren erste und fundamentale die in der Bibel enthaltene und von der Kirche verkündete geoffenbarte Wahrheit ist.“ Unter dieser Prämisse sind zwei Ereignisse für den gegebenen Zusammenhang wesentlich: Das ist zum einen der Turmbau zu Babel, der eine Sicht auf das Thema Sprachenvielfalt (bzw. Mehrsprachigkeit) wirft, die uns heute eher befremdlich anmutet. Sprachenvielfalt ist in diesem Sinne nämlich nicht als ein kultureller Mehrwert, als Ausweis sozialen Reichtums und kommunikativer Kompetenz zu fassen, sondern ganz im Gegenteil als eine durch Gott verhängte Strafe zur Sanktionierung menschlicher Hybris. Der damit verbundene Fluch bedeutete gleichsam eine zweite Vertreibung aus dem Paradies. Die göttlich verhängte ‚Sprachverwirrung‘ bewirkte eine Entfremdung und Spaltung der Menschheit durch Verlust einer gemeinsamen adamitischen Sprache.4

|| 4 „Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. […] Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde und sie

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Im Mythos Babel, so Jürgen Trabant (2003, 21) „wurzelt die tiefste europäische Vorstellung von der Sprache: Einheit der Sprache ist gut, paradiesisch, Vielfalt der Sprache ist schlecht, sie ist Strafe und Verlust, Verlust der ursprünglichen paradiesischen Einheit und der ursprünglichen richtigen Wörter.“ Das Ideal der ‚einerlei Sprache‘, so die christlich-mittelalterliche Überzeugung, gründet auf dem göttlichen Schöpfungsakt, indem mit der Erschaffung Adams und Evas auch die Begabung zur Sprache verbunden war. Unklar bleibt dabei, welche konkrete Sprache im Paradies gesprochen wurde. Hier gehen die Meinungen im Mittelalter durchaus auseinander. Den einen gilt das Hebräische als lingua adamica. Andere halten die Sprache Adams zwar für verloren, aber durch bestimmte Versuchsanordnungen möglicherweise für wiedererlangbar.5 Noch in der Barockzeit ist die Frage nach der Sprache des Paradieses relevant. Denn in einer Zeit, in der man sich darin zu übertreffen suchte, die eigene Sprache durch den Nachweis eines möglichst hohen Alters zu nobilitieren, ist das Bestreben erkennbar, die Anfänge bis zu den biblischen Ursprüngen, bis zum Paradies, zurückzudatieren.6 Die christlich-mittelalterliche Geringschätzung sprachlicher Vielfalt findet Vorläufer bereits in der Antike. So ist bei aller Tiefsinnigkeit der griechischantiken Sprachbetrachtung das Desinteresse für alle nichtgriechischen Sprachen und damit, nach Jürgen Trabant (2003, 24), „eine ethnozentrische Verachtung der Anderen“ evident. Die damit verbundene Vorstellung elitärer Sprachen durchzieht auch das Mittelalter. So gilt hier das Postulat der drei heiligen Sprachen, namentlich Hebräisch, Griechisch und Latein, denen als sogenannte Kreuzessprachen eine Vorzugsstellung beigemessen wurde. Im Kern sind es, so die verbreitete theologische Auffassung, allein diese Sprachen, durch die das Wort Gottes unverfälscht niedergeschrieben und verkündet werden kann. Das zweite christliche Motiv und sozusagen die Reparaturmaßnahme gegen die babylonische Sprachverwirrung ist das Pfingstwunder. Dieses hebt zwar die Sprachenvielfalt nicht auf und restituiert nicht die paradiesische Spracheinheit, aber immerhin die damit einhergehenden kommunikativen Barrieren. Bedauer-

|| hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut“ (Genesis 11, 1–9; zitiert nach der Einheitsübersetzung). 5 Entsprechend lassen sich die diesbezüglichen, mehr als fragwürdigen Experimente des Mittelalters erklären: So hat Friedrich II. offenbar Säuglinge isolieren und von einer stummen Amme aufziehen lassen, um herauszufinden, was die eigentliche, natürliche und eben adamitische Sprache sei. 6 Die Anwartschaft auf die Sprache des Paradieses wird für unterschiedliche Sprachen reklamiert: u. a. Hebräisch, Italienisch, Niederländisch, Deutsch, Arabisch.

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licherweise, könnte man (scherzhaft) sagen, wurden aber nur einige Wenige, die Jünger nämlich, vom Heiligen Geist mit einer spontanen und zudem unbeschränkten Mehrsprachigkeit begabt.

3 Wissenschaftsgeschichtliches / Divergenz vs. Konvergenz Zumindest mittelbar ist das Thema Sprachenvielfalt (bzw. Mehrsprachigkeit) auch bereits Ausgangspunkt der germanistischen Mediävistik bzw. der Germanistik (und allgemeinen Sprachwissenschaft) überhaupt. Denn die fachhistorisch ursprünglichen Fragen nach Herkunft und Verwandtschaft der deutschen Sprache und Literatur, nach ihrer Beschreibung und Typologisierung implizieren ja bereits das Spannungsverhältnis eines Neben- und Miteinanders unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. Insbesondere auch die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts ist vor diesem Hintergrund zu sehen. In diesem Zusammenhang ist auf die Stammbaumtheorie Schleichers zu verweisen, wobei hier ganz auf den Aspekt der Divergenz abgestellt wird. Demnach entstehen die indogermanischen Sprachen ganz analog zum darwinschen Konzept: „Das was Darwin für die Arten der Thiere und Pflanzen geltend macht, gilt nun aber auch, wenigstens in seinen hauptsächlichsten Zügen, für die Organismen der Sprachen“ (Schleicher 1863, 11). Vorherrschend ist hier die Vorstellung von Sprachen als Filiationen – mit Vorfahren und Nachkommen. Neue Sprachen entstehen demnach durch Abspaltungsprozesse aus der jeweils vorgängigen Grundsprache: In einer früheren Lebensperiode des Menschengeschlechtes gab es eine Sprache [...], die indogermanische Ursprache. Nachdem sie von einer Reihe von Generationen gesprochen ward, während dem wahrscheinlich das sie redende Volk sich mehrte und ausbreitete, nahm sie auf verschiedenen Theilen ihres Gebietes allmählich einen verschiedenen Charakter an, so dass endlich zwei Sprachen aus ihr hervorgiengen. Möglicher Weise können es auch mehrere Sprachen gewesen sein, von denen aber nur zwei am Leben blieben und sich weiter entwickelten; dasselbe gilt auch von allen späteren Theilungen. Jede dieser beiden Sprachen unterlag dem Differenzierungsprozesse noch zu wiederholten Malen (Schleicher 1863, 14–15).

Ein solches Divergenz-Modell zeigt fraglos gewisse Parallelen zur christlichmythischen Vorstellung der Sprachenvielfalt als ‚Zersplitterung‘ einer Ursprache, nur, dass diese jetzt nicht mehr mythisch, sondern organizistisch erklärt wird. Unterschlagen oder zumindest verdeckt ist jedoch die Tatsache, dass Spra-

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chen eben auch durch Prozesse der Konvergenz, der Vermischung, Überlagerung oder wenigstens Beeinflussung anderer Sprachen, demnach als Folge von Sprachkontakt entstehen. Sprachentstehung und Sprachwandel haben insofern immer zwei in unterschiedliche Richtungen ablaufende Entwicklungsprozesse zu berücksichtigen. Wilhelm Schmidt (2007, 5) ist daher vorbehaltlos zuzustimmen, wenn dieser betont: „In allen Perioden der sprachlichen Entwicklung lassen sich u. a. zwei gegenläufige, aber eng miteinander verknüpfte Tendenzen beobachten, die als Prozesse der sprachlichen Integration und der sprachlichen Differenzierung zu charakterisieren sind.“ Für beide Prozesse lässt sich die deutsche Sprache als Beispiel anführen. Einerseits gilt, dass sich das Deutsche, üblicherweise festgemacht an der zweiten Lautverschiebung, im Verlauf des Frühmittelalters aus dem Germanischen ausgliedert (Divergenz). Das Germanische ist aber seinerseits Konvergenzprodukt, mutmaßlich entstanden infolge der Verbindung oder Vermischung einer indogermanischen Schnurkeramiker-Kultur mit einer älteren vorindogermanischen Megalithgräber-Kultur. Und auch das Deutsche ist von Anfang an Resultat von Konvergenzprozessen unterschiedlicher germanischer Stammessprachen bzw. deren Abkömmlingen (Dialekte). Diese Kontinuität führt schließlich zur Entwicklung der neuhochdeutschen Standardsprache (bzw. Hochsprache oder Einheitssprache), die erst um 1900 mit dem Rechtschreib-Duden und der Siebsschen Aussprachenormierung eine gültige Kodifikation gefunden hat. Werner Besch (1983) beschreibt diese Jahrhunderte währende Entwicklung als eine Stufenfolge von Dialekt, Schreibdialekt, Schriftsprache und Standardsprache. Die neuhochdeutsche Standardsprache überdacht die nach wie vor weiter existierenden Dialekte. Als Überdachungssprache kommt ihr eine wichtige Brückenfunktion zur Überwindung der ansonsten weiterhin existierenden Barrieren zwischen den einzelnen Dialekten bzw. Regionalsprachen zu.7 Die Entwicklung der Standardsprache folgt dabei – bei aller Komplexität im Einzelnen – da sie auf unterschiedlichen Dialekten aufbaut, aufs Ganze betrachtet dem Konvergenzmodell. Um nur ein Beispiel zu geben: Die Aussprachenormierung unter Theodor Siebs war als Ausgleichsprozess zwischen unterschiedlichen Regionen angelegt. Sie folgte dem generellen Grundsatz ‚niederdeutsche Aus-

|| 7 Bei der für die Entwicklung einer deutschen Einheitssprache wirkmächtigen Bibelübersetzung Luthers mussten etwa die Drucker anfangs noch Übersetzungshilfen in Form von regionalspezifischen Wortlisten anhängen. Auf dialektaler Ebene werden auch heute noch etwa Sprecher des Bairischen im Kontakt zu solchen des Ripuarischen erhebliche Verständigungsprobleme haben.

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sprache des hochdeutschen8 Lautstandes‘. Folge der Etablierung der Hochsprache war aber auch die Errichtung einer neuen, sozialstratifikatorisch wirkenden Sprachbarriere, nämlich zwischen den weiter bestehenden Dialekten und der neuen prestigereicheren Standardsprache. Ein Ausläufer hiervon kann in der verfehlten Bernstein-Rezeption ab den 1970er Jahren gesehen werden. Hintergrund war eine problematische und in ihrer Wirkung fatale Übertragung des für England behaupteten Sprachschichtenmodells (Unterschichts- vs. Mittelschichtssprache) auf die soziolinguistischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland – und zwar durch Gegenüberstellung von Dialekt (‚restringierter Code‘) und Hochsprache (‚elaborierter Code‘). Obwohl diese ‚Gleichung‘ bald revidiert wurde, wirkte das dadurch verstärkte Negativimage der Dialekte lange nach und scheint erst in jüngerer Zeit überwunden. Dass Dialekte bzw. dialektal gefärbte Sprachlagen heute vielfach als positiv wahrgenommen werden, resultiert sicher auch aus einer zunehmenden Wertschätzung regionaler Bezugsgrößen, die als authentisch und identitätsstiftend verstanden werden. Dieser ‚nähesprachliche‘ Aspekt stabilisiert sie und kann wiederum als Beleg dafür angesehen werden, dass sich die Funktion von Sprachen keineswegs in ihrer Bezeichnungsfunktion erschöpft. Die Prägung der deutschen Sprache durch regionale Formen bleibt aber auch auf der Ebene der Standardsprache erkennbar. So sind Synonyme wie Schreiner/Tischler, Metzger/Fleischer, Samstag/Sonnabend, Rotkohl/Blaukraut sprachgeografisch distribuiert. In diesen Zusammenhang fällt auch die jüngere Entwicklung nationaler Standardvarietäten des Deutschen – worauf gegen Ende des Beitrages näher einzugehen sein wird.

4 Latein im Verhältnis zu den Volkssprachen Die deutsche Sprache entwickelte sich, wie gezeigt wurde, durch Konvergenzprozesse im Rahmen der Einbindung unterschiedlicher germanischer Stammessprachen bzw. deutscher Dialekte. Nicht unberücksichtigt bleiben darf dabei aber der prägende Einfluss anderer Sprachen, wobei in diachroner Perspektive die Rolle des Lateins zu betonen ist. Ganz generell gilt: „Die Herausbildung der westeuropäischen Volkssprachen und ihre Geschichte steht bis weit in die Neuzeit hinein in engem Zusammenhang mit dem Lateinischen“ (Henkel 2004,

|| 8 ‚Hochdeutsch‘ ist hier als geografische Größe (mittlerer und südlicher Teil des deutschen Sprachraumes) zu verstehen.

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3171). Bezogen auf die althochdeutsche Frühphase ist das generell ablesbar als Überformung der germanisch-heidnischen und zugleich oralen Kultur durch eine christliche, der Latinität verpflichtete Schriftkultur. Mit Blick auf die Herausbildung des deutschen Sprachsystems zeigen sich lateinische Einflüsse sowohl im Bereich der Grammatik (etwa beim Tempussystem) als insbesondere auch beim Wortschatz, der in der Frühphase des Deutschen in tiefgreifender Weise geprägt wurde durch Prozesse innerer und äußerer Entlehnung. Nicht nur die aufgrund von Lehnprägung entstandene Wörter wie Aufnahme (ahd. antfangida, als Lehnübersetzung aus lat. delectatio) oder gehorsam (ahd. hōrsam, als Lehnübertragung aus lat. oboediens) sind als ‚Import‘ heute nicht mehr erkennbar, vielmehr gilt das auch für zahlreiche, aus äußerer Entlehnung resultierende Fremdwörter. So sind Wörter wie Fenster, Tinte, Wein oder Pilz (frühe) Übernahmen aus dem Lateinischen. Die prägendsten Entlehnungswellen der Neuzeit resultieren aus dem Französischen (17. und 18. Jahrhundert) und derzeit dem Englischen (Amerikanischen). Diese Entwicklungen wurden und werden durchaus kritisch und zum Teil mit Argwohn betrachtet – und mitunter als Zeichen des Sprachverfalls, als Symptom der Zersetzung der Sprachreinheit und Spracheinheit bewertet. Begriffe wie ‚Alamode-Sprache‘ oder aktuell ‚Denglisch‘ stehen dafür. Auch Entlehnungsvorgänge gehören in das Begriffsspektrum von Konvergenz. Gleichzeitig sind gerade in diesem Zusammenhang immer wieder (puristische) Gegenströmungen erkennbar, die auf der Eigenständigkeit der (eigenen) Sprache beharren. Auf das Für und Wider dieser Bestrebungen kann hier nicht näher eingegangen werden – eine Sympathie für die Position Goethes in dieser Frage soll aber nicht verhehlt werden: „Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern, / Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht“ (Xenien 152, Der Purist, zitiert nach Goethe 2006, 794). Die Funktion des Lateins als Gebersprache für das Deutsche resultiert aus seiner Rolle als internationale lingua franca der Gebildeten und des Klerus. Latein, als Erbe der römischen Antike über das Christentum ins Mittelalter transferiert, behauptet seine elitäre Funktion über das gesamte Mittelalter bis in die Neuzeit hinein. Latein hat – wenn man so will – auch in diesem (epochenverbindenden) Sinne eine Brückenfunktion, vor allem gilt diese natürlich in Hinblick auf die Kommunikation der Litterati, der (Schrift-) Gelehrten. Die Dominanz des Lateinischen als Bildungssprache bis in die frühe Neuzeit hinein ist nicht zu bezweifeln. Indiz hierfür ist auch, dass (im deutschsprachigen Raum) die deutschsprachigen Drucke die lateinischen erst im siebzehnten Jahrhundert zahlenmäßig übertreffen.

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Latein hatte auf der anderen Seite natürlich den Nachteil geringer kommunikativer Reichweite gegenüber der überwiegenden Mehrzahl der Illiterati, der Nicht-Lateinkundigen. Hier zeigt sich der Barrierencharakter dieser Sprache. Als Problem erwies sich dies insbesondere im Frühmittelalter, das noch ganz von den Missionsbestrebungen der katholischen Kirche geprägt war. So stehen am Beginn der deutschen Volkssprache als Schriftsprache Übersetzungen in Form von Glosseneintragungen in lateinische Kodizes. Zweck war sicherlich die Lateinaneignung. Ein weiterer Zweck, jedenfalls aber Effekt war daneben aber auch, die deutsche Volkssprache als Literatursprache zu etablieren, um damit eine Möglichkeit zu generieren, die zu missionierende Bevölkerung sprachlich überhaupt zu erreichen. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die althochdeutsche Literatur über weite Strecken klerikale Literatur ist, entstanden in Klöstern zum Zweck der Glaubensvermittlung. Typisch für das Mittelalter ist demnach ein Dualismus, eine Konkurrenz von Latein und unterschiedlichen Volkssprachen, eine Konkurrenz, die auf Dauer zugunsten der Volkssprachen ausschlug. Das ging keineswegs ohne Widerstände ab, da immer die Gefahr heraufbeschworen wurde, die Inhalte der Bibel seien ohne Verderbnis eben nicht in den ‚minderwertigen‘ Volkssprachen abzubilden.9 Latein, das lässt sich generalisieren, ist über weite Strecken der europäischen Sprachgeschichte Brücke und Barriere zugleich. Die Brückenfunktion ergibt sich primär natürlich mit Blick auf den übereinzelsprachlichen Austausch der Bildungselite. Immerhin erwähnenswert ist daneben aber auch eine spezifischere Form der Brückenfunktion. So fungierte, jedenfalls nach Ausweis der entsprechenden Autoren, Latein auch als ‚Brückensprache‘ bei der Adaptation literarischer Werke aus dem Französischen ins Deutsche. Beispiel hierfür ist das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hier heißt es im Epilog: Ob iu daz liet gevalle, / so gedenket ir mîn alle: / ich haize der pfaffe Chunrât. / alsô ez an dem buoche gescriben stât / in franzischer zungen, / sô hân ich ez in die latîne betwungen, / danne in die tiutische gekêret (V. 9076–9083).10

|| 9 Es spricht für sich, dass Otfrid von Weißenburg sich um 870 gegenüber seinem Bischof veranlasst sah, sich dafür zu rechtfertigen, dass er seine Evangeliendichtung auf Althochdeutsch verfasst hatte. Es ist nicht minder bemerkenswert, dass er dieses Rechtfertigungsschreiben auf Latein niederschrieb. 10 Übersetzung: „Wenn euch das Gedicht gefällt, so gedenkt alle auch meiner. Ich bin der Pfaffe Konrad. So wie es in dem Buch aufgeschrieben steht in französischer Sprache, so habe

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Eine entscheidende Rolle spielte Latein auch für die Herausbildung der heutigen romanischen Sprachen (z. B. Französisch, Portugiesisch, Italienisch). Nicht zuletzt deswegen wird es mitunter als ‚die Sprache Europas‘ bezeichnet. Deutlich erkennbarer, nachwirkender Einfluss des Lateinischen ‚als Weltsprache‘ ist die lateinische Alphabetschrift, die heute global das am weitesten verbreitete Schriftsystem ist. Zudem basieren die meisten Internationalismen auf lateinischer (daneben aber auch auf griechischer) Basis (z. B. Kopie, Motor, Television). Auch tradiert insbesondere der Bildungswortschatz und die Wissenschaftsterminologie das Spracherbe weiter (z. B. Studium, Hermeneutik, narrativ). Illustrativ in diesem Zusammenhang ist der Begriff ‚Eurolatein‘, bei Schmitt (2000, 1079) als „Konvergenzphänomen“ bezeichnet, hervorgerufen durch die unter der „Wirkung des kulturellen lat. Adstrats sich mehr oder weniger parallel in den westeuropäischen Sprachen vollziehenden Wandels“. Insofern hat Latein zumindest in diesen Segmenten seine Brückenfunktion bis heute bewahrt.

5 Englisch als (neue) Weltsprache Die traditionelle Rolle des Lateins als Universalsprache ist, bezogen auf die Verhältnisse der Gegenwart, allein mit dem Englischen vergleichbar, wobei allerdings nicht die Funktion als Gelehrtensprache maßgebend ist, sondern das Potential zur weltweiten Überbrückung von Sprachbarrieren.11 Der Status des Englischen als Weltsprache ergibt sich vor allem, aber nicht ausschließlich, aus seiner numerischen Stärke (Sprecherzahl bezogen auf Erst- und Zweitsprache). Relevant sind insbesondere die Verbreitung des Englischen als Staats- oder Verwaltungssprache auf allen Kontinenten, seine Funktion als Arbeitssprache in der internationalen Kommunikation sowie sein „globales Prestige als Modernitätsikone[…]“ (Haarmann 2006, 342). Wichtige Voraussetzungen hierfür sind die politische, ökonomische, wissenschaftliche und kulturelle Stärke der zugrundeliegenden Sprachgemeinschaft(en). Hervorzuheben ist ferner der besondere ‚Marktwert‘ des Englischen, seine „reale politische und psycho-soziale Macht“ (Leitner 2009, 20). An die Kompetenz der englischen Sprache werden heute vielfach vorwärtsweisende bildungspolitische Konzepte der Teilhabe an einer breiten internationalen (und interkulturellen) Alltagskommunikation, an Ausprägungen der (vor allem

|| ich es ins Lateinische übersetzt und von dort in die deutsche Sprache übertragen“. Text und Übersetzung nach der Ausgabe von Kartschoke 2007. 11 Der folgende Abschnitt ist angelehnt an Sieburg 2017a.

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westlichen) Kultur, des Tourismus, der Informationstechnologie, insbesondere aber Bestrebungen in Hinblick auf eine konkurrenzfähige wirtschaftliche Entwicklung im Rahmen der Globalisierung geknüpft. Die exponierte Stellung des Englischen basiert politisch auf der globalen Ausdehnung des (ehemaligen) Englischen Empires und dem seit dem 20. Jahrhundert zunehmenden Einfluss der USA, sprachpraktisch aber insbesondere auch auf den mit der zunehmenden Globalisierung und digitalen Vernetzung einhergehenden Kommunikationserfordernissen. Auch als Wissenschaftssprache hat sich das Englische im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem der letzten Jahrzehnte – unter Zurückdrängung anderer Wissenschaftssprachen wie Deutsch, Französisch oder Russisch – vielfach durchgesetzt, und das insbesondere in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. Als Vorteile gelten die dadurch gewährleistete (vermeintlich) barrierefreie Verständigung innerhalb der wissenschaftlichen ‚Community‘ und die Chance auf eine möglichst breite Rezeption von Fachpublikationen. Zunehmenden Einfluss gewinnt das Englische aber inzwischen auch in philologischen Disziplinen wie der Germanistik, wenngleich insbesondere diese Entwicklung durchaus kritisch gesehen werden kann. Die insgesamt breite Akzeptanz des Englischen als Weltsprache und lingua franca verhindert nicht das Festhalten an der jeweils eigenen Muttersprache im alltagssprachlichen Bereich, da primär diese weiterhin als kulturelles Identifikationsmedium dient. Angreifbar sind Weltsprachen (worunter mit Abstrichen u. a. auch Französisch oder Russisch gezählt werden kann) zum einen in Hinblick auf ihre Entstehung. Hintergrund ist meist eine imperialistische Expansion und die hegemoniale Verwaltung eroberter Gebiete (Kolonialismus). Ein weiterer Nachteil natürlicher Weltsprachen ist die Privilegierung der Muttersprachler dieser Sprachen. Gerade diese Mängel wurden zum Ausgangspunkt der Schaffung künstlicher Sprachen (bzw. Plansprachen oder Welthilfssprachen).

6 Plansprachen (Welthilfssprachen) Zu dem in diesem Beitrag aufgeworfenen Fragekomplex gehört auch die Diskussion um die sogenannten Plansprachen (auch Welthilfssprachen genannt).12 Diese sind im Gegensatz zu natürlichen Sprachen meist von Einzelpersonen geschaffene und in diesem Sinne künstliche Sprachsysteme. Intendiert ist dabei

|| 12 Das vorliegende Kapitel ist eng angelehnt an Sieburg 2017b.

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die Funktion einer lingua franca zur leichteren Überwindung einzelsprachlich begründeter Sprachbarrieren und damit zur Förderung internationaler Kommunikation. Da Plansprachen prinzipiell nicht als Muttersprachen oder Nationalsprachen fungieren (sollen), sondern als neutrale Zweitsprachen, haben sie gegenüber natürlichen Weltsprachen den Vorteil, den ‚Heimvorteil‘ einzelner (dominanter) Sprachgemeinschaften zu nivellieren. Nicht selten verbinden die Schöpfer (und Verfechter) von Plansprachen mit ihren Projekten dezidiert ethisch-idealistische Motivationen wie Völkerverständigung, Friedenssicherung, Demokratisierung oder die Abwehr von Sprachimperialismus. Interethnische Konflikte, so die Hoffnung, könnten durch eine gemeinsame diskriminierungsfreie Sprache überwunden werden. Baudouin de Courtenay formuliert 1907 entsprechend optimistisch (1976, 105): Die Existenz einer solchen die ganze Menschheit vereinigenden Weltsprache wird dem nationalen und staatlichen Größenwahn seinen scharfen und giftigen Zahn abbrechen. Das Streben nach Weltbeherrschung und nach Vernichtung anderer Nationalitäten wird durch die Weltsprache neutralisiert und paralysiert werden.

Bei Zamenhof, der 1887 sein Plansprachen-Projekt, Esperanto, zum ersten Mal vorstellt, steht dieses im Zusammenhang einer zu schaffenden neutralen, kosmopolitischen Religion (Hillelismus, später homaranismo genannt). Die mythisch-religiöse Überhöhung von Sprache lässt sich damit auch im Zusammenhang künstlicher Sprachen nachweisen, ist für diese allerdings nicht typisch. Typisch ist dagegen das Konzept der Konvergenz, die Kombination von Sprachelementen verschiedener Sprachen zu einer neuen ‚Brücken‘-Sprache. Mit dem Anspruch der Plansprachen auf Kommunikationserleichterung ergeben sich – aus heutiger Sicht – bestimmte Kriterien, denen diese idealiter zu genügen haben: Plansprachen sollen demnach möglichst einfach und regelmäßig konstruiert sein und auf bereits international gebräuchliches Morphemmaterial (vor allem lateinisch-romanischer Herkunft) zurückgreifen, um so eine möglichst große ‚Merkhilfe‘ (durch Vorwissen bekannter Zusammenhang von Wortform und Bedeutung) und tendenziell eine prima vista-Verständlichkeit zu gewährleisten. Die weitaus meisten Plansprachen sind über ein mehr oder weniger entwickeltes Entwurfsstadium nicht hinausgekommen und verfügen im Sinne Ferdinand de Saussures allenfalls über eine (Art) langue, nicht aber über eine parole – und sind daher nur unter Vorbehalt überhaupt als Sprache zu bezeichnen. Zu real erprobten Kommunikationssystemen mit einer größeren internationalen Sprachgemeinschaft haben es nur wenige künstliche Sprachen gebracht. Bei nur einzelnen wurden zudem feste Organisationsstrukturen und Publikations-

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foren – wie regelmäßige (Welt-)Kongresse, Zeitschriften, Internetauftritte und dergleichen entwickelt. Nach Blanke (2006, 64) sind die „bekanntesten und am besten beschriebenen Systeme […] Volapük (1879), Esperanto (1887), Latino sine flexione (1903), Ido (1907), Occidental-Interlingue (1922) und Interlingua (1951)“. Versuche zur Herausbildung internationaler Plansprachen lassen sich bis in die Vormoderne verfolgen, einen Höhepunkt bildet die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Insbesondere bedingt durch den Aufschwung der Wissenschaften, der Technik und des Welthandels gewinnt die Frage nach einem adäquaten internationalen Kommunikationssystem in dieser Zeit an Relevanz. Dabei stehen sich Befürworter und Gegner von künstlichen Sprachen teilweise unversöhnlich gegenüber. Trubetzkoy (1976, 216) lehnt die Plansprachen-Idee zwar nicht grundsätzlich ab, kritisiert diese aber als eurozentristisch: „Gerade die nichtromanischen und nichtgermanischen Völker sind es aber, die eine internationale Hilfssprache wirklich brauchen“ Die bis heute einzige Plansprache mit nennenswerter praktischer Bedeutung ist Esperanto, das Projekt des Warschauer Augenarztes Lazar Markovič Zamenhof, von diesem 1887 auf Russisch unter dem Pseudonym Doktor Esperanto (‚Hoffender Doktor‘) vorgelegt. Typologisch zählt Esperanto zu den sogenannten schematischen, streng regelmäßig gebauten Sprachen. Dies zeigt sich etwa in der Bildung der Hauptwortarten durch bestimmte Endungen, -o bei Substantiven (knab-o „Junge“), -a bei Adjektiven (bel-a „schön“) und -i bei Verben (kant-i „singen“), oder in einer autonomen (regelmäßigen) Wortbildung. Der Morphembestand ist zu rund 75% romanischer und zu 20% germanischer Herkunft. Der Rest resultiert aus unterschiedlichen anderssprachigen, vor allem slawischen Elementen. Der Wiedererkennungsgrad (Merkhilfe) ist für Kenner romanischer bzw. germanischer Sprachen demnach besonders hoch. Der Erfolg von Esperanto im Sinne einer allgemein anerkannten und angewandten Welthilfssprache ist heute dennoch sehr unwahrscheinlich geworden, was im Sinne Umberto Ecos (2002, 339) durchaus kulturpessimistisch kommentiert werden könnte: So unausweichlich die Forderung nach einer WHS [Welthilfssprache, H.S.] auch sein mag, eine Weltgemeinschaft, die nicht in der Lage ist, sich auf die dringendsten Maßnahmen zur Rettung des Planeten vor der ökologischen Katastrophe zu einigen, scheint kaum geeignet, auf schmerzlose Weise die Wunde zu heilen, die Babel offengelassen hat.

Wichtiger ist aber wohl, dass Englisch inzwischen die Funktion der Weltsprache mehr und mehr besetzt hat. Auch Vorschläge, Esperanto zur Sprache der Europäischen Union zu erheben, blieben (bislang) ohne große Resonanz. Gerade hier aber könnte das als eurozentristisch kritisierte Esperanto als neutrale Spra-

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che im Sinne einer ‚Fremdsprache für alle‘ seinen Vorteil ausspielen. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU (Brexit) ist allerdings – sieht man vom Heimvorteil der Iren ab – das Englische in diesem Rahmen nun auch zu einer (quasi) neutralen Fremdsprache mutiert.

7 Plurizentrische Standardsprachen  Wenn oben von der / einer deutschen Standardsprache gesprochen wurde, dann verstellt das den Blick auf die Tatsache, dass eigentlich von unterschiedlichen deutschen Standardsprachen gesprochen werden muss. Innerhalb der Linguistik hat sich das Konzept der Plurizentrizität inzwischen weitgehend durchgesetzt. Der Plurizentrizitäts-Ansatz würdigt die Tatsache, dass das Deutsche, wie viele andere Sprachen auch, National- oder Amtssprache in unterschiedlichen Ländern ist – und sich in diesen eine gewisse Eigenständigkeit (vor allem in der Lexik) entwickelt hat. Herausgebildet haben sich mithin unterschiedliche nationale Varianten derselben Standardsprache. Für die deutsche Sprache gilt dies in dem Sinne, dass Deutsch als Staats- oder Verwaltungssprache in sieben europäischen Ländern (‚Zentren‘) fungiert. Hierzu zählen: Deutschland (‚deutschländisches‘ Deutsch), Österreich (österreichisches Deutsch), die Schweiz (schweizerisches Deutsch), Luxemburg (luxemburger Deutsch), Liechtenstein (liechtensteinisches Deutsch), Belgien (ostbelgisches Deutsch), Italien (südtiroler Deutsch). Die plurizentrische Perspektive impliziert die prinzipielle Gleichrangigkeit der nationalspezifischen Varianten, verbunden mit einer Abkehr der traditionellen monozentrischen Sichtweise: Die plurizentrische Auffassung von der deutschen Sprache bedeutet, dass sprachliche Besonderheiten der Zentren des Deutschen nicht als Abweichungen von einer übergreifenden deutschen Standardsprache gelten, sondern als gleichberechtigt nebeneinander bestehende standardsprachliche Ausprägungen des Deutschen (Ammon [et al.] 2016, XLI).

So stehen sich die ‚Nationalsynonyme‘ Nummernschild (CH, D), Kennzeichentafel (A), Kontrollschild (CH), Kennzeichenschild (D), Erkennungstafel (Lux) und Kenntafel (STIR) prinzipiell gleichrangig gegenüber;13 ebenso wie österreichisch Paradeiser, Erdäpfel, Obers oder Topfen den anderorts üblichen Wörtern Tomate, Kartoffel, Schlagsahne und Quark.

|| 13 Vergleiche Ammon [et al.] 2016. CH = Schweiz, D = Deutschland, LUX = Luxemburg, A = Österreich, STIR = Südtirol/Italien.

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Die Entwicklung unterschiedlicher nationaler Standardvarietäten des Deutschen lässt sich als Divergenzprozess fassen, der der beschriebenen konvergenten Entwicklung zur Herausbildung einer deutschen Einheitssprache zuwiderläuft. Kritisch zu betrachten ist diese Entwicklung meines Erachtens jedoch nicht. Eine neue Sprachbarriere wird sich hier auf absehbare Zeit jedenfalls nicht etablieren. Außerhalb Deutschlands, insbesondere in mehrsprachigen Ländern wie der Schweiz oder Luxemburg, könnte die Bewusstmachung, über eine vom ‚deutschländischen‘ Deutsch abgrenzbare eigene und gleichberechtigte Standardvarietät des Deutschen zu verfügen, sogar zur Stabilisierung der deutschen Sprache führen (vgl. Sieburg 2016).

8 Schluss Wie gesehen, entwickeln sich Sprachen in ‚pulsierender‘ Abfolge von Divergenz- und Konvergenzprozessen. Diese stehen in einem komplexen Wechselverhältnis zu den hier verwandten Leitmetaphern der Brücke und Barriere. Die diesbezüglichen Entwicklungen können intentional gesteuert oder auch Produkt zufälliger Konstellationen sein. Wichtig hierbei ist es, Sprache als komplexes Funktionsgefüge zu begreifen und dabei den Faktor Identität hoch zu veranschlagen. Für die Entwicklung der Sprachensituation in Europa ist das Wissen um diese Zusammenhänge essentiell. Die gegenwärtig beobachtbare Privilegierung des Englischen ist aus pragmatischen Gründen zu begrüßen, hierin einen Weg zurück zu einem verlorenen ‚Sprach-Paradies‘ zu sehen, und das Zurückdrängen anderer Sprachen zu forcieren oder nur zu riskieren, ist aber verfehlt – und dürfte nur neue Spaltungskräfte mobilisieren. Es gehört mit zur Verantwortung der Mediävistik hier Orientierungswissen bereitzustellen – aus Vorsorge für eine gemeinsame europäische Zukunft.

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Kristýna Solomon, Olomouc

Mauern, Brücken und Orchideen Im Sommer 2016 bin ich im schottischen Carlisle den Spuren der Römer auf der britischen Insel gefolgt. Meine Neugier hat mich in eine Ausstellung über Artefakte aus der Umgebung des Hadrianswalls im Tullie Museum verschlagen. Es versteht sich, dass jedes Eintauchen in die Vergangenheit die Gegenwart beleuchten sollte, daher stellt die sog. Living Wall, welche den Besuchern vor Augen führt, wie mühsam das Leben hinter der Mauer sein konnte, einen Bestandteil jener Exposition dar: „The Living Wall area is a place where visitors can engage with ideas and stories, participate in dialogue with other visitors and the museum and develop an understanding from more contemporary examples about life on a frontier.“1 Die empfindliche Grenze zwischen Lebenslust und Lebensverlust wird durch zahlreiche Fotos aus dem Nahen Osten sowie aus Afrika dokumentiert. Der Verdacht, dass dem Bau von Mauern eine gewisse Absurdität innewohnt, wurde bei mir bereits im Teenager-Alter genährt. Der Schulunterricht hat mir nie zu erklären vermocht, warum West- und Ostdeutsche durch eine Mauer getrennt sein müssten. Die Zerstörung der Berliner Mauer, ein Akt, der bei mir noch lange als Sinnbild für Freiheit und den Sieg der Vernunft fungiert hat, habe ich dementsprechend mit Begeisterung willkommen geheißen. Mit einer gewissen Erleichterung, welche dem Gefühl zu verdanken war, dass der Mauerbau in Europa nicht mehr aktuell war, habe ich das Museum und Schottland verlassen. Die Nachrichten über den Brexit haben mich jedoch auf der Rückreise nach Manchester kalt erwischt. Plötzlich war die Grenze zwischen England und Schottland wieder ein Thema und ich habe das Auftauchen des längst vergessenen Mauer-Bildes zwar hautnah, jedoch mit einer gewissen Befremdung, verfolgt. Daher bilden Brückenbau und Mauerbau die Leitmetapher für die folgende Überlegung.

Tschechen und Deutsche in Böhmen Überblickt man die tschechische Geschichte, sowie die Anfänge des literarischen Schaffens auf dem Gebiet Böhmens, kommt man an den Begriffen stýkaní (Kontakte) und potýkání (Konflikte) kaum vorbei. Dabei spielen bekanntlich das Slawische und das Germanische, als zwei Seiten einer Münze, eine entschei|| 1 http://www.tulliehouse.co.uk/galleries-collections/galleries/roman-frontier-gallery, (letzter Zugriff: 20.5.2017).

DOI 10.1515/9783110556438-016

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dende Rolle. Es stellt sich logischerweise die Frage, inwieweit eine national geprägte Mediävistik – in Böhmen und überhaupt – gerechtfertigt ist. Der Anspruch an eine interkulturelle, internationale Mediävistik fand in den tschechischen wissenschaftlichen Kreisen eine geraume Zeit lang keinerlei Resonanz. Dies hängt zum Teil mit der politischen Entwicklung des Landes zusammen, deren Kenntnis dazu beitragen kann zu verstehen, warum das tschechisch-deutsche Beisammensein bis heute nicht völlig konfliktfrei ist.2 Im Einklang mit den, im 19. Jahrhundert omnipräsenten, nationalen Tendenzen wurde auch in Böhmen nach den Wurzeln des böhmischen Volkes gefragt. Das Nationalbewusstsein zu stärken war auch das erklärte Ziel zahlreicher Historiker, welche vor der Aufgabe standen, das Volk über seine vermeintliche Vergangenheit aufzuklären. František Palacký, einer der führenden Denker der Nationalbewegung, sowie „Schöpfer der modernen Historiographie“ (Górny 2011, 155), hat sich dieser Aufgabe angenommen, indem er im deutschsprachigen Prag sein Hauptwerk Geschichte von Böhmen (zuerst auf Deutsch), die Bibel der tschechischen Historiographie, verfasst hat. Das kulturelle Erbe von Palacký lebt fort. Palacký erscheint auf dem tschechischen Tausendkronenschein, die Olmützer Universität trägt seinen Namen, unzählige Palacký-Statuen bewachen Plätze in Böhmen und Mähren, viele Straßen sind nach ihm benannt worden. Es wurde zu Recht konstatiert: „Die Tschechen und Europa – das ist eine schwierige Geschichte. Wer sie verstehen will, sollte František Palacký kennen.“3 Die tschechische Vergangenheit ist nach Palacký vom ewigen Konflikt zwischen Deutschtum und Tschechentum geprägt. Während den slawischen Völkern der Geist der Freiheit angeboren sei, strebe das deutsche Volk seit jeher nach Macht und Kontrolle (Palacký 1976, 12–13). Daher wurde die tschechische nationale Identität nach Palacký durch die über Jahrhunderte hinweg dauernden Emanzipationsversuche, welche im Hussitismus (Palacký 1976, 17) eskaliert seien, geformt. Für Palacký stellt der Hussitismus eine Zäsur in der tschechischen Geschichte dar, durch welche Böhmen für einige Jahrzehnte den geistigen Höhepunkt und somit die führende Position in Europa erreicht hätte. Diesen vielversprechenden Aussichten wurde jedoch durch die Schlacht auf dem Weißen Berg im Jahre 1620 ein Ende gesetzt. Das ständig heimgesuchte Volk hat nach Palacký im 19. Jahrhundert eine Renaissance erlebt (Palacký 1976, 19). Die nach der Märzrevolution formulierte Verfassung, welche den Tschechen eine

|| 2 Die Beneš-Dekrete stellen noch heutzutage ein heikles Thema dar, welches als politisches Instrument missbraucht wird. http://www.ceskatelevize.cz/ct24/archiv/1122151-benesovydekrety-symbolicka-zbran-pusobici-na-sentiment, (letzter Zugriff: 25.11. 2016). 3 http://www.zeit.de/2009/28/A-Palacky, (letzter Zugriff: 19.8.2016).

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Gleichberechtigung im Rahmen der Monarchie garantiert hat, sei demnach als Höhepunkt des nationalen Strebens zu betrachten. Die Meilensteine der tschechischen Geschichte, ihre Blütezeiten und „dunklen Jahre“, wurden also im 19. Jahrhundert neu definiert, wobei die Auseinandersetzung mit dem deutschen Element im Fokus stand. Mit diesem Unterton schreibt beispielsweise Jan Vesnický (1874) eine Literaturgeschichte für Gymnasialschüler, in welcher das III. Kapitel wie folgt lautet: Von der deutschen Kolonisation bis zur Aussiedlung der Fremdlinge aus der Prager Universität. Es liegt auf der Hand, dass der Sieg der humanistisch orientierten, demokratisch gesinnten Tschechen über die autoritären Germanen nach Vesnický den Anspruch erhebt, als epochenkonstituierendes Moment verstanden zu werden (Unger 2009, 4). Die Suche nach der nationalen Identität wurde bald auch ein philologisches Desiderat: die durch die Geschichte als legitim geltenden politischen Ansprüche wurden durch die „Entdeckung“ neuer literarischer Denkmäler untermauert. In den zeitgenössischen Literaturgeschichten wurde großes Gewicht auf zwei Manuskripte gelegt, der sogenannte Rukopis Královodvorský [Grünberger Handschrift] und Rukopis Zelenohorský [Könighofer Handschrift]. In beiden Manuskripten, welche später als Falsifikate klassifiziert wurden, schimmert der Leitfaden der tschechischen Nationalidentität durch: der (bisweilen erfolgreiche) Kampf gegen das Fremde. So wird beispielsweise anhand des Streites zweier Brüder, Chrudoš und Šťahlav, um ihr Erbe der Unterschied zwischen slawischem und deutschen Erbrecht vor Augen geführt oder der glorreiche Sieg über die Sachsen im Jahre 1203 gefeiert. Das 20. Jahrhundert war für Tschechen und Slowaken eine dramatische Ära. Das 1938 unterschriebene Münchner Abkommen, welches die Übergabe des Sudetenlandes ans Reich besiegelte, bedeutete für das Volk einen weiteren Dolchstoß. Die sozialistische Ära hat die Kriegswunden noch vertieft und der von den Reformatoren des Prager Frühlings initiierte Heilungs- und Demokratisierungsprozess wurde durch den Einmarsch der Heere des Warschauer Paktes 1968 definitiv zunichte gemacht. Die Nation lebte lange 20 Jahre unter dem Diktat aus Moskau – bis zur sogenannten Samtenen Revolution im Jahre 1989.

Zum Hochschulwesen nach 1989: Ein kurzer Überblick über die Tendenzen Die 1990er Jahre stellen die Blütezeit des tschechischen Hochschulwesens dar. Autonomie und akademische Freiheiten wurden gesetzlich garantiert, neue

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Institute entstanden und die Zahl der Studenten ist den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts explosionsartig angestiegen. Im Jahre 1989 gab es knapp 27.000 Absolventen (Prudký 2010, 22), während im Jahre 2016 ca. 82.000 Absolventen registriert worden sind.4 Das Interesse am philologischen Studium war immens. Sprachen zu studieren wurde wahrgenommen als die notwendige Eintrittskarte in die Welt, welche sich für die Einwohner der Länder des ehemaligen Ostblocks langsam geöffnet hatte. Die deutsche Sprache, als Sprache unserer Nachbarn, war hierfür logischerweise eine gute Option und wurde daher an den Gymnasien zur zweiten Fremdsprache. Die Olmützer Germanistik, welche einen Bestandteil der Philosophischen Fakultät bildet, hat sich dem Trend angeschlossen, wobei zur Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses in den 1990er Jahren, sowie zur Etablierung der hiesigen Germanistik im nationalen Kontext, folgende Faktoren beträchtlich beigetragen haben: Erstens ergriffen die progressiven Kollegen, welche vor 1989 am Lehrstuhl (halb)illegal tätig gewesen waren, die Initiative, und zweitens wurde die Lehrstuhlleitung von Prof. Fiala-Fürst übernommen, die ihre Erfahrungen aus dem ‚Exil‘ in Saarbrücken in die Praxis flexibel einzubauen vermochte. Diese vielversprechende Entwicklung hat es ermöglicht, republikweit neue Fächer und Disziplinen zu gründen. So wurde etwa in Olmütz die Gründung der Mediävistik von Prof. Volker Mertens (FU Berlin) initiiert und konnte im Jahre 2004 als Masterstudienfach akkreditiert werden. Ältere deutsche Literatur und Sprache hat vornehmlich dank der Forschung von Frau Prof. Spáčilová einen festen Boden in der hiesigen universitären Lehre gefunden. Die „Goldene Ära“ währte aber nicht lange. Nach zehn Jahren konnte sich das Fach der allgemeinen Pragmatisierungstendenz des Hochschulwesens nicht mehr widersetzen und die Mediävistik in Olmütz wurde nicht mehr reakkreditiert. Als Trost darf die Tatsache gelten, dass sich die Studierenden für mittelalterliche Veranstaltungen nicht weniger interessieren (frei dem Motto: diejenigen, die kommen, bleiben auch gerne). Wenn es aber darum geht, was auf dem Diplom steht, gilt der Schwerpunkt ‚Mediävistik‘ für die meisten Studenten als limitierend.5 Um ein komplettes philologisches Studium gewährleisten zu können, wird Mediävistik derzeit als Modul im Rahmen des 1-Fach Bakkalaureats-

|| 4 http://dsia.uiv.cz/vystupy/vu_vs_f4.html, (letzter Zugriff: 20.5.2017). 5 Dass ein Mediävistik-Studium durch die Öffentlichkeit in der Regel als dubios angesehen wird, überrascht kaum, denn es ist nicht selten der Fall, dass die Altgermanistik von Neugermanisten als skurriles Unternehmen abgetan wird.

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studiums Germanistische Philologie (6 ETCS), sowie in Form fakultativer Veranstaltungen, welche allen Studenten zugänglich sind, angeboten. Die allgemeine Stagnation wurde durch folgende Faktoren verursacht: Das Deutsche verlor an den Mittelschulen allmählich seine privilegierte Position und wurde eine Zeitlang vom Spanischen, welches zur zweiten Fremdsprache aufgerückt ist, überholt. Exotik besiegte gewissermaßen Pragmatik. Damit hängt auch der Rückgang von potenziellem Nachwuchs zusammen, sowie schlechtere Sprachkenntnisse der aufgenommenen Studenten. Die Tatsache, dass ein philologisches Studium als schwierig gilt, ist für manche ebenso ein überzeugendes Argument, etwas Anderes zu studieren: Pragmatisch orientierte Fächer feiern heutzutage fulminante Siege und kleine philologische Disziplinen kämpfen dagegen verzweifelt um jeden einzelnen Studenten. Die Mediävistik in Tschechien (über)lebt zwar immer noch, das Fach verkümmert aber. Die „akademische Zunft“ beschränkt sich auf einige wenige Idealisten, welche ihre eigenen Schwerpunkte verfolgen. Eine Zusammenarbeit zwischen germanistischer Mediävistik und Bohemistik – welche aus historischer Perspektive erforderlich wäre und die Disziplin stärken könnte – kommt leider nicht zustande und ist auch nicht in Sicht. Obschon auf nationaler Ebene die Mauer noch nicht eingerissen worden ist und ein interdisziplinärer Dialog kaum erfolgt, ist der Blick nach Außen vielversprechend. Die Olmützer Germanistik nimmt seit 2005 an dem von der Europäischen Kommission geförderten Projekt „German Literature in the European Middle Ages“ (GLITEMA) und an dem Projekt TALC_ME6 teil, welche es ihr ermöglicht haben, von internationaler Vernetzung zu profitieren. Dabei ist zu akzentuieren, dass es nicht nur darum geht, unseren Studenten auf Deutsch verfasste mittelalterliche Literatur zu vermitteln, sondern (vielleicht sogar mehr) darum, sie mit Kompetenzen im Austausch mit verschiedenen europäischen Partnern sowie mit Kenntnissen über die Bedingungen inter- und transkultureller Kommunikation in historischer Perspektive auszustatten. Eine heterogene Arbeitsgruppe von Studenten und Dozenten aus ganz Europa bildet eine Prämisse für das Gelingen des Vorhabens. Eine weitere nicht zu unterschätzende Begleiterscheinung eines zweiwöchigen Studienaufenthalts außerhalb der Heimatuniversität ermöglicht die (Selbst)Reflexion: infolge der Begegnungen mit dem ‚Fremden‘ (was übrigens das Thema eines Intensivprogramms im Jahr 2015

|| 6 Das Projekt TALC_ME, welches im Jahre 2013 gestartet hat, zielt auf die Beschäftigungsfähigkeit von Studierenden hin, wobei der Erwerb von Kompetenzen interkultureller Art, sowie die Vertiefung von Fachkenntnissen im Bereich Mediävistik, den Schwerpunkt des Projekts bilden.

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war), wird das ‚Eigene‘ hinterfragt, durch das Verständnis der Vergangenheit wird die Zukunft mitgedacht. Ein multikultureller Raum ist ein geeignetes Milieu für solche Fragen, welchen sich die Tschechen stellen sollten, weil diese zu einem besseren Verständnis der eigenen Identität beitragen können. Ich rekurriere auf das am Anfang angesprochene Leitmotiv. Als Literaturwissenschaftlerin bin ich nicht dazu berufen, über die Zukunft Britanniens nach dem Brexit eine Polemik vom Zaun zu brechen. Die Antwort auf die Frage, inwieweit gesamteuropäische Werte durch den Brexit erschüttert worden sind und welche politischen, ökonomischen und kulturellen Konsequenzen diese Entscheidung haben wird, bleibt vorerst in der Schwebe. Pessimistisch muss man nicht sein, denn – im Notfall – löst sich der Nebel von Avalon auf und König Artus kehrt zurück. Eines bleibt aber klar: Was die Philologie, einschließlich die Mediävistik, anbelangt, gibt es keine In-or-Out-Option. Eine progressive Wissenschaft und Lehre kann nur dann erfolgen, wenn die Philologie als globales Handwerk verstanden und implementiert wird. Hoffentlich wird es für uns noch lange möglich sein, zurück in die Zukunft zu schauen. Mithilfe des GLITEMA-Projekts wurden Brücken gebaut, über die wir das Nischendasein verlassen durften. Dafür gilt allen Beteiligten, insbesondere dem maßgeblichen Initiator des Projekts, John Greenfield, großer Dank.

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| Teil IV: Translationen in und zwischen europäischen Literaturen

Elisabeth Lienert, Bremen

Erzählen in transkultureller Perspektive Zur Poetologie der Widersprüche in der europäischen Heldendichtung Weit mehr als andere Gattungen der Literatur des europäischen Mittelalters gilt Heldenepik als Tradition des ‚Eigenen‘, das heißt der Überlieferungen aus dem jeweils eigenen heroic age; wenn heldenepische Stoffe in eine Kultur mit einem anderen heroic age wandern, werden sie „transcodiert“ (Bastert 2014). Gleichwohl ist mittelalterliche Heldenepik kulturübergreifend ein fundamental europäisches Phänomen, durch typologische Ähnlichkeiten und europäischen ‚Literatur‘-Transfer. Die komparatistische und einzelsprachliche Heldenepikforschung hat für die europäische Heldenepik des Mittelalters gemeinsame Gattungsmerkmale (unter anderem aufgrund der vergleichbaren soziologischen Voraussetzungen adliger Kriegergesellschaften), gemeinsame Funktionen im kulturellen Gedächtnis, gemeinsame (und unterschiedliche) Konzeptualisierungen vor allem von Gewalt und Heldentum, unterschiedliche Verschrift(lich)ungskontexte, strukturelle und sprachliche Auswirkungen gemeinsamer medialer Bedingungen (Mündlichkeit), aber auch gemeinsamer schriftliterarischer Traditionen (antikes Epos) untersucht (Wolf 1995). Von dem schwer operationalisierbaren Bereich ‚mündlicher‘ Erzähltechnik (Schematismus, Formelhaftigkeit) abgesehen, sind Strategien heldenepischen Erzählens überwiegend erst in jüngerer Zeit in den Forschungsfokus gerückt:1 spezifische Raumvorstellungen (zwischen Wirklichkeitsförmigkeit und Sagengeographie), Zeitkonzepte (zwischen PseudoHistorizität und Vergegenwärtigung, Tiefenschichtung und Synchronisierung verschiedener Zeitebenen), Handlungs- und Motivationsstrukturen (zwischen Schematismus, Kontiguität und Widersprüchlichkeit), Figurenkonzeptionen (jenseits der Illusion personaler Identität), Erzählsituationen (mit tendenziell verschwimmenden Diegesegrenzen). Zu fragen ist dabei, inwieweit sich auch narratologisch transkulturelle Konstanten und Variablen feststellen lassen. Die Fragestellung ist komplex: Manche der genannten Merkmale gelten allgemein für vormoderne Erzählliteratur (grundsätzlich: Schulz 2015). Zudem erzählen

|| 1 Jan-Dirk Müller hat eine umfassende Untersuchung zu Prinzipien epischen Erzählens angekündigt (Müller 2013, 227); Hinweise auch bei Kerth 2008, Lienert 2010, Lienert 2015, Lienert 2016.

DOI 10.1515/9783110556438-017

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die erhaltenen Heldenepen (besonders die gattungsmäßig hybride mittelhochdeutsche Heldenepik, vgl. Kerth 2008) nicht nur ‚heldenepisch‘, weisen auch Texte anderer Gattungen archaische ‚epische‘ Erzählelemente auf, vor allem Antikenromane, deutsche Chansons de geste (Bearbeitungen französischer Heldenepik wie Dichtungen nach Art von Chansons de geste) und Brautwerbungsepen. Schließlich zeigen jeder Text und jede Textgruppe narratologisch spezifische Eigenarten. Schon was heldenepisches Erzählen narratologisch ausmacht, ist also schwer zu definieren. Die Frage nach Bearbeitungstendenzen beim Passieren kultureller Grenzen dürfte vollends nur anhand von Einzelfällen zu untersuchen sein. Mein Erkenntnisinteresse bezieht sich auf Fragen der Erzählkohärenz, die bekannte Widersprüchlichkeit heldenepischer Texte, ergänzend auf die Rolle des (Sagen-)Wissens als Faktor von alteritärer Kohärenzbildung und von Widersprüchlichkeit. Diese Frage verfolge ich auch in anderen Kontexten;2 hier sind nur Andeutungen der Problemlage möglich.3 Letztlich geht es darum, ob es so etwas wie eine heldenepische Erzähllogik (im weitesten Sinn) gibt und ob/wie sich eine solche verändert beim Übergang aus der ‚eigenen‘ heroischen Tradition in eine ‚fremde‘ Kultur und ggf. Gattung. Vergleichend skizziert werden Beobachtungen zu Chanson de Roland und Rolandslied, Waltharius und Waldere, deutschen und skandinavischen Nibelungen- und Dietrichdichtungen. Die Beispiele sind bekannt, werden hier aber auf die Frage nach transkulturellen Konstanten und Variablen von Widersprüchlichkeit bezogen. Ein Quellenvergleich ist dabei nur teilweise möglich; oft gibt es keine direkten textgenetischen Beziehungen. Verglichen werden können aber Verfahren des Umgangs mit Widersprüchen. Grundlegend widersprüchliche Konstellationen um Ganelons Friedensrat, Verrat und Prozess in der Chanson de Roland sind im Rolandslied beibehalten:4

|| 2 In meinem Explorationsprojekt „Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne“ (gefördert aus Mitteln des Zukunftskonzepts der Universität Bremen im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder), das seinerseits der geisteswissenschaftlichen Verbundforschungsinitiative „Worlds of Contradiction“ an der Universität Bremen zugeordnet ist; dazu Lienert 2017, Lienert 2018 (mit Literaturhinweisen). Eine umfassendere Studie zu Widersprüchen in heldenepischem Erzählen ist in Vorbereitung. 3 Aus Platzgründen kann hier Forschung nur mit ganz wenigen ausgewählten Hinweisen dokumentiert und auch Textarbeit nicht im Detail geleistet werden. Basisinformationen nach Millet 2008, Bastert 2010, Lienert 2015 (mit Literaturhinweisen); grundsätzlich zu vormodernen Erzähllogiken z. B. Kragl und Schneider 2013. 4 Dass nicht bekannt ist, auf welche Handschrift der Chanson de Roland genau der Pfaffe Konrad zurückgreift, sei als grundsätzlicher Vorbehalt angemerkt.

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In beiden Texten gibt Ganelon / Genelun den Rat, das Unterwerfungsangebot der Sarazenen anzunehmen (Chanson de Roland, V. 220–229; Rolandslied, V. 1194–1221), nimmt unmittelbar danach aber seinen Botenauftrag als Himmelfahrtskommando wahr (Chanson de Roland, V. 280–332; Rolandslied, V. 1382– 1462), was voraussetzt, dass er selbst, entgegen seiner Rede, den Sarazenen misstraut. Beim Erklingen des Olifant wissen Karl und alle Franken im Widerspruch zu ihrer bisher dominierenden Gutgläubigkeit plötzlich und nur notdürftig motiviert von Ganelons / Geneluns Verrat (Chanson de Roland, V. 1765–1829; Rolandslied, V. 6068–6129). Beides dürfte mit der Rollenhaftigkeit vormoderner Figuren zusammenhängen, vor allem aber mit einem Vorwissen um diese Rolle: Ganelon / Genelun ist immer schon der Verräter (ki la traisun fist, Chanson de Roland, V. 178), der er bei seiner Gesandtschaft wird. In der Chanson de Roland dürfte das auf Sagenwissen zurückgehen, das keiner Motivation bedarf; im legendenhaften Rolandslied wird Genelun vor geistlichem Wissens- und Wertehintergrund durch die Judas-Typologie (Rolandslied, V. 1925, 6103) zweifelsfrei in einer überzeitlich negativen Rolle fixiert. Dass beim Prozess in Aachen die in Spanien noch einhellige Verurteilung des Verräters erneut kippt (Chanson de Roland, V. 3798–3805; Rolandslied, V. 873–8738), beruht auf dem Aufrufen anderer thematischer Aspekte (Verwandtschaft, Verhältnis zwischen Zentralgewalt und Vasallen). In beiden Texten rücken verschiedene Dimensionen einer Figur additiv und jeweils episodenweise in den Fokus – ein vormodernes, nicht spezifisch heldenepisches Erzählverfahren. Manche Widersprüche im Detail fallen im Rolandslied weg, etwa ungenaue Reminiszenzen an textinternes früheres Geschehen (die Geschenke sarazenischer Fürsten an Ganelon, die später nicht exakt erinnert werden: Chanson de Roland, V. 1531, 1570, gegenüber V. 629, 620). Marsilies Klage, er habe Karls Franken kein Heer entgegenzusetzen (Chanson de Roland, V. 18–19), die im Widerspruch steht zu seiner späteren Aussage, er verfüge über 400.000 Kämpfer (Chanson de Roland, V. 565), und zur gewaltigen heidnischen Übermacht bei Roncevalles, wird im Rolandslied (V. 413–414) weniger missverständlich formuliert: Gegen Karls Streitmacht nützt aller Einsatz nichts. Turgis wird in der Chanson de Roland (V. 1282, 1358) zweimal getötet,5 von Anseis und von Olivier, der Targis des Pfaffen Konrad nur einmal, von Anseis (Rolandslied, V. 4725–4734). Manche Widersprüche werden dagegen erst in der Rolandslied-Bearbeitung des Strickers getilgt (Bastert 2010, 185). Andere Widersprüche der Chanson de Roland treten beim Pfaffen Konrad sogar stärker hervor: Dass Karl plant, die eine || 5 Derartige Versehen begegnen typischerweise auch in mittelhochdeutscher Heldenepik (vgl. Alpharts doppelten Tod in Dietrichs Flucht, V. 9508, 9681).

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Hälfte Spaniens Marsilie zu Lehen zu geben, die andere Roland, wird in der Chanson de Roland (V. 472–473) nur von Ganelon den Heiden berichtet, im Rolandslied (V. 1505–1510) dagegen in direkter Rede Karls Genelun als Botschaft aufgetragen; dass Karl wenig später Roland nur widerstrebend an der Spitze der Nachhut in Spanien zurücklässt (Chanson de Roland, V. 742–747; Rolandslied, V. 2939–2984), steht im deutschen Text so in noch viel deutlicherem Widerspruch zu Karls eigenem Plan. Rolands Horn Olifant nimmt Schaden, als der sterbende Held damit den Schädel eines Sarazenen einschlägt (Chanson de Roland, V. 2287–2296; Rolandslied, V. 6798–6804). In der Chanson de Roland (V. 3302, 3310) wird Olifant am Rand gespalten und ertönt dennoch später in der Racheschlacht; im Rolandslied (V. 6804) ist das Horn ganz zecloben, dürfte also noch viel weniger funktionstüchtig sein, als Karl es in der Schlacht wiederholt blasen lässt (Rolandslied, V. 7772, 7937, 8014, 8168).6 Widersprüche durch Aggregation unterschiedlicher Sagentraditionen begegnen in der Chanson de Roland übrigens nicht, dafür aber für uns ‚blinde‘ Verweise auf (angeblich?) vorvergangene Ereignisse in der Sagenwelt, die der Pfaffe Konrad durch Anspielungen u. a. auf die vertraute (deutsche) Heldensage ersetzt (Bastert 2010, 175–180). In beiden Texten dienen die Referenzen nur dem lockeren Anschluss an ein (tatsächliches oder suggeriertes) Publikumswissen, nicht einer Kohärenz, die auf Wissensinferenzen angewiesen ist. An den Zeugnissen des Waltherstoffs lässt sich unterschiedliches Verhalten gegenüber Widersprüchen nicht vergleichend untersuchen, da außer dem mittellateinischen Waltharius nur (altenglische und mittelhochdeutsche) Bruchstücke erhalten sind. Am altenglischen Waldere zeigt sich vor allem der Kohärenzfaktor Sagenwissen: Durch Anspielungen auf das Sagenschwert Mimming, auf Dietrich von Bern und Witege / Widia (Waldere, Fragment I, 3; Fragment II, 4– 5a, 7b–10; vgl. Dietrich-Testimonien 2008, 48, Nr. 41) wird das Erzählte, unabhängig von interner Stimmigkeit (die bei einem Fragment nicht zu beurteilen ist), angeschlossen an Requisiten und Figuren der Heldensagenwelt.7 Im Waltharius dagegen ist Walthers Ernstkampf gegen Gunthers Franken im Horizont der lateinisch-gelehrten Tradition, mit Referenzen vor allem auf die Psychomachie des Prudentius, der Heldensagenwelt weitgehend entrückt (Wolf 1976). Die Referenzen auf den Nibelungenstoff könnten einen Einspruch gegen

|| 6 Diesen Widerspruch beseitigt auch der Stricker nicht: Karl, V. 8132, 9374–9375, 9472–9473, 9704. 7 Schwertreminiszenzen sind freilich nicht exklusiv heldenepisch; sie begegnen etwa, mit Verweisen auf romanische und deutsche Sagenschwerter, auch in Heinrichs von Veldeke Eneasroman (V. 5726–5731).

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die heldenepisch-nibelungische Untergangsstruktur markieren. Gerade im Umgang des Waltharius mit Sagenfiguren und heroischem Verhalten begegnen bekanntlich Widersprüche: Um nur einige zu nennen: Walther und Hildegunt stehlen Attilas bestes Streitross, gehen aber zu Fuß und nutzen das edle Tier nur als Packpferd (Waltharius, V. 326–341). Attila handelt, indem er, verkatert, zu effektiver Verfolgung außerstande ist, im Widerspruch zu heroischen Verhaltenscodices (Waltharius, V. 362–418). Diese Widersprüche aber (wenn sie wahrgenommen wurden) sind nicht Aggregationen widersprüchlichen Wissens oder Kohärenzbrüche, sondern dienen der Sinnkonstitution des Ganzen, der bekannten Ambiguisierung, vielleicht Parodie des Heroischen. In deutschen Heldenepen des Mittelalters betreffen Widersprüche besonders die Handlungsmotivation und Figurenkonstitution; zumeist sind sie auf die Kollision unterschiedlicher Sagenwissensbestände oder zwischen Sagenwissen und aktuellem Text zurückzuführen. Den offensichtlichsten Widerspruch bietet die berüchtigte Ortlieb-Strophe von Nibelungenlied B (Str. 1912), die unterstellt, Kriemhild opfere ihren Sohn für ihre Rache, während tatsächlich das Massaker an den burgundischen Knappen die Gewalteskalation auslöst. Die Thidrekssaga (Bertelsen 1911, II, 308–309; Erichsen 1996, 402–403) erzählt dagegen in bruchloser Kausallogik: Dort brechen die Kämpfe tatsächlich aus, weil Högni den Jungen tötet, der ihn auf Grimhilds Anstiftung hin provoziert hatte. Dass in Nibelungenlied B (Str. 1962) Hagen das Kind in Reaktion auf Dankwarts Meldung vom Knappenmord köpft, addiert in typischer Aggregation beide Motivationen für den Gewaltausbruch: Ortliebs Tod zieht den zuvor gastfreundlichen Etzel unwiderruflich in die begonnenen Kampfhandlungen hinein; das Motiv wird bestmöglich integriert. Widersprüchlich bleiben gleichwohl die offensichtlich falsche Aussage Dô der strît niht anders kunde sîn erhaben (Nibelungenlied B, 1912, 1) und die Unterstellung an Kriemhild. Bekanntlich tilgt Nibelungenlied C (Str. 1963) diesen Widerspruch. Das widersprüchliche Sagenwissen um den Brünhild-Kriemhild-Streit ist längst untersucht (Bumke 1960): In nordischen Zeugnissen sind die beiden Grundversionen auf zwei verschiedene Texte verteilt und dort jeweils widerspruchsfrei erzählt: In der Völsunga saga (Kap. 30: Ebel 1983, 103–105; Strerath-Bolz 1997, 86–88) wird beim Männervergleich unter vier Augen der Werbungsbetrug, in der Thidrekssaga (Bertelsen 1911, II, 259−262; Erichsen 1996, 371–372) beim Frauenvergleich in der Öffentlichkeit der Bettbetrug an Brünhild enthüllt. Das Nibelungenlied addiert beide Szenentypen (Königinnenstreit zunächst beim Turnier, dann öffentlich vor dem Münster, Nibelungenlied B, Aventiure 14); aufgedeckt wird aber nichts: Der Werbungsbetrug hat stattgefunden, kommt aber nicht zur Sprache (Brünhild thematisiert nur die Standeslüge, jedoch als vermeintliche Tatsache); der Bettbetrug wird erwähnt

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(wenn auch von Seiten Kriemhilds nicht als Betrug), hat aber so nicht stattgefunden. Sekundäre Vereindeutigung in den Sagas ist unwahrscheinlich; mithin spricht alles für eine Montage zwei verschiedener Traditionen im Nibelungenlied, die auch die sonst glättende C-Fassung nicht grundsätzlich verändert. Bekanntlich ist bei solchen Widersprüchen höchst umstritten, ob ein Montagefehler (grundsätzlich: Heinzle 2014) vorliegt oder absichtliche Bewahrung unterschiedlichen Sagenwissens, Anerzählen gegen die Sage (grundsätzlich: Müller 1998). In diesem Fall verschiebt sich die Darstellung vom tatsächlichen Betrug auf die Ebene der öffentlichen Wahrnehmung und des äußeren Scheins, von der Schuld der betrügerischen Männer auf die problematische Frau (Lienert 2003). Bekannte Beispiele für (widersprüchliche) heldenepische Figurenkonstitution sind Witege und Etzels Söhne in der Dietrichepik. In der Rabenschlacht (Str. 339–463) schillert die Darstellung der Hunnenprinzen widersprüchlich zwischen Sentimentalisierung und Heroisierung (hier nach Lienert 2010, besonders 148–150, 153): Einerseits werden die Jungen als halbe Kinder gezeichnet, die sich verirren und in der Nähe des Schlachtfelds Witege zum Opfer fallen; andererseits stehlen sie sich, unter Austricksen ihres Aufpassers Elsan, in die Nähe des Schlachtfelds, wo sie Witege einen heroischen Kampf liefern; Witege hält sie für Angehörige von Dietrichs Hilfstruppen (Rabenschlacht, 416, 3–4). Die Versionen sind unvereinbar, weniger in der Gesamtdarstellung der Figuren (im traditionellen heldenepischen Typus des Heldenjünglings fallen Jugend und Heroismus zusammen), als in Motivation und Bewegung im Raum: Sich-Verirren und Absichtlich-die-Schlacht-Suchen schließen sich aus. Die Thidrekssaga kennt hier keinen Widerspruch: Atlis und Erkas Söhne nehmen als junge Krieger selbstverständlich an der Schlacht teil, in der sie fallen (Bertelsen 1911, II, 243–245; Erichsen 1996, 362–363). Gründe für den unterschiedlichen Befund dürften einerseits in der vergleichsweise stringenten (nicht eigentlich heldenepischen) Erzählweise der Prosasaga liegen, andererseits in einem bewussten Anschluss des mittelhochdeutschen Heldenepos an die heroische Tradition, als legitimierendem Hintergrund für die modische Sentimentalisierung. Witege ist in der aventiurehaften Dietrichepik Gefolgsmann Dietrichs, in der ‚historischen‘ verräterischer Überläufer zu Dietrichs Erzfeind Ermrich. In Rosengarten D (Lienert et al., Bd. II) ist er beides, unter Durchbrechung der Chronologie (hier nach Lienert 2016, 61): Witege wechselt erst nach den Wormser Reihenkämpfen die Herrschaft (Dietrich lässt ihn auf seinen Wunsch hin zu Ermrich ziehen: V. 2361–2374), wird aber bereits zu deren Beginn als Feind vorausgesetzt: Er hat Rüdigers Sohn getötet (deswegen verlangt er die Beilegung dieses Konflikts, V. 1199) und in einem Kampf gegen einen der Amelungen sein Pferd Schemming verloren (V. 1190). Aufgerufen wird so der Horizont der Kämpfe zwischen Diet-

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rich und Ermrich (in der Thidrekssaga tötet Widga Naudung viel später in der der Rabenschlacht entsprechenden Gronsportschlacht: Bertelsen 1911, II, 242– 243; Erichsen 1996, 362). In Rosengarten D werden sie als Vorgeschichte vorausgesetzt, obwohl sie erst in die Nachgeschichte gehören: Witege ist, wie Genelun, immer schon Verräter. Die Thidrekssaga (Bertelsen 1911, II, 157–158; Erichsen 1996, 310–311) motiviert den Parteiwechsel dagegen sorgfältig und in stimmiger Chronologie: Indem er die Witwe von Ermanriks Halbbruder heiratet, wird Widga zu Ermanriks Gefolgsmann, lange vor dessen Entzweiung mit Thidrek. Dass vor den Fluchtepen kein Zeugnis erhalten ist, das Witege als Verräter kennt (vgl. Dietrich-Testimonien 2008), spricht eher dafür, dass die Thidrekssaga eine sagenüblichere (und widerspruchsarme) Version gestaltet und dass die Widersprüche in der mittelhochdeutschen Dietrichepik generiert werden. Dass fortschreitende Verschriftlichung tendenziell, wenn auch nicht konsequent, Widersprüche einebnet, belegt neben Nibelungenlied C auch die LaurinÜberlieferung (zusammenfassend Heinzle 1999, 165–169): Die Ältere Vulgatversion zeigt Laurin zunächst als Opfer der Berner, die seinen Rosengarten nur um der Aventiure willen zerstören, erst nachträglich als Frauenräuber und hinterhältigen Verräter. Das vereindeutigen zwei andere mittelhochdeutsche Versionen jeweils unterschiedlich: Die Jüngere Vulgatversion zeigt Laurin schon in einer Vorgeschichte als Frauenräuber, die Walberan-Version problematisiert in einer Nachgeschichte Dietrichs Gewaltverhalten. Notwendig ist das nicht: Die Ältere Vulgatversion enthält von Anfang an Elemente, die Laurin ins Zwielicht rücken, insbesondere die grausame Costume um den Rosengarten; der Dresdner Laurin negativiert Laurin in der Hinsicht deutlicher. Die tschechische und die dänische Bearbeitung (beide auf der Älteren Vulgatversion beruhend) verschieben die ambivalenten Wertungen ohne vereindeutigende Zusatzepisoden. Immerhin moralisiert der tschechische Lavryn (V. 2075–2102), dass der Zwergenkönig mit Recht für Stolz und Untreue bestraft wurde (Laurin 2016, 174); der dänische Lawrin rückt dagegen beide Seiten, vor allem die Berner, in ein parodistisches Zwielicht (Laurin 2016, 180–181). Inwieweit ist also heldenepisches Erzählen durch Widersprüche definiert? Europäische Texte mit heldenepischen Stoffen sind in ihrer Handlungsmotivation und Figurenkonstitution häufig, aber nicht notwendig, durch Widersprüche geprägt: Die altnordische Thidrekssaga erzählt, gerade verglichen mit deutschen Nibelungen- und Dietrichdichtungen, die hier behandelten Episoden (bei weitem nicht alle) tendenziell kohärent. Der lateinische Waltharius stellt, wo er widersprüchlich erzählt, Widersprüche gezielt für seine parodistische Sinnkonstitution aus. In der Summe scheinen heldenepische Texte widersprüchlicher und zugleich widerspruchsresistenter zu sein als höfische Romane. Das dürfte

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freilich, ohne dass das hier im Detail nachgewiesen werden kann, auch für deutsche Dichtungen nach Art von Chansons de geste, für sogenannte ‚Spielmanns‘- und Brautwerbungsepik gelten, punktuell auch, allerdings in wesentlich geringerem Maß, für Antikenromane, die stärker von widersprüchlichen Stofftraditionen zehren als sonst höfische Romane. Widersprüchlichkeit als Merkmal heldenepischen Erzählens gilt graduell, nicht absolut. Freilich scheint Widersprüchlichkeit weniger ein Merkmal der Sage (soweit rekonstruierbar) als ein Ergebnis komplexerer Figuren- und Textkonstitution bevorzugt in (mittelhochdeutscher?) schriftlicher Heldenepik, ist also kein stoffliches, sondern ein poetologisches Problem. Bei der Bearbeitung von Heldenepen in anderen sprachlichen und kulturellen Kontexten (die zugleich auch ein Hinausdriften aus der Gattung Heldenepik bedeutet) werden bestehende Widersprüche teils abgeschwächt oder beseitigt, teils belassen; teilweise entstehen sogar neue Widersprüche. Einebnung von Widersprüchen ist ein Effekt von (zunehmender) Integration in die Schriftlichkeit und kann deswegen stufenweise erfolgen, nicht nur transkulturell, sondern auch und in erster Linie transmedial. Dabei neu entstehende Widersprüche liegen, wie Widersprüche im höfischen Roman, eher auf konzeptioneller als auf erzähltechnischer Ebene, im Sinn semantischer Komplizierung. Fehler sind nicht anzunehmen, wo Widersprüchlichkeit ausgestellt wird und/oder zur Sinnkonstitution beiträgt. Dass Widerspruch als Prinzip heldenepischen Erzählens gelten kann, ist dabei freilich keineswegs ausgemacht. In vielen Fällen dürften Widersprüche nicht, zumindest nicht als störend wahrgenommen worden sein, auch wenn einige Bearbeitungen sich durchaus an Widersprüchen abarbeiten – und zwar intra- wie transkulturell.

Literaturverzeichnis (strengste Auswahl) Texte [Chanson de Roland] Das altfranzösische Rolandslied. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck, Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart: Reclam, 1999. Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Elisabeth Lienert und Gertrud Beck (Hgg.). Tübingen: Niemeyer, 2003. Heinrich von Veldeke. Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart: Reclam, 1997. Laurin. Elisabeth Lienert, Sonja Kerth und Esther Vollmer-Eicken (Hgg.). 2 Teilbände. Berlin/Boston: de Gruyter, 2011. Laurin. Hendrikje Hartung, Jan K. Hon, Florian Kragl und Ulf Timmermann (Hgg.). Stuttgart: Hirzel, 2016.

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[Nibelungenlied B] Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Joachim Heinzle (Hg.). Berlin: Deutscher Klassiker Verlag, 2013. [Nibelungenlied C] Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Ursula Schulze (Hg.). Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2005. [Pfaffe Konrad] Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke. Stuttgart: Reclam, 2011 [1993]. Rabenschlacht. Textgeschichtliche Ausgabe. Elisabeth Lienert und Dorit Wolter (Hgg.). Tübingen: Niemeyer, 2005. Rosengarten. Elisabeth Lienert, Sonja Kerth und Svenja Nierentz (Hgg.). 3 Teilbände. Berlin, München/Boston: de Gruyter, 2015. [Stricker] Karl der Große von dem Stricker. Karl Bartsch (Hg.), Nachwort von Dieter Kartschoke. Berlin: de Gruyter, 1965 [1857]. [Thidrekssaga:] þiđriks saga af bern. Henrik Bertelsen (Hg.). 2 Bde. Kopenhagen: S. L. Mollers Bogtrykkeri, 1905–1911. – Die Geschichte Thidreks von Bern. Übertragen von Fine Erichsen. Neuausg. mit einem Nachwort von Helmut Voigt. München: Eugen Diederichs, 1996 [1924]. Völsunga saga. Uwe Ebel (Hg. und eingel.). Frankfurt am Main: Haag + Herchen, 1983. – „Die Saga von den Völsungen“. Isländische Vorzeitsagas. Bd. 1. Herausgegeben und aus dem Altisländischen übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz. München: Eugen Diederichs, 1997, 38–115. Waltharius. Gregor Vogt-Spira (Übers. und hg.). Mit einem Anhang Waldere. Übersetzung Ursula Schäfer. Stuttgart: Reclam, 1994.

Forschungsliteratur Bastert, Bernd. Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen und Basel: Francke, 2010. Bastert, Bernd. „Fremde Helden? Narrative Transcodierung und Konnexion des Nibelungenlieds im mittelniederländichen Nevelingenlied“. Narration and Hero: Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period. Victor Millet und Heike Sahm (Hgg.). Berlin/Boston: de Gruyter, 2014, 385–402. Bumke, Joachim. „Die Quellen der Brünhildfabel im Nibelungenlied“. Euphorion 54.1 (1960), 1–38. Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts. Elisabeth Lienert (Hg. unter Mitarbeit von Esther Vollmer-Eicken und Dorit Wolter). Tübingen: Niemeyer, 2008. Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Florian Kragl und Christian Schneider (Hgg.). Heidelberg: Winter, 2013. Heinzle, Joachim. Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/New York: de Gruyter, 1999. Heinzle, Joachim. Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verständnis von Nibelungensage und Nibelungenlied. Stuttgart: Hirzel, 2014. Kerth, Sonja. Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung. Wiesbaden: Reichert, 2008. Lienert, Elisabeth. „Geschlecht und Gewalt im Nibelungenlied“. Zeitschrift für deutsches Altertum 132.1 (2003), 3–23.

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Lienert, Elisabeth. Die ‚historische‘ Dietrichepik. Untersuchungen zu Dietrichs Flucht, Rabenschlacht und Alpharts Tod. Berlin/New York: de Gruyter, 2010. Lienert, Elisabeth. Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt, 2015. Lienert, Elisabeth. „Aspekte der Figurenkonstitution in mittelhochdeutscher Heldenepik“. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 138.1 (2016), 51–75. Lienert, Elisabeth. „Widerspruch als Erzählprinzip in der Vormoderne? Eine Projektskizze“. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 139.1 (2017), 69–90. Lienert, Elisabeth. „Knowledges and Contradictions in Premodern Narrative“. Contradiction Studies: An Interdisciplinary Approach. Gisela Febel, Julia Lossau, Norbert Schaffeld und Ingo H. Warnke (Hgg.). Wiesbaden: ca. 2018 (im Druck). Millet, Victor. Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin/New York: de Gruyter, 2008. Müller, Jan-Dirk. Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen: Niemeyer, 1998. Müller, Jan-Dirk. „Heroische Erinnerung – heroische Präsenz. Die Klage um die Etzelsöhne in der Rabenschlacht“. Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Florian Kragl und Christian Schneider (Hgg.). Heidelberg: Winter, 2013, 227–242. Schulz, Armin. Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller (Hgg.). Berlin/Boston: de Gruyter, 2015 [2012]. Wolf, Alois. „Mittelalterliche Heldensagen zwischen Vergil, Prudentius und raffinierter Klosterliteratur. Beobachtungen am Waltharius“. Sprachkunst 7 (1976), 180–212. Wolf, Alois. Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen: Narr, 1995.

Ingrid Bennewitz, Bamberg

Ein Hund, ein Sohn, eine Frau Ziemlich beste Freunde und Feinde in der europäischen Literatur des Mittelalters Am Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen stand ein umfangreicher Erzählabschnitt in der Sibille Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. Im Kontext ihrer Ausführungen über Abrye, den (ersten) Beschützer und Begleiter der unschuldig verleumdeten Königin und seinen treuen Hund, dem im Kontext der Rechtsbeweise zugunsten Sibilles eine wesentliche Rolle erwächst, findet sich eine Binnenerzählung, die einen hohen Bekanntheitsgrad unter Produzenten und Rezipienten mittelalterlicher Literatur für sich beanspruchen kann und deren Wurzeln sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Ihren Kern bildet eine Aufgabenstellung, der zufolge ein Mann „seinen besten Freund und seinen schlimmsten Feind als Gefährten mitbringen [soll]. Er nimmt den Hund als Freund und die Frau als Feind mit und erfüllt so die Aufgabe“.1 Dieser „Erzählkern“ (Müller 2007, 22) findet sich im Kontext der europäischen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit unter anderem auch nicht nur in der bereits genannten Sibille, sondern auch in den lateinischen und deutschen Fassungen der Gesta Romanorum, in dem auf einer französischen Vorlage basierenden Ritter vom Thurn des Marquart von Stein, im Spiegel der regiersüchtigen Weiberen (1770) sowie in mittelfranzösischen und altspanischen Prosabearbeitungen. Allein schon die Sibille bietet also „eine einzigartige Basis“, die „Prosaumsetzungen eines einzigen Romans [...] in drei Gegenden Europas“ (Tiemann 1977, 13) zu beobachten; nimmt man die niederländische (Druck-) Rezeption nach dem altspanischen Text hinzu (vgl. Tiemann 1977, 13), so erweitert sich dieser transeuropäische Kontext zusätzlich. Mit Blick auf die genannten literarischen Belege lässt sich also eine zeitgenössische transkulturelle Rezeption erschließen, welche die Grenzen zwischen dem Lateinischen und den europäischen Volkssprachen ebenso transgrediert wie gattungsgeschichtliche Traditionen, den Übergang von Vers zu Prosa oder den mediengeschichtlichen Übergang von der Handschrift zum Druck sowie die zeitlichen Dimensionen zwischen Spätantike und Früher Neuzeit, und die insofern Zeugnis sowohl für das Phänomen mittelalterlicher Translation wie Transkulturalität ablegt. || 1 Bošković-Stulli 1987, 275; dort auch zahlreiche Literaturhinweise.

DOI 10.1515/9783110556438-018

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1 Ubi est amicus tuus fidelisssimus? (GRL, 474) Die Sammlung der Gesta Romanorum2 zählt seit der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts zu den am meisten verbreiteten Texten des ausgehenden Mittelalters: Schon in seiner 1872 erschienenen Edition verwies Hermann Oesterley auf rund 250 Handschriften, die eine Vielzahl von Geschichten unterschiedlichster Herkunft tradieren, deren Besonderheit in der jeweils angefügten geistlichen Auslegung liegt (moralizacio; häufig eingeleitet mit der Anrede Carissimi). Zu der lateinischen Überlieferung treten zahlreiche deutsche Bearbeitungen mit unterschiedlichem Textbestand. Dass die Gesta Romanorum auch für die Rezeptionsgeschichte mittelalterlicher Literatur eine hohe Bedeutung besitzen und über die Jahrhunderte hinweg nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben, zeigt nichts deutlicher als die Teiledition von Hermann Hesse (1915) und die intensive Lektüre Thomas Manns, die ihre Spuren unter anderem im Doktor Faustus hinterlassen hat. Hier berichtet Serenus Zeitblom im Kapitel 31 ausführlich von der – ihm teils schwer verständlichen – Heiterkeit, welche die Lektüre der Gesta Romanorum „in ihrer historischen Unbelehrtheit, christfrommen Didaktik und moralischen Naivität, mit ihrer ausgefallenen Kasuistik von Elternmord, Ehebruch und kompliziertem Inzest“ (Th. Mann, 459) bei Adrian Leverkühn auslöst und wie ausgerechnet die Geschichte „,Von der Geburt des seligen Papstes Gregor‘“ zum „eigentlichen Kernstück“ (Th. Mann, 461–462) der geplanten Suite Adrians avanciert. Ausführlich – immerhin zweieinhalb Seiten lang – wird der Inhalt des Stückes referiert,3 dessen musikalische Realisierung ganz unter dem Aspekt „der Vereinigung des Avancierten mit dem Volkstümlichen“ (Mann, 467) steht. Im Erwählten greift Thomas Mann im Übrigen dann wieder ganz bewusst auf die Version Hartmanns von Aue zurück (vgl. Bennewitz 2012). Die Fassung der Gesta Romanorum, die in der spätlateinischen und deutschen Bearbeitung weitgehend identisch erzählt wird, bietet gegenüber der später von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken nach ihrer (französischen) Vorlage verwendeten Version deutliche Veränderungen, allen voran den Verzicht auf eine literarische Autorisierung durch den Artus-Stoff (bei dem gefangen gehaltenen Ritter handelt es sich bei Elisabeth ebenso wie in der mittelfranzösischen und altspanischen Bearbeitung bezeichnenderweise um ‚Merlin‘). Die handelnden Per|| 2 Vgl. dazu Gerdes 1981, Sp. 25–34. Zitiert wird nach den Ausgaben von Oesterley 1980. 3 Und zwar tatsächlich nach der Fassung der Gesta, die der Protagonistin deutlich mehr Entscheidungsfreiheit einräumt als Hartmann von Aue. So beschließt sie hier etwa selbst, das Kind – und zwar ohne Taufe – auszusetzen.

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sonen sind ausnahmslos anonymisiert. Ausgangspunkt ist die schwelende Konfliktsituation zwischen eynem chnig (GRd, 40), der von seinem Gefolgsmann gar swærleich […] gelaidigt (GRd. 40) wurde und zur Wiedergewinnung der Huld des Königs halb geritten halb gegangen mit seinem besten Freund, seinem besten Spielmann und seinem schlimmsten Feind vor Hof erscheinen soll. Zur Vorbereitung dieses Auftritts schlägt der Ritter seiner Ehefrau vor, einen in ihrem Haus übernachtenden Pilger zu töten und seinen Besitz zu behalten. Die Frau stimmt zu; der Ehemann befiehlt dem Pilger allerdings zu gehen und tötet stattdessen ein Kalb, das er in Stücke zerlegt und Teile davon in einem Sack seiner Ehefrau übergibt mit der Bitte, dies in einem winchkel (GRd, 40) des Hauses zu verbergen. Auch hier entpuppt sich beim Auftritt vor dem König der Hund (dem der Ritter ein Ohr abschlägt und der ihm trotzdem später wieder zuläuft) als trewister frevnd (GRd, 41), der Sohn als größte Freude und bester Spielmann und die Ehefrau als größter Feind, da sie nach ihrer (unverdienten) öffentlichen Züchtigung (maulslag, GRd, 41) durch den Ehemann die Geschichte der angeblichen Ermordung des Pilgers preisgibt. Bei der anschließenden Überprüfung ihrer Aussagen finden die Diener des Königs die Überreste des Kalbs und preisen den Ritter für synn vnd witz [ ] und der ritter ward nach der tat dem chnig mit besunderʼ lieb z gefget (GRd, 41). Gänzlich neu ist freilich die moralizacio, die sowohl in der mittellateinischen als auch in der deutschen Version folgt. Ihr zufolge ist der Ritter als ieslicher snder (GRd, 41) zu verstehen, der Freunde und Verwandte – das sind die gten werch vnd heilige gebet (GRd, 41) – zu Gott sendet, um dort Fürbitten für ihn zu leisten; der treue Hund ist sein engel […] oder sein peichtiger (GRd, 42), der Sohn sein gewizzen (GRd, 42), seine Frau hingegen die schntung dez teufels vnd eppichait dez leibes oder der werlt (GRd, 42). Auch hier trifft die Charakterisierung Udo Friedrichs jedenfalls zu, wonach die Exempel der Gesta Romanorum […] ihren Gehalt nicht nur aus der Allegorese und häufig nicht einmal aus ihren Titeln [erzielen], d. h. nicht aus der Subsumption des Falls unter eine Regel. Ihre komplexe Aussagedimension beziehen sie aus der Überblendung von Motiven, Handlungsmustern, sozialen Diskursen und selbst Erzählformen, die für konkurrierende Wertregister stehen: ein geschichtetes Gefüge von Erzählelementen, in dem die Finalität des Lebens alle anderen Register unterwandert (Friedrich 2016, 265).

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2 Die Weiber knnen nichts verschweigen (RT, 302r) Zu den erfolgreichsten moralisch-didaktischen Texten der Frühen Neuzeit zählt zweifellos der Ritter vom Thurn (in der deutschen Übersetzung des Marquart von Stein4 nach der französischen Vorlage des Livre du Chevalier de la Tour pour Lʼenseignement de ses filles; daneben existieren auch Übersetzungen in das Mittelenglische von William Caxton). Schon die französische Vorlage ist in 21 Handschriften erhalten; von Marquarts Übersetzung erschienen allein zwischen 1493 und 1593 zehn zum Teil deutlich voneinander abweichende Auflagen des Werks mit weiteren in den Jahren 1680, 1682 und 1850. Religiöse Themen, Geschichten von (guten und bösen) Frauenfiguren des Alten und Neuen Testaments sowie der mittelalterlichen Erzählliteratur stehen im Zentrum dieses „Erziehungsbuches“ für junge Mädchen.5 Unter der Überschrift Die Weiber knnen nichts verschweigen erzählt Marquart die Geschichte im Wesentlichen in Analogie zu der Version der Gesta Romanorum, natürlich ohne die dort angefügte moralizacio. Vergleichbar verfährt auch der Kompilator des Spiegels der regiersüchtigen bösen Weiberen: Unter der Überschrift Allda wird gezeigt / wer deß Mans grster Freund vnd anbey dessen rgister Feind war (Spiegel, 62) wird die Geschichte im Kontext der Taten kyser Marenti und seiner Rechtsprechung über einen fälschlich verleumdeten Grafen kolportiert: Der zu Unrecht halb zu Tode verprügelte Hund leckt dem Herren die Hand ab; die Gräfin, die Partei zu Gunsten des Hundes und des Kaisers gegen ihren Ehemann ergreift, wird von ihm nach ebenso ungerechtfertigter Züchtigung und anschließender ‚Gegenrede‘ als schlimmster Feind des Ehemannes ‚entlarvt‘. Die Erd vil bse Thier ernhrt / Der man sich schwerlichen erwehrt / Wie wohl kein bsers Thier auf Erden / Unter allen mag gefunden werden / Als ein Weib in ihrem Zoren / Kein bsers Thier ward je gebohren (Spiegel, 65).

|| 4 Vgl. dazu Bennewitz 1988 sowie Kreutzer 1987, Sp. 129–135. 5 Vgl. ebd.

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3 als Merlin sprichet... (Sibille, 137) Die vier Romane der Elisabeth von Nassau–Saarbrücken – Herpin, Sibille, Loher und Maller, Huge Schepel – werden schon rein inhaltlich von einem genealogischen Erzählzusammenhang geprägt, der „[...] die Geschichte von Größe und Niedergang der Karolinger bis zum Aufstieg der neuen Dynastie [enthält]“.6 Jeglicher Versuch einer Rückführung auf Ereignisse der ‚realen‘ Historie wird dabei freilich konsequent unterlaufen (vgl. dazu Haug 2002). Zwar konstituieren genealogische und dynastische Bindungen, insbesondere die eigene Sippe, z. B. gerade für die weibliche Hauptfigur im Sibillen-Roman wesentliche Möglichkeiten für Hilfe und Unterstützung gegenüber dem eigenen, von schlechten Ratgebern beeinflussten Ehemann; sie erweisen sich aber häufig als unterlegen gegenüber der Freundschaft und – ebenso unerwartbaren wie unverbrüchlichen – triuwe der Untertanen, unabhängig von deren Stand. So zählt Abrye, Sibilles erster und vom Verräter Mayrkar heimtückisch ermordeter Begleiter in die Verbannung, zu den Gefolgsleuten des Königs; ihr zweiter Beschützer Warakir ist jedoch ein Bauer, der dennoch augenblicklich die Chance ergreift, eyn obentüre mit der verleumdeten Königin gegen sein häusliches Leben mit wybe vnd kinde zu tauschen. Als treuer freilich als alle menschlichen Begleiter erweisen sich in der Sibille die Tiere: Als Warakir nach vielen Jahren in der Fremde endlich nach Hause zurückkehrt, ist es einzig sein Esel, der ihn wiedererkennt. Der treue Abrye wird nach seiner Ermordung durch Maykar, der nichts weniger als die Vergewaltigung und anschließende Tötung der Königin beabsichtigt, von seinem Hund beklagt, begraben und zuletzt in einem öffentlichen Gerichtskampf gerächt: Der selbe Abrye von Mondidyre / der hat eynen wint erzogen den hat er gar liep / den nam er mit yme / Der wint hatt synen herren viel lieber / dann eyn muder ir kint habe (Sibille, 127).

In der Sibille werden auch die Tiere des ‚Feindes‘ zur Zielscheibe der Verräterpläne. Maykar tötet nicht nur Abrye, sondern danach auch sein Pferd (dessen herrenlose Rückkehr möglicherweise frühzeitig den Tod seines Besitzers angekündigt hätte). Der Hund Abryes entkommt nur aufgrund seiner Schnelligkeit dem gleichen Schicksal und verteidigt im Anschluss den Leichnam seines Herren gegen die wilden Tiere, ehe er ihn nach vier Tagen mit Laub und Erde be-

|| 6 Müller 1990, 1101. Der Text der Sibille wird nach der Ausgabe von Tiemann 1977 zitiert. Vgl. dazu u. a. die Artikel Steinhoff 1980, von Bloh 2002 sowie Haubrichs 2002 und Bennewitz 2013.

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gräbt und den Verräter am Tisch des Königs in Paris so lange attackiert, bis der König mit seinen treuen Ratgebern ihm zum ‚Grab‘ seines Herren folgt (Sibille, 135). hülen und schrien (Sibille, 136) des Hundes bei der Bestattung seines Herren in Paris erwecken die compassio der Bürger (das alle die die dabij waren zü weynen würden beweget, Sibille, 136). Hundesprache wird – aus dem Blickwinkel des menschlichen Betrachters und Erzählers – zum Mittel defizitärer HumanKommunikation (Der hünt […] begonde vaste zü hülen / glich als er gerne zü ijme hette geredet, Sibille, 135); seine Klage um den toten Herren inkludiert auch die Verweigerung von Nahrungsaufnahme (Sibille, 136). Um seinen Vorschlag zu untermauern, wonach Abryes Hund in einer Art Gottesurteil gegen den Mörder seines Herren kämpfen soll, erzählt Herzog Nymo die Episode von Merlin, der – um der Gefangenschaft zu entkommen – drei Bedingungen erfüllen soll, nämlich sein liebestes, die grosseste freude [s]iner getruwesten frünt und seinen meysten fygent (Sibille, 137) an den Hof zu bringen. Erwartungsgemäß ging Merlin heym / vnd bracht sin wib, sine kind / vnd sinen hünt (Sibille, 137) mit folgender Erläuterung: Hie steet myn wip. Wann ich gedun alles das jch will / so hat sy mich sere liep / vnd ich wenen sy sie myn bester frünt / Aber gebe ich ir einen streich in zornes wyse wist sye dann einen mort vff mich / vnd wiste vor war / das ich dar vmb müste hangen / so segte sy es doch zü stünt / Dar vmb halt ich sye vor mynen figent / Herre so han ich hie mynen sone / der ist alles myn getzel vnd myn freude / vnd ist der liebste den ich han / die wile er jung ist / vnd mir nit enheyschet / So ist das myn hünt / der ist der getrüweste den ich han / Dann hette ich yme alle sin glider enzwey geslagen / vnd hette yne vßgejaget wan ich yme dann widder rieff / so keme er doch widder zu mir (Sibille, 137–138).

Die Erzählung entfaltet scheinbar augenblicklich ihre Wirkungsmacht: Mit ihrer Hilfe legitimiert Herzog Nymo seinen Vorschlag für einen Gerichtskampf zwischen dem Verräter Maykar und Abryes Hund, der vom Erzähler in allen Details geschildert wird (Sibille, 140–143) und schlussendlich – trotz zahlreicher Regelverletzungen und Interventionen von Maykars Freunden und Anhängern – mit dem Sieg des treuen Tieres endet und den Verräter an den Galgen bringt. Sein Geständnis legt dem einmal mehr als schwacher König inszenierten Karl eine erste Vermutung nahe, wonach seine Ehefrau verrederij halb verdrieben worden (Sibille, 143) sei. Die Fürsorge, die Karl dem Hund nun mehr um seines Herren Willen angedeihen lässt, bleibt wirkungslos: Aber der wint ginge vff sins herren grabe / vnd hulete vnd schrey da als lange / das (das) er ouch gestarp (Sibille, 143).

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Sowohl die mittelfranzösische als auch die altspanische Fassung der Sibille kolportieren eine erweiterte Version der Binnenerzählung. Hier wird Merlin jeweils die Aufgabe gestellt, vier (!) Konditionen für seine Freilassung zu erfüllen:7 Pour toy delivrer de prison beaux preudons fait il / te couvient devant moy amener ton amy ton ennemy ton feal et ton serf (mittelfranzösische Sibille, 221). bzw.: yo te mando commo amas tu cuerpo que tu trayas ante mi a mi corte tu joglar e tu sieruo e tu amigo e tu enemigo (altspanische Sibille, 53).

Als treuster Diener erweist sich in diesen beiden Bearbeitungen der Esel: De mon asne qui cy est / c’est mon serf / car je ne le sçay tant chargier qu’il en rechigne / et si ne le say tant batre ne devant ne derriere qu’il ne soit aussy cointe ung jour que l’autre / et si en porte mieulx son fardel par droite nature et telle est la condicion d’un asne (mittelfranzösische Sibille, 221). Sennor vedes aqui mi asno que es todo dessouado / çertas que aqueste es mi sieruo ca tomo el palo / e la vara / e do-le grandes feridas / e quanto le mas do tanto es mas (/) obediente / desi echo la carga en çima d’el / e lieua-la por ende mejor / tal costunbre ha el asno / esta es la verdat (altspanische Sibille, 54).

Tatsächlich erweist sich der Esel auch in Elisabeths Bearbeitung trotz seines Fehlens in der Binnenerzählung – und wenn auch weniger spektakulär als der Hund Abryes – als treuer Begleiter seines Herrn Warakir: Er dient der schwangeren Sibille getreu seinem biblischen Vorbild als sicheres Transportmittel und er legitimiert zugleich den unerkannten Heimkehrer in quasi antiker „HundeTradition“ (vgl. Odyssee, XVII. Gesang) als seinen ehemaligen Herrn.8

|| 7 In der Edition von Hermann Tiemann befindet sich jeweils ein ausführliches Glossar mit Hinweisen auf die Übersetzung der mittelfranzösischen und altspanischen Texte. Für ihre Hilfe bei der Lektüre des mittelfranzösischen und altspanischen Textes danke ich meinen Bamberger Kollegen Philipp Burdy und Enrique Rodrigues-Moura. 8 Vgl. dazu Schenda 1990 sowie Bošković-Stulli 1987.

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4 Dem Man gehorsam zu aller Stund, Die nicht bellet als ein Hund (Spiegel, 13) Es bleibt abschließend die Frage nach den potentiellen Funktionalisierungsmöglichkeiten der vorgestellten Erzählepisoden. Dass sie ausnahmslos – und zwar schon im Erzählkern – Traditionen antiker und mittelalterlicher Misogynie kolportieren und damit zugleich im Sinne einer Récriture für einen neuen Rezipientenkreis als ‚Wahrheit‘ konstituieren, lässt sich wohl kaum bezweifeln, ebenso wenig, dass sie damit zugleich die Kontingenz mittelalterlichen Erzählens zu Gunsten einer Befestigung dieser ‚Wahrheit‘ außer Kraft setzen. Nicht jeder Hund lässt sich ein Ohr abschneiden, um seinem Herren dafür dankbar die Hände zu lecken; nicht jeder Sohn entpuppt sich als Freude des Vaters, von seinen musikalischen Fähigkeiten ganz zu schweigen; nicht jede Ehefrau verbietet sich ungerechtfertigte öffentliche Anschuldigungen und Züchtigungen: Das Gegenteil ist hier jedenfalls angesichts der kulturellen Zurichtungen der Geschlechter erwartbarer. Gerade aber in der fraglosen Außer-Kraft-Setzung dieser Möglichkeiten manifestiert sich das Herrschaftspotential des Ehemannes, genauer gesagt seine Fähigkeit zu Kontrolle und Beherrschung von Tieren, Nachkommen und Ehefrauen, das ihn damit als Mitglied einer patriarchalen Elite und als Ratgeber des Herrschers qualifiziert. Dass dabei die Erzähllogiken vorübergehend außer Acht geraten, wird offenbar in Kauf genommen, wenn in der Sibille die Beweisführung zu Gunsten der zu Unrecht verleumdeten Königin ausgerechnet mit der Geschichte von der besten Feindin des Ehemannes legitimiert wird. Versteht man ‚Transkulturalität‘ mit Wolfgang Welsch als gekennzeichnet durch „eine Pluralisierung möglicher Identitäten“ und „grenzüberschreitende Konturen“, so bietet – wie sich anhand der Erzählung von (fast) besten Freunden und Feinden zeigen lässt – die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit einmal mehr ein anschauliches Beispiel für „Alterität und Modernität“ (Hans Robert Jauß) gegenüber kulturellen Erfahrungskontexten der Neuzeit. Erzählmuster und -inhalte erscheinen als quasi gesamteuropäische, transliterarische bekannt und verfügbar; zugleich liegt in dieser Verfügbarkeit die Anforderung nach je spezifischer Kontextualisierung begründet. Vergleichbar und jedenfalls die Grenze zur Neuzeit überschreitend, in diesem vielleicht unerwartbaren Sinne also ‚modern‘ ist die zeitgleiche Festschreibung von gesellschaftlichen Erwartungshorizonten hinsichtlich der Verkörperung und Inszenierung von Macht und Herrschaft, zu deren wirkungsmächtigsten zweifellos die litera-

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rischen Verständigungen über die Rollen der Geschlechter und die ihrer domestizierten vierbeinigen Begleiter zählen.9

Literaturverzeichnis Texte Gesta Romanorum. Das älteste Märchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. Hermann Hesse (Hg.). Frankfurt/Main: Insel-Verlag, 1978. [GRd] Gesta Romanorum das ist der Römer Tat. Adelbert Keller (Hg.). Quedlinburg: Basse, 1841. [GRL] Gesta Romanorum. Hermann Oesterley (Hg.). Hildesheim: Olms, 1980. Mann, Thomas. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 10.1: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Ruprecht Wimmer (Hg.). Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag, 2007. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Bibliothek der frühen Neuzeit 1,1. Jan-Dirk Müller (Hg.). Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker-Verlag, 1990. Geoffroy de La Tour Landry, Marquart von Stein. „Der Ritter vom Turm“. Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 32. Ruth Harvey (Hg.). Berlin: Schmidt, 1988. [Sibille] Der Roman von der Königin Sibille in drei Prosafassungen des 14. und 15. Jahrhunderts. Hermann Tiemann (Hg.). Hamburg: Dr. Ernst Hauswedell und Co., 1977. Siegmund Feyerabend. Das Buch der Liebe. Frankfurt/Main 1587. Darin: Marquart vom Stein: Der Ritter vom Thurn. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-21652 (30. Januar 2017). Spiegel der regiersichtigen bösen Weiberen. Ullstein-Buch 30137: Die Frau in der Literatur. Mit einem Nachwort von Barbara James. Frankfurt/Main u. a.: Ullstein, 1982. Spiegel der Regier-süchtigen bösen Weiberen. 1755. http://reader.digitalesammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10311520_00003.html (30. Januar 2017).

|| 9 Erst nach Fertigstellung dieses Beitrags erschien der Aufsatz von Lina Herz („Der beste aller Freunde. Von Menschen und Hunden in mittelalterlicher Literatur“. Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Hg. Judith Klinger und Andreas Kraß. Köln u. a.: Böhlau 2017, 77–87.). In ihrer Interpretation der Hunde-Episode in der frühneuhochdeutschen Sibille (andere Überlieferungen bleiben hier ausgespart) gelangt Herz zu einer gänzlich anderen Interpretation mittels einer Synthetisierung der Erzählebenen, in dem sie aus der Perspektive der Königin die Ehefrau Merlins ...durch ihren Mann Karl [ersetzen] möchte, da er zumindest vorübergehend zu ihrem Feind werde. (Herz 2017, 85) – Der gesamteuropäische Überlieferungskontext legt – wie die angeführten Beispiele hoffentlich verdeutlichen konnten – ein derartiges gender-shifting zumindest nicht nahe.

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Forschungsliteratur Bennewitz, Ingrid. „,Darumb eine fraw jrem mann nit kan zu vil gehorsam seyn.‘ Zur Konstituierung von Weiblichkeitsidealen im ‚Ritter vom Thurn‘ des Marquart von Stein“. Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag. GAG 278. Peter K. Stein et al. (Hgg.). Göppingen: Kümmerle, 1988, 545–564. Bennewitz, Ingrid. „Wenig erwählt. Frauenfiguren des Mittelalters bei Thomas Mann“. Thomas Mann-Jahrbuch 25 (2012), 59–73. Bennewitz, Ingrid. „Ir sollen die sachen billicher verwyßen überm nyfftelin. Familienbeziehungen und Generationskonflikte in den Romanen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken“. Zwischen Herrschaft und Kunst. Fürstliche und adlige Frauen im Zeitalter Elisabeths von Nassau-Saarbrücken (14.–16. Jh.). Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 44. Wolfgang Haubrichs und Patricia Oster (Hgg.). Saarbrücken: Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, 2013, 271–281. von Bloh, Ute. Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis des Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: „Herzog Herpin“, „Loher und Maller“, „Huge Scheppel“, „Königin Sibille“. MTU 119. Tübingen: Niemeyer, 2002. Bošković-Stulli, Maja. „Freund: Der beste F., der schlimmste Feind“. Enzyklopädie des Märchens 5 (1987), Sp. 275–282. Friedrich, Udo. „Zur Verdinglichung der Werte in den Gesta Romanorum“. Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Literatur – Theorie – Geschichte 9. Anna Mühlherr (Hg.). Berlin: de Gruyter, 2016, 249–266. Gerdes, Udo. „Gesta Romanorum“. VL 3 (1981), Sp. 25–34. Haug, Walter. „Die ‚Königin Sibille‘ der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und das Problem des Bösen im postarthurischen Roman“. Zwischen Deutschland und Frankreich. Elisabeth von Lothringen, Gräfin von Nassau-Saarbrücken. Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 34. Wolfgang Haubrichs und HansWalter Herrmann (Hgg., unter Mitarbeit von Gerhard Sauder). St. Ingbert: Röhrig, 2002, 477–491. Kreutzer, Hans Joachim. „Marquart von Stein“. VL 6 (1987), Sp. 129–135. Müller, Jan-Dirk. Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen: Niemeyer, 2007. Roth, Gunhild. „Spiegelliteratur“. Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 2101–2104. Schenda, Rudolf. „Hund“. Enzyklopädie des Märchens 6 (1990), Sp. 1318–1340. Sprandel, Rolf. „Die Gesta Romanorum als Quelle der spätmittelalterlichen Mentalitätsgeschichte“. Saeculum 33 (1982), 312–322. Steinhoff, Hans Hugo. „Elisabeth von Nassau-Saarbrücken“. VL 2 (1980), Sp. 482–488. Weiske, Brigitte. Gesta Romanorum. Erster Band: Untersuchungen zu Konzeption und Überlieferung. Tübingen: Niemeyer, 1992. Welsch, Wolfgang. Transkulturalität. http://www.forum-interkultur.net/uploads/tx_textdb/28.pdf [Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.): Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch, 45. Jg. 1995 / 1. Vj., Stuttgart 1995] (17. März 2017).

Álvaro Alfredo Bragança Júnior, Rio de Janeiro

Sprichwörtliche Tiere Mittellateinische Parämiologie in deutschsprachigen Gebieten Sprichwörter treten mit dem Anspruch auf, allgemein gültiges Wissen zu vermitteln, das sie meist bündig formulieren und gelegentlich auch mit einer amüsanten Pointe verbinden. Sie haben in vielen Kulturen eine wichtige Bedeutung und wirken über sprachliche und epochale Grenzen hinaus. Bei der Lektüre des Buches von Jakob Werner Lateinische Sprichwörter und Sinnsprüche des Mittelalters (1912) fiel uns die große Anzahl von gereimten Sprichwörtern auf, in denen Tiere eine Rolle spielen. Aesopus, Phaedrus, Babrius und Avianus stifteten mit ihren Fabeln eine Tradition, in der Tiere als reflektierte Bilder fungieren, als Metaphern für den Menschen mit seinen edelmütigen wie auch seinen niederträchtigen Verhaltensweisen. Joyce E. Salisbury hebt in ihrer grundlegenden Untersuchung The beast within. Animals in the Middle Ages (1994, 105) die Bedeutung von Tieren als Medien der Selbsterkenntnis des Menschen hervor, denn „When people can see an animal acting as a human, the metaphor can work both ways, revealing the animal within each human.“ Das klassische Erbe trug zur Beliebtheit von Tieren in der mittellateinischen Literatur bei, von hier aus strahlte es auch auf die volkssprachlichen Kulturen aus. Wie erwähnt, übten die antiken Autoren auf die Abfassung von Fabel-, Falkenjagd- und Tierbüchern einen großen Einfluss aus. Mittelalterliche Intellektuelle wie etwa Marie de France und Odo von Cheriton erzählten Geschichten von Tieren, welche die Rezipienten zu einem edelmütigen und moralischen Verhalten anhielten (Salisbury 1994, 105). Schon früh wurden in Predigten auch exempla und proverbia mit Tierbeispielen verwendet, gemäß der Empfehlung von Bernhard von Clairvaux „to estimulate the mind of the listener“ (Salisbury 1994, 126). Im Mittelalter wurden Sprichwörter unter anderem im Schulunterricht genutzt, um die lingua franca, die lateinische Sprache, und Grundzüge der Verskunst zu vermitteln. Darüber hinaus richteten sie sich an klerikal gebildete Rezipienten, die in der semi-oralen Kultur des Mittelalters ein durchaus heterogenes Publikum bildeten. Die Sprüche, die mit Tieren als Beispielen arbeiteten, wurden in ein eingängiges Versmaß gekleidet und mit Hinweisen auf das Verhalten im alltäglichen Leben und mit religiöser Unterweisung verbunden. Die in den mittelalterlichen Texten auftauchenden Tiere weisen viele Merkmale auf. Hauptsächlich wurden die animales als Symbole der Arbeit und des Ernährens betrachtet, aber sie dienten auch dazu, menschliches Verhalten zu parodieren. Darunter finden wir den Wolf, den Fuchs, den Löwen, den Hund, das

DOI 10.1515/9783110556438-019

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Lamm, die Schlange, den Ochsen, den Frosch, den Esel, den Affen, die Katze, den Storch, das Eichhörnchen und den Hirsch, von den Fabeltieren Einhorn und Drachen einmal abgesehen. Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, welche Bedeutung einzelnen Tieren in lateinischen Sprichwörtern zugeschrieben wird, die in Handschriften aus dem deutschsprachigen Gebiet aufgezeichnet worden sind.

1 Tiere in Sprichwörtern Zur Analyse des gereimten parämiologischen Diskurses wurden Sprichwörter mit Tieren ausgewählt, die fünf oder mehr Einträge im Werk Werners haben. Aus Platzgründen können wir nur je ein Beispiel bearbeiten. Die folgende Liste enthält alphabetisch die im gereimten corpus von Werner (1912, IV–VII) aufgelisteten Sprichwörter mit Bezug auf Tierarten: Tab. 1: Anzahl der Einträge pro Tierart

Gesamtanzahl der Einträge jeder Tierart agnus (Lamm) – 5 Einträge; anguilla (Aal) – 1 Eintrag; asinus (Esel) – 6 Einträge; avis (Vogel) – 8 Einträge; bos (Ochs) – 7 Einträge; camelus (Kamel) – 1Eintrag; canis (Hund) – 14 Einträge; cattus (Katze) – 9 Einträge; cervus (Hirsch) – 1 Eintrag; cornix (Krähe) – 3 Einträge; corvus (Rabe) – 2 Einträge; equus (Pferd) – 8 Einträge; formica (Ameise) – 1 Eintrag; gallina (Huhn) – 1 Eintrag; gallus (Hahn) – 1 Eintrag; grus (Kranich) – 1 Eintrag; lepus (Hase) – 5 Einträge; lupus (Wolf) – 13 Einträge;

milvus (Hühnergeier) – 2 Einträge; mus (Maus) – 11 Einträge; musca (Fliege) – 2 Einträge; ovis (Schaf) – 6 Einträge; passer (Spatz) – 3 Einträge; piscis (Fisch) – 4 Einträge; psittachus (Papagei) – 1 Eintrag; pulex (Floh) – 2 Einträge; pullus (Hähnchen) – 4 Einträge; rana (Frosch) – 1 Eintrag; rata (Ratte) – 1 Eintrag; serpens (Schlange) – 1 Eintrag; sus (Sau) – 5 Einträge; taurus (Stier) – 3 Einträge; vacca (Kuh) – 3 Einträge; vitulus (Kalb) – 2 Einträge; vulpes (Fuchs) – 8 Einträge. Gesamtzahl: 128 Einträge

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Tab. 2: Anzahl der Einträge pro Handschrift

Einteilung der Tierarten in die Handschriften B – 46 Einträge; Ba – 50 Einträge; D – 2 Einträge; K – 2 Einträge; P – 17 Einträge; Sch – 5 Einträge; SG – 6 Einträge.

B – Handschrift A. XI. 67 der Universitätsbibliothek Basel; Ba – dieselbe Handschrift mit Änderungen; D – Darmstadt 2225; K – München, Hofbibliothek. Cl. 7977; P – Paris, BN., Lat. 6765; Sch – München, Hof- und Staatsbibliothek Clm. 17142; SG – S. Gallen, Stiftsbibliothek 841.

2 Agnus et lupus Vom 12. Jahrhundert an „animals become important as metaphors, as guides to metaphysical truths, as human exemplars“, so kommentiert Salisbury (1994, 103) die Verwendung von Tieren zur Darstellung menschlicher Eigenschaften. Dum lupus instruitur in numen credere magnum, Semper dirigitur oculi respectus ad agnum. (Handschrift B) „Während der Wolf unterrichtet wird, an den großen göttlichen Willen zu glauben, ist sein Blick immer gerichtet zurück auf das Lamm.“

Ähnlich heißt es im Welschen Gast Thomasins von Zerklære: […] ez ist verlorn, swaz man dem wolf gesagen mac pâter noster durch den tac, wan er spricht doch anders niht niwan: „lamp“. Alsam geschiht dem boesen man […] (Der Welsche Gast, V. 14712–14717) . „[…] Es ist umsonst, wie viele Paternoster man dem Wolf am Tag auch vorspricht, er wird doch nichts anderes sagen als „Lamm“. Ebenso geht es dem schlechten Menschen […].“

Hier und in dem aus versos collaterales bestehenden lateinischen Distichon treten zwei der am häufigsten in der mittelalterlichen Symbolik begegnenden Tierarten auf. Auf der einen Seite weist uns das Lamm inmitten der christlichen Ideenwelt auf das Bild des agnus Dei hin, auf Jesus Christus. Salisbury fasst mit den folgenden Überlegungen die damalige mittelalterliche Meinung dazu zusammen:

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Christ was both the lamb of God and the good shepherd gathering the faithful into the flock. The lamb remained the symbol for the best in self-sacrifice in the Christian tradition. St. Francis (always sympathetic to all animals) was particularly fond of lambs because as his biographer, St. Bonaventure, wrote, lambs „present a natural reflection of Christ’s merciful gentleness and represent him in Scriptural symbolism” (1994, 132).

Auf der anderen Seite jedoch verweist eine Bemerkung zu diesem Tier auf einen naturnäheren Status, indem das Lamm nämlich als natürliches Opfer seiner biologischen Räuber, vor allem des Wolfs, präsentiert wird. Für diese Sicht gilt Folgendes: „[…] sheep (and lambs) were considered stupid and cowardly, almost deserving whatever they received“ (Salisbury 1994, 132). Dazu liest man in der Handschrift Ba 53 Si lupus est agnum, non est mirabile magnum („Es ist kein großes Wunder, wenn der Wolf ein Lamm frisst“). Die Rolle des Wolfes im mittelalterlichen Imaginären bezieht sich auf die ihm zugeschriebene räuberische Natur. Schon die erste Fabel des ersten Buches von Phaedrus mit dem Titel Lupus et agnus stellte ihn sozialkritisch in der Rolle eines skrupellosen Herrschers über die Unterdrückten dar. Wegen seiner maßlosen Habgier würde er Unrecht in die soziale Ordnung bringen und seinen Adel zerstören. Interessant ist es, so Salisbury, dass der Wolf nicht wegen seines Wesens als Räuber und Jäger kritisiert wurde, denn „after all, war – the pradatory occupation – was the privilege of the noble class; it was their reason for existence. That class favored their hunting animals over all others [...]“ (1994, 130). Es war vielmehr die Unersättlichkeit des Tieres, die negativ beurteilt wurde. Entsprechend zitiert die amerikanische Forscherin die mittelalterliche Fabel vom Prediger und vom Wolf, die den unersättlichen Charakter des canis lupus besonders hervorhebt: In this tale, a preacher attempts to teach the wolf the alphabet (perhaps to try to improve his character). The wolf concentrates long enough to get to the letter C, but when he is asked what that might spell, he answers “lamb”, revealing that his mind has not been raised from his stomach (1994, 130–131).

Salisbury zufolge (1994, 131) verweist dieser Text auf die Gefahr, welche die Maßlosigkeit für die mittelalterliche hierarchische Ordnung darstellt, denn diese Ordnung „placed the nobility on top, and that threat was that the fabulists criticized in their portrayal of men acting as wolves. They did not advocate violating a social order in which noble predators ruled, but they tried to insist on a moderation, which after all would be the only way to preserve such a social order.“

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3 Asinus In quo nascetur asinus corio, morietur. (Handschrift B 13) „In der Haut, in der er geboren wird, wird der Esel sterben.

Die Rolle des Esels als dienstbares Wesen in der mittellateinischen Parämiologie ist in der griechisch-römischen Tradition vorgeprägt. Die Fabelbücher von Aesopus und Phaedrus und die mittelalterlichen Fabeldichter machten von diesem Tier, das als Lasttier seinem Herrn beim Abtransport von Waren und als Reittier oft auch beim Aufsitzen sehr nützlich war, in ihren Texten immer wieder Gebrauch.1 Später erhielt der Esel neben seinen Arbeitstätigkeiten eine wichtige Bedeutung in der Geschichte des Christentums, denn Christus benutzte einen Esel, als er am Palmsonntag in Jerusalem einritt. Die Untertänigkeit des Esels wurde metaphorisch mit einem Mangel an Initiativen assoziiert, der bis heute unser Bild vom Esel als ein zahmes, aber dummes Wesen bestimmt.2 Dabei konnte der Esel auch als Sinnbild für das vermessene Streben nach sozialem Aufstieg in der hierarchischen Ordnung des Mittelalters fungieren, wie es in einigen der damaligen proverbia zum Ausdruck kommt. Salisbury (1994, 131) erklärt hierzu, „many like the ass are stupid, especially when they aspire to a higher estate than their birth.“ Sie fährt fort: „Many of the fables of people that circulated with the collections of animal fables deal with lower classes and mirror the image of the powerless animals (1994, 131).“ Unser parämiologisches Beispiel im verso leonino drückt den Wunsch nach der Wahrung der als ‚natürlich‘ markierten hierarchischen Sozialordnung klar aus. Was die Fabelthemen anbelangt, gibt Marie de France ein sehr gutes Beispiel für diesen konservativen Diskurs, indem sie die Fabel von dem Esel erzählt, der mit seinem Herrn zu spielen bestrebt ist, als wäre er ein Damenhund, um zu beweisen, dass nicht alle Menschen die gleiche von Natur gegebene Neigung haben: […] ki tant se vuelent eshalcier e en tel liu aparagier, ki n’avient pas a lur corsage, ensurquetut a lur parage. A meint en est si avenue cum a l’asne ki fu batu (Marie de France 1973, 90–91).

|| 1 In der postklassischen lateinischen Literatur finden wir im zweiten Jahrhundert einen Text, der den Esel schon im Titel aufführt, den Asinus aureus von Apuleius. 2 Siehe die Redewendung: „Esel sein“.

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„[…] die sich so sehr erhöhen wollen und sich an so hoher Stelle angleichen wollen, wie sie nicht ihren Verhältnissen entspricht und schon gar nicht ihrer Herkunft. Manch einem ist es dadurch so gegangen wie dem Esel, der geschlagen wurde.“

4 Avis Decipiuntur aves per cantus sepe suaves. (Handschrift B 50) „Vögel werden oft durch lieblichen Gesang irre geleitet.“

Vögeln sind in der Geschichte der Menschheit unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben worden. Beispielsweise deuteten die Römer ihren Flug nach rechts oder links als Kennzeichen von Glück oder Pech. In Rom war der Adler Jupiter gewidmet und symbolisierte die römische Macht an den Insignien der römischen Legionen, die vom aquilifer (von aquila, „Adler“ + Verb fero, „bringen“) getragen wurden. Laut der christlichen Tradition ist das Bild des Paraklets von einer weißen Taube nicht zu trennen, welche im Lauf der Jahrhunderte zum Symbol für den Frieden auf Erden unter den Menschen wurde. Während des Mittelalters hatten verschiedene Vogelarten eine große Bedeutung – nicht nur in der Literatur. Zu erwähnen sind unter den Raubvögeln vor allem die Falken, die von den Adligen als Lieblingstiere bei der Jagd verwendet und in den Falkenjagdbüchern verewigt wurden. Später wurde der Adler, der als König der Vögel angesehen wurde, Emblem auf zahlreichen Wappenschildern europäischer Adelsfamilien. Marie de France bezeichnet den Adler als „the rightful ruler“; „The eagle’s grand and glorious, / And he’s specially valorous, / And very staid and dignified“ (Salisbury 1994, 118). Auf der anderen Seite findet man die kleinen Vögel mit ihren bunten Federn und ihrem schönen, harmonischen Gesang. Sie zieren die Wälder im Frühling, zwitschern über die Schönheiten der Natur und sind Augenzeugen bei Liebestreffen wie in der letzten Strophe des Lieds Under der linden von Walther von der Vogelweide: Daz er bî mir laege, wessez iemen (Nu enwelle got!), sô schamt ich mich. wes er mit mir pflaege niemer niemen bevinde daz, wan er unt ich, und ein kleines vogellîn: tandaradei, daz mac wol getriuwe sîn (Selanski 1997, 31).

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Das Sprichwort der Handschrift B deutet auf die Gefahr der Verführung hin, welche diejenigen ins Verderben führen kann, die sich mit schönen Lauten betören lassen. Sie erkennen also nicht die Bedrohung in dem, was ihnen angenehm zu hören ist. Möglicherweise scheint hier eine Kritik an jenen durch, die sich von Lehren verführen lassen, die nicht den offiziellen Lehren der Kirche entsprachen. So breiteten sich etwa im ersten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts die Ideen von Jan Hus (1369–1415), dem ehemaligen Rektor der Universität Prag, über die Stadt hinaus aus; mit seiner Botschaft, dass materielle Spenden an die Kirche nicht notwendig wären, um das ewige Heil zu erlangen, verstieß er gegen die Interessen der römischen Kurie. Wenn man das Sprichwort auf derartige Äußerungen bezieht, dann ist mit dem lieblichen Gesang die verführerische Rede der Hussiten und anderer Gegner der Kirche gemeint, welche die Menschen vom ‚rechten Glauben‘ abbringen und sie ins Verderben stürzen würde.

5 Bos Bos bos dicetur, terris ubicumque videtur. (Handschrift Ba 24) „Der Ochse wird Ochse genannt werden, wo immer man ihn auf der Welt erblickt.“

Für die mittelalterliche Wirtschaft stand die Bedeutung des Ochsen außer Frage. Als Nahrungsmittel angesehen und zum Ackerbau eingesetzt, betrachtete man den bos Linnaeus als ein Haustier, dessen Ausbreitung durch europäische Gebiete seit dem Beginn des Mittelalters festzustellen ist (Salisbury 1994, 20–24). Bezüglich seines großen Wertes als materielles Gut bemerkt Salisbury (1994, 34): „After animals for war or hunting, the most valued were animals that were used for labor. Oxen and mares did much of the hard work of plowing, harrowing, threshing, and pulling carts, and all the codes ranked them highly […].“ Andererseits hatte der Ochse neben dem Lamm und dem Esel seinen Platz in der christlichen Geschichte, denn, so heißt es in zeitgenössischen Schriften, ein Ochse wäre nie vom Teufel besessen, da er bei der Geburt Christi anwesend gewesen sei und außerdem „beyond its associations with Jesus’ birth, the ox was probably too mundane an animal, too associated with property, to be linked to diabolical presence“ (Salisbury 1994, 141). Im Laufe des Mittelalters wandelte sich dieses Bild vom Ochsen; er wurde zu einem ‚minderwertigen‘ Tier, das heißt, er stand für die harte Arbeit, die er verrichtete. Zieht man Vergleiche mit den Bauern, den laboratores und anderen Menschen in dienender Position, so erscheint das Tier als Metapher für Angehörige

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der arbeitenden ‚niederen‘ Schichten. Dies kommt unseres Erachtens im Sprichwort Ba 24 zum Ausdruck, denn der Ochse – der ‚Diener‘ – wird immer und überall erkannt und seinem sozialen Stand gemäß behandelt.

6 Canis Dum canis os rodit, socium quem diligit odit. (Handschrift B 9) „Solange der Hund am Knochen nagt, hasst er den Getreuen, den er liebt.“

Der Hund war wohl das erste vom Menschen gezähmte Tier. Von seinem wölfischen Vorfahren abstammend, besaß der canis canis während des Mittelalters einen Wert, der den ihm übertragenen Aufgaben entsprach. In dem im 12. Jahrhundert erschienenen Bestiary findet man eine ausführliche Erklärung nicht nur über verschiedene Arten, sondern auch über die Eigenschaften und Aufgaben des Hundes: There are numerous breeds of dogs. Some track down the wild creatures of the woods to catch them. Others guard the flocks of sheep vigilantly against infestations of wolves. Other, the house-dogs, look after the palisade of their masters, lest it should be robbed in the night by thieves, and these will stand up for their owners to death. They gladly dash out hunting with Master, and will even guard his body when dead, and not leave it. In sum, it is a part of their nature that they cannot live without men (Salisbury 1994, 18).

Was die Jagd betraf, war die Unterstützung durch Hunde überaus nützlich, denn, so Salisbury, es war die highly ritualized hunt that depended upon a specially trained hound leading a hunter to an animal suitable for the hunt. Then many dogs would be released to chase the animal while their handlers followed, guiding and encouraging the hounds with calls and horns. Once the dogs had brought the animal to a standstill, they held it a bay while one of the hunters killed it with a sword or a spear (1994, 45–46).

Auf einer Seite bezog sich die Wertschätzung von Hunden auf eine symbolische Idee der Dienstbarkeit, auf ihre Treue als Diener ihrer Herren. Eine andere Einstellung äußerte sich darin, dass Hunden Sünden wie Habgier, Streitsucht und Schwatzhaftigkeit zugeschrieben wurden. Bei der Interpretation einer Fabel von Marie de France fasst Salisbury diese negative Beurteilung des Tieres folgendermaßen zusammen: „Early medieval thinkers consistently attributed disagreeable characteristics to man’s best friend. Tertullian wrote that dogs were impure, and Boethius said they were restless and always barking“ (1994, 133). Eine Überschneidung beider Gesichtspunkte – der Hund als Wächter und Streitsüch-

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tiger – kann man vielleicht in der Figur des Cerberus finden, der in der griechischen Mythologie das Tor zur Hölle bewacht. In den Carmina Burana 131 und 131 a wird gesagt: Pape ianitores / Cerbero surdiores („die Pförtner des Papstes sind tauber als Cerberus“). In B 9 zeigt sich die Habgier als Haupteigenschaft eines Hundes, der beim Abnagen des Knochens den Gefährten hasst, den er eigentlich liebt. ‚Hundefreundschaft‘ hört auf, sobald es um das Futter geht. In B heißt es: Ne latrare velit canis, os precluditur osse; Sic, ut homo parcat, patet illud munera posse. (Handschrift B 9) „Damit der Hund nicht bellen will, stopft man ihm das Maul mit einem Knochen; so ist es offenbar, damit ein Mensch sich mäßigt, dies Geschenke vermögen.“

Dieses Sprichwort mit den typischen caudati-Versen vergleicht das Verhalten des Hundes mit dem des Menschen, wobei jeder mit etwas, das ihm lieb ist, d. h. einem Knochen oder mit Geschenken, beschwichtigt werden kann. Dies entspricht der von Salisbury (1994, 133) konstatierten Abwertung des Hundes: Thus, in medieval metaphoric ranking, dogs had lost the high status accorded them for being carnivores because they were also servants. In the medieval social order that became the model for the animal world, dogs were placed in a lower social class than the free predators.

7 Cattus et mus Cattus sepe satur cum capto mure iocatur. (Handschrift Ba 37) „Eine satte Katze treibt mit einer gefangenen Maus oft Scherze.“

Dieser sprichwörtliche Ausdruck bringt zwei Tiere zusammen, die im mittelalterlichen Symbolismus eine besondere Bedeutung haben. Während Katzen im alten Ägypten verehrt und vergöttlicht wurden, erscheinen sie im Mittelalter gelegentlich als Teufelstiere oder Pech bringende Wesen. Oft treten die „Stubentiger“ in den libri proverbiorum und Fabelbüchern auf. Als blitzschnell, flink, unermüdliche Verfolger von Mäusen werden sie bereits im Walisischen Gesetzbuch des 10. Jahrhunderts erwähnt: „Her qualities are to see, to hear, to kill mice, to have her claws whole, to nurse and not devour her kittens“ (Salisbury 1994, 14). Als Kontrolleur der Mäuse übte die Katze (bis heute noch) eine wichtige Funktion in der menschlichen Gesellschaft aus. Auf einer Seite der Handschrift des Book of Kells, keltischen Ursprungs und zweifelhafter Datierung, steht ein Bild,

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dessen Symbolik dem Sprichwort 37 der Basler Handschrift ähnlich ist. Salisbury kommentiert: The figure shows two cats who have caught by the tails two mice who seem to be nibbing on a round object marked with a cruciform probably a communion host. … The cats in this case represent the quintessential guardians fulfilling their one expected role of keeping the mouse population under control (Salisbury 1994, 124–125).

Die Katzen als Beschützer der heiligen Tradition der Eucharistie stehen dann für die Geistlichen, die durch ihr Verhalten die soziale Ordnung nach Gottes Wort bewahren sollen. Odo von Cheriton entwirft in einer Fabel zur mittelalterlichen Ständeordnung Richtlinien zum menschlichen Verhalten und benutzt hier das Bild zweier wie Mönche geschorener und gekleideter Katzen, die eine Maus verfolgen (Salisbury 1994, 124–125). Im Mittelalter wurden Mäuse auch mit dauernden Schäden und Verlusten assoziiert. In The vices of women, einem in Frankreich verfassten Gedicht aus der Zeit um 1300 wird die Frau mit einer Maus verglichen, weil, wie es heißt, beide die Lebensvorräte vernichten (Salisbury 1994, 157–158). Infolgedessen vermittelt Cattus sepe satur cum capto mure iocatur die ‚harmlose‘ Botschaft einer gesättigten Katze, die sich mit der gefangenen Maus amüsiert, aber zwischen den Zeilen können beide Tiere als Stellvertreter für die Beschützer und Feinde der Römischen Kirche identifiziert werden. Die custodes der matris ecclesiae vergnügen sich endlich mit der unreinen Beute, denn der Sieg Christi und seiner Glaubensanhänger ist unbestreitbar.

8 Equus Gratis quando datur equus, os non inspiciatur; Non contemnatur, si morbidus esse putatur. (Handschrift B) „Wann immer ein Pferd umsonst gegeben wird, soll sein Maul nicht gemustert werden; man soll es nicht zurückweisen, auch wenn man es für krank hält.“

Als Transportmittel und später im Mittelalter als Arbeitskraft für den Ackerbau wurden Pferde in der Geschichte der Menschheit immer hochgeschätzt. Im Altertum verewigte Alexander der Große sein Ross, als er zu seinem Andenken am Ufer vom Idaspe die Stadt von Bucephala errichten ließ. In vielen römischen Feldzüge waren Kavalleristen als Hauptangriffstruppen entscheidend für den Sieg (siehe dazu Braganca Júnior 2012, 196). Hervorzuheben ist, dass auf Lateinisch das Wort equus das kampfbereite, sehr gut behandelte, edle Pferd be-

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zeichnet, während auf der anderen Seite caballus die Bedeutung „eines schlechten und ermüdeten Pferdes“ hat (Saraiva 1910, 161). Zwischen dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert, während der Ackerbau in den deutschsprachigen Gebieten nur mit Ochsen betrieben wurde, führte man in Frankreich das Pferd in diese neue Tätigkeit ein. Salisbury erläutert, dass „cattle and horses served the property functions of both labor and materials, making them the most highly valued animals in the villages“ (1994, 24). Die Anpassungsfähigkeit des Tieres an die kriegerischen Unternehmen der Ritter wird gleichzeitig hoch bewertet. Salisbury zitiert Isidorus, der dem Leser erklärt, warum das Pferd so großen Ruhm besitzt: The spiritedness of horses is great. They exult in battlefields; they sniff the combat; they are excited to the fight by the sound of a trumpet ... They are miserable when conquered and delighted when they have won. They recognize their enemies in battle to such an extent that they go for their adversaries with a bite (1994, 30).

Der Wert des Pferdes war mit der Leistung bei der Ausübung seiner Tätigkeiten als Kampfinstrument oder als Arbeitstier auf dem Land verbunden. In dem in unisoni-Versen geschriebenen Sprichwort aus Basel steht die Vorstellung eines geschenkten Pferdes im Zentrum; es dient zur Illustration der Regel, dass man Geschenke nicht genau auf ihren Wert hin taxieren und es unbesehen annehmen soll. Diese Auffassung lebt in der heutigen Redewendung „einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“ noch fort. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die parämiologischen gereimten Ausdrücke in mittellateinischer Sprache Tiere als Spiegel menschlichen Verhaltens vor allem während des hohen Mittelalters verwenden. Die positive oder negative Einschätzung hing von dem Nutzen ab, den die Tiere in der Gesellschaft hatten, denn „in all the codes, the value of an animal was based on the function it served for the community rather than some other standard“ (Salisbury 1994, 33). Im Zuge der kulturellen und sozialen Entwicklung waren ab der karolingischen Zeit Bilder von Tieren als Spiegel menschlichen Verhaltens in Tierbüchern, Fabeln und exempla weit verbreitet. Salisbury (1994, 116) hebt vor allem die Bedeutung von Fabeln hervor: „[…] like bestiaries, fables were preserved in monastic communities, became increasingly popular in the eleventh century, and by the twelfth century emerged from behind monastery walls to amuse and influence society at large“. Die Analyse hat gezeigt, dass es eine Vielfalt von Verwendungsmöglichkeiten von Tieren in Sprichwörtern gegeben hat, die entsprechend verschiedene Bedeutungen haben konnten und so an die Imaginationskraft der Rezipienten appellierten. Die Tiere erscheinen als Gestaltungselemente in einem sozialen

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Diskurs, der zur Bewahrung der hierarchischen Ordnung und des rechten Glaubens aufrief, aber auch Verhaltensweisen kritisch hinterfragte und Missstände anprangerte. Indem die Sprichwörter Menschliches im Tierischen durchscheinen ließen, bildeten die Tiere ideale symbolische Bedeutungsträger, die den Sprichwörtern Beliebtheit über die Grenzen der Kulturen sicherte.

Literaturverzeichnis Texte Marie de France. Äsop. Klassische Texte des romanischen Mittelalters 12. Herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Hans Ulrich Gumbrecht. München: Wilhelm Fink Verlag, 1973. Selanski, Wira. A poesia de niedere minne de Walther von der Vogelweide. Rio de Janeiro: Velha Lapa, 1997. Thomasin von Zerklære. Der Welsche Gast. Text (Auswahl). Übersetzung. Stellenkommentar. Eva Willms (Hg.). Berlin/New York: de Gruyter, 2004.

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Le Goff, Jacques. Os intelectuais na Idade Média. Tradução de Margarida Sérvulo Correia. 2. ed. Lisboa: Gradiva, /o.D./. Norberg, Dag. Manuel pratique de latim médiéval. Paris: A & J. Picard & Cie, 1968. Ribeiro, Daniel Valle. Igreja e estado na Idade Média. Relações de poder. Belo Horizonte: Editora Lê, 1995. Salisbury, Joyce E. The beast within. Animals in the Middle Ages. New York/London: Routledge, 1994. Saraiva, F. R. dos Santos. Novissimo diccionario latino-portuguez etymologico, prosodico, historico, geographico, biographico, etc. 7. ed. Paris: Typographia Garnier, 1906. Suard, François und Claude Buridant. Richesse du proverbe: typologie et fonctions. Vol. 2. Lille: Université de Lille III, 1986. Werner, Jakob. Lateinische Sprichwörter und Sinnsprüche des Mittelalters. Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, 1912.

Luisa Rubini Messerli, Zürich

Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta Zu zwei deutschen Übersetzungen aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert Zur europäischen Rezeption von Giovanni Boccaccios Elegia di madonna Fiammetta (um 1343 / 1344) trägt nicht nur eine, sondern tragen zwei deutsche, anscheinend voneinander unabhängige, Übersetzungen bei. Entstanden kurze Zeit nacheinander, blieben beide unpubliziert. In diesem Beitrag sollen sie kurz charakterisiert werden. Der Umstand, dass sie nur handschriftlich innerhalb kleinerer „textual communities“ (Stock 1983, 90) zirkulierten, hängt meines Erachtens nicht mit der Beschaffenheit der Übersetzungen zusammen, sondern mit den inhaltlich wie formal bahnbrechenden Qualitäten des Vorlagetextes. Auf diesen soll daher zunächst die Aufmerksamkeit gelenkt werden.

1 Boccaccios Fiammetta gehört in eine Phase hohen literarischen Experimentierens, wobei das imitative-kompositorische Element (imitatio bzw. emulatio) eine entscheidende Rolle spielt (Velli 1995, 227). Mit Fiammetta greift der Autor auf Ovids Heroides zurück, um nach dessen Muster die – auf den Umfang eines Romans angewachsene – Klage einer verheiraten jungen Frau über den Verlust ihres Geliebten, Panfilo, zu dichten. Boccaccio übernimmt den hohen Stil (Schnell 1985, 41) und die Rhetorizität des Musters,1 das mit allen möglichen Variationen des Selbstgesprächs in Briefform spielt (Auhagen 1999, 49–56). Die Wirkungslosigkeit der Briefe ist durch die kodifizierten Mythen, denen die Heldinnen angehören, auch von vorne herein bereits zertifiziert (vgl. Hoffmann 2006, 406 und Anm. 75). Fiammetta nimmt in der Vorrede dementsprechend die Aussichtslosigkeit ihrer story vorweg, gibt aber im offenen Epilog nicht alle Hoffnungen auf. Mit ihr bricht im Vergleich zu Ovid eine normale Frau (keine Königin oder mythische Gestalt mehr) die enge Briefkommunikationsform zwischen Liebenden und öffnet ihr Schreiben hin auf die nobili donne, in deren

|| 1 „‚[T]he most rhetorical work‘ of a ‚rhetorical poet‘“ (Schiesaro 2007, 71). Zum Rhetorik-Vorwurf vgl. Auhagen 1999, 58–60.

DOI 10.1515/9783110556438-020

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Herzen vielleicht glücklichere Liebe wohnt. Damit geht sie einen entscheidenden Schritt voran: Zum ersten Mal in der italienischen Literatur erscheint eine Frau als Subjekt einer literarischen Klage über Liebesleid und Melancholie (Tonelli 2004, 87). Ihre Liebe zerbricht nicht an familiären oder sozialen Zwängen, sondern daran, dass Panfilo diese Liebe offensichtlich nicht mehr erwidert. So ringt sie um ein Phantasma „im Konflikt zwischen der Wahrnehmung der Realität, die zum Verzicht auf das Phantasma zwingt, und dem Wunsch, der zur Verleugnung der Wahrnehmung treibt“ (Agamben 2012, 39). Die Epistel wird zur (Pseudo-) Autobiographie. Mitleid2 erhofft sich Fiammetta von den Leserinnen, die sie rhetorisch zur Empathie auffordert, um die Empathie aber immer wieder (durch ihre Hybris, ihre Widersprüche, ihre ekphratischen Abschweifungen und verbale Aggressivität) zu durchbrechen.3 Bei diesem literarischen Experiment dürften ihm die kurz zuvor entdeckten Tragödien Senecas förderlich gewesen sein.4 Im Vergleich zu Ovids Heroides und neben den anderen zahlreichen, verwendeten auctores5 ist es Seneca, der, gemessen an Zahl und Umfang der übersetzten und umkodizifierten Stellen, im vorliegenden Prosawerk die wichtigste Rolle spielt. Die traductio, ein rhetorisches Instrument zur Vulgarisierung der lateinischen Quellen, ist ein wichtiges Mittel der amplificatio (vgl. Fedi 2000, 91, 112–116). Boccaccio überträgt lange Stellen aus fast allen Tragödien Senecas, die sich mit anderen abwechseln, in denen die imitatio anstelle der Übersetzung tritt. Aus Seneca – neben Klassikern wie Vergil – stammt das Konzept der Liebe als furor, als Raserei.6 Fiammettas Liebe zu Panfilo, die zuerst nach Dantes Vita Nuova und stilnovistischem und höfischem Muster als phantasmatischer Vorgang entsteht7 und dann ziemlich rasch die quinque lineae8 durchläuft, wandelt sich im Laufe des Romans in Raserei, schlägt in Wut um, mündet schließlich in Verzweiflung und in einen Selbstmordversuch. Dessen Vereitelung durch ein materielles Hindernis – hier schlägt das Tragische ins Komische um – führt die Handlung zu ihrem dramatischen Höhepunkt: Die Erzählerin wendet sich gegen Panfilos angebliche Geliebte und

|| 2 Zum narrativen-anthropologischen Projekt des Dekameron, das als Therapie gegen die Melancholie rhetorische delectatio vorsieht, vgl. zuletzt Wehle 2014, 19–44. 3 Zur Empathie und den „Blockade-Mechanismen“ vgl. Breithaupt 2009. 4 Vgl. Serafini 1949; Desiderio 2005, 640 und Anm. 32. 5 Zu den meist benutzten klassischen und mittelalterlichen Autoren vgl. Desiderio 2005. 6 Vgl. Delcorno zu Boccaccio 1994, 242, Anm. 27; zu Seneca vgl. Glaesser 1984, 22–24. 7 Das Bild des Geliebten dringt durch die Augen in ihr Herz ein, vgl. Agamben 2012, 43; Schnell 1985, 139–140; Schulz 2012, 39–40. 8 Anblick, Gespräch, Berührung, Kuss und Beischlaf, wie es Ovid in seiner Ars amatoria formuliert hat. Vgl. dazu Schnell 1985, 26–27; Schulz 2012, 60.

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Nebenbuhlerin, die sie mit rachsüchtigen verbalen Aggressionen und Androhungen überhäuft.9 Statt dass es zu einer Katharsis kommt, bestreitet Fiammetta nach elegischem Muster10 im darauf folgenden langen Kapitel beinahe allen Ovidschen Heroinen sowie anderen berühmten, historischen und mythologischen, durch Fortuna gestürzten Frauen und Männern den Ruhm, das größte Liebesleid erfahren zu haben.11 Ihr Selbstmitleid entzieht sich weiter der Realitätsprüfung durch die Phantasie, dass sie zur Erfüllung ihrer Sehnsucht völlig freie Bahn (Boccaccio 1994, 178, apertissima via) gehabt hätte, wenn nur Fortuna ihr anstelle von Panfilo den Ehemann oder alle ihre materiellen Güter, die sie als „sehr drückende Last und ihrem Wunsch entgegen“ (Boccaccio 1994, 178) empfindet, genommen hätte. Fiammetta / Boccaccio überlegt also, was aus ihrem Leben geworden wäre, wenn ihr Gatte gestorben wäre, und phantasiert über einen andersartigen Romanfortlauf, der dem elegischen Genre aber entgegen steht. Oder sie träumt von einer Reise, welche die ersehnte Wiedervereinigung mit Panfilo herbeiführen könnte, und sie wünscht, dass andernfalls der Tod ihrem Begehren und Hoffen ein Ende setzen sollte. Am Schluss ihres Buches räumt sie jedoch ein, dass sie als Exempel fungiere, um andere Frauen zu belehren und zu „vermeiden, [ihr] ähnlich zu werden“ (Brentano 1806, 377). Die Logik von Boccaccios Verfahren, das auf die „Cento-Technik“12 zurückgeht, hilft ihm, die „obsessive Exorbitanz, die Hypertrophie der Emotionen der Protagonistin und Erzählerin (oszillierend zwischen dem Gedächtnis des verlorenen Liebesglückes und der Hoffnung der Wiedereroberung)“ (Velli 1979, 225)

|| 9 Der Rückgriff auf Seneca erlaubt Boccaccio, die elegische Gattungsgrenze zu durchbrechen, die zu direkte verbale Aggressionen meidet (vgl. Hoffmann 2006, 413). 10 Es ist der zentrale Gedanke der elegischen Gattung: vgl. Arrigo da Settimello 2011, 13; dazu Surdich 1987, 212 und Delcorno zu Boccaccio 1994, 371, Anm. 15. 11 Nach Marti (1969, 46) beginnt mit Fiammetta (und dem Ninfale fiesolano) Boccaccios Humanismus „nel suo aspetto ideologico, più che culturale o letterario“: Beide Werke, in denen die Aufmerksamkeit auf den Menschen und auf die Welt außerhalb jeder doktrinären Perspektive, jedes Moralschematismus’ sowie jedes religiösen und eschatologischen Finalismus’ / Heilsgeschehens gelenkt wird, dokumentieren das Aufkommen von „valori nuovi“ (neuen Werten) im Rahmen der allgemeineren Humanismus-Geschichte. Die Fiammetta präfiguriert zudem die späteren gelehrten Werke De claris mulieribus und De casibus virorum illustrium (vgl. Filosa 2012, 83). 12 Boccaccio übernimmt Exzerpte aus lateinischen und italienischen Autoren und baut sie in sein Werk ein, wo sie zu neuer Bedeutung gelangen, vgl. Velli 1995, 224–225.

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darzustellen, und erreicht „angesichts der Monotonie des Themas eine große, sehr ausgeglichene Textur“.13 Die mythische und antike Welt bietet sich als zeitloses Grundmuster an (vgl. Velli 1979, 164), die Erscheinungsformen der Gegenwart und der eigenen Erfahrung zu lesen und zu bezeichnen (vgl. Hoffmann 2006, 399). Zugleich macht Fiammetta, überaus vermessen, den Klassikern – „dem griechischen Homer, dem lateinischen Vergil“ – als Urhebern und Kodifizierern jener Modelle den Vorrang streitig. An ihre Stelle will die Heldin mit einer eigenen Sprache (sì d’eloquenza splendida, o sì di vocaboli eccellenti facunda; Boccaccio 1994, 114) treten.

2 Zur europäischen Rezeption des Romans, die Ende des 14. Jahrhunderts einsetzt, zählen zwei Übertragungen ins Deutsche, beide anonym. Die erste befindet sich in einer Handschrift der Staatlichen Bibliothek zu Passau und trägt auf dem Titelblatt das Akronym „J.E.N.“ (Noyse [1]), das vermutlich für den Namen von Johann Engelbrecht Noyse (Lebensdaten unbekannt), steht, der im oberdeutschen Sprachraum als Übersetzer aus dem Italienischen und Lateinischen wirkte.14 Die Handschrift ist um 1600 datiert; die Übersetzung soll vor Ende des Jahrhunderts entstanden sein. Die zweite, die lange als verschollen galt, bis sie kürzlich in einem Manuskript der Universitätsbibliothek zu Bayreuth von der Autorin aufgefunden wurde,15 hat unzweifelhaft Hans Ludwig Freiherr von Kuef(f)stein (1582–1657) angefertigt. Die dortige Handschrift ist nach 1616 entstanden,16 die Übersetzung muss um 161517 abgeschlossen worden sein. Beide Werke sind handschriftlich zirkuliert. Das Passauer Manuskript gehörte einem Mitglied der Familie Fugger, Maria Katharina Fugger (1630–1703), die vor ihrem Tod den Jesuiten zu Passau ihre Büchersammlung vermachte

|| 13 Zur similitudo, die als rhetorische Figur der amplificatio als organisatorisches Prinzip der Erzählung fungiert, vgl. Velli 1979, 163. 14 Näheres hierzu vgl. Rubini Messerli 2013, 389–393. 15 Der offenbar einzige Verweis auf das Manuskript findet sich bei Kristeller 1992, 491. 16 Als 1991 der Band restauriert wurde, fanden sich in den Deckeln Makulaturreste dreier Drucke der Jahre 1607, 1610 und 1616 (freundliche Mitteilung des Bibliothekdirektors Rainer-Maria Kiel). 17 Die Datierung ergibt sich aus Kuefsteins Widmung in seiner Diana-Übersetzung (1619; vgl. Montemayor 21624, A3r), wo er schreibt, vor diesem / die Fiametta auß Jtalienischer Spraach / […] verteutscht / aber der Zeit noch nicht drucken lassen.

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(Rubini Messerli 2010). Noyse hatte seine Übersetzung von Castigliones Cortegiano18 ihren Großeltern gewidmet. Hingegen befand sich Kuefsteins Handschrift 1706 im Besitz der markgräflich-bayreuthischen Hofbibliothek, die von Christian von Brandenburg-Bayreuth (1581–1655) gegründet und von Christian Ernst (1644–1712) fortgesetzt wurde.19 Wie das Manuskript in die Büchersammlung der Hohenzoller Markgrafen gelangte, ist unbekannt, aber zwischen diesen und Kuefstein ist ein brieflicher Verkehr (1602–1629) überliefert.20 Soziologische Anhaltspunkte zu den Übersetzern spiegeln sich in der Faktur der Kodizes, obwohl wir nicht wissen, ob diese durch die Überträger oder die Besitzer veranlasst wurden,21 ebenso wie in den Übersetzungstexten. Der wohl katholische Noyse gehörte dem süddeutschen Bürgertum an (einer Augsburger Kaufmannsfamilie mit Verzweig in den Niederlanden) und pflegte oder strebte Kontakte zu Angehörigen mächtiger Dynastien und der Hofgesellschaft an (so seine Widmung an die Fugger in der Cortegiano-Übertragung), bis er endlich zum Hofsekretär von Ferdinand II. von Tirol und Erzherzog von Österreich (1529–1595) wurde. In dieser Funktion unterzeichnet er seine Übertragung Wahrhaftige Beschreibung der Rüstenkammer zu Ambras, die 1603 in Innsbruck erschien. In seinem Fiammetta-Text, der sich eng an das Original hält, werden Gestalten und Gegebenheiten gemäß dem Italienischen ins Deutsche übertragen: palazzo wird als „Palast“, mercante als „Krämer“, amato giovane als „geliebter Jüngling“ oder „Geselle“ usw. wiedergegeben. Nicht so bei Kuefstein.

|| 18 Editio princeps: Venedig 1528. Zu Noyses Übersetzung (Castiglione 1593) vgl. Masiero 2012, bes. 305–308; dies. 2014. 19 „Das Manuskript ist in einem auf 1706 datierten Nachtrag zum handschriftlichen Katalog der markgräflich-bayreuthischen Hofbibliothek von 1679 […] nachgewiesen. […] Die BoccaccioHandschrift gelangte offenbar schon vor der Überführung der Hofbibliothek an das Gymnasium Christian-Ernestinum zu Bayreuth“ (Mitteilung R.-M. Kiels). Schließlich (1974) kam die Handschrift mit dem Bücheraltbestand des Gymnasiums an die neugegründete Universitätsbibliothek Bayreuth (vgl. Kiel 2004, 9–11; Müssel 1964). 20 Vgl. Oberösterreichisches Landesarchiv, Herrschaft Archiv Weinberg, Archivalien, Handschriften. Linz: 1940, 47. 21 Noyses Handschrift ist kleineren Formats (15 cm Höhe, 10 cm Breite; 408 Blätter) und zeigt die Reinschrift von einer Hand ohne auffallende Ornamente außer den mäßig zierlichen Initialen von Buchtitel, Kapitelüberschriften und Kapitelanfängen. Der etwas prätentiösere Einband aus Pappe, Pergamentüberzug mit Einzel-, Rollen- und Plattenstempeln mit Spuren von Vergoldung und Resten von 2 Stoffschließbändern, entstand erst zu einem späteren Zeitpunkt (nach 1615), wie das Wasserzeichen des Nachsatzpapiers belegt (Kudorfer [im Druck]).

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Der reformierte Niederösterreicher entstammte einem Adelsgeschlecht22 und wurde nach seiner Bekehrung zum Katholizismus von Kaiser Ferdinand II. mit ehrenvollen Aufgaben betraut.23 Nach Martin Bircher stellt Kuefstein „die Kontinuität der kulturellen und literarischen Tradition zwischen dem ‚Linzer Humanismus‘ und der Gruppe um [Johann Wilhelm] von Stubenberg dar“ (Bircher 1968, 403–404). Als Vermittler romanischer Literatur hat er neben Fiammetta zwei Werke aus dem Spanischen übersetzt: 1619 den Schäferroman Diana (ca. 1559)24 und 1625 den Cárcel de amor von Diego Fernández de San Pedro (vgl. Hoffmeister 1971), einen allegorischen, zur Gattung der novela sentimental gehörenden Roman.25 Seine aristokratische Neigung, die Materialität des Buches26 wie auch die des Textes zu veredeln, ist auffallend: Fiammetta und ihr Mann reden sich nicht mit „du“ an, wie im Original und bei Noyse, sondern mit „Ihr“, die casa wird zum „Palast“, Noyses Crämer zum Jubilier, Geselle zum Cavalier, Buhle oft zum Galan (span. galán) und junge Frau (oder junges Mensch) zu Frauenzimmer. Dieses Vokabular mit seinen zum Ornatus gehörenden Fremdwörtern verraten (im Einklang mit dem Zeitgeist) die Orientierung des Übersetzers an der spanischen Kultur,27 während Noyses Hintergrund die höfische Kultur der italienischen Fürstenhöfe der Renaissance bildete. Dies hat unter anderem den Effekt, dass die Grenze zwischen der Romanwelt und der Übersetzer- bzw. Leserrealität verwischt wird. Fiammetta, eine kultivierte Dame aus dem 14. Jahrhundert, die Ovid und die französischen Romane liest, obwohl der Roman in der Antike spielt (vgl. dazu Brody 2013, 180), erscheint bei Kuefstein nicht anders als das hochlöbliche adeliche Frauenzimmer, dem der Translator seine Überset-

|| 22 Er studierte in Prag, Straßburg und Tübingen, dann in Italien (Bologna, Padua und Siena) und in Spanien, vgl. Hoffmeister 1972, 19–20. 23 Er leitete 1628 / 1629 die kaiserliche Gesandtschaft an die Pforte nach Konstantinopel. Anfang 1630 wurde er zum Landeshauptmann von Oberösterreich ernannt (vgl. Winkelbauer 1999, 129). 24 Montemayor 21624 [1619] und dazu Hoffmeister 1972. 25 Zu seinen umfangreichen Schriften, unter denen die Gesandtentagebücher sehr wertvoll sind, vgl. Tersch 1998. 26 Sein Fiammetta-Kodex, obwohl kein Prachtkodex, ist fast doppelt so groß (Höhe 29 cm, Breite 18 cm; 148 Blätter) wie der Passauer. Der Einband ist aus Pergament (nicht mehr aus Pappe) „mit Stehkanten, schwarzen Rollen- und Einzelstempeln, erneuerten grünen Schließbändern und gepunztem Goldschnitt“ (Mitteilung R.-M. Kiels). In seinem Inneren tritt als dekoratives Element wiederum die Zierschrift auf, die aber, nach barockem Geschmack ausgeführt, größere Verwendung findet als in Noyses Manuskript. 27 Fremdwörter, die dann auch in der Diana-Übersetzung vorkommen, vgl. dazu Hoffmeister 1972, 183–185.

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zung widmet (ähnlich der Diana- und Gefängnüs der Liebe-Übertragung28). Er habe die Übertragung auf Bevelch der günstig gebietenden Damas ausgeführt, eine Art „barocken Minnedienst“ (Bircher 1968, 77), als „Huldigung für schöne Frauen“ (ebd.) konzipiert, mit denen die aristokratische Damenwelt des Landes ob der Enns gemeint war, „für die zu dichten und zu schwärmen des Adligen Pflicht und Ehrgeiz war“ (ebd.). In seiner Vorrede, in der er, zu ihren Füßen sich neigend, den Saum ihrer Kleider küsst, als Zeichen höchster Unterwerfung, empfiehlt er ihnen ein Buch, das von vnrechtmessiger lieb tractiert, weil darin Fiammetta / alß ein ansehliche Fraw / mit beÿ erzehlenden vielen schönen exempeln / die größe Rew / so Jhr vber solch vnrechte Liebe / wie auch vnglückh / Straffen vnd grosses Hertzeleid / so dann darauff erfolgt / […] fleißig erzehlt /29

Fiammettas ‚Reue‘ ist Kuefsteins erste Mystifikation, mittels derer die pikante Materie des Textes lizensiert werden soll. Einige weitere Übersetzer-Eingriffe mögen im Folgenden als Beispiel zweier unterschiedlicher Auffassungen dienen.

3 Noyses Verfahren zeigt ein hohes Bewusstsein für die sprachlich-stilistische Vorbildlichkeit des Originals, es ist mit dem Anspruch verbunden, eine adäquate literarische Sprache zu schaffen. Seine Nähe zum Original ist deutlich in der Übernahme der zahlreichen italienischen Gerundial- und Partizipialkonstruktionen,30 während er im allgemeinen bei den rhetorischen Figuren einen Schritt zurückbleibt. Die Mehrgliedrigkeit nach Kanzleiusus ist ihm das wichtigste Stilmittel, um das Register anzuheben. Seine hervorragenden Kenntnisse des Italienischen – der Lexik der Waffen und des Turnierwesens, des juridischen Bereichs, der Geschichte und Literatur – kommen zur Geltung. Nur zwei längere Auslassungen charakterisieren seinen Text: Die erste, eine beschreibende Abschweifung mythologischen Charakters, um Langweile beim Leser zu vermeiden; die zweite vermutlich ein kulturell bedingter Zensurakt. Als Fiammetta ihr Leid mit jenem Tristans vergleicht, hält sie ihres für sehr viel größer, denn wäh|| 28 Vgl. Montemayor 1624, A2r: An das fürtreffliche vnd nie zubenuegen gerühmte Hochadeliche Frawenzimmer / deß Kayserlichen Ertz Herzogthumbs Oesterreich unter und ob der Ennß; Kuefsteins Vorrede / An das Löbliche / Adeliche Frawenzimmer (San Pedro 1625, A3r). 29 Kuefsteins Vorrede des Transladors (vgl. Kuefstein, 3v); vgl. Hoffmeister 1972, 97. 30 Ähnliche Übersetzungskriterien stellt Masiero (2014, 123–124, 133) in der Übersetzung des Cortegiano fest.

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rend Tristans Schmerz in einem Augenblick mit dem Tod endete, ist für sie „eine lange Zeit in Leiden hingegangen [...], die die genossenen Freuden ohne Zweifel überwiegen“ (Brentano 1806, 351). Vor allem sei aber (nach Kuefsteins Übersetzung) Jnn des Tristan armen / […] beedes sein vnd seiner Jsotta todt verschlossen gewesen (Kuefstein 132r). Hier klingt die Überlieferung des Tristan en prose (um 1230) an,31 in dem Tristan Isolde in seine Arme drückt, bis ihr das Herz entzweibricht.32 Noyse unterdrückt die Stelle,33 weil dieser Tod wohl gegen die ihm bekannte Überlieferung verstieß,34 oder aus der Auffassung heraus, dass er als Gewaltakt – „une mort barbare, qui défie la tradition“35 – dem idealisierten „Liebestod“ der mhd. bzw. frühneuzeitlichen Vers- und Prosafassungen entgegenstand.36 Noyse nimmt, sozusagen aus philologischen Gründen, seine Protagonistin in Schutz vor dem Leser. Was in seiner Übersetzung noch auffällt, sind kleine Eingriffe, welche die religiöse Sphäre betreffen. Spricht Fiammetta Gott (im Singular) an, gibt er das Wort im Plural wieder. Im Original soll ein heidnischer Gott gemeint sein, aber die

|| 31 In Italien war diese Überlieferung seit dem 13. Jahrhundert herrschend. So sterben Tristan und Isolde im Tristano Panciatichiano (vgl. Allaire 2002, 724) und im Tristano Veneto (vgl. Donadello 1994, 549 und Branca 1968, 22, bes. Anm. 32). 32 Boccaccio (1965, c. V, esp. litt., 135–136) bezieht sich auf diese Überlieferung auch in seinen Esposizioni sulla commedia di Dante, wo er ausführlich erklärt: Tristano […] vedendosi morire ed essendo la reina andata a visitarlo, l’abraciò e con tanta forza se la strinse al petto che a lei e a lui scoppiò il cuore e così insieme morirono e poi furono similmente sepelliti insieme. 33 Auch Brentano (1806) kürzt und akzentuiert die Stelle um. 34 In den altfranzösischen Versepen des Béroul und Thomas stirbt der verwundete Tristan, während Isolde, die zu spät kommt, um ihn zu heilen, sich neben ihn legt und stirbt. Ähnlich wird der Tod bei Eilhart von Oberg (vgl. Wyss 2010, 59), bei Ulrich von Türheim (vgl. Krohn 2009, Bd. 2, 580–581) und in der Eilhartschen Tristrant-Bearbeitung bzw. Prosa-Umsetzung ausgangs des 15. Jahrhunderts gestaltet. Gottfrieds von Straßburg Tristan ist bekanntlich als Fragment überliefert. Als Isolde bei Heinrich von Freiberg erfährt, dass Tristan tot ist, versteinert sie vor Schmerz und sinkt ohnmächtig zu Boden (vgl. Krohn 2009, Bd. 2, 590). Zu der Prosa-Umsetzung nach Eilhart, die zuerst 1483 von Anton Sorg in Augsburg gedruckt, dann immer wieder bis ins 17. Jahrhundert aufgelegt wurde, vgl. Voß 1999, 333, 337. 35 Baumgartner 1990, 143. Harf-Lancner (1998, 626–627) interpretiert diesen Tod hingegen als ein Indiz für die Verherrlichung der passionierten Liebe in den Prosafassungen. Gaunt (2006, 162) hält fest: „Iseult’s failure to die as she should in the Tristan en prose marks therefore […] an anxiety about the model of love and death inscribed in the Tristan tradition […]. She is not allowed to die for him, and she must on the contrary, be killed. This undermines any sense of reciprocal sacrifice, and points to a profound dissonance and lack of reciprocity in their eventual union in death.“ 36 Oder die von Fiammetta vorgebrachten Gründe erschienen dem Übersetzer zu fadenscheinig oder kasuistisch.

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ambivalente Übernahme von Psalmformeln (vgl. Desiderio 2005, 648) ruft Zweideutigkeit hervor, die Noyse vermeiden will. Völlig inkonsequent aber führt er selbst religiöse (wie „Fegefeuer“) oder religiös konnotierte Begriffe ein, die im Original nicht stehen. So greift er sehr oft auf den Begriff „Marter“ zurück, um Fiammettas Leiden zu charakterisieren.37 Das Wort, das „innere[n] Schmerz, seelische Belastung, Qual, Leiden“, auch: „Liebesleid, Liebesqual“ bedeutet (FNH 2013, 1906), ist religiös konnotiert und verweist in seiner ersten, ursprünglichen Bedeutung auf die Passion Christi, sodann auf die der Heiligen und der Bekenner (DWB XII, sub vocem), wodurch einerseits eine Opferbereitschaft38 der Hauptfigur suggeriert wird, anderseits aber auch eine Art „Sühne“ oder die „Erlösung“ von ihren „Sünden“. Demgegenüber ist Fiammetta weder leidensbereit, noch sind im Text ein „Sündengefühl, das angstvolle Bewusstsein der Sünde, eschatologische Sorgen, der Sinn Gottes und des Jenseits“ präsent (Marti 1969, 45).

4 Kuefstein zeigt eine Haltung, die sich im Laufe des Romans verändert oder zumindest widersprüchlich erscheint. Sowohl in der Form als auch im Inhalt bewegt er sich freier als Noyse. In sprachlich-stilistischer Hinsicht ist seine Übersetzung unabhängiger vom Originaltext, er wandelt Partizipial- und Gerundialkonstruktionen in Nebensätze um, übernimmt in der Regel nicht Boccaccios Metaphern, sondern fügt eher neue hinzu, ebenso wie er Fremdwörter unabhängig von seiner Vorlage hineinbringt. Sein frühbarocker verschachtelter Stil, der durch kanzleistilartige Formulierungen wie obengemeldet, sintemal, allermassen usw. (vgl. auch Hoffmeister 1972, 73, 83, 86) aufschwillt, produziert manchmal Satzmonstren, deren Logik sich einem nicht mitteilt.

|| 37 Nicht so Kuefstein, der das Wort auch zuweilen, nicht aber in dem Maße wie Noyse, benutzt. Dieser zieht die Bezeichnung „Trübsal“ vor. Interessant ist Hoffmeisters Beobachtung, nach der Kuefstein in der Diana-Übersetzung die empfindsame Tendenz des Werkes durch eigene Zusätze intensiviert. Es sind z. T. Zusätze, die den Anschein erwecken, als seien sie von der Fiammetta-Übertragung übernommen worden. Man vergleiche die Hinzufügung Trübsal / vergossen Threnen / gesente Seuffzer / vnd klägliche Reden (für span. cuitas [Kummer] y sospiros, vgl. Hoffmeister 1972, 91) mit Kuefsteins Übersetzung der Fiammetta-Vorrede: betrübten Zäher / vngestümmen Seuffzer kläglich geschreÿ erschröcklich gedanken (Kuefstein 6v–7r). 38 Zur Liebe als Opfer und Martyrium bei den trobadors und besonders bei Bernart de Ventadorn vgl. Gaunt 2006, Kap. 1.

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In den ersten Kapiteln holt er den positiven Begriff des höfischen Liebesdienstes hinein: Fiammetta kommt nach dem ersten Treffen mit Panfilo gefangen vnd dienstbar39 zurück; diese dienstbarkeit ist ihr so annemblich40; er lässt Fiammetta die würdige Compagnia der Verliebten (Kuefstein 46r) anstelle der „mitleidigen Damen“ ansprechen; und er betont den sinnlichen Aspekt der Liebe,41 indem er schreibt, dass Fiammetta Panfilo nicht nur zum Herrn ihres Lebens – so wie Boccaccio und Noyse – sondern auch ihres Leibes erwählte.42 Als süesse abentheuer (Kuefstein 24r) bezeichnet er die erste Liebesvereinigung.43 Er verstärkt Fiammettas Blasphemie, wenn er sie sagen lässt: O wie lieb hatte er [Panfilo] meine Cammer, von welcher er gleichfals (duncket mich) alle zeit mit frewden entpfangen wurde / Jch dencke wohl der gueten zeit / das er meine Cammer vnd bett mehr / alß keine kirchen oder alttar Ehrete.44

Zugleich bringt Kuefstein Warnsignale in den Text ein. Seine Fiammetta bittet sogar die Leserinnen, dass sie ihr dieß mein Schreiben verzeihen / von der that geschweige ich.45 Dann, als die Protagonistin sich più peccatrice che altra (Boc-

|| 39 Kuefstein 12v; vgl. Boccaccio 1994, 33: con l’anima fatta serva; vgl. Noyse 45: mit der Seel zu ainer Magdt gemacht. 40 Kuefstein 25v; vgl. Boccaccio 1994, 51: fatta serva d’amore, […] dilettevole; vgl. Noyse 126: zu einer Magdt Amoris gemacht. 41 Eine ähnliche Tendenz in der Liebesauffassung zeigt Kuefsteins Übersetzung der Diana und des Gefängnüss der Lieb, in dem er verdeutlicht, dass er erwiderte Liebe der trostlosen vorzieht und die Damen auffordert, den treuen Dienst der Galane gebührend zu belohnen und zu bekennen, „das einzige Mittel, um seinen Kummer zu überwinden, sei die Gnad / huld und völlige Possession meiner Dame“ (Hoffmeister 1972, 118). 42 Vgl. Kuefstein 12r; vgl. Boccaccio 1994, 31: signore della mia vita; Noyse 37: zu ainem herrn vnnd Maister meines lebens. 43 Eine Freude, die die Liebenden non una volta, ma molte con sommo piacere […] consolò (Boccaccio 1994, 49); so bei Noyse 116: nachdem sich dises begeben /[…] vnns beÿdes daß glückh vnnd vnnser anschlegiger verstand / nit ein / sonnder zum offtermal auf dise weiß / mit vnserm höchsten lust vnnd wolgefallen getrösstet haben. Bei Kuefstein hingegen wird die Freude den beiden mit höchstem wollust vnd contenteza sehr offt vergnueget vnd vergunnet (Kuefstein 24r). 44 Kuefstein 24r. Bei Boccaccio (1994, 49) ist nur von einem ‚Tempel‘ die Rede: Oh quanto gli era la mia camera cara, e come lieta essa lui vedea volontieri! Io lui conobbi ad esso più reverente che alcun tempio. 45 Ganz anders lautet die Stelle im Original, vgl. Boccaccio (1994, 48): a vostra [delle donne] pietà invoco, e quella amorosa forza, la quale ne’ vostri teneri petti stando, a cotal fine tira i vostri disiri; e priegole che, se il mio parlare vi pare grave (dell’opera non dico, ché so che, se a ciò state non sete già, d’esservi disiate), che esse prontissime in voi surgano alla mia scusa. Vgl. Noyse 113: pitte euch [Frauen] / daß / Wann euch mein reden beschwerlich ist / ihr dise zweÿ

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caccio 1994, 124) bezeichnet, wird sie bei Kuefstein zur „größten Sünderin“ (Kuefstein 88v) schlechthin. Und wenn sie im Kapitel 6 die Ankunft der unterirdischen Schatten und des ewigen Chaos’ beschwört – damit sie „das verbrecherische Haus“ bewachen und „die verruchten Augen keines Lichtstrahls mehr genießen!“ (Brentano 1806, 269) – (wobei sie nicht sich selbst oder ihr „ehebrecherisches“ Haus meint, sondern Panfilos angebliche neue liaison), nimmt Fiammetta bei Kuefstein – anders als bei Noyse – die Strafe auf sich: du dunckeler Schatten der hellen / du ewige wirrung vnd finsternüs / darein nimmermehr Kein Licht gelangt / bedecket diß Ehebrecherische Hauß dermassen / das diese meine falsche augen des Lichtes in ewigkeit beraubet seÿen: vnd last all euern hass / alß recher der übel begangenen sachen / in mein vnbestendtiges herz sincken / das sie darinnen vnaufhörliche vnruhe anrichten.46

Wo Kuefstein aber Fiammetta größeres Unrecht widerfahren lässt und ihr nicht gerecht wird, ist am Ende des 8. Kapitels. Als sie eine letzte Beweisführung vorbringen will, weil ihre bis dahin dargelegten Argumente den Leserinnen frivoli come di cieca amante (Boccaccio 1994, 185) erscheinen könnten, greift er massiv in den Text ein und schreibt: in betrachtung deß geringen verstandes / deren so dieselben erzehlet für vnbesonnen halten.47 Im Epilog wird das sich selbst disqualifizierende Urteil (kein Bescheidenheitstopos), das Fiammetta über sich ausspricht, wiederholt: Trotz ihrem „verwirrten Verstand“ habe sie ihre Erzählung vollenden können,48 während sie diese bei Boccaccio „unordentlich“ (disordinatamente) beendet hat.

|| obgemelte Stuckh [d.i. ewer mitleidenhait / vnnd die bulerische kraft] / hurtig vnnd fertig zu meiner entschuldigung last aufstehn. 46 Kuefstein 102v (kursiv im Zitat ist meine Hervorhebung); vgl. Boccaccio 1994, 140 und Noyse 55: O höllische gespenst / O einiges Chaos vnd vermischung […] nembt das Ehe brecherische hauß allso ein daß die schalckhaftige augen durchauß keines liechts geniessen künden / vnd ir O ir Recherin der lasterhafftigen sachen vnd bößwicht stuckh / last euern vnuersehnlichen hass in die wankhelmüetige vnnd vnbestendige gemüeter khom[m]en / vnnd erwekht ein vngestümmen ewigwehrenden krieg vnnder ihnen. 47 Vgl. Boccaccio 1994, 185: Ma se forse, o donne, li miei argomenti frivoli già tenete, e ciechi come da cieca amante fatti li riputate, l’altrui lagrime più che le mie infelici estimando, questo uno solo e ultimo a tutti gli altri déa supplimento; Noyse 793: Wann euch aber O ir Frawen / meine Argument kalt vnd blind gedunckhen / dieweil sie auß einem blinden gemüet herfliessen / annderer lewt zäher für vnglickseliger haltende dann die meinen / so erfülle dises leste [sic] alle andere [nicht kursiv meine Hervorhebung]. 48 Vgl. Kuefstein 144v–145r: Derowegen sie sich vielmehr verwundern wolle / wie ich diese meine geringe erzehlung zuuollenden / beÿ so verwirtem verstand bastant gewesen / Jn erwegung / wie hart einestheils Amor anders thails der Eyffer […] vnd fortuna / mit so viel vnzehlichen Trubsalen /

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Zusammenfassend kann beobachtet werden, dass Kuefstein im Gegensatz zu Noyse in den Text eingreift, und dennoch stellen seine Umakzentuierungen und -interpretationen kleine ‚kosmetische‘ Eingriffe dar, die den Textsinn von Grund auf nicht wirklich antasten. Seine robuste Eigensinnigkeit vereitelte auch den Druck beider Übersetzungen. Erst Sophie Brentanos radikale wie unauffällige Réécriture verhalf der Fiammetta in deutscher Sprache zu einem literarischen und druckgeschichtlichen Erfolg.

Literaturverzeichnis Texte Allaire, Gloria (Hg.). Italian Literature. 1. Il Tristano Panciatichiano. Cambridge: Brewer, 2002. Arrigo da Settimello. Elegia. Edizione critica. Clara Fossati (Hg.). Firenze: Edizioni del Galluzzo, 2011. Boccaccio, Giovanni. Elegia di Madonna Fiammetta. Tutte le opere di Giovanni Boccaccio. 5.2. Carlo Delcorno (Hg.). Milano: Mondadori, 1994. Boccaccio, Giovanni. Esposizioni sopra la Comedia di Dante. Tutte le opere di Giovanni Boccaccio 6. Giorgio Padoan (Hg.). Milano: Mondadori, 1965. [Brentano =] Boccaccio, Giovanni. Fiametta. Aus dem Italienischen übersetzt von Sophie Brentano. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1806. Castiglione, Baldassare. Der Hofmann Der Hofmann / Deß wolgebornen Grauen / Herren Balthasars von Castiglion. Jn vier Bcher abgetheylt / darinnen gantz lieblich vnd zierlich begriffen vnd verfaßt / wie ein rechtschaffner vnd Adelicher Hofmann in allen stucken soll beschaffen sein / wie er sich im Dienst seines Fürsten […] halten solle. […] Jetzunder vnserm allgemeynen Vatterland zum beßten / in vnser Teutsche Sprach Transferieret […] Durch Johann Engelbert Noyse. Dillingen: Mayer, 1593. Donadello, Aulo [Hg.]: Il libro di messer Tristano [„Tristano Veneto“]. Venezia: Marsilio, 1994. Gottfried von Straßburg. Tristan. 2 Bde. RUB 4471/4472. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 102009. [Kuefstein] = Boccaccio, Giovanni. Die | Verliebte Fiammetta | Des | GIOVANNI BOCCACCIO | (Universitätsbibliothek Bayreuth: Ms. G 14).

|| wieder mein geengstigt gemüeth / ohn ablass gestritten; Boccaccio 1994, 188: E però più tosto dirai che prenda ammirazione come a quel poco che narri disordinato bastò lo ’ntelletto e la mano, considerando che dall’una parte amore, e da l’altra gelosia con varie trafitte in continua battaglia tengono il dolente animo e in nubiloso tempo, favoreggiandoli la contraria fortuna. Noyse 812–813: Darumb sprich zu ihr sie solle sich vil mehr verwundern / wie daßienig so du erzelest der verstandt vnnd die hannd habe vollfüehrn künden; inn betrachtung daß auf der einen seiten die Liebe / auf der andern aber die Eifersucht mit mancherleÿ schmerzlichen stichen / mein betrüebtes gemüet inn einem stetigen kampf gehalten haben.

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Montemayor, Jorge de. Erster und anderer Theil Der newen verteutschten Schäfferey / von der schönen verliebten Diana / und dem vergessenen Syreno […]. Auß Spanischer Sprach in Hochteutsch gebracht. Durch […] Hanß Ludwigen / Herrn / Khueffsteinern / Freyherrn / etc. Lintz: Blanck, 21624 [1619]. [Noyse] = Boccaccio, Giovanni. Die verliebte Fiam[m]etta deß | Fürtrefflichen Scribenten Joannis | Boccacij in Teutsch gebracht | durch | J. E. N. | (Staatliche Bibliothek Passau: Mst. 48.4°). Ovid. Heroides / Briefe der Heroinen. RUB 1359. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hg. von Detlev Hoffmann, Christoph Schliebitz und Hermann Stocker. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2006. San Pedro, Diego Fernández de. Carcell De Amor. Oder / Gefängnüß der Lieb: Darinnen eingebracht wird / die trawrige und doch sehr schöne Historia / von einem Ritter / genandt Constante, Und der Königlichen Tochter Rigorosa. Leipzig: Wachsman, 1625. Schrenck von Notzing, Jakob. Der Aller Durchleuchtigisten und Großmächtigen Kayser / Durchleuchtigisten unnd Großmächtigen Königen und Ertzhertzogen / […] warhafftige Bildtnussen / und kurtze Beschreibungen ihrer so wol in Fridts: als Kriegßzeiten verrichten fürnembsten thaten und handlungen: […] auß der Lateinischen getrewlich in die Teutsche Sprach transferiert worden Durch Johann Engelberten Noyse von Campenhouten / […]. Innsbruck: Baur, 1603.

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Stefan Matter, Freiburg/Schweiz

Transkulturelle Gärten Zu den frühen Ausgaben des Hortulus animae, des Seelengärtleins und des Wurtzgartens Unter dem Titel Hortulus animae und seinen verschiedenen volkssprachigen Übertragungen wurden ab 1498 bis 1523 in weit über 100 Auflagen kleinformatige, bebilderte Gebetbücher gedruckt, die abgesehen von einer ersten Katalogisierung1 bislang in ihren Abhängigkeiten und je spezifischen Profilen noch kaum untersucht sind.2 Deren Aufarbeitung ist wegen ihrer immensen Bedeutung für die spätmittelalterliche Gebetbuchliteratur an sich schon ein dringendes Forschungsdesiderat, darüber hinaus bieten sie sich jedoch auch gerade für Fragestellungen im Zusammenhang des Rahmenthemas ‚Transkulturalität und Translation‘ aus einer Reihe von Gründen besonders an, denn die Geschichte der verschiedenen Redaktionen und Übertragungen des Hortulus animae lässt sich beschreiben als Geschichte der immer wieder neu unternommenen Bemühung um Vermittlung geistlicher Formen und Inhalte über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Es handelt sich beim Hortulus animae, wie bei spätmittelalterlichen Gebetbüchern üblich, um eine Zusammenstellung von Texten, von denen die meisten bereits eine längere Überlieferungstradition aufzuweisen haben. Von seiner Anlage her ist der Hortulus vom Stundenbuch beeinflusst. Dieses fand bekanntlich im deutschsprachigen Raum nur eine schwache Verbreitung,3 obwohl es ab den 1470er Jahren auch hier eine noch kaum beachtete frühe Drucktradition von Stundenbüchern gibt.4 Ab 1485 bringen die ersten Pariser Universitätsdru-

|| 1 Oldenbourg 1973, danach die im Folgenden verwendeten L-Siglen. Alle Ausgaben bis 1500 sind im Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) nachgewiesen, die danach erschienenen im Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD16), in deren laufend aktualisierten online-Ausgaben auch alle Digitalisate verzeichnet sind: http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de bzw. http://www.vd16.de (letzter Besuch: 19.1.2017). 2 Haimerl 1952, inbes. 123–131, 138–148; wichtige Hinweise ferner bei Ochsenbein 1983; dort auch die ältere Literatur. Etwas mehr Aufmerksamkeit als die Texte haben bislang die Bilder bekommen, die in dieser Skizze aber ausgespart bleiben sollen. 3 Wieck 2008; vgl. auch Reinburg 2012. 4 Die früheste datierte Stundenbuchausgabe wurde 1471 von Günter Zainer in Augsburg gedruckt (GW 12981, dt.), dann dominieren neben einzelnen Ausgaben aus dem deutschsprachi-

DOI 10.1515/9783110556438-021

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cker livres d’heures heraus und dominieren in der Folge mit ihren durch umfangreiche Bordürenprogramme angereicherten Ausgaben bald den Markt (Horae 2003–2015). Die Pariser Stundenbuch-Drucke sind neben einigen Andachtsbüchern mit angehängten Gebetssammlungen – etwa dem Antidotarius animae, dem Herzmahner oder Stephan Fridolins Schatzbehalter – die marktbeherrschenden gedruckten Gebetbücher, gegen die sich der 1498 herausgebrachte Hortulus animae behaupten muss. Ich möchte im Folgenden anhand der Eingangspartie der ersten HortulusDrucke zeigen, wie die Drucker der verschiedenen lateinischen Ausgaben und ihrer deutschsprachigen Übertragungen mit der konkreten Form des Gebetbuches experimentiert haben. Der lateinische Hortulus animae bringt in seiner frühesten überlieferten Ausgabe nach Titelblatt, Kalender und Register einen aus vier Texten bestehenden Block von Stundengebeten (Bl. 1–47):5 Auf das Officium parvum Beatae Mariae Virginis folgt das mit hore compassionis beate Marie virginis überschriebene Stundenlied Matutino tempore Mariae nuntiatur (AH 30, Nr. 46), darauf ein in der Überlieferung häufig, wie auch hier, Bonaventura zugeschriebenes Passionsoffizium,6 welches seinerseits vom Stundenlied Patris sapientia veritas divina ergänzt wird (AH 30, Nr. 13; Matter 2017). Auf diese Vierergruppe von Offizien folgen Gebete zu Christus, zu Maria und für den Tageslauf (von Abendüber Morgengebete bis zum Kirchgang), dann Suffragien zu verschiedenen Gruppen von Heiligen (Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen) sowie zu den kirchlichen Hauptfesten, ein Beichtspiegel und ein Totenamt. Die späteren Ausgaben ergänzen diese Hauptbestandteile durch weitere Texte, auf welche die Drucker früh schon in Zusatzverzeichnissen eigens aufmerksam machen. Der klare Aufbau der die Gebetssammlung eröffnenden Vierergruppe – Officium parvum, Patris sapientia, Passionsoffizium, Matutino tempore – bleibt in keinem der frühen Folgedrucke unverändert. Verantwortlich für die ersten insgesamt vierzehn Ausgaben (1498–1503) sind lediglich drei Drucker. Der älteste erhaltene Hortulus animae ist zugleich der erste nachgewiesene Druck von Wilhelm Schaffener (L1), der ihn lediglich 1500 und 1502 noch einmal auflegte (L4 bzw. L8).7 Geprägt wird die Entwicklung des Hortulus und seiner Übertragungen || gen Raum zunächst italienische Druckorte. Vgl. die auf Handschriften bezogenen Überlegungen von Hamburger 2013. 5 Ausgabe Strassburg 1498 (L1, GW 12969). Eine ausführlichere Inhaltsangabe muss an anderer Stelle erfolgen; Haimerl 1952 beschreibt S. 123–127 den Inhalt der Ausgabe L10 (VD16 H 5041). 6 Bonaventura 1882–1902, Bd. 8, 152–158; vgl. dazu Distelbrink 1975, 27–28. 7 Zu seiner Person vgl. Geldner 1968, 83.

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in den ersten Jahren allerdings von zwei anderen Straßburger Druckern, von Johannes Grüninger (Reinhard) und von Johannes Wähinger. Der sich nach seinem schwäbischen Heimatort Grüninger nennende Johannes Reinhard ist 1498 schon ein etablierter Straßburger Drucker, der auch im Bereich der Gebetbücher über eine gewisse Erfahrung verfügt. Er druckte bereits verschiedene Breviere,8 ein Stundenbuch9 sowie vier Ausgaben des Antidotarius animae10. In unserem Zusammenhang ist vermutlich von Bedeutung, dass Grüninger nur wenige Monate nach der Basler Erstausgabe einen interpolierten Nachdruck von Sebastian Brants Narrenschiff herstellte, den er 1496 erneut druckte und dem er 1497 neben einem Nachdruck der lateinischen Ausgabe Das nuw schiff von narragonia folgen ließ. Diese Grüningerschen Ausgaben bildeten mit ihrem gegenüber Brant vielfach veränderten Text nicht nur die Grundlage für die Narrenschiff-Predigten Johanns Geiler von Kaysersberg sondern auch die Vorlagen für niederdeutsche und niederländische Narrenschiff-Übertragungen. Diesen „zweiten Strang in der Wirkungsgeschichte des Narrenschiffs, der parallel zu der Textgeschichte der Brantschen Originalausgaben verläuft“ kritisiert Brant sehr deutlich in seiner Verwahrung, die er seinem Text in der dritten von ihm verantworteten Ausgabe bei Bergmann von Olpe 1499 hinzufügt.11 Johannes Wähinger wiederum scheint gar nicht hauptsächlich als Drucker tätig gewesen zu sein,12 die Hortulus-Ausgaben (L7, L9, L10, L13, L14) sind offenbar seine ersten Druckerzeugnisse und bleiben neben zwei weiteren kleineren Drucken auch seine einzigen. Trotzdem war gerade er es, der mit seinem ersten Druck einen von Sebastian Brant verantworteten Text anbieten konnte. Brant war bekanntlich 1500 von Basel nach Straßburg gekommen und soll laut dem Titelblatt den Text der Ausgabe L7 für Wähinger bearbeitet haben: Der selen gärtlin wurde ich gnent / Von dem latein man mich noch kent / Zú Straßburg in seym vatterlant / hat mich Sebastianus Brant / Besehen unnd vast corrigiert / Zú tütschem ouch vil transferiert.13 Der Verdacht liegt auf der Hand, dass Brant sich

|| 8 Schmidt 1894–1958, Bd. 1, Nrr. 8, 19, es folgen später noch zahlreiche weitere. 9 GW 12968, vor 1496. 10 Schmidt 1894–1958, Bd. 1, Nrr. 10, 13, 15, 16; dazu kommt eine vermutlich am 30.VI.1503 erschienene weitere Ausgabe (Nr. 63), die bei richtiger Datierung zwischen seinen HortulusAusgaben L11 und L12 erschienen wäre. 11 Vgl. Voss 1994, bes. 25–35, Zitat 27. 12 Er lässt sich nicht eindeutig identifizieren, vgl. Dupeux et al. 2000, 79–80. 13 Der vollständige Text – nach L9, denn L7 ist nicht mehr nachweisbar – in Brant 1998, Bd. 1.2, 510, Nr. 380. – Der genaue Anteil Brants an den Texten des Seelengärtleins bleibt noch zu untersuchen. Sicherlich jedoch wird man nicht mit Wilhelmi sagen können, er „übersetzte

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hier gezielt an einem Konkurrenzunternehmen zur Grüninger-Offizin beteiligte, die ihn gerade in den Jahren vor 1500 mit ihren Nachdrucken nachhaltig verärgert haben muss. Wie verfahren die beiden Drucker und ihre Mitarbeiter mit der Textsammlung? Der schneller reagierende, doch auf lange Sicht weniger erfolgreiche Grüninger bleibt bei seiner zuerst erscheinenden lateinischen Ausgabe14 noch recht nahe an seiner Vorlage, verwendet allerdings eine andere Fassung des Marienoffiziums, in welcher das Stundenlied Hora matutina bereits als conclusio einer jeden Hore eingearbeitet ist, so dass er zwischen die beiden Offizien einen neuen Text drucken muss. Er wählt dafür ebenfalls eine Oratio beate virginis de compassione filii eiius, und zwar ein kurzes, aus Antiphon, Vers und Kollekte bestehendes Fürbittgebet. Es ist dies eine Lösung, die später nicht wieder aufgegriffen wird. Der Grüningersche Wurtzgarten (L5) ist der früheste deutschsprachige Hortulus-Druck, und eine Ausgabe, die mit beträchtlichem Aufwand hergestellt worden ist.15 Das lässt sich zum einen am Umstand ablesen, dass Grüninger die Vierergruppe der Offizien in eine für Laien geeignete Form bringt, indem auf das kleine Marienoffizium drei sogenannte Ersatzoffizien für ein schlechten leien, der den Curß wie vor stet nit betten kan (fol. 44r) folgen lässt. Alle drei Ersatzoffizien sind analog aufgebaut: Für jede Hore wird eine bestimmte Anzahl Pater noster und Ave Maria vorgegeben, insgesamt sind es 77, die stets nach einer kurzen Betrachtung zu beten sind. Im ersten Ersatzoffizium ist dieser Kerntext eine Patris sapientia-Übertragung, im zweiten eine des Matutino tempore, im dritten schließlich eine weitere auch handschriftlich weit verbreitete Passionsandacht (Inc: Alle herrschaft diente). Zum anderen und viel aufwendiger ist die durchgängige Ausstattung beinahe aller Texte mit Marginalien. In ihnen finden sich nicht nur Bibelreferenzen und Formulierungsvarianten, es werden darüber hinaus auch sehr kleinteilig die lateinischen Incipits angegeben. Auf diese Weise ist eine Ausgabe entstanden, die dem Leser die Anbindung an die lateinischen Vorlagen und damit gegebenenfalls auch an die Liturgie erleichtert und sich zugleich um verständliche Gebetstexte bemüht. In dieser Form ist das später nicht mehr gemacht worden; Grüningers zweite Wurtzgarten|| bald nach seiner Übersiedlung nach Straßburg den Hortulus animae ins Deutsche“ (Brant 1998, Bd. 2: Noten zur Edition, 150). 14 Ich habe das Digitalisat der Ausgabe L3 (31.I.1500) der Königlichen Bibliothek Stockholm eingesehen (GW 12972). 15 Ochsenbein 1983, Sp. 149–150. Ich habe das Exemplar der Ausgabe L5 (4.III.1501) der Stiftsbibliothek St. Gallen, FF links VI 13 (VD16 H 5076), sowie das Digitalisat der Ausgabe L12 (7.IX.1503, VD16 H 5079) eingesehen.

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Auflage (L12) ist von ihrer Ausstattung her von geradezu irritierender Schlichtheit.16 Johann Wähinger bringt offenbar zuerst Hortulus-Ausgaben in deutscher Sprache (L7, L9) auf den Markt, dann erst in lateinischer (L10, L13).17 Dieses von Brant mitverantwortete Seelengärtlein weist insgesamt eine Textzusammenstellung auf, die mit mindestens 36 Ausgaben weit erfolgreicher war als der Wurtzgarten. In der uns hier interessierenden Eingangspartie setzt das deutschsprachige Seelengärtlein nach einem Kalender mit dem obligaten Marienoffizium ein, daran schließt jetzt aber direkt lediglich noch die sehr beliebte Prosa-Übertragung des Patris sapientia durch Johann von Neumarkt,18 weitere Tagzeiten fehlen komplett. Die Gebetsabschnitte zu den einzelnen Horen des Patris sapientia sind als von Antiphonen gerahmte Hymnen mit Invitatorium und Kollekte verbunden und damit auch in die Form eines Offiziums gebracht. Der Text Johanns von Neumarkt ersetzt damit sozusagen das große Passionsoffizium. Es ist diese Kurzform des einleitenden Offizium-Teils des Seelengärtleins, welche die deutschsprachigen gedruckten Hortuli in der Folge prägen wird. Bei seinem ersten lateinischen Hortuli-Druck L10 von 1503, laut Titelblatt neben Brant auch noch von Jakob Wimpfeling durchgesehen, hält sich Wähinger stark an die lateinischen Vorgänger-Ausgaben, ersetzt jedoch das Passions-Offizium durch das wesentlich kürzere Passionale aureum (AH 30, Nr. 25). Dieses Stundenlied ist ab dem vierzehnten Jahrhundert sehr breit überliefert und nimmt in den späteren lateinischen Hortuli stets die Stelle des Passions-Offiziums ein. Damit war eine Textzusammenstellung gefunden, die in der Folge immer wieder nachgedruckt worden ist. Welche Rolle dabei etwa die Kürze der Texte, ihre sprachliche Gestalt oder die Verbindung mit den Namen Brants und Wimpfelings gespielt haben mag, ist damit allerdings natürlich noch nicht geklärt. Ich will vor dem Hintergrund der Fragen nach ‚Transkulturalität und Translation‘ einige Schlussfolgerungen andeuten. Die Hortulus animae-Drucke stehen in verschiedener Hinsicht auf Grenzen, über die hinweg sie zu vermitteln versuchen, über die hinweg ein Austausch stattfindet. Das sind beispielsweise Sprachgrenzen, die lateinisch-deutsche, dann aber auch die deutsch-französische. Mit der Sprache ganz direkt verbunden ist die Grenze zwischen Geistlichen und

|| 16 VD16 H 5079. Ihr fehlt neben den Marginalien etwa offenbar sogar bewusst ein Inhaltsverzeichnis, wie sich ausgehend von kodikologischen Details vermuten lässt. 17 Es folgt danach noch ein letzter Seelengärtlein-Druck am 6.III.1504 (L14), der kurz darauf von Knobloch exakt nachgedruckt wird (z. B. L18, VD16 H 5082). 18 Schriften Johanns von Neumarkt 1935, Nr. 1.

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Laien, in gewisser Weise auch zwischen Liturgie und Literatur. Der Erfolg des Hortulus animae und des Stundenbuches hat nach allem, was wir wissen, viel damit zu tun, dass sie auf diesen Grenzen angesiedelt sind, und gleichsam als Orte der Durchdringung und Verflechtung von Kulturen – in diesem Sinne als ‚transkulturelle Gärten‘ – beschrieben werden können.19 Es kommt dazu, dass die Geschichte der frühen Druckkunst immer auch die der Verbreitung einer technischen Erfindung und der Wanderung von Arbeitskräften über die Grenzen von unterschiedlichen Ländern und Kulturen hinweg ist. Sie machen die hier beschriebenen Entwicklungen erst möglich. Mediävisten, die verstehen wollen, wieso die besprochenen Textsammlungen im späten Mittelalter so außergewöhnlich beliebt waren, haben immer schon solche Grenzüberschreitungen nachvollziehen und damit auch selbst Grenzen überschreiten müssen, institutionalisierte Fächergrenzen beispielsweise, natürlich aber auch bestehende Sprach- und Landesgrenzen. Wissenschaft kennt keine Grenzen, heißt es, allerdings gilt das nicht für Wissenschaftler oder den Wissenschaftsbetrieb. So groß der von allen Seiten anerkannte Gewinn des grenzüberschreitenden Austausches in der Wissenschaft ist, so wenig ist er selbst und noch weniger sind seine institutionellen Rahmenbedingungen selbstverständlich gegeben. Die gedruckten Gebetbücher mögen uns in diesem Sinne mahnend vor Augen führen, welche Erfolgsgeschichten im Zeichen der Transkulturalität und Translation geschrieben werden können.

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|| 19 Zum Konzept der Transkulturalität vgl. Welsch 2010. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Textsammlungen als ganze, sondern auch für die Einzeltexte selbst, beispielsweise für die Offizien, die aus ganz heterogenem Textmaterial zusammengewachsen sind.

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Catherine Squires, Moskau

Im Kreuzfeuer von Genus, Gender und Geschlecht Literarische Gestalten im deutsch-russischen Kulturtransfer um 1500

Einführende Überlegungen In Winnie the Pooh soll einer der Freunde Christopher Robins, im Buch the Owl genannt, den Typ eines jungen Intellektuellen aus den englischen Knabenschulen parodieren, und dies soll um die 1900er Jahre klar erkennbar gewesen sein. Egal aber, was uns die Literaturhistoriker erzählen, für den russischen Leser ist the Owl eine weibliche Figur, denn das Wort russ. сова ist weiblich. Und damit wird die ganze (maskuline) Tiergesellschaft in Winnies Wald verändert. Was ist zu tun? Sollte man vielleicht im Russischen die Eule durch einen anderen Vogel ersetzen? Dann würde aber die symbolische Kraft des Eulenbildes verloren gehen, denn auch im russischen Kontext ist die Eule ein Symbol für Weisheit und Wissen, auf dem der Autor von Winnie the Pooh, Alan Alexander Milne, seine Ironie baut. Und Kultursymbole eines Volkes sind nicht weniger zäh als die Anforderungen der Grammatik seiner Sprache. In russischen Übersetzungen aus dem Deutschen würden die übernommenen Figuren oft das Genus wechseln müssen, und wenn die Vorlage eine englische war – dann würde dort das grammatische Genus erscheinen und oft eine Gender-Markierung mitbringen, wo es sie im Original vielleicht nicht gegeben hat und keine Genus- oder Geschlechts-Bestimmung vom Autor beabsichtigt war. Oft haben diese Wesen aus der Literatur auch noch Namen, und diese sind im Russischen sogar hartnäckiger: Sie gibt es nicht im Neutrum, sondern nur im Maskulinum oder Femininum, und genau in Übereinstimmung mit dem Geschlecht des Namenträgers. Sobald eine literarische Figur einen Namen bekommt, wird ihr Deklinationstyp im Russischen bestimmt und damit oft auch das Geschlecht.

DOI 10.1515/9783110556438-022

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Der Totentanz in Novgorod Der Erstdrucker in Magdeburg und Finnland, Bartholomäus Ghotan, ist unter anderem für seinen Beitrag zur Totentanz-Tradition bekannt, für sein Zwiegespräch zwischen Leben und Tod, 1484 in Lübeck gedruckt. Die Inkunabel wurde nur in einem Exemplar entdeckt, aber nicht als Ganzes, sondern nur in mehreren Bruchstücken, die zu verschiedenen Zeiten gefunden wurden (und leider im zweiten Weltkrieg wieder verschollen sind).1 Zum Glück war eine ins Jahr 1493 datierte Abschrift des Drucks vorhanden,2 die den Buchdruckhistorikern bei der Rekonstruktion des Ganzen als Grundlage diente. Es soll demnach ein Einblattdruck gewesen sein und kein Bild enthalten haben; es wird angenommen, dass der in der Abschrift kopierte Kolophon Bartholomeuß Gothan impressit in lubeck für den Druck stimmt. Daher war also von künstlerischen Leistungen Ghotans zur TotentanzThematik bis zur jüngsten Zeit nichts bekannt. Dann tauchte ein zweiter Einblattdruck Ghotans auf, und zwar in Moskau3: diesmal in Latein und mit einem großen Holzschnitt. Dieser (noch Magdeburger) Druck Ghotans muss damit älter sein als das Lübecker Blatt von 1484.4 Wie das niederdeutsche, so ist auch das lateinische Zwiegespräch nur in einem Exemplar bekannt, gemeinsam ist für die Schicksale der beiden Inkunabeln noch der Faktor des Krieges, durch den der eine heute leider als Verlust gelten muss und der andere, kriegsbedingt nach Moskau verschleppt, erst vor kurzem in die Wissenschaft eingeführt worden ist. Erstaunlicherweise spielt || 1 Wilhelm Mantels fand 1875–1876 die ersten vier Fragmente, in Streifen zerschnitten und in ein niederdeutsches Andachtsbuch der Lübecker Stadtbibliothek eingeklebt. Ein fünftes Bruchstück hat 1931 L. Wolff hinzugefügt, aber immer noch fehlten Teile des Texts und direkte Hinweise zur Datierung. Die Datierung auf 1484 geht aus dem Text der Rückseite der Streifen hervor: das Zwiegespräch, wohl ein Probeabdruck, befand sich auf der Rückseite eines Lübecker Abdrucks des Bok der Arstedie von 1484, und demnach sollte sein Druckjahr dem des Arzneibuchs nicht fernliegen. Ausführlicher zur Geschichte des Fundes und seiner ersten Publikationen vgl. Lewandowski (1972, 1–4). 2 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Helmstedt 1233, Bl.189b–192a. 3 In der Wissenschaftlichen Bibliothek der Lomonossov Universität Moskau befindet sich eine Sammlung von Handschriften- und Druckfragmenten, die ursprünglich aus der Bibliothek des Halberstädter Domgymnasiums stammen; hier liegt der unikal überlieferte Druck unter der Signatur Fonds Nr. 40, Verzeichnis 2, Nr. 27 (Erstpublikation Squires 2005, 114–121). 4 Eine Datierung des Moskauer Dyaloghus Vite et Mortis auf 1478/1480 ließ sich aus den spezifischen Kriterien der Buchdruckerkunst (den Typen, dem Wasserzeichen, dem Kolophon) und aus den historischen Zusammenhängen ermitteln (Squires 2005, 116–117); vgl. GW: 0828620N Dialogus vitae cum morte. Magdeburg: Bartholomäus Ghotan [um 1480/1482].

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auch Altrussland um 1500 für beide Drucke eine schicksalsprägende Rolle. Es gibt Zeugnisse für wenigstens noch ein, leider auch nicht erhaltenes (noch nicht entdecktes?) Exemplar, denn um 1500 wurde in Groß Novgorod eine altrussische Übersetzung des Gedichts verfertigt, und durch textuellen und sprachlichen Vergleich wurde schon vor längerer Zeit erwiesen, daß die Vorlage das niederdeutsche Werk Ghotans war (Lewandowski 1972). Damit ist das Vorhandensein von wenigstens noch einem Exemplar – dem, das Novgorod erreicht hatte – belegt. Mit der Entdeckung der lateinischen Auflage stellte man sich eine neue Frage: Ob Ghotan nur eine oder vielleicht beide Fassungen mitgebracht hatte und sie beide bei der Übersetzung als Vorlagen gedient haben? Um 1500 konnte Novgorod auf drei Jahrhunderte von Beziehungen und Handel mit der Hanse zurückblicken. Die politische und theologisch-wissenschaftliche Elite Novgorods hatte ein Interesse an der westlichen Kultur entwickelt und war bereit, das Bedürfnis einer Annäherung praktisch umzusetzen.5 Ein um den Erzbischof Gennadius gewachsener Übersetzerkreis erstellte eine neue Bibelübersetzung und benutzte dabei zum ersten Mal auch die Vulgata und den niederdeutschen Kölner Bibeldruck von 1478. Darüber hinaus entstanden Übersetzungen von westlichen literarischen und politisch-theologischen Werken. Dennoch wurden „Lateiner“ (alle, die zur katholischen Kirche gehörten) immer noch als Feinde des Glaubens und der einheimischen Lebensweise betrachtet, und Ghotans Leben und Tod und Dyaloghus sprachen das russische Publikum aus einem fremden Kulturkontext und theologisch-philosophischen Rahmen an. Kein Wunder, dass sein Schicksal in Russland völlig im Dunkeln liegt.6

Text und Bild Rufina Dmitrieva, eine der bedeutendsten Expertinnen dieser durch Ghotan Dyaloghus importierten russischen Totentanz-Überlieferung (Дмитриева 1964) meinte, dass die altrussische Übersetzung wörtlich der deutschen Vorlage folgte, was nicht ganz stimmt, aber dafür zeigt, wie beschränkt die Sicht der Forschung war, bevor der lateinische Ghotan-Druck erschien. Manche Aspekte (besonders die künstlerischen) wurden beispielsweise darum übersehen, weil kein dem Ori-

|| 5 Ausführlicher über den kulturellen Hintergrund dieser Kontakte Novgorods zum Westen vgl. Squires 2015. 6 In seiner Heimat war Ghotan letztmalig 1493 nachweisbar, aber schon 1496 wird seine Frau in den Steuerbüchern der Stadt Lübeck als Witwe erwähnt.

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ginal angehörendes Bild vorhanden war.7 In Wirklichkeit sind sogar die beiden Textfassungen Ghotans nicht identisch, so dass ein Vergleich der drei Seiten interessante Aussagen verspricht.8 Die russische Übersetzung zeigt Abweichungen vom niederdeutschen Original. Manche Textstellen, die keine Erklärung durch den niederdeutschen Druck hatten, finden jetzt im lateinischen eine Vorlage. Zum Beispiel die einführende Sentenz Prestrašněiša vsěm sm(e)rtь es(tь). aristotelę vъ3 knizě eticorumъ („Das schrecklichste für alle ist der Tod. Aristoteles im 3. Buch der ‚Ethik‘“) fehlt im deutschen Druck von 1484, aber nicht im Dyaloghus, vgl. Nam Terribilissimu(m) omnium est mors. Aristotiles 3° etico(rum). Auch der russische Titel des Gedichts Dvoeslovie života i sm(e)rti („Zwiegespräch zwischen dem Leben und dem Tod“) hat keine deutsche Vorlage, aber das lateinische Gedicht hat eine passende Überschrift Dyaloghus Vite et Mortis. Der Titel im lateinischen Einblattdruck befindet sich auf einem Spruchband inmitten des Holzschnitts und am Ende des Titels steht ein Doppelpunkt, der ihn mit dem Drucktext verbindet.

Abb. 1: Der lateinische Dyaloghus Vite et Mortis, Magdeburg: Ghotan, um 1480. Wissenschaftliche Bibliothek der Lomonossow-Universität Moskau, „Dokumentensammlung Gustav Schmidt“, Fonds Nr. 40, Verzeichnis 2, Nr. 27.

|| 7 Die Vermutung, dass das Ghotansche Original eine (vielleicht zweiteilige) Abbildung aufgewiesen hat, hat Lewandowski (1972, 2) ausgesprochen. 8 In diesem Aufsatz stützen wir uns auf die ausführliche Sprachanalyse der altrussischen Übersetzungen bei Lewandowski (1972) und auf seinen Textvergleich mit der niederdeutschen Fassung. Der Wissenschaftler hat spätere Einwirkungen von Seiten der zeitgenössischen russischen religiösen Literatur nachweisen können und interessante Ausblicke und Fragestellungen formuliert, darunter auch über eine Veränderung der Genus-Orientierung in der Metaphorik des Gedichts. Da aber damals für den Sprachvergleich der lateinische Text fehlte und für die Gender-und-Genus Problematik kein visuelles Material vorhanden war, konzentrieren wir uns hier auf die neuen Aspekte, die der Fund von 2005 gebracht hat.

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In der russischen Fassung steht an dieser Stelle ein 8 Zeilen großer Textteil, der keine deutsche Vorlage hatte; sein Inhalt ist: [Der/Ein] Mensch steht bewaffnet und meint widerstehen zu können; das ist der Mensch, der die Schönheiten dieser Welt genießt, und zu sündigen wagt, sich nicht an den Tod erinnert und das zukünftige Gericht; aber der Mensch, der da mit gebrochenem Herzen und traurigem Gesicht steht, das ist der Mensch am Ende seines Lebens, der wahrnimmt, dass er sterblich und vergänglich ist und seine Zeit vorbei ist, der trauert und seine Unvernunft bereut. Im lateinischen Text findet sich dieser Inhalt zwar auch nicht, dafür ist aber leicht zu merken, dass die beiden Ritter-Figuren im linken Teil des Holzschnitts sehr gut den zwei beschriebenen Lebensphasen eines Menschen entsprechen (genau in Übereinstimmung mit Lewandowskis Vermutung). Der tapfere Ritter mit dem gegen die Todesgestalt erhobenen Schwert, derselbe mit traurig gesenktem Blick, schließlich die durch die prachtvollen Pflanzen dargestellten „Schönheiten der Welt“ – sind im Ghotanschen Dyaloghus durch ein Bild, im russischen Dvoeslovie durch den Text wiedergegeben. Diese für Einblattdrucke und für die Totentanz-Thematik gleichermaßen typische Bild-Text-Varianz ist ein bekanntes Thema in der Mediävistik, das mit einer interkulturellen Begegnung zwischen Ost und West und unter Beteiligung einer dritten Sprache – des Altrussischen – um neue interessante Aspekte bereichert wird. Diese Bild-Text-Varianz war sehr verbreitet, aber nicht universell. In Russland um 1500 waren Bilder, abgesehen von Ikonen, religiöser Wandmalerei oder Miniaturen in kirchlichen Handschriften, nicht üblich. Der Übersetzer war offensichtlich mit der westlichen Tradition vertraut, hat aber für seine russische Fassung das Wort, nicht das Bild, gewählt. Dieser Wechsel zwischen optischen und verbalen Darstellungsmitteln ist weiter in einem Motiv der beiden Ghotan-Fassungen zu beobachten. So zeigt der Holzschnitt eine Reihe von Menschen verschiedener Stände, die, mit ihren Köpfen auf der scharfen Sensenklinge liegend, ihr Ende erwarten. Dieses Motiv kommt in den Versen des russischen und niederdeutschen Texts vor, die wiederum im lateinischen Gedicht fehlen. Der Tod spricht auf Niederdeutsch: Paweß, keyser, cardinale Meyge ik dar nedder altomale, Ridder, fruwen unde papen Unde allent, dat ju wart geschapen.

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Die Auflistung von 6 Ständen (Pabst, Kaiser, Kardinäle, Ritter, Frauen und Pfaffen) findet im Bild des Dyaloghus eine erkennbare graphische Ausführung, der russische Text gibt die Aufzählung aus dem Niederdeutschen treu wieder: papъ, cesarei, kardinalovъ, [..] voinovъ, ženъ i prezviterovъ.

Der Totentanz in Russland Dieser Vergleich zeigt, dass der russische Übersetzer bei seiner Arbeit beide Werke Ghotans vor Augen gehabt haben muss. Die Folgen dieser Tatsache waren zahlreich und weitläufig, denn – – –



auf das Vorbild der ersten Einblattdrucke aus Deutschland wird die gesamte russische Lubok-Tradition zurückgeführt; aus diesen Erfahrungen entwickelte sich in Russland die weltliche bildende Kunst, darunter speziell die Graphik; für die christlich-theologische Kunst, die in Russland damals noch keine personifizierte Darstellung des Todes kannte, war Ghotans Holzschnitt, zusammen mit der textuellen Beschreibung, das erste Vorbild einer menschenähnlichen Todesfigur als Skelett mit Sense; die an diesem Punkt beginnende russische Totentanz-Überlieferung hatte eine lange Tradition, zu der die Komponisten Modest Mussorgski und Dimitri Schostakovitsch sowie die Dichter Alexander Blok und Maxim Gorki und viele andere beigetragen haben.

Das sind nur einige der Ergebnisse dieser Wechselbeziehung, in der zwei kulturtheologische Kontexte – der westlich-katholische und der russisch-orthodoxe – in Berührung kamen, die ganz unterschiedliche Traditionen im Umgang mit Bild und Text hatten. Und für alle diese Entwicklungen pflasterte der erste Übersetzer den Weg: unter anderem musste er entscheiden, wie die Figuren aussehen sollten, ob beispielsweise der Tod als konkretes Wesen zu personifizieren war, ob die westliche Ikonographie der Totentänze Modell stehen sollte und konnte, und wenn ja – dann wie das sprachlich umzusetzen wäre, denn schließlich kommt es zu einem Kontakt von zwei Sprachsystemen. Die Sprache verlangt feste Entscheidungen: über das grammatische Genus der zu bezeichnenden Gestalt, über ihre Belebtheit / Unbelebtheit, über den Zusammenhang dieser grammatischen Aspekte mit Gender – und womöglich sogar mit Geschlecht. Die Antwort auf jede dieser sprachinternen Fragen stellt die Weichen für das, was aus dem neuen Kulturim-

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port später von den erwähnten Dichtern, Künstlern und Komponisten, aber auch von Choreographen, Filmregisseuren und anderen gemacht werden würde.

Genus, Gender und Geschlecht Um die sprachlichen Voraussetzungen zu klären, ist an dieser Stelle eine kurze linguistische Skizze nötig. Die Bezeichnungen für den Tod sind in allen drei Sprachen ähnlicher Art und gleich alt: lat. mors, -tis, dt. Tod, russ. смерть gehen auf Verbalabstrakta zurück von alten, schon indoeuropäisch belegten Verben für „sterben“, ahd. touwen (aus ie. *dheu-) für das deutsche Wort und ie. *mer-: *mor- für die zwei anderen. Die Wortbildungstypen der Substantive unterscheiden sich jedoch: die germanische Sippe (mndt. dod, engl. death) ist eine maskuline tu-Bildung mit hochstufiger Wurzel und unbetontem Suffix, in Gegensatz zu der ie. Femininen ti-Bildung mit Schwundstufe der Wurzel und betontem Suffix im Russischen und Lateinischen (Krahe / Meid, 1967, 151). Aus dieser etymologischen Übersicht geht hervor, dass die Todesfigur der Dichtungen in ihrem Tanz durch die europäischen Sprachen schon einmal – im Deutschen – ihr Genus vom Femininum zum Maskulinum gewechselt hat. Dabei haben die Textmotive und das bildliche Rippen-Gestell diesen Wechsel problemlos ohne Umdeutungen überlebt. Man kann also annehmen, dass, obwohl die Figur in der Sprache das Genus ändern musste, sie in ihrer bildlichen Darstellung keinem Gender-Wechsel unterworfen wurde. Der Tod erscheint sowohl in lateinischen als auch in deutschen Texten als Krieger, Jäger, Bogenschütze oder Schnitter und trägt in Bildern als Attribute dieser männlichen Berufe jeweils Schwert und Speer, Bogen, Pfeile oder Sense. Mit dem Schritt ins Russische kehrt nun dieselbe Option wieder zurück: Werden diesmal die Genderrollen zugunsten einer femininen Umdeutung ersetzt? Oder wird umgekehrt die traditionelle westliche Bildsprache realisiert und verliert damit die Grammatik an Bedeutung? Weiter noch: Wenn die Todesfigur in der russischen Grammatik als belebt dargestellt wird, dann ist nicht nur von Gender-Wechsel zu sprechen, sondern potentiell auch von Geschlecht. Dass der Übersetzer nicht gleich für Grammatik und Bild sorgen musste, wissen wir schon: seine Fassung hatte kein Bild, was ihm die Aufgabe erleichterte. Oder gab es darum kein Bild, weil der Übersetzer nicht beides auf einmal entscheiden wollte (durfte)? Aber wenden wir uns seiner sprachlichen Leistung zu. In der Übersetzung kommen nicht viele Belege für das Genus der Todesfigur vor. Erstens herrschen in allen drei Fassungen Verbformen, die keine Genus-Differenzierung zeigen,

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während das Präteritum (das Genus-differenziert ist) nicht vorkommt. Auch kongruente Adjektiva und Pronomina sind selten. Diese wenigen Belege enthalten jedoch interessante Aussagen und werden unten in Tabelle 1 verglichen. Erst aber würde uns interessieren, welche Genus-Formen der Übersetzer in seiner lateinischen Vorlage vorfand. Diese sind auch selten und stehen an anderen Stellen als im russischen und deutschen Text. In der ersten Strophe fragt das Leben: Quis es tu, quem video und der Tod antwortet: Ego sum, quem metuit mit maskulinem quem, das aber im Nebensatz und mit zweiter bzw. erster Person des Pronomens verbunden keine Kongruenz zu dem ersetzten Substantiv zeigt, vgl.: „wer bist du, den/die ich sehe“ bzw. „ich bin es, den/die alles fürchtet“. Drei Stellen haben Adjektiva mit markiertem Genus. So nennt das Leben seinen Opponenten sic horribilis deformis („so schrecklich und entstellt“9), und der Tod schreibt sich fast dieselben Charakteristika zu: Si non essem horridus, deformis atque tristis („wenn ich nicht so schrecklich wäre, entstellt und widerwärtig“). Aus den fünf Adjektiven ist eine Form maskulin (horridus), während die vier anderen maskulin-feminine Homonyme sind. Diese grammatische Zweideutigkeit ist in einer weiteren Stelle vorhanden: sum vobis nimis fortis („ich bin allzu stark für euch“). Die Genus-Beschreibung durch die Adjektive ist also maskulin-feminin mit eher einer Neigung zum Maskulinum und keiner Kongruenz mit dem lateinischen femininen Substantiv. Dabei stimmt hier alles, was vorher über die ‚berufliche‘ Metaphorik gesagt wurde, und der Tod wird vom Leben non bonus messor („kein guter Schnitter“) genannt. Das lateinische Original hat also bei der Übernahme ins Deutsche den Übersetzern keine grammatischen Genus-Probleme gemacht: auf der sprachlichen (syntaktischen) Ebene sind die Formulierungen vom Genus des lateinischen Wortes für „Tod“ unabhängig. Die typischen Gender-Charakteristika, die aus dem Inhalt hervorgehen (Beruf und seine Attribute) konnten darum leicht in den mndt. Sprachstoff eingegliedert werden. Um zurück zum russischen Dvoeslovie zu kommen, brauchen wir noch eine kurze linguistische Vorbemerkung. Das ursprünglich indoeuropäische Verhältnis zwischen den Deklinationstypen und Stämmen, dem Genus und der lexischen Semantik der Substantiva (die wiederum mit Belebtheit-Unbelebtheit und mit dem Geschlecht des Denotats zu tun hatte) hat sich in den Sprachen unter-

|| 9 Für die lateinischen Zitate wird hier die Übersetzung von Wolfgang Kirsch aus unserer gemeinsamen Faksimileausgabe des Drucks angeführt (Bartholomäus Ghotan 2006). Für die grammatische Auswertung des lateinischen Materials des Drucks von 1480 ist die Verfasserin Dr. Olga Saveljeva (Lehrstuhl für klassische Philologie der Lomonossov Universität Moskau) von Herzen dankbar.

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schiedlich entwickelt. Im Altrussischen wird das Genus stark mit den alten Deklinationstypen verflochten und das förderte die Stämme zu einer ‚Sortierung‘ nach Genus. So wurden beispielsweise die i-Stämme, zu denen ursprünglich Maskulina und Feminina gehörten, nun die alten Maskulina los.10 Diese gingen in andere Typen über, und heute sind i-Stämme fast ausschließlich feminin. Mit dieser Genus-Verstärkung des grammatischen Femininums bei den i-Stämmen, zu denen auch unsere ti-abstrakte Bezeichnung für „Tod“ gehört, muss wohl gerechnet werden, wenn wir das Fortleben der Todes-Figur im Altrussischen verfolgen. Die linguistische Skizze zeigt, warum das Altrussische nicht so leicht auf das grammatische Femininum verzichten konnte wie das Lateinische. Wie das funktioniert, bekommen wir gleich in der einführenden Sentenz zu sehen. Dort heißt es im Latein im Neutrum (!) Terribilissimu(m) omnium est mors („Das schrecklichste ist der Tod“), also in einer syntaktischen Konstruktion, die keine Kongruenz voraussetzt; der russische Text aber folgt der Regel der Kongruenz und hat Prestrašněiša vsěm sm(e)rtь es(tь), wo das Adjektiv prestrašněiša als Teil des Prädikats dasselbe Genus hat wie das feminine Subjekt. Drei weitere Parallelstellen mit Genus-spezifischen Formen sind unten tabellarisch dargestellt. In jeder Belegserie folgt unter der mndt. Vorlage die Formulierung des Übersetzers [Übers.], dann folgen die Varianten aus späteren Bearbeitungen, denen der übersetzte Text auf russischem Boden unterzogen wurde [1. Bearb., 2. Bearb.].11 In den letzten Zeilen wird jede Belegserie ins Neudeutsche übertragen.

|| 10 Zum slavistischen sprachgeschichtlichen Aspekt s. beispielsweise V.V.Ivanov (Иванов 1964, 280–281, 289). 11 Die altrussische Übersetzung ist in der Sofijskaja Hs. überliefert, ehemalig aus der Sammlung der Sophien Kathedrale Novgorods (heute Nr. 1454, Sobranie Sofijskoj biblioteki, Russische Nationale Bibliothek, Sankt Petersburg). In den 1520–1530er Jahren entstanden zwei Bearbeitungen des Gedichts, die Nr. 492 und Nr. 638 der Sammlung des Volokolamsk Klosters (heute in der Russischen Staatlichen Bibliothek, Moskau) mit Abschriften im Historischen Museum in Moskau. Bis 1550 war schon eine vierte Bearbeitung entstanden (Nr. 520 der Volokolamsk Sammlung). Weitere Bearbeitungen gab es im 17. Jahrhundert.

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Tab. 1: Männliche / weibliche Genus-Markierung des Todes in den altrussischen TotentanzFassungen

1

2

3

Sprache

Fassung

Mndt.

Ghotan 1484

Du bist vul worme unde slangen

Aruss.

Übers.

ty polnъ esi červej I zmievъ

Aruss.

1. Bearb.

i polnъ esi červei I zmievъ

Aruss.

2. Bearb.

Polъn esi červej I zmiev

Deutung

‚Du bist voll von Würmern und Schlangen.‘

Mndt.

Ghotan 1484

Kummestu

Aruss.

Übers.

Priide

Aruss.

1. Bearb.

Priide

Aruss.

2. Bearb.

Priide, prišla

Deutung

‚kommst du‘

Mndt.

Ghotan 1484

Wolde lyden den bitteren dod

Aruss.

Übers.

postradati sm(e)rtь gorkuju

Aruss.

1. Bearb.

postradati sm(e)rtь gorkouju

Aruss.

2. Bearb.



Deutung

‚den bitteren Tod erleiden‘

Im ersten Beleg, in dem mit der zweiten Person der Tod gemeint ist, wurde die mndt. Vorlage Du bist vul im Russischen durch eine maskuline Form übersetzt: ty polnъ esi (statt Fem. polna esi). Da die mndt. Form nicht genusmarkiert ist, ist das russische Maskulinum kaum auf unmittelbaren sprachlichen Einfluss zurückzuführen, sondern es musste wohl aus einer Entscheidung des Übersetzers zugunsten eines männlichen Bildes hervorgehen. Als Vorbild für diese Auffassung könnte auf andere niederdeutsche Belege hingewiesen werden, aber auch auf die oben festgestellte Tendenz zur männlichen Darstellung im lateinischen Druck. Der zweite Beleg zeigt die in den drei russischen Fassungen vorkommenden Verbformen: der Übersetzer und die erste Bearbeitung haben nur Genus-undifferenzierte Formen, und erst in der zweiten Bearbeitung wird im Präteritum prišla das Femininum klar. Diese und andere solche Beispiele zeigen, dass der Übersetzer im Russischen eine männliche Gestaltung der Todes-Metapher versuchte, dass sie aber später in eine weibliche Figur umgedeutet wur-

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de. Auch weibliche Adjektivformen wie Polna esi krovi zmievy („Du bist voll von Schlangenblut“) und Verbformen wie prišla kommen in den späteren Fassungen vor. Dies und die Einführung des epischen Präteritums, das diese GenusMarkierung erlaubt, hat einen Bezug zur Idee des Gedichts: sie verwandelt den dramatischen Dialog in eine von außen dargestellte Narration. Diese Veränderung tritt, nach dem sprachlichen und textologischen Befund von Lewandowski (161–163), zusammen mit den Einschüben aus der Vita Blasius’ des Neuen, in den späteren Bearbeitungen ein und ist als eine Annäherung an die russische religiös-literarische Tradition zu verstehen. Einem Abbau des Allegorisch-Abstrakten auf russischem Boden entspricht auch die ‚Enthüllung‘ des grammatischen Femininums in den Bearbeitungen; die Figur wird damit nicht nur sprachgrammatisch, sondern auch geschlechtlich definiert. Die Gestalt des tödlichen Schnitters wird so im Russischen allmählich zu einer alten Frau, und diese weibliche Gestalt ist es, die in neuzeitlichen und modernen Kontexten fortlebt. Im dritten Beleg wird das Maskulinum des mndt. den bitteren dod schon in der ersten Übersetzung durch sm(e)rtь gorkuju, mit dem Adjektiv im Femininum, übersetzt. In dieser Textstelle hat dod bzw. sm(e)rtь eine andere Bedeutung, sie weist auf einen Zustand, dem ein Mensch sich anschließen kann, und nicht auf dieselbe Figur, die allem Lebenden im Dialog gegenüberstand. In dieser von der Totentanz-Metapher abweichenden Bedeutung entspricht die Genus-Markierung der Grammatik der jeweiligen Sprache. Diese Ausnahme verdeutlicht die Aussage der übrigen Belege: dass die spezifisch russische weibliche Todesgestalt sich in dem Spannungsfeld zwischen der Grammatik der sprachlichen Form und der Allegorie der religiösen Unterweisung entwickelt.

Neue Gedichte, alte Bilder Für die weibliche Umdeutung der Totentanz-Figur dürfte logischerweise die Emanzipation von der Bilddarstellung förderlich gewesen sein. Tatsächlich, nach dieser Auseinandersetzung mit dem Sprachlichen, trennen sich die Wege der alten Frau der neuzeitlichen Totentänze (wie in Maxim Gorkis Gedicht Das Mädchen und der Tod) und des Schnitters der mittelalterlichen Quellen. Die visuelle Personifizierung der Todesmetapher als Skelett mit einer Sense hat sich auch mit der Zeit in der russischen Kultur etabliert, aber das ist eine spätere Entwicklung. In der Zeit nach 1500 lässt sich zuerst nur eine ganz dünne Überlieferung dieses Bildes nachvollziehen, und das erst mit der Entdeckung des lateinischen Dyaloghus. Der Übersetzer der Ghotanschen Texte hat, wie wir

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schon wissen, das Bild weggelassen und durch eine textuelle Darstellung ersetzt. In den Bearbeitungen taucht aber das Bild wieder auf. Abbildung 3 zeigt die Miniatur aus einer der Volokolamsker Handschriften, in der die Figur des Schnitters auf dem Holzschnitt von 1480 gut zu erkennen ist. Elena Bodnartschuk, Historikerin für russische Geschichte, weist auf Grund dieses Verhältnisses der beiden Bilder dem durch Ghotan eingeführten Holzschnitt eine zentrale Rolle in der Verbreitung der Totentanz-Kunst und der Ikonographie des Todes auf russischem Boden zu (Боднарчук 2014, 8, 59).

Abb. 2 und 3: Der Tod. Links: Ghotan um 1480 (Ausschnitt, vollständige Angabe siehe Abb. 1); rechts: Hs. 492, Volokolamskoe Sobranie (Konturzeichnung).

Dennoch ist die Verbreitung von unterschiedlichen Darstellungen des Todes als Rippengestalt mit scharfen Werkzeugen nicht direkt bzw. nicht ausschließlich auf Ghotan zurückzuführen. Diese Darstellungen akkumulieren spätere Einflüsse aus anderen literarischen Quellen und anderen Regionen, wie beispielsweise aus den Dialogen des Meisters Polykarp aus den westslavischen Teilen. Was nun die Figur aus Ghotans Druck und den russischen Bearbeitungen anbetrifft, so sind diese in einer erkennbaren Form auch später zu finden, aber nicht im ikonographischen mainstream Russlands, sondern in provinziellen Ikonen der nordrussischen Altgläubigen.

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Zwei Ikonen aus Dorfkirchen im (ehemaligen) Hinterland Novgorods (aus Ust’-Jandoma und aus Groß Guba in Karelien) befinden sich heute im Karelischen Museum der Bildenden Kunst. Mit dem für die russischen Altgläubigen charakteristischen Akzent auf das Schriftliche führen beide Ikonen ein langes Textstück des Dvoeslovie (nach Dmitrieva, in seiner sechsten Redaktion) mit einer Abbildung der aus Novgorod bekannten Todesfigur zusammen, halb nach links gedreht, die Sense mit dem linken Bein gekreuzt. Ein russischer Krieger mit erhobenem Schwert und die um die Sensenklinge gruppierten Menschen sind zwar etwas entfernte, aber noch gut erkennbare Bestandteile der Mise en scène des alten Magdeburger Holzschnitts. Die wenig ausgearbeitete Anatomie der Todes-Gestalt (ohne deutliche Rippenstruktur), ihre unnatürliche Haltung, der nur mit einer feinen Linie angedeutete Sensenstiel zeugen von einem abstrakten, wohl noch stark allegorischen Konzept, das in der Ikonenmalerei dieser spezifischen religiösen Strömung bis weit in das 17. Jahrhundert hinein blieb.

Abb. 4: Ikone aus Ust’-Jandoma, Karelien, um 1700. Ausschnitt: der Tod. Karelisches Museum für Bildende Kunst, Petrozavodsk (Katalog: http://www.ptz.ru/~art/catalog/icon/web/grou1 /p/06000140.html, letzter Besuch: 29.5.2017).

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Eine zweite Weiterentwicklung des Rippengestalt-Bildes biegt in die Ikonographie der Apokalypse ab. Es ist kaum ein Zufall, dass auf russischem Boden eine der früheren Darstellungen des vierten Reiters der Apokalypse durch ein Skelett mit deutlich ausgearbeiteten Rippen und mit Sense gerade in Novgorod vorkommt (Wandmalerei von 1702 im Novgoroder Kloster der Muttergottes Snamenie). Diese Variante der Todesdarstellung ist in die zeitgenössische Kunst integriert worden und hat dort weite Verbreitung gefunden, aber sie hat keinen Bezug mehr zu den Totentanz-Dialogen des Mittelalters.12

Literaturverzeichnis Bartholomäus Ghotan. Dyaloghus Vite et Mortis. Zwiegespräch zwischen Leben und Tod. Faksimiledruck nach dem Original in der Abteilung für seltene Drucke und Handschriften der Wissenschaftlichen Bibliothek der Staatlichen Lomonossow Universität Moskau. Textbegleitung von Ekaterina Skvairs und Übersetzung von Wolfgang Kirsch. Hg. vom Verein der Bibliophilen und Graphikfreunde Magdeburg und Sachsen-Anhalt e.V. „Willibald Pirckheimer“ in Zusammenarbeit mit der Lomonossow Universität Moskau. Magdeburg: 2006. Krahe, Hans und Wolfgang Meid. Germanische Sprachwissenschaft. Bd. III. Wortbildungslehre. Berlin: de Gruyter, 1967. Lewandowski, Theodor. Das mittelniederdeutsche Zwiegespräch zwischen dem Leben und dem Tode und seine altrussische Übersetzung. Köln/Wien: Böhlau-Verlag, 1972. Squires, Catherine. „Ein unbekannter Druck des Zwiegesprächs zwischen Leben und Tod von Bartholomäus Ghotan“. Gutenberg-Jahrbuch 2005, 114–121. Squires, Catherine. „Relations culturelles de Novgorod avec l’Occident du XII au XVIe siècle“. Novgorod ou la Russie oubliée: Une république commerçante (XIIe–XVe siècles). Philippe Frison und Olga Sevastyanova (Hgg.). Paris: Le Ver à Soie, 2015, 315–334. Боднарчук Е.В. Новгородский книжник Дмитрий Герасимов и культурные связи Московской Руси с Западной Европой в последней четверти XV – первой трети XVIв. Санкт-Петербург, 2014. Дмитриева Р.П. Повести о споре жизни и смерти. Москва-Ленинград: Наука, 1964. Иванов В.В. Историческая грамматика русского языка. Москва: Просвещение, 1964.

|| 12 Diese Studie ist Teil eines Projekts der Russischen Stiftung für die Geisteswissenschaften (РГНФ № 17-01-00158).

| Teil V: Europa und die außereuropäische Welt

Volker Mertens, Berlin

„Weltliteratur“ – Indisches bei Goethe1 Das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert brachten nicht nur das Konzept der Nationalliteratur, sondern auch das der „Weltliteratur“: Johann Wolfgang Goethe, der schon früh die Forderungen nach einer deutschen Nationalliteratur abgewehrt hatte, entwickelte Mitte der 1820er Jahre den Begriff der „Weltliteratur“ als eine Verbindung zwischen den Literaturen aus „allen Weltgegenden“. Er selbst beschäftigte sich mit serbischer und persischer, chinesischer und indischer Literatur, von der englischen und französischen, der italienischen und spanischen, der lateinischen und griechischen ganz zu schweigen.2 Ich gehe seinem Umgang mit der indischen Kultur und Literatur nach, erscheint sie mir doch symptomatisch für die Möglichkeiten und Grenzen eines „Kulturtransfers“. Am Anfang der Aufnahme indischer Kultur stehen geographische und historische Beschreibungen. Die ersten, Indien gewidmeten, erschienen im frühen 17. Jahrhundert,3 Neues brachten die Reisenden im 18. Jahrhundert, die den Subkontinent mit dem kritischen Blick der europäischen Aufklärer sahen. Im Bücherschrank seines Vaters hatte der kleine Johann Wolfgang das ins Deutsche übersetzte Buch des holländischen Reisenden Olfert Dapper gefunden: Asia. Oder: ausführliche Beschreibung des Reiches des großen Mogols (1681). Es enthielt neben ausführlichen Abhandlungen zu Land und Leuten auch die Geschichte der muslimischen Radjas in Indien. Den Jungen faszinierten zwei Dinge: einmal die zahlreichen Holzschnitte mit exotischen Darstellungen von Herrschern und Herrscherinnen, Stadtansichten, Elefanten und, gleich zu Beginn, von Götterbildern, vielarmigen, vielköpfigen, schlangenumringelten – anziehend und gruselig zugleich. Letztere vor allem sollten Goethes Indienbild bleibend prägen. Er betrachtete allerdings nicht nur Bilder, sondern las Geschichten, aber nicht Geschichte: Dapper hatte Episoden aus den indischen Epen Mahabharata und Ramayana nacherzählt, Goethe nahm das später wieder auf. Als er 1772 in Wetzlar als Praktikant am Reichskammergericht auf einen Kreis von Gleichgesinnten traf, die sich scherzhaft als einen Ritterorden organisierten, in dem die Literatur die Hauptrolle spielte, erzählte Goethe gern und gut

|| 1 Aus der Forschungsliteratur nenne ich: Gérard 1963, Wilson 1964, Halbfass 1984, Hulin / Maillard 1996, Mehlig 1998, Pille 2004, Lauer 2012. 2 Ich zitiere aus der umfangreichen Literatur nur Birus 1995, Bohnenkamp 2000, Weber 1998. Auf die bedeutende Rolle Herders in dem Prozess der Entwicklung dieses Konzepts und das der nationalen Volksdichtung kann ich hier nicht eingehen. 3 Arthus, Historia Indiae Orientalis. 1608. Vgl. Die indische Welt. 1986.

DOI 10.1515/9783110556438-023

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neue und unbekannte Geschichten: nordische Mythen, zusammen mit Indischem:4 „Der Altar [so schon bei Dapper = Avatar] des Ram gelang mir vorzüglich im Nacherzählen und ungeachtet der großen Mannigfaltigkeit dieses Märchens blieb doch der Affe Hannemann der Liebling meines Publikums [der Affengeneral Hanuman, der Helfer Ramas bei der Wiedergewinnung der entführten Sita]. Aber auch diese unförmlichen und überförmlichen Ungeheuer konnten mich nicht eigentlich poetisch befriedigen. Sie lagen zu weit von dem Wahren ab, nach welchem mein Sinn unablässig hin strebte.“ 5 Das Wahre – das erblickte Goethe in der unmittelbaren Empfindung, wie er sie in den Leiden des jungen Werthers wenig später gestalten sollte. Im November 1774 ist in einem Stammbucheintrag (Ein teures Büchlein6) wieder davon die Rede, dass der Autor den Abend mit „Jungfräulein von edler Art“ verbracht habe, Erzählgegenstand waren „Ram Sitha Hannemann und sein Schwanz“. Die Faszination durch Indisches blieb. Die Land- und Völkerkunde des Franzosen Pierre Sonnerat, auf Deutsch publiziert in Zürich 1783,7 wurde Goethe später zum wichtigsten Zeugnis indischer Kultur. Der Autor hatte in Indien gelebt, liebte das Land, beschrieb Landschaft, Vegetation, Tiere und Menschen bei ihren Verrichtungen, schrieb über den Hinduismus (Brahmanismus), ließ aber seine Kritik an der absolutistischen Herrschaftsform der Radjas nicht außen vor – das moderne Indien war kein Paradies. Sonnerat gab dem Band eine von ihm selbst gezeichnete üppige Bilderfolge bei, hier waren die vielköpfigen Götter noch reicher als bei Dapper vertreten, die Mischformen zwischen Mensch und Tier wie Vishnu in seinen vielen Inkarnationen mit Fischschwanz, als Halblöwe, als Schildkröte oder Ganesha [hier: Polléar] mit Elefantenhaupt. Halbnackte Gurus und Fakire, Mönche und Bramen [Brahmanen] sowie Büßer und Bettler vervollständigen das Bild einer „monströsesten Religion“, wie Goethe

|| 4 Auch seiner Schwester Cornelia trug er „eine weit ausgebreitet Weltpoesie“ vor: Homer, nordische Mythen aus der Edda und den „Affen Hannemann“ nach dem Mahabharata, referiert von Dapper. Hier äußert er sich – wohl in der Rückschau während der Abfassung 1812, als Goethe schon einen ganz anderen Eindruck von der indischen Literatur hatte: „Daher ist mir auch von allen diesen Dichtungen ein so angenehmer Eindruck geblieben, daß sie noch immer unter das Werteste gehören, was meine Einbildung sich hervorrufen mag.“ Dichtung und Wahrheit. HA 9. 1953, 553. 5 Ebda., 537. 6 Sämtliche Gedichte I (FA 1987, 185–187). 7 Goethe erwähnt in einem Briefentwurf von 1811 erstmals den Franzosen so, als ob er sein Werk schon lange kenne (WA IV, 22, 43).

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viel später sagte.8 Sie widersprach seinen Überzeugungen von einer lebensbejahenden, mittlerweile an einer idealisierten Antike ausgerichteten Weltsicht. Sonnerat war jedoch, wie Dapper, als Quelle von Geschichten interessant, er bot Berichte von indischen Gegebenheiten, die mit Witwen, Parias und Bajaderen in das klischeehafte Orientbild nicht nur der damaligen Zeit passten. Die Witwenverbrennung (Sati) erregte Schauder als ein archaisch-grausames Ritual, der Paria Mitleid als ausgestoßenes Opfer einer vormodernen Gesellschaft und die Bajaderen (von portugiesisch balladeras), Tempeltänzerinnen, die als Freudenmädchen dargestellt wurden, weckten lüsterne Gedanken. Goethe war von dem Aspekt der (vermeintlichen) erotischen Freiheit fasziniert und nahm erstmals einen indischen Stoff als Anregung für eine Dichtung: sein Gedicht Der Gott und die Bajadere, das er Indische Legende untertitelte.9 Das Mädchen aus der niederen Kaste folgt nach einer Liebesnacht mit dem Gott Mahadö [aus frz. Mahadieu = Mahadeva = Shiva] diesem wie eine indische Witwe in den Tod, wird aber mit ihm im Jenseits vereint. Sinnlichkeit und Sexualität sind in der indischen Religion, anders als in der christlichen, als Möglichkeit der Annäherung an das Göttliche konzipiert, was Goethe aufgriff. Die Glorifizierung der Existentialität in der sexuellen Liebe und die „Himmelfahrt der bösen Lust“ (Friedrich Heinrich Jacobi über die Wahlverwandtschaften10), faszinierten viele, aber nicht alle11 Leser; Karl Friedrich Zelter12, Franz Schubert (1815) und Carl Loewe (1835) haben das Gedicht vertont, Daniel François Esprit Auber machte eine Opéra ballet daraus und Ludwig Minkus widmete der „indischen Giselle“ ein Tanzpoem. Noch in Richard Wagners Parsifal (1882) sind die Zaubermädchen Klingsors aus der Sippe der Bajaderen. Die Indische Legende ist das Komplement zur Ballade Die Braut von Korinth, die unmittelbar vorher geschaffen13 und mit ihr zusammen gedruckt wurde im von Friedrich Schiller herausgegebenen Musenalmanach von 1798. Das „Vampyrische Gedicht“ (Goethe, Tagebuch)14 bildet das dunkle Gegenstück, beiden

|| 8 Im Aufsatz Indische und chinesische Dichtung (1821), HA 12, 301–303, hier 301. 9 Aus der umfangreichen Literatur erwähne ich Wild 1996, Mecklenburg 2000, Nenguié 2013. 10 HA 1953, 6, 645. 11 Herder beispielsweise äußerte sich kritisch-sarkastisch, vgl. Goethe (Sämtliche Gedichte I. FA 1987, 1235). 12 Veröffentlicht 1813 in Zelter, Sämtliche Lieder, jedoch weit früher entstanden. Dass es diese Vertonung war, die im März 1803 bei Goethe vorgetragen und von der Herder krank wurde, ist sehr wahrscheinlich (Goethe, Sämtliche Gedichte I. FA 1987, 1238). Ausgabe: Loewe 1901, als Op. 29. 13 4.–6. Juni 1797; Der Gott und die Bajadere: 7.–9. Juni. 14 Goethe. Sämtliche Gedichte I, FA 1987, 1233–1237, hier 1233.

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Gedichten gemeinsam ist die mehr oder weniger offene Kritik an der christlichen Sinnenfeindlichkeit (in der Indischen Legende ist mit der Menschwerdung des Gottes Mahadö – „Daß er unsers gleichen werde“ – unmissverständlich auf die Menschwerdung Christi verwiesen), die in der Braut von Korinth mit antiker Sinnenherrlichkeit, in dem zweiten Gedicht mit indischer Sexualvergöttlichung negativ kontrastiert wird. Die Schlüsse gleichen sich: in beiden Fällen steht eine gemeinsame Verbrennung der Liebenden am Ende. Doch in der ‚griechischen‘ Ballade ist die Erfüllung bei „den alten Göttern“ nur die Hoffnung der untoten Braut, in der Indischen Legende gestaltet der Autor die Verklärung: Doch der Götter-Jüngling hebet Aus der Flamme sich empor, Und in seinen Armen schwebet Die Geliebte mit hervor. Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; Unsterbliche heben verlorene Kinder Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

Die angesprochene Reue ist implizit dargestellt, wenn die Prostituierte, nachdem sie die wahre „göttliche“ Sinnenlust erfahren hat, sich von der Kommerzialisierung und Banalisierung des Sexus abwendet und dem Geliebten das Leben opfert, die Reinigung in den Flammen ist die Voraussetzung der „Himmelfahrt“. Goethe hat nicht nur indische Motive benutzt, sondern hat eine Besonderheit der indischen Literatur (wie er sie verstand) zum Thema gemacht: die Sinnlichkeit, „den grenzenlosen Genuß der Liebenden“, der „Götter und Halbgötter“ auszeichnet.15 Konzeption und Abfassung der Legende sind nur vor einem veränderten biographischen Hintergrund zu verstehen: Goethes Interesse an Indien enthielt nämlich den entscheidenden Schub durch die Entdeckung der indischen Dichtung. Seit den 1780er Jahren waren es vor allem Engländer, die die SanskritPoesie vermittelten. Keiner von ihnen war erfolgreicher als William Jones, genannt „Oriental Jones“16, der 1788 eine englische Übersetzung des Dramas Shakuntala des Dichters Kalidasa aus dem späten 5. Jahrhundert „in seinen Gärten am Ganges“ geschaffen hatte. Der Weltreisende Georg Forster hatte Sacontala (so die englische Namensform in Vermeidung der anstößigen Silbe cunt)

|| 15 Zitate nach dem Aufsatz Indische [und chinesische] Dichtung[en] vom Herbst 1818, der in den Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Divan stehen sollte (HA 1953, 12). 16 Zu Jones vgl. Cannon 1990, Franklin 2011.

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1791 ins Deutsche übertragen.17 Das Echo war überwältigend – von Schiller über Wilhelm von Humboldt bis zu Beethoven und Schubert, die Opern danach planten, ohne sie auszuführen – von Letzterem gibt es immerhin ein umfangreicheres Fragment18. Goethe schrieb sogleich die begeisterten Verse: Will ich die Blumen des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Will ich was reizt und entzückt, will ich was sättigt und nährt, Will ich den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen, Nenn ich, Sakontala, dich, und so ist alles gesagt.19

Auf mehrere Aspekte hebt Goethe hier ab: Sakontala ist eine Blume, ein Werk der indischen Frühzeit, von dem die heutigen Leser den Nutzen haben. Es ist anziehend in seiner Erscheinung, gibt aber auch dem Geist Nahrung. Es umfasst nicht nur die Erde, sondern auch den Himmel, in dem die schließliche Vereinigung der Liebenden erst möglich wird. Goethes Lektüre brachte jedoch nicht nur Entzücken, sondern auch Früchte: Kalidasas Drama wirkt in seinem Faust nach. Das „Vorspiel auf dem Theater“ ist durch die entsprechende Eröffnungsszene des indischen Dramas angelegt, der „Segen eines Brahmen“ mit den Themen der Elemente, der Sphärenharmonie und den Gestirnen findet Aufnahme im „Prolog im Himmel“ (Mertens 2006). Der Schluss von Faust II, die Harmonie in der Transzendenz greift ebenfalls auf das „unergründliche Werk“ Kalidasas zurück, das Goethe im Jahr 1830, als er um die Vollendung seines Weltdramas rang, in der französischen Übersetzung von Antoine Léonard de Chézy wieder studiert hatte.20 1802 las er die deutsche Übersetzung der englischen Gita Govinda des „Oriental Jones“ durch Johann Friedrich Hugo (Fritz) von Dalberg, fand sie in ihrem Textverständnis, vor allem in ihrer Reduzierung der sinnlichen Momente unzulänglich und dachte daran, den Schluss nach der Fassung von Jones21 selbst zu übertragen22.

|| 17 Herder, der, wie Goethe, ein Exemplar von Forster übereignet erhielt, schrieb 1792 drei Briefe Ueber ein morgenländisches Drama: Zerstreute Blätter, 4. Sammlung, 263–312; zur 2. Auflage von Sacontala 1803 verfasste er ein langes Vorwort. 18 Einige Nummern hat er vertont, es gibt eine CD-Aufnahme unter Frieder Bernius. 19 Goethe zuerst am Ende eines Briefes an Friedrich Heinrich Jacobi 1791, dann unter Vermischte Epigramme (WA IV, 9, 279). 20 Goethe, WA III, 12, 283 und 288. 21 Jones (1792) hatte selbst eine bereits im Hinblick auf das englische Publikum entsexualisierte Fassung im Vorwort angekündigt, Dalberg war aber noch weiter gegangen. 22 Brief an Schiller vom 22. Januar 1802; vgl. Schiller 1988 (Nationalausgabe 39, I).

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Doch die größte Annäherung an Indisches vollzog Goethe in einem Gedicht, das motivlich auf einer in dem oben erwähnten Reisebericht Sonnerats referierten Erzählung beruht: die Paria-Trilogie von 1821 / 182323. Es handelt sich um eine aitiologische Legende, der Einsetzung einer Gottheit für die verachteten Parias. Der erzählende Mittelteil handelt von einer Brahmanenfrau, die in Gedanken untreu ist, von der blutigen Rache des Ehemanns mit dem Schwert am allgemeinen Hinrichtungsplatz und der Wiedererweckung der Getöteten durch das Aufsetzen des abgeschlagenen Hauptes auf den falschen Rumpf, so dass ein Mischwesen entsteht aus einer vorher hingerichteten Paria-Delinquentin und der edlen Brahmanin. Das Haupt weilt im Himmel, der Paria-Leib auf der Erde, wo die neue Göttin den Ausgestoßenen beisteht – so der versöhnliche Schluss. Doch ungelöst bleiben muss das Leid der Frau in ihrer Doppelnatur mit dem „weisen Wollen“ des Hauptes und dem „wilden Handeln“ des Körpers.24 Die von Goethe als Bilder verabscheuten Doppelwesen haben hier eine dichterische Gestalt gefunden, in der die Spannung von Transzendenz und Immanenz, die in Der Gott und die Bajadere im sexuellen Rausch überstiegen wird, hier von der Frau ausgehalten werden muss; so kann man das späte Gedicht als Kontrafaktur des frühen verstehen. Doch darüber hinaus darf man das „Mischwesen“ als Chiffre für den Dichter ansehen, der zwischen Göttlichem und Irdischem steht. Goethe hat Indisches hier fruchtbar gemacht für einen Aspekt der „großen Konfession“, als die er seine Dichtung einmal bezeichnete25. Zur indischen Poesie hatte Goethe durch Sakontala Zugang gefunden, sie gehörte zur „Weltliteratur“ – Religion und Kult aber, wie sie in den Reiseberichten aufschienen, lehnte er zeitlebens ab: „Die indischen Götzen sind mir ein Graus“, sagte er 1820.26 Und so will ich, ein für allemal, Keine Bestien in dem Götter-Saal! Die leidigen Elefanten-Rüssel, Das umgeschlungene Schlangen-Genüssel, Tief Ur-Schildkröt’ im Welten-Sumpf, Viel Königs-Köpf’ auf Einem Rumpf,

|| 23 Zu diesem Gedicht vgl. Meyer 1996 und die dort genannte Literatur. 24 Richard Wagner, der ein großer Goethe-Leser war und zwei vielbändige Ausgaben in seiner Bibliothek verwahrte, dürfte für seine Kundry Inspiration aus Goethes Doppelwesen bezogen haben. Carl Loewe hat die ‚Paria-Trilogie‘ als sechzehnminütiges Opus vertont, er kontrastiert die äußeren gebethaften Teile mit der psychologisch ausdeutenden Narration. 25 Dichtung und Wahrheit II, 7. HA 1953, 283. 26 Erscheinungsdatum der Zahmen Xenien II; hier zitiert nach Goethe, Sämtliche Gedichte II. FA 1987, 634.

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Die müssen uns zur Verzweiflung bringen, Wird sie nicht reiner Ost verschlingen.27

Der „reine Ost[en]“, das ist nicht indische Philosophie und Religion, sondern die Poesie, die von „Pfaffen und Fratzen“28 befreit. In Indien möcht’ ich selber leben, Hätt’ es nur keine Steinhauer gegeben. Was will man denn vergnüglicher wissen! Sakontala, Nala, die muss man küssen, Und Mega-Duhta, den Wolkengesandten, Wer schickt ihn nicht gerne zu Seelenverwandten.29

Drei Werke der indischen Poesie nennt Goethe hier: das früh geschätzte Drama um die unglücklich-glücklich liebende Sakontala, die Erzählung von König Nala,30 dessen Ehefrau sich als liebestreu erweist, selbst wenn ihr Mann sie verstößt, und Megha Duta, das Gedicht Kalidasas31, in dem ein, wegen einer Unbotmäßigkeit gegenüber dem Gott Cuvera, von seiner Ehefrau Getrennter eine Wolke in 728 hochpoetischen Versen beauftragt, eine Liebesbotschaft zu überbringen, was die erzürnte Gottheit bewegt, die beiden wieder zu vereinen. Alle drei Gedichte handeln von Liebesbeständigkeit, einer Botschaft für „Seelenverwandte“ – ein bedeutsames Wort in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809)32 für die innige Verbindung von Menschen mit entgegengesetzten Eigenschaften – hier bezogen auf die Beziehung zwischen der indischen und der abendländischen Dichtung. Nur dieser, nicht der bildenden Kunst – so|| 27 Ebd. 632 28 Ebd. 29 Ueber Kunst und Alterthum Bd. 3 (1821). In dem Aufsatz Indische [und chinesische] Dichtung(en) nimmt das hocherotische Gita Govinda den Platz von Nala ein, Goethe, MA 1992, 11.2, 246–248, hier 246. 30 Nala. Übersetzt von Johann Gottfried Kosegarten, gelesen im Juni 1820. 31 Goethe hatte 1817 / 1818 die von dem Sanskrittext und einem Kommentar begleitete englische Übersetzung von Horace Hayman Wilson (Calcutta 1814) gelesen, zudem eine Übersetzungsprobe, die Kosegarten für ihn verfertigt hatte. Auf die „Gottheit Camarupa“, die sich wie die Wolken stets wandelt (wearer of shapes at will V. 39), spielt er in dem 1820 entstandenen ersten Gedichtteil (V. 1–22) von Howard’s Ehrengedächtnis (Sämtliche Gedichte II. FA, 503–504) an. In der zweiten Strophe greift er – nicht mit den erwartbaren kritischen Tönen, sondern mit einem der Paria-Trilogie verwandten Verständnis - auf die wechselnden Gestalten der indischen Mythologie zurück: „Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant, / Kameles Hals, zum Drachen umgewandt“ (die Tiervergleiche entstammen teilweise dem indischen Gedicht). Goethe verfasste 1817 einen Aufsatz mit dem Titel Camarupa (WA III, 6, 146–150). 32 HA 1953, 6, 273.

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weit er sie kennen konnte – fühlte er sich verwandt, schon gar nicht mit der Religion und ihren Anhängern: die „leidigen hochmütig hässlichen Frömmlinge“, die er von den Illustrationen kannte, waren Goethe von Grund auf zuwider, nur die Apsaras, die indischen Engel, fand er liebenswürdig, weil er sie für die Geliebten der Götter hielt. Die Lektüren des Jahres 1817 / 1818 dienten weniger der Erweiterung seiner Erfahrungen mit Indischem als der Abrundung seiner auf den Westöstlichen Divan bezogenen orientalischen Kenntnisse, so die von Francis Buchanans On the Religion and Literature of the Burmas (1801) in den Asiatick Researches 6, ebenso wie Thomas Stanford Raffles’ History of Java (1817) im März dieses Jahres. Auch die „Fabeln des Bidpai“ (Kalila und Dimna, ursprünglich indisch, wie Goethe wohl wusste)33 fanden keinen eigentlichen Widerhall. Dass Goethe 1817 nach Übungen in der arabischen Schrift für eine optische Arabisierung der Divan-Ausgabe auch die Devanagari Schrift zu üben begann, blieb folgenlos.34 Auffällig bleibt, dass Goethe sich für die Jagd in Indien interessierte,35 die Editionen philosophischer Texte jedoch geradezu mied. Verständlich ist dies bei der lateinischen Ausgabe der Upanishaden, die als Wort-für-Wort-Übersetzung durch Abraham Hycinthe Anquetil Duperron (Oupnek’hat, 2 Bände, Straßburg 1801 / 1802) sehr schwer zu rezipieren war.36 Doch die auf der Lektüre von Sanskrit-Quellen beruhenden englischen Ausgaben des Bhagavad Gita durch Charles Wilkins (1785), eines Texts aus dem fünften bis zweiten vorchristlichen Jahrhundert, eine poetische Quintessenz der hinduistischen Religion, oder die Institutes of Hindu Law von William Jones (1796, deutsch von Johann Christian Hüttner, Die Gesetze des Manu, Weimar 1797) nahm er ebenso wenig zur Kenntnis wie Friedrich Schlegels Ueber die Sprache und Weisheit der Indier (1808), wo der Autor deutlich macht, dass die Poesie nicht ohne die Philosophie zu verstehen sei und die „Dunkelheit“ vor allem in letzterer der Eigenart der Sprache entspringe. Doch sie sei auch metaphysisch zu verstehen als Folge des Abfalls der Menschheit von Gott, durch die die ursprüngliche Offenbarung verdunkelt sei. Eine solche Rettung der indischen Philosophie war Goethes Sache nicht. Doch bei aller Antipathie gegen Schlegel37 – es gab andere Möglichkeiten: in || 33 Vermutlich die Ausgabe von Vollgraf (1803). 34 Goethe benutzte Wilkins’ Grammar of the Sanskrita Language (1808). Er wollte sich vermutlich dem hochgeschätzten Megha Duta durch die Ästhetik der Schrift annähern. Vgl. Bosse 1999, 817–836, dort auch der folgende Nachweis. 35 Thomas Williamsson. Oriental field sports: being a complete detailed and accurate description of the wild sports of the East. The drawings by Samuel Howett, 2 Bde., London 1808. 36 Schopenhauer hat sie ausgiebig studiert. 37 Man nimmt an, dass Schlegels Konversion zur katholischen Kirche ausschlaggebend war.

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Weimar hätte er vor allem durch den vielsprachigen Julius Klaproth und den Herderschüler Friedrich Majer weitergehende Anregungen finden können. Die Stadt war zu einem Zentrum der frühen Indologie geworden – in Klaproths Asiatischem Magazin von 1802 / 1803 hatte Majer eine deutsche Übersetzung der Bhagavad Gita veröffentlicht, die 1813 zum Ausgangspunkt von Arthur Schopenhauers Indienfaszination wurde. Goethe hingegen interessierte sich nicht für Religion und Philosophie des Subkontinents im Unterschied zum monotheistischen und bildlosen Islam. Ihn zog er der hinduistischen Vielgötterei vor, eine „einfache Gottesverehrung“ dem indischen „Götzendienste“. Herder hatte ihn schon 1770 / 1771 in Straßburg auf den Koran aufmerksam gemacht und Goethe aus der neuen deutschen Übersetzung von David Friedrich Megerlin (1772) Auszüge angefertigt, auch Teilübersetzungen einiger Suren nach der lateinischen Ausgabe von Ludovicus Marracius vorgenommen.38 Sein Interesse am Islam kulminierte im Westöstlichen Divan, auf den ich hier nicht eingehen kann. Im Umkreis dieser Dichtung maskiert sich Goethe gern als Muslim.39 Dass er während der Arbeit an diesem Projekt 1816 auch auf Indisches kam, ist eher als Absicherung seiner Präferenz, denn als Erweiterung des weltliterarischen Ansatzes zu verstehen. Seine Wertschätzung war eindeutig: Die Indische Lehre taugte von Haus aus nichts, so wie denn gegenwärtig ihre vielen tausend Götter, und zwar nicht etwa untergeordnete, sondern alle gleich mächtige Götter, die Zufälligkeiten des Lebens nur noch mehr verwirren, den Unsinn jeder Leidenschaft fördern und die Verrücktheit des Lasters, als die höchste Stufe der Heiligkeit und Seligkeit, begünstigen.40

Diese Aussagen ärgerten vor allem August Wilhelm Schlegel, den ersten, der in Deutschland Indologie – in Bonn – lehrte: in seiner Zeitschrift Indische Bibliothek, wo er fast der einzige Beiträger war, kritisierte er den Dichterfürsten, den „neuen Zeloten Allahs und seines Propheten“: „Auch unter uns hat neuerdings ein Mann von größtem Ansehen einen harten Bann über die indische Götterlehre ausgesprochen [...]. Indessen Brama und die übrigen mögen die Sache selbst führen, indem sie in ihrer wahren Gestalt selbst auftreten“ (Schlegel 1823, 36). Mit der „wahren Gestalt“ meint er allerdings nicht die Götterbilder, sondern die

|| 38 Er benutzte die Wiederausgabe von Reineck (Reineccius 1721). 39 Vgl. zu diesem Komplex die Textsammlung von Simm (2000, 270–286). Dazu den sehr knappen Artikel von Mommsen 1998. Es sei nicht bestritten, dass Goethe im Islam Verwandtes fand; wenn ich von „Maske“ spreche, so meine ich seine Inszenierung v. a. im Divan. Vgl. Auerochs 2003. 40 Goethe, Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan. MA 1992, 11.1.2, 154.

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heiligen alten Schriften, eben die, die Goethe mit Nichtbeachtung gestraft hatte. Mit der Indomanie der Romantik (Mertens 2007) begann ein neues Kapitel, in dem ein über Goethes rein „weltliterarische“ Rezeption hinausgehender Kulturtransfer auf der Tagesordnung stand. Goethe hat sich Indisches auf drei Ebenen angeeignet: auf der stofflichen (wie Der Gott und die Bajadere, die Paria-Trilogie), auf der poetologischen (wie Kalidasas Shakuntala in ihrer Auswirkung auf Faust I und II) und auf der philosophischen, wie ebenfalls der Paria-Trilogie, wo die indische Konzeption des Mischwesens fruchtbar gemacht wird. Sein Verhältnis zum Indischen ist, was die Poesie betrifft, von dem Konzept der „Ähnlichkeit“ bestimmt,41 wie es Anil Bhatti als Gegenentwurf zum gängigen Orientalisierungsvorwurf entwickelt hat. Philosophie und Religion empfand er hingegen als ‚das Andere‘, zu dem er – mit der einen poetisch herausragenden Ausnahme – keinen Zugang suchte und fand. Dieses Beispiel besagt, dass ein Kulturtransfer42 nicht die Akzeptanz, ja, nicht einmal die Beschäftigung mit allen wichtigen Aspekten der fremden Kultur zur Voraussetzung hat, um die eigene bereichern zu können. Goethes Praxis der „Weltliteratur“ ist vielfältig,43 sie läuft nicht nach einem Programm ab. Sie umfasst nicht die Aufgabe des Eigenen, ganz im Gegenteil – um es mit den Worten Goethes über das Mittelalter zu sagen: „Denn ob man gleich eine vergangene Vorstellungsweise weder zurückrufen kann noch soll, so ist es doch löblich, sich historisch praktisch an ihr zu üben und durch neuere Kunst das Andenken einer älteren aufzufrischen, damit man, ihre Verdienste erkennend, sich dann umso lieber zu freieren Regionen erhebe.“44 Man muss hier nur die zeitliche Distanz durch die örtliche ersetzen, dann kann man das auch über Goethes produktiven Umgang mit Indischem sagen.

|| 41 Vgl. auch das Zitat aus den bereits angeführten Noten und Abhandlungen: „Von den Himalaya-Gebirgen herab sind uns die Ländereyen zu beiden Seiten des Indus, die bisher noch mährchenhaft genug geblieben, klar, mit der übrigen Welt im Zusammenhang erschienen. […] und so öffnet sich den jüngeren Freunden des Orients eine Pforte nach der anderen, um die Geheimnisse jener Urwelt, die Mängel einer seltsamen Verfassung und unglücklichen Religion, so wie die Herrlichkeit der Poesie kennen zu lernen […]“. Goethe (MA, Band 11,1.2, 252). 42 Das Konzept wurde entwickelt von Espagne / Werner 1988. Für das deutsche Mittelalter ausprobiert wurde es auf dem Kolloquium 1995 in Paris (Kasten / Paravicini / Pérennec 1998). 43 Seine Äußerungen zur „Weltliteratur“ beziehen sich zumeist auf den europäischen Kulturraum, seine Praxis zeigt eine weite Dimension. Vgl. die Beiträge in: Manger 2003 (vor allem die von Fink (173–226) und Boose (189–196). 44 Ich benutze die Gelegenheit, mit dem Zitat auf Haustein (1990, 178) zu verweisen.

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Literaturverzeichnis Texte Arthus, M. Gothart. Historia Indiae Orientalis […], Köln: W. Lutzenkirchen 1608. Dapper, O[lfert]. Asia. Oder: ausführliche Beschreibung des Reiches des großen Mogols […übersetzt] durch Johann Christoph Beern. Nürnberg: Johann Hoffmann 1681. Goethe, Johann Wolfgang. Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: Böhlau, 1889–1918. [WA = Weimarer Ausgabe] Goethe, Johann Wolfgang. Dichtung und Wahrheit. Goethes Werke. Band 9. Hamburg: Christian Wegner, 1953. [HA = Hamburger Ausgabe] Goethe, Johann Wolfgang. Sämtliche Gedichte. 2 Bde. Karl Eibl (Hg.). Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1987. [FA = Frankfurter Ausgabe] Goethe, Johann Wolfgang. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. München/Wien: Hanser, 1992 [MA = Münchner Ausgabe]. Haustein, Jens (Hg.). Goethe über das Mittelalter, Frankfurt: Insel, 1990. Herder, Johann Gottfried. Zerstreute Blätter. 4. Sammlung. Gotha: Ettinger, 1792. Loewe, Carl. Gesamtausgabe der Legenden, Lieder und Gesänge Bd. 9. Goethe Vertonungen. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1901. Jones, William. Gitagovinda. Calcutta: Transactions of the Asiatic Society, 1792. Marracius, Lodovicus. Alcorani textus universus […] ex Arabico idiomate in Latinum translatus […]. Padova: Typographia Seminarii, 1698. Nala. Eine indische Dichtung von Wjasa. Aus dem Sanskrit […] übersetzt […] von Johann Gottfried Kosegarten. Jena: Frommann, 1820. Reineccius [Reineck], Christian. Muhammedis filii Abdullae pseudoprophetae fides Islamitica. i. e. Al Coranus […]. Leipzig: Lankisch, 1721. Schiller, Friedrich. Werke. Nationalausgabe Bd. 39, 1. Briefwechsel. Briefe an Schiller. Weimar: Böhlau Nachf, 1988. Schlegel, August Wilhelm. Indische Bibliothek Band 1, 1. Bonn: Weber, 1823. Simm, Hans Joachim (Hg.). Goethe und die Religion. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel, 2000. Sonnerat, Pierre. Reise nach Ostindien und China auf Befehl des Königs unternommen vom Jahr 1774–1781. Zürich: Orell, Geßner, Füßli 1783. Vollgraf, Johann Conrad (Übers.). Betragen der Großen und Kleinen, wie es seyn sollte oder die Fabeln des Weltweisen Pilpai [= Bidpai]. Eisenach: Wittekind, 1803. Wilkins, Charles. Grammar of the Sanskrita Language, London: W. Bulmer & Co., 1808.

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„Weltliteratur“ – Indisches bei Goethe | 329

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Christian Kiening, Zürich

Übertragungen zwischen Alter und Neuer Welt Der Kolumbusbrief und seine Versionen

1 Am 4. März 1493 fuhr eine mittelgroße Karavelle, vielleicht etwa 15 Meter lang und mit drei oder vier Masten ausgestattet, in die Bucht des Tejo bei Lissabon ein. Ein aufsehenerregendes Ereignis: Das Schiff, das unter der Flagge von Kastilien-León segelte, repräsentierte eben jenes Königreich, das in diesen Jahren Portugal seinen Status als Weltmacht streitig zu machen begann. Und es trug deutlich die Spuren einer bewegten Fahrt an sich: Ausbesserungen waren sichtbar, die Hauptsegel hingen in Fetzen. Als sich herumsprach, die Karavelle komme aus Las Indias und habe indios an Bord, entstand ein regelrechter Menschenauflauf. Der Befehlshaber des Schiffs, Cristobal Colón, war damit beschäftigt, Briefe zu schreiben: an den König von Portugal, um den eigenen Rechtsanspruch auf Einfahrt in das portugiesische Hoheitsgebiet zu begründen, an die Könige von Spanien, um ihnen die Ergebnisse der gerade zu Ende gehenden Fahrt mitzuteilen. Nach einem kleinen diplomatischen Gerangel mit Bartolomeo Dias wurde Colón vom portugiesischen König freundlich empfangen. Eine Woche später konnte er in den Hafen des spanischen Palos zurückkehren, von wo seine Schiffe sieben Monate zuvor ausgefahren waren. So spektakulär die Rückkehr auf die iberische Halbinsel war, so prekär war sie auch: Die Fahrt hatte zwar gezeigt, man konnte nach Westen, über den Atlantik segeln und dabei auf Land stoßen. Sie warf aber auch Fragen auf: Um welches Land, welche Länder handelt es sich? Welche Menschen und welche Ressourcen finden sich dort? Wie schiffbar ist die neue Route tatsächlich? Und: wie erfolgreich war das Unternehmen? Heftige Unwetter hatten die Karavellen in Not gebracht und in Mitleidenschaft gezogen. Mehrfach waren Gefahren für Leib und Leben zu überstehen gewesen. Es hatte in Frage gestanden, ob von der ganzen Westfahrt überhaupt eine Spur zurück nach Europa dringen würde. Für Colón war dies offensichtlich eine zentrale Sorge. Gemäß dem auf der Fahrt verfassten, aber nur durch Nachschriften erhaltenen Bordbuch notierte er sich unter dem Datum des 14. Februar, als man bereits auf der Rückfahrt war: Er habe inmitten eines lebensbedrohenden Sturms in einem an die spanischen

DOI 10.1515/9783110556438-024

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Könige gerichteten Schreiben auf Pergamentblättern die wesentlichen Daten und Ergebnisse der Reise festgehalten, diese Blätter versiegelt, mit einer Notiz versehen (die dem Finder und Überbringer tausend Dukaten versprach), in ein Stück Wachsleinwand gehüllt und in ein Fass gelegt, das er dem Meer übergab; der Mannschaft gegenüber, die nichts von einem Schriftstück wusste, habe er die Aktion als religiöse Handlung dargestellt. Das Szenario bezeugt einen kalkulierten Umgang mit den Unbilden der Natur, aber auch mit den Bedingungen der Kommunikation – was den Schluss nahelegt, die berühmte Westfahrt von 1492 / 1493 besitze ihre Bedeutung weniger in faktischer als in kommunikations- und mediengeschichtlicher Hinsicht. Der tatsächliche Erfolg hielt sich ja in Grenzen: Einige Inseln waren entdeckt und benannt, Kontakte zu Indigenen geknüpft, erste Siedlungsunternehmen in Angriff genommen worden. Ein Festland hatte man aber nicht erreicht, auf größere Städte und ökonomisch stärker entwickelte Kulturen war man nicht gestoßen, China, Kathay, das Land des Großen Khans hatte sich nicht gezeigt. Was bleibt, sind Erwartungen, die durch Texte genährt werden können, durch Schriftstücke, die als Umschaltstellen ebenso zwischen Erreichtem und NichtErreichtem fungieren wie zwischen Vergangenem und Zukünftigem.

2 Colóns Fässerpost hat, wie es scheint, keine Küste und keine Leser erreicht. Doch scheint der Admiral schon am Tag nach seinem Verzweiflungsschreiben, als der Sturm im Abflauen war und man sich schon auf 20 Seemeilen der portugiesischen Küste genähert hatte, einen weiteren Brief und, als er auf Lissabon zuhielt, noch mehrere Schreiben verfasst zu haben – die er nun nicht dem Meer anvertrauen musste, sondern auf konventionellem Wege, zunächst per Schiff und dann über Land, transportieren lassen konnte. So will es zumindest scheinen, hält man sich an den spanischen Text, der im Exemplar einer Inkunabel und in einer handschriftlichen Fassung, weitgehend mit dem gedruckten Text übereinstimmend, aber einige Abschreibfehler aufweisend, überliefert ist (Willingham 2015). Während die Handschrift sich nur ungefähr auf die Zeit um 1500 datieren lässt, ist der Druck mit Sicherheit spätestens Anfang April 1493 erschienen (vielleicht in Barcelona in der Offizin von Pere Posa) – wurde von ihm doch schon wenige Wochen später eine lateinische Übersetzung veröffentlicht. Das Schreiben selbst, das der spanische Druck wiedergibt, ist datiert auf den 15. Februar und lokalisiert enla calauera sobre las yslas de canaria. Aus dem Bordbuch geht

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hervor: Colón glaubte, während die Mannschaft sich schon vor der Küste Kastiliens wähnte, er befinde sich in den Gewässern der Azoren. Dass im gedruckten Brief stattdessen die Kanaren genannt werden, hat wohl politische Gründe (Ife 1992): Sie stellten zu diesem Zeitpunkt Spaniens einzigen Besitz im Atlantik dar, und so ließ sich einerseits der Eindruck vermeiden, Colón habe sich in portugiesischem Hoheitsgebiet aufgehalten, andererseits der spanische Anspruch auf die neuentdeckten Inseln unterstreichen. Auch sonst erweisen sich die Angaben, die im Druck gemacht werden, als wohlkalkuliert. Offensichtlich handelt es sich um keinen Text, der in höchster Gefahr auf wildbewegter See verfasst wurde. Vielmehr wird eine recht systematische Übersicht gegeben über die Begegnungen mit der Inselwelt der Bahamas und die Verheißungen, die sich damit verbinden. Medial gesehen ein Hybrid: Ohne Titelblatt und Titel versehen, eingangs nur einen ungenannten Señor ansprechend, im Verlauf des Textes aber auf Anreden verzichtend, kombiniert der Druck die private Kommunikationsform des Briefes mit der öffentlichen eines Reiseberichts. Das zeigt sich am Deutlichsten am Ende: Paratexte, dort, wo etwa das Kolophon des Druckers zu erwarten wäre, beziehen sich auf die Entstehungs- und Überlieferungssituation. Zunächst wird ein nach Fertigstellung und Verschluss des Briefes hinzugefügtes Blatt mitgeteilt (Anima que venia dentro en la Carta). Darin berichtet Colón, er sei nach der Niederschrift des vorliegenden Briefes (Despues desta escripto) auf dem Meer abgetrieben worden, habe aber „heute“, „am 14. März“, Lissabon erreicht und beschlossen, einen Brief an die spanischen Könige zu schreiben; eine Kurzzusammenfassung der Überfahrten folgt. Sodann präzisiert ein weiterer Paratext den Adressaten und die Übermittlungssituation: „Diesen Brief schickte Colón an den königlichen Finanzverwalter über die in Ostasien gefundenen Inseln, eingelegt in den anderen an Ihre königlichen Hoheiten“ (ESTA Carta en bio Colom Alescriuano Deracion Delas Islas Halladas en Las Indias: Contenida A Otra De Sus Altezas). Auf diese Weise verknüpft der Druck spezifische wie unspezifische Adressierungen, vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsbezogene Aspekte. Er gibt sich einerseits als authentische Wiedergabe eines noch vor der Rückkehr geschriebenen, mit seinem Gegenstand metonymisch verbundenen brieflichen Dokuments. Andererseits erscheint er als Ausdruck des politischen und kommunikativen Netzwerkes, an dem dieses Dokument teilhat – mit dem escriuano de racion ist wohl der Verwalter der königlichen Privatschatulle, Luis de Santángel, gemeint, der Colóns Unternehmen maßgeblich unterstützt hatte (spätere Drucke nennen stattdessen den königlichen Schatzmeister Gabriel Sánchez).

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Auch die Strategien im Text sind von subtiler Vielschichtigkeit: Colón nimmt nicht nur eine subjektive Selektion aus den tatsächlichen Ereignissen vor (er verschweigt Niederlagen und Schwierigkeiten, betont dagegen Gewinne und Aussichten). Er operiert auch mit beweglichen Subjektpositionen, die es erlauben, einerseits Demut und Untertänigkeit an den Tag zu legen, andererseits die eigene Erwählung zu betonen, Hoffnungen zu wecken und Forderungen zu stellen. Damit einher geht vermutlich eine diversifizierende Kommunikationsstrategie: Nimmt man die Aussage ernst, dass Colón einen Brief an die spanischen Könige geschrieben habe, und ist man geneigt, diesen Brief mit einem aus einer erst kürzlich bekannt gewordenen handschriftlichen Sammlung von Colón-Briefen zu identifizieren (Libro Copiador, geschrieben eventuell im ausgehenden 16. oder im 17. Jahrhundert), so erhält man einen Einblick in die Verteilung von Informationen. Dieser Brief nämlich, entstanden am 4. März 1493 en la mar de España, stimmt zwar inhaltlich, was die Reise durch die Bahamas, die Art der neuentdeckten Inseln, die Indigenen etc. betrifft, weitgehend mit den gedruckten Text überein. Unübersehbar ist aber, dass jener eine stärkere Binnenkohärenz aufweist, während die handschriftliche Version Informationen bietet, die nicht an die breite Öffentlichkeit gelangen sollten: die Möglichkeit eines günstigen Tauschhandels mit den unwissenden Indigenen, der Verrat von Pinzón, das Zurücklassen der Santa María, der Vorteil von kleineren Schiffen, das Ziel einer Rückeroberung Jerusalems, der Schwebezustand zwischen den Schätzen, die gefunden, und denjenigen, die noch zu finden seien. Breit ausgemalt ist Colóns eigener Einsatz für die Sache, und dementsprechend deutlich sind seine Forderungen an die Krone: eine angemessene Honorierung der eigenen Leistung, ein Kardinalsamt für seinen Sohn, eine Erhebung seines Freundes Pedro de Villacorta zum Finanzverwalter von las Indias. Es ist kaum zu entscheiden, welcher der beiden Texte früher entstand und ob die gedruckte Version der ursprünglich handschriftlichen entspricht oder eine Überarbeitung darstellt (Zamora 1993, 9–20; Henige 1994). In jedem Fall stehen die Texte in einem Ergänzungsverhältnis zueinander. Beide zielen darauf, eine nur mäßig erfolgreiche Aktion als erfolgreich erscheinen zu lassen. Beide versuchen, den Eindruck einer sensationellen Entdeckung zu erwecken. Und beide beziehen sich sowohl auf das Erreichte (die Vergangenheit) als auch auf das noch zu Erreichende (die Zukunft): Einerseits geschrieben en la calauera oder en la mar, also noch die Gefahren der Fahrt an sich tragend, andererseits schon von der erfolgreichen Rückkehr gezeichnet, sind sie eingebunden in die zirkuläre Struktur von Aufbruch und Rückkehr. Sie haben metonymischen Charakter: Sie stehen für die Territorien, die die Könige beanspruchen, und für die Leistung, die der Admiral im Dienst der Krone vollbracht hat. Gleichzeitig ver-

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wenden sie metaphorische Operationen: Die neu entdeckten Inseln als paradiesisch oder auch teuflisch charakterisierend nehmen sie semantische Besetzungen vor, die dazu dienen, eine je andere Balance aus Leistungsausweisen, Erwartungen, Versprechungen und Forderungen zu nähren – einmal mehr auf die spezifischen Gegebenheiten des spanischen Imperiums, einmal mehr auf das allgemeine Interesse an neuen Entdeckungen und sensationellen Ereignissen bezogen.

3 Colóns Brief an den ungenannten Señor hätte kaum eine über den Hof hinausreichende Wirkung entfaltet, wäre er nicht im Druck erschienen und wäre diese kastilische Druckversion nicht in kürzester Zeit ins Lateinische übersetzt und ihrerseits (zuerst in Rom bei Stephan Plannck) gedruckt worden. Damit konnte der Text in die europäische Gelehrtenwelt eindringen – allerdings um den Preis einer erheblichen Assimilation an deren Gepflogenheiten. Aliander (oder Leandro) de Cosco, der den Text im April 1493 übersetzte, unternahm es nicht nur, allerhand Details, die in der Vorlage unklar schienen, nach eigenem Gusto zu modifizieren. Er suchte auch, durch Einspielung von Vergilzitaten etwa, der Darstellung einen hohen Ton zu verleihen, ihr den Anstrich klassisch-humanistischer Latinität zu geben. Das Moment des Staunenswerten, das die spanischen Texte durchzieht, tritt in den Hintergrund – vom Wunderbaren ist kaum mehr die Rede (Dudy Bjork 2005). Der Text wird zu einer Form persönlicher Geschichtsschreibung. Er gibt die gesta des Admirals wieder. Er erscheint, wie besonders die neuen Paratexte ausweisen, als Panegyrikos auf den Admiral und seinen König: Gleich eingangs wird Colón als derjenige erwähnt, dem „unser Zeitalter viel verdankt“ (cui etas nostra multum debet), und Ferdinand, der „unbesiegbarste König“, als derjenige, der die Kosten des Unternehmens trug. Es fallen aber auch die Namen des Übersetzers und des Papstes – ein basales Netzwerk politischer, religiöser und medialer Instanzen zeichnet sich ab. Am Ende richtet sich ein Epigramm des Bischofs von Monte Peloso direkt an den spanischen König und verbindet den Ruhm Spaniens und den des Entdeckers der neuen Länder mit dem Preis Gottes, der all dies gewährt habe. Die Dimension des Sensationellen und Neuartigen, verbunden mit dem Hauch hoher Politik, bildete die Basis für die publizistische Erfolgsgeschichte des Kolumbusbriefs und lässt diesen geradezu als Paradigma unzähliger weiterer Briefe und Berichte aus Übersee erscheinen. Genau betrachtet gilt dieser paradigmatische Charakter aber nicht nur für die Wirkung des Textes, sondern

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auch für die ihr innewohnenden Verschiebungen und Grenzen. Im Grunde beschränkt sich nämlich die Phase des intensivsten Interesses am Kolumbusbrief auf das Jahr 1493: Zwei Nachdrucke erscheinen in Rom, zwei (oder drei) in Paris, je einer in Antwerpen und Basel; eine schon im Juni publizierte Versbearbeitung durch den Florentiner Dichter Guiliano Dati erlebt im Oktober eine weitere Auflage. Diese Ausgaben setzen fort, was schon in der lateinischen Übersetzung angelegt ist: eine Entfernung des Textes vom Entdecker / Autor und eine Verstärkung bestimmter medialer Dimensionen und thematischer Akzente (Herkenhoff 1996, 255–276). Teilweise mit Titelblättern, Überschriften oder Kolophonen versehen, geben die Drucke dem Text einen mehr buchförmigen Charakter. Gleichzeitig lassen sie die Figur Colóns in den Hintergrund treten. Datis italienische Bearbeitung in 58 achtzeiligen Oktosyllaben kleidet das Ereignis der Westfahrt in das Gewand eines klassischen Epos, das zunächst die antike und zeitgenössische Geschichte aufrollt und erst mit Strophe 24 auf den Text des originalen Briefes einschwenkt. Guy Marchant (Paris) betont durch einen Holzschnitt, auf dem ein Engel den Hirten den Weg weist, die christliche Dimension; Jakob Wolff oder Johann Bergmann (Basel) stellen durch acht Holzschnitte, von denen die Wappen von Kastilien und León sowie das Bild von König Ferdinand und das Wappen von Granada den Rahmen bilden, den politischen Aspekt heraus. Zwischen 1493 und 1497 wird der Kolumbusbrief noch gelegentlich gedruckt: einmal die spanische Version, dreimal die italienische Bearbeitung. Einem Basler Druck von Carolus Verardus’ Historia Baetica (1494), die die Rückeroberung Granadas durch Ferdinand feiert, wird der Brief, nunmehr in humanistischer Antiqua gesetzt, als Anhang beigegeben. Eine deutsche Übersetzung (Straßburg 1497), die sich auf den lateinischen wie den spanischen Text bezieht, verweist in einem Zusatz auf Ptolemäus und stellt so den Anschluss an den klassischen geographischen Wissenskanon her.

4 Die Möglichkeiten des Buchdrucks erlaubten es Colón zwar, mit seinen ,Taten‘ rasche und weite Resonanz zu finden. Sie führten aber auch dazu, dass der von ihm angestoßene Diskurs sich verselbständigte. Dabei verlor sogar der Diskursbegründer seine Stellung. Colón, der sich selbst in die Nähe eines Messias gerückt hatte, auserwählt das Christentum nach Übersee zu bringen, und der sich als einen tatsächlichen christoferens verstanden hatte, veröffentlichte keine wieteren Texte. Die zweite Reise, im Herbst 1493 mit 17 Schiffen angetreten, brachte kaum die gewünschten Erfolge; das Siedlungsprojekt auf Hispaniola erwies sich

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als schwierig; die Versklavung von Einheimischen erregte den Missmut der Könige. Die Schriftstücke, die in diesem Zusammenhang entstanden, sind von den politischen und diplomatischen Auseinandersetzungen geprägt. Zusammenfassende Berichte von den Reisen und Begegnungen lieferten andere – eben das, was Colón schon mit seinen vehementen Schreibaktivitäten bei der ersten Reise vermeiden wollte. Auf seiner dritten Reise dann (1498–1500) wurde er sogar im Auftrag der Krone gefangengenommen und in Ketten nach Spanien zurückgebracht. Die weitere Reise, die man ihm zugestand, unternahm er nicht mehr als Vizekönig, sondern nur mehr als Admiral. In testamentarischen Verfügungen versuchte er, Besitztümer, Titel und Ansprüche innerhalb der Familie zu transferieren. Zur gleichen Zeit erschien in Florenz aber auch schon eine italienische Ausgabe von Amerigo Vespuccis Bericht über seine vier Reisen (Lettera delle isole nuouamente trouate) – mit dem seitenverkehrten Titelholzschnitt der DatiVersion des Kolumbusbriefes. Derjenige, der selbst wohl nie vier Reisen unternommen hat, wird in der Folgezeit mit seinem Namen die neue Geographie der Welt und mit seinen Beschreibungen von sensationellen Begegnungen mit kannibalischen Eingeborenen die europäische Imagination bestimmen.

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Register Ina Spetzke (Freie Universität Berlin) Das Register enthält Sachbegriffe, die Namen von Personen und Werken (kursiv), die unter ihrem Urheber ausgewiesen sind. Falls der Urheber unbekannt ist, sind die Werke direkt unter ihrem Titel zu finden. Auf die Aufnahme der beiden Leitbegriffe Transkulturalität und Translation sowie deren Unterbegriffe wird in diesem Register verzichtet. Da sowohl deutsch- als auch englischsprachige Beiträge in diesem Sammelband vertreten sind, der überwiegende Teil aber in deutscher Sprache verfasst ist, werden im Register fast ausschließlich deutsche Begriffe aufgenommen. Englische Termini werden dabei unter den deutschen angegeben (z. B. engl. ‚Europe‘ unter dt. ‚Europa‘; engl. ‚foreign language‘ unter dt. ‚Fremdsprache‘). Aesopus 263, 267 Afrika 26, 74, 171, 235 – afrikanische Völker 86 – Nordafrika 24 Alexander der Große 7, 272, 88ff., 93, 95f., 102 – Alexanderlegende, syrische 6, 88f. – Alexanderromane und -stoffe 85, 88, 92, 94, 101ff., 105ff., 111 Aliscans 7, 111ff., 123ff. Allegorie / allegorisch 51, 56, 60, 87, 164, 282, 311, 313 Alterität 2ff., 49, 101, 104f., 128, 260 Ambiguität / Ambiguisierung 247 Amerigo Vespucci (1451 ?–1512) 337 Andachtsbuch Siehe Buch Anerkennung 8, 117f., 145ff., 155f. Antichrist 95ff. Antikenromane 244, 250 Apokalypse / apokalyptisch 86, 88, 90f., 94f., 97, 314 Aristoteles 104, 106f., 112, 217, 304 Artifizialität 33 Asien 102, 171 – Kleinasien 24 – Ostasien 333 Askese 163, 170, 172 Assimilation 335 Ästhetik 5, 29, 40ff., 324 – Medienästhetik 101

Auber, Daniel François Esprit (1782–1871) 319 Augustinus 74 Ausgrenzung Siehe Grenze Ausschluss Siehe Inklusion – Exklusion Avianus 263 Babrius 263 Bachtin, Michail (1895–1975) 32, 49, 128 Barriere Siehe Grenze Barthélemy van Eyck (um 1420 – um 1470) 163 Beethoven, Ludwig van (1770–1827) 321 Beichtspiegel 294 Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) 263 Berol / Béroul (um 1160) 161, 167, 284 Bibel 6, 77, 167, 219, 225, 236, 296 – Ezechiel 86f. – Genesis 74, 86, 220 – Johannesoffenbarung 85, 87, 95 Bild und Text 305f. Bildlichkeit 35, 40 – Bildsprung 41 Bildsprache Siehe Sprache bilingual Siehe Mehrsprachigkeit Blok, Alexander (1873–1928) 306 Boccaccio, Giovanni (1313–1375) 13f., 277ff., 284ff. – De casibus virorum illustrum 279 – De claris mulieribus 279 – Dekameron 278

340 | Register

– Fiammetta 13, 277, 279, 281f., 284f., 288 – Filostrato 164 – Teseida 164 Bonaventura (1221–1274) 266, 294 Book of Kells 271 Brahmanen Siehe Hinduismus Brant, Sebastian (1457/1458–1521) 295ff. – Das Narrenschiff 295 Brentano, Sophie (1776–1800) 284, 288 Brief 6, 15, 54, 93, 106f., 161, 277, 321, 331ff. Brücke 10, 30, 217, 235 – Brückenbau 11, 235, 240 – geographische 131 – Grenzüberbrückung 130, 219, 226 – Grenzüberschreitung 2ff., 71f., 130ff., 142, 222, 260, 298 – sprachliche 11, 217, 219, 222, 224ff., 228, 231 Brückensprache Siehe Sprache Buch – Andachtsbuch 294, 302 – Fabelbücher 267, 271 – Gebetbuch 14, 293ff., 298 – Picaroroman 172 – Roman 161, 163ff. – Tierbücher 263, 273 Buchdruck 302, 336 Castiglione, Baldassare (1478-1529) 281 – Cortegiano 281, 283 Chanson de Roland 12, 125, 244ff. Chansons de geste 244, 250 Charlemagne Siehe Karl der Große (historisch; 747–814) China 79, 332 Chrétien de Troyes (um 1140 – um 1190) 161, 168 – Perceval ou Le Conte du Graal 161 – Yvain 165 Christentum 6f., 9, 15f., 21, 43, 73ff., 81, 85, 87, 90f., 93ff., 113, 127, 161, 169, 172f., 183, 219ff., 224, 265, 267ff., 272, 285, 306, 319f., 336 Christianisierung 73 Christine de Pizan (1364 – nach 1429) 5, 49ff., 58ff. – Avision 50, 52, 56f.

– Ditié de Jehanne d'Arc 62 – Handschrift der Königin 56 – Le Livre de la Mutacion de Fortune 51, 58 – Der Sendbrief vom Liebesgott / Epistre au Dieu d'Amours 54 – Stadt der Fraue / Le Livre de la Cité des Dames 49, 60ff. Christoph Kolumbus / Cristobal Colón (um 1450 – 1506) 15, 331ff. – Kolumbusbrief 15, 331, 335ff. Chronotopos 128 Cielo (Ciullo) d’Alcamo (um 1200) 23 Dante, Alighieri (1265–1321) 23, 278 – Vita Nuova 278 Darwin, Charles Robert (1809–1882) 221 Dietrichepik/-dichtungen 12, 244, 248f. – Dietrichs Flucht 245 – Dietrich-Testimonien 246, 249 Diversität 4, 29, 32ff., 36, 38ff., 42f., 127, 213, 218, 273 Draesner, Ulrike (*1962) 10, 191, 193ff., 201 – Nibelungen. Heimsuchung 10, 193, 195 Dyaloghus Vite et Mortis Siehe Ghotan, Bartholomäus Echoraum Siehe Raum Eco, Umberto (1932–2016) 229 Edda 10, 181, 197, 318 – Ältere 181, 187 – Jüngere 181f., 185, 188 Eilhart von Oberg(e) (um 1150) 161, 284 – Tristrant 284 Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (1395– 1456) 253f., 257 – Herpin 257 – Huge Schepel 257 – Loher und Maller 257 – Sibille 253, 257ff. Endzeitvision 87 Esperanto Siehe Sprache Europa 2, 4, 15, 21, 24ff., 29f., 71, 75, 102, 111, 124, 171, 213, 218f., 226, 231, 235f., 239, 331 Exemplum / exempla 61, 263, 273 Ezechiel Siehe Bibel

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Fabelbücher Siehe Buch Ferdinand de Saussure (1857–1913) 228 Ferdinand II. (Aragón) (1452–1516) 335f. Ferdinand II. (HRR) (1578–1637 282 Ferdinand II. von Tirol und Erzherzog von Österreich (1529–1595) 281 Ferner Osten 6f., 78 Fiktionalität 33 Flaubert, Gustave (1821–1880) 161 – La Tentation de Saint Antoine 161 Flavius Josephus 75, 88 – Antiquitates Judaicae 88 – Contra Apionem 88 – De Bello Judaico 88 Fremde / Fremdheit / Fremdling 2, 15, 21, 71, 75f., 79ff., 102ff., 147, 191, 237, 239, 244, 257, 303, 326 Fremdsprache / Fremdsprachenerwerb / Frem dsprachlichkeit Siehe Sprache Freundschaft 118, 147ff., 153, 156, 257 Friedrich I. Barbarossa (1122–1190) 21 Friedrich II. (1194–1250) 4, 21ff., 220 Gabentausch Siehe Ritual / -isiert Gebetbuch Siehe Buch gefallene Engel Siehe Mythen Gender 1, 4f., 14, 35f., 40, 42, 51, 53f., 57ff., 64, 74, 129, 132, 139, 142, 260f., 301, 304, 306ff. Genese Siehe Ursprung Genesis Siehe Bibel Geschlecht Siehe Gender Gesta Romanorum 13, 253ff. Gewalt 72, 114, 116, 118ff., 123, 141, 153f., 166, 191, 195f., 243, 247, 249, 257, 284 Ghotan, Bartholomäus (? – um 1496) 302f., 305, 308, 310, 312 – Dyaloghus Vite et Mortis / Zwiegespräch zwischen Leben und Tod 302ff., 311 Giacomo da Lentini (um 1210 – 1260) 23 Giovanni (di) Fidanza Siehe Bonaventura Glaubensvermittlung Siehe Vermittlung GLITEMA = German Literatur in the European Middle Ages, Erasmus Mundus 12, 25f., 49, 71, 239f. Globalisierung 1f., 29, 43, 227 ‚glokal‘ 7, 111f., 124

Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 15, 23, 224, 317ff. – Der Gott und die Bajadere 319, 322, 326 – Dichtung und Wahrheit 318, 322 – Die Braut von Korinth 319f. – Die Leiden des jungen Werthers 318 – Die Wahlverwandtschaften 15, 319, 323 – Faust I und II 15, 321, 326 – Indische Legende 319f. – Paria-Trilogie 322f., 326 – Westöstlicher Divan 15, 320, 324f. – Xenien 224 Gog und Magog 6, 85ff., 91ff. Gorki, Maxim (1868–1936) 306 – Das Mädchen und der Tod 311 Gott / Götter 6, 9ff., 74, 79, 86ff., 95, 135, 138, 147, 166, 172, 174, 176, 181, 183f., 188f., 219, 284f., 319f., 322ff. Gottfried von Straßburg (um 1180 – um 1210) 127, 129, 149ff., 284 – Tristan 8f., 127, 129ff., 135ff., 142, 149ff., 284 Gregor VII. (um 1020–1085) 73 Grenze 2, 5ff., 13f., 71ff., 81, 89, 92, 97, 129, 139, 142, 235, 243, 260, 279, 282, 297f., 317, 336 – Abgrenzung 1, 6, 11, 39, 75, 85, 95, 111, 128, 218 – Ausgrenzung 6, 21, 73, 75, 92 – Binnengrenzen 72, 124 – Eingrenzung 71 – geographische 21, 23, 71, 97, 111, 132, 135, 142, 212, 235, 298 – geschlechterspezifisch 132 – Grenzaufhebung 16 – Grenznarrative Siehe Narrative / narrativ – Grenzüberbrückung 130, 219, 226 – Grenzüberschreitung 2, 4ff., 71f., 130ff., 142, 260, 298 – Grenzziehung 6, 73, 81 – kulturelle 11, 13, 124, 142, 212f., 244, 274, 293 – Mauer 7, 10ff., 89f., 235, 239 – Sprachbarriere 225, 231 – Sprachbarrieren 11, 13f., 22, 124, 212, 217ff., 222f., 225f., 228, 231, 253, 263, 293, 297f.

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Griechenland 7, 156 Grimm, Brüder 186 Grimm, Jakob (1785–1863) 183 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von (1621–1676) 163, 172 – Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch 9, 163, 172f. Grimms Märchen 185f. Gründungsakt Siehe Ursprung Gründungsnarrativ Siehe Narrative / narrativ Günstling / Günstlingsdiskurse 9, 145f., 148ff., 153, 156f. Hartmann von Aue (um 1160 – um 1210) 169, 254 – Gregorius 162 – Iwein 169 Hebbel, Christian Friedrich (1813–1863) 192, 197 Heilig / Heiligung 61, 87, 163, 167, 269, 272, 285, 294 – Heilige alte Schriften 326 – Heilige Schrift Siehe Bibel – Heilige Sprache Siehe Sprache – heilige Zeichen 218 – Heiliger Eid 166f., 171 – Heiliger Geist 183, 221 – Heiliges Land 6, 75ff., 92 – Heilsgeschehen 74, 76, 279 – Heilsgeschichte, -lich 6, 73ff., 78, 88, 90f., 94f. – Heilsplan 219 – Heilswirkung 76 – Selbstheiligung Jahwes 87 Heilssemantik Siehe Semantik Heinrich II. (England) (1133–1189) 147, 156 Heinrich VI. (HRR) (1165–1197) 4, 21 Heinrich von Freiberg (um 1250) 284 Heinrich von Morungen († um 1220) 42 Heinrichs von Veldeke ( vor 1150 – um 1200) 246 – Eneasroman 246 Heldenepik 12, 243ff., 250 Heraclius (610–641) 88 Herder, Johann Gottfried von (1744–1803) 15, 32, 317, 319, 321, 325

Herkunftssprache Siehe Sprache: native language Hermann Hesse (1877–1962) 254 Hermeneutik 7, 103, 106f. Herodot 88 heroisch 199, 244, 247f. – heroic age 243 Herzog Ernst 9, 153ff. Heterotopie 129f. Hieroglyphen Siehe Heilige Zeichen Hinduismus 318, 325 – Brahmanen 318, 322 Historia de Preliis 104 Hof / Hofgesellschaft 113ff., 117, 120, 122f., 129f., 132, 138ff., 146ff., 155ff., 163, 173, 197f., 210f. Homer 23f., 280, 318 – Odyssee 24, 259 Honorius Augustodunensis (um 1080 – um 1150) 102 – Imago mundi 102 Hortulus animae (Seelengärtlein und Wurtzgarten) 14, 293ff. Huld 151, 255 Humanismus, humanistisch 237, 279, 282 Humboldt, Wilhelm von (1767–1835) 321 Hussiten / Hussitismus 236, 269 Hybrid / hybrid 2f., 244, 333 Identifikation 7, 30, 64, 102, 209f., 214, 227 Identität 1ff., 5, 11, 29f., 36ff., 42, 57f., 101, 104, 131, 136, 145f., 154, 157, 191, 210, 212f., 217f., 223, 231, 240, 243, 260 – nationale Siehe Nation Imaginäres 7, 16, 73, 75f., 85, 88, 93, 97, 130, 206, 213, 266 – imaginärer Raum Siehe Raum Imagination 76, 138, 141, 274, 337 – Imaginationsraum Siehe Raum Indien / indisch 15, 74, 79, 93f., 104ff., 317ff. – Indienbild (Goethes) 317 – Indologie 325 Inklusion – Exklusion 11 – Ausschließung (Motiv) 88 – Ausschluss, Exklusion 1, 53, 73, 97 – Aussiedlung 237 – Einschluss, Inklusion 38, 85, 97, 151

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– Zugehörigkeit 1f., 7, 11, 13, 29, 51, 111, 124, 142, 213f., 218 Insel 4, 21f., 24, 79f., 162, 332ff. international Siehe Nation Internationalismen 226 Intertextualität 102, 193 – -stheorie 49 Isidor (Isidorus) von Sevilla (um 560 – 636) 102, 273 Islam 6, 85, 91, 325 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743–1819) 319, 321 Jean (le Charlier de) Gerson (1363–1429) 54 Jean de Meun (um 1240 – vor 1305) 54 – Rosenroman 54 Jean de Montreuil (1354–1418) 54 Jeanne d’Arc 62 Jerusalem 77, 95, 267, 334 Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510) 295 Johann Hartlieb (um 1400–1468) 104ff. – Alexander 7, 102, 105ff. Johann von Neumarkt (um 1310 – 1380) 297 Johannes (Presbyter) (um 60 – nach 130) 6, 87, 93f. – Johannesbrief 93, 96 Johannes der Täufer 161 Johannes von Würzburg (um 1160/1170) 76f. Johannesoffenbarung Siehe Bibel Judentum 6f., 22, 76ff., 85ff., 92f., 95ff., 161, 183 – ‚Rote Juden‘ 95ff. Kalidasa (Ende 4. Jh./Anfang 5. Jh.) 320 – Megha Duta 323f. – Shakuntala 320f., 326 Kampfritual Siehe Ritual Kannibalismus 89, 93f. Karl der Große – historisch 37, 205, 207, 210, 213 – literarisch, (747–814) 245f., 258, 261 Karl der Kahle (823–877) 10, 205ff., 213f. Karl V. (Frkr.) (1338–1380) 51 Kartographie 78, 85 Kolonisation / Kolonialismus 227, 237

Konflikte 11, 122f., 154, 156, 208f., 228, 235f., 248, 255, 278 Konrad IV. (HRR) (1224–1254) 74 Konstanze von Sizilien (1154–1198) 4, 21 Koran 325 kosmopolitisch 23, 103, 106, 228 Kristeva, Julia (*1941) 49 Kuefstein, Hans Ludwig Freiherr von (1582– 1656) 14, 280ff. Kulturtransfer Siehe Vermittlung Kürenberger (Der von K.) (um 1100) 33f. Laurin / Lavryn / Lawrin 249 Le Livre du Chevalier de la Tour pour Lʼenseignement de ses filles 256 Lebensform 56, 60, 162, 170, 172 Leib / Leiblichkeit 8, 92, 127ff., 133f., 136f., 139ff., 173, 286 – Körpermetaphorik Siehe Metaphorik / metaphorisch – Verkörperung von Macht und Herrschaft 260 – Verkörperung von Zorn 8, 113ff., 119, 121, 123, 125 Leseprozess 55 Liber Alexandri Magni 105 Liebes- und Abenteuerroman 23f. Liebestod Siehe Tod lingua adamica Siehe Sprache lingua franca Siehe Sprache Linzer Humanismus Siehe Humanismus locus amoenus 135, 139, 142 Loewe, Carl (1796–1869) 319, 322 Lothar I. (795–855) 11, 205ff., 210 Lotman, Juri (1922–1993) 72 Ludwig der Deutsche (810–876) 10, 205ff., 213f. Ludwig der Fromme (778–840) 205ff., 210 Luther, Martin (1843–1546) 222 Macht 6, 22, 63, 72, 74, 76, 93, 113f., 116ff., 121, 123ff., 131, 150f., 153, 155f., 161, 171, 175, 226, 236, 245 – Gottes 87 – Insignienmacht 268 – machtpolitisch 75 – Machtraum Siehe Raum

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– Ohnmacht 141 – satanische 90 – Schreibmacht 55 – Streitmacht 245 – Weltmacht 331 – Wirkungsmacht 6, 191, 258 Mahabharata 317f. Mann, Thomas (1875–1955) 127, 201 – Doktor Faustus 201 Marie de France (um 1135 – um 1200) 263, 267f., 270 Marquart von Stein (um 1135 – um 1200) 253, 256 – Ritter vom Thurn 253, 256 medial / Medialität / Medialisierung 1ff., 13, 16, 104, 243, 333, 335f. – transmedial 250 Mediator 9 Medien – Medienästhetik Siehe Ästhetik – mediengeschichtlich 253, 332 Mehrsprachigkeit Siehe Sprache Metaphorik / metaphorisch 116, 129f., 162, 175f., 182, 184, 263, 267, 269ff., 304, 308, 310f., 335 – Herzmetaphorik 141 – Körpermetaphorik 137 – Raummetaphern Siehe Raum – Todesmetapher Siehe Tod Metonymie / metonymisch 333f. Michael Scotus (um 1175 – um 1235) 22 Milnes, Alan Alexander (1882–1956) – Winnie the Pooh 301 Minkus, Ludwig (1826–1917) 319 Minnesang 4, 21, 29ff., 40ff. Mischwesen 168, 322, 326 Misogyn 13, 38f., 60, 62, 260 mother tongue Siehe Sprache, Muttersprache Münchner Abkommen 237 Mündlichkeit 127, 243 Muslim / muslimisch 21, 76, 317, 325 Mussorgski, Modest (1839–1881) 306 Muttersprache Siehe Sprache Mythen 6, 9, 93f., 181, 183, 187, 191f., 195, 221, 277, 280, 318 – gefallene Engel 172

– Mythos der Nibelungen 10, 191, 198, 200 – Mythos der verlorenen Stämme 93 – Nationalmythos 199f. – Odins Auge 9, 181, 183, 185, 187ff. – politische 191f. – Turmbau zu Babel 11, 219ff. – Ursprungsm. Siehe Ursprung Mythologie 9, 171, 183, 185, 187, 271, 279, 283, 323 – Naturmythologie 183 Narrative / narrativ 6, 71ff., 81, 87, 91, 93f., 96, 102, 154, 161, 163, 198, 207, 214, 219 – der Einschließung 94 – Grenznarrative 5f., 73, 75 – Gründungsnarrativ 88 – Heilsnarrative 75f. – Konkurrenznarrative 77f. Narratologie / narratologisch 72, 173, 243f. Nation 1f., 11, 205f., 211, 214, 218, 237 – international 12, 16, 218, 224, 226, 228f., 236, 239 – Internationalisierung 1, 26, 29 – national 1ff., 10, 26, 29f., 33, 71, 101, 182, 186, 188, 206, 219, 223, 230f., 236ff., 317 – Nationalbewegung 236 – Nationalbewusstsein 236 – nationale Identität, Nationalidentität 11, 213, 236f. – nationale Indentifikationsmuster 30 – Nationalisierung 191 – Nationalismus 213f. – nationalistisch 213 – Nationalität 1, 206, 214 – Nationalliteratur 15, 317 – Nationalsprachen / -sprachlich Siehe Sprache – supranational 218 native language Siehe Sprache Natur und Kultur 9, 163 Nibelungenlied 10, 191ff., 195ff., 199, 201, 247, 249 Nicolai, Philipp (1556–1608) 174f. – Wie schön leuchtet uns der Morgenstern 174 Nithard (um 795–845) 205, 208f., 213

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– Historiarum Libri IV 205, 214 Noyse, Johann Engelbrecht (Lebensdaten unbekannt) 14, 280ff. Oderich von Pordenone (zw. 1265/1286–1331) 79ff. Odo von Cheriton (um 1185 – 1246/1247) 263, 272 Ohnmacht Siehe Macht Opfer 86f., 89, 247ff., 266, 285, 319 – Taubenopfer 78 Ordnung 35, 43, 72f., 75, 92, 150, 152, 266 – Einordnung 81, 91 – Gesellschaftsordnung 151, 162, 175, 217 – hierarchische 266f., 274 – kulturelle 92 – Raumordnung, höfische Siehe Raum – soziale 113, 266f., 272 – Über-/ Unterordnung 148 ordo 39 Orien / Orientbild 319, 324, 326 Otfrid von Weißenburg (um 790 – 875) 37, 225 Ovid 38, 277f., 282 – Ars amatoria 278 – Heroides 277f. Palacký, František (1798–1876) 236 Palimpsest 2, 76 Paradies 79, 162, 219f., 231, 318, 335 – irdisches 78 – Paradiesflüsse 79 Parämiologie 263f., 267, 269ff. Paratext 333, 335 Percevalroman Siehe Chrétien de Troyes, Perceval Perikles (um 485 – um 429 v. Chr.) 24 Personifikation / Personifizierung 59, 164, 306, 311 Perspektive 6, 9, 12, 16, 29, 33, 40, 43, 71f., 81, 85, 111f., 116, 125, 134, 136, 142, 145f., 153ff., 181, 217, 223, 230, 239, 243, 261, 279 Petrarca, Francesco (1304–1374) 164 Petrus Comester (um 1100 – 1178) 94f. – Historia scholastica 94 Pfaffe Konrad (um 1150) 225, 244ff.

– Rolandslied 225 Phaedrus 263, 266f. Pippin I. (Aquitanien) (797–838) 206f., 210 Plansprache Siehe Sprache Pluralität, Pluralisierung, Pluralismus 1, 5, 36, 40ff., 101, 260 Plurilinguismus Siehe Sprache, Mehrsprachigkeit Plurizentrizität 230 polyglott Siehe Sprache, Mehrsprachigkeit Polyphonie 4, 29f., 32f., 36, 40ff., 49, 97, 135, 176 Polysemie 195 Prager Frühling 237 Predigt 163, 263, 295 Prosa-Lancelot [Lancelot-Gral-Zyklus] 162 proverbia 263, 267 Prudentius – Psychomachia 246 Pseudo-Methodius 91ff. – syrische Apokalypse 90f. Ptolemäus (um 80 – um 160) 336 Querelle des Femmes 53 Ramayana 317 Raum 2, 4, 6, 8, 49, 51, 53, 62f., 72, 74, 127ff., 134ff., 170, 212, 240, 243, 326 – Aussageraum 38 – Bewegungs- und Handlungsspielräume 8, 128f., 132, 142, 169, 248 – Echoraum 5, 49, 63 – Erzählräume 166 – geographischer 8, 23f., 49, 73, 76, 130f., 134 – gesellschaftlicher 139 – Glaubensraum, religiöser Raum 73, 76, 80 – hierarchischer 139 – imaginärer 76, 145 – Imaginationsraum 5, 62, 76 – intimer 129, 132 – Klageraum 130, 135f., 138 – Klangraum 129, 136 – Klosterraum 162 – Kommunikationsraum 129, 141 – Machtraum 73 – Naturraum 127, 129, 135f., 140ff.

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– öffentlich – privat – virtuell 129 – Raumdarstellung 130 – Raumerfahrung 128 – Raumgestaltung 8, 127ff., 134, 139, 142 – Raumgliederung 132, 142 – Raummetaphern 128 – Raumordnung 131, 169 – Reflexionsraum 2, 5, 29, 41 – Resonanzraum 42, 50 – Rückzugsort, Schutzraum 60 – sakralisierter / liturgischer 76, 167 – sozialer 129 – Spielraum 129 – Sprachraum 5, 13, 21, 31, 35f., 41, 71, 124, 263f., 273, 280, 293f. – Stimmraum 63 – Wissensräume 51 – Zwischenraum 129 Raum und Bewegung 129f., 133f., 144 Raum und Zeit 1, 42, 74, 97, 124, 127f., 132ff., 167, 194 Register 34, 169, 173f., 283, 294 – Registerwechsel 34f., 37ff. René d’Anjou (Herzog von Anjou) (1409– 1480) 9, 163f. – Le livre du Cœur d’Amour épris 9, 163, 171 Ricoldus von Monte Croce (um 1243 – 1320) 76 Rinke, Moritz (*1967) 192 Ritual / -isiert 129, 170 – Gabentausch 151 – Kampfritual 171 – Speiseritual, höfisches 170 – Taubenopfer Siehe Opfer – Witwenverbrennung 319 Rolandslied 12, 244f. Roman Siehe Buch Romantiker 30, 326 Rosengarten 248f. Rosenroman 164 Rudolf von Ems (um 1200 – 1254?) 74f., 81 Sakontala 322 Sanskrit 320, 323f. Schiff, Schiffbruch 4, 8, 24, 130ff., 142, 331f., 334, 336 Schiller, Friedrich von (1759–1805) 319, 321

– Musenalmanach 319 Schlegel, August Wilhelm von (1767–1845) 325 Schlegel, Friedrich von (1772–1829) 324 – Ueber die Sprache und Weisheit der Indier 324 Schopenhauer, Arthur (1788–1860) 324f. Schöpferkraft / Schöpfungskraft 23, 79 Schöpfungsprozess 72 Schostakovitsch, Dimitri (1906–1975) 306 Schreiben, Schreibprozess 49, 55ff., 59, 62f., 331, 333, 337 Schreibmacht Siehe Macht Schrift 77, 79, 324 – Schriftkultur 161, 224 – Schriftlichkeit 250, 313 – Schriftsprache Siehe Sprache – Schriftsystem 226 – Verschriftlichung 243, 249 Schubert, Franz (1797–1828) 319, 321 Seelengärtlein Siehe Hortulus animae Seifrit (um 1350) – Alexander 7, 102f. Semantik 8, 31f., 35f., 38, 40f., 130, 173, 308 – Heilssemantik 75 – Ursprungssemantik Siehe Ursprung Seneca 115, 278 Sentimentalisierung 248 Sizilianische Schule (1220–1260) 23 Speiseritual, höfisches Siehe Ritual / -isiert Spiegel der regiersüchtigen Weiberen 253, 256 Spiegel / spiegeln / Spiegelung 5, 9, 33, 36, 62ff., 106, 140, 163, 169, 172, 183, 185, 218, 273, 281 Spielregel 156 Sprachbarrieren Siehe Grenze Sprache 3, 5, 11, 14, 22f., 38, 49f., 101, 103ff., 111f., 183ff., 197, 199, 205, 208ff., 217ff., 224, 238, 263, 273, 280, 283, 288, 297f., 301, 305ff., 310f., 324 – Bildsprache 87, 307 – Brückensprache 225 – customary language 11, 206, 212 – Esperanto 11, 228f.

Register | 347

– Fremdsprache / Fremdsprachenerwerb / Fremdsprachlichkeit 7, 14, 104, 219, 230, 238f. – Heilige Sprache 218, 220 – lingua adamica 220 – lingua franca 11, 224, 227f., 263 – Literatursprache 23, 225 – Mehrsprachigkeit 2, 7, 10f., 21f., 25, 29, 194, 205, 209ff., 213f., 218f., 221, 231 – bilingual 104 – Pluriligualismus 22 – polyglott 10 – Muttersprache 11, 205f., 210f., 218, 227f. – Nationalsprache, -sprachlich 29f., 228, 230 – native language 11, 205f., 210ff. – Plansprache 11, 227ff. – Schriftsprache 222, 225 – Sprachbarrieren Siehe Grenze – Sprachenvielfalt 11, 26, 218ff. – Sprachgemeinschaft 218, 226, 228 – Sprachgeschichte 217, 225, 309 – Sprachkenntnisse 133, 239 – Sprachkontakt 222, 306 – Sprachraum Siehe Raum – Sprachschichten 223 – Sprachverwirrung, göttliche Siehe Mythen, Turmbau zu Babel – Sprachwandel 11, 222 – Sprachwissenschaft 16, 183, 221 – Standardsprache 222f., 230 – Ursprache 221 – Volkssprache 10, 42f., 205, 208f., 211ff., 223, 225, 253, 263 – Weltsprache 226ff. Sprichwörter Siehe Parämiologie Spruch 37f. Spur 29, 39, 134, 184, 196, 235, 254, 281, 331 Stammbaumtheorie 221 Ständesystem 151 Stimme 5, 32, 36, 40, 43, 45, 50, 62, 64, 136, 193 – Frauenstimme 38 – Stimmraum Siehe Raum – Vielstimmigkeit Siehe Polyphonie – weibliche S. 37 Straßburger Eide 10f., 205f., 208ff.

Stricker (um 1250) 245f. Subjektivität 196f. Synästhetisch 38 Tanzlied 37f. Text und Bild Siehe Bild und Text Theodizee 172, 175f. Thidrekssaga 247ff. Thomas Mann (1875–1955) 13, 254 – Doktor Faustus 254 Thomasin von Zerklære (um 1186 – um 1238?) – Der welsche Gast 265 Tierbücher Siehe Buch Tod 14, 154, 187, 279f., 284, 312f. – Ikonographie 15, 312ff. – Liebestod Siehe – Todesgott 10, 189 – Todesmetapher 311 – Todessehnsucht 192f. – Vatertod 154f. Totenamt 294 Totentanz 15, 302f., 305f., 310ff., 314 Transfer Siehe Vermittlung Transgression 102, 132 transmedial Siehe medial / Medialität / Medialisierung Tristan en prose 284 Trobador 21, 30, 35 Tugendbegriff 60f., 80, 164f. Turmbau zu Babel Siehe Mythen Überlagerung 2f. – Narrations- 77 – von Sprachen 222 Übersee 16, 335f. Übersetzung, Übersetzbarkeit 7, 12, 14, 50, 77ff., 90, 92, 101f., 104f., 164, 205, 256, 259, 277f., 280ff., 288, 301, 303f., 307, 309, 311, 332, 335f. Ulrich von Türheim (um 1195 – um 1250) 284 Umbesetzung 38, 95, 97 Unheil 187, 195 Ursprache Siehe Sprache Ursprung 1, 10, 30, 40, 86f., 127, 183ff., 187, 189, 211, 214, 220, 271 – Anfang 24, 42 – Genese 32, 43, 148

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– Gründungsakt 92 – Ursprungsideologien 31 – Ursprungsmythen 73 – Ursprungssemantik 32 – Urwelt 326 Utopie 24, 60, 62f. Vagantenlyrik 38 Vaterlosigkeit 155f. Vatertod Siehe Tod Verdichtung 41 Verflechtung 1ff., 111f., 124, 298 – sprachwissenschaftlich 309 Vergegenwärtigung 243 Vergil 278, 280 Verkörperung Siehe Leib / Leiblichkeit Vermittlung 3, 9, 12, 14f., 97, 161, 224, 282, 297 – (Literatur-)Transfer 111, 243 – Glaubensvermittlung 225, 293 – Kulturtransfer 15, 42, 85, 301, 317, 326 vernacular Siehe Sprache, Volkssprache Vernetzung 2, 12, 21, 25f., 166, 218, 227, 239 Verschiebung 2f., 8, 16, 119, 209, 212, 336 Vertrauen 8, 74, 138, 145ff., 153, 155f., 176, 208, 246, 305 Verwandtschaft 8, 92, 119, 122ff., 149, 153, 156, 165, 168, 172f., 212, 245 – sprachliche 221 Vielfalt Siehe Diversität Vielstimmigkeit Siehe Polyphonie Vita / Viten 161f. Völsunga saga 247 Vom Antichrist 6f., 96f. Wagner, Richard (1813–1883) 127, 191, 197 – Parsifal 319, 322 – Ring der Nibelungen 9, 191 Wahrnehmung 6, 72, 81, 89, 114, 127ff., 134, 136, 140, 142, 146, 248, 278 Wald 130, 135, 161f., 164f., 173, 175 Waldere 12, 244, 246 Wall Siehe Grenze, Mauer

Walter Map (um 1140 – zw. 1208/1210) 147 Waltharius 12, 244, 246f., 249 Walther von der Vogelweide (um 1170 – um 1230) 40, 42 Warschauer Pakt 237 Wasser 9, 78f., 182ff., 186 Weltchronik 74 Welthilfssprachen Siehe Sprache, Plansprache Weltliteratur 15, 23, 317, 322, 326 Weltreichelehre 91 Wichwolt, Meister 104 – Alexander 7, 102, 104f. Widersprüche / Widersprüchlichkeit 7, 12, 30, 35, 85, 97, 243ff., 278, 285 Wieland, Christoph Martin (1733–1813) 15, 23f. – Clelia und Sinibald oder die Bevölkerung von Lampeduse 4, 24 Wildnis 130, 136ff., 142, 161ff., 166f., 169f., 173 Wimpfeling, Jakob (1450–1528) 297 Winckelmann, Johann Joachim (1717–1768) 24 Wirkungsmacht Siehe Macht Wolfram von Eschenbach (um 1160/1180 – um/nach 1220) 119, 163, 166ff., 170, 172, 193, 196 – Parzival 9, 163, 166ff., 173 – Willehalm 7f., 111ff., 119ff. Woolf, Virginia (1882–1941) 5, 49, 52f., 63 – Drei Guineen (Three Guineas) 52, 60, 63 – Ein eigenes Zimmer (A Room of One’s Own) 49, 52ff., 56, 58f., 62 Wurtzgarten Siehe Hortulus animae Zaimoglu, Feridun (*1964) 191, 197ff. – Siegfried 10, 193, 199 Zauber 89, 181 – Zaubermärchen 187 – Zaubersprüche 186, 188 Zelter, Karl Friedrich (1758–1832) 319 Zugehörigkeit Siehe Inklusion – Exklusion

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Laura Auteri ist Ordinaria für Deutsche Literatur an der Universität Palermo, zur Zeit Vizerektorin für Lehre; Präsidentin der IVG. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur der Frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts. Publikationen: „Kreaturen des Wassers: Felsbuchten des ägäischen Meers in Goethes Faust II.“ The Meeting of the Waters. M. Javor Briski u. a. (Hgg.). München 2015, 77–87. „Guido Erwin Kolbenheyer und seine Rezeption des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Trilogie des Paracelsus.“ Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750). Laura Auteri u. a. (Hgg.). Bern/Berlin et al. 2016, 241–257. Martin Baisch, Dr. phil., ist Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hamburg. Seine Forschungsinteressen liegen auf dem Gebiet der höfischen Epik, der historischen und literarischen Anthropologie sowie der Textkritik und Überlieferungsgeschichte. Zuletzt erschienen: Anerkennung und die Möglichkeiten der Gabe. Literaturwissenschaftliche Beiträge. (Hg. unter Mitarbeit von Malena Ratzke und Britta Wittchow). Bern 2017 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 58). Ingrid Bennewitz ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche Philologie des Mittelalters an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Schwerpunkte in der Forschung: Überlieferung und Edition; Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts; Mittelalter-Rezeption; Gender Studies / Intersektionalität. Publikationen: Salzburger Neidhart-Edition 3 Bde. (SNE). I. Bennewitz u. a. (Hgg). Berlin/New York 2007. „Hartmanns namenlose Mädchen.“ Akten der Tagung „Der Arme Heinrich – Hartmann von Aue“ und seine moderne Rezeption. Bamberg, 05.–07.02.15. Albert Gier u. a. (Hgg.). Mainz 2015 (Mitteilungen der Hans-Pfitzner-Gesellschaft 75), 226–236. Álvaro Alfredo Bragança Júnior ist Assoziierter Dozent an der Deutschabteilung der Sprachfakultät der Universidade Federal do Rio de Janeiro in Brasilien. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachiges Mittelalter unter interdisziplinären Ansätzen und mittellateinische Parämiologie. Er ist Autor unter anderem von A fraseologia medieval latina (2012) und Cavalaria e Nobreza: entre a História e a Literatura (2017, im Druck). Michael Dallapiazza ist Professor für deutsche Literatur an der Universität Bologna. Arbeitsgebiete: Höfische Literatur des Mittelalters; deutsch-italienische Literaturbeziehungen; Literaturtheorie; Deutschsprachige Literatur seit 1900. Publikationen: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Berlin 2009. La brevitas dall’Illuminismo al XXI secolo / Kleine Formen in der Literatur zwischen Aufklärung und Gegenwart. (Hg.). Frankfurt 2016. „Der Bauernkrieg in den Singspielen Yaak Karsunkes und Martin Walsers: Bauernoper und Das Sauspiel.“ Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750). Laura Auteri u. a. (Hgg.). Bern/Berlin et al. 2016, 363–377. Evamaria Freienhofer, Dr. phil., ist zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: literarhistorische Emotionalitätsforschung; Literaturtransfers deutsch-französisch; Verhältnis von Narrativität und Geschichte. Zuletzt erschienen Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emoti-

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onen in der Literatur und Kultur des Mittelalters (Mitherausgeberin). Göttingen, 2014. Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts. Trends in Medieval Philology 32. Berlin 2016. Annette Gerok-Reiter ist Professorin für Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext in Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Minnesang vom 12.–16. Jhd.; Höfischer Roman; Historische Anthropologie (Emotions- und Genderforschung); Religiöses Wissen; Historische Ästhetik. Publikationen: „Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1) – ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse.“ Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Udo Friedrich u.a. (Hgg.). Berlin 2013, 75–115. „Maria als polyphone Reflexionsfigur.“ Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800). Renate Dürr u. a. (Hgg.) [erscheint vorauss. 2017]. Ingrid Kasten ist Professorin (außer Dienst) für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Romanisch-deutsche Literaturbeziehungen; Lyrik; höfischer Roman; Mystik; literatur- und kulturwissenschaftliche Emotionsforschung. Zuletzt erschienen: „Minnemärtyrer. Opfer-Szenarien.“ Gott handhaben. Steffen Patzold u. a. (Hgg.). Berlin/Boston 2016, 15–33. „Recht und Zorn im Rolandslied.“ Recht und Emotion I. Hilge Landweer u. a. (Hgg.). Freiburg 2016, 375–400. Christian Kiening ist Ordinarius für deutsche Literatur (von den Anfängen bis 1700) an der Universität Zürich, Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts „Mediality“ und Mitherausgeber der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Letzte Bücher: Das Mittelalter der Moderne (2014), Literarische Schöpfung im Mittelalter (2015), Fülle und Mangel (2016). Elke Koch ist Professorin für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: religiöse Literatur des Mittelalters (Legenden und Schauspiele); Ansätze der historischen und literarischen Anthropologie sowie der historischen Medialität. Neuere Publikationen: Orte der Imagination – Räume des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen (Mitherausgeberin). Paderborn 2016. „Emotionsforschung.“ Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Christiane Ackermann u. a. (Hgg.). Berlin 2015, 67–101. Elisabeth Lienert ist Professorin für die Literatur des Mittelalters und des Humanismus an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext; vormoderne Erzählliteratur (Antikenroman, Heldenepik); Überlieferungsgeschichte und Edition. Wichtige rezente Publikationen: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Berlin 2015. Rosengarten (Mitherausgeberin). Berlin et al. 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 8/I, II, III). Stefan Matter ist Assistent am Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik an der Universität Freiburg/Schweiz. Arbeitsschwerpunkte: Text-Bild-Beziehungen, höfische Festkultur und die geistliche Literatur des Mittelalters, insbesondere Gebetbücher. Promotion mit einer Arbeit zu den Nazarenern; Habilitationsschrift Reden von der Minne. Untersuchungen zu Spielformen literarischer Bildung zwischen verbaler und visueller Vergegenwärtigung anhand von Minne-

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reden und Minnebildern des deutschsprachigen Spätmittelalters. Tübingen/Basel 2013 (Bibliotheca Germanica 59). Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u. a. in Oxford, Tübingen und Wien. Volker Mertens ist Professor em. für Ältere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Editionen der Werke Hartmanns von Aue und geistlicher Literatur (Predigten). Bücher und Aufsätze zur mittelalterlichen deutschen und französischen Literatur (Artusroman, Liebeslyrik), zur Mittelalterrezeption und zur neueren Literatur (Romantik, Thomas Mann). Ferner Publikationen zur mittelalterlichen Musik und zum Musiktheater (Richard Wagner: ‚Der Ring des Nibelungen‘ 2013, ‚Parsifal‘ 2016) und Giacomo Puccini (‚Wohllaut, Wahrheit und Gefühl‘ 2008). Lydia Miklautsch ist Ao. Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Schwerpunkte in der Forschung: Historische Narratologie; Übersetzungstheorien (Plattform: www.metamorphosis.sbg.ac.at); Mittelalterliche Literatur und Gender. Neueste Publikation: Konrad von Würzburg. Das Herzmaere und andere Verserzählungen (Übersetzung und Kommentar). Stuttgart 2016. Larissa Naiditch (Naiditsch) ist Professorin em. am Department of Linguistics, The Faculty of Humanities, The Hebrew University of Jerusalem. Schwerpunkte in der Forschung: germanistische Linguistik; deutsche Dialektologie; Folkloristik; Übersetzungstheorie. Rezente Publikationen: „Grammatische, lexikalische und stilistische Züge einer Reisebeschreibung im 16. Jahrhundert. Daniel Ecklins ‚Reiß zum heiligen Grab‘ (1575)“. Globe: A Journal of Language, Culture and Communication, 2015, 2, 124–138; „Das Mennonitenplatt (Plautdietsch) nach den Fragebögen aus dem Archiv Schirmunski.“ ZDL. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. LXXXII.3. 2015, 331–349. Sara S. Poor ist Associate Professorin an der Princeton University, wo sie auch Director des „Program in Medieval Studies“ ist. Sie hat zuletzt gemeinsam mit Nigel Smith einen Sammelband zum Thema Mysticism and Reform 1400–1750 (University of Notre Dame Press, 2015) herausgegeben und arbeitet jetzt an einem Projekt über schreibende und lesende Frauen und ihre Bücher im späten Mittelalter. Luisa Rubini Messerli ist Privatdozentin für Ältere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich; seit 2012 Mitglied von AcademiaNet, der Initiative der Robert-Bosch-Stiftung für exzellente Wissenschaftlerinnen. Schwerpunkte in der Forschung: Kulturtransfer zwischen Italien und Deutschland; Buchgeschichte und Philologie (Frühe Neuzeit); vergleichende Erzählforschung. In Vorbereitung: eine Edition (Deutsch / Italienisch) von Boccaccios Fiammetta (Übersetzung: Johann Engelbrecht Noyse, um 1600). Elisabeth Schmid ist Professorin i. R. für deutsche Philologie (Mediävistik) am Institut für deutsche Philologie der Universität Würzburg. Schwerpunkte der Forschung: Wolfram von Eschenbach; Lyrik und Roman des Mittelalters in europäischen Bezügen. Rezente Publikationen: „ich bin iemer ander und niht eine. Das Ich und das Andere in Morungens Narzisslied.“ Das Narzisslied Heinrichs von Morungen. Manfred Kern u. a. (Hgg.). Heidelberg 2015, 55–71; „Herborts Liet von Troye. Kontaktphilologische und kontrastphilologische Betrachtungen.“ ‚Texte dritter Stufe‘. Marie-Sophie Masse u.a. (Hgg.). Berlin 2016, 55–73.

352 | Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Mireille Schnyder ist Ordinaria für deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 an der Universität Zürich. Forschungsgebiete: Wahrnehmung des Fremden und Kulturbegegnung Europa – islamische Welt; Poetologie; Medialität und Literatur; Literatur und Episteme. Neuere Publikationen: Hartmann von Aue: Iwein. Kommentar und Nachwort von M. Schnyder, Edition und Übersetzung von Rüdiger Krohn. Stuttgart 2012. ‚Das Wunderpreisungsspiel‘. Zur Poetik von Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694). M. Schnyder (Hg.). Würzburg 2015. Staunen als Grenzphänomen (Mitherausgeberin). München 2016. Heinz Sieburg ist Professor für germanistische Mediävistik und Linguistik an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Mediävistik, deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters, Soziolinguistik, Luxemburger Deutsch. Rezente Publikationen: Das Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften (Mitherausgeber). Bielefeld 2017. Hexenwissen. Zum Transfer von Magie- und Zauberei-Imaginationen (Mitherausgeber). Trier 2017. Mgr. Kristýna Solomon, Ph. D., ist Professorin für Germanistik an der Universität Olomouc in der Tschechischen Republik. Schwerpunkte: Minnesang; Romane des Hochmittelalters; Rezeption der mittelalterlichen Literatur. Zuletzt erschienen: Minne ist ein sô swaeres spil, daz ichs niemer tar beginnen. Eine Untersuchung der weiblichen Stimme im Hohen Sang. Göppingen 2013. Catherine Squires (Ekaterina Skvayrs), Prof. Dr. habil., ist Germanistin an der Philologischen Fakultät der M. V. Lomonossov Universität Moskau und unterrichtet Altgermanistik, Geschichte des Deutschen und des Niederländischen, Mittelhoch- und Mittelniederdeutsch. Schwerpunkte der Forschung: das Mittelniederdeutsch der Hanse; deutsch-russische (Sprach-) Kontakte; deutsche Handschriften und Altdrucke in russischen Sammlungen. Publikationen: „Relations culturelles de Novgorod avec l’Occident du XII au XVIe siècle.“ Novgorod ou la Russie oubliée: Une république commerçante (XIIe–XVe siècles). Olga Sevastyanova u. a. (Hgg.). Paris 2015, 315–334. „Deutsch-Russisches: (Kanzlei)Sprachliche Argumente zum geschichtswissenschaftlichen Konzept der Novgoroder Demokratie.“ Kanzlei und Sprachkultur. R. Hünecke u. a. (Hgg.). Wien 2016 (Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 9), 225–242. Markus Stock ist Associate Professor für Deutsche Philologie und Mittelalterstudien an der University of Toronto. Forschungsschwerpunkte: Epik und Liebeslyrik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts; mittelalterliche Alexanderepik; historische Narratologie und Mediengeschichte. Zuletzt erschienen sind die von ihm mitherausgegebenen Publikationen ‚Medieval Media‘ (Seminar-Sonderheft, 2016) und ‚Rethinking Philology‘ (Florilegium-Sonderband, 2017).