Literatur der Jahrtausendwende: Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 [1. Aufl.] 9783839409244

Dieser Band bietet Einblicke in die Themen, die Schreibverfahren und den Buchmarkt um 2000 und beleuchtet internationale

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Table of contents :
INHALT
Eine Topographie der Literatur um 2000. Einleitung
I. Ästhetische Verarbeitung von historischkulturellen Ereignissen um 2000
9/11
Trauerspielereien: Der 11. September aus kindlicher Perspektive. Jonathan Safran Foers Extremely Loud and Incredibly Close
Durch Mark und Bein: 9/11 in Ian McEwans Saturday und Philip Roths Everyman
Zwei Amerikas
Spielarten des 'Familiar'/'Familial': Der neo-realistische Roman in der US-amerikanischen Literatur um 2000
"Todo se mantrifica" oder: Die absolute Telenovela. Rodrigo Fresán und die Ästhetik totaler Medialisierung in Mantra
"Como si nada". Der acte gratuit in Fernando Vallejos La Virgen de los Sicarios
Vom Balkankrieg
Eine Frage der Perspektive: Der Balkankrieg in der deutschen Literatur
Wie schreiben, wenn sich die Geschichte wiederholt? Das europäische literarische Erbe als Erinnerungsmodell für die postjugoslawischen Kriege
Interkulturalität und Globalisierung
Poetiken der Identität und Alterität. Zur Prosa von Terézia Mora und Thomas Meinecke
Interpreten der Globalisierung: Dolmetscherfiguren in den beiden gleichnamigen Romanen The Interpreter von Suki Kim und Suzanne Glass
Ökonomie
Narrating (new) Economy: Literatur und Wirtschaft um 2000
Ökonomisierung des Körpers: Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman
Geschichte erzählen
Selbstkritik als Immunisierungsstrategie in Bernhard Schlinks Der Vorleser
Strategien mit Biographien: Dekonstruktion der Studentenbewegung bei F.C. Delius und Stephan Wackwitz, Utopie des Protests bei Uwe Timm
Endzeitstimmung
Maurice G. Dantecs Manuel de survie en territoire zéro: Strategien zur Rettung der Literatur um die Jahrtausendwende
Thomas Glavinics Endzeitroman Die Arbeit der Nacht
II. Schreibverfahren der Jahrtausendwende
Virtuelle Begegnungen
Totenstimmen. Phänomene phantomischen Erzählens in der Literatur um 2000
Virtuelle Begegnungen im Berlin-Roman 1998-2001
Aufgesammelt, aufgezeichnet
Geordnete Unordnung. Das Sammelsurium als Schreibverfahren der Jahrtausendwende
Really Ground Zero. Die Wiederkehr des Dokumentarischen
Abgefahrene Verfahren
Identitäten im Remix. Literarisches Sampling im Fadenkreuz von Postmoderne und Postkolonialismus
Das Leben ein Satz. Arnold Stadlers existenzielle Poetik
Erzählerische Kontingenzverwaltung bei Gregor Hens
Angemerkt
Rhizomatisches Schreiben (und Lesen): Albert Goldbarths Pieces of Payne
Der "Hundeblick" des Kommentators - Kommentierung und Herausgeberfiktion in Ingo Schulzes Neue Leben
III. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen der Literatur um 2000
Autoren
Authentizität in literarischem Text und Paratext. Alexa Hennig von Lange und Amélie Nothomb
Text-Labyrinthe: Roberto Cotroneos Romane im Spannungsfeld von professioneller Literaturrezeption und ambitionierter Literaturproduktion
Texte
Lesende Schreiber, schreibende Leser. Lektorat in den Literaturverlagen der Jahrtausendwende
Die Schulen des Schreibens
Märkte
Ästhetik-Ingenieure. Internationale Belletristik auf dem deutschsprachigen Buchmarkt
Vierter Aufguss, abgestanden? Bestsellerbibliotheken auf dem Buchmarkt
Leser
EDIT, BELLAtriste! Literaturzeitschriften um die Jahrtausendwende
Literaturen, Literaturkritik und Leser um 2000
Autorenverzeichnis
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Literatur der Jahrtausendwende: Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 [1. Aufl.]
 9783839409244

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Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.) Literatur der Jahrtausendwende

2008-09-26 10-54-31 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2190321475808|(S.

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Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.) Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000

2008-09-26 10-54-32 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2190321475808|(S.

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Für die Unterstützung dieser Publikation danken die Herausgeberinnen dem Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie der Dr. Alfred VinzlStiftung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Anja Zemanek Lektorat: Evi Zemanek und Susanne Krones Satz: Evi Zemanek Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-924-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-09-26 10-54-32 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a2190321475808|(S.

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INHALT Eine Topographie der Literatur um 2000. Einleitung EVI ZEMANEK UND SUSANNE KRONES 11

I. Ästhetische Verarbeitung von historischkulturellen Ereignissen um 2000 9/11 Trauerspielereien: Der 11. September aus kindlicher Perspektive. Jonathan Safran Foers Extremely Loud and Incredibly Close EVI ZEMANEK 27

Durch Mark und Bein: 9/11 in Ian McEwans Saturday und Philip Roths Everyman DANIELLA JANCSÓ 43

Zwei Amerikas Spielarten des 'Familiar'/'Familial': Der neo-realistische Roman in der US-amerikanischen Literatur um 2000 MARY ANN SNYDER-KÖRBER 57

"Todo se mantrifica" oder: Die absolute Telenovela. Rodrigo Fresán und die Ästhetik totaler Medialisierung in Mantra KARIN PETERS 69

"Como si nada". Der acte gratuit in Fernando Vallejos La Virgen de los Sicarios JOHANNA SCHUMM 81

Vom Balkankrieg Eine Frage der Perspektive: Der Balkankrieg in der deutschen Literatur BORIS PREVIŠIû 95

Wie schreiben, wenn sich die Geschichte wiederholt? Das europäische literarische Erbe als Erinnerungsmodell für die postjugoslawischen Kriege KATJA KOBOLT 107

Interkulturalität und Globalisierung Poetiken der Identität und Alterität. Zur Prosa von Terézia Mora und Thomas Meinecke ANDREA GEIER 123

Interpreten der Globalisierung: Dolmetscherfiguren in den beiden gleichnamigen Romanen The Interpreter von Suki Kim und Suzanne Glass EVA SCHOPOHL 139

Ökonomie Narrating (new) Economy: Literatur und Wirtschaft um 2000 CHRISTOPH DEUPMANN 151

Ökonomisierung des Körpers: Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman STEFANIE ABLASS 163

Geschichte erzählen Selbstkritik als Immunisierungsstrategie in Bernhard Schlinks Der Vorleser TIM REISS 179

Strategien mit Biographien: Dekonstruktion der Studentenbewegung bei F.C. Delius und Stephan Wackwitz, Utopie des Protests bei Uwe Timm MATTHIAS KUSCHE 191

Endzeitstimmung Maurice G. Dantecs Manuel de survie en territoire zéro: Strategien zur Rettung der Literatur um die Jahrtausendwende STEPHANIE SINGH 201

Thomas Glavinics Endzeitroman Die Arbeit der Nacht BIRGIT HOLZNER 215

II. Schreibverfahren der Jahrtausendwende

Virtuelle Begegnungen Totenstimmen. Phänomene phantomischen Erzählens in der Literatur um 2000 KATRIN SCHUMACHER 227

Virtuelle Begegnungen im Berlin-Roman 1998-2001 ELKE GILSON 241

Aufgesammelt, aufgezeichnet Geordnete Unordnung. Das Sammelsurium als Schreibverfahren der Jahrtausendwende MARK LUDWIG 257

Really Ground Zero. Die Wiederkehr des Dokumentarischen STEPHAN POROMBKA 267

Abgefahrene Verfahren Identitäten im Remix. Literarisches Sampling im Fadenkreuz von Postmoderne und Postkolonialismus FLORENCE FEIEREISEN 281

Das Leben ein Satz. Arnold Stadlers existenzielle Poetik JÜRGEN GUNIA 295

Erzählerische Kontingenzverwaltung bei Gregor Hens SARAH POGODA 305

Angemerkt Rhizomatisches Schreiben (und Lesen): Albert Goldbarths Pieces of Payne SABINE ZUBARIK 317

Der "Hundeblick" des Kommentators - Kommentierung und Herausgeberfiktion in Ingo Schulzes Neue Leben YVONNE PIETSCH 331

III. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen der Literatur um 2000 Autoren Authentizität in literarischem Text und Paratext. Alexa Hennig von Lange und Amélie Nothomb KATRIN BLUMENKAMP 345

Text-Labyrinthe: Roberto Cotroneos Romane im Spannungsfeld von professioneller Literaturrezeption und ambitionierter Literaturproduktion SUSANNE GRAMATZKI 361

Texte Lesende Schreiber, schreibende Leser. Lektorat in den Literaturverlagen der Jahrtausendwende PETER PAUL SCHWARZ UND SUSANNE KRONES 373

Die Schulen des Schreibens KATRIN LANGE 389

Märkte Ästhetik-Ingenieure. Internationale Belletristik auf dem deutschsprachigen Buchmarkt RENATE GRAU 401

Vierter Aufguss, abgestanden? Bestsellerbibliotheken auf dem Buchmarkt SUSANNE KRONES 413

Leser EDIT, BELLAtriste! Literaturzeitschriften um die Jahrtausendwende THOMAS GEIGER 427

Literaturen, Literaturkritik und Leser um 2000 SIGRID LÖFFLER 435

Autorenverzeichnis 447

EINE TOPOGRAPHIE DER LITERATUR EINLEITUNG

UM

2000.

EVI ZEMANEK UND SUSANNE KRONES

Der Begriff 'Jahrtausendwende' kennzeichnet den Übergang in ein neues Jahrtausend. Im Kontext dieses Buches ist damit der Wechsel vom 20. zum 21. Jahrhundert gemeint, das übrigens nicht, wie von vielen Seiten irrtümlich angenommen, mit dem Jahr 2000, sondern erst am 1.1.2001 begann. Solchen Daten oder 'Zeitschwellen' wird verbreitet Symbolkraft zugedacht, sie werden mit Hoffnungen ebenso wie mit Ängsten, bis hin zu Weltuntergangsbefürchtungen, assoziiert. Dennoch konstatiert Sigrid Löffler im abschließenden Beitrag unseres Sammelbandes: "Der kalendarische Zufall der Jahrtausendwende ist für die Literaturproduktion bedeutungslos [...]. Es gibt daher keine 'typischen Schreibverfahren der Jahrtausendwende'". Diese These wird durch die hier versammelten Beiträge in gewisser Weise relativiert: Sie zeigen, dass literarische Texte um 2000 die soziopolitischen, kulturellen oder ökonomischen Ereignisse der Jahrtausendwende thematisieren, wie sie dafür spezifische Darstellungsverfahren entwickeln und wie sie bedingt sind durch die Strukturen des literarischen Markts dieser Jahre. Durch ihre Referenz auf Geschehnisse, Lebensbedingungen und Veränderungen um jene Zeitschwelle werden sie symptomatisch für diese. Die Wahl des Begriffs 'Jahrtausendwende' zur zeitlichen Einordnung der besprochenen Werke kennzeichnet unseren Sammelband als einen selektiven Überblick über literarischer Neuerscheinungen um jenes signifikante Datum, das in der Öffentlichkeit als großes Ereignis gefeiert wurde. Obwohl wir diese Texte, die in den letzten Jahren des vergangenen, zweiten und in den ersten Jahren des neuen, dritten Jahrtausends erschienen sind, aus heutiger Perspektive ebenso mit dem Etikett 'Gegenwartsliteratur' versehen könnten, verzichten wir darauf: Der häufig verwendete Begriff ist zwangsläufig unscharf, weil er immer auf die jeweils aktuelle Literaturproduktion verweist und ihm somit ein knappes Verfallsdatum gesetzt ist. Das Signum 'Jahrtausendwende' hingegen lässt eindeutig erkennen, welcher Zeitabschnitt der Literaturgeschichte beleuchtet wird. Außerdem haftet das Etikett 'Gegenwartsliteratur' im deut11

EINE TOPOGRAPHIE DER LITERATUR UM 2000

schen Kontext heute noch beharrlich an den im vergangenen Jahrzehnt erschienenen Studien, welche die "Wende-Literatur" der Neunziger Jahre untersuchen und diese im Hinblick auf den historischen Kontext der Wiedervereinigung und der Ost-West-Gegensätze interpretieren. Um vielfach Besprochenes nicht noch einmal zu wiederholen, lässt der Sammelband deutsche Modeerscheinungen wie die breit diskutierte 'PopLiteratur' der Neunziger Jahre oder das 'Fräuleinwunder' im alten Jahrtausend hinter sich zurück – denn um 2000 treten andere Themen in den Vordergrund. Die von jungen Literatur- und Buchwissenschaftlern sowie von Akteuren des Literaturbetriebs verfassten Beiträge unseres Bandes beschäftigen sich mit internationaler Erzählliteratur, die zwischen 1995 und 2005 erschienen ist, und beantworten dabei folgende Fragen: I.

Welche neuen Themen kommen, durch den historischen Kontext inspiriert, zu den ewigen, zeitlosen Sujets hinzu?

II.

Welche Schreibverfahren sind um die Jahrtausendwende zu beobachten?

III. Unter welchen Bedingungen entsteht Literatur um 2000, welche Trends dominieren Buchmarkt, Literaturkritik und Autorenausbildung? Entsprechend dieser drei Leitfragen setzt sich der Band aus drei Teilen zusammen: Der erste Teil beschäftigt sich mit der ästhetischen Verarbeitung von historisch-kulturellen Ereignissen. Er bündelt Aufsätze zu literarischen Werken, die die Terroranschläge des 11. September, die soziopolitische Lage in Nord- und Südamerika, den Balkankrieg und seine Folgen, die Auseinandersetzung mit der Geschichte und der aktuellen ökonomischen Situation des eigenen Landes sowie Globalisierung, Migration und schließlich eine Endzeitstimmung thematisieren. Im zweiten Teil wird eine Bandbreite von Schreibverfahren erörtert: Romane der Jahrtausendwende partizipieren an den Möglichkeiten anderer Medien, indem sie sich als Mitschnitt, Sampling und Sammelsurium präsentieren, sie inszenieren virtuelle Begegnungen mit Vor- und Doppelgängern, experimentieren mit höchst individuellen Darstellungsverfahren und integrieren spielerisch selbstreflexive Paratexte ebenso wie literaturfernes Material. Der dritte Teil erläutert die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Literatur um 2000: von der (Selbst-)Darstellung der AutorInnen sowie der zunehmenden Professionalisierung und Institutionalisierung ihrer Ausbildung über die veränderten Arbeitsweisen im Lektorat und die

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EINLEITUNG

Mechanismen der Buchmärkte bis zu den Medien und Strategien der Literaturkritik. Innerhalb der drei Teile sind die Aufsätze jeweils zu einem Paar oder einer Trias arrangiert, wobei die Komponenten ein gemeinsames Thema von verschiedenen Seiten beleuchten und so einander ergänzen.

Ästhetische Verarbeitung von historischkulturellen Ereignissen um 2000 Den Auftakt bilden zwei Aufsätze zu Romanen aus dem angloamerikanischen Kulturraum, die auf unterschiedliche Weise die Terroranschläge vom 11. September 2001 reflektieren, indem sie einerseits die konkrete Trauer betroffener Hinterbliebener und andererseits die abstrakteren globalen Auswirkungen des Ereignisses schildern. Anders als es der Titel (Extremely Loud and Incredibly Close, 2006) suggeriert, steht Jonathan Safran Foers leise Trauerarbeit in starkem Kontrast zu anderen sensationsbetonten Inszenierungen dieser amerikanischen Tragödie. Der Beitrag von Evi Zemanek zeigt, wie ein kindlicher Erzähler dazu benutzt wird, den medial vielfach vermittelten Anschlag auf das World Trade Center aus einer neuen Perspektive zu zeigen und dabei die gewohnten Deutungsmuster zu hinterfragen. Im Gegensatz zu Foers Figuren werden die Protagonisten in Ian McEwans Saturday (2005) und Philip Roths Everyman (2006), die Daniella Jancsó in ihrem Beitrag fokussiert, von den Anschlägen nicht direkt tangiert. Dennoch sind sie als Verkörperungen menschlicher (Todes-)Ängste nach dem 11. September und damit als Repräsentanten der westlichen Gesellschaft konzipiert, die erst infolge dieses Ereignisses entstanden – auch wenn sie gleichzeitig auf große literarische Vorgänger referieren. Aus demselben kulturellen Umfeld wie die genannten Romane stammen die von Mary Ann Snyder-Körber untersuchten US-amerikanischen Texte von Jonathan Franzen (The Corrections, 2002), Jeffrey Eugenides (Middlesex, 2003) und Bret Easton Ellis (Lunar Park, 2005), die sie als 'neo-realistisch' deklariert. Im Zeichen einer Poetik der Nostalgie, die einem zeitgenössischen sozio-politischen Trend entspricht, propagieren sie die Rückkehr zu 'alten Werten' und aktualisieren die Form des 'bürgerlichen Familienromans' – mitunter auch als parodistische Replik auf denselben. In einer Gegenüberstellung dieses Phänomens mit dem realistischen Roman der vergangenen Jahrhundertwende zeigt sich allerdings, dass die Ablösung postmoderner Poetiken durch die Rückkehr des Mimetischen keinesfalls bloß eine Wiederholung des Realismus des 19. Jahrhunderts darstellt – zum Beispiel weil der Neorealismus der Jahrtau-

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EINE TOPOGRAPHIE DER LITERATUR UM 2000

sendwende auf eine Vorprägung durch die Erfahrung mit neuen visuellen Massenmedien setzt. In der lateinamerikanischen Literaturlandschaft lässt sich nach langer Vorherrschaft des magischen Realismus eine vergleichbare Rückkehr zur illusionslosen Schilderung der Alltagsrealität feststellen, die ebenfalls stark intermedial orientiert ist. Anhand des Romans Mantra (2001) von Rodrigo Fresán analysiert Karin Peters den Trend, durch die Integration moderner Massenmedien (wie Video, Computerspiel und Comic) ein zeitgemäßes Schreibverfahren zu generieren, das sie als 'Ästhetik totaler Medialisierung' charakterisiert. Schauplatz und Gegenstand des Romans ist Mexico City, dargestellt als 'global village' und 'Medienstadt' der Jahrtausendwende, als Bilder- und Datenflut, die dazu einlädt, das Verhältnis zwischen dem 'traditionellen' Medium Schrift und den 'neuen Medien' zu beleuchten sowie die Funktion von Hypertext, Link-Struktur oder kinematographischer Montage in der Literatur der 'Stunde (200)0' zu erörtern. Mit demselben Anspruch realistischer Literatur fokussiert der für seinen Roman La virgen de los sicarios (2001) mit dem bedeutendsten lateinamerikanischen Buchpreis ausgezeichnete Kolumbianer Fernando Vallejo die in seiner Heimat allgegenwärtige Gewalt – die beliebteste lateinamerikanische Thematik auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Außergewöhnlich sind nicht die Szenarien der Gewalt selbst, sondern ihre Darstellung: In exzessiven Monologen provoziert Vallejo mit narrativ ungeregelten Hasstiraden. Johanna Schumm zeigt, wie er die Taten kindlicher Serienmörder mit der abendländischen Debatte über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verknüpft: unter Berufung auf das Konzept des acte gratuit, das sich thematisch im Motiv der motivlosen Morde realisiert. Damit schreibt Vallejo eine literaturgeschichtliche Tradition von Dostojewski bis Camus fort, wobei er den acte gratuit auf die Erzählweise überträgt und die Gewalt in einen rücksichtslosen verbalen Taumel transformiert. Gewalt steht auch im Zentrum der um die Jahrtausendwende erschienenen Romane über den jugoslawischen Bürgerkrieg. In unserem Band werden Darstellungen des Balkankriegs aus zweierlei Perspektiven beleuchtet: aus der Sicht einer der mittlerweile zahlreichen kroatischen Schriftstellerinnen, die über das kollektive Kriegstrauma schreiben, sowie seitens deutscher Autoren mit besonderer Affinität zu jenem Kulturraum oder starkem politischen Interesse. Katja Kobolt zeigt anhand des Romans Als gäbe es mich nicht (1999), dessen Autorin Slavenka Drakuliü sich in die Rolle einer sexuell misshandelten Lagerinsassin versetzt, wie die europäische Holocaustliteratur als Prätext für die Darstellung der Balkankriege fungieren kann. Dieser Roman wird als Traumabericht interpretiert, der erinnerungspolitische Ziele verfolgt. Im Bemühen um eine

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EINLEITUNG

vergleichbare Authentizität bedienen sich auch deutsche Autoren Formen der Ich-Erzählung in ihren 'Reiseberichten'. Boris Previsic untersucht diese narrative Strategie in Texten von Peter Handke (Gerechtigkeit für Serbien, 1996), Juli Zeh (Die Stille ist ein Geräusch, 2002) und Saša Stanišic, dessen Roman (Wie der Soldat das Grammofon repariert, 2006) durch die Wahl der Kinderperspektive auf den Krieg mit dem von Evi Zemanek besprochenen Text von Jonathan Safran Foer vergleichbar ist. Seit den 1990er Jahren erfährt die soziokulturelle Konstruktion von 'Geschlecht' und 'Ethnizität' im Kontext der Globalisierung nicht nur in Theoriediskussionen große Aufmerksamkeit. Auch literarische Texte verhandeln vermehrt Fragen von 'Identität' und 'Alterität' und verlegen deren Konstruktion in das eigene Schreibverfahren. Andrea Geier bespricht Erzähltexte von Terézia Mora (Seltsame Materie, 1999; Alle Tage, 2004) und Thomas Meinecke (Tomboy, 1998; Hellblau, 2001; Musik, 2004), denen die poetologische Reflexion im Schnittfeld von Geschlecht und Interkulturalität gemeinsam ist, wenngleich sie unterschiedliche ästhetische Verfahren entwickeln. Moras Texte konzentrieren sich auf die Beschreibung von Selbst- und Fremdbildern in interkulturellen Konfliktsituationen, sie fokussieren Facetten von Fremdheit und setzen sich mit Distanzierung und Empathie auseinander. Für Meineckes Texte hingegen ist die Einbindung theoretischer und populärer Diskurse charakteristisch. Indem er Lektürespuren vertextet, thematisiert der Autor kulturelle Zuschreibungspraktiken. Wie dieser Beitrag, widmet sich ein zweiter der narrativen Identitätsbildung vor dem Hintergrund der Interkulturalitätsforschung: Eva Schopohl beschäftigt sich mit zwei Romanen von Suzanne Glass und Suki Kim, die beide den Titel The Interpreter tragen und deren Protagonistinnen Dolmetscherinnen sind. In unterschiedlichen, aber gleichermaßen multikulturellen Milieus angesiedelt, reflektieren beide Texte die Handlungsmöglichkeiten und die moralische Integrität der Dolmetscherinnen, die in einem kulturellen Zwischenraum und an einem Angelpunkt im interkulturellen Machtgefüge agieren. Eva Schopohl betrachtet sie als "Interpretinnen der Globalisierung". Indem beide Romane Identitätskonflikte schildern, problematisieren sie Multikulturalität und interkulturelle Kommunikation. Weitere Indizien für die Bezugnahme literarischer Texte auf die Gegenwart um 2000 liefern zwei Beiträge, die untersuchen, inwieweit sich wirtschaftliche Prozesse in der 'Schönen Literatur' spiegeln. Christoph Deupmann geht anhand von Texten von Urs Widmer (Top dogs, 1995), Georg M. Oswald (Alles was zählt, 2000) und Ernst Wilhelm Händler (Wenn wir sterben, 2004) der Frage nach, wie Wirtschaftsstrukturen ästhetisch vermittelt oder gar sprachlich nachgebildet werden. Gegenwartsliteratur handelt nicht nur von der Ökonomie, sondern reflektiert sie

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EINE TOPOGRAPHIE DER LITERATUR UM 2000

auch in ihrer Form: Sie erzählt nicht nur von der 'Neuen Ökonomie', sondern auch auf neue Weise davon – zum Beispiel indem die Universalität des Ökonomischen, das Bestreben, alles mit allem konvertibel zu machen, in der Absorption und Transformation heterogener Stile und Gattungen literarisch umgesetzt wird. Ergänzend dazu zeigt Stefanie Ablass in ihrem Aufsatz Interdependenzen zwischen ökonomischer und physischer Sphäre, präziser: eine "Ökonomisierung des Körpers". Der Körper erlebt bereits in den 1990er Jahren eine Konjunktur in der deutschsprachigen Literatur. Um die Jahrtausendwende tritt bei seiner Thematisierung die Besetzung des Physischen durch ökonomische Prinzipien in den Vordergrund. Die Romane von John von Düffel (EGO, 2001), E.W. Händler (Wenn wir sterben, 2005) und Kathrin Röggla (Wir schlafen nicht, 2004) zeigen Körper, die zu Marken stilisiert werden. Auf dem Markt von ewiger Schönheit und Jugend wird der Einzelne zum Shareholder seines privatesten Humankapitals. Es sind Unternehmer und Manager, deren Körper in den Wirkungskreis der Gesetze von Angebot und Nachfrage, Kalkül und Gewinnmaximierung gezogen werden. Als Objekt wird der Körper von seinen 'Eigentümern' analysiert und therapiert (Röggla), mit ihm wird kalkuliert und spekuliert (Händler), man trainiert oder verkauft ihn (von Düffel). In der Summe konturiert sich ein Verständnis des Körpers als verfügbares Vermögen, wenngleich die Texte auch Körper präsentieren, die dem ökonomischen Diktat nicht gewachsen sind. Im Gegensatz dazu scheint die Verarbeitung der Vergangenheit ein altes Thema zu sein: Es verliert jedoch nie an Aktualität, solange die Verarbeitung auf stets neue Weise erfolgt und eine veränderte Perspektivierung auf unveränderliche Fakten vornimmt. Tim Reiß zeigt dies am Umgang mit NS-Verbrechen in Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995). Nach der Wiedervereinigung setzte sich ein Deutungsmuster durch, das unter 'Normalisierung' die Absage an die gesellschaftskritische Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik durch die Angleichung an die internationale Norm des unterhaltenden Bestsellers verstand. Schlinks Bestseller markiert einen Wendepunkt in der jüngsten Literaturgeschichte, weil hier erstmals dieses Rezeptionsschema auf einen Roman angewendet wurde, der die 'Normalisierung' des Verhältnisses zum dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zugleich zum Thema hat. Dass der Text seine Intention, ein neues Verhältnis zum Faschismus und dessen Tätern zu etablieren, auf der Oberfläche ausspricht, täuscht darüber hinweg, dass das entscheidende Merkmal in einem literarisch-rhetorischen Verfahren liegt, das man "Selbstkritik als Immunisierungsstrategie" nennen könnte. Einem anderen Abschnitt der deutschen Geschichte widmet sich Matthias Kusche, indem er anhand von Romanen von F.C. Delius,

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EINLEITUNG

Uwe Timm und Stephan Wackwitz die vermehrt zu beobachtende Neubewertung der 68er-Studentenbewegung betrachtet. Gemeinsam ist den ausgewählten Texten der neue Zugriff auf das Thema: Jüngste Literatur hält sich nicht mehr mit den Gründen des Scheiterns der Studentenbewegung auf, vielmehr korrigieren ihre Bilanzen das Anliegen damaliger Gesellschaftskritik. So wird das Schreiben über die Studentenbewegung zu einem Trend, der auf ihre Entzauberung abzielt. Ihre Mythisierung sowie ihre Entmythisierung sind Pole des öffentlichen Diskurses, an dem die deutsche Literatur seit den frühen 1970er Jahren beteiligt ist. Die Analyse der neuesten Texte über die Studentenbewegung offenbart, dass dieselbe, da sie als das historisch Unterlegene erkannt wird, nun als das notwendig Erfolglose behandelt wird. Sie beschreiben die historischen Prozesse mit teleologischer Zielsicherheit – im Sinne eines ideologischen Verfahrens, das sie eigentlich kritisieren. Mit dem Millenniumswechsel werden, mehr noch als mit einem Jahrhundertwechsel, Befürchtungen assoziiert, die eine Vernichtung unserer Kultur heraufbeschwören. Auf welche Weise sich diese Endzeitstimmung in der Belletristik niederschlägt und Visionen des Weltuntergangs vorstellt, zeigen die beiden letzten Beiträge des ersten Teils. Stephanie Singh widmet sich dem zwischen 1999 und 2001 entstandenen Journal métaphysique et polémique des französischen Schriftstellers Maurice G. Dantec, das soziopolitische Ereignisse jener Zeit mit autobiographischen Passagen ebenso wie mit Kommentaren zur Populärkultur und zu wissenschaftlichen Entwicklungen verbindet. Das Journal entwickelt eine millennaristisch akzentuierte Apokalyptik: Die Welt erscheint als Laboratorium zur Vorbereitung einer Katastrophe. Die Komplexität der Gegenwart spiegelt sich in der Diversität der eingesetzten Schreibweisen, die zwischen Essay, Gedicht, Sentenz, Literaturkritik, Journalismus und philosophischer Reflexion changieren. Obwohl die Literaturproduktion angesichts der Problemlage sinnlos scheint, umfasst Dantecs Journal über 1500 Seiten. Stephanie Singh zeigt, wie die Literatur gerade aus einer methodischen Gegenwartsbezogenheit Strategien der Relevanzsetzung entwickelt, die nicht nur ihre Kompetenz als Reflexionsmedium manifestieren, sondern auch und gerade jenseits dieser Funktionalität ihre Aktualität als Kunstform offenbaren. Die Popularität einer MillenniumsApokalyptik, die diffuse globale Zukunftsängste in Schreckensszenarien anschaulich macht, zeigt auch der Erfolg von Thomas Glavinics Endzeitroman Die Arbeit der Nacht (2006), den Birgit Holzner bespricht. Der österreichische Roman geht einen Schritt weiter als der französische Text, indem er einsetzt, nachdem die Katastrophe passiert ist. Damit erinnert Glavinics Weltuntergangsvision motivisch an ihre Vorgänger, Arno Schmidts Schwarze Spiegel, Marlen Haushofers Die Wand und

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EINE TOPOGRAPHIE DER LITERATUR UM 2000

Herbert Rosendorfers Großes Solo für Anton – drei Romane, in denen die Hauptfigur als einzige eine rätselhafte Katastrophe überlebt und als letzter Mensch auf Erden verbleibt. Glavinics Text profiliert sich gegenüber den anderen dadurch, dass er die zunehmende Paranoia mit medientheoretischen Reflexionen, etwa über die Objektivität von Videoaufzeichnungen, verbindet.

Schreibverfahren der Jahrtausendwende Als "phantomisches Erzählen" bezeichnet Katrin Schumacher ein Phänomen, das sich in der Literatur um 2000 bemerkenswert oft manifestiert: 'Tote' erzählen die Geschichte(n). In Sibylle Lewitscharoffs Roman Consummatus (2006) etwa mischen sie sich als "Wir" in den Text, typografisch markiert durch die blasse Drucklegung der Totenstimme(n); in Thomas Hettches Kriminalstück Der Fall Arbogast (2001) ersteht ein Mordopfer auf, steuert Anklage und Entlastung des Protagonisten; Stuart O’Nans The Night Country (2003) wird aus der Perspektive verunglückter Teenager erzählt; in fast allen Romanen Haruki Murakamis wird die Grenze zwischen Leben und Tod überquert und das Jenseits wird zu einem kommunikationsgenerierenden Raum. Der Einbruch der Toten ins Diesseits der Jahrtausendwende setzt eine Tendenz fort, die sich bereits an den vorherigen Jahrhundertwenden konstatieren lässt: Der "Einbruch der Endlichkeit" (Foucault) um 1800 bringt die Signale aus dem Jenseits ebenso aufs Tapet wie die neue Psychologie um 1900. Kalendarische Übertritte provozieren die gesteigerte Diskursivierung von Denkfiguren der Endlichkeit und des Wandels. Die Rede aus dem Jenseits um 2000 steht nun für aktuell virulente Diskurszusammenhänge, wie das Verhältnis des dissoziierten Subjektes zu seiner kontingenten Umwelt sowie technisch und medial bedingte Grenzzerrüttungen. Als Symptom einer grundsätzlichen epistemologischen Verunsicherung deutet auch Elke Gilson ein weiteres Phänomen, das sie insbesondere im Berlin-Roman 19982001 beobachtet: "Virtuelle Begegnungen" mit Traumbildern und anthropomorphisierten Erinnerungen schieben sich vielfach vor realistische Wahrnehmungsweisen der Hauptstadt und ihrer Bewohner – oft mit deutlicher Anspielung auf E.T.A. Hoffmann und im Rückgriff auf den Motivschatz der Romantik. Die Unfähigkeit, die Grenzen zwischen Außen und Innen, 'Input' und 'Output', aufrechtzuerhalten, wenn sie auf den Straßen der Stadt ihren jeweiligen 'Doppelgängern' gegenüber stehen, ist einer Reihe von Figuren gemeinsam: Sibylle Lewitscharoffs Protagonist Pong (1998), Norman Ohlers Klinger, der in der Spukgeschichte Mitte (2001) mit Geistern knfrontiert ist, Inka Pareis Schattenboxerin (1998) und Klaus Schlesingers Held Strehlow (Trug, 2000).

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Ein aufsehenerregendes Schreibverfahren anderer Art realisiert sich im so genannten Sammelsurium, das sich im Grenzbereich zwischen Literatur und Sachbuch situiert. Schott’s Original Miscellany (2002), auf deutsch 2004 als Schotts Sammelsurium erschienen, löste als einer der größten Überraschungserfolge des internationalen Buchmarktes geradezu eine Mode aus, die in Deutschland ähnliche Bücher folgen ließ. Mark Ludwig untersucht in seinem Beitrag das Prinzip der "geordneten Unordnung". Die Listen von Marginalien, Kuriosem und manchmal auch Praktischem beziehen ihren Reiz aus dem Nebeneinander von Disparatem, bedienen sich innerhalb dieser Auflistungen aber meist bestimmter Ordnungsmuster. Ben Schott nennt sein Verfahren einen "Fischzug in den Gründen unbeachteter Kleinigkeiten", dessen Ziel darin bestehe, das "Treibgut der Konversationsgezeiten einzusammeln". 'Literatur' übernimmt hier die Funktion eines Archivs des Randständigen, wobei die Selektionsverfahren entscheidend sind. Gerade in der sozialen Situation um 2000, die mit den Begriffen 'Informationsgesellschaft' oder 'Globalisierung' beschrieben wird, gewinnt das Anliegen, das Auge des Lesers wieder auf das Überschaubare zu lenken, Bedeutung. Die Tendenz, unterschiedlich gestaltete 'Archive des Alltags' anzulegen, beobachtet auch Stephan Porombka in seinem Aufsatz, der eine neue Konjunktur dokumentarischer Literatur-Formate – das Protokoll, den O-Ton und den Live-Mitschnitt – nachweist. Jürgen Teipel zum Beispiel schreibt in Verschwende Deine Jugend (2001) die Geschichte der Popmusik mit Gesprächsschnipseln, während Kathrin Röggla in Wir schlafen nicht (2004) die Diskurse von Managern zerschneidet und reorganisiert. Als "Webcams" und "Snapshots" werden in den Feuilletons neue literarische Formen präsentiert, in denen der Schreibende nur noch maschinell beobachten will, was passiert. Hierbei wird all das noch einmal durchgespielt, was schon in den 60er und 70er Jahren die 'Dokumentarliteratur' bewegt hat, doch an die Stelle des Politischen, das Peter Weiss, Enzensberger oder Erika Runge angetrieben hat, tritt nun das Spiel mit dem Scheinhaften des Medialen. Ein weiteres Schreibverfahren, das man als "literarisches Sampling" bezeichnen kann, zeigt Florence Feiereisen in ihrem Beitrag anhand dreier Romane Thomas Meineckes, Tomboy (1998), Hellblau (2001) und Musik (2004). Meinecke vertritt die dekonstruktivistische Position, dass alle (sozialen und geschlechtlichen) 'Identitäten' Konstrukte sind, die durch Remix entstehen. Florence Feiereisen fokusiert Meineckes Darstellung hybrider Identitäten und beschreibt die DJ-nahe Schreibweise als ein postmodernes Verfahren par excellence. Seine Popliteratur liest sie als hochreflektierte Literatur der Jahrtausendwende, die musikalische Produktionsmethoden auf Texte überträgt.

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EINE TOPOGRAPHIE DER LITERATUR UM 2000

In einem völlig andersartigen poetischen Konzept resultiert die Literarisierung des Lebens bei Arnold Stadler, Büchner-Preisträger des Jahres 1999. Jürgen Gunia erörtert dies in seinem Beitrag "Das Leben ein Satz" am Beispiel der Romane Der Tod und ich, wir zwei (1996), Ein hinreißender Schrotthändler (1999), Sehnsucht (2002) und Eines Tages, vielleicht auch nachts (2003) sowie der Anthologie Tohuwabohu (2002). Obwohl Stadlers Texte die Illusion erzeugen, Geschichten des Lebens zu erzählen, liefern sie kein 'realistisches Abbild' desselben. Sattdessen fragmentieren sie das narrative Kontinuum und setzen rhetorisch überformte, aphoristische 'Sätze' frei. Letztere können jedoch nicht, wenngleich existenziell signifikant, als Lebensweisheiten gelesen werden, sondern sie sind sprachliche Konstrukte, die im Modus ästhetischer Erfahrung affektive Intensität evozieren. In der Text-Fragmentierung und der damit einhergehenden existenziellen Aktivierung des Lesers zeigt sich nicht nur der Zusammenhang von Literatur und Leben, sondern auch der des Schreibprojekts Stadlers mit der Poetologie der Romantik. Wie ein Literaturwissenschaftler als Autor zu einem individuellen Schreibverfahren findet, lässt sich an Gregor Hens' Debütroman Himmelssturz (2002) beobachten. Sarah Pogoda zeigt, dass die Reziprozität zwischen W i e und W a s diesen Text auszeichnet, dem architektonische Konzepte zugrunde liegen. Das strukturierende Vorbild ist das Gebäude Fallingwater des amerikanischen Architekten F.L. Wright, das überdies als Daseinsmetapher fungiert. Intermediale Markierungen und poetologische Kommentare machen das Schreibverfahren und den Ich-Erzähler als ordnungs- und sinnstiftende Instanzen transparent. Interessant ist, dass Rücksichten auf die Vermarktung eine Änderung des ursprünglichen Titels Fallingwater zu Himmelssturz erforderten und somit die Bedingungen des Literaturmarkts in die Texterschließung eingreifen. Die letzten beiden Beiträge des zweiten Teils beschäftigen sich mit so genannten 'Fußnotenromanen', die um 2000 einen Boom erleben. Es handelt sich um Texte, deren Narration strukturell auf (mindestens) zwei Textebenen verteilt ist, wobei scheinbar marginale 'Anmerkungen' eine sinnkonstitutive Rolle spielen. Sabine Zubarik erläutert, wie Albert Goldbarths Roman Pieces of Payne (2003) Aufspaltung, Fragmentierung und Diskontinuität auf die Spitze treibt und Bi-und Polyfurkation nicht nur explizit verhandelt, sondern zudem struktural konsequent durchführt. Spannend ist, dass dieses Schreibverfahren auch Komplementarität produziert und der Text gleichzeitig auseinanderdriftet und durch Auflistungen in geordneter Kohärenz resultiert. Auch Ingo Schulzes Roman Neue Leben (2005) profiliert sich durch eine inhärente Kommentierung, hier im Rahmen einer Herausgeberfiktion. 'Schulze' figuriert im Text als Herausgeber und beginnt damit ein "romantisches Spiel mit den Identi-

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täten". Als Editor und Kommentator der Briefe des Ostdeutschen Enrico Türmer, der die 'Wendezeit' aus autobiographischer Perspektive beschreibt, fällt er diesem zunehmend besserwisserisch ins Wort. Hat der Leser zunächst den Eindruck, er habe durch die Anmerkungen einen hilfreichen Lektürebegleiter an der Hand, der den Briefeschreiber korrigiert, wird gegen Ende deutlich, dass der 'Herausgeber' eigene Interessen verfolgt. Durch die Unterbrechung des linearen Fließtextes entsteht eine Polyphonie, es entfaltet sich ein Vexierspiel zwischen realer und fiktionaler Welt sowie ein Verwirrspiel der Identitäten.

Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen der Literatur um 2000 Zu Beginn des dritten Teils unseres Bandes wird in den Blick genommen, wie Autorinnen und Autoren auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen um die Jahrtausendwende reagieren. Da mit einem gesteigerten öffentlichen Interesse an ihrer Person zu rechnen ist, scheint es, als müssten sie "zu ihren Büchern ein Image mitliefern" (Benjamin von Stuckrad-Barre), um erfolgreich zu sein. Wie authentisch kann ein solches Image in einer Mediengesellschaft überhaupt ausfallen? Katrin Blumenkamp untersucht das Verhältnis von Authentizität in literarischem Text und Paratext am Beispiel der beiden Autorinnen Alexa Hennig von Lange (Relax, 1997; Ich habe einfach Glück, 2001; Woher ich komme, 2003) und Amélie Nothomb (Staunen und Zittern, 1999; Metaphysik der Röhren, 2000; Kosmetik des Bösen, 2001; Im Namen des Lexikons, 2003). Blumenkamp zeigt, wie kommerzielle Interessen die Schreibweisen beider Autorinnen beeinflussen, wie sie durch Medienauftritte ein Image konstruieren und das Interesse an ihrer Person in ihren literarischen Texten bedienen. Mit verschiedenen Mitteln arbeiten beide an der Suggestion von Authentizität. Ergänzend dazu analysiert Susanne Gramatzki anhand von Roberto Cotroneos viel beachtetem Erstlingswerk Presto con fuoco (1995) das Zusammenspiel von professioneller Literaturrezeption und künstlerisch ambitionierter Literaturproduktion. Als einer der bekanntesten Literaturkritiker Italiens und als langjähriger Kulturredakteur des Espresso ist Cotroneo mit der Vielfalt narrativer Strategien ebenso wie mit den Gegebenheiten der nationalen wie internationalen Literaturszene vertraut – was sich auf exemplarische Weise in der Konzeption seiner fiktionalen Texte niederschlägt. Die beiden darauffolgenden Aufsätze verschieben den Fokus von der Person des Autors auf den literarischen Text und seine Entstehungsbedingungen: Susanne Krones und Peter Paul Schwarz gestatten in ihrer empirischen Studie zum Lektorat in den Literaturverlagen der Jahrtau-

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sendwende einen Blick in die Werkstatt der Belletristiklektoren. Ein Beruf, über den zwar viele Bilder kursieren – vom kühl kalkulierenden Produktmanager, über den unsichtbaren Zweiten oder geistigen Geburtshelfer bis zum Ghostwriter –, aber wenig Berufsfeldwissen existiert. Wie gehen LektorInnen bei der Akquise vor? Spielen Ausbildungsgänge für literarisches Schreiben eine Rolle und inwiefern ist die Medienkompatibilität eines Autors ausschlaggebend? Wie gestaltet sich die gemeinsame Textarbeit konkret? Die hier präsentierte Studie liefert Antworten auf diese Fragen und relativiert Klischees wie etwa das der Dominanz von Produktmanagement-Aufgaben im Arbeitsalltag des Lektors. Neben den Verlagslektoraten beeinflussen seit einigen Jahren auch Programme für literarisches Schreiben unmittelbar die Entstehung jüngster Gegenwartsliteratur. Katrin Lange, die am Literaturhaus München ein solches Programm verantwortet, gibt einen Überblick über verschiedene Institutionen der literarischen Aus- und Fortbildung. Noch immer sehen sich die Studiengänge für literarisches Schreiben – sei es am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig oder an der Universität Hildesheim, in den Seminarprogrammen des Literaturhauses München oder des Literarischen Colloquiums Berlin – mit dem Vorwurf konfrontiert, Institutsprosa zu produzieren. Letzteres prüft Langes Beitrag, indem er reflektiert, was überhaupt lern- und lehrbar ist und inwieweit eine derartige Ausbildung das Selbstverständnis der Autoren sowie ihre Texte verändert hat. Während sich die genannten Schreibstudiengänge um die Entwicklung der jüngsten deutschsprachigen Literatur kümmern, dominieren den Buchmarkt der Jahrtausendwende eigentlich zwei andere Felder: die internationale Belletristik, die, vorwiegend aus dem angloamerikanischen Kulturraum, in den deutschsprachigen Raum eingekauft und übersetzt wird, und die Masse von Lizenzausgaben moderner Klassiker des 20. Jahrhunderts, die in hochwertiger Sonderausstattung sowie zu sensationell niedrigen Preisen mittlerweile ganze Bibliotheken füllen. Renate Grau rekonstruiert in ihrem Beitrag die Bedingungen, unter denen "Ästhetik-Ingenieure" (Agenten, Foreign Rights Manager ausländischer Verlage, Lektoren und Verleger der Verlagshäuser im deutschsprachigen Raum) internationale Belletristik auf den deutschsprachigen Buchmarkt bringen. Grau zeigt paradoxe Phänomene des Marktversagens, etwa in der Allokation von Autoren zu Verlagen, und betont die wichtige Rolle der "gatekeeper". Es werden Mechanismen sichtbar, die darüber entscheiden, welche internationale Literatur im deutschsprachigen Raum wahrgenommen wird: So müssen Titel mit Durchschlagskraft die nötige Aufmerksamkeit finden und eine spezifische Repräsentativität aufweisen, um in einem Verlagsprogramm Aufnahme zu finden. Außerdem spielen,

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wie in jeder Sparte des Mediengeschäfts, gewachsene Geschäftsbeziehungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Susanne Krones widmet sich 'Bestsellerbibliotheken' wie etwa der "SZ-Bibliothek" und fragt nach den Gründen für den immensen Erfolg derartiger Medienkooperationen um 2000. Sie sprechen neue Leser an, prägen deren Vorstellung von 'Bildung' und tragen entscheidend zur 'Kanonbildung' in ihrem Segment bei – obwohl sie, anders als klassische Reihen wie die "Bibliothek Suhrkamp" oder "Die Andere Bibliothek", nicht auf einem altbekannten Verlagsmodell fußen. Stattdessen publizieren 'Bibliotheken' dieser neuen Art nur Lizenzen, keine Originalausgaben, nur durchgesetzte Autoren, keine Debütanten oder Wiederentdeckungen. Krones überlegt, wie es die heute entstehende Literatur beinträchtigt, dass auf dem Markt die jüngste Vergangenheit dominiert. Während die Bestsellerbibliotheken der Medienkonzerne kontinuierlich mit Marketingkampagnen begleitet werden, wird es um die Foren, in denen Leser literarische Texte 'aus erster Hand' konsummieren oder gar 'im Entstehen' beobachten können, zunehmend stiller: gemeint sind literarische Zeitschriften, die Prosa und Lyrik publizieren und auf entstehende Romane mit Vorabdrucken neugierig machen – wie die Akzente oder ihre jüngeren Schwestern EDIT und BELLAtriste. Thomas Geiger, Herausgeber der Sprache im technischen Zeitalter, wundert sich deswegen zurecht, dass es sie noch in beachtlicher Menge gibt, und bietet einen Überblick. Topographisch gesehen kümmern sich solche Zeitschriften häufig um Randlagen, um regionale Literaturen sowie um Gattungen, deren Nische auf dem Buchmarkt klein ist. Oft ermöglicht ihnen gerade ihre Nischenexistenz eine individuellere Handschrift als sie einem Organ, das einen größeren Markt akquirieren muss, erlaubt ist. Eine Literaturzeitschrift hat es allerdings geschafft, sich auf dem deutschsprachigen Markt zu etablieren: Sigrid Löfflers Literaturen, die eine wichtige Beobachtungsinstanz der Literatur um die Jahrtausendwende geworden ist. Die Herausgeberin erörtert im Gespräch mit Susanne Krones und Peter Paul Schwarz den Strukturwandel auf dem globalen Buchmarkt sowie Schreibweisen und Selbstdarstellungen von Autoren. Löffler beobachtet "eine starke Homogenisierung und Konformisierung der Verlagsprogramme". Daraus entsteht ein unverhältnismäßiger Werbeaufwand, um die Titel unterscheidbar zu machen. "Gewetteifert wird um das marktgängigste Massenbuch, das aber naturgemäß auch das austauschbarste ist. Und je gleichförmiger die Bücher ausfallen, desto mehr müssen die Marketing-Strategen sich einfallen lassen, um sie als unverwechselbar ausrufen zu können." Dieser Zirkel wirke wiederum auf entstehende Literatur zurück. Dazu komme die Herausforderung eines gewandelten Leser-Verhaltens, "weg vom Durchleser, hin zum

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Überflieger, zum Häppchen-Leser, zum Bücher-Zapper. Immer mehr Menschen lesen so, wie sie fernsehen." Soweit ein erster Überblick über das literarische Feld der Jahrtausendwende, der ihre Topographie sichtbar macht. Die literaturwissenschaftliche Forschung schreibt Literaturgeschichte in der Regel retrospektiv, aus größerem zeitlichem Abstand. Dabei ist für nachgeborene Leserinnen und Leser oft nicht mehr nachvollziehbar, welche Autorinnen und Autoren einst den literarischen Markt eroberten, wenn deren Erfolg beim Publikum nur von relativ kurzer Dauer war. Anders als die Literaturkritik des Feuilletons schenken literaturwissenschaftliche Studien meist nur denjenigen Autoren Beachtung, die schon oder mit größter Sicherheit bald als kanonisch gelten. Die Aufsätze unseres Bandes nähern sich insofern der Literaturkritik an, als mitunter Autorinnen und Autoren Beachtung finden, die heute viel gelesen werden, deren Erfolgsdauer jedoch noch nicht absehbar ist. Im Unterschied zur Feuilleton-Kritik werden die Werke jedoch literatur- und buchwissenschaftlichen Betrachtungsweisen jenseits von Polemik unterzogen. Ziel aller Beiträge ist es, auf diese Weise die wissenschaftliche Perspektive mit dem feuilletonistischen Fokus des Hier und Jetzt zu verbinden und über die Sprach- und Kulturräume hinweg die Spezifika der Literatur der zweiten Jahrtausendwende zu entdecken – in Beiträgen, die literarisches Schreiben methodisch und tiefgehend reflektieren, aber darauf verzichten, literaturwissenschaftliche Theoriedebatten um ihrer selbst Willen auszufechten. In diesem Sinn laden wir, gemeinsam mit Literaturwissenschaftlern aus Forschung und Lehre sowie mit Profis aus dem Literaturbetrieb, zu einer Auseinandersetzung mit der Literatur unserer Jahrtausendwende ein – denn die Themen und Schreibweisen sind ein Signum unserer Zeit.

Evi Zemanek und Susanne Krones, München 2008

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I. ÄSTHETISCHE VERARBEITUNG VON HISTORISCHK U L T U R E L L E N E R E I G N I S S E N U M 2000

T R A U E R S P I E L E R E I E N : D E R 11. S E P T E M B E R A U S KINDLICHER PERSPEKTIVE. JONATHAN SAFRAN FOERS EXTREMELY LOUD AND INCREDIBLY CLOSE EVI ZEMANEK

"Extremely Loud and Incredibly Close" – so beschreibt der Neunjährige Oskar Schell sein Leben in New York nach dem 11. September 2001.1 Schon die hyperbolische Ausdrucksweise im Titel des Romans verrät, dass er von einem Kind erzählt wird, das leicht zu beeindrucken ist. Hier aber geht es um die Folgen eines Ereignisses, das unsere gesamte westliche Welt tatsächlich tief beeindruckt hat. Wer den Titel als Versprechen einer lautstarken und anschaulichen Darstellung des Terroranschlags liest, wie sie der französische Autor Frédéric Beigbeder mit Windows on the World (2003) und der amerikanische Filmemacher Oliver Stone in World Trade Center (2006) dem Publikum präsentieren, wird in seiner Erwartung enttäuscht: Denn Jonathan Safran Foer verzichtet ganz auf eine Schilderung des Ereignisses und wählt wesentlich leisere Töne für die Trauer. An den Anblick der einstürzenden Türme haben wir uns leider längst gewöhnt: Unsere Abstumpfung ist der Ausgangspunkt für Foers Experiment. Dieses beginnt der junge Autor im vollen Bewusstsein, damit Antworten auf zwei Fragen geben zu müssen, die uns schon aus der Diskussion um die Beschreibung des Holocaust bekannt sind: Ist es moralisch einwandfrei, ein solches Ereignis fiktional auszugestalten? Und: Wie kann man ein derartiges Grauen überhaupt beschreiben? Im Fall der Holocaust-Darstellung schien jahrzehntelang eine Art Schweigegebot gegolten zu haben, das die 'literarische', fiktionalisierte Schilderung lange aufschob.2 Noch immer ist die Anzahl fiktionaler Darstellungen jener Thematik im Vergleich zu den autobiographischen 1

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Vgl. Jonathan Safran Foer, Extremely Loud and Incredibly Close, New York/ London 2005. Fortan zitiert unter dem Kurztitel Extremely Loud – Dt.: Extrem laut und unglaublich nah, übs. v. Henning Ahrens, Köln 2005. Fortan zitiert unter dem Kurztitel Extrem laut. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich vergleiche nicht den Holocaust und den 11. September, sondern die jahrlange Diskussion über deren literarische Darstellung bzw. über angemessene Formen des Gedenkens. 27

ÄSTHETISCHE VERARBEITUNG HISTORISCH-KULTURELLER EREIGNISSE UM 2000

Berichten Überlebender verschwindend gering. Darf man angesichts der bis heute relativ wenigen publizierten Romane über den 11. September von einer ähnlichen Tabuisierung ausgehen, die erst noch zu überwinden ist?3 Oder zählen wir den 11. September zu den 'unbeschreibbaren' Ereignissen unserer Zeit? Schwer lastet die Verpflichtung auf den Schultern der Schriftsteller, die 'angemessene' Schreibweise für dieses Thema zu finden. Groß ist die Gefahr, die Gefühle der Überlebenden und Hinterbliebenen zu verletzen, deren Haltungen zwischen dem Wunsch nach Aufklärung und Andenken sowie dem Bedürfnis nach Vergessen schwanken. Riskant ist die Gratwanderung zwischen Sentimentalisierung und Trivialisierung. Unangemessen scheint es vielen, wenn die Lektüre eines Buches solcher Thematik nicht nur Betroffenheit weckt, sondern zugleich gute Unterhaltung bietet – was Foers Roman zweifellos leistet.4 Hinzu kommt die Sorge, die Schilderung derartiger Szenarien des Schreckens könnten das Gefallen am Grauen und die Lust auf Gewalt schüren oder befriedigen. Nichts liegt Foer ferner, so viel sei vorweg genommen.5 Der Roman beginnt harmlos-verspielt als Selbstgespräch eines Jungen, zu dessen Lieblingsbeschäftigungen es gehört, Dinge zu erfinden, wie eine Teekanne, die nicht nur Melodien pfeift und Shakespeare rezitiert, sondern auch mit der Stimme des verlorenen Vaters zu ihm spricht. Die Schwere dessen, was amüsant und leichtfüßig beginnt, kann der Leser zu diesem Zeitpunkt, als er den aufgeweckten Jungen kennen lernt, noch nicht erfassen. Wie geschickt Foer die verfremdende Wahrnehmung seines kindlichen Erzählers strategisch dafür einsetzt, das medial vielfach vermittelte Ereignis aus einer neuen Perspektive zu betrachten und dabei die gewohnten Deutungsmuster zu umgehen, wird dieser Beitrag zeigen. Dabei wird Stimmen aus der Literaturkritik widersprochen, die derartige "literarische Spielereien" verbieten und zweifelnd fragen: "Darf man eine solche Figur auf eine Tragödie wie den 11. September loslassen?"6

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Wenngleich Texte aus verschiedensten Kulturen nun oftmals am Rande auf den Terroranschlag und seine Folgen verweisen (vgl. dazu den Beitrag von Daniella Jancsó im vorliegenden Band), avancierte er bislang nur in wenigen (vor allem angloamerikanischen) Romanen zum Hauptthema. Nennenswert, da wie Foers Roman ästhetisch anspruchsvoll gestaltet, ist Don DeLillos Falling Man (New York 2007). Vgl. dazu auch Ruth Klüger, "Darf man sich gut unterhalten bei einem Film über den Holocaust?", in: Von hoher und niedriger Literatur, S. 38. Beigbeder hingegen bedient eine Lust am Grauen: Sein Roman gleicht einem Psychothriller. Vgl. Sascha Verna, "Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen. Jonathan Safran 28

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Oskars Odyssee Nach eigenen Angaben auf seiner Visitenkarte ist der Neunjährige "Erfinder, Schmuckdesigner, Amateurentomologe, Frankophiler, Veganer, Origamikünstler, Pazifist, Perkussionist, Amateurastronom, Computerberater, Amateurarchäologe und Sammler von: seltenen Münzen, Schmetterlingen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, Miniaturkakteen, Beatles-Memorabilien, Halbedelsteinen und anderen Dingen." Oskars Fantasie ist unerschöpflich, in seiner Imagination erschafft er allerhand spaßige Dinge, zum Beispiel Briefmarken, deren Rückseiten nach crème brulée schmecken. Sein Wissensdurst ist unstillbar, er schreibt Briefe an sein Vorbild Stephen Hawking und hofft sehnlichst auf eine Antwort. Er beeindruckt mit seinem Wissen und besticht zugleich mit seiner liebenswürdigen Naivität. Für seine Figur erschafft Foer eine charakteristische, höchst unterhaltsame Sprache, die zum einen aus Modefloskeln und Kraftausdrücken besteht, die für amerikanische Kids um die Jahrtausendwende typisch sind. Freut Oskar sich über etwas, so fühlt er sich "like one hundred dollars", ist er traurig, so klagt er über "heavy boots" ('Bleifüße') und verbalisiert seine Verweigerungshaltung durch das elliptische "José" (die Kurzform von "No way, José"). Zum anderen kultiviert Oskar einen speziellen Jargon, den er verschiedensten, für ein Kind seines Alters relativ anspruchsvollen Lektüren verdankt und der in Aussagen kulminiert wie: ''Entomology is one of my raisons d'être." Zwar ist Oskars Vokabular begrenzt, doch birgt es viele Überraschungen, die seiner Erziehung und seinen Hobbies geschuldet sind und von einer außergewöhnlichen Individualität zeugen. Bis zum "worst day", an dem er seinem Vater beim Anschlag auf das World Trade Center verlor, lebte er in einer bunten und heilen Welt, die sein Vater für ihn in einen Abenteuerspielplatz verwandelte und deren harmlose Geheimnisse zu entdecken er nie müde wurde. Seine "Lieblingsmomente" waren all jene mit dem geliebten Vater, der ihn mit Aufmerksamkeit verwöhnte, mit Rätsel-Rallyes forderte, fantastische Geschichten erzählen konnte und Antworten auf alle seine Fragen fand. Seit dem Tod seines Vaters ist Oskar unerträglich einsam, ruhelos7 und leidet unter für Kinder eigentlich untypischen, aber (nicht nur) für New Yorker seit dem 11. September typischen Ängsten: Er fürchtet Flugzeuge und Wolkenkratzer, meidet das Aufzug- und U-Bahnfahren, gerät in Panik

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Foer schreibt über die Zeit nach dem 11. September", in: http://www.dradio.de /dlf/sendungen/buechermarkt/419361 [am 15.4.2008] Oskar erinnert sich rückblickend: "Being with him made my brain quiet, I didn't have to invent a thing." 29

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beim Anblick von verwaisten Gepäckstücken und misstraut Männern mit Bärten und Turbanen.8 Seitdem zielen seine Erfindungen vor allem darauf ab, seine Welt zu einem sicheren Ort zu machen, den unvorhersehbaren Tod geliebter Menschen zu verhindern: In einer besseren Welt ließen sich Wolkenkratzer bei Gefahr aus der Luft auf Knopfdruck in die Erde versenken oder sie wären mit airbags verkleidet, und Menschen trügen stets ein "Vogelfutterhemd", das sie vor Stürzen in die Tiefe bewahren würde.9 Oskar ist ein Kind New Yorks und seine Fantasie ist auf die Spezifik der Stadt eingespielt. Dabei wird ihm jedoch bewusst, dass auch die Erfindung riesiger Hosentaschen, die Platz für seine ganze Familie böten, ihn nicht vor Verlusten schützen könnten: "But I knew that there couldn't be pockets that enormous, and that in the end, everyone loses everyone." (Extremely, S. 74) So viel hat der Neunjährige bereits verstanden. Verstärkt wird seine Trauer durch ein Schuldgefühl: Sein größtes Geheimnis ist, dass der Vater kurz vor seinem Tod mehrfach aus dem brennenden Gebäude zuhause anrief, zuletzt, um sich von seiner Familie zu verabschieden. Oskar war der erste, der diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter hörte und der einzige, der beim letzten Anruf des Vaters zuhause war und den Hörer abnehmen hätte können, dies aber aus Furcht nicht getan hat: "The secret was a hole in the middle of me that every happy thing fell into." (Extremely, S. 71) Kurz nach dem Tod des Vaters entdeckt Oskar in dessen Kleiderschrank zufällig eine Vase, in der er einen Umschlag findet, auf den das Wort BLACK geschrieben ist und der einen Schlüssel enthält. Oskar redet sich ein, Umschlag und Schlüssel gehörten zu einem letzten Rätselspiel, das der Vater für ihn vorbereitet hatte – und an dem auch die

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Mit dem zuletzt genannten Mißtrauen unterstützt Foer nicht etwa einen Antiislamismus, sondern er versucht, das Gegenteil zu bewirken: Die Ausdruckswiese und die Art, wie Oskar diese Dinge ungeordnet aufzählt, offenbaren die Irrationalität seiner Ängste und machen bewusst, wie 'kindlich' diese typischen, von den Medien verstärkten Erwachsenenängste sind: "There was a lot of stuff that made me panicky, like suspension bridges, germs, airplanes, fireworks, Arab people in restaurants and coffee shops and other public places, scaffolging, sewers and subway grates, bags without owners, shoes, people with mustaches, smoke, knots, tall buildings, turbans. A lot of the time I'd get that feeling like I was in the middle of a huge black ocean, or in deep space, but not in a fascinating way." (Extremely Loud, S. 36). Viele seiner Erfindungen folgen der Logik von Kindern: Das Hemd, das er konzipiert, wäre mit wohl Vogelfutter 'gefüttert', so dass sich bei einem Sturz auf großer Höhe hungrige Vögel an den Fallenden heften und diesen dadurch sanfter zu Boden bringen würden. 30

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Leser partizipieren dürfen, denn ihnen wird gegenüber dem Kind kein Wissensvorsprung gewährt. In der Hoffnung, mit des Rätsels Lösung eine Antwort auf die Frage zu finden, warum sein Vater sterben musste,10 beschließt er, allen Personen namens Black einen Besuch abzustatten und sie nach ihrer Verbindung zum Toten zu befragen – ausgerechnet in der riesigen Metropole New York, in dessen Telefonbuch mehrere hundert 'Blacks' aufgelistet sind und in der es seiner Schätzung zufolge über 161 Millionen Schlösser gibt. Sein Unternehmen verspricht, eine endlose Odyssee zu werden, die nur durch einen glücklichen Zufall zum Erfolg führen könnte. New York ist die ideale Kulisse für die allegorische Irrfahrt, die der Roman beschreibt. Nun ist es also diese Suche, die Oskar zum Sinn und Zweck seines Daseins erklärt: "finding the lock was my ultimate raison d'etre" (S. 69) – oder, mit anderen Worten, seine selbstgewählte Therapie, deren Ziel es ist, mit dem Verlust geliebter Menschen leben zu lernen. Die Metapher der Odyssee legt Foer auch selbst nahe, indem er Homers Odyssee als eines seiner meistgeschätzten Bücher nennt und seinen Roman wie folgt zusammenfasst: "It's a very classical story, it's about someone who has to go great distances in order to come home".11 Rückblickend erkennt Oskar den Sinn seiner Suche: "I decided I would meet every person in New York with the last name Black. Even if it was relatively insignificant, it was something, and I needed to do something, like sharks, who die if they don't swim, which I know about." (Extremely, S. 87) Monatelang wandert Oskar durch New York. Obwohl er lange (oder überhaupt) nicht findet, wonach er sucht, verdankt er seinem oft blinden Aktivismus Begegnungen mit Menschen, die ihn ablenken, ihm Trost spenden und ihm unverhofft neue Perspektiven eröffnen.12 Einer davon ist ein 103jähriger Mr. A. R. Black, ehemals ein (Kriegs-)Journalist, der sein Begleiter auf der Wanderung durch New York wird. Seit dem Tod seiner Frau vor 24 Jahren hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen, die 10 Überdies möchte er wissen, wie sein Vater gestorben ist, um aufhören zu können, sich alle denkbaren Todesarten vorzustellen, und um seine Recherche im Internet beenden zu können. Den Kontrast zwischen seiner eigenen Unwissenheit über den tatsächlichen Ablauf, von dessen Folgen er so stark betroffen ist, und den Einblicken, die die ganze Welt dank der medialen Übertragung des Unglücks hat, empfindet er als verletzend: "It makes me incredibly angry that people all over the world can know things that I can't, because it happend here, and happend to me, so shouldn't it be mine?" Extremely Loud, S. 256. 11 Vgl. http://www.buchjournal.de/102283 [Zugriff am 20.12.2006] 12 Es sind diese Begegnungen und die Figurenentwürfe, die seitens aller Kritiker einstimmig Lob ernten. Gelobt wird Foer stets für all die Details, gerügt für die Gesamtkomposition. 31

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ein Museum materialisierter Erinnerungen darstellt. Nun tut er es für Oskar und lässt sich von dem Jungen in die Welt zurückführen, denn sie brauchen einander. Zur Unterstützung seines Gedächtnisses hat Mr. Black alle Begegnungen seines langen Lebens in einem Index-Katalog archiviert. Man möchte vermuten, dass eine ähnliche Karteikartensammlung mit Charakterskizzen dem Roman als Gerüst zugrunde liegt: Jede seiner Figuren ist in ihrer sorgfältig gezeichneten Individualität etwas Singuläres, während sie zugleich alle als Exempla für ein bestimmtes Lebensgefühl fungieren.

Lizenzen und Grenzen der kindlichen Erzählperspektive Foer entschied sich dafür, den 11. September mit den Augen eines Kindes zu betrachten. Die Wahl der Perspektive auf eine Geschichte und die Erschaffung der Stimme, die sie erzählt, sind als Instrumentarien der Leserlenkung von größter Bedeutung. Kindliche Erzähler gelten gemeinhin als unsouveräne, unzuverlässige Erzähler, deren Ausdrucksmöglichkeiten ebenso eingeschränkt sind wie ihre Wahrnehmung und ihr Verständnis. Es mangelt ihnen an Erfahrung mit den Handlungsmodellen und den etablierten kommunikativen Codes der Erwachsenen. Charakterisieren lässt sich das kindliche Erzählen durch den 'unschuldigen Blick', der das Wahrgenommene zunächst bloß registriert, ohne es sogleich nach Relevanzkriterien zu hierarchisieren, in größere historische Zusammenhänge einzuordnen und konventionellen Betrachtungsweisen zu unterziehen.13 Gerade für die Thematisierung des 11. September erweist sich dieser Blick als Ausweg aus der Verpflichtung, sofort (ver-) urteilen zu müssen. Ein Erwachsener könnte nicht einfach so persönlich darüber schreiben, er müsste sich einerseits emotional distanzieren und andererseits zur Schuldfrage äußern, er müsste unvermeidlich Position beziehen im größeren politischen Konflikt. Die Unvoreingenommenheit des Kindes lässt sich gut in den Dienst einer alternativen Sichtweise auf die Dinge stellen, wobei nicht selten Naivität in Weisheit umgewertet wird – eine Versuchung, der auch Foer bisweilen nicht widerstehen kann.14 Spielerisch hinterfragt das Kind die Sichtweisen der Erwachse-

13 Vgl. Christa Buschendorf, Mit Kinderaugen. Zur Perspektivtechnik bei William Faulkner, Carson McCullers und Flannery O'Connor, Würzburg 1989, S. 26. 14 Naiv und zugleich weise sind auch schon der jugendliche Erzähler (Alex) in Foers erstem Roman Everything is illuminated und die kindlichen Figuren der Geschichte. 32

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nen, denn es stellt Fragen, die Erwachsene einander nur deshalb nicht mehr stellen, weil sie keine Antwort darauf wissen. Mit seiner überaus reichen Vorstellungskraft ist Oskar ein typischer kindlicher Erzähler, der bisweilen nicht klar zwischen Fakten und Fantasien zu unterscheiden vermag – zumal er durch sein Spiel versucht, der schrecklichen Realität zu entfliehen, die allzu brutal in seine Kinderwelt eingebrochen ist. Besagte Disposition prädestiniert ihn zum Vermittler des Wunderbaren im Alltag, das Foer dem Leser in diesem wie auch schon in seinem ersten Roman beharrlich zu entdecken sucht und als Gegengewicht zu Tod und Trauer in die Waagschale wirft. Der Kinderblick vertraut dem Außerordentlichen und lässt das Vertraute außerordentlich erscheinen15 – dies demonstriert Foer sowohl in Bezug auf schöne als auch auf schreckliche Ereignisse. Tatsächlich wird etwas dargestellt, das vor fünf Jahren noch außergewöhnlich und unvorstellbar war, heute aber eine reale Angstvorstellung der Bewohner von Metropolen ist. Ein wichtige Rolle in der perspektivischen Gestaltung des Romans spielen die integrierten Bilder und Graphiken, da sie den kindlichen Blick anschaulich imitieren. Sie machen Oskars Welt sichtbarer und greifbarer. Erhält er eine Visitenkarte, so sehen wir diese, bekommt er eine Postkarte oder einen Brief, lesen wir diese mit ihm. Als er in einem Schreibwarenladen Schmierpapier, das andere Käufer beim Testen von Farbstiften benutzt haben, nach Hinwiesen auf den Verbleib seines Vaters untersucht, sehen wir auf vier Seiten solche Testbögen. Überdies sind zahlreiche Fotos abgedruckt, die in der Mehrzahl Oskar selbst aufgenommen haben soll und die seine täglichen Irrfahrten durch die Stadt dokumentieren sowie all die Gegenstände zeigen, die ihm dabei ins Auge fielen. Bilder, die von anderen Fotografen stammen, sollen seine Aufmerksamkeit erregt und deshalb von ihm in sein Tagebuch eingeklebt worden sein. Erst die Verschiedenartigkeit der Bilder veranschaulicht Denkweise und Vorgehen des Jungen. Wer allerdings den Text nicht sehr genau liest, wird die Bedeutung der Bilder nicht erkennen, die Teil des Rätsels sind, das der Autor dem Leser aufgibt. Obwohl man als erwachsener Leser nicht die Weltsicht dieses Kindes teilt, erlebt man Oskar als vertrauenswürdigen Erzähler. Zwar wird der Leser durch die Rede anderer Figuren bisweilen diskret mit Informationen versorgt, die Oskar verborgen bleiben,16 doch ist ihm keine 'souverä15 Vgl. dazu auch Buschendorf, Mit Kinderaugen, S. 153. 16 Man erfährt zum Beispiel aus den Briefen des Großvaters, dass Oskars 'Odyssee' von seiner Mutter 'mitverfolgt' wurde, ohne dass sie ihn dies wissen ließ, denn er sollte in seiner Trauerarbeit nicht gestört, gleichzeitig aber auch nicht gefährdet werden. 33

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nere' Instanz übergeordnet, die seinen kindlichen Bericht kommentieren, relativieren oder gar korrigieren könnte. Dies ist hier allerdings auch nicht nötig, denn erstens ist uns Lesern die kindliche Subjektivität bewusst, zweitens sind wir über das Ereignis durch die Medien informiert und verschiedensten Meinungen dazu ausgesetzt. Die Kinderperspektive widerspricht nicht unserem 'Wissen' über den 11. September: Sie ergänzt es durch ein mögliches von vielen individuellen Schicksalen. Zwar zählt Oskar weder zu den dreitausend Todesopfern des Anschlags noch zu den achtzehntausend Menschen, die das Unglück am eigenen Leib miterlebten, dennoch ist er eines der zahllosen Opfer, die in den Medien kaum Beachtung erfahren. Das Ereignis des 11. September bringt sein Weltbild ins Wanken, wenn nicht sogar zum Einsturz. Seitdem stellt er alles in Frage, verfügt über keinerlei Sicherheit mehr. Daher kann man den Roman als 'Initiationsgeschichte' lesen, denn der Neunjährige erlebt etwas, das sein bisheriges Leben und ihn selbst grundlegend verändert. Der Verlust des Vaters als sein wichtigster Bezugspunkt und der unfreiwillige Einblick in die Grausamkeit des 'Schicksals' – wenn man das kriminell-destruktive Handeln Erwachsener darunter subsummieren möchte – zwingen ihn, schneller erwachsen zu werden als seine Altersgenossen. Da der Vater der einzige Erwachsene war, der Eintritt in seine kindliche Welt der Spielereien hatte, bedeutet dessen Tod das Ende seiner Kindheit. Gleichzeitig bleibt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Erwachsenen, weil die einen aus ihm unverständlichen Gründen töten und die anderen dem ebenso wehrlos ausgesetzt sind wie er selbst.17 Im Gegensatz zu den Letzteren artikuliert er das Unsagbare.

Verschlungene Schicksale: Multiperspektivische Überblendung kollektiver Tragödien Obwohl Oskar zweifelsohne als zentraler Perspektivträger figuriert, ist der Roman multiperspektivisch konstruiert. Der Bericht des Jungen, der etwa die Hälfte des Romans einnimmt, wird regelmäßig unterbrochen durch lange Briefe der Großmutter sowie des Großvaters, der seine Frau verlassen hatte, als sie mit Oskars Vater schwanger war und erst als alter Mann zu ihr zurückkehren wird, als er erfährt, dass sein Sohn Opfer des Anschlags wurde.

17 Foers Oskar hat einiges gemeinsam mit Kindern, die indirekt Opfer der NSGewaltherrschaft oder anderer Kriege wurden: den Verlust eines Elternteils und die Problematik der Identitätsbildung in einer Welt, die solches Grauen umfasst. 34

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Die Lebensgeschichte der Großeltern, erzählt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, wird in die Handlung aus dem Jahr 2001 eingeblendet: Als junge Deutsche haben sie beide die Bombardierung Dresdens erlebt, bevor sie unabhängig von einander in die USA emigrierten. Oskars Großvater hatte in der Bombennacht seine Verlobte Anna verloren, die ein Kind von ihm erwartete. Als er in New York ankam, traf er dort zufällig Annas Schwester wieder und heiratet sie, in der Hoffnung, dass sie einander gegenseitig über den Verlust Annas hinwegtrösten könnten, doch dies gelingt ihnen nicht. Er kommt nie über den Verlust seiner großen Liebe und seines ungeborenen Kindes hinweg. Als er erfährt, dass seine Frau schwanger ist, verlässt er sie und kehrt nach Deutschland zurück, bevor Oskars Vater Thomas geboren wird. Erst nachdem er den Namen seines Sohnes in einer Liste der Opfer des Terroranschlags entdeckt, kehrt er nach New York zurück, um seiner Frau und Oskar beizustehen. In seinen über einen Zeitraum von 40 Jahren aus der Ferne an den unbekannten Sohn adressierten Briefen, die er bis auf einen einzigen nicht abschickte, erklärt er seine Absenz: "Why I'm Not Where You Are" lauten die Titel der betreffenden Kapitel. Mit "My Feelings" sind die Briefe der Großmutter überschrieben, in denen sie dem Enkel Oskar zum einen ihre mit der Schwester geteilte Kindheit, zum anderen die schwierige Ehe mit seinem Großvater und schließlich dessen Verschwinden schildert. Alle drei Erzähler berichten von ihrem persönlichen Kampf ums Über- oder Weiterleben. Gemeinsam ist ihnen das verzweifelte Bemühen, das erlebte Leid ungeschehen zu machen. Den unterschiedlichen Perspektiven auf die erzählte Familiengeschichte entsprechen unterschiedliche Erzählstile. Gibt der Großvater seine eigene mündliche Rede wieder, so nur in Form einzelner Wörter oder Satzfragmente auf ansonsten leeren Seiten, da er seit der Bombardierung Dresdens stumm ist.18 Anstatt zu sprechen, kommuniziert er mithilfe eines Notizbuches, das alle im Alltag erforderlichen Wendungen enthält und in das er der jeweiligen Situation gemäß ergänzend einträgt, was er nicht aussprechen kann. Als Leser meinen wir dieses Notizbuch tatsächlich in den Händen zu halten, denn einige Seiten des Romans sind nach dem beschriebenen Muster gestaltet. Freilich schränkt diese Methode seine Ausdrucksmöglichkeiten erheblich ein. In schriftlicher Form jedoch brechen sich seine Worte als ein ungeduldiger Fluss Bahn, der nur selten durch Punkt oder Komma verlangsamt wird. In seinem letzten Brief an den verstorbenen Sohn, der das Datum des zweiten Jahrestags des Anschlags auf das WTC trägt, schreibt er so verzweifelt gegen die 18 Gern arbeitet Foer mit symbolischen Bildern wie dem Sprachverlust als Signum unerträglicher Trauer. In seinem ersten Roman Everything is illuminated (2001) ist eine Großvaterfigur blind vor Trauer. 35

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Unmöglichkeit an, alles zu sagen, was noch zu sagen ist, dass sich seine Zeilen vor den Augen des Lesers zunehmend zu einer schwarzen Textmasse verdichten, deren einzelne Aussagen man nicht mehr entziffern kann. Im Kontrast dazu erzählt die Großmutter stockend, in kurzen, parataktischen Sätzen, die ihr an ihrer alten Schreibmaschine schwer von der Hand gehen, weil ihr Augenlicht immer mehr nachlässt – auch dies ein Symptom der Trauer. Die Briefe der Großeltern und die Rede Oskars ergänzen einander zu einer kompliziert verschlungenen Erzählung, deren Höhepunkte aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden.

Schiefe Parallelen? Nein: 'Leid ist Leid' und 'geteiltes Leid ist halbes Leid' Durch die Überblendung der Geschichte Oskars mit der Lebensgeschichte seiner Großeltern werden Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbunden und damit implizit zwei historische Ereignisse korreliert: der terroristische Anschlag vom 11. September und das Bombardement Dresdens durch die Alliierten. So mancher Kritiker übte Anstoß an dieser 'gewagten Parallelisierung', die sogar noch um eine dritte Komponente erweitert wird, als Oskar in der Schule ein Referat über Hiroshima hält.19 Jegliche Kritik, die mit der Unvergleichbarkeit dieser Kriege argumentiert, übersieht, dass Foer keineswegs die Kriege miteinander vergleicht, sondern nur das dadurch verursachte Leid. Dieses abstrahiert er von den politischen Zusammenhängen, für die sich auch seine Figuren überhaupt nicht interessieren. Nicht den Angriff auf Amerika, sondern den Tod des Vaters erlebt Oskar als persönliche Tragödie. Nicht etwa der Dresdner Feuersturm, sondern der Verlust von Anna verursacht das Trauma der Großeltern. Foer geht es nicht um die schrecklichen geschichtlichen Ereignisse per se, sondern um die Erfahrung des Verlusts geliebter Menschen und einen gewaltsam herbei-

19 Der Rezensentin Hannah Pilarczyk, erscheint der "brutale Reigen" der Gewalt, in dem sie diese drei historischen Ereignisse ungeachtet ihrer kontextuellen Einbettung gleichgeschaltet sieht, "bedenklich" und sogar "obszön". Vgl. Die Tageszeitung vom 27.08.2005. Für eine "riskante Konstruktion" hält auch Tilman Urbach die Korrelationierung des 11. September mit den Bombennächten von Dresden, während er sich jedoch wie viele seiner Kollegen für die Collage aus Begegnungen begeistert. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 25.08.2005. Von Unverständnis zeugt Vernas Vermutung, Foer erkläre den Terrorismus von heute als eine Folge des Krieges von damals, wofür er Foer heftig kritisiert. Vgl. Online Rezension Deutschlandfunk http://www.dradio.de/ dlf/sendungen/buechermarkt/419361/ 36

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geführten, nicht selbst verschuldeten Tod.20 Aber der Autor leistet noch mehr: Er dekonstruiert die simple Opposition von 'Tätern' und 'Opfern', indem er gerade Dresden als Bezugsfolie wählt und einmal nicht die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs fokussiert (wie in seinem ersten Roman), sondern hier zeigt, dass auch Deutsche zu 'Opfern' wurden.21 In diesem Sinne lautet Foers eigener Versuch, die Thematik seines Romans zu subsummieren:

"A book about loss" – Eine Typologie der Trauer Die Großeltern des Jungen, die den Holocaust zwar überlebt, aber nie überwunden haben, repräsentieren die verbreitete Unfähigkeit dieser Generation, ihre Trauer zu kommunizieren. Oskar ist insofern Gegenentwurf dazu, als sein Reden nie ablässt. Im Unterschied zum Erwachsenen darf sich das Kind ganz seiner Trauer hingeben und alles sagen, was es denkt. Ihm räumt die Gesellschaft mehr Freiraum für seine Trauerarbeit ein, während Erwachsene normal 'weiterfunktionieren' müssen und in ihrem Trauerverhalten vor dem Hintergrund konventioneller Verhaltensmuster beurteilt werden. Letzterem Anspruch genügt nur Oskars Mutter, wohingegen die anderen Figuren des Romans durch ihr Trauerverhalten zu Außenseitern werden. Alle fungieren sie als Exempla für verschiedene Arten der Trauer, stets hervorgerufen durch den Verlust geliebter Menschen. Oskar lebt seine Trauer in seiner Odyssee durch New York aus und sucht Ablenkung in Spielereien. Dabei verzeichnet er Fortschritte und erlebt Rückfälle. So schwankt seine Selbstdiagnose, die er in seinem

20 Von besagtem Missverständnis zeugen auch Kritiken, die beklagen, der Feuersturm in Dresden sei "allzu blass" dargestellt. Vgl. z.B. Stuttgarter Zeitung online http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/980992) – Jenen Rezensenten sei Beigbeders Windows on the World empfohlen. 21 Ein Nebeneffekt ist die Relativierung aller drei jeweils als singulär erlebten Menschheitstragödien, worauf Foer in einem Interview zu sprechen kommt: "In meinem Buch geht es um Individuen [...], was es für den Einzelnen bedeutet, in der Nachwirkung dieser fürchterlichen Ereignisse weiter zu leben. In Amerika herrschte nach dem 11. September der Eindruck, das sei das Schlimmste, was je auf der Welt passiert ist. Das ist ohne jeden historischen Kontext betrachtet. Es war im Grunde noch nicht mal das Schlimmste, was in diesem Jahr geschah. Alles ist eine Frage der Perspektive. Wir haben eine Person in Amerika, die in absoluten Begriffen spricht [...] [was] einen Mangel offenbart, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten." Vgl. http://www.buchjournal.de/102283 37

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"feeling book" notiert, zwischen "extremely depressed", "incredibly alone", "desperate to mediocre" und bestenfalls "optimistic, but realistic". Foer zeigt, wie die Trauer um den Vater, Ehemann und Sohn die drei Hinterbliebenen, Oskar, seine Mutter und seine Großmutter verbindet und zugleich trennt, da jede(r) anders trauert und sie einander nicht verstehen. Bemüht sich die Mutter darum, die Vater-Sohn-Rituale mit Oskar fortzusetzen, so lässt er sie abblitzen. Er rebelliert, als die Mutter einen neuen Mann mit nach Hause bringt und versucht, ihr das Versprechen abzuringen, sich nie mehr zu verlieben. Sie erklärt: "I am trying to find ways to be happy", worauf Oskar entgegnet: "I am not trying to find ways to be happy, and I won't" (S. 171). In dieser Haltung ähnelt er dem Großvater, der aus Angst vor dem Verlust vierzig Jahre kein Wort sprach und vor jeglicher emotionaler Bindung geflohen ist, bis er seinen Enkelsohn kennenlernt. Weitere Exempla unbeschreiblicher Traurigkeit, deren Verfassung mit bizarren Bildern visualisiert wird, sind unter anderen Mr A. R. Black, der seit 24 Jahren um seine Frau trauert: Er schläft in einem Bett, das er aus einem Baum geschnitzt hat, über dessen Wurzeln seine Frau einst im Central Park stolperte. Der Rahmen des Betts ist über und über mit Nägeln bedeckt, denn an jedem Morgen seit dem Tod seiner Frau schlägt Black einen Nagel ins Holz. Als Oskar den Mann erstmals aufsucht, sind es 8629 Nägel und das Bett ist inzwischen so schwer geworden, dass in den unter dem Schlafzimmer liegende Raum eine stützende Säule eingezogen werden musste. Gegen Ende des Romans führt die Suche nach dem Schloss Oskar und den alten Herrn zu Ruth Black, die seit dem Tod ihres Mannes in aller Heimlichkeit auf dem Empire State Building haust, um die Erinnerung an ihren Mann lebendig zu halten, der zu Lebzeiten allabendlich mit ihr mithilfe von Lichtsignalen kommunizierte. Dies soll genügen um zu zeigen, wie sich Oskars Trauer in der anderer Menschen spiegelt. Allzu bedrückend bliebe dies, wenn die vom Zufall zusammengeführten Figuren einander nicht Trost und Hoffnung spenden würden – so Foer in einem Interview: "His loss ends up resonating with other people's losses, his imagination resonates with other people's imagination and his hopefullness resonates with other people's hopefullness."22

22 Manche Rezensenten übersehen das optimistische Moment. Obwohl er den Roman insgesamt für "zweifellos außergewöhnlich lesenswert" hält, kritisiert Hubert Spiegel das Ausmaß, in dem Foer hier "Leid und Leid und Leid" aneinander reihe, was für ihn "etwas Herzloses" habe. Zugleich aber klagt er über die Sentimentalität des Romans. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.09.2005. 38

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Tragik und Komik – Katharsis oder Kitsch? Die wenigen Beispiele für diese stark symbolische Inszenierung von Trauer lassen wohl schon erahnen, dass der Roman eine Angriffsfläche für den Vorwurf der Sentimentalität bietet. Im Hinblick darauf spalten sich die Meinungen in der Literaturkritik entsprechend sehr subjektiver Grenzziehungen zwischen aufrichtiger, sensibler Gefühlsdarstellung und Kitsch.23 Man könnte vermuten, die kindliche Erzählperspektive sei ein Mittel, um das Mitleid der Leser zu garantieren, doch benutzt sie Foer vornehmlich, um Komik zu erzeugen, die ein behutsam ausgewogenes Gegengewicht zur Trauer bildet. Darin erinnert sein Roman an Imre Kertesz' Roman eines Schicksalslosen (erstmals veröffentlicht 1975, dt. 1996) von sowie Roberto Benignis Film La vita è bella (1997).24 In Bezug auf den Holocaust werden Darstellungen als Kitsch verurteilt, die mit Stereotypen arbeiten, Fakten verfälschen, nichts lehren, mit Dramatik auf Effekte zielen und keinerlei Einblick in historische Zusammenhängen bieten.25 Foer hingegen kommt gut ohne Schablonen aus, schafft originelle Individuen (sogar origineller als die Realität!) ohne Fakten zu verfälschen und verzichtet auf 'dramatische' Momente – abgesehen vom letzten Anruf des Vaters. Allerdings bietet er keine Einsicht in histori23 Während Verna der Meinung ist, "Foer überschreitet die Grenze zu Kitsch und Sentimentalität selbst in den gelungensten Passagen mehrfach", hält es Hannah Pilarczyk für "ungemein anrührend, ohne kitschig zu werden" (Stuttgarter Zeitung online http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/980992) und Salman Rushdie lobt es als "ambitious, pyrotechnic, riddling, and above all extremely moving". 24 Allerdings setzt Foer die Kinderperspektive ganz anders ein als etwa Kertész, bei dem "die naive Interpretation und die einfältige Einstellung des Erzählers" gegenüber den schrecklichen Ereignissen im Konzentrationslager den Leser dazu veranlassen, "den Bericht als ironischen zu lesen", so Andrea Reiter, "Die Funktionen der Kinderperspektive in der Darstellung des Holocaust", in: Barbara Bauer/Waltraud Strickhausen (Hg.), "Für ein Kind war das anders". Traumatische Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland, Berlin 1999, S. 215-229, hier S. 220. "Ironie entsteht in Kertesz' Werk hauptsächlich durch Untertreibung oder die Feststellung des Gegenteils der Rezeptionserwartung". Die schrecklichsten Ereignisse werte der jugendliche Erzähler hier als 'komisch' und reagiere 'überrascht', anstatt unmittelbar betroffen. Ebd. So naiv ist Foers Oskar längst nicht mehr und seine Trauerspielereien implizieren keinesfalls, dass er den Tod des Vaters 'herunterspiele' – im Gegenteil. Auch spricht er nie als scheinbar Unbeteiligter. – Erstaunlich ist, dass keinem Rezensent die Parallelen zu Kertesz und Benigni aufgefallen sind. 25 Vgl. dazu Bauer/Strickhausen, S. 37; und Klüger, Von hoher Literatur, Kap. 2. 39

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sche Zusammenhänge und hütet sich vor politisierender, moralischer Belehrung. In seinem Roman spielen Terroristen keine Rolle. Zwar weiß Oskar als Internet-Surfer, welche Personen für den Anschlag als verantwortlich gelten, doch es interessiert weder ihn noch seine Familie, wer den Tod des Vaters/Ehemanns/Sohnes vorsätzlich verursacht hat, denn dieses Wissen würde ihre Trauer nicht mindern – ein Beispiel für die Weisheit des Kindes. So 'subjektiv' Oskar seinen Verlust des Vaters schildert, so objektiv stellt Foer den 11. September dar, ohne den Antiislamismus zu schüren.

Tabubruch – oder die Frage der Angemessenheit Obwohl beeindruckt vom erzählerischen Erfindungsreichtum Foers, konstatiert ein Kritiker stellvertretend für all jene, die ein gewisses Unbehagen nicht abschütteln können: "Die Ereignisse des 11. September sind noch nicht reif für literarische Spielereien"26. Jener Kritiker zweifelt keineswegs am aufrichtigen Ernst, mit dem Foer dem kollektiven Unglück gegenüber steht, doch stellt er die Angemessenheit der – zweifellos verspielten und gleichermaßen komischen wie rührenden – Darstellung mittels eines kindlichen Erzählers in Frage. Dem lässt sich nur entgegnen, dass die Trauerspielereien des Kindes den 11. September weder banalisieren noch das Andenken an die realen Opfer entweihen wollen. Dies gilt auch für das seitens einiger Kritiker als 'schlechter Scherz' betrachtete Daumenkino am Ende des Romans, gemacht aus einem preisgekrönten Bild, das unter dem Titel 'The Falling Body' in den Medien um die Welt ging: Es ist ebenso Teil der Trauerarbeit des Kindes.27 Um herauszufinden, auf welche Weise sein Vater ums Leben kam, recherchiert Oskar im Internet, lädt sämtliche Bilder der aus dem brennenden 26 Sascha Verna befürchtet im September 2005, die 'Bitte-nicht-berühren-Frist' für den 11. September sei noch nicht abgelaufen. Vgl. "Flugzeuge, die in Gebäude einschlugen. Jonathan Safran Foer schreibt über die Zeit nach dem 11. September", Online Rezension Deutschlandfunk http://www.dradio.de/dlf/ sendungen/buechermarkt/419361/ 27 Sascha Verna nennt das Daumenkino in seiner Rezension "ein Zeichen sehr, sehr schlechten Geschmacks" und spekuliert: "Kein Zweifel, die Hinterbliebenen der Opfer vom 11. September werden über einen solchen Scherz nicht lachen. Auch wer bei den Anschlägen niemanden verloren hat, mag sich von den Bildern eher unangenehm berührt fühlen". Online Rezension Deutschlandfunk http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/419361/ Sicherlich wird jeder anders zu den Bildern stehen. Aber sicherlich teilen alle Hinterbliebenen Oskars Wunsch, das Unglück ungeschehen machen zu können. 40

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Gebäude springenden Menschen herunter und vergrößert sie. Da er aber den Vater weder unter den "jumpers" noch in anderen Fotografien von Opfern entdeckt, begreift er schließlich, dass er seine Suche beenden und seine Trauer auf andere Weise bewältigen muss. In seinem Tagebuch ordnet er eine Reihe von Momentaufnahmen des freien Falls so an, dass der Mensch nicht zu Boden, stürzt, sondern in den Himmel hinauf entschwebt. Das Daumenkino illustriert Oskars Gedankengang – was wäre, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte? – und erzeugt die Illusion im Leser, er halte das Tagebuch das Kindes in Händen. In der literatur- und filmwissenschaftlichen Forschung zum Holocaust rücken die Fragen nach der Legitimität seiner fiktionalisierten Darstellung und die Problematisierung der Darstellbarkeit inzwischen langsam in den Hintergrund. Dass aber das grundsätzliche Problem – die Debatte über Rechte und Pflichten der Literatur – noch immer nicht gelöst ist, zeigt die Tatsache, dass infolge des 11. September wieder dieselben Fragen diskutiert werden – wohlgemerkt weniger in der Literaturwissenschaft als im Feuilleton. Bekannt ist Jorge Sempruns Einwand gegen die Position, man könne das Grauen nicht schildern: "Man kann immer alles sagen, die Sprache enthält alles. Man kann die irrsinnigste Liebe sagen, die schrecklichste Grausamkeit."28 Foer versucht beides in seinem Roman. Semprun hält den Unsagbarkeitstopos nur für ein Alibi, nicht davon sprechen zu müssen. Viele vertreten die Ansicht, dass sehr wohl über diese wie über andere folgenschwere historische Ereignisse geschrieben werden muss. Obwohl Foer Wert darauf legt, dass sein Roman nicht auf die Darstellung des 11. September reduziert wird,29 rechtfertigt er seine Romanhandlung mit der Gegenfrage: Wie kann man unmittelbar nach 2001 über New York und dabei nicht über den 11. September schreiben, der dieser Stadt unauslöschlich eingeschrieben ist.

28 Vgl. Nicolas Berg u.a. (Hg.), SHOAH. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosopohie, Literatur, Kunst, München 1996, (zitiert nach Bauer/ Strickhausen (Hg.), "Für ein Kind war das anders". Traumatische Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland, S. 23). 29 Vgl. das Interview mit Foer unter http://www.buchjournal.de/102283 41

D U R C H M A R K U N D B E I N : 9/11 I N I A N M C E W A N S SATURDAY UND PHILIP ROTHS EVERYMAN DANIELLA JANCSÓ

Verweise auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind heute keine Seltenheit in der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur: Jonathan Safran Foer, Michael Cunningham, Nicholson Baker, Ian McEwan, Philip Roth – um nur die prominentesten Autoren zu nennen – reflektieren dieses Ereignis in ihren neuesten Romanen.1 Nur hat die Fiktionalisierung des Terrors ihre Tücken: 9/11 kann zur bloßen Effekthascherei verführen oder als zeitgeistiges 'Aktualitätssignal' missbraucht werden.2 Philip Roth und Ian McEwan entgehen den verschiedenartigen Fallstricken – auf durchaus ähnliche Weise.3 Der Titel Everyman verweist auf eine mittelalterliche Moralität, die das Sterben eines Menschen beschreibt. Sinnigerweise beginnt Roths Roman mit dem Begräbnis der Hauptfigur: Around the grave in the rundown cemetery were a few of his former advertising colleagues from New York, who recalled his energy and 1

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Das gilt u.a. für folgende Texte: Jonathan Safran Foer, Extremely Loud and Incredibly Close (2006); Michael Cunningham, Specimen Days (2006); Nicholas Baker, Checkpoint (2005); Jay McInerney, The Good Life (2006); Claire Messud, The Emperor’s Children (2006); Deborah Eisenberg, "Twilight of the Superheroes" (2006); Ken Kalfus, A Disorder Peculiar to the Country (2006). Viele Rezensenten neigen dazu, literarische Werke ausschließlich unter moralischen Aspekten zu beurteilen. Der immense Schock von 9/11 verbietet (angeblich) die 'Verwendung' des Ereignisses in fiktionalen Werken – es sei denn, sie wäre zwingend geboten. Die Reaktionen auf Jay McInerneys The Good Life verdeutlichen dies: "9/11 ist bei [McInerney] bloß Kulisse. Zwei Paare, statusbewußt, aber auf finanziell höchst ungleichen Rängen, werden mächtig durcheinandergewirbelt, aber die Gefühlswirren im altbekannten urbanen Neurosengebiet hätten auch von einer nicht ganz so folgenreichen Katastrophe ausgelöst werden können. 9/11 enthüllt sich, nach ein paar ungewissen Kapiteln, als Motor einer love story." Jordan Mejias, "Ein gutes Leben voller Dissonanzen." Frankfurter Allgemeine Zeitung (9 September 2006). Philip Roth, Everyman, London 2006. Ian McEwan, Saturday, London 2005. 43

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originality, and told his daughter, Nancy, what a pleasure it had been to work with him. There were also people who’d driven up from Starfish Beach, the residential retirement village at the Jersey Shore where he’d been living since Thanksgiving of 2001— (Everyman, 1)

Der Zeitpunkt (Herbst 2001), die Adressenänderung und der Umzug von New York City in ein Dorf an der Küste – all diese Details lassen erkennen, dass 9/11 eine mehr oder minder zentrale Rolle spielen wird. Diese Vermutung wird bald bestätigt, denn die Anschläge erklären den Umzug von Manhattan ins ‚Arkadien’ der Kindheitsträume – eine Weltgegend, die kaum vom Terror betroffen scheint: A few years later he followed through on the promise he’d made to himself immediately after the 9/11 attacks and moved from Manhattan to the Starfish Bay retirement village at the Jersey Shore, only a couple of miles from the seaside town where his family had vacationed for a portion of every summer. (Everyman, 63)

Der anonyme männliche Protagonist möchte sich und seine Familie schützen. So träumt er davon, seine Tochter und deren Kinder von New York in jenes ‚Arkadien’ übersiedeln zu lassen. Das soll sie vor künftigen Terroranschlägen und ständiger Angst retten. Sein ‚Gesinnungswandel’ in Folge des Terrors wird in diesen Zeilen deutlich: They’d all be living beside the beautiful sea and away from the threat of Al Qaeda. The day after the destruction of the Twin Towers he’d said to Nancy, "I’ve got a deep-rooted fondness for survival. I’m getting out of here." And just ten weeks later, in late November, he left. The thought of his daughter and her children falling victim to a terrorist attack tormented him during his first months at the shore, though once there he no longer had anxiety for himself and was rid of that sense of pointless risk taking that had dogged him every day since the catastrophe had subverted everyone’s sense of security and introduced an ineradicable precariousness into their daily lives. He was merely doing everything he reasonably could to stay alive. As always—and like most everyone else—he didn’t want the end to come a minute earlier than it had to. (Everyman, 66)

Auch McEwans Saturday thematisiert solche veränderten emotionalen Haltungen. Jene neue Ordnung ("new order") enge die Freiheit des Geistes ein ("a narrowing of mental freedom", 180). Das zeigt sich bereits am Anfang des Romans. Dies sind die Gedanken des Protagonisten, Henry

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Perowne, beim Anblick eines brennenden Flugzeugs am Himmel über London:4 It’s already almost eighteen months since half the planet watched, and watched again the unseen captives driven through the sky to the slaughter, at which time there gathered round the innocent silhouette of any jet plane a novel association. (Saturday, 16)

Breiten Raum nehmen dunkle Vorahnungen ein – sowie das Bedürfnis, Familie und Freunde zu schützen: The world probably has changed fundamentally and the matter is being clumsily handled, particularly by the Americans. There are people around the planet, well-connected and organised, who would like to kill him and his family and friends to make a point. The scale of death contemplated is no longer at issue; there’ll be more deaths on a similar scale, probably in this city. (Saturday, 80-81)

Perowne ist Neurochirurg von Beruf. So wird ihm nicht unbekannt sein, dass es im Tierreich zwei mögliche Reaktionen auf akuten Stress gibt: "fight or flight", Angriff oder Flucht. Bezeichnenderweise würde er – ähnlich Roths Everyman – die zweite Option wählen: Perhaps a bomb in the cause of jihad will drive them out with all the other faint-hearts into the suburbs, or deeper into the country, or to the chateau— (Saturday, 276)

Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit ist ein auffälliges – wenngleich kaum überraschendes – Merkmal beider '9/11–Romane'. "Around the grave" sind die ersten Worte in Everyman; dem Protagonisten wird das Wort "Friedhof" während seines ersten Krankenhausaufenthalts zur Zwangsvorstellung; eine amour fou in seinen Dreißigern gerät ihm zum memento mori – er wird von Todesgedanken gepeinigt: "the profusion of stars told him unambiguously that he was doomed to die" (30); und vom fünfzigsten Lebensjahr an zielt sein ganze Streben darauf, dem Tod zu entkommen: "eluding death seemed to have become the central business of his life and bodily decay his entire story" (71). Ganz ähnlich stellt Saturday schon auf den ersten Seiten einen Menschen vor, der tief

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Perownes Gedanken werden durchweg in monologischer Form wiedergegeben, in 'stream-of-consciousness-Technik'. Die Verwendung des Präsens – ein Novum bei McEwan – verleiht der Assoziationsreihe besondere Plastizität und Dringlichkeit. 45

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betrübt ist über die Tatsache, dass ein ganzes Leben auf einigen hundert Seiten zusammengefasst werden kann: At times this biography made him comfortably nostalgic for a verdant, horse-drawn, affectionate England; at others he was faintly depressed by the way a whole life could be contained by a few hundred pages— bottled, like homemade chutney. And by how easily an existence, its ambitions, networks of family and friends, all its cherished stuff, solidly possessed, could so entirely vanish. (Saturday, 6)

Perownes trübselige Stimmung wird durch die Lektüre einer DarwinBiographie hervorgerufen – es könnte ebenso gut Everyman sein: ein Menschenleben, abgehandelt auf weniger als zweihundert Seiten...

Verfall und Tod - intertextuell Der Komplex von Tod und Sterblichkeit wird durch intertextuelle Verweise betont. Roths vielsagender Titel und das Motto seines Romans – Verse aus Keats’ "Ode to a Nightingale" – rufen Assoziationen von Verfall und Tod auf: Here, where men sit and hear each other groan; Where palsy shakes a few, sad, last grey hairs, Where youth grows pale, and spectre-thin, and dies; Where but to think is to be full of sorrow...

Das Motto zeigt an, dass Roth nicht ausschließlich auf mittelalterliche Moralitäten zurückgreift. Dabei spielt, trotz Keats, die Romantik mit ihrer Faszination durch den Tod nur eine untergeordnete Rolle. Als wichtigster Bezugspunkt erweist sich ein Renaissance-Drama. Phoebe, die zweite Ehefrau Everymans, gibt einen kryptischen Hinweis: Als ihr Ehemann behauptet, seine Geliebte Merete habe vier Tage lang geweint, wendet Phoebe ein "I don’t think even Hamlet cried that much." (Everyman, 120). Ob Hamlet überhaupt geweint hat, sei dahingestellt; der Vergleich wirkt jedenfalls etwas forciert: Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Merete und Hamlet besteht nämlich darin, dass beide dänischer Herkunft sind. Phoebes seltsamer Vergleich lenkt freilich unsere Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten zwischen Shakespeares tragischem Helden und Roths männlichem Protagonisten. Beide, Everyman und Hamlet, unterstellen, sie würden von einer äußeren Macht gelenkt: sie glauben sich gezwungen, ihrem Untergang entgegenzugehen; trotz guter Absichten zerstören sie das Leben anderer; beide vereinsamen und ergeben sich schließlich

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dem Tod. Das Einverständnis mit dem Tod wird bei Shakespeare wie bei Roth auf einem Friedhof hergestellt. Die Friedhofsszene aus Hamlet scheint als literarische Vorlage für den bewegendsten Teil des Romans zu fungieren. Hamlet besucht den königlichen Friedhof aus einem plötzlichen Impuls, wie es scheint. Dort beobachtet er den Totengräber, der dienstbeflissen mit Schädeln hantiert. Die folgenden Verse hätten Everyman als Motto dienen können: Gravedigger: (sings) But age with his stealing steps Hath claw’d me in his clutch, And hath shipp’d me intil the land, As if I had never been such. (He throws up a skull.) (Hamlet, 5.1.70-73)5

Hamlet ist einigermaßen verwundert über den singenden Totengräber. Er sinniert über die Unvermeidlichkeit von Niedergang und Tod und empört sich über die zerstörerische Kraft der Zeit: Here’s a fine revolution and we had the trick to see’t. Did these bones cost no more the breeding but to play at loggets with ’em? Mine ache to think on’t. (Hamlet, 5.1.89-91)

Hamlet beginnt ein Gespräch mit dem Totengräber. Dieser setzt ihm Einzelheiten des Verwesungsvorgangs auseinander. Höhepunkt der Szene ist jener Augenblick, da Hamlet den Schädel eines ihm nahestehenden Menschen in die Hand nimmt. Er spricht den Schädel an: Here hung those lips that I have kissed I know not how oft. Where be your gibes now, your gambols, your songs, your flashes of merriment, that were wont to set the table on a roar? (Hamlet, 5.1.183-185).

Hamlet findet Aussehen und Geruch dessen, was einstmals Yorick war, ekelhaft—"my gorge rises at it". Dennoch gibt er sich Mühe, das traurige 'Nachleben' ("To what base uses we may return, Horatio!") des Menschen zu akzeptieren. Dabei erfindet er ein Verslein zum Thema. Es scheint, als wolle er die Leichtigkeit des Totengräbers imitieren: Imperious Caesar, dead and turn’d to clay, Might stop a hole to keep the wind away. O that the earth which kept the world in awe Should patch a wall t’expel the winter’s flaw. (Hamlet, 5.1.206-209) 5

William Shakespeare, Hamlet, hg. v. H. Jenkins. The Arden Shakespeare, London 1982. 47

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Hamlets sarkastische Verse handeln zugleich von der Unausweichlichkeit und der Unannehmbarkeit des Todes. Das Ineinander dieser Haltungen ist auch Roths Thema: Everyman, von einem spontanen Entschluss überwältigt, sucht den verfallenen jüdischen Friedhof auf. Dort liegen seine Eltern begraben. Beim Anblick des Grabsteins überkommt ihn tiefe Trauer. Sein einziger Trost liegt darin, dass er den sterblichen Überresten seiner Eltern physisch nahe ist: They were just bones, bones in a box, but their bones were his bones, and he stood as close to the bones as he could, as though the proximity might link him up with them and mitigate the isolation born of losing his future and reconnect him with all that had gone. [...] Between him and those bones there was a great deal going on, far more than now transpired between him and those still clad in their flesh. [...] his deepest pleasure now was at the cemetery. Here alone contentment was attainable. (Everyman, 170-71)

Die intensive Empfindung einer 'Gemeinschaft' mit den Gebeinen gipfelt in einem 'Gespräch' mit den verstorbenen Eltern: His mother had died at eighty, his father at ninety. Aloud he said to them, "I’m seventy-one. Your boy is seventy-one." "Good. You lived," his mother replied, and his father said, "Look back and atone for what you can atone for, and make the best of what you have left." (Everyman, 171)

In seiner stillen Versenkung geht Everyman in die Gemeinschaft der Toten ein – doch nur beinahe. Alle Verzweiflung, Einsamkeit und Trauer können Everymans Lebenswillen nicht brechen. Er kann das Unannehmbare nicht annehmen: Dass der Tod unvermeidlich ist und das Rad der Zeit nicht zurückgedreht werden kann: He couldn’t go. The tenderness was out of control. As was the longing for everyone to be living. And to have it all all over again. (Everyman, 171)

Seine Initiation ins Reich der Toten vollzieht sich im Gespräch mit einem 'Experten'. Roth folgt auch in diesem Punkt Shakespeares Tragödie: Everyman begegnet ausgerechnet demjenigen Totengräber, der das Grab seiner Vorfahren schuf und auch Everymans Grab schaffen wird: He was walking back through the cemetery to his car when he came upon a black man digging a grave with a shovel. The man was standing about two feet down in the unfinished grave and stopped

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shovelling and hurling the dirt out to the side as the visitor approached him. (Everyman, 171)

Man fachsimpelt über die Geheimnisse des Handwerks: Wie lang dauert es, ein Grab auszuheben? Welche Werkzeuge werden eingesetzt; in welcher Reihenfolge? Welches sind die Vorzüge einer handwerklichen (nicht maschinellen) Arbeitsweise? Wann ist ein Grab gut gelungen? Schließlich spricht Everyman aus, was Hamlet unausgesprochen ließ: Well, I want to thank you. I want to thank you for everything you’ve told me and for how clear you’ve been. You couldn’t have made things more concrete. It’s a good education for an older person. (Everyman, 180)

Auch Saturday bedient sich sorgfältig ausgewählter intertextueller Verweise. Zwar lässt das Motto aus Saul Bellows Herzog erahnen, dass McEwans Roman politischer angelegt ist. Trotzdem ist das Werk nicht arm an Anspielungen auf Werke der Literatur, besonders solche, die das Schicksal des einzelnen Menschen thematisieren: Krankheit und Tod.6 Jenes Gedicht, das eine entscheidende Rolle für den Fortlauf der Handlung spielen wird, ist mit dem Themenkreis der vanitas befasst: for the world, which seems To lie before us like a land of dreams, So various, so beautiful, so new, Hath really neither joy, nor love, nor light, Nor certitude, nor peace, nor help for pain; And we are here as on a darkling plain Swept with confused alarms of struggle and flight, Where ignorant armies clash by night.

In der dramatischsten Szene des Romans tritt ein intertextueller Verweis hervor (und zwar noch deutlicher als in Everyman): Es handelt sich um Matthew Arnold’s "Dover Beach" – aber mehr darüber später.7 Darüber hinaus fungiert Arnolds melancholisches Gedicht als eine Art literarischer Leitfaden – genau wie die mittelalterliche Moralität und Shake6

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Literatur – gute Literatur – ist per se mit Leiden und Tod verbunden, zumindest für Perowne. Anlässlich der Buchempfehlungen seiner Tochter Daisy merkt er an: "On the other hand, he thinks he’s seen enough death, fear, courage and suffering to supply half a dozen literatures. Still, he submits to her reading lists—" (Saturday, 6). Weil er täglich mit dem Tod konfrontiert wird, stellt der Neurochirurg den Sinn der 'Bildungsoffensive' Daisys in Frage. Vgl. Matthew Arnold, The Poems of Matthew Arnold, London 1965. 49

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speares Hamlet in Everyman. "Come to the window, sweet is the night air! ", ruft der Sprecher in "Dover Beach", und auf den ersten Seiten von Saturday tut Perowne genau dies. Mitten in der Nacht steht er wie unter Zwang auf, öffnet das Fenster, und betrachtet die Stadt ("a brilliant invention, a biological masterpiece"). "The sea is calm tonight", heißt es in der ersten Zeile in "Dover Beach"; bald treten weniger erfreuliche Empfidungen hervor. Ganz ähnlich wird das Idyll in Saturday schlagartig zerstört: Perowne erblickt ein brennendes Flugzeug am Himmel. Von nun an mischt sich eine "eternal note of sadness" (Arnold) in seine Gedanken. Er lässt den Kreislauf des menschlichen Daseins ("the turbid ebb and flow / Of human misery" – Arnold) Revue passieren... Der Roman (und Perownes Tag) endet mit einem Bild – Perowne schläft voller Dankbarkeit neben seiner Frau ein –, das Arnolds conclusio zu illustrieren scheint: "Ah, love, let us be true / To one another!"

Medizin als letzte Rettung Roths und McEwans Bilder vom Tode ähneln und ergänzen einander. Der Medizin kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Roth bietet Everymans Krankheitsgeschichte, McEwan schildert einen Tag im Leben des Arztes Henry Perowne. Beide Protagonisten gehen – auf je eigene Art – derselben Beschäftigung nach: Sie wollen die Stunde des Todes hinauszögern. Perowne ist als Arzt darum bemüht, Menschen am Leben zu erhalten; Everyman kommt es zu, die ärztlichen Machinationen über sich ergehen zu lassen. Sein Körper wird zum "Lagerhaus" lebenserhaltender Gerätschaften: "time having transformed his own body into a storehouse for manmade contraptions designed to fend off collapse" (Everyman, 16). Weil ihnen religiöse Überzeugungen fehlen – Everyman und Perowne sind Atheisten –, wird der Glaube an die Errungenschaften moderner Heilkunst zur letzten Rettung für den Patienten wie für den Arzt. Die wachsende Bedeutung der Medizin erzeugt ein reduktionistisches, mechanistisches Menschenbild. Everyman erwägt, eine Autobiographie mit dem Titel The Life and Death of a Male Body zu verfassen – das menschliche Leben ist ihm rein materialistisch zu begreifen: "[T]here was only our bodies, born to live and die on terms decided by the bodies that had lived and died before us." (Everyman, 51). Physiologische Aspekte werden hervorgehoben, die Bedeutung der Psyche wird heruntergespielt. Die Psychoanalyse wird kurzerhand beiseite geschoben: Ein Analytiker diagnostiziert eine akute Blinddarmentzündung als Ausdruck eines Neidkomplexes – mit beinahe tödlichen Folgen für Everyman. Auch Henry Perowne schenkt Seelischem wenig Beachtung. Als Neurochirurg hat er gelernt, nur Körperliches ernst zu nehmen:

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This is his dim, fixed fate, to have one tiny slip, an error of repetition in the codes of his being, in his genotype, the modern variant of a soul, and he must unravel—another certainty Henry sees before him. (Saturday, 279)

Perownes Weltanschauung ist in toto von einem materialistischen Menschenbild bestimmt. Nicht allein seine Patienten, die Menscheit insgesamt wird dieser Betrachtungsweise unterworfen: Some of the worst wrecks have been privately educated. Perowne, the professional reductionist, can’t help thinking it’s down to invisible folds and kinks of character, written in code, at the level of molecules. It’s a dim fate, to be the sort of person who can’t earn a living, or resist another drink, or remember today what he resolved to do yesterday. (Saturday, 272)

Nicht einmal für die schwangere Tochter macht Perowne eine Ausnahme: He’s remembering her body, its pallor, the compact bump containing his grandchild, already with a heart, a self-organising nervous system, a swelling pinhead of a brain — here’s what unattended matter can get up to in the total darkness of a womb. (Saturday, 269)

Das materialistische Menschenbild erzeugt in beiden Romanen ein seltsames Nahverhältnis zwischen Medizin und Terror.8 Während Everyman seinen ersten neurochirurgischen Eingriff erwartet – der zweite wird tödlich ausgehen – kann er einen flüchtigen Blick in den Operationsraum werfen: "the younger doctors were already wearing surgical masks, and the look of them made him think of terrorists." (Everyman, 70). In ähnlicher Weise stellt Saturday die Verbindung her zwischen einem Gewaltakt und einem chirurgischen Eingriff. Perownes Ehefrau Rosalind vergleicht eine notwendige Operation mit dem Messer eines Gewalttäters auf ihrer Kehle: "The only other time I’ve felt so terrified and helpless was before my operation, when I still thought I was going to go blind." (Saturday, 269). Das äußert sie nach dem (überstandenen) Raubüberfall. Tatsächlich nimmt sich die detaillierte Beschreibung chirurgischer Eingriffe für Laien wie ein Protokoll von Kapitalverbrechen aus:

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Die materialistisch-mechanistische Sicht wird bereits im Motto in Saturday aufgerufen: "Well, for instance, what it means to be a man. In a city. In a century. In transition. In a mass. Transformed by science. Under organised power. Subject to tremendous controls. In a condition caused by mechanization." (Saul Bellow, Herzog, 1964). 51

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Although Rodney leans in with a Dakin’s syringe to douse the cutting edge with saline solution, the smell of singed bone fills the theatre. It’s a smell Henry sometimes finds clinging to the folds of his clothes when he undresses at the end of a long day. It’s impossible to speak over the high-pitched whine of the craniotome. [...] Exceptional care is needed as he guides the saw across the midline. He slows, and tilts the footpiece of the drill upwards—otherwise there’s a danger that it will catch and tear the sinus. [...] At last Perowne has cut round a complete oval shape behind the crown of Baxter’s head. (Saturday, 252)

Hier tritt die Vorstellung hervor, dass die Menschenbilder von Verbrechern, Terroristen und Ärzten – trotz der offensichtlichen Unterschiede – in gewisser Hinsicht konvergieren. Die Mitglieder dieser drei 'Berufsgruppen' tendieren (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) dazu, Individuen als bloße Körper zu betrachten; sie schenken der Persönlichkeit selten Beachtung; häufig gehen sie pietätlos mit Sterbenden um; schließlich haben sie Macht über Leben und Tod. Die Schützer des Lebens finden sich in der unerfreulichen Nachbarschaft der erklärten Feinde des Lebens wieder: Eine provozierende und beunruhigende Konstellation. Sie stellt die allzu sauberen Scheidelinien zwischen Gut und Böse in Frage, welche die öffentliche Debatte nach dem 11. September prägen. Und sie dämpft die hohen Erwartungen der Medizin gegenüber. Die 'letzte Hoffnung' des Menschen zeigt sich recht trügerisch: Die Medizin ist kaum mehr als ein weiterer Spielstein im großen Rätsel des Lebens.

Die Macht der Kunst Was lässt sich der undurchdringlichen Kontingenz ("incomprehensible contingency") und der Endlichkeit des menschlichen Lebens entgegensetzen – abgesehen von fehlbarer Wissenschaft? Beide Schriftsteller deuten dieselbe Antwort an: die Kunst. Nach seiner Pensionierung wendet sich Everyman der Malerei zu. Damit erfüllt er sich einen Lebenstraum. Er wirft die Frage auf, ob Kunst als Antidot gegen das Grauen des Todes dienen kann: It was as though painting had been an exorcism. But designed to expel what malignancy? The oldest of his self-delusions? Or had he run to painting to attempt to deliver himself from the knowledge that you are born to live and you die instead? " (Everyman, 103)

Henry Perowne ist unzufrieden mit seinem Leben – "There has to be more to life than merely saving lives" (Saturday, 28) – auch er findet Trost in der Kunst. In der Musik wird Perowne Erfüllung zuteil: durch

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das Unvorhersehbare und den Überschwang ("the unpredictable and the unrestrained", 28): He lets [the music] engulf him. [...] He stands swaying in the dark, staring up at the stage, his right hand in his pocket gripping his keys. Theo and Chas drift back to centre stage to sing their unearthly chorus. Or you can be happy if you dare. He knows what his mother meant. He can go on for miles, he feels lifted up, right high across the counter. He doesn’t want the song to end. (Saturday, 171–172)

Ein Gitarrensolo, von seinem Sohn vorgetragen, oder eine Komposition Schuberts können den Eindruck erwecken, die Welt sei in Ordnung ("a coherent world, everything fitting at last", 172). Musik erscheint Perowne wie eine Droge, die es ermöglicht, kurzzeitig der Welt und sich selbst zu entfliehen. Musik macht alle Angst schwinden: How foolishly apocalyptic those apprehensions seem by daylight, when the self-evident fact of the streets and the people on them are their own justification, their own insurance. The world has not fundamentally changed. Talk of a hundred-year crisis is indulgence. There are always crises, and Islamic terrorism will settle into place, alongside recent wars, climate change, the politics of international trade, land and fresh water shortages, hunger, poverty, and the rest. He listens to the Schubert sweetly fade and swell. (Saturday, 77)

Die Auffassung, Kunst könne die Pein des Lebens beheben, wird in der Schlüsselszene von Saturday noch überzeugender dargelegt: ausgerechnet ein literarisches Werk verhindert die tragische Wendung. Ein melancholisches Gedicht, rezitiert von der nackten Daisy – der Einbrecher hatte sie aufgefordert sich auszuziehen –, ruft bei dem psychisch labilen Aggressor, der Perownes Familie terrorisiert, einen Stimmungsumschwung hervor. Rosalinds Leben ist gerettet, und Daisy entgeht der Vergewaltigung. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. In der Tat gibt es Gründe, an der Wirksamkeit der Kunst zu zweifeln. Trotz der 'freundlichen Unterstützung' der Huntington–Krankheit, an der der Eindringling Baxter leidet, ist der glückliche Ausgang für Perownes Familie ziemlich unglaubwürdig. Ferner müssen wir beachten, dass Daisy zwar vorgibt, ein eigenes Gedicht zu rezitieren, in Wahrheit aber Matthew Arnolds "Dover Beach" aufsagt. Setzt sie kein Vertrauen in die eigenen Werke? Die Situation wird dadurch noch prekärer, dass Baxter von dem Gedanken beeindruckt scheint, dass Daisy die Verfasserin der wunderbaren Zeilen ist:

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'You wrote that. You wrote that.' It’s a statement, not a question. Daisy stares at him, waiting. He says again, 'You wrote that.' And then, hurriedly, 'It’s beautiful. You know that, don’t you. It’s beautiful. And you wrote it.' She dares say nothing. (Saturday, 222)

Ist Kunst also ein wirksames Antidot gegen die Misslichkeiten des Lebens? Mit ihren vielerlei Zweideutigkeiten insinuiert die Schlüsselszene von Saturday, dass die Antwort kaum eindeutig sein kann. Ein Gleiches gilt für Everyman: And he’d become bored with his painting. [...] The urgent demand to paint had lifted, the enterprise designed to fill the rest of his life fizzled out. [...] Suddenly he was lost in nothing, in the sound of the two syllables "nothing" no less than in nothingness, lost and drifting, and the dread began to seep in. Nothing comes without risk, he thought, nothing, nothing—there’s nothing that doesn’t backfire, not even painting stupid pictures! (Everyman, 102–103)

Die Wirkungsmacht der Kunst wird ein weiteres Mal in Frage gestellt, als Millicent Kramer, Everymans begabteste Kunst-Studentin, Selbstmord begeht. Alle Freuden der Malerei können den unstillbaren physischen Schmerz nicht wettmachen. Jenseits eines bestimmten Punktes – er wird in Everyman und in Saturday nur allzu oft erreicht – kann der Lebensqual gar nichts entgegengesetzt werden: "Nothing anymore but the pain." (92). "What else, beyond the dying?", fragt Perowne. In einer Welt, deren "unrechtmäßige Gesetzgeber" ("unacknowledged legislators" – Shelley) nicht Dichter und Maler, sondern Ärzte, Verbrecher, und Terroristen sind, ist diese Frage durchaus berechtigt.9 Die Antwort ist, bei Roth wie bei McEwan, ernüchternd.

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Dass sie Kontrolle über das Leben anderer ausüben zu können, erfüllt neben Kriminellen und Terroristen auch Ärzte mit einem falschem Überlegenheitsgefühl. Perowne genießt das Gefühl, Herr des Schicksals sein zu können: "Henry can’t resist the urgency of his cases, or deny the egotistical joy in his own skills, or the pleasure he still takes in the relief of the relatives when he comes down from the operating room like a god, an angel with the glad tidings —life, not death." (23). 54

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Coda Beide '9/11-Romane' skizzieren den Rückfall von zivilisierten Lebensweisen zum Elementaren: 'back to basics'.10 Die Bedürfnisse des Menschen werden auf ein Minimum reduziert: Abwesenheit von Schmerz, Geborgenheit. Am Schluss liegt Perowne in der Dunkelheit und Wärme des Ehebetts, in embryonaler Körperhaltung. Dies sind seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen: He closes his eyes. This time there’ll be no trouble falling towards oblivion, there’s nothing can stop him now. [...] He fits himself around her, her silk pyjamas, her scent, her warmth, her beloved form, and draws closer to her. Blindly, he kisses her nape. There’s always this, is one of his remaining thoughts. And then: there is only this. And at last, faintly, falling: this day’s over. (Saturday, 279)

Nach drei gescheiterten Ehen erkennt Everyman, dass am Ende nur eines zählt: Trost. "The ability to comfort each other (not to arouse, or interest, or amuse) is what we finally depend on". Das ist die Quintessenz des Romans nach Markovits.11 Roth und McEwan scheinen anzunehmen, dass die Angriffe vom 11. September auf "unseren ganzen Lebensstil" – auf die westliche Zivilisation – eine Rückkehr zu den Anfängen eben dieser Zivilisation provoziert. Wohin diese Entwicklung führen wird, muss offen bleiben. Doch ist es Zufall, dass beide Romane die Protagonisten schließlich in die Bewusstlosigkeit führen? Beide Hauptfiguren werden Lethe anheim gegeben: Perowne für eine Nacht, Everyman für immer: He went under feeling far from felled, anything but doomed, eager yet again to be fulfilled, but nonetheless, he never woke up. Cardiac arrest. He was no more, freed from being, entering into nowhere without even knowing it. Just as he’d feared from the start. (Everyman, 182)

10 Dieser Tendenz entspricht die unkomplizierte Erzählweise. Abgesehen von einigen intertextuellen Verweisen und der etwas ungewöhnlichen Verwendung des Präsens bei McEwan, stellt sie sich durchaus traditionell dar. Metafiktionale Elemente gibt es nicht. Unvertraute Erzählstrategien, wie zum Beispiel bei Foer, fehlen völlig. 11 Vgl. Benjamin Markovits, "Philip Roth's arguments with life", The Times Literary Supplement (5 May 2006). 55

S P I E L A R T E N D E S 'F A M I L I A R '/'F A M I L I A L ': DER NEO-REALISTISCHE ROMAN IN DER US- A M E R I K A N I S C H E N L I T E R A T U R U M 2000 MARY ANN SNYDER-KÖRBER

"Die alte Einfachheit": Politik und Poetik der Nostalgie I wanted a return to that past simplicity.1

Sich zurück sehnen. Damit ist die grundlegende Struktur der Nostalgie umrissen. Ausgelöst wird die Sehnsucht weniger von der Anziehungskraft des Vergangenen; sie entzündet sich vielmehr an den Unzulänglichkeiten der Gegenwart. So verbindet die Nostalgie eine als unbefriedigend empfundene Jetztzeit mit einer in der Vorstellung erhöhten Vergangenheit. Man denkt aber auch zurück, um die Zukunft zu gestalten. Dient die Vergangenheit als Richtschnur, kann nostalgisches Sehnen rasch normativen Charakter annehmen. Nirgendwo wird der Umschlag der Nostalgie von Unbehagen in Normsetzung deutlicher als im Amerika des jüngsten fin de siècle. Im Konzept der Familienwerte ist die verklärende Sehnsucht wirksame politische Parole. Das Wahlkampfjahr 1992 gilt als die Geburtsstunde des Schlagworts. Spätestens seit dem Feldzug des Vize-Präsidenten Dan Quayle gegen die positive Darstellung allein erziehender Mütter im Fernsehen ist der Begriff zum Schlachtruf geworden. Serien wie die damals populäre Murphy Brown, so sein Argument, stellen die Bedeutung des Vaters innerhalb der Familie und damit auch die Institution der Familie an sich in Frage. Ist Quayle zu einer historischen Fußnote geworden, hat sich die Verteidigung der Familienwerte zu einer bewährten Strategie der Konservativen entwickelt. Die Stärkung der Familie war zunächst wirksamster Grundpfeiler des "Vertrags mit Amerika", den die Republikaner der Nation im Jahr 1994 angeboten haben. Der überwältigende Sieg der 1

Bret Easton Ellis, Lunar Park, New York 2005, S. 4. 57

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"Vertragsrepublikaner" bei der Kongresswahl wurde als die Einwilligung des amerikanischen Volkes in ihren Plan für nationale Erneuerung verstanden. Der Vertrag versprach Stärkung aber nur für bestimmte Familien. Der allein erziehenden Mutter wurden nur Entbehrung in Aussicht gestellt, da die Kürzung finanzieller Unterstützung für diese Gruppe ein weiterer wichtiger Eckpunkt des Vertrages war. Das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie wird so zu einer Norm, die nicht nur politische Anerkennung, sondern auch die Grundlagen für das blanke Überleben bestimmt. Die Debatten und vor allem die Ergebnisse der letzten Präsidentschaftswahlen legen eine Fortsetzung dieses Vertrags und seiner Vorstellung von der Normativität einer bestimmten Familienform nahe. George W. Bush und seine Partei verdanken ihren Siegen in nicht unerheblichem Maße der Familienwerte. Bei ihrer Verteidigung gehe es schließlich, so argumentiert Bush, um die "grundlegendste Institution der Zivilisation".2 Ändert man "Zivilisation" in "Gesellschaft", kann die Äußerung des polarisierenden Staatsoberhaupts zur Abwechslung allgemeine Zustimmung erwarten. Bei allem Unbehagen angesichts der neo-konservativen Instrumentalisierung des Gedankens, wird die Vorstellung von der Familie als Grundlage des Gesellschaftlichen kaum abgestritten. Im Gegenteil, es ist diese Bedeutung, die die Bemühung um Ehe- und Familienstatus für gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu einem zentralen Anliegen der schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung macht. Hierin liegt aber auch ihr Interesse für die Literatur. In den Worten Tony Tanners: Die Ehe ist "der alles subsumierende, organisierende Vertrag", der die Lebensgemeinschaft zu der Struktur macht, "die die Struktur [der bürgerlichen Ordnung] unterhält."3 So betrachtet ist die Familie nicht einfach nur die Grundlage der Gesellschaft. Sie stellt vielmehr den Teil dar, anhand dessen das gesellschaftliche Ganze beleuchtet werden kann; sie ist nicht weniger als eine Synekdoche des Sozialen. Hierin liegt die symbolische Kraft der Familie, aber auch ihr narratives Potential. Im familiären Gefüge entstehen Konflikte, deren Entwicklung und Fortsetzung die Handlungslinie bestimmt. Dass dies keine zufällige Zielrichtung ist, legt J. Hillis Miller nahe: Die Figur der Linie werde eingesetzt, um Handlungen, aber auch familiäre Beziehungen ("filiation") zu beschreiben.4 Vor diesem Hintergrund zeigt die Bedeutungsüberlagerung der "Linie" in Texten von Le rouge et le noir bis Absalom, Absalom eine 2

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"President Calls for Constitutional Amendment Protecting Marriage: Remarks by the President in the Roosevelt Room". 4.12.2006 (http://www.whitehouse. gov/news/releases/2004/02/20040221-2.html). Tony Tanner, Adultery and the Novel, Baltimore 1979, S. 15. J. Hillis Miller, Ariadne’s Thread. Story Lines, New Haven/London 1992, S. 20. 58

ZWEI AMERIKAS

innere Konsequenz. Wie Peter Brooks beobachtet, bestimmen die Fragen der Abstammung und Vererbung die Form dieser exemplarischen Romane der realistischen Tradition.5 Brooks, Miller und Tanner stellen ihre Überlegungen ausgehend vom Roman des 19. Jahrhunderts an. Ob der zeitgenössische Roman ähnliche Familienwerte hat, bleibt eine Frage, für deren Beantwortung das eingangs angeführte Zitat von mehr als nur beiläufigem Interesse ist. So aktuell seine Nostalgie im Kontext gegenwärtiger politischer Debatten wirkt, ist die Formulierung weder einem Parteidokument noch der Rede eines Politikers entnommen. Im Gegenteil, ihre Quelle ist ein zeitgenössischer Roman. Der erste Eindruck einer Resonanz mit aktueller Politik täuscht aber nicht ganz. Obwohl Lunar Park (2005) kein politischer Roman im gängigen Sinne ist, kann er als ein Familienroman im Zeichen der Zeit betrachtet werden. Die Handlungsmotivation wird nicht nur aus den Konflikten und Resolutionen gewonnen, die das familiäre Leben bietet. Ausgangspunkt der Fiktion ist vielmehr eine Aktualisierung der Familienwerte. Der Protagonist gibt sein hedonistisches, bisexuelles und vom Drogenkonsum beflügeltes Großstadtleben auf, um Ehemann und Familienvater in einem gepflegten Vorort zu werden. Pikant an diesem Szenario ist, dass der Sinnsuchende im Roman den gleichen Namen wie der Romanschöpfer trägt: Bret Easton Ellis. Die damit suggerierte Identität von Figur und Autor ist symptomatisch für einen Text, der – zumindest anfänglich – das Romanhafte mit aller Macht abstreifen will, um nicht als Fiktion, sondern als die Dokumentation eines wirklichen Lebens wahrgenommen zu werden. Der identische Name macht den Anfang. Verweise auf die bekannten Eckdaten in Ellis’ Biographie ebenso wie die für Ellis charakteristische Beschreibung gehobener Konsumgüter setzen die ästhetische Strategie des Romans fort, der wie dessen Protagonist zu einer "past simplicity" zurückkehren will: zu einer Literatur, die die Nähe zum Leben sucht. Diese Annäherung im Medium der Literatur wird für gewöhnlich Realismus genannt und vor allem mit den programmatischen Bemühungen um eine solche Literatur im 19. Jahrhundert verbunden: eine weit zurückliegende, aber für zeitgenössische US-Autoren inzwischen scheinbar "gute alte Zeit". Autoren wie Richard Powers, Annie Proulx, Jeffrey Eugenides, Bobbie Anne Mason, Richard Ford und Jonathan Franzen knüpfen an das darstellerische Verfahren und seine Traditionen an. Auffällig an den erfolgreichsten dieser literarischen Produktionen ist aber nicht ihre realistische Manier allein, sondern die Tatsache, dass die

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Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative, Cambridge/London, 1984. 59

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Werke sich noch dazu dem Leser immer wieder auf dem Fundament des Familiären nähern. Powers The Time of our Singing (2003), Eugenides Middlesex (2002) und, am deutlichsten und erfolgreichsten, Franzens The Corrections (2001) sind Familienromane, die Ursprung und Fortbestand einer Familie im Dienst der Erhellung sozialer Verhältnisse nachgehen. Der Realismus kehrt aber unvermeidbar mit Unterschieden zurück. Auf die schwierige Übersetzung realistischer Verfahren in die Erfahrungswelt des 21. Jahrhunderts kann Ellis’ Roman besonders klar verweisen. Beginnt Lunar Park im Stil eines radikal reduzierten Realismus, wird jedoch spätestens beim Angriff des blutrünstigen plüschigen Plappervogels der Stieftochter auf den Mini-Sombrero tragenden Protagonisten deutlich, dass dies kein realistischer Roman im herkömmlichen Sinne sein kann. Es ist vielmehr die Parodie eines solchen Romans. Parodistische Übertreibungen zielen darauf, grundlegende Prämissen aufzudecken; in diesem Fall sind es die Konventionen, aber vor allem die Konsequenzen einer Rückkehr zur "past simplicity" für unser Verständnis der Familienwerte und ihre Bedeutung für den Gegenwartsroman.

Realitätseffekte und der Wahrheitstest: Jahrhundertwenden im Vergleich For the reader […] the only test of a novel’s truth is his own knowledge of life. Is it like what he has seen or felt? Then it is true, and for him it cannot otherwise be true, that is to say beautiful.6 For while all writers confront the same problem of heightening their style to capture the reader’s attention […] they divide sharply on the means they use. Some writers meet the challenge of their era by shocking the reader […]: others move closer to the reader learning to match not only his world but the very process by which he experiences and imagines.7

Opdahl und Howells fassen das Ziel literarischer Gestaltung unterschiedlich auf. Unser Zeitgenosse Opdahl unterstreicht die Aufmerksamkeitserzeugung, während der viktorianische Howells "Wahrheit" und ästhetischen Wert gleichsetzt. Dieses Literaturverständnis konnte

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William Dean Howells. "Novel-Writing and Novel-Reading" (1899), in: The Norton Anthology of American Literature , Bd. 2, hg. v. Nina Baym u.a., New York/London 1989, S. 266-282, hier S. 268. Keith Opdahl, "The Nine Lives of Literary Realism", in: Contemporary American Fiction, hg. v. Malcolm Bradbury u. Sigmund Ro, London 1987, S. 1-16, hier S. 4. 60

ZWEI AMERIKAS

Howells als Herausgeber der Zeitschrift Harper’s Monthly wie keine andere Figur im amerikanischen Geistesleben der Zeit fördern und verbreiten. Bei allen Unterschieden ist eine Präzisierung des realistischen Projekts Howells’ und Opdahls Überlegungen dennoch gemeinsam. Es geht nicht um ein Abbild der äußeren Welt, sondern um eine Annäherung. Man kann sogar sagen, dass Opdahl Howells Realismus-Test fortschreibt: "Is it like what he has seen or felt" findet zeitgemäßen Ausdruck in der Rede von 'Erlebnisprozessen'. Dass Wahrnehmung sich im Schritt mit sozialen, aber vor allem technischen Veränderungen verwandelt, ist eine ebenso konsensfähige Aussage wie die Charakterisierung der Familie als "grundlegende Institution". Um es auf eine medientechnische Dreifaltigkeit zu bringen: Kamera, Photo und Film bestimmen unsere Wahrnehmung. Wenn ein Text den Test der 'Nähe' in unserer späten, von diesen Medien geprägten Moderne bestehen will, muss visuelle Wahrnehmung ihren Weg in den Text finden. Wie weit die Bildästhetik realistische Beschreibung bestimmen kann, zeigt der Vergleich zweier Passagen: Im ersten Stock befand sich zunächst das Zimmer Madame, es war groß und mit einer verblichenen Blumentapete bespannt; dort hing das Bild von Monsieur in stutzerhafter Kleidung […] Ein kleineres Zimmer ging davon ab, indem man zwei Kinderbettchen ohne Matratzen sah. Dann kam der Salon, der immer verschlossen blieb, vollgestellt mit Möbeln, über die ein Tuch gebreitet war. Über einen Korridor ging es zu einem Arbeitszimmer; Bücher und Papiere verstopften die Fächer eines Regals, das mit seinen drei Seiten einen breiten Schreibtisch aus schwarzem Holz einrahmte.8 It’s the fate of most Ping-Pong tables in home basements eventually to serve the ends of other, more desperate games. […] The Ping-Pong table was the one field on which the civil war raged openly. At the eastern end Alfred’s calculator was ambushed by floral potholders and souvenir coasters from the Epcot Center and a device for pitting cherries which Enid had owned for thirty years and never used, while he, in turn, at the western end, for absolutely no reason that Enid could ever fathom, ripped to pieces a wreath made of pinecones and spraypainted filberts and brazil nuts.9

Die erste Passage wirkt unscheinbar. Hierin liegt das Wesen ihrer Wirkung und ihrer Bedeutung für den Realismus. Die Beschreibung ist nicht 8 9

Gustave Flaubert, Drei Erzählungen, übers. v. Heidi Kirmße u. Adelheid Witt, Berlin 1991, S. 8. Jonathan Franzen, The Corrections, New York 2001, S. 7. 61

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nur einem der einflussreichsten Beispiele des Realismus im 19. Jahrhundert entnommen: Gustave Flauberts Erzählung Une cœur simple in Trois contes (1880). Anhand dieses Beispiels erläutert Roland Barthes die Bemühungen um einen "Realitätseffekt", der den Darstellungscharakter eines Werkes zugunsten einer scheinbar transparenten Referenz verdrängt: Die Details bezeichnen nicht, sondern erzeugen den Eindruck, auf die wirkliche Welt zu weisen.10 Dabei fügen sich die Einzelheiten zu einer Struktur, deren naiv anmutender, hinzufügender Charakter der Darstellung einem Dienstmädchen angepasst ist. Zugleich wird aber die Lektüre zu einem räumlichen Fortschreiten. Die Räume der Passage sind miteinander verbunden, aber die Unterschiede zwischen Zimmern und Ebenen wird markiert. In einem Raum angekommen, werden seine Dimensionen und Einrichtung für sich erfasst; der Blauplan verliert sich in einer Fülle von Details. Eine Bewegungssequenz strukturiert auch die zweite Passage aus Franzens The Corrections. Die Ähnlichkeit mit Flauberts Beschreibung ist aber mit einem entscheidenden Unterschied dazu verbunden, der in der Flüssigkeit der Bewegung liegt, die das erste Kapitel kennzeichnet. Der Roman beginnt mit einem Bericht zur Wetterlage im mittleren Westen. Die "Kältefront der Prärie" bewegt sich vom Himmel zur Erde. Dort weht sie zusammen mit der Post durch die Haustür von Enid und Alfred Lambert und anschließend durch die Stube und Küche, um schließlich in den Keller abzusteigen. Die Beschreibung verweilt bei Details. An diesen Details ist aber weniger ihre Fülle als ihre Präzision auffällig. Ihre Anordnung ist geographisch genau: mit einer Ost- und Westfront, die die Tischtennisplatte teilt und so einen Orientierungspunkt bildet. Mit dem Verweis "To the east of the Ping-Pong table was the workshop" setzt sich die Passage und der Raumplan fort.11 Solche Verbindungen tragen dazu bei, dass der Schritt wesentlich weniger abrupt wirkt als bei Flaubert. Das Bewegungsmodell ist das Fließen des Windes, das um eine kartographierende Beschreibung ergänzt wird. Das Ergebnis ist weniger ein Realitäts- als ein Kontinuitätseffekt, den wir vielleicht inzwischen auch im Lebensalltag, aber zunächst im Kinosaal kennen gelernt haben. Um die Illusion eines ungebrochenen Flusses zu erzeugen, setzt vor allem der Hollywood-Film die Technik des "continuity editing" ein, die darauf zielt, den Schnitt zwischen Einstellungen unsichtbar zu machen. Dass wir die Spuren einer Filmästhetik in Franzens "continuity writing" entdecken, entbehrt nicht der Ironie. Franzen stellt seine Fiktion 10 Roland Barthes, "Roland Barth on the Reality Effect in Descriptions", in: Realism, hg. v. Lilian R. Furst, London/New York 1992, S. 135-141. 11 Jonathan Franzen, The Corrections, New York 2001, S. 7. 62

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nämlich in den Dienst des Widerstands gegen eine Bits-, Bytes- aber vor allem Bildkultur. Es gehe darum, schreibt Franzen in einem viel beachteten Essay in Harper’s Magazine, gegen die Konsumgesellschaft und deren Bildästhetik zu schreiben. Seine Klage: Sie brächten Texte hervor, die ihre eigne Verfilmung vorwegnähmen oder auch Wahrnehmungsmuster pflegten, die im Tempo des Durchklickens nur Oberflächen . Das Endresultat sei: "The electronic fragmentation of discourse".12 Die Lösung – können wir Franzens Reflexionen entnehmen – muss eine antielektronische Ästhetik der Substanz sein. Zur Substanz gehört eine Tiefe, die durch Funktion und Geschichte eines Objekts erzeugt wird, ebenso wie die materielle Beschaffenheit eines Objekts und seine ästhetische Wirkung, aber auch seine symbolischen Dimensionen. Der zitierten Passage aus The Corrections ist vor allem letztere Strategie zur Substanzerzeugung abzulesen. Anders als Flaubert oder auch ein früherer Realist des 20. Jahrhunderts wie der Minimalist Raymond Carver lässt Franzen die Details nicht für sich sprechen. Die Erzählinstanz in The Corrections spricht aus, was bei den anderen Autoren implizit bliebt: Implikation für Milieubestimmung ebenso wie Figurenzeichnung und Konfliktentwicklung. Die Tischtennisplatte wird zum Schlachtfeld, auf dem geradezu personifizierte Objekte Krieg miteinander führen. Es ist ein Krieg im Kleinen, der den Krieg der Eheleute, aber auch die Konflikte der Nation darstellen soll. Franzen setzt die Familie Lambert sehr deutlich als eine Synekdoche des sozialen Zusammenhangs ein. Die Wetterlage im mittleren Westen, der als "Heartland" der Vereinigten Staaten besondere symbolische Bedeutung hat, steht auch für die Großwetterlage der Nation. Bei einem solchen Ausbuchstabieren der Bedeutung wird leserliche Deutung überflüssig. Spitzt man den Vorwurf zu, wäre man geneigt zu sagen, dass die Lektüre zum faulen Konsum eines Fertigprodukts wird. Wichtig für Franzen ist aber, dass es ein mit den Mitteln des Textes hergestelltes Fertigprodukt ist. Seine Beschreibungen bleiben nicht auf der Oberfläche, sondern greifen auf Mittel wie die Personifizierung zurück, um symbolische Tiefen auszuloten. So kann ein Text verfahren, aber wesentlich schwerer ein Film, wenn er den Rahmen des Realistischen nicht allzu weit ausdehnen will. Dieser Rahmen ist Franzen wichtig: nicht nur wegen des Howellschen 'Tests' der Realitätseffekte. Das Lesen in einem vorgegebenen Rahmen ist anders als das Surfen im unbegrenzten elektronischen Raum. Dass man in einem visuellen Zeitalter weniger linear als punktuell liest, ist ein weiteres Thema seines Aufsatzes in Harper’s. Mit spürbarer Befremdung zitiert er die

12 Jonathan Franzen, "Perchance to Dream: In the Age of Images A Reason to Write Novels", in: Harper’s Magazine, April 1996, S. 35-54, hier S. 36. 63

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Antwort einer jungen Bekannten auf die Frage, wie viel sie lese: "You mean linear reading. Like when you read a book from start to finish?"13 Die Einleitung, mit der wir uns auseinandergesetzt haben, ist sicher eine Einführung in die Thematik von The Corrections; sie lässt sich aber auch als eine Einleitung in das lineare Lesen deuten. Gerade weil die Elemente der Beschreibung in einander greifen, kann man sie nicht häppchenweise aufnehmen, sondern nur entlang der Beschreibung. Dass die Erziehung zum 'richtigen' Lesen nach dem Verständnis Franzens cineastischer Strategien bedarf, zeigt der Wandel unserer Wahrnehmung, die auch ein bildskeptischer Realismus nach der Art Franzens nicht vernachlässigen kann, wenn er den "Test" der Nähe zu dem, "was wir gesehen und gefühlt haben", bestehen will. Eine ununterbrochene Kamerafahrt, beziehungsweise ihre Simulation im Prozess des Filmschneidens, kann einer Episode, aber keinem Roman Kontinuität verleihen. Dafür braucht Franzen eine Handlung, die er, wie die Realisten eines früheren Jahrhunderts ebenso wie der moderne Parodist Ellis, in der Familie findet.

Bretchens Mondfahrt: von "Heartland" zu Lunar Park Der mittlere Westen, seine Vorortkultur und deren Sitten ist nur einer der Themenbereiche, den Franzens Roman aufnimmt. Hinzu kommen die Börse, die Pharmaindustrie, das post-sowjetische Chaos in den Baltischen Staaten, amerikanische Homophobie und das Patriarchat. Jeder noch so weit führende thematisch Faden wird aber an die Familie zurückgebunden, deren Mitglieder investieren, verreisen und, am wichtigsten, sich an Prozessen der Korrektur beteiligen. Die Denotationen des titelgebenden Begriffs werden im Roman eine nach der anderen durchdekliniert. Dabei werden einige Korrekturen nicht nur aufgezeigt, wie die Korrektur des Finanzmarktes, sondern auch kritisch durchleuchtet, wie der Glaube an die korrigierende Wirkung von Psychopharmaka. Im Korrekturverfahren ändern sich die Werte der Lambert-Familie. Als einzige Institution durchläuft die Familie aber das Korrekturverfahren ohne völlig diskreditiert zu werden. Stellt der jüngste Sohn Chip seine Familie und ihre patriarchalischen Strukturen fortwährend in Frage – passend zu seinen Intellektuellenposen abwechselnd im Namen der Dekonstruktion und des Marxismus – kehrt der verlorene Sohn am Ende doch in das "Heartland" zurück: nicht nach dem heimischen St. Jude, aber zumindest nach Chicago, dem größten urbanen Zentrum der Region.

13 Ebd., S. 39. 64

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Beim Umzug entfernt er zudem sämtliche Piercings, heiratet und wird Vater von Zwillingen. Franzen setzt die Familie als narratives Element zur Ordnung seiner ausufernden Romanwelt ein. Mit einem solchen Schluss stellt er jedoch mehr als nur narrative Übersichtlichkeit in Aussicht. In der Vorstellung von der Familie als einzig legitimen Fixpunkt in einer verwirrenden Gegenwart finden sich Franzens Neo-Realismus und der Neo-Konservatismus auf einer – für beide Parteien sicherlich überraschenden – Augenhöhe. Zu diesen unerwarteten Wahlverwandtschaften kommt Lunar Park hinzu. Wie in The Corrections geht es auch in diesem Roman um eine Fortsetzung der Familie im Modus der korrigierenden Rückkehr. Der Protagonist schickt sich an, seine alten Fehler zu korrigieren. Seinem Sohn und der Frau, die er einst verleugnet hat, will er nun ein guter Vater und Ehemann sein. Zu diesem Zweck tritt er vor den Traualter. Der wichtigere Schritt ist aber die Übersiedlung von der Stadt in den Vorort. Evoziert Ellis diese Welt mit viel Liebe zum Detail, so sind es kaum die Details, die der Leser früherer Romane wie American Psycho (1991) erwartet. Dass es nun eher Kinderkostüme und keine gefolterten Frauenleichen sind, die detailreich beschrieben werden, ist aber nicht die entscheidende Differenz. Den wichtigsten Unterschied zwischen Früh- und Spätwerk entdeckt man weniger im Inhalt als in der stilistischen Ausrichtung. Die Rückkehr zur 'simplicity' ist nicht nur das Programm des Protagonisten namens Ellis; sie ist auch ein poetisches Programm des Autors Ellis, das für eine Zurückhaltung in der Darstellungsweise sorgt. Beschreibt Patrick Bateman in American Psycho die Inneneinrichtung seiner Wohnung und sein persönliches Pflegeprogramm in einer Ausführlichkeit, die kaum ein Detail und nie einen Markennamen vergisst, erfolgt die Charakterisierung der Vorortvilla in einer verallgemeinernden Manier, die Details der Gesamtcharakterisierung unterordnet: It was "minimalist global eclectic with an emphasis on Spanish revival" but with "elements of mid-century French chateau and a touch of sixties Palm Springs modernism" […] the interior was done in soothing shades of sandcastle and white corn, lily and bleached flour. Stately and lavish, slick and sparsely furnished, the house had four high-ceilinged bedroom and a master suite that occupied half of the second story and included a fireplace, a wet bar, a refrigerator, two 165-square-foot walk-in closets and window shades that disappeared into the pockets in the ceiling, and each of the two adjoining 14 bathrooms had a giant sunken tub.

14 Ebd., S. 53. 65

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Wendet man bei dieser Passage den Howellschen "Test" an, würde sie zwar bestehen, aber anders als es Howells oder auch Franzen gut heißen würden. Sie bietet schließlich etwas, das wir gesehen und gefühlt haben: nicht im Kino vielleicht, aber beim Blättern durch ein Hochglanzblatt. Dass dies der Ursprung des Realitätseffekts solcher Beschreibungen ist, verschleiert der Text nicht. Als Quelle dieser Charakterisierung des Hauses als einer Mischung aus Chateau und Finca wird die Publikation Elle Dekor angegeben. Die Exzerpte werden durch Anführungszeichen deutlich gemacht. So fein säuberlich die Rede auch markiert wird, setzt sich aber die Wohnmagazinbeschreibung im Stil kaum vom Rest der Schilderung ab. Geborgtes und eigenes Wort gehen ineinander über. Die Aussage der Passage ist nicht subtil, dennoch ein interessanter Kommentar auf den realistischen Stil, dessen Referent kaum die wirkliche Welt ist, sondern eine andere Darstellung, die wir vom Kiosk oder auch Kino kennen. Das Verschwimmen von Zeitschrift- und Romantext und vor allem die Art und Weise, in der die Texte ineinander übergehen, bietet aber auch Einblick in eine wesentliche Dynamik des Romans. Zunächst baut der Text Differenzen auf. In der oben zitierten Passage betrifft diese Grenzziehung das Zitat und die eigene Beschreibung. Im einleitenden Kapital des Romans wird zwischen den extravaganten, überkomplizierten und, somit impliziert, allzu fiktionalen Welten der früheren Ellis-Romane und der vorliegenden einfachen Geschichte unterschieden, in der "jedes Wort stimmt" ("every word is true").15 Ebenso sicher wie der eigene Text sich dem Duktus der Zeitschrift Elle Dekor anpasst, verliert sich jede Differenz zwischen dem allzu Fiktionalen und der sich als "wahrer" Geschichte präsentierenden Erzählung. Die Schöpfungen seiner Fiktionen – Nebenfiguren aber auch weiter entwickelte Geschöpfe wie Bateman – besuchen den Autor/ Protagonist Ellis in seinem Vorortrefugium. In der Gestalt des rachsüchtigen Plüschvogels suchen die Fiktionen die in dezenten Sandtönen gehaltene Villa heim. Wenn dem Kuscheltier Reiszähne wachsen, die es in das Bein des quiekenden Ellis schlägt, hat die allerletzte Stunde der Distinktion zwischen Fakt und Fiktion geschlagen. Wie in The Corrections hat in diesem Durcheinander nur eine Struktur Bestand: die Familie. Die Frage nach Abstammung und Vererbung, welche laut Brooks die großen Romane des 19. Jahrhunderts bestimmen, bildet die Linie, die auch diesem ausufernden, teils absurden Text einen Zusammenhang gibt. Im Laufe des Romans geht die Figur Ellis immer wieder dem Verhältnis zum Vater nach. Auch nach der Implosion aller narrativen Ordnung, – angefangen mit der Kuscheltierattacke, die das

15 Ebd., S. 30. 66

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Verschwinden des Sohnes und schließlich die Scheidung und Rückkehr in die Stadt nach sich ziehen – setzt sich die familiäre Verbindung fort. Ellis trifft sich mit dem verlorenen Sohn im anonymen Ambiente eines Schnellrestaurants. Anders als im Vorgängertext von Franzen kehrt der Sohn nicht zurück, aber er hinterlässt etwas: eine Kiste mit der Asche von Ellis’ Vater, in die er die Worte "lunar park" geschrieben hat. Die so gestaltete Asche stellt Vergangenheit und Zukunft der Familie dar, aber anders als Chips Zwillinge besucht diese Zukunft keine Chicagoer Vorschule. Obwohl melancholisch gefärbt, stellt dieser Schluss keine Absage an die Familie dar. Das Ende zeigt eher die Struktur der Familienwerte auf. Nostalgie bezieht sich auf die Vergangenheit, um die Gegenwart zu korrigieren and darüber hinaus die Zukunft zu gestalten. Dabei idealisiert die Rückkehr zu einer vergangenen Einfachheit nicht nur diesen Zustand; die Einfachheit wird vielmehr im Rekurs hervorgebracht. Die Familienwerte sind folglich weniger erlebnis- bzw. erdverbunden, sondern vielmehr, wie die Botschaft im Kästchen nahe liegt, "lunaren" Ursprungs. Mit dem Phantasiecharakter der republikanischen Familienwerte rechnen Historiker wie Stephanie Coontz ab. Der Titel ihrer als Replik konzipierten Studie zur Rhetorik der Familienwerte spricht für sich: The Way We Never Were. In seiner parodistischen Replik auf den Neo-Realismus im Stil Franzens rechnet Ellis weniger damit ab, als dass er aufzeigt. Im Projekt eines neuen Realismus entdeckt man Aporien wie die Filmästhetik eines anti-cineastisch konzipierten Werks. Die Aporie, auf die Lunar Park mit seiner übertreibenden Nachahmung verweist, ist aber eine noch grundlegendere. Im Herzen des um Lebensnähe bemühten Textes des Realismus, wirkt die Phantasie.

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"T O D O S E M A N T R I F I C A " O D E R : D I E A B S O L U T E TELENOVELA. RODRIGO FRESÁN UND DIE ÄSTHETIK TOTALER MEDIALISIERUNG IN MANTRA KARIN PETERS

Rodrigo Fresán gehört mit den Chilenen Alberto Fuguet und Sergio Gómez zu den prominentesten Vertretern einer jungen Generation lateinamerikanischer Schriftsteller, die sich unter dem 'Label' McOndo zusammenschlossen. Mit der Veröffentlichung der gleichnamigen Anthologie im Jahre 1996 läuteten sie das Ende des sogenannten Macondismo ein und forderten die Ablösung des Magischen Realismus der international erfolgreichen Boom-Literatur durch zeitgemäßere, der Realität Lateinamerikas angemessenere Schreibverfahren. Die Verballhornung McOndo spiegelt Realität und Selbstverständnis einer neuen Generation wider, für die McDonald’s und MacIntosh global präsent sind, und die Heimstatt des Magischen Realismus, das Dorf Macondo aus Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad, zum global village mutiert. Sie haben sich der Integration moderner Massenmedien verschrieben, und wollen eine Alternative des Schreibens anbieten. So beziehen sie Elemente der Unterhaltungs-Kultur mit ein, die die westliche Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts prägen: Filme, Videos und Videospiele, Comics und Rock-Musik. Die Stadt um die Jahrtausendwende wird dabei oft in ihrer Abwesenheit als physischer Raum und der puren Präsenz des Medialen inszeniert. Stadt und (neue) Medien werden schließlich schon seit dem Beginn des Kino-Zeitalters in der kulturellen Imagination zusammengeführt. Die Topographie und der topos der Stadt wird deshalb innerhalb der Literatur gerade in Formen 'fremdmedialisierten' Schreibens ausagiert. Eine solche literarische Stadtdarstellung der Jahrtausendwende steht auch im Mittelpunkt des hier besprochenen Romans Mantra. In der Großstadt des 21. Jahrhunderts breitet sich nicht nur ein weiter wachsendes Straßennetz und eine unübersichtliche Masse von Menschen und Schicksalen aus, sondern auch ein mediales Geflecht von Bildern, Schriften, Fernseh-, Kino- und Computerbildschirmen. Das (digitale) Fernseh- und Videobild gewinnt immer mehr an Einfluss und die Erfahrung der Vernetzung im World Wide Web hat längst eine Verschie-

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bung innerhalb der Medienhierarchie initiiert. Die Existenz dieses medialen Geflechts, das sich weltweit erstreckt – sei es über Fernseh- und Videobilder oder das Internet –, nähert die Großstadterfahrungen überall auf der Welt einander an: über geteilte Bilder und Daten. Ana María Amar Sánchez beschreibt wie auch Marc Augé die Stadt der Postmoderne deshalb als 'Nicht-Ort'.1 Die Stadt ist ein vernetzter und damit auch virtueller Raum geworden und das einzige Fenster dieses "mediating image" zur Außenwelt ist der Bildschirm.2 Marc Augé betont, wie austauschbar die Räume und Topographien der Großstadt des ausgehenden 20. Jahrhunderts sind.3 In der Verkoppelung von Medium und Körper werden diese Nicht-Orte deshalb neu semiotisiert und zu prototypischen Erinnerungsorten im Sinne einer sozialen Raumzeitlichkeit, d.h. zu einem sozialen, überzeitlichen Gedächtnis, stilisiert. Ein postmoderner, medialer Gedächtnistopos, der auch in Mantra von Rodrigo Fresán exemplarisch ausagiert wird. Im Rahmen des Projekts AÑO Ø des Verlags Mondadori wurde Rodrigo Fresán 2000 für ein Jahr nach Mexiko Stadt geschickt, um dort einen Roman über die Stadt zu verfassen: Dieser erschien 2001 unter dem Titel Mantra.4 Der gebürtige Argentinier sah sich darin der Aufgabe gegenüber, als Fremder diese Großstadt zu beschreiben. Das Ergebnis war ein Roman, der in drei Blöcken Vergangenheit ("Antes: El amigo mexicano"), Gegenwart ("Durante: El muerto de los días") und Zukunft ("Después: El temblor")5 der Stadt in Szene setzt. Alle drei Teile werden von jeweils verschiedenen Ich-Erzählern geschildert. Der formal äußerst unkonventionell dargestellte Plot dreht sich um den Protagonisten Martín Mantra. Er ist der "mexikanische Freund" des Erzählers im ersten Teil, ein Bekannter und Rivale des (toten) Erzählers im zweiten Teil, und

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"Cities have become 'non-places' [...]. If a place is a space of identity, relation, historical bonds, then those non-places, characteristics products of postmodernity, are defined by the absence of such markers." Ana María Amar Sánchez, "Deserted Cities. Pop and Disenchantment in Turn-of-the-Century Latin American Narrative", in: Latin American Literature and Mass Media (Hispanic Issues, Bd. 22), hg. v. Edmundo Paz-Soldán/Debra A. Castillo, New York/ London 2001, S. 207-221, hier: S. 212. Ebd.; vgl. dazu auch Jean Baudrillard, "Videowelt und fraktales Subjekt", in: Aisthesis. Wahrnehmungen heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1990, S. 252-264. Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1994. Rodrigo Fresán: Mantra, Barcelona 2001. Fortan abgekürzt mit der Sigle M. Dt.: "Davor: Der mexikanische Freund", "Währenddessen: Der Tod der Tage", "Danach: Das Erdbeben". Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 70

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Religionsstifter, Revolutionsführer und Schöpfer des erzählenden Maschinenmenschen im dritten und letzten Teil. Der erste Teil ist die Geschichte eines ehemaligen Schulkameraden Martíns, oder besser gesagt, seine von einem bösartigen Gehirntumor manipulierte und kultivierte Erinnerung an ihre Begegnung. Der Erzähler gerät während seiner Kindheit in den Bann des charismatischen Jungen, imaginiert sich ein 'Sehnsuchts-Mexiko' als neue Heimat und macht sich als Erwachsener auf die Reise nach Mexiko Stadt. Nach der Ankunft erschießt er sich jedoch auf dem Flughafen mit der Pistole eines Fremden. Im zweiten Teil erfährt man, dass die Person, der er den Revolver entwendet, von einer Frau namens María-Marie begleitet wird. Sie ist die Adressatin des zweiten Erzählers und wartet auf dem Flughafen mit dessen Sarg und Leiche auf ihren Flieger, um ihn in seine Heimat Paris zurück zu bringen. Der zweite Teil wird aus seiner Sicht erzählt: Er befindet sich in der unterirdischen Totenwelt Mictlán und sieht auf einem Fernseher vor sich den 'plot' ablaufen. Dargestellt wird dieser Blick in Vergangenheit und Gegenwart in kurzen, alphabetisch geordneten Paragraphen. Erst zuletzt – nicht 'am Ende der Geschichte', sondern am Ende des Alphabets, mit dem Erreichen des Buchstabens Z – wird geklärt, dass der Erzähler dieses Teils für den Tod eines engen Freundes Martín Mantras, eines Kämpfers aus der Szene der "Luchadores Enmascarados",6 verantwortlich ist und aus Rache von einer rasenden Zuschauermasse umgebracht wurde. Der verhältnismäßig kurze dritte Teil wird aus der Sicht des Androiden P.P.MAC@rio erzählt, der in der durch ein Erdbeben zerstörten und ohne Ende bebenden Mexiko Stadt oder "Nueva Tenochtitlan del Temblor" auf der Suche nach seinem 'Vater' Mantrax ist – eines der vielen Synonyme von Martín Mantra. Dieser hatte bei der Zerstörung der Stadt die Herrschaft ergriffen und ein Regime rund um die kultische Verehrung einer 'absoluten Telenovela' und die Schaffung von Maschinenmenschen gegründet. Die Menschen im Mexiko der Zukunft können sich nur auf allen Vieren bewegen, weil die Erde ständig zittert, und beten die Projektion der absoluten Telenovela auf einer Felswand an. Sie zeigt, wie es zur Auslöschung der gesamten Sippe der Mantras kommen konnte: Um seine Familie in den Stand neuer Götter zu erheben, hatte Martín den radikalen Entschluss gefasst, alle Verwandten auf einer Familienfeier zu vergiften, dabei zu filmen und sie so auf Zelluloid festgebannt ewig leben zu lassen.7 6 7

Dt.: "Maskierten Kämpfer". Fresán greift hier intertextuell auf Bioy Casares’ La invención de Morel (1940) zurück, in der ein kinematographisches Supermedium direkt den Tod der Gefilmten bewirkt. 71

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Der Einfluss des Films ist in Mantra auf narrativer und struktureller Ebene unverkennbar. Im ersten Teil führt Martín Mantra seinem neuen Freund Filme wie 2001: A Space Odyssey, Apocalypse Now, Blade Runner und die Mystery-Serie The Twilight Zone sowie die ersten Ergebnisse seiner filmerischen Tätigkeit vor. Seine Beziehung zu Film und Fernsehen ist durch seine Familie geprägt: Vater und Mutter sind beide Helden einer berühmten Telenovela und der Großvater Produzent. Das erste Ergebnis dieser Obsession ist der frühe Entwurf eines 'Film Total': El cumpleaños de Martín Mantra / Nueve años, das Projekt eines lebensbegleitenden Films, der mit Martín gemeinsam wachsen soll. El cumpleaños dauert 24 Stunden und bildet eine Familienfeier der Mantras in Realzeit ab. Das Konzept bzw. Martíns Utopie vom absoluten Film ersetzt hier konventionelle Vorstellungen von Gedächtnis und Erinnerung: der Gedächtnisraum wird zum Filmraum und Erinnerung zur Wiederholung. En el futuro todos seremos directores de cine, todos filmaremos la película de nuestras vidas. Pienso en un mañana cinematográficamente autobiograforme. […] El olvido será olvidado, y ya no sabremos lo que es la memoria ni sus deformaciones que todo lo complican. Ya no recordaremos nuestro pasado como si fuera una película, porque nuestro pasado será una película de la que seremos primero protagonistas, para poder ser espectadores después. (M, S. 67) In der Zukunft werden wir alle Filmregisseure sein, wir werden alle unseren Lebensfilm drehen. Ich denke dabei an ein kinematografisch autobiographormes Morgen. […] Das Vergessen wird vergessen sein, und wir werden nicht mehr wissen, was Erinnerung ist, oder ihre Deformationen, die alles verkomplizieren. Wir werden uns nicht mehr an unsere Vergangenheit erinnern, als wäre sie ein Film, sondern unsere Vergangenheit wird ein Film sein, in dem wir zuerst die Hauptrolle spielen, um danach Zuschauer sein zu können.

Diese Philosophie konkretisiert und realisiert sich im ersten Erzähler. Er ist vom ersten Moment an, in dem er El cumpleaños sieht, ein Anderer, bis sich Martíns Projektor schließlich sogar in sein Gehirn zu verpflanzen scheint. Das Gehirn des Erzählers selbst wird zur Projektionsfläche, und der Projektor zum wachsenden Tumor. Der Arzt, der den Tumor diagnostiziert, kann sich das Phänomen naturwissenschaftlich nicht erklären, hat allerdings eine detaillierte Beschreibung der neuronalen Veränderungen des Gehirns des Erzählers parat, die zeigt, wie dessen Gedächtnis manipuliert wird:

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Es como si el tumor se las comiera, como un parásito, y al digerirlas las convirtiera en algo... nuevo. Neuronas nuevas. Neuronas hipnotizadas. Esto ha ido causando una progresiva desaparición de la memoria tal como usted la ha ententido hasta ahora para ser suplantada por otro tipo de memoria [...] Memoria Mínima Absoluta. [...] El mismo recuerdo una y otra vez. Un pequeño fragmento de tiempo ascendido al rango de eternidad. (M, S. 101-103) Es ist, als würde der Tumor es [das Gedächtnis] zerfressen, wie ein Parasit, und während er es verdaut, verwandelt er es in etwas... Neues. Neue Neuronen. Hypnotisierte Neuronen. Das hat dazu geführt, dass das Gedächtnis, wie Sie es bisher kannten, Schritt für Schritt verschwindet, um durch eine andere Art von Gedächtnis ersetzt zu werden […] ein absolutes Minimal-Gedächtnis. […] Die gleiche Erinnerung, immer wieder. Ein kleines Zeitfragment, das aufgestiegen ist in den Rang der Ewigkeit.

Die Erinnerung eines Zeitfragments äußert sich in einer Gedächtnisschleife, die sich unaufhörlich um die Begegnung mit Martín Mantra dreht: "esa película infinita – un México de neuronas cansadas, un Distrito Federal de mi mente – que alguna vez, en la infancia de mi historia, comenzó a filmar o no un tal Martín Mantra"8 (M, S. 109). So dringt die Imagination von Mexiko Stadt als Film in das Begehren des Erzählers ein, und er folgt dem unbändigen Drang, sich auf die Reise dorthin zu machen. Absurderweise wird er bei der Ankunft Opfer der Gedächtnisschleife, und die Wiederholung der ersten Begegnung mit Martín Mantra sein Verhängnis: Damals hatte sich Martín an der neuen Schule Respekt verschafft, indem er seine Schulkameraden zum russischen Roulette aufforderte. Der Einzige, der sich der Herausforderung stellte, war der Erzähler. Diese Initiationsszene macht ihn zum würdigen Gefährten Martíns. Sie ist aber auch der Beginn einer völligen, lebensentscheidenden Auslieferung. Jahre später entreißt der Erzähler auf dem Flughafen Mexikos einem Fremden die Waffe und schießt sich in einer Wiederholung dieses Moments in den Mund. Er wird mit dem Betreten mexikanischen Bodens handlungsunfähiges Opfer seiner persönlichen 'mexikanischen Geschichte' – einer überzeitlichen Raumzeit –, und die manipulative Projektion einer unendlichen, absoluten Telenovela das tödliche Projektil, das sein Leben beendet. In einem letzten, radikalen Schritt setzt Martín auch in der Außenwelt das Prinzip der absoluten Telenovela in die Realität um: Er ver8

Dt.: "diesen unendlichen Film – ein Mexiko der müden Neuronen, ein Distrito Federal meines Geistes – das einmal, im Kindesalter meiner Geschichte, ein gewisser Martin Mantra zu filmen begann". 73

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wandelt die Helden seiner Filme – seine Familie – in Götter, indem er sie im realen Raum tötet, jedoch im virtuellen bzw. filmischen Raum in der ewigen, seriellen Wiederholung unsterblich macht. Mundo Mantra, una forma de immortalizar a su familia convirtiéndola en familia de dioses que se inmolan para perpetuarse en el tiempo y el espacio. Primero piensa en ello como en un film, luego se pregunta para qué filmar una película cuando se puede crear toda una religión. (M, S. 365) Mundo Mantra, ein Weg, seine Familie unsterblich zu machen, indem er sie in eine Familie von Göttern verwandelt, die sich aufopfern, um sich in Raum und Zeit zu verewigen. Zuerst denkt er dabei an einen Film, aber später fragt er sich, warum einen Film drehen, wenn man eine ganze Religion stiften kann.

Im dritten Teil des Romans wird diese Projektion Objekt der Anbetung einer Religionsgemeinschaft,9 die den Gegenstand des Gesehenen nicht begreift, sondern in körperlicher Nachahmung – und damit Wiederholung – als reine Bilder verehrt. Die Gesellschaft von "Nueva Tenochtitlan del Temblor" hat den Bezug zur Geschichte verloren: Die Telenovela auf der Felswand ersetzt die Vergangenheit und wird zum unsterblichen, überzeitlichen 'Film Total'. Diese absolute Telenovela löst nicht nur die lineare Zeit durch eine Zeitschleife ab, sondern kehrt auch die Verhältnisse real – irreal/fiktiv um: Die auf der Realität basierende Fiktion (der totale Film, der die 'realen' Mantras beim Sterben zeigt) wird zur Grundlage einer realen Welt, die diese Fiktion anbetet. Hier äußert sich nicht nur die lebensweltliche Erfahrung, nach der Serienhelden wirklicher erscheinen können als echte Menschen, sondern gerade auch die dominante Präsenz des Medialen in der Gesellschaft um die Jahrtausendwende. Der zweite Teil inszeniert ein anderes Paradigma: Video bzw. Hypertext und Verlinkung. Die alphabetisch angeordneten Paragraphen entsprechen auf der Ebene der 'Narration' den springenden Bildern auf dem Fernseher des Totenreichs. Der Erzähler ist "prisionero para siempre de la libre asociación de ideas, girando verdaderamente en falso", einer 9

Vgl. dazu (M, S. 523): "El códice que baila en la pared era nuestro texto sagrado, nuestra religión en movimiento, y allí se contaba la historia formidable y sin pausas de los Mantrax, la raza de los elegidos, la familia de dioses que vivían adentro de cajas de electricidad de las que, en ocasiones, salían." Dt.: "Der Kodex, der auf der Wand tanzt, war unser heiliger Text, unsere Religion in Bewegung, und dort wurde die großartige Geschichte der Mantrax ohne Unterbrechung erzählt, der Rasse der Auserwählten, der Familie der Götter, die in elektrischen Kästen wohnten, aus denen sie ab und zu herauskamen." 74

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"percepción estroboscópica de la realidad"10 (M, S. 396). Begründet wird die Anordnung durch die Tatsache, dass nach dem Tod das Leben sich aufsplittere in Fragmente ohne logischen, narrativen Zusammenhang und diese sich in einer neuen 'Sprache' ordnen: Mientras tanto, durante los primeros días de nuestra muerte, la vida se nos va desdibujando y perdiendo un sentido lógico de la narración. Sólo nos quedan fragmentos, párrafos, detalles ampliados hasta perder todo sentido o reducidos hasta volverse invisibles. Los instantes se ordenan alfabéticamente en el Lenguaje Internacional de los Muertos [...]. (M, S. 393) Inzwischen, während der ersten Tage unseres Todes, verschwimmt unser Leben und verliert den logischen Zusammenhang einer Erzählung. Uns bleiben nur noch Fragmente, Paragraphen, Details, die sich ausweiten, bis sie jeden Sinn verlieren, oder verkleinern, bis sie unsichtbar werden. Die Augenblicke ordnen sich alphabetisch in der Internationalen Sprache der Toten […].

Diese Sprache der Toten, die "L.I.M. [...] Frases cortas. Manía referencial. Memoria selectiva."11 (M, S. 332), bildet einen anderen 'Gedächtnisraum': die durch Links vernetzte Flut von Informationen, wie sie im World Wide Web allgegenwärtig ist. In ihr laufen sowohl die Geschichte der Hauptfiguren als auch die der Stadt Mexiko ab, und das wortwörtlich: In einer Szene spult das Band zurück von der Jetztzeit auf den Ursprung der mexikanischen Kultur. "D.F. (Historia) [...] The Good Parts, entonces. Recepción imperfecta, entonces. REWIND, entonces. Primero, para empezar por donde termina, un aeropuerto y un terremoto."12 (M, S. 237) Die Linearität der Zeit "se muerde la cola"13 (M, S. 147), die Zeitenfolge wird umgekehrt und somit außer Kraft gesetzt. Die Video-Bilder der einzelnen Paragraphen sind dabei aber auch simultan präsente Überlagerungen – "Al mismo tiempo. En estéreo. La pantalla se divide en dos. Picture in Picture."14 (M, S. 386) – und der Bildschirm deren Leinwand. Fresán nutzt diesen Darstellungsmodus, um die 'Zeit10 Dt.: "für immer Gefangener der freien Assoziation von Ideen, die wirklich ins Unechte abdriften", "stroboskopischen Wahrnehmung der Realität". 11 Dt.: "I.S.T. […] Kurze Sätze. Referentielle Manie. Selektives Gedächtnis." 12 Dt.: "D.F. (Geschichte) […] The Good Parts, also. Schlechter Empfang, also. REWIND, also. Zuerst, um anzufangen, wo es endet, ein Flughafen und ein Erdbeben." 13 Dt.: "beißt sich in den Schwanz". 14 Dt.: "Zur gleichen Zeit. In Stereo. Der Bildschirm zweiteilt sich. Picture in Picture." 75

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wahrnehmung' eines Toten – und damit seine Gegenwart als absolute Zeitlichkeit – abzubilden. Die (eigene) Vergangenheit, und noch wichtiger: die Gegenwart der Außenwelt, spiegeln sich auf dem 'Fenster' zu dieser: dem Bildschirm. Er wird zur Grenze zwischen den Welten und zum virtuellen Schnittpunkt sich kreuzender Zeitschichten. Der Hypertext15 im Roman Fresáns bezieht sich ausdrücklich auf die künstlerische Idee des cut-up von William S. Burroughs II. (1914-97). Der einflussreiche Künstler der Beat Generation entwickelte mit seinem Künstlerkollegen und Freund Brion Gysin das Prinzip einer literarischen Form der Montage: "The cut-up technique is a specialised literary form in which a text is cut up at random and rearranged to create a new text."16 Dieser reale und ästhetische Bezug taucht in Form von Zitaten und Figuren auf dem Bildschirm des Erzählers im zweiten Teil auf: Seine ständige Gefährtin ist Joan Vollmer, Burroughs verstorbene Frau, die von diesem in Mexiko Stadt getötet wurde.17 Und im Paragraphen "CUT-UP (De Burroughs)" taucht Burroughs selbst auf dem Bildschirm auf und spricht folgende Zeilen: El cut-up como nuevo lenguaje donde todo aparece fragmentado, donde las historias empiezan por donde terminan y no respetan el orden cronológico de los acontecimientos, lo importante es poner todo por escrito, rápido, antes de que desaparezca o se olvide. (M, S. 230) Der cut-up als neue Sprache, in der alles zerstückelt erscheint, wo die Geschichten beginnen, wo sie enden, und nicht die chronologische Abfolge der Geschehnisse beachten, wichtig ist, alles aufzuschreiben, ganz schnell, bevor es verschwindet oder man es vergisst.

Der Hypertext wird so zum Prototyp der referentiellen Manie dieses Gedächtnismodells und ersetzt im schriftlichen Medium die Dominanz von Kontinuität und Linearität. Die Geschichten, die im zweiten Teil 'erzählt' werden, beginnen tatsächlich am Ende – nicht nur in der Szene der zurückgespulten Historie, sondern auch und gerade im gesamten zweiten Teil. Der tote Erzähler in seinem Sarg steht chronologisch gesehen kurz vor dem Erbeben und der Machtübernahme Mantrax’. Das 'Er15 "In computing, a hypertext system is one for displaying information that contains references (called hyperlinks) to other information on the system [...]. The most well-known hypertext system is the World Wide Web." in: http:// encyclopedia.thefreedictionary.com/William%20S.%20Burroughs, 23.04.2004 16 Ebd. 17 "On September 6, 1951, in Mexico City, Burroughs accidentally shot and killed his wife during a drunken attempt to imitate William Tell’s feat of shooting an apple of his son’s head […]." Ebd. 76

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zählen' und die 'Geschichte' beginnen außerdem erst nach dem 'Ende' – dem Tod. Die 'Vorgeschichte' wird quasi auch fragmentarisch, alinear rückwärts erzählt. Gemäß dem Prinzip der Verlinkung sind die Paragraphen des Hypertextes oftmals durch direkt erkennbare Links verbunden.18 Sie bilden ab, wie unsere Gegenwart als Informationsnetzwerk wahrgenommen wird. Wie sich in dieser Darstellung auch der spezifische Raum Mexiko Stadt abzeichnet, wird im Folgenden beleuchtet. In allen drei Kapiteln bleibt die Stadt Mexiko als realer Raum an sich unerreichbar: Der erste Erzähler tötet sich noch im prototypisch entindividualisierten Raum der Stadt, dem Flughafen; der zweite Erzähler sieht die Ereignisse nur auf einem Bildschirm ablaufen, und der dritte Erzähler kommt in einer zerstörten Stadt der ständigen Erschütterung an, in der das Zittern der Umgebung die Fixierung des Blickes an den Boden erzwingt. Wie taucht der eigentliche Gegenstand des Buches also im Zwischenraum des Textes auf? Die indirekte Repräsentation der Stadt im ersten und zweiten Teil erschafft eine imaginäre, eine illusionäre Stadt. Sie ist nur als virtueller Raum konkretisiert: Einmal als im Gehirn des ersten Erzählers durch Projektion entstandene Obsession und einmal als Totalität der sich schneidenden Zeitschichten auf bzw. hinter einem Bildschirm. Denn der eigentliche Ort des Geschehens im zweiten Teil ist Mictlán, das Totenreich der Azteken, ein Raum außerhalb der Zeit, ein Raum der Fülle der Zeiten. Ahora vivo en un México Distrito Federal Subterráneo, que es la sombra pesada de ese México Distrito Federal Superficial en el que morí hace no sé exactamente cuánto, porque aquí el tiempo se tuerce y se muerde la cola, se vuelva todavía más mexicano. Pasado, presente y futuro. Todos juntos ahora. (M, S. 146f.) Jetzt lebe ich in einem Unterirdischen México Distrito Federal, dem schweren Schatten dieses Oberirdischen México Distrito Federal, wo ich gestorben bin, vor ich weiß nicht genau wie langer Zeit, denn hier verbiegt sich die Zeit und beißt sich in den Schwanz, sie wird sogar 18 So gestaltet sich der Übergang von "MUSEOS (Felicidad de los)" zu "NACIMIENTO (Fecha de)" im allerletzten Satz des Artikels: "Imaginarnos como cuadros, como estatuas, inmóviles y con una etiqueta donde se lee nuestro nombre, nacionalidad, fecha de nacimiento [Hervorhebung von Verf.] y, si pensamos muy fijo y con los ojos bien abiertos, la otra fecha, la fecha del final." (M, S. 385) Dt.: "Uns wie Gemälde vorzustellen, wie Statuen, unbeweglich und mit einem Etikett, auf dem man Name, Nationalität, Geburtsdatum und, wenn man ganz fest daran denkt und die Augen weit aufreißt, das andere Datum, das finale Datum, lesen kann." Oder auch "OJOS (Sin)" zu "PANCRACIO (Juramento)", (M, S. 397). 77

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noch mexikanischer. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles im Jetzt vereint.

Der urbane Raum ist also jeweils Ergebnis einer Projektion, nie aber an sich greifbar oder anwesend. Nur in der fragmentarischen Erinnerung an seinen Aufenthalt in Mexiko vor seinem Tod gibt der Erzähler des zweiten Teils den Blick frei auf die Großstadt Mexiko der Gegenwart. Diese Stadt überschwemmt das Individuum. El problema, María-Marie, comenzó esa mañana en el D.F. en que no me vi reflejado contra el vidrio de una ventana. De golpe yo era todo ciudad gris y sucia y contaminada y sin ningún tipo de lógica aparente, aunque – cut-up, después de todo – con un mapa dictado por una inteligencia demente. Ciudad de México me había devorado sin ni siquiera dedicarme el honor de masticarme, me había tragado de un golpe, sin sentirme el gusto a mierda o a miel, daba lo mismo. Y yo ahora era un extranjero en sus tripas con ganas de salir de ahí, de morirme para volver a casa. (M, S. 270) Das Problem, María-Marie, fing an diesem Morgen in D.F. an, als ich mich nicht in einem Glasfenster gespiegelt sah. Auf einen Schlag war ich die ganze graue und dreckige und verseuchte Stadt ohne jede offensichtliche Logik, obwohl – cut-up, trotz allem – mit einer Karte, die mir von einer wahnsinnigen Intelligenz diktiert wurde. Mexiko Stadt hatte mich verschlungen und mir nicht einmal die Ehre erwiesen, mich zu zerkauen, sie hatte mich mit einem Mal verschlungen, ohne zu schmecken, ob ich nach Mist oder Honig schmecke, es war egal. Und ich war jetzt ein Fremder in ihren Eingeweiden und wollte gerne heraus, sterben, um nach Hause zurück zu kehren.

Das Spiegelbild und damit die bildliche Versicherung der eigenen Identität geht hier über in eine alles überwuchernde Spiegelung der Stadt. So wie der lebende Erzähler hinter dem Fensterglas verschwindet und von der Masse der Stadt verschluckt wird, so bleibt der tote Erzähler an den Ort der Fremde, den Ort seines Sterbens gebunden und hinter dem Bildschirm als nur Aufnehmender, nicht so sehr Wahrnehmender, unsichtbar. Mexiko Stadt wird in dieser Darstellung tatsächtlich zum "virtual space", zum "mediating image". Fresán setzt für die Verbindung zum Illusionsraum Mexiko einen bestimmten Knotenpunkt in Szene: den Flughafen. Dieser Ort des ständigen Übergangs, die Pforte zur Großstadt, ist selbst sowohl metonymische Repräsentation dieses Raums als auch ein Nicht-Ort im Sinne Amar Sánchez’ oder Marc Augés. Vor allem jedoch bildet er selbst ein welt-

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weites Netzwerk von ankommenden und abfliegenden Flugzeugen, von Informationen und Menschen.19 No describiré aquí un aeropuerto internacional porque todos los aeropuertos internacionales son más o menos lo mismo, supongo: zonas liminares pobladas por somnámbulos cuya función es la de suspender una vida – las palabras Arrivals y Departures bien pueden ser los paréntesis que aprisionan a toda historia posible – para obligarlas a pronunciarse en esa versión cansada del esperanto [...] somo si rezaran, la santa plegaria de "Mexico City is known to Mexicans simply as México – pronounced 'MEH-kee-ko'. If they want to distinguish from Mexico the country, they call it either 'la ciudad de México' or el DF – 'el de EFF-e'" porque necesitan saber dónde están mientras se preguntan en voz baja qué estoy haciendo aquí, para qué vine, cuándo me voy, hay alguien ahí. (M, S. 136) Ich werde hier nicht einen internationalen Flughafen beschreiben, denn alle internationalen Flughäfen sind mehr oder weniger gleich, denke ich: Randgebiete, die von Schlafwandlern bevölkert werden und deren Funktion es ist, ein Leben zu unterbrechen – die Wörter Ankunft und Abflug könnten sehr wohl die Klammern sein, die jede mögliche Geschichte gefangen halten – um sie zu zwingen, sich in dieser müden Variante des Esperanto auszudrücken […] als würden sie beten, die heilige Fürbitte "Mexico City is known to Mexicans simply as México – pronounced 'MEH-kee-ko'. If they want to distinguish from Mexico the country, they call it either 'la ciudad de México' or el DF – 'el de EFFe'", weil sie wissen müssen, wo sie sind, während sie sich leise fragen, was mache ich hier, warum bin ich gekommen, wann gehe ich wieder, ist hier jemand.

Hier treffen sich die verschiedenen Lebenslinien der Hauptfiguren – der erste Erzähler entreißt dem Begleiter des toten Erzählers aus dem zweiten Teil die Waffe, kurz darauf setzt das verheerende Erdbeben ein und Martín Mantra (also known as) Capitán Godzilla (a.k.a.) Mantrax übernimmt mit seinen revolutionären Anhängern die Herrschaft. Der Flughafen ist aber als Nicht-Ort auch ein topos, der den unnahbaren Raum Mexiko Stadt als illusorisch, als Ergebnis einer massenhaften Projektion und eines internationalen 'Mantras' entlarvt: Die über den ganzen Roman ständig wiederholte Phrase "Mexico City is known..." ist die serielle Beschwörung einer Identität, die nicht zu fassen ist. Darin steckt in nuce

19 Nicht umsonst wird der Flughafen immer mehr zur Metapher des globalen Raums innerhalb der Topologie des global village, wie nicht zuletzt Steven Spielbergs The Terminal von 2004 zeigt. 79

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auch die These der aller Individualität entleerten, internationalen Großstadt der immer gleichen medialen Geflechte. Nicht zuletzt zeigt sich hier die Problematik des 'fremden' Schreibens, des Schreibens als Fremder. Der ganze Roman kreist letztlich um den gigantischen, zum Scheitern verurteilten Versuch, diese Stadt abbilden zu können, erreicht aber gerade in der Inszenierung dieses Scheiterns ein adäquates Bild der Stadt einer globalisierten Wirklichkeit. Die Stadt der Zukunft in Mantra ist die Stadt einer permanenten Erschütterung. Die für Mexiko exemplarische und traumatische Erfahrung des Erdbebens wird bei Fresán zur Grundlage einer neuen Kultur. Diese apokalyptische Zukunftsversion eines 'locus horribilis' widerspricht der 'schönen neuen Welt' der Science-Fiction. Sie bedeutet im Gegenteil eine Rückkehr zur Lebensweise der Vorfahren. Die Wiederbelebung des Opferkultes fungiert dabei am Übergang von Gegenwart und Zukunft als zeitlicher Katalysator. Martín Mantra opfert seine komplette Sippschaft, um den Kult der Zukunft, die 'Realität' des 'Film Total' zu ermöglichen, denn sein Credo lautet: "Yo creo que los aztecas sacrificaban a seres humanos para, literalmente, pasar el tiempo, que el tiempo les pasase."20 (M, S. 117) Dieses Totschlagen der Zeit äußert sich bei Fresán in Gedächtnismodellen, die zeigen, wie Zeit stillgestellt wird, indem man sie auf einen Bildschirm bannt und in eine ewige Wiederholungsschleife, ein mediales Mantra, verwandelt. Am Ende steht eine Welt, in der die Projektion der Erinnerung nicht nur in der Vorstellung stattfindet, sondern in Form kultischer Verehrung und unendlicher Wiederholung tatsächlich lebensbestimmend geworden ist. Die Medialisierung der Wirklichkeit vollzieht sich so schrittweise: vom manipulativen und in seiner Nostalgie tödlichen Tumor, über überzeitliche, simultane Erinnerungsbilder, zum totalen Film der Zukunft, in der die Medienstadt eine radikale Realität angenommen hat. Der Lauf der Geschichte: "Todo se... mantrifica."21 (M, S. 105)

20 Dt.: "Ich glaube, dass die Azteken Menschen opferten, um, buchstäblich, die Zeit totzuschlagen, damit die Zeit an ihnen vorüber gehe." 21 Dt.: "Alles... mantrafiziert sich." 80

"C O M O

S I N A D A ". D E R A C T E G R A T U I T

FERNANDO VALLEJOS LA VIRGEN DE LOS SICARIOS IN

JOHANNA SCHUMM "J’ai un ami, Monsieur, vous ne croiriez pas, qui est Miglionnaire. Il est intelligent aussi. Il s’est dit: une action gratuite? comment faire? [...] Un acte qui n’est motivé par rien. Comprenez-vous? intérêt, passion, rien. L’acte désinteressé; né de soi; l’acte aussi sans but; donc sans maître; l’acte libre; l’Acte autochtone?" "Ich habe einen Freund, Monsieur, Sie werden es nicht glauben, aber der ist Miglionär. Er ist auch intelligent. Er hat sich gesagt: eine zweckfreie Handlung? wie macht man das? [...] Eine Tat, die durch nichts motiviert ist. Verstehen Sie? Kein Interesse, keine Leidenschaft, nichts. Die uneigennützige Tat; aus sich selbst geboren; die Tat ohne Ziel; also ohne Herrn; die freie Tat; die Autochthone Tat."1

Um diese "zweckfreie Handlung" zu vollziehen, bittet der "Miglionär" in André Gides Sotie Le Prométhée mal enchaîné (Der schlecht gefesselte Prometheus, 1899) einen zufällig ausgewählten Mann, die Adresse eines anderen zu notieren. Als dieser dies gefällig tut, verpasst der "Miglionär" ihm eine Ohrfeige und schickt an die Adresse des anderen 500 Francs. Damit prägt Gide zur Jahrhundertwende, die der in diesem Band betrachteten vorausgeht, die Bezeichnung einer 'motivlosen Tat' als action oder acte gratuit. Fünfzehn Jahre später wirft in seinem Roman Les caves du Vatican (Die Verliese des Vatikans) der Held Lafcadio einen ihm bisher unbekannten Mann aus dem Zug, einfach so. Damit kommt das Opfer des acte gratuit nicht mit einem blauen Auge oder glücklich mit 500 Francs davon, sondern bezahlt mit seinem Leben. Die literarische Dar1

André Gide, Le Prométhée mal enchaîné, in: ders., Romans, récits et soties. Œuvres lyriques, hg. v. Yvonne Davet/Jean-Jacques Thierry, Paris 1985, S. 305f. Sowie ders., Der schlechtgefesselte Prometheus, übers. v. Gerda Scheffel, in: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. VII, hg. v. Raimund Thies/Peter Schnyder, Stuttgart 1991, S. 319f. 81

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stellung solcher 'motivlosen Morde' – ein begriffliches Paradoxon – als folgenschwere actes gratuits sind meist Teil einer je unterschiedlichen Auseinandersetzung um Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums, die insbesondere das 20. Jahrhundert prägte, wie Martin Raether literaturhistorisch und philosophiegeschichtlich aufzeigt.2 In dem Versuch, frei und eigengesetzlich zu handeln, erhebt sich ein Individuum in einer motivlosen Tat, einem acte gratuit, folgenindifferent über die Normen einer Gesellschaft und usurpiert göttliche Attribute. In der dezidierten Eigengesetzlichkeit und Unergründlichkeit der Tat setzt sich das Individuum selbst und gerät damit unweigerlich in Konflikt mit einer bestehenden soziopolitischen, juridischen und diskursiven Ordnung. Wegen seiner Motivlosigkeit und Eigengesetzlichkeit bedingt ein acte gratuit als literarisches Paradigma zudem stets Fragen nach der Gestaltung der narrativen 'Grammatik', also erzählerischer Motivierung und Abfolge. Einem acte gratuit liegen also Momente der Motivlosigkeit, Selbstsetzung und Revolte zugrunde, anhand derer der Befund von Individuum und Gesellschaft, Narration und literarischer Konvention verhandelt wird. In dem 1994 erschienen Roman La Virgen de los Sicarios (Die Madonna der Mörder)3 des Kolumbianers Fernando Vallejo streifen Halbstarke durch das in der kolumbianischen Provinz Antioquia liegende Medellín und erschießen wahllos Menschen, "como si nada".4

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Raether zeigt u.a. anhand von dem vor der begrifflichen Prägung stehenden acte gratuit Raskolnikows in Dostojewskijs Prestuplenie i nakazanie (Verbrechen und Strafe) und der Subjektphilosophie Hegels und Nietzsches sowie der im Kontext des Existentialismus stehenden actes gratuits von Sartres Roquentin in La nausée (Der Ekel) sowie Camus’ Meursault in L'étranger (Der Fremde) und bei Beckett, dass den in den Romanen geschehenden actes gratuits ein gleiches Grundmuster zugrunde liegt, das im Kontext der philosophischen Bestimmung des Individuums je anders ausformuliert wird. Martin Raether, Der Acte gratuit. Revolte und Literatur. Hegel-Dostojewskij-Nietzsche-Gide-Sartre-Camus-Beckett, Heidelberg 1980. So lautet die 2001 im Zsolnay Verlag, Wien, erschienene deutsche Übersetzung von Klaus Laabs. "Virgen" bedeutet wörtlich "Jungfrau". Meine Übersetzungen orientieren sich an der von Laabs, verändern sie allerdings zugunsten größerer Wörtlichkeit. Ich zitiere fortan La Virgen de los Sicarios (Madrid 2002) mit der Sigle Virgen. Wörtlich: "wie wenn nichts". Mit "como si nada", das soviel wie "als wäre nichts gewesen" bedeutet, beschreibt der Erzähler häufig das Verhalten der sicarios nach den begangenen Taten und unterstreicht damit die Motivlosigkeit und Folgenindifferenz der Tat. 82

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Ursprünglich arbeiteten sie als sicarios,5 Auftragsmörder, vornehmlich für das Medellíner Drogenkartell. Als dessen Kopf verhaftet wird – Vallejo spielt hier auf Pablo Escobar an – verlieren sie zwar ihre Aufträge, hören aber nicht auf, andere und sich gegenseitig zu töten. So begleitet in La Virgen de los Sicarios der Erzähler, Fernando, zunächst seinen ersten Geliebten Alexis, und als dieser getötet wird, ersetzt er ihn – wenn auch zunächst unwissend – durch dessen Mörder Wílmar. Während die sicarios einen nach dem anderen erschießen, gibt sich der Erzähler, der sich als letzter in seine Heimat Medellín zurückkehrende Grammatiker Kolumbiens beschreibt, narrativ ungeregelten Schimpftiraden angesichts der ihm begegnenden Wirklichkeit hin, in denen er die Taten seiner Begleiter wie sich selbst stilisiert. Die motivische Analogie bietet eine Betrachtung von Vallejos Roman im Spiegel des acte gratuit an. Dabei soll anhand der spezifischen Ausformung der Momente der Motivlosigkeit, Selbstsetzung und Revolte nachgespürt werden, inwiefern die Taten der sicarios eine Fortschreibung der abendländischen Tradition des acte gratuit ins Kolumbien des ausgehenden 20. Jahrhunderts sind. Diese Lesart verweist auf die Narration des Erzählers, dessen polemische Subjektivität das einzig Verlässliche ist, während alle Erklärungen oder Sinnstiftungen angesichts der actes gratuits und der sie umgebenden Gesellschaft in diesem Roman unzulänglich erscheinen. Der 1942 in Medellín geborene, allerdings schon mehr als die Hälfte seines Lebens in Mexiko lebende Vallejo ist berühmt-berüchtigt ob seiner scharfen Kritik an Staat, Kirche und Gesellschaft und seiner polemischen Äußerungen insbesondere gegenüber dem Papst und Frauen – nicht nur in seinen Romanen. Sein Auftreten sorgt daher meist für publizistische Aufruhr, so auch bei der Verleihung des wohl bedeutendsten lateinamerikanischen Literaturpreises Rómulo Gallegos, den er 2003 für

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Die Bezeichnung sicarios kommt aus dem Lateinischen: sicarius, -ii: Meuchelmörder; sica,-ae: Dolch. Die sicarios werden im kolumbianischen Spanisch auch "pistolocos" (ein Kompositum aus pistola: Pistole und loco: verrückt) genannt. Mit dem Film Rodrigo D. (1989) von Víctor Manuel Gaviria begann eine Reihe von Büchern und Filmen, aber auch soziologischen Studien über die sicarios als Phänomen und Problem der kolumbianischen Gesellschaft. Besonders einflussreich waren dokumentarisch ausgerichtete Publikationen, in denen den sicarios eine Stimme verliehen werden sollte, etwa: No nacimos pa’semilla. Cultura de las bandas de Medellín von Alonso Salazar. Zu nennen ist auch der Roman Rosario Tijeras (1999) von Jorge Franco Ramos, in dem eine sicaria die Hauptfigur ist und der 2005 in einer Verfilmung durch Emilio Maillé in die Kinos kam. 83

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El desbarrancadero (Der Abgrund) erhielt.6 In seiner Rede verbindet er eine wortgewaltige Polemik gegen die christlichen, jüdischen und muslimischen Religionen mit seinem Eintreten für Tierschutz, weswegen er dann auch prompt das Preisgeld, 100.000 $, für Straßenhunde in Medellín spendete.7 Nach einer fünfteiligen autobiographischen Reihe wurde Vallejo mit La Virgen de los Sicarios international bekannt.8 Wie in La Virgen de los Sicarios ist auch in seinen meisten anderen Romanen der Ich-Erzähler ein stimmgewaltiges und schimpffreudiges Alter Ego des Autors, das in El desbarrancadero abermals nach Kolumbien zurückkehrt, diesmal um seinen an Aids sterbenden Bruder zu begleiten. ¡Tas! Un solo tiro, sin comentarios. Alexis guardó el revólver, dio media vuelta y siguió como si nada. (Virgen, S. 27) Zack! Ein einziger Schuß, ohne Kommentare. Alexis steckte den Revolver weg, drehte sich um und ging weiter, als wäre nichts gewesen.

Den ersten 'Mord', den Alexis in Gegenwart des Erzählers in La Virgen de los Sicarios begeht, verübt er an einem Punk, der die beiden durch seine laute Musik stört; auch die anderen Getöteten fallen dem ungleichen Paar unangenehm auf, etwa durch ihre Blicke oder auch durch Fettleibigkeit. Y que no me vengan los alcahuetas que nunca faltan con que mataron al inocente por poner música fuerte. Aquí nadie es inocente, cerdos. Lo matamos por chichipato, por bazofia, por basura, por existir. Porque contaminaba el aire y el agua del río. Ah, "chichipato" quiere decir en las comunas delincuente de poca monta, raticas, eso. (Virgen, S. 28) Und die Jammerweiber, die nie fehlen, sollen mir nicht damit kommen, hier wäre ein Unschuldiger umgebracht worden dafür, daß er laut Musik gehört hat. Hier ist niemand unschuldig, Schweine. Wir haben ihn umgebracht, weil "chichipato", weil Abfall, weil Müll, weil er existierte. Weil er die Luft verschmutzte und das Flusswasser. Ach ja, chichipato bedeutet in den Kommunen unbedeutender Verbrecher, kleine Ratten, eben.

6 7

8

Fernando Vallejo, El desbarracandero, Madrid 2003; dt.: Der Abgrund, übers. v. Svenja Becker, Frankfurt a. M. 2004. Vgl. Fernando Vallejo, "Discurso para recibir el Premio Rómulo Gallegos", Caracas 02.08.2003, in: http://www.celarg.org.ve/premiorg03/discurso.htm am 20.11.2006. La Virgen de los Sicarios wurde im Jahr 2000 basierend auf einem von Vallejo verfassten Drehbuch von Barbet Schroeder leider eher unglücklich verfilmt. 84

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Eine eigentliche Tötungsberechtigung liegt aber schon, wie hier anklingt, in ihrer Existenz selbst. Mag man immer wieder existenzialistische Anklänge bei Vallejo finden, betont er die Andersartigkeit jedes Lebensverständnisses im Kolumbien des ausgehenden 20. Jahrhunderts, das durch die Wertlosigkeit eines Lebens bestimmt ist, global bedingt aufgrund der Masse an Menschen – "Sartre el bienaventurado se murió cuando éramos tan sólo trés millones" – sowie spezifisch kolumbianisch, da es so preiswert ist, einen sicario anzuheuern.9 Dass die Getöteten den sicarios und dem Erzähler immer irgendwie unangenehm auffallen, zeigt, dass die Motivlosigkeit als zentrales Element eines acte gratuit auch bei Vallejo eine relationale, keine absolute, Motivlosigkeit meint. Die Taten sind motivlos, d.h. akausal und unerklärlich in ihrem dargestellten kontextuellen Umfeld. In ihrer Akausalität und damit Unerklärlichkeit liegt ihr rebellisches Potential, da sie anders als unmoralische Taten nicht in einem Normen- und nur schwer in einem Rechtssystem gefasst werden können. An der Akausalität verzweifelt eine Be- und Verurteilung wie ganz deutlich in Albert Camus’ L’étranger (Der Fremde), wenn das Gericht (vergeblich) nach einer Motivation der Tat sucht. Die Taten der sicarios dagegen werden von der sie umgebenden gesellschaftlichen Ordnung nicht verfolgt und können schwerlich als Rebellion gegen diese aufgefasst werden, arbeiteten die sicarios doch auch zunächst in ihrem Auftrag. In Kolumbien, so der Erzähler, sind die Machthaber kriminell und es regiert die Straflosigkeit: La ley de Colombia es la impunidad y nuestro primer delincuente impune es el presidente, que a estas horas debe de andar parrandiándose el país y el puesto. (Virgen, S. 20) Das Gesetz Kolumbiens ist die Straflosigkeit, und unser erster straffreier Verbrecher ist der Präsident, der im Moment gerade wohl sein Land und seinen Posten verbummelt.

Dieser durch Moralindifferenz und Straflosigkeit gezeichneteten Gesellschaft stehen die sicarios gegenüber, in deren 'Welt' es klare Vorstellungen davon gibt, was ein Vergehen ist und Taten bekannte Konsequenzen haben. Ihre Tötungen empfinden sie nicht als Straftaten oder Schuld, 9

"Sartre, der glückliche, starb als wir nur drei Millionen waren." Fernando Vallejo/Juan Villoro, "Literatura e Infierno. Entrevista a Fernando Vallejo", in: Babelia Digital 06.01.2002, in: http://www.trazegnies.arrakis.es/fvallejo.html am 18.11.2006. Vgl. auch Fernando Vallejo, "El monstruo bicéfalo. Discurso de inauguración del Primer Congreso de Escritores Colombianos 30.09.1998", in: http://www.revistanumero.com/20bicefa.htm am 18.11.2006 sowie ders., "Discurso para recibir". 85

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wie sich in der Beichte eines sicarios zeigt, der zwar einen Geschlechtsverkehr, aber nicht seine Taten als sicario beichtet (Virgen, S. 32). Daher kann auch Alexis Dutzende Menschen erschießen, "como si nada", aber aus emotionalen und moralischen Gründen nicht das Leid eines sterbenden Hundes verkürzen: "Yo no soy capaz de matarlo"10 (Virgen, S. 77). Die notwenige und sichere Folge ihres Daseins als sicarios ist ihr ungefürchteter baldiger Tod durch den Schuss eines von ihnen, die auch der Erzähler akzeptiert als Wílmar ihm sagt, er habe Alexis getötet, weil dieser seinen Bruder getötet habe. Die Austauschbarkeit der sicarios – Wílmar tötet Alexis und wird selbst zum Geliebten Fernandos – gemeinsam mit der scheinbar unbegrenzten Wiederholbarkeit der Erschießungen ist die zentrale historisch und kulturell aktualisierende Fortschreibung des acte gratuit.11 Die Täter sind nicht der eine 'große Mensch', der sich von der Masse abhebt, sondern Minderjährige, die in ihren Taten eine wenn auch zeitlich begrenzte (gesellschaftliche) Identität als sicarios erhalten. Damit sind ihre actes gratuits durchaus Selbstsetzungen, wenn sie auch von den sicarios unreflektiert bleiben. Die Wiederholung der Taten unterläuft auch die narrative Organisation um die eine exzeptionelle Tat: entwickelt sich Fjodor Dostojewskijs Prestuplenie i nakazanie (Verbrechen und Strafe) ganz in der Folge der am Anfang erzählten Tat und steht in Camus’ L’Étranger der 'Mord' im narrativen Zentrum des Buches, reihen sich in La Virgen de los Sicarios dagegen die Taten ohne narrativen Spannungsbogen. Sie entsprechen in ihrer Wiederholung und Gewöhnlichkeit dem Medienund Warenkonsum ihrer jugendlichen Täter. Sin televisor Alexis se quedó más vacío que balón de fútbol sin patas que le den, lleno de aire. Y se dedicó a lo que le dictaba su instinto: a ver los últimos ojos, la última mirada del que ya nunca más. (Virgen, S. 36) Ohne Fernseher war Alexis noch leerer als ein Fußball, den keiner tritt, voll Luft. Und widmete sich dem, was ihm sein Instinkt diktierte: die letzten Augen zu sehen, den letzten Blick von dem, der nie wieder.

Und als Fernando Wílmar bittet, auf ein Papier zu notieren, was er sich vom Leben erhoffe, schreibt er: Reebock-Turnschuhe, Jeans von "Paco 10 "Ich bin nicht imstande ihn zu töten." 11 Auch in der Entwicklung, die Raether aufzeigt, verliert sich die Einmaligkeit des acte gratuit wesentlich im Kontext der existenzialistisch gedachten gratuité der Existenz, auf der laut Raether auch Becketts Ausformulierung des acte gratuit beruht. Entscheidend anders ist Vallejos Verknüpfung zum Konsum. 86

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Ravanne", Hemden von "Ocean Pacific", Unterwäsche von "Kelvin Klein", ein Honda-Moped, einen Mazda-Jeep, eine Stereoanlage sowie einen Kühlschrank der Marke "Whirpool" für seine Mutter (Virgen, S. 91). A esta gonorreíta tierna también le puso en el susodicho sitio su cruz de ceniza y lo curó, para siempre, de mal de la existencia que aquí a tantos aqueja. Sin alias, sin apellido, con su solo nombre, Alexis era el Ángel Exterminador que había descendido sobre Medellín a acabar con su raza perversa. (Virgen, S. 55) Diesem zarten Tripperlein brachte er ebenfalls an besagter Stelle sein Aschekreuz an und erlöste ihn, für immer, vom Leid der Existenz, das hier so viele quält. Ohne Decknahmen, ohne Nachnamen, nur mit seinem Vornamen war Alexis der Würgengel, der nach Medellín herabgekommen war, um seinem verderbten Volk ein Ende zu machen. Mi niño era el enviado de Satanás que había venido a poner orden en este mundo con el que Dios no puede. A Dios, como al doctor Frankenstein su monstruo, el hombre se le fue de las manos. (Virgen, S. 99) Mein Junge war der Abgesandte Satans, gekommen, in dieser Welt Ordnung zu schaffen, was Gott nicht kann. Gott ist, wie Frankenstein sein Monster, der Mensch aus den Händen geraten.

Erst in den Worten des Erzählers werden die Taten der sicarios göttliche bzw. satanische Gnadenakte, die Tötungsszene wird zur Heilsbringung, der sicario zum "Ángel Exterminador", der die Wiederherstellung einer verlorenen Ordnung verspricht: Sí niño, esta vez sí me parece bien lo que hiciste, aunque de malgenio en malgenio, de grosero en grosero vamos acabando con Medellín. Hay que desocupar a Antioquia de antioqueños malos y repoblarla de antioqueños buenos, así sea éste un contrasentido ontológico. (Virgen, S. 42) Ja, Kind, diesmal finde ich gut, was du getan hast; wenn wir auch von Stänkerer zu Stänkerer, von Grobian zu Grobian mit Medellín Schluss machen werden. Man muß Antioquia von schlechten Antioquiern befreien und es mit guten Antioquiern neu besiedeln, auch wenn das einen ontologischen Widersinn darstellt.

Der Erzähler semiotisiert die Taten hin auf ein gesellschaftliches Heilsprojekt. Auch bezüglich der Sprache beklagt er als Grammatiker den 87

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Verlust einer Vergangenheit und setzt sich selbst analog zu den Gnadenakten als sprachlicher grammatischer Heilsbringer.12 Durch Namedropping stilisiert er sich als Intellektueller, der Schönberg hört und Dostojewskij kennt, und verknüpft eine kommentierende Übersetzung der kolumbianischen Umgangssprache der sicarios mit seiner Nostalgie nach einer verlorenen korrekten Sprachverwendung:13 "El pelao debió de entregarle las llaves a la pinta esa", comentó Alexis [...].Y yo me quedé enredado en su frase soñando, divagando, pensando en don Rufino José Cuervo y lo mucho de agua que desde entonces había arrastrado el río. Con "el pelao" mi niño significaba el muchacho; con "la pinta esa" el atracador; y con "debió de" significaba "debió" a secas: tenía que entregarle las llaves. Más de cien años hace que mi viejo amigo don Rufino José Cuervo, el gramático, a quien frecuenté en mi juventud, hizo ver que una cosa es "debe" solo y otra "debe de". (Virgen, S. 20) "Das Puschel mußte diesem Typen die Schlüssel geben", kommentierte Alexis [...]. Und ich verfing mich in seinem Satz, träumte, rätselte, dachte an Don Rufino José Cuervo und das viele Wasser, das seitdem den Fluß hinabgeflossen ist. Mit dem "Puschel" bezeichnete das Kind den Jungen, mit "diesem Typen" den Straßenräuber; und mit "mußte" meinte er "hätte müssen": Er hätte ihm die Schlüssel geben müssen. Mehr als hundert Jahre ist es her, daß mein alter Freund Don Rufino José Cuervo, der Grammatiker, den ich in meiner Jugend häufig besuchte, darlegte, dass eine Sache "muß" und eine andere "müßte" ist.

Die Übersetzung Fernandos ist nicht nur eine rein sprachliche, die den 'Jargon' der sicarios in ein (transnational und transkulturell) verständliches Spanisch überträgt und damit übrigens auch dem Autor Vallejo ein sonst zweifelsohne nötiges Glossar erspart, sondern auch eine kulturelle Übersetzung in dem Sinn, dass sie die Taten der sicarios, eingeschlossen

12 An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass Vallejo selbst 1983 eine Art literarische Grammatik publizierte: Logoi. Una gramática del lenguaje literario. An Beispielen aus fünf Sprachen versucht er eine Matrix an literarischen Formen und Gebräuchen aufzuzeigen. 13 'Unkorrekt' sprechen nicht nur die sicarios, sondern auch die Machthaber, bei denen es sich jedoch um eine euphemistisch heuchlerische und damit falsche Sprachverwendung handelt, die ihre eigene Kriminalität verschleiert. So schlägt Vallejo in einer Rede vor, dem "Honorable Congreso de la República de Colombia" das "honorable" ("ehrenwert") abzuerkennen, weil er seiner Semantik nicht entspreche. Offensichtlich ist hier der Konnex von Korrumpierung der Gesellschaft und Sprache. Vgl. Vallejo, "El monstruo bicéfalo." 88

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der sie umgebenden beobachteten soziopolitischen Situation, in erklärende Diskurse überführt. Der Erzähler zitiert in seinem Versuch, seiner persönlichen Geschichte mit den sicarios Medellíns, aber auch dem Zustand Kolumbiens, gerecht zu werden, diverse gesellschaftliche und philosophische Diskurse an und zeigt dabei deren Unzulänglichkeit als Erklärungs- oder Sinnstiftungsmuster. Humanistisches Gedankengut, Menschenrechte und Demokratie beschimpft er: "¡Qué 'derechos humanos' ni qué carajos!" (Virgen, S. 100).14 Gerne verfällt er in einen biologischen Determinismus und Darwinismus, der populistisch die Ausrottung von Armen und Kindern rechtfertigt: Pues una cosa sí os digo, desventurados: que el gen de la pobreza es peor, más penetrante: nueve mil novecientos noventa y nueve de diez mil se lo transmiten, indefectiblemente, a su prole. ¿Estáis de acuerdo en heredarles semejante mal a vuestros propios hijos? Por razones genéticas el pobre no tiene derecho a reproducirse. ¡Ricos del mundo, uníos! Más. O la avalancha de la pobrería os va a tapar. (Virgen, S. 103f.)15 Und ich sage euch eins, ihr Unglückseligen: dass das Armuts-Gen schlimmer ist, aggressiver: in neuntausendneunhundertneunundneunzig von zehntausend Fällen wird es unweigerlich auf die Nachkommen übertragen. Seid ihr damit einverstanden, ein solches Übel auf eure eigenen Kinder zu übertragen? Aus genetischen Gründen hat der Arme kein Recht, sich fortzupflanzen. Reiche aller Länder, vereinigt euch! Mehr. Oder die Armuts-Lawine wird euch überschütten.

Ähnlich verlaufen seine geschichtsdeterministischen Tiraden, in denen er die "campesinos"16 für den Verfall der Gesellschaft und des Staates verantwortlich macht (Virgen, S. 29f. u. S. 84f.). Das einzig Gute, was man nun noch tun könne, sei, sich nicht mehr fortzupflanzen (z.B. S. 82f.), was Vallejo übrigens auch gerne außerhalb seiner Bücher zum Besten gibt und was in El desbarrancadero mit einer muttergerichteten Misogynie Hand in Hand geht.17 14 "Was für 'Menschenrechte' denn, zum Teufel?" 15 Vgl. auch "¿Yo explotar a los pobres? ¡Con dinamita! Mi fórmula para acabar con la lucha de clases es fumigar a esta roña." (Virgen, S. 96) "Ich, die Armen ausbeuten? Aber mit Dynamit! Meine Formel, um den Klassenkampf zu beenden, ist dieses Gesocks zu vergasen." 16 "Landbewohner". 17 Vgl. Fernando Vallejo, "El hombre, ese animal alzado", in: Quimera, Bd. 179 (1999), S. 9. 89

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Trotz aller Schmähungen gegen den Papst ist die katholische Religion zentraler Bezugspunkt des Buches. Die sicarios pflegen eine nahezu kultische Religiosität: Sie tragen jeder drei Rosenkränze am Körper, damit sie Aufträge bekommen, treffen und bezahlt werden (Virgen, S. 16); sie segnen ihre Kugeln und beten regelmäßig zu ihrer Heiligen, María Auxiliadora "que no les vaya a fallar, que les afine la puntería cuando disparen y que les salga bien el negocio" (ebd.).18 Kirchen sind ihre Flucht- und Treffpunkte, aber auch die Orte, an denen sie gemeinsam mit Strichern ihre Dienste verkaufen. In nihilistischer, morbider Umformulierung ist der (wenn man es dennoch so nennen will) katholische Glaube auch die zentrale Metanarrative, auf die der Erzähler rekurriert. Jedoch wird er immer wieder seines Kerns beraubt durch die Verkündung der Nicht-Existenz Gottes, auf die an dieser Stelle sogleich die Beteuerung seiner Existenz folgt: "¡Claro que [Dios] no existe! Pongo mis cinco sentidos alerta más la antena del televisor a ver si lo capto, pero no, nada, todo barroso." Eine halbe Seite weiter dann: "Claro que Dios existe, por todas partes encuentro signos de su maldad."19 (Virgen, S. 74). In ihrem hermeneutischen und erklärenden Potenzial bieten die anzitierten Diskurse stets für einen Moment Bewältigungsmöglichkeiten der überwältigenden Wirklichkeit. Allerdings scheitert ihre auf Kausalität beruhende Argumentation nicht nur an der beobachteten Wirklichkeit, sondern in ihrer Gegenüberstellung, in der sie sich in ihrem je eigenen Wahrheitsanspruch unterlaufen. Die auf Kausalität und Dependenz gründende Grammatik der Erklärungsmuster scheitert an der kolumbianischen Realität, in der nicht nur der Surrealismus, so der Erzähler, real geworden ist, sondern gerade die actes gratuits paradigmatisch für den Ausfall motivierter ('tat'sächlicher, diskursiver und narrativer) Abfolgen stehen. Die Unzulänglichkeit der "grands récits" bestimmte JeanFrançois Lyotard bekanntlich als "condition postmoderne",20 und damit kann man das Scheitern aller umfassenden Erklärungen in La Virgen de los Sicarios als postmodernen Befund im Sinne Lyotards verstehen. Die sprachliche Heilbringung des Erzählers richtet sich dann nicht nur auf eine verkommene Sprachverwendung, sondern auch auf die im Verfall begriffenen 'großen Erzählungen' als Grammatik einer Gesellschaft. Womit er die scheiternden Erklärungs- oder Sinnstiftungsmuster ersetzt, so 18 "[D]aß sie nicht danebenschießen; dass sie ihnen das Zielen schärfe, wenn sie schießen, und dass das Geschäft gut ausgeht." 19 "Natürlich existiert er [Gott] nicht! Ich stelle meine fünf Sinne plus die Fernsehantenne auf Empfang, um zu sehen, ob ich ihn reinkriege, aber nein, nichts, nur Geflimmer." "Natürlich existiert Gott, überall stoße ich auf Zeichen seiner Schlechtigkeit." 20 François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur savoir, Paris 1979. 90

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werde ich im letzten Absatz zeigen, ist seine partikulare polemische Subjektivität. Im Sinne ihrer fehlenden oder scheiternden Verankerung in der präsentierten Realität sind die vom Erzähler gebotenen Erklärungen und damit verbundenen Polemiken zudem willkürlich. Er wirft sie bar jeder Verknüpfung mit dem (zu erklärenden oder kommentierenden) Geschehen dem Leser entgegen, gibt sich indifferent gegenüber ihrem Anspruch auf Erklärbarkeit, gegenüber deren Widersprüchlichkeit und deren Folgen seinen verbalen Ausschweifungen hin. Ähnlich verhält er sich gegenüber seinem gesamten Erzählprojekt, das er als ein jenseits seiner Macht liegendes "libro absurdo" (Virgen, S. 17) bezeichnet.21 Er spricht willkürlich Zuhörer bzw. Leser an, erklärt ihnen, beschimpft sie und entlässt sie am Ende abrupt und wenig wohlwollend ins Ungewisse mit den Worten: Bueno parcero, aquí nos separamos, hasta aquí me acompaña usted. Muchas gracias por su compañía y tome usted, por su lado, su camino que yo me sigo en cualquiera de estos buses para donde vaya, para donde sea. Y que te vaya bien, / que te pise un carro / o que te estripe un tren. (Virgen, S. 121) Gut, parcero, hier trennen wir uns, bis hier begleiten Sie mich. Vielen Dank für Ihre Gesellschaft und gehen Sie ihrerseits Ihren Weg, ich nehme irgendeinen dieser Busse, wohin er auch fährt, wohin es auch sei. Also, mach’s gut, überfahr dich ein Auto / oder zermatsch dich ein Zug.

Was jenseits der Ungreifbarkeit des Geschehens und seiner gebotenen Erklärungen in La Virgen de los Sicarios bleibt, sind die Rhetorik und Subjektivität des Sprechers, die Charakteristika auch von Vallejos anderen Romanen sind. Der bis auf das dahinsiechende Sterben seines Bruders und die in der Erinnerung angesiedelten Geschehnisse um den Tod sein Vaters handlungsfreie Roman El desbarrancadero bietet dieser polemischen Subjektivität und ihrer gewandten und spätestens dort offensichtlich auch humoristischen Rhetorik noch mehr Raum. Die Stärke seiner Prosa liegt nicht nur in ihrer Rhythmik – Vallejo selbst betont: "El alma de la prosa es el rítmo"22 – sondern auch in ihrem Tempo. Der Leser wird – ohne Aussicht auf zumindest ein Kapitel-Ende – in den Sog eines atemlosen Erzählens hineingezogen, das zudem häufig seine 21 "Absurdes Buch". 22 "Die Seele der Prosa ist der Rhythmus." Fernando Vallejo/María Sonia Cristoff, "El caballero de la prosa temeraria", in: Suplemento Cultura La Nación (Buenos Aires) (06.06.2004). 91

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Sprechweise ändert: der Erzähler schimpft, lobt, säuselt, erklärt, argumentiert, betet, flucht usw. Dieser permanente Registerwechsel und der andauernde Selbstwiderspruch bedingen eine Polyphonie, die jede semantisch eindeutige Zuschreibung an Vallejos Prosa verwehrt. Der acte gratuit als Verhandlung von Individuum und Freiheit, soziopolitischem und diskursivem Kontext in der Spur der Totsagung Gottes steht in La Virgen de los Sicarios nicht überraschend im Licht der besagten (postmodernen) Krise der 'großen Erzählungen', zu denen man gerne die des 'Subjekts' zählt.23 Vallejos Schreiben reflektiert das und verweist angesichts der Unmöglichkeit übergreifenden Wissens und Aussagens in die partikulare Subjektivität. "No hay ninguna verdad. La verdad es inasible. No hay ninguna verdad"24 ist die von Vallejo beschworene epistemologische Situation, die einen jeden in sich selbst verweist: La única realidad que puede haber en esta vida me parece que es que estamos aislados en nosotros mismos, metidos en las islas que somos cada uno. Por eso la novela en tercera persona está mintiendo en la entrada.25 Die einzige Realität, die es in diesem Leben geben kann, scheint mir zu sein, dass wir in uns selbst isoliert sind, auf die Inseln gesetzt, die wir jeder sind. Deswegen lügt der Roman in dritter Person von Anfang an.

Auch Schreiben ist nur aus dieser unhintergehbaren Subjektivität möglich, was für Vallejo die zwingende narrative Folge des Erzählens in der (grammatisch) ersten Person hat. Oftmals wiederholt er, dass Erzählen in einer anderen als der ersten nicht nur nahezu unmöglich, sondern geradezu infam sei:

23 Zur Diskussion um die postmoderne Stellung des Subjekts sowie ihre narrativen Folgen vgl. Monika Schmitz-Emans, "Das Subjekt als literarisches Projekt oder: Ich-Sager und Er-Sager", in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (1999/2000), S. 74-104, und Peter v. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2000. 24 "Es gibt keine Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht greifbar. Es gibt keine Wahrheit." Fernando Vallejo/Francisco Villena Garrido, "'La sinceridad puede ser demoledora': Conversaciones con Fernando Vallejo", in: Ciberletras 13 (2005), in: http://www.lehman.cuny.edu/ciberletras/v13/villenagarrido.htm am 20.11.2006. 25 Ebd. 92

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¿Cómo va a saber un pobre hijo vecino qué piensan los otros si ya no nos aclaramos con este lío que es la mente de uno? La novela burguesa francesa del XIX me parece especialemente horrenda.26 Wie will ein armer Nachbarsjunge wissen, was die anderen denken, wenn wir uns noch nicht einmal mit diesem Durcheinander, das der Kopf von einem ist, klar kommen? Der französische bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts erscheint mir besonders schrecklich.

Die Unhintergehbarkeit der eigenen Subjektivität bedingt das Schreiben im Alter Ego, das, wie wir gesehen haben, nicht umsonst ein Grammatiker ist. Die lebensgeschichtlichen und namentlichen Koinzidenzen rücken Vallejos Romane an eine Schwelle von Fakt und Fiktion, an der gerne Vallejo politische Unkorrektheit vorgeworfen wird. Bedingt ist die Subjektivität von Vallejos Schreiben durch eine epistemologische Situation, die das (verbliebene) Subjekt auf sich selbst verweist, oder wie er in El desbarrancadero postuliert: "No hay más punto de referencia en el espacio que yo".27 Die Unzulänglichkeit der gebotenen Erklärungen angesichts einer diffusen und keineswegs beschaulichen soziopolitischen Situation, die sich in La Virgen de los Sicarios in den actes gratuits der sicarios sowie der allgegenwärtigen "impunidad" versinnbildlicht, verweisen in die partikulare Deutung, die der Grammatiker berufsbedingt ausufernd sprachlich vollzieht. Er produziert seine eigene polemische Logomanie, die sich aufgrund der Abwesenheit aller anderen Grammatiken selbst berechtigt. Mis novelas no están escritas para sostenar tesis. [...] Lo que yo he ido sosteniendo en los libros míos ha sido, más a mi pesar, que el viejo piensa así, así y así, para burlarme de todo. Son libros terroristas porque, a fin de cuentas, como no tengo a nada que aferrarme tengo el derecho a burlarme de todo y no hay nada de lo que no me pueda burlar.28 Meine Romane sind nicht geschrieben, um eine These zu verfechten. [...] Was ich in meinen Büchern verfochten habe, war, mehr zu meinen Lasten, dass der Alte so denkt, so und so, um mich über alles lustig zu machen. Es sind terroristische Bücher, weil ich, letzten Endes, da ich nichts zum Festhalten habe, das Recht habe, mich über alles lustig zu

26 Ebd. 27 "Ich bin der einzige Referenzpunkt im Raum." Fernando Vallejo, El desbarrancadero, Madrid 2003, S. 139 sowie ders., Der Abgrund, übers. v. Svenja Becker, Frankfurt a. M. 2004, S. 137. 28 Vallejo/Villena Garrido, "'La sinceridad puede ser demoledora'" (s. Anm 24). 93

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machen, und es gibt nichts, über das ich mich nicht lustig machen kann.

Vallejo bezeichnet seine Bücher als "terroristisch" ohne ihr (Terror)Ziel zu nennen, sie scheinen vielmehr gerade wegen ihrer Grund- und Ziellosigkeit 'terroristisch' zu sein. Sie vertreten nicht etwa eine versteckte politische oder moralische Botschaft, wie auch Vallejo selbst – bis auf den Tierschutz – nichts für verfechtenswert hält. Das Einzige, was sie zuverlässig bieten ist die Logomanie des "Alten", wie Vallejo seinen Erzähler hier nennt, der viel zu sagen und zu schimpfen hat, aber zugleich nichts Bestimmtes zu sagen scheinen will. Vielmehr geht es gerade um dieses Sagen und Schimpfen, das in der Ziellosigkeit die Freiheit hat, sich in seiner ganzen mitreißenden, irritierenden und humorvollen Breite und Tiefe zu entfalten. Da es nichts zum "Festhalten" gibt und auch nichts zu verteidigen, ist dieses Sagen frei und selbstberechtigt, und man möchte fast mit Gide – und in Anlehnung an den acte gratuit – sagen gratuit.

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EINE FRAGE DER BALKANKRIEG

DER

IN DER

PERSPEKTIVE: DEUTSCHEN LITERATUR

BORIS PREVIŠIû

Wie vielen Begriffen ergeht es auch dem hier im Titel gewählten 'Balkan', wenn er seine Wirkungsmacht richtig entfaltet: Was ursprünglich ein Gebirge in Bulgarien bezeichnete und immer noch bezeichnet, steht heute für eine Problemregion, die sich vom eigentlichen Ort schon lange losgekoppelt und für ein Trauma Europas steht, deren Verarbeitung erst in der jüngsten Literatur einsetzt: Es geht um die Ende des 20. Jahrhunderts in Europa nicht mehr für möglich gehaltenen kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien. 'Balkan' wird metaphorisch gebraucht und hier mit Bedacht auch so verwendet, denn – so fragt Peter Handke – "welch erwachsener Leser verbindet heutzutage überhaupt noch etwas Wirkliches mit solch einem Wort?"1 Was mit dem Prädikat 'balkanesisch' (ebd., S. 17) versehen wird, entspricht einem kulturellen Konstrukt, das sich in einem Abgrenzungsprozess ausformte, welcher in einem ersten Schub während der beiden Balkankriege 1912 und 1913 entstand, aber erst Ende der 80er Jahren in der Diskussion um 'Mitteleuropa' fortgesetzt wurde und sich während dem Zerfall Jugoslawiens nochmals verstärkte. Die bulgarischstämmige Historikerin Maria Todorova geht in ihrer bewusst gewählt provozierend-ironischen Schreibweise hingegen wieder so weit, den jüngsten Kriegen der 90er Jahre die Zuschreibung 'Balkankonflikte' abzusprechen, da alle übrigen Länder der Balkanhalbinsel wie Albanien, Bulgarien, Griechenland und Rumänien im Unterschied zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht daran beteiligt waren.2 Der 'Balkan' unterliegt folglich hochgradig Stereotypisierungen und Stigmatisierungen. Dabei ist die Fremdwahrnehmung, der Blick von außen entlarvend; eine Hauptrolle spielt die deutsche Literatur – im Unter1 2

Vgl. Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), Frankfurt a. M. 1998, S. 16. Vgl. Maria Todorova (Hg.), Balkan Identities. Nation and Memory, New York 2004, S. 9. 95

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schied zu anderen Literaturen. Dies mag im Wesentlichen zwei Gründe haben: Erstens berührt der deutsche Literaturraum das betroffene Gebiet direkt. Dabei spielt der historisch begründete Rückgriff auf das südöstliche Grenzgebiet der Habsburger Doppelmonarchie, welche spätestens mit der Annektierung von Bosnien und Herzegowina 1878 weit auf der Balkanhalbinsel vordrang, eine große Rolle. Zweitens formt sich Deutschlands außenpolitisches Selbstbewusstsein vornehmlich in Bezug auf das Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens neu aus: Dies beginnt mit der vorzeitigen Anerkennung von Slowenien und Kroatien 1991 und kulminiert im eigenen deutschen Sektor im Protektorat Kosovo 1999. Peter Handkes literarische Beiträge, die spätestens mit Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien anfangs 1996 ins Polemische umschlagen und entsprechend rezipiert werden, stehen in direktem Bezug mit den angeführten Gründen: Einerseits fühlt sich der Autor – wie auch beispielsweise seine Hauptfigur im Roman Die Wiederholung (1986), der IchErzähler Filip Kobal – Jugoslawien durch seine slowenische Herkunft verbunden; andererseits wehrt er sich gegen den offiziellen, durch die Medien vermittelten Wahrheitsanspruch in der Schuldzuweisung für die jüngsten Kriege auf dem Balkan. Dass ein literarisches Schwergewicht am Anfang einer solchen literarischen Diskurslinie einerseits von Nähe (biographische Herkunft) und andererseits von Distanzierung (gegenüber der offiziellen Deutschlandpolitik) steht, wirkt sich auf sämtliche deutschsprachigen Autorinnen und Autoren aus, die sich in der Folge mit dem Balkan auseinandersetzen. Mit dem behandelten Gegenstand wird aber immer auch ein bestimmter Modus des Erzählens verbunden. Charakteristisch ist die Funktion des Ich-Erzählers, auch wenn es einige deutschsprachige Autoren gibt, bei denen der jüngste Krieg in Ex-Jugoslawien als verdrängtes Moment durchdringt; dazu zählt die "englische Wallfahrt" Die Ringe des Saturn (1995) von W.G. Sebald oder der Roman Ohnehin (2004) von Doron Rabinovici. Der Balkanraum – so lautet meine These – figuriert in der deutschen Literatur größtenteils als Projektionsraum, der sich durchwegs auch auf eine historisch begründete Folie bezieht, aber der vor allem bestimmten Erzählverfahren unterliegt, von denen sich erst die jüngste Generation mit Saša Stanišiü wieder löst. Um den Erzählmodus bei Peter Handke zu eruieren, soll zunächst nur ein einziger Ausschnitt aus Eine winterliche Reise genauer untersucht werden, in dem sich die wechselnde Position des Ich-Erzählers als Taktik innerhalb einer größer angelegten Strategie entpuppt: [...] [A]ls dann vom Frühjahr an die ersten Bilder [...] aus dem bosnischen Krieg gezeigt wurden, gab es einen Teil meiner selbst (immer wieder auch für "mein Ganzes" stehend), welcher die bewaffneten 96

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bosnischen Serben, ob Armee oder Einzeltöteriche [...] als "Feinde des Menschengeschlechts" empfand, in Abwandlung eines Worts von Hans Magnus Enzensberger zu dem irakischen Diktator Saddam Hussein [...].3

Ein "Teil" des hier Erzählenden schlägt sich durchwegs auf die Seite des besetzten Sarajevos und übernimmt damit die offizielle Version der Medien. Nachdem dieser "Teil" sich sogar noch hinreißen lassen hatte, ein Todesurteil über "den bosnischen Serbenhäuptling Radovan Karadžiü" auszusprechen, wird in der Parallelstelle immer noch innerhalb derselben Passage klar, warum er sich als "Teil meiner selbst" bezeichnet: Und trotzdem, fast zugleich mit solchen ohnmächtigen Gewaltimpulsionen eines fernen Sehbeteiligten, wollte ein anderer Teil in mir (der freilich nie für mein Ganzes stand) diesem Krieg und diesen Kriegsberichterstattungen nicht trauen. Wollte nicht? Nein, konnte nicht. (Reise, S. 38)

Die Antithese des Zweifels an "diesem Krieg und diese[r] Kriegsberichterstattung" begründet sich nicht in einer anderen Sichtweise oder Perspektive, sondern in einer nochmaligen Spaltung des Subjekts: "ein anderer Teil in mir", der wiederum – wie im ersten Zitat – in einer Klammerbemerkung präzisiert wird. Das erste Mal in der Verurteilung der "Feinde des Menschengeschlechts" lautet sie: "immer wieder auch für 'mein Ganzes' stehend". Das zweite Mal folgt die Parenthese: "der freilich nie für mein Ganzes stand". Daraus müsste man logisch folgern, dass der Erzählende meistens und "immer wieder" hinter der offiziellen Version von Schuldzuschreibung an die "bewaffneten bosnischen Serben" steht. Doch nimmt man die zwei zitierten Stellen nochmals genauer unter die Lupe, so macht sich eine Divergenz zwischen Erzählposition und Modus der Aussage bemerkbar: Im ersten Abschnitt fällt das Hans Magnus Enzensberger zugeschriebene und das in der Klammer nicht weiter zugeschriebene Zitat auf. Gerade letzteres ist Ergebnis einer Erzählstrategie, welche zunächst im Modus Distanzierungen markiert und später auch begründet. Beim ersten "Teil meiner selbst" handelt es sich um einen "fernen Sehbeteiligten", dem das Nahe entgeht. In der Begründung, warum er der "Kriegsberichterstattung" nicht trauen "konnte", kehrt sich aber die Position endgültig:

3

Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1996, S. 36/37. Fortan zitiert unter dem Kurztitel Reise. 97

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Allzu schnell nämlich waren für die sogenannte Weltöffentlichkeit auch in diesem Krieg die Rollen des Angreifers und des Angegriffenen, der reinen Opfer und der nackten Bösewichte, festgelegt und fixgeschrieben worden. Wie sollte, war gleich mein Gedanke gewesen, das nur wieder gut ausgehen, wieder so eine eigenmächtige Staatserhebung durch ein einzelnes Volk – wenn die serbokroatisch sprechenden, serbischstämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten – auf einem Gebiet, und das gleiche Recht!, hatten, und die sämtlichen drei Völkerschaften dazu kunterbunt, nicht bloß in der meinetwegen multikulturellen Hauptstadt, sondern von Dorf zu Dorf, und in den Dörfern selber von Haus zu Hütte, neben- und durcheinanderlebten? (Reise, S. 38/39)

Zwar entzieht sich der Erzählende damit der Rolle des einfachen Spießumkehrers, der sich aus grundlegenden Überlegungen gegen die offizielle Position der Medien stellt. Damit nämlich würde er genau in dieselbe Argumentationsstruktur fallen und nichts Neues ans Licht befördern. In einer weiteren Camouflierung der Position des Ich-Erzählers, in der Wiedererinnerung des darauf folgenden "Gedanken[s]", wird die Distanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit hervorgehoben. Taktisch geschickt wird so ein Gedanke eingeführt, der zunächst die Bosniaken, das heißt die Moslems Bosniens, gleich den Serben zuschlägt. Zusätzlich gebraucht er den historisch diffamierenden Begriff des "Muselmanen", wie er uns aus Kinderliedern bekannt ist: "Sei doch kein Muselman, der das nicht lassen kann." Zu fragen wäre natürlich an dieser Stelle, in welchem Verhältnis die pejorativen Bezeichnungen, die immer wieder auftauchen, zueinander stehen. Ist nicht der "Einzeltöterich" eine Verharmlosung des Mörders, während "serbokroatisch sprechende, serbischstämmige Muselmanen" in dieser spezifischen Aufmischung den Bosniaken ihre Identität – ein wahrhaft explosiver Begriff in Ex-Jugoslawien – abspricht? Die Frage bei Handke gebärdet sich als ein riesiges Aufbäumen und in der Folge als rhetorischer Kunstgriff, der in einer Exotisierung Bosniens an jener Stelle kulminiert, wo beschrieben wird, wie die drei "Völkerschaften dazu kunterbunt [...] von Haus zu Hütte, nebenund durcheinanderlebten". Im undifferenzierten Sammelsurium, in der Reduktion des Zivilisationsgrades und in der Betonung des Ungeordneten wird der Erzählende dem Balkan als Projektionsfläche westlicher Verdrängungen, Befürchtungen und heimlichen Wünschen vollauf gerecht. Durch die Diffamierung ("Muselmanen") und die Exotisierung erreicht der Text schließlich das, worauf die Gesamtstrategie hinausläuft – eine camouflierte Umkehr des Spießes:

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Und wie hätte wiederum ich mich verhalten, als ein Serbe dort in Bosnien, bei der, gelind gesagt, mir gar nicht entsprechenden Staates auf meinem, unserm, Gebiet? Wer nun war der Angreifer? (Reise, S. 39)

Was als Absicherung des Echten und Wahrhaften oder Nahen und Gerechten gilt, das Subjekt als Ich, wird hier erstmals in der Identifikation mit dem von den Medien als Täter gebrandmarkten Serben genannt. Später auf der Reise durch Serbien wird dieser Ich-Erzähler, der nicht mehr einer Spaltung unterliegt, auf "Realitätsembleme" (S. 55) hingewiesen und erfährt – ganz nach ethnologischem Muster bei der Entdeckung neuer Stämme und Gebiete – die Initiation als Ankommender "mit dem Aussprechen des zuvor auf der Straße eingelernten und [...] von der Verkäuferin auf der Stelle verstandenen Warenworts" (S. 56). Die Bemühung um das erzählende Subjekt im Text ist letztlich nur eine Taktik in einer größer angelegten Strategie, welche eine zu eindeutige Position einnimmt. Dennoch hat Peter Handke damit einem Modus der Introspektion und der Fixierung auf einen Ich-Erzähler den Weg gebahnt, auf den sich die deutsche Literatur, die sich mit dem Balkan beschäftigt, weiterhin bezieht. Denn in der Folge entstehen meist von Balkan-Liebhabern, welche sich länger und auch noch nach dem Krieg in Bosnien aufhalten, unzählige journalartige Erzählungen. Über deren Qualität mag man unterschiedlicher Ansicht sein. Dennoch sprengen sie den Rahmen des journalistischen Alltagsgeschäfts und geben persönlichere Ansichten über diese Region wider. Dazu gehören zwei Kategorien: Zur ersten zählen allgemein gehaltene Abhandlungen, wobei Richard Wagners Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan (2003) den umfassendsten Überblick verschafft. Der aus dem Banat stammende Deutsche ergänzt seine persönlichen Reiseerlebnisse im Balkan mit einem überaus reichen Wissen zur Region. In der Form essayistisch, im Anspruch wissenschaftlich, wird die Erzählposition selber nie explizit dargelegt. Von ähnlicher Machart sind Bücher wie Balkan Transit (1998) des FAZ-Korrespondenten Matthias Rüb und Kroatien im Aufbruch. Ein Land zwischen Balkan und Europa des ehemaligen Schweizer Botschafters in Zagreb, Paul Widmer. Sie alle versuchen, höchst materialreiche Erklärungsmuster für die jüngsten Konflikte zusammenzutragen – meist über weite Strecken ohne theoretische Bezugnahme oder Unterfutterung. Sie erheben zwar auch keinen literarischen Anspruch, fallen aber gerade wegen ihres essayistischen Charakters in die erste Kategorie. In die zweite Kategorie fallen diejenigen Versuche, welche indirekt oder direkt literarischen Anspruch erheben. All diese Texte weisen eine Ich-Erzähler-Instanz auf und folgen damit Peter Handkes Modell. Erstes einschlägiges Beispiel dafür sind Sabine Riedels Portraits Ende der Ausgangs99

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sperre. Sarajevo nach dem Krieg (1997). Im letzten Essay dieser Sammlung mit der Überschrift "Steve, Georgina und ich oder Journalisten in Sarajevo" gibt die Autorin eine melancholische Innenansicht ins Reporterbusiness, Handkes Hauptangriffsziel. Diese Perspektive erlaubt es, die unterschiedlichen Kulturen der 'Internationalen' aufs Korn zu nehmen. So klar die Ich-Position der Erzählinstanz sein mag, so brüchig und schillernd gestalten sich in der Folge die Beobachtungen: Denn noch fremder als die Balkan-Kultur entpuppt sich die amerikanische. Der Prototyp Richard, ein Fotograf, gewissermaßen nach Bosnien verknurrt, schwärmt stetig von einem großen Künstler, der "surrealistisches Zeug" herstellt und davon leben kann, ohne journalistisch tätig sein zu müssen. Dieser schwatzt der Ich-Erzählerin den Kopf voll, während die Reporter die Vernichtung eines Waffenarsenals durch die NATO-Truppen verfolgen. Ich hörte ihm zu, ich sah Hühner, wie sie mit ihren in der Sonne glänzenden Federn auf der Wiese herumstolzierten, zwischen den Schützenpanzern, auf denen Soldaten saßen, mit ihren kugelsicheren Westen, ihren Stahlhelmen, und ich dachte, daß diese Situation auch eine ziemlich starke surrealistische Qualität hatte.4

In dieser Reflexion zeigt sich ein Thema, das sich durch den ganzen Band zieht, besonders deutlich: Beginnt Kunst nicht eben da, wo wir es nicht vermuten? Als 'surrealistische' Marginalie? Auch ohne literarischen Anspruch erheben zu müssen, entsteht so bei Sabine Riedel ein kleines Stück Literatur. Ein kontrastierendes Gegenbeispiel eines Balkan-Essays bildet Inge M. Artl, die Herausgeberin des Dubrovnik-Bandes Europa erlesen. Durch die Aufnahme in diesen Sammelband ohne Vordruck impliziert die Autorin bereits literarischen Anspruch. Nicht nur in Bezug auf den französischen Präsidenten Mitterand gibt sie ihrer politischen Haltung deutlichen Ausdruck. Am Schluss hebt ihr Text von den eingangs gemachten Detailbeschreibungen in der Stadt Dubrovnik/Ragusa direkt nach dem Krieg völlig ab. Sie zieht mit der Bezeichnung "Schreckensherrschaft der Türken" und "Gauleiter des Großosmanischen Reiches" die Parallele zum Dritten Reich und malt den Teufel an die Wand: Heute, kaum achtzig Jahre nach dem Ende der Türkenbarbarei auf dem Balkan, hat Ragusa schon wieder die Türken vor der Haustür, Truppen der auf ihre eigene Art faschistischen Türkei, die noch immer auf Hitlers Vorbild Atatürk schwört. Ausgerechnet diese Spezialisten für

4

Sabine Riedel, Ende der Ausgangssperre. Sarajevo nach dem Krieg, Frankfurt a. M. 1997, S. 125. 100

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Völkermord und ethnische Säuberungen – siehe Armenien, siehe Kurdistan – aus Kleinasien hat Europa sich als "Friedenstruppe" in ExJugoslawien geholt, gewiß die folgenschwerste all der politischen Fehlentscheidungen und moralischen Bankrotterklärungen, die es sich in diesem Bürgerkrieg geleistet hat. Als ob der hausgemachte Faschismus nicht genügen würde... 5

Damit schließt dieser Essay. Natürlich hat Europa "Fehlentscheidungen" getroffen, ebenso steht noch die heutige Türkei in einer problematischen Tradition, von der sie sich immer noch nicht ganz gelöst hat. Doch erstens hat sich das Szenario einer türkischen Besetzung von Bosnien überhaupt nicht bewahrheitet und zweitens gebärdet sich die letzte Aussage gerade dadurch absolut, dass die Ich-Sprechinstanz in den Hintergrund tritt, und sie die Kulturgrenze zwischen 'Europa' einerseits und der Türkei andererseits beschwört. Damit wird exklusiv der Balkan zu Europa gezählt, die Zurückdrängung des "kranken Manns am Bosporus" wird weiterhin perpetuiert. Der Balkan scheidet offensichtlich immer noch die Geister, ob offen oder camoufliert. Dass diese Region aber auch als Übergang oder eigenständige Region wahrgenommen werden kann, zeigen erst die zwei jüngsten Romane, Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien von Juli Zeh und Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišiü. Auch wenn wie bei Peter Handke Ich-Erzähler(in) und Autor(in) im Reisebericht scheinbar zusammenfallen, muss, schon um der Textstruktur willen, unterschieden werden zwischen erzählendem und erzähltem bzw. erlebendem Ich. Die Differenz (die bei Peter Handke sogar noch – wie aufgezeigt – zu einer Spaltung derselben Instanz führen kann) ist wichtig, um das Verhältnis zur beschriebenen Welt genau aufzuzeigen, das in den bisherigen Texten statisch, in den folgenden hingegen dynamisch ist. So beginnt Juli Zeh mit einer intertextuellen Referenz auf Peter Handke, wenn sie die Ich-Erzählerin sprechen lässt: Der Hund sitzt auf der Schwelle und fixiert mich. Ich versuche es noch einmal. "Vor etwa acht Jahren, als du noch klein warst, fragte mein Bruder einmal, wo die Städte Moslemenklavebihaü und Belagertessarajevo liegen." Der Hund versteht nicht. "Ich will sehen, ob BosnienHerzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist." Der Hund hört nicht zu.6

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Inge M. Artl, Dubrovnik. Europa erlesen, Klagenfurt/Celovec 2001, S. 220. Juli Zeh, Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien, Frankfurt a. M. 2002, S. 11. Fortan zitiert unter dem Kurztitel Stille. 101

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In diesem Dialog mit dem stummen Gegenüber, dem noch unterstellt wird, dass es weder versteht noch zuhört, wird der Grund der "Fahrt durch Bosnien" dargelegt. Hier wird klar, dass – wie bei Handke – auch ein Beweis gegen die "Kriegsberichterstattung" geführt werden solle, was ein Leichtes sein wird, zumal Bosnien-Herzegowina existiert und nicht "vom Erdboden verschwunden ist". Damit führt der Text eine zweifache Brechung der Handke-Reminiszenz aus: Einerseits wird in der Aussage selbst die Sinnlosigkeit dieser Beweisführung klar, andererseits verstärkt die Inszenierung des stummen Gegenübers die Irrelevanz der Aussage nochmals. Das Schweigen des Hundes ist letztlich entlarvend, seine Begleitung der ganzen Reise eine fortwährende Relativierung der Position der Ich-Erzählerin. Die Teilung des Ichs wird so nicht mehr inszeniert, sondern externalisiert. Die Ich-Position an und für sich braucht sich auch nicht mehr festzulegen, sondern kann sich wandeln. Deutlich wird dies im Verhältnis zur muslimischen bosnischen Bevölkerung, der sie anfänglich sehr distanziert begegnet. Sie bezeichnet die Frauen als "Bosnierinnen" (S. 65), die Männer hingegen als "türkische Männer", die ihr unheimlich vorkommen, von denen sie, offensichtlich in einem Stundenhotel in Sarajevo "am Rand des türkischen Viertels" abgestiegen, bedrängt wird (S. 66). Die Fremde wird inszeniert. Das Türkische ist ihre Chiffre. Gegen Schluss des Buches, nach beinahe einem Monat in Bosnien, ringt sie sich durch, Srebrenica zu besuchen. Am Fluss Drina angekommen entwirft sie von ihm folgende Szenerie: Der Fluss ist flach, man könnte zu Fuß nach Serbien laufen. In meiner Vorstellung war die Drina metertief und voll Salzsäure. In Višegrad wurde sie so lange mit verstümmelten Leichen gefüttert, bis der Betreiber des Wasserkraftwerks stromabwärts sich über verstopfte Turbinen beschwerte. Von vielen Augenzeugenberichten erwischte mich am heftigsten die Bemerkung, dass einige Leichen noch am Leben gewesen seien. Der Gedanke daran kommt hartnäckig immer wieder zurück, wie eine Wespe, während man auf der Terrasse eine Honigmelone verzehrt. Totschlagen kann man ihn nicht mit der flachen Hand, und wenn man ihn zu vertreiben versucht, wird er aggressiv. Nach dem letzten Körper wurde die Rote Drina wieder zu Jade und Türkis. Nichts wäscht sich schneller die Schmutzflecken ab als ein Fluss. Da drüben auf der anderen Seite stand Peter Handke vor fünfdreiviertel Jahren, entdeckte eine schwimmende Kindersandale und wollte nicht herüberkommen. Was haben sie ihn dafür gescholten. (Stille, S. 230/231)

In dieser Passage nimmt die Erzählfigur Bezug auf "Augenzeugenberichte", die sie beschäftigen und nicht loslassen. Gegenstand der Betrachtung ist die Drina, Grenzfluss zwischen Serbien und Bosnien. 102

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Bereits bevor Peter Handke namentlich erwähnt wird, nimmt sie in dieser Textstelle auf ihn Bezug, indem sie dem Fluss im Unterschied zu ihrem Vorgänger jegliche Faszination als Gegenstand abspricht: "Der Fluss ist flach". Vor ihrem inneren Auge jedoch bauen sich die furchtbaren Szenen auf; und sie gibt zudem zu bedenken, wie sehr die Oberfläche täuschen kann: "Nach dem letzten Krieg wurde die Rote Drina wieder zu Jade und Türkis." Diese Überzeichnung macht deutlich, wie sehr sie sich von der "Gegenständlichkeit" Handkes distanziert, bevor sie ihn dann auch – und hier das einzige Mal – namentlich erwähnt. Der letzte Satz, der als Knittelvers daherkommt ("Was haben sie ihn dafür gescholten."), stammt gleichsam aus einer anderen Zeit. Mit einer Scheinidentifizierung distanziert sich so die Erzählerfigur nochmals von ihrer Vorgabe. Als sie sich Srebrenica nähert, hat sie immer mehr Mühe den Ort auch wirklich zu finden: "Ich bin wütend, weil kein einziges Schild nach Srebrenica weist, weder lateinisch noch kyrillisch." (S. 231) Die Wut richtet sich nur auf den ersten Blick auf das Fehlende als vielmehr auf die serbischkyrillische Vereinnahmung in der Winterlichen Reise, wo der Erzähler in einem Busbahnhof auf alten Tafeln neben Tuzla und Beograd Srebrenica auf kyrillisch, "geradezu kalligraphisch" (S. 118) findet. So kämpft Juli Zehs Text an zahlreichen Stellen gegen die Winterliche Reise an, bis sie selbst in Srebrenica ankommt: Wenigstens eines der internationalen Büros sollte ich aufsuchen. Wie viele Menschen leben hier und in welcher Zusammensetzung? Prügeln die Männer im Rausch ihre Frauen und womit? Liegt es am Kriegstrauma, am Alkohol, an beidem? Und wie klappt es mit den Rückkehrern? Die Consultants und Deputies würden auf Englisch vom Elend berichten und sich ausschweigen über das Gerücht, die Säuberung Srebrenicas sei abgesprochen gewesen zwischen Westmächten und Kriegsführern, weil die Moslemstadt mitten in serbischem Gebiet lag. Sonst wäre der Friedensvertrag nie unterzeichnet worden. [...] Ich habe keine Lust, die internationalen Organisationen aufzusuchen. Ich habe überhaupt keine Lust, mit jemandem zu reden. (Stille, S. 232/233)

Die Zweifel an einer offiziellen Version der "internationalen Organisationen" sind bei der Ich-Erzählerin ebenso groß wie beim gespaltenen Ich Peter Handkes. Doch das Ergebnis ist ein anderes. Das Fremde erscheint plötzlich nicht mehr so fremd wie eingangs, so dass sie auf der Rückkehr nach Tuzla Erleichterung verspürt, sobald sie die Republika Srpska verlässt: Auf die erste Moschee reagiert mein Zwerchfell mit Freudenstichen. Nie hatte ich etwas mit Allah am Hut. Seit neuestem fühle ich mich besser in seiner Gegenwart. (Stille, S. 235) 103

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Die Ich-Erzählerin beschreibt sehr genau ihre Gefühlslage. Sie verbirgt nicht, dass sie eine Reise unternimmt, die auf der anderen Seite der Drina stattfindet und während der sie sich auch zusehends mit der Gegenseite politisch identifiziert. Die Polarisierung scheint zwar vorgegeben, doch gerade durch die Verwendung ironischer Versatzstücke setzt sie sich deutlich vom Ich-Erzähler in der Winterlichen Reise ab. Noch einen Schritt weiter geht Saša Stanišiü in seinem ersten Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert: Die Hauptperson Aleksander wächst in Višegrad auf, just im Zentrum des Romans von Ivo Andriü, Die Brücke über die Drina (1945), worauf sich Peter Handke explizit und Juli Zeh implizit beziehen. Aus diesem Grenzort wurde die muslimische Bevölkerung mehrheitlich vertrieben. Aleksander, aus serbischmuslimischer Mischehe und in erster Linie ein überzeugter Tito-Anhänger wie sein Großvater, beschreibt aus Kinderperspektive, wie seine Familie zwischen die Fronten gerät und sie schließlich nach Deutschland fliehen müssen. Die Erzähltechnik zeichnet sich dadurch aus, dass sich das Ich weder teilt noch in eine Gefühlswelt zurückzieht, sondern vielmehr multipliziert. Die Erzählstruktur bleibt sich so konsequent gleich, doch die Person und damit die Fokalisation ändern sich ständig, weil die Anführungszeichen konsequent ausgelassen werden. Immer wenn einschneidende Erlebnisse berichtet werden, nimmt der oder die Betroffene die Position des Ich-Erzählers ein. Dies geschieht mit Zoran, der mit seinem Vater zu früh zurückkehrt und seine Mutter in flagranti mit dem Nachbarn erwischt (S. 63), mit Asija, die in Višegrad zurückbleibt und von Gewalt berichtet (S. 146–148), oder im Gedicht von Nena Fatima "was ich eigentlich will": Ich will reden wieder reden ich will reden wieder reden aber einen grund brauch ich soll ein guter grund sein das ist so [...].7

Der Auslöser für den Perspektivenwechsel innerhalb der Ich-Erzählung ist immer eine einschneidende Zäsur. In jeglicher Hinsicht bildet der Krieg die Hauptzäsur, welche auch den Roman in zwei ungleiche Hälften unterteilt: Im ersten längeren Teil werden die Kindheitserlebnisse von Alexander berichtet. Der Erzählfluss scheint noch nicht so sehr zu unterscheiden zwischen erlebendem und erzählendem Ich, was Herr Fazlagiü, Alexanders Lehrer, in der persönlichen Ermahnung an den Betroffenen vor dem Aufsatzschreiben auf den Punkt bringt:

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Saša Stanišiü, Wie der Soldat das Grammofon repariert, München 2006. Fortan zitiert unter dem Kurztitel Soldat. 104

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Du hast dieses Jahr bei allen Aufsätzen das Thema verfehlt – zügle gefälligst deine Fantasie! Herr Fazlagiü tritt an meinen Tisch und beugt sich zu mir hinunter. Und für die direkte Rede, sagt er und stützt sich mit den Fäusten auf die Tischplatte, gibt es Anführungszeichen, das weißt du, das brauche ich dir nicht jedes Mal zu erklären. (Soldat, S. 86)

In der großen Zäsur erscheint dann das Buch im Buch "Als alles gut war von Aleksander Krsmanoviü – Mit einem Vorwort von Oma Katarina und einen Aufsatz für Herrn Fazlagiü" (S. 159). Der Aufsatz "Eine schöne Reise" enthält hier natürlich die obligaten Anführungszeichen. Doch genau hier wird die Beschreibung ad absurdum geführt, indem erzählendes und erlebendes Ich nicht mehr getrennt werden: "Familie, wir fahren dieses Jahr na-ach...", rief letzte Woche mein Vater mit der Stimme eines enthusiastischen Fernsehmoderators und winkte mit den Hotelprospekten. "Ach, Papa, du sprichst doch nur, weil ich Herrn Fazlagiü, Nicht-mehr-Genosse-Lehrer, beweisen soll, dass ich die Anführungsstriche beherrsche." "Ja, und außerdem spreche ich nie mit der Stimme eines enthusiastischen Fernsehmoderators." (Soldat, S. 173)

So greift das Ereignis in die Erzählung ein. Was hier humoristisch aufgefangen wird, thematisiert ein wesentliches Merkmal dieses Romans. Denn nach diesem Einschnitt beginnt der letzte Teil des Buches, in dem der Ich-Erzähler von Deutschland nach Bosnien geht, um Nachforschungen für seinen Roman über Hinterbliebene und Vermisste in seiner ehemaligen Heimat anzustellen. Die Erzählfunktion bekommt eine neue Qualität: Nicht nur rücken erlebendes und erzählendes Ich rein zeitlich näher zusammen, sondern erst hier wird durch den Kunstgriff offensichtlich, dass hinter dem erzählenden Ich des ersten Teils des Romans nicht einfach ein Kind steht – sondern eine weitere Vermittlungsinstanz, die sich bisher nur versteckt hielt: der im Jahre 2002, also zehn Jahre nach der Flucht aus Višegrad, zurückkehrende Aleksander. Die IchErzählinstanzen wechseln nicht nur von Person zu Person, sondern entpuppen erst während des Romans in der einen Hauptperson die verschiedenen zeitlichen Schichten. Das Erzählverfahren in diesem deutschen Roman geht von andern Vorlagen aus, in denen die suggerierte Authentizität zwischen Autor und Ich-Erzähler explizit übergangen wird: Als Beispiele wären hier die Geschichte einer im Krieg vergewaltigten Frau Als gäbe es mich nicht (1999) von Slavenka Drakuliü oder der Roman in Form eines Tagebuchs Logiergäste (1995) der Kriegsjahre aus der Perspektive einer jungen Frau von Nenad Veliþkoviü. Diese bewusste Trennung geht wohl mit einem anderen Anspruch an die Literatur einher: Das 105

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Ich hat nicht nur (oder weniger) für Authentizität einzustehen, sondern verbürgt vielmehr für ein kollektives Gedächtnis, so schwierig dieser Begriff kulturell auch zu fassen ist. Es ist erstaunlich, wie das authentisch wirken wollende und sich rückversichernde Ich dem deutschen (Reise-)Bericht über den Balkan inhärent ist. Der um sich selber kreisende Text versucht zwar im Hinterfragen offizieller Muster der "Kriegsberichterstattung" eine Eigenposition einzunehmen. Die polemische Rezeption der Winterlichen Reise spricht für sich: Entweder ist man für oder gegen das Balkanbild von Peter Handke. Dass manch andere literarischen Erzeugnisse der deutschen Literatur ins Fahrwasser dieser Polemik geraten, wird offensichtlich. Letztlich hat dies aber weniger mit dem Inhalt, beispielsweise mit der Grenzsituation des 'Balkan' (gerade auch als stigmatisierter Begriff) zu tun, sondern mit dem Erzählverfahren. Das Bestreben, authentisch zu wirken, desavouiert sich ziemlich schnell selber, wie das anhand von Inge M. Artl aufgezeigt werden konnte. Zwar versucht Peter Handke in einer beredten Sezierung des Ichs Authentizität zu schaffen. Dennoch gelingt es ihm letztlich nicht, eine unabhängige, wirklich reflektierte Haltung einzunehmen. Dieser Problematik weichen Reportagen aus, indem sie die personale Erzählfunktion gänzlich ausschalten. Zaghafte, aber spannende Versuche bilden Sabine Riedels Reportagen. Dort entsteht nicht in den allgemeinen Anschauungen, sondern in der personalisierten Gedankenwelt der 'Ich-Erzählerin' der Wendepunkt vom Stereotypischen weg. Während bei Juli Zeh Handkes Subtexte präsent sind, von denen sich die Autorin absetzt, indem das Ich eine Wandlung durchläuft und in den Dialog mit der fremden Kultur tritt, so beginnt der Dialog zwischen den Kulturen dank geschickt eingesetzter Erzählverfahren bei Saša Stanišiü kreativ zu werden. Wahrscheinlich wird erst hier der stigmatisierte Begriff 'Balkan' entlastet.

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WIE

SCHREIBEN, WENN SICH DIE

GESCHICHTE

WIEDERHOLT?

DAS EUROPÄISCHE LITERARISCHE ERBE ALS ERINNERUNGSMODELL FÜR DIE POSTJUGOSLAWISCHEN KRIEGE KATJA KOBOLT

Und so stand ich nach diesem letzten Krieg vor demselben Schweigen, derselben Abneigung gegen die Wahrheit und derselben Manipulation von Tatsachen. Zum dritten Mal in meinem Leben war ich am Nullpunkt der Geschichte angelangt. Zum ersten Mal geschah das der Generation meines Vaters nach dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise nach der kommunistischen Revolution. Die Geschichte wurde neu geschrieben. Zum zweiten Mal nach dem Sturz des Kommunismus. Sofort war alles vergessen, und die Zeitrechnung begann 1990. Und zum dritten Mal nach dem Ende des Krieges in Kroatien. Es ist nicht zu übersehen, dass fast niemand von Krieg sprechen will, als hätte es ihn nicht gegeben. Noch leichter ist die Schlussfolgerung, dass die Menschen seiner müde sind; sie wollen die Vergangenheit hinter sich lassen und an die Zukunft denken. Übrigens hat uns das Nachdenken über die Vergangenheit erst in den Krieg hineingezogen. Die Politiker schließen sich der Mehrheit an und predigen, eine neue Seite der Geschichte müsse aufgeschlagen werden – möglichst eine leere –, denn viele sind weiterhin an der Macht und mögen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen.1

Für ihren Essay-Band zu den Kriegsverbrechen in den postjugoslawischen Kriegen Oni ne bi ni mrava zgazili (dt. Keiner war dabei), in dem sich die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakuliü mit der rechtlichen Belangung der Kriegsverbrecher und der Erinnerung an die Kriege befasst, wurde die Autorin mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Drakuliü ist nur eine von vielen ex-jugoslawischen AutorInnen, die sich intensiv mit der Ge1

Vgl. Slavenka Drakuliü, Oni ne bi ni mrava zgazili, Belgrad 2004. Dt.: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht, übs. v. Rujana Jeger, Wien 2004, S. 13-14. 107

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schichte der Kriege auseinandergesetzt hat. Sie ist jedoch eine der wenigen, die sich in einem ihrer Werke einem politisch höchst brisanten und besonders traumatischen Aspekt widmete: den Massenvergewaltigungen im Bosnien-Krieg.2 Während in der Kriegszeit (1992-1995 bzw. 19911995) sexualisierte Gewalt die Schlagzeilen etlicher nationaler ex-jugoslawischer und internationaler Medien darstellte, wurden sie in der Nachkriegszeit zum Tabuthema und in den offiziellen Erinnerungszeremonien der ex-jugoslawischen Kulturen ausgeklammert.3 In ihrem 1999 erschienenen Roman Kao da me nema (dt. Als gäbe es mich nicht)4 widmet sich die heute zwischen Stockholm, Wien und Istrien pendelnde Autorin diesem unangenehmen Thema. Wie in dem oben zitierten Essayband, leitet sie auch in diesem Roman die Frage nach der geeigneten Erinnerungspolitik: Anhand des aus der sexualisierten Gewalt entstandenen Traumas problematisiert Drakuliü die Erzählbarkeit von Kriegstraumata und ihre erinnerungspolitischen Optionen, in deren 2

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Zudem ist Drakuliü, die Anfang der 1990er auf Grund einer politischen Medien-Hetze gegen sie und die Autorinnen Dubravka Ugrešiü, Jelena Lovriü, Vesna Kesiü und Rada Ivekoviü aus Kroatien emigrierte, eine der wenigen exjugoslawischen AutorInnen, deren Texte zu den postjugoslawischen Kriegen auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Im Zuge meiner Doktorarbeit zur Erinnerung an die Kriege in Romanen weiblicher Autorschaft sammelte ich über hundert Titel, die zwischen 1991 und 2004 in Kroatien, Serbien und BosnienHerzegowina erschienen. Nur drei stellen Massenvergewaltigungen in den Mittelpunkt: Drakuliüs Kao da me nema, Nermina Kurspahiüs Išþezavanje modrih jahaþa und Mile Kordiüs Jelena 1993. Während Kriegsromane männlicher Autoren vor allem über Kämpfe berichten, erzählen Autorinnen hauptsächlich über das Geschehen jenseits der Frontlinie: das alltägliche Überleben, das Flüchtlings- und Exildasein, die Veränderungen zwischenmenschlicher Beziehungen, u.ä., weswegen ihre Texte oft nicht im Kontext der Kriegsliteratur wahrgenommen und als solche nicht kanonisiert werden. Der auf der Berlinale 2006 preisgekrönte Film Grbavica (dt. Esmas Geheimnis) der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbaniü regte öffentliche Bemühungen an, den Status der Opfer der Massenvergewaltigungen zu verbessern. Während Kriegsveteranen zur einer finanziellen staatlichen Fürsorge berechtigt sind, bekommen Opfer der sexualisierten Gewalt keinerlei staatliche Unterstützung. Während an gefallene Soldaten, Kriegsgefangene und zivile Opfer mit Denkmalen erinnert wird (man denke an den kroatischen Ort Ovþara oder das Lager Trnopolje, wo nach wie vor das Denkmal an die serbischen Soldaten steht!), werden die Opfer der Vergewaltigungen aus solchen Erinnerungspraktiken ausgeschlossen. Sogar in der Literatur werden Vergewaltigungen in Lagern üblicherweise nur angedeutet, z.B. im Dževdet Saraüs Roman Azra. Slavenka Drakuliü, Kao da me nema, Split 2001 [1999]. Dt.: Als gäbe es mich nicht, übs. v. Astrid Philippsen, Berlin 2002, S. 13-14. 108

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Mittelpunkt entweder das Vergessen oder das Erinnern der traumatischen Ereignisse steht. Die Autorin, die zwar mit den Überlebenden der Frauenlager in Bosnien und Herzegowina Interviews führte, jedoch selbst nicht in einem interniert war, beschreibt das Trauma mit Parametern einschlägiger Traumakonzepte und rekurriert auf Holocaustdarstellungen aus der europäischen Literaturgeschichte. Letztere dienen oft als Beschreibungsmodell der postjugoslawischen Kriege.5 Der Holocaust fungiert als ein Muster, nach dem Gedächtnistopoi gebildet werden. Anhand bestimmter 'verdichteter Vorstellungen' (Maurice Halbwachs) bzw. 'Pathosformeln' (Aby Warburg), 'Erinnerungsorte' (Pierre Nora) oder 'Erinnerungsfiguren' (J. Assmann) wird die Bedeutung der komplexen vergangenen Geschehnisse verdichtet und so erinnert (Erll 2005, S. 144).6 Jedoch wird die sexualisierte Gewalt aus der Erinnerung an die postjugoslawischen Kriege meist ausgeschlossen. Nicht so bei Drakuliü. Der vorliegende Aufsatz widmet sich ihren Darstellungstechniken bei der Inszenierung des Traumas der sexualisierten Gewalt. Der Roman der viel gelesenen Autorin, suggeriert somit ein bestimmtes Erinnerungsmodell, in dem die sexualisierte Gewalt und somit eine spezifische 'weibliche' Opfererfahrung der postjuoslawischen Kriege berücksichtigt werden.7

Die Geschichte der Traumatisierung und der Traumabewältigung Bereits der Titel des Romans Als gäbe es mich nicht suggeriert ein traumatisches Symptom, das eine Folge extremer Gewalt ist, die auf die Zerstörung des Subjekts und seiner Identität abzielt – das Dissoziationssymptom. Auf die im Text angelegte Doppelkodierung deuten die Motti des Romans hin: Die intertextuellen Bezüge zur Holocaust- und Traumaliteratur werden zum zentralen Sinnkonstitutionsprinzip des Romans.8 5

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So beschreibt u.a. die kroatische Schriftstellerin Daša Drndiü die Zeit der postjugoslawischen Kriege in ihren Romanen Canzone di guerra, Totenwande und Leica format – die leider nicht ins Deutsche übersetzt sind – parellel zu Holocaust-Geschichten. Auch in politischen Diskursen zu den postjugoslawischen Kriegen wird der Holocaust oft als Gedächtnistopos verwendet. In diesem Sinne wurde Srebrenica, wo im Jahr 1995 mehr als 7000 Bosniaken ermordet worden sind, zum Gedächtnistopos der postjugoslawischen Kriege schlechthin und nach dem Modell des Holocaust erinnert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Erfahrung der sexualisierten Gewalt als dominante oder naturalisierte 'weibliche' Erfahrung der Kriege zu erfassen ist. Die drei Motti lauten: "Ein intensives, körperliches, und unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause und mitten unter befreundeten Menschen zu sein und über so vieles berichten zu können. Und doch, es ist nicht zu 109

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Betrachtet man die Intertextualität des Romans nicht nur durch eine textdeskriptive, sondern eine 'literatur- bzw. Kulturkritische' Perspektive – welche ihre Pragmatik sowohl auf der Text-Ebene, als auch im Hinblick auf die das Text-Außen betreffenden Funktionen zu erfassen versuchen – dann wird deutlich, dass die intertextuellen Bezüge die 'Aufarbeitung' der sexualisierten Gewalt und der postjugoslawischen Kriege auch im Kontext des europäischen kulturellen Gedächtnisses verorten. Die Prätexte des Romans fungieren zum einen als literarisches Gedächtnis, zum anderen werden sie im Roman auch als kulturelles Gedächtnis dargestellt – denn die in den Prätexten beschriebenen Erfahrungen ermöglichen eine Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit: Ausgestattet mit der kulturellen Erinnerung an den Holocaust gelingt es der Roman-Protagonistin S., die während des Bosnienkrieges im Lager gefangen gehalten wurde, ihr Trauma der erlebten Massenvergewaltigungen zu verarbeiten.9 In den drei im Motto zitierten Auszügen, werden die Unkommunizierbarkeit des Traumas, das Sprach- und Symbolisierungsmöglichkeiten übersteigt, die prinzipielle Alterität der Kriegs- und Lagererfahrung und die Notwendigkeit der Traumabewältigung als Programm des Romans, als eine Gedächtniskarte dessen, was in der Erzählung wiederholt wird, dargestellt. Wie ich zeigen werde, prägen die in diesen Zitaten angedeu-

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übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen. Da erhebt sich in mir eine verzweifelte Pein, gleich wie mancher kaum noch bewusste Schmerz aus frühester Kindheit: Schmerz in seinem reinen Zustand, nicht abgemildert vom Sinn der Wirklichkeit und vom Eindringen fremder Umstände ... (Primo Levi, Ist das ein Mensch?) – Und ganz unbewusst, vielleicht gerade wegen des übertriebenen Angstgefühls, schien mir zeitweise, als sei das gar nicht ich, es geschieht einem anderen, und alles Geschehene ist eigentlich ein Teil einer anderen, unwirklichen Welt. (Eva Grliü, Erinnerungen) – Ein Mensch überlebt durch seine Fähigkeit zu vergessen. (Warlam Schalamow, Geschichten von der Kolyma) Vgl. Als gäbe es mich nicht, S. 5. Die intertextuellen Bezüge des Romans zur Holocaustliteratur lassen sich nach Lachmann als 'Kontiguitätskontakte' bezeichnen. Drakuliü baut ihren Roman in Analogie zur Lagerliteratur auf: Sie konfiguriert die Darstellung der Lagererfahrung und die Inszenierung des Traumas im Dialog mit Lagerliteratur und Traumaforschung. Auch durch die Erzählstruktur des Romans, dessen Narration sie als einen intrapsychischen Traumabericht modelliert, nimmt Drakuliü Bezug auf diese Prätexte. In diesem Sinne ist ihr Roman in einem 'gedächtnisutopischen' Paradigma verortet. Vgl. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M.1990, S. 510. 110

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teten Konturen des Traumas den Plot, die Erzählposition und die Verfahren der Charakterisierung. Der Roman Als gäbe es mich nicht besteht aus zwei Erzählsträngen: zum einen der Binnenerzählung über den Lageraufenthalt der jungen Lehrerin S., die in den ersten Kriegsmonaten in Bosnien und Herzegowina von serbischen Soldaten gefangen gehalten und sexuell missbraucht wurde, sowie zum anderen der Rahmenerzählung über S.’ Flucht nach Schweden und ihre Entbindung von dem bei den Vergewaltigungen empfangenen Kind in einer Stockholmer Klinik.10 Die erzählte Zeit der Rahmenerzählung ist zugleich die Erzählzeit der Binnenerzählung, die den größten Teil der Narration ausmacht. Die Binnenerzählung über die Deportation ins Lager, die Folter und ihre psychischen Folgen, die Identitätsverschiebungen sowie die Veränderungen der zwischenmenschlichen Verhältnisse, ist als retrospektiver Bericht der Hauptfigur S. Modelliert. Der retrospektive Charakter der Binnenerzählung, ihre Einbettung in die Rahmenerzählung und der Zusammenhang beider Erzählstränge treten jedoch erst allmählich zutage; erst am Ende des Romans kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass es sich um zwei verschachtelte Erzählungen handelt, die in eine Narration münden, und nicht um zwei, auf gleicher narrativer Ebene zu verortende Parallelnarrationen. Im ersten Kapitel "Stockholm, Karolinska Krankenhaus, 27. Februar 1993" profiliert sich die Erzählstimme in der dritten Person und schildert die Situation im Krankenzimmer, als S. ihr unerwünschtes Baby anschaut. S. wollte das Kind eigentlich überhaupt nicht sehen und hat mit dem Sozialamt vereinbart, es sofort nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Im Krankenhaus hat man das Bett des Babys dennoch neben das ihre gestellt. Das Kind liegt nackt in seinem Bettchen. Ausgestreckt auf dem Laken, ganz ruhig, die Arme und Beine ausgebreitet, als hätte es sich in sein Schicksal ergeben. S. sieht die ganz kleinen Finger mit richtigen kleinen Nägeln. [...] Wenn sie es von der Seite anschaut, erscheint es ihr wie tot, und S. wendet rasch den Blick von ihm. (Als gäbe es mich nicht, S. 7)

10 Im Roman Als gäbe es mich nicht stellt Drakuliü die ethnische Charakterisierung der Opfer und Täter in den Hintergrund. Nicht nur die Hauptfigur, sondern auch andere Lagerinsassinnen werden ausschließlich durch Initialen benannt. Die ethnische Differenz wird im südosteuropäischen Kontext hauptsächlich durch Namen markiert, die als typisch kroatisch, bosniakisch bzw. bosnisch-muslimisch oder serbisch erkannt werden. 111

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In diesem ersten Kapitel, wie auch in allen anderen, ist der Blick auf die Hauptfigur S. gerichtet; fokussiert werden vornehmlich die Gefühle der Protagonistin. Die Erzählposition scheint anfangs heterodiegetisch zu sein, als ob die Erzählstimme nicht der gleichen Erzählebene wie die Rahmenerzählung, sondern einer ihr übergeordneten Erzählebene angehören würde. Im zweiten Kapitel "Bosnien, Dorf B., Ende Mai 1992" wird die Binnenerzählung über das Geschehen im Krieg an die Rahmenerzählung angebunden. Ihre Kehle wird eng. Die Tür öffnet sich rasch, durch einen Fußtritt. Sie ist gar nicht verschlossen. Sie hat nicht einmal die Tür abgeschlossen, so naiv ist sie gewesen. Es hätte mir ohnehin nichts genützt, denkt S., als sie im Krankenhaus in Stockholm liegt. Wie oft kehren meine Gedanken zu jenem Augenblick zurück, und noch immer bin ich nicht sicher, ob ich begreife, wie das alles geschehen ist. An der Tür ist ein junger Mann. Er scheint sicher zu sein, dass sie ihn erwartet. (Als gäbe es mich nicht, S. 20)

Die direkte Rede, welche die Gedanken der im Krankenhaus liegenden Protagonistin wiedergibt, überführt die ganze Binnenerzählung in einen retrospektiven Bericht, einen Gedankenfluss der Protagonistin, die sich mit ihrer traumatischen Vergangenheit auseinandersetzt. Obwohl die autodiegetische Erzählposition der Binnenerzählung durch kursivierte Stellen markiert wird, wird erst im letzten Romankapitel, wenn die Binnenerzählung in die Rahmenerzählung übergeht, deutlich, dass die Narration als ein 'intrapsychischer Traumabericht' der Hauptfigur S. modelliert ist, die somit zur Erzählerin wird.11 Bevor jedoch die Erzählerin zur ihrer Stimme gelangt und so die Narration über die Lagerereignisse eindeutig

11 In literarischen Texten, die als intrapsychischer Traumabericht ('intrapsychic witnessing') gestaltet sind, gehe es hauptsächlich, so Irene Kacandes, um den Zustand vor der Zeugenaussage, d.h. um die Zeit vor der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und somit um die Zeit vor dem Erzählen. Denn in einem intrapsychischen Traumabericht ist der Akt des Erzählens mit der Bewältigung des Traumas verbunden. Vgl. Irene Kacandes, Talk Fiction. Literature and the Talk Explosion, Lincoln/London 2001, S. 101. Solche Texte sind als fiktionale Inszenierungen des Heilungsprozesses gestaltet, durch den die traumatisierte Figur wieder zu einer 'Ich'-Erzählposition zu gelangen vermag (ebd., S.105). Dies kann jedoch nur durch Einbeziehung einer Mitzeugeinstanz gelingen, und obwohl Kacandes meint, dass die Herausbildung derselben eigentlich mit einem Erzählebenen-Wechsel einhergeht, demonstriert der Roman Als gäbe es mich nicht das Gegenteil: Als Mitzeugeinstanz kann auch die traumatisierte Figur selbst fungieren (ebd., S. 99). 112

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als eine Binnenerzählung markiert wird, wird das Lager-Dasein mit eindeutiger Referenz auf die europäische Literaturgeschichte geschildert. Als die Erzählerin über die Deportation aus dem Dorf berichtet, betont sie das Ausbleiben jeglichen Widerstands der Dorfbewohner, denn diese können sich einfach nicht vorstellen, wohin sie gebracht werden und was mit ihnen gemacht wird: Die Frauen steigen langsam in den Bus, eine nach der anderen. Sie stehen in einer Reihe. Geduldig warten sie, als würde hier etwas verteilt. Mehr als alles entsetzt S. ihre Unterwürfigkeit, ihre Bereitschaft, den Befehlen bedingungslos zu gehorchen. Ihr scheint, das liegt nicht nur daran, dass die Soldaten Waffen haben, sondern alle sind noch immer in einer Art Ungläubigkeit, einer zeitweisen Erstarrung befangen – ein Zeichen, dass sie es ablehnen zu begreifen, was mit ihnen geschieht. (Als gäbe es mich nicht, S. 30).

Im Lager wird die übliche Differenz zwischen privater und öffentlicher Sphäre hinfällig. Alle schlafen in einer großen Halle: früher eine Lagerhalle für Maschinen, jetzt für Menschen, die man enthumanisieren will. Man wäscht sich vor den Augen anderer Lagerinsassinnen und Soldaten, man hat seinen Stuhlgang vor den gleichen Leuten. An einem einzigen Tag wurden wird alle auf ein Mindestmaß zurückgeführt, auf das bloße Dasein. […] Lagerinsassen hören auf, menschliche Wesen zu sein, und ihre normalen Bedürfnisse wie auch ihre Körper verwandeln sich in einen Teil der Maschinerie, deren Funktionieren und deren Zweck sie erst ahnt. (Als gäbe es mich nicht, S. 33, 40)

Im dritten Kapitel "Bosnien, Lager, Mai 1992" versucht sich S. mit ihrer neuen Umgebung abzufinden. Sie wird der Lagerinsassin E. zur Seite gestellt, die in ihrem früheren, 'normalen' Leben als Krankenschwester gearbeitet hat, weswegen sie sich jetzt um die Kranken und Verletzten kümmert. Vor allem durch E., die Zutritt in das benachbarte Männerlager hat, erfährt S. von der Folter und den dort stattfindenden Exekutionen. Aber auch den Insassinnen des Frauenlagers bleibt Gewalt nicht erspart: S. hört vom so genannten 'Frauenraum' im Verwaltungshaus des Lagers, wo Frauen gehalten werden, um den Soldaten, die in den Nächten von den Frontlinien ins Lager kommen, sexuell zur Verfügung zu stehen. Bisher hatte sie das Glück, nicht dafür 'selektiert' zu werden. In ständigem Angstzustand merkt S., "wie sie sich allmählich anpasst" (Als gäbe

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es mich nicht, S. 48). Sie spürt, wie sie sich verändert.12 Sie schaut sich ihre Sachen an, die sie von zu Hause mitbrachte – das rote Sommerkleid, die neuen, nie getragenen Schuhe, das Familienalbum, das sie sich jedoch nie zu öffnen traut – und kann sie nicht in Verbindung mit sich selbst bringen: Auch sie erkennt sich in diesem Lager nicht wieder. Wer bin ich? denkt S., als sie ihre Sachen wieder in den Rucksack packt, ihre wertvollen Sachen, eine nach der anderen. (Als gäbe es mich nicht, S. 53).

Nicht nur ihre Identität löst sich in den dehumanisierenden Lebensbedingungen des Lagers auf, es sind vor allem die zwischenmenschlichen Verhältnisse, die die Maßstäbe des normalen Lebens zur Auflösung bringen. Nicht nur die Relation zwischen den Soldaten, den Lagerwächtern und den Insassinnen gehorcht nicht den Konventionen des normalen Lebens; auch in den Beziehungen zwischen den Insassinnen herrscht ein auf das Überleben gerichteter Egoismus.13 Als S. ihr Goldschmuck gestohlen wird, ist sie zutiefst erschüttert. Nicht dass ihr die Ohrringe oder die Kette so viel bedeutet hätten:

12 Ihr Veränderungsprozess gleicht dem von Primo Levi beschriebenen: "Nun denke man sich einen Menschen, den man, zusammen mit seinem Lieben, auch sein Heim, seine Gewohnheiten, seine Kleidung und schließlich alles, buchstäblich alles nimmt, was er besitzt: Er wird leer sein, beschränkt auf Leid und Notdurft und verlustig seiner Würde und seines Urteilsvermögens, denn wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst; so sehr, dass man leichthin und ohne jede Regung verbindenden Menschentums, bestenfalls aber auf Grund reiner Zweckmäßigkeit über sein Leben und seinen Tod wird entscheiden können. So wird man denn die zweifache Bedeutung des Wortes 'Vernichtungslager' verstehen und ebenso, was ich mit der Definition 'in der Tiefe liegen' zum Ausdruck bringen möchte." (Primo Levi, Ist das ein Mensch? übs. v. Heinz Riedt, München [1958] 1991, S. 25). 'In der Tiefe liegen' heißt bei Drakuliü 'als gäbe es mich nicht'. 13 In den ersten Kapiteln des Romans von Levi wird das Lager ähnlich als unvorstellbar beschrieben: "Da merken wir zum erstenmal, dass unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dies Vernichten eines Menschen. In einem einzigen Augenblick und fast mit prophetischer Schau enthüllt sich uns die Wahrheit: Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht; ein noch erbärmlicheres Menschendasein gibt es nicht, ist nicht mehr denkbar. Und nichts ist mehr unser: man hat uns die Kleidung, die Schuhe und selbst die Haare genommen; sollten wir reden, so wird man uns nicht anhören, und wird man uns auch hören, so wird man uns nicht verstehen." (Levi, Ist das ein Mensch? S. 24-25). 114

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[E]s quält sie das Gefühl der Reduzierung, der Verarmung, des Verlierens. Sie fragt sich, was sie noch alles würde abschreiben müssen, wie klein das Minimum der Dinge ist, mit dem ein Mensch überleben kann, ohne das Bewusstsein zu verlieren, ein Mensch zu sein. (Als gäbe es micht nicht, S. 54).

Als sie eines Tages von den Soldaten abgeholt und von vier Männern vergewaltigt wird, kann sich S. nicht mehr als Ganzes, als Subjekt mit einer Identität wahrnehmen. Die Kontrolle über ihren Körper wird ihr mit ungeheurer Gewalt entzogen und sie entwickelt Dissoziationssymptome: Als der erste in ihren Körper eindringt, empfindet S. einen momentanen Schmerz. Danach spürt sie nichts mehr außer einem Stoßen, von dem sich der Tisch immer weiter zum Fenster schiebt. Sie wendet den Kopf zur Wand. Dort wandert eine Fliege mit grünem Hinterleib auf und ab. Als hätte sie etwas verloren. Endlich hat sie es gefunden. Lange bleibt sie an einer Stelle und reibt sich die Beinchen. Dann fliegt sie nach oben an die Decke. S. folgt ihr mit dem Blick. In dem Moment sieht sie ihre in die Luft gehobenen Beine und dazwischen einen Männerkopf. Der Mann hat die Augen geschlossen und den Mund geöffnet. Wieder sucht ihr Blick die Fliege, die nun auf der Glühbirne sitzt. Die Birne schwankt sacht. Als sie ihren Blick senkt, sieht sie ihre Beine noch immer oben, und ein anderes Männergesicht dazwischen. Es sind natürlich ihre Beine. S. sagt sich, das sind ihre Beine, doch sie spürt sie nicht. Als gäbe es mich nicht, denkt S. Als wäre ich gar nicht vorhanden, nicht mehr hier. Sie spürt nur den harten Tisch unter ihrem Rücken, der sich auch weiterhin zum Fenster schiebt. Durch die schmutzige Scheibe kann sie bereits den Hof und mehrere Wachposten sehen, die sich am Zaun ausruhen. Der Tag ist schön, sonnig. Ein Sommernachmittag. (Als gäbe es mich nicht, S. 69 [meine Hervorhebung])

Nach dieser mehrfachen Vergewaltigung wird S. bewusstlos geschlagen. Später erwacht sie im 'Frauenraum', wo sie von nun an zusammen mit anderen Frauen mehrmals pro Nacht von Soldaten vergewaltigt, geschlagen und gefoltert wird. "Klarer als je zuvor empfindet sie, wie ihr das Recht auf sich selbst genommen, sie völlig und endgültig entmachtet ist." (Als gäbe es mich nicht, S. 72).

Über den 'Frauenraum' berichten fünf Romankapitel, deren Titel sich nur durch die Monatsangaben unterscheiden: "Bosnien, 'Frauenraum', Juni, Juli 1992", "Bosnien, 'Frauenraum', August 1992" usw. Das Lager wird nicht nur als ein Ort umrissen, sondern als "ein körperlicher und geistiger 115

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Zustand" dargestellt, der nicht nur die Opfer in Besitz nimmt, sondern auch die Täter (Kao da me nema, S. 71 [Übers. v. KK]). Die Täter sind die, die im Unterschied zu den Opfern selbst entscheiden können, ob ihre Handlungen nur vom Krieg bestimmt oder ob sie noch die Subjekte ihrer Handlungen bleiben werden. Sie entscheiden sich aber dafür, sich dem Krieg zu überantworten: Dann verliert einer der drei die Geduld. Mit geübter Geste zückt er ein Messer und hält es ihr an die Kehle, Schneller, zischt er durch die zusammengepressten Zähne, schneller! Und in dem Augenblick fällt ihr wieder auf, dass jene nicht imstande sind, sich in normalen Sätzen auszudrücken, sondern nur in knappen Worten, als hätten sie das Sprechen verlernt. Vielleicht haben sie das auch. Vielleicht ist es im Krieg so, dass Worte plötzlich überflüssig werden, da sie die Wirklichkeit nicht mehr auszudrücken vermögen. Die Wirklichkeit entzieht sich den bekannten Ausdrücken, und neue Worte, in die sich diese neue Erfahrung einbringen ließe, gibt es einfach nicht. (Als gäbe es mich nicht, S. 68 [Hervorhebung im Orig.])

Obwohl die Protagonistin über das Verschwinden der Sprache in Situationen extremer Gewalt und über die diskursive Unverfügbarkeit der Lagerwirklichkeit berichtet, ist sie selbst von diesem Verstummen nicht gänzlich betroffen. Sie währt sich gegen die Gewalt, versucht sich der grauenhaften Situation zu bemächtigen.14 Der Prozess der Traumabewältigung beginnt bei S. bereits im 'Frauenraum'. Sie findet eine weggeworfene Kosmetiktasche mit Schminksachen. Dies erinnert sie an die Zeit vor dem Krieg, als sie sich noch täglich schminkte. Als sie sich der gefundenen Utensilien bedient, findet sie darin eine mögliche Abwehrstrategie gegen die sexualisierte Gewalt, der sie ausgeliefert ist. Durch das Schminken gelingt es ihr, sich vorzuspielen, sie sei kein Opfer. Mit dem Eyeliner zieht sie sich sorgsam einen Strich auf dem Augenlid, erst einen, dann den anderen. Trägt grauen Lidschatten und schwarze Wimperntusche auf. Nun schauen sie im Spiegel geheimnisvolle, verführerische Augen an. Sie erkennt sich nicht völlig wieder, doch das stört sie nicht. Sie sieht ihr früheres Gesicht zum Vorschein kommen, das sie ganz vergessen hatte. Als verwandele sie sich durch

14 In dem anfangs zitierten Ausschnitt aus dem Roman Levis wird u.a. das Verschwinden und die Hinfälligkeit der Sprache im Lager thematisiert. Wie das Lager die Sprache vernichtet, so kann auch die Sprache das Lager vernichten: Im Kapitel "Der Gesang des Odysseus" redet Levi durch das Rezitieren einer Stelle aus Dantes Divina Commedia für ein paar Augenblicke über die Wirklichkeit des Lagers hinweg (vgl. Levi, Ist das ein Mensch? S.105-111). 116

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das Schminken in eine andere Frau, erinnert es sie daran, dass sie früher in der Stadt gelebt hat, und das gefällt ihr. Sie fühlt sich wieder wie jene alte S., die sich abends zum Ausgehen zurechtmacht. Sie legt eine Maske an, hinter der sich die jetzige S. verstecken kann. Schließlich sieht sie, was es bedeutet, Schauspielerin zu sein. Wie herrlich ist es, das Gesicht zu ändern, sich in jemand anderen zu verwandeln, zumindest für eine gewisse Zeit. Und wie einfach ist das. Ein wenig Rouge, und schon bist du eine andere Frau. Plötzlich fühlt sie sich befreit. Was für eine Erleichterung, so eine herrliche Möglichkeit zur Verfügung zu haben! Sie möchte ihre Freude mit den Mädchen teilen. Zeigt ihnen ihr geschminktes Gesicht. (Als gäbe es mich nicht, S. 92-93)

Ihre Mitinsassinnen verstehen ihr Handeln nicht. Sie beschimpfen sie als "Hure", waschen ihr die Schminke vom Gesicht und meinen, sie sei verrückt. S. versucht vergeblich, zu erklären, dass sie sich ihrer Scharfrichter bemächtigen können, indem sie sich vorspielen, dass sie es selbst sind, die die Soldaten verführen: "dann schafften die es nicht, sie zu erniedrigen" (Als gäbe es mich nicht, S. 94).15 Aber die Mädchen begreifen nicht. Die Differenz zwischen Stadt und Land, als eine Differenz zwischen einer aufgeklärten Subjektivität, die ihr Leben frei gestalten will, und einer in traditionellen Geschlechterrollen gefangenen Subjektivität, kristallisiert sich allmählich zu einem Unterschied in der Traumabewältigung heraus. Durch ihr 'Spiel' bewirkt S., dass sie ausschließlich dem Lagerhauptmann zur Verfügung stehen muss: Denn der Hauptmann sucht eine Frau, mit der er auch reden kann, die ihm die Illusion eines normalen Lebens jenseits des Krieges vermittelt. Somit verbessern sich auch die Ernährungs- und Hygieneverhältnisse für S., wodurch sich ihre 15 Neben dem sprachlichen Widerstand gegen das Lager werden in Levis Roman Ist das ein Mensch? andere Strategien gegen den Prozess der Entmenschlichung beschrieben. "Eben darum, weil das Lager ein großer Mechanismus ist, der uns zu Tieren herabwürdigen soll, dürfen wir keine Tiere werden; auch an diesem Ort kann man am Leben bleiben und muss deshalb auch den Willen dazu haben, schon um später zu berichten, Zeugnis abzulegen; und für unser Leben ist es wichtig, alles zu tun, um wenigstens das Gerippe, den Rohbau, die Form der Zivilisation zu bewahren. [...] Wir müssen uns also selbstverständlich das Gesicht ohne Seife waschen und uns mit der Jacke abtrocknen. Wir müssen unsere Schuhe einschwärzen, nicht, weil es so vorgeschrieben ist, sondern aus Selbstachtung und Sauberkeit. Wir müssen in gerader Haltung gehen, ohne mit den Holzschuhen zu schlurfen, nicht als Zugeständnis der preußischen Disziplin, sondern um am Leben zu bleiben, um nicht dahinzusterben", sagte der ehemalige k.u.k. Unteroffizier Steinlauf in Auschwitz im Jahr 1944 (Levi, Ist das ein Mensch? S. 38-39). 117

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Überlebenschancen erhöhen. Als eine Gruppe von Frauen gegen gefangene serbische Soldaten ausgetauscht wird, schafft sie es, in ein Zagreber Flüchtlingszentrum zu gelangen. Die zwei nächsten Kapitel "Zagreb, Flüchtlingszentrum, November/ Dezember 1992" und "[...] Dezember 1992" beschreiben S.’ 'Flüchtlingsdasein' in Zagreb. In den überfüllten Baracken hört sie sich die tragischen Kriegsgeschichten ihrer Mitbewohner an. Manchmal, wenn S. ihnen zuhört, scheint es ihr, als seien diese Menschen noch immer in ihrem Dorf, sehen, wie das Haus brennt, wie die Nachbarn ihnen die Kinder wegführen. Und sie glauben das nicht, noch immer scheint es ihnen nur ein böser Traum zu sein. (Als gäbe es mich nicht, S. 144-145)

Die anderen Flüchtlinge stehen immer noch unter Schock und weigern sich, die Kriegskonturen der Wirklichkeit als tatsächlich wirklich zu erkennen. Obwohl S. der Meinung war, ihr Leben jetzt in den Griff bekommen zu haben und somit ihre traumatische Vergangenheit vergessen zu können, wird sie von ihrem Körper 'verraten': Sie ist schwanger und es ist zu spät für eine Abtreibung.16 Ihr Körper liegt auf dem Krankenbett wie ein lebloser Gegenstand, ein ausgehöhlter Balg oder eine Plastiktüte. Seit dem Abtransport aus dem Lager hat sich für sie nichts geändert. Ihr Körper ist weiterhin in der Macht anderer, nun noch mehr als im Lager. Erst jetzt begreift S., dass ein Frauenkörper ohnehin nie ganz der Frau gehört. Sondern andern: dem Mann, den Kindern, der Familie. Und im Krieg den Soldaten. Fünfter Monat ... Ein fernes Gericht hat sie zu diesem Zustand verurteilt, aus dem es kein Entrinnen gibt. S. kommt sich vor, als hätte jemand sie zurück ins Lager, in den 'Frauenraum', gebracht. Sie ist verraten. Ausgeliefert. Das ist der Krieg, in ihr, in ihrem eigenen Leib. Die anderen siegen ... (Als gäbe es mich nicht S. 152,153)

Schon ehe sie über ihre unerwünschte Schwangerschaft Bescheid weiß, entscheidet sich S. in einem europäischen Land, das bosnische Flüchtlinge aufnimmt, einen Aufnahmeantrag zu stellen. Mit der Schwangerschaft findet sie sich ab: denn sie fasst den Entschluss, das Baby zur

16 In der okzidentalen Ideengeschichte bürgt der Körper für die Gesamtheit der Person – er ist ihre Evidenz. Somit ist er auch heute noch fester Referent, der – obwohl kulturell konstruiert – unbestreitbar ist. Als Ort, an dem das Trauma sichtbar ist, wird der Körper zur Evidenz des Traumas. Vgl. Ana Douglass/ Thomas A. Vogler, Witness and Memory. The Discourse of Trauma, New York und London 2003, S.13. 118

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Adoption freizugeben und versucht sich nur als "ein Gefäß" als "eine Art Leih-Gebärmutter" zu begreifen (Als gäbe es mich nicht S. 155). Im dreizehnten Kapitel "Stockholm, Dezember 1992" kommt S. nach Stockholm, wo sie eine ehemalige Schulkameradin trifft, die vor einem Jahrzehnt nach Schweden übersiedelte und sich nun für die bosnischen Flüchtlinge engagiert. Diese Figur G. – die Erzählerin verwendet immer noch nur Initialen statt der ganzen Namen – hilft ihr, sich ein Zuhause einzurichten. Die schwedischen Behörden teilen ihr eine kleine Wohnung zu, die S. möglichst neutral einrichtet, um nicht daran erinnert zu werden, woher sie kommt. Bei dem Gespräch mit einer Psychologin, äußert sie den Wunsch, das Kind zur Adoption freizugeben und ihren Namen zu ändern. Inzwischen wird S. von einem sich wiederholenden Traum heimgesucht, in dem sie einem ihrer Peiniger folgt und ihm ein Messer in die Eingeweide stößt. Als sie dem Mann ins Gesicht schaut, sieht sie, dass er sie nicht erkennt; er kann sich an sie, deren Leben er zerstörte, nicht erinnern. Sie erwacht immer wieder in Verzweiflung. Mit dem letzten, sechzehnten Kapitel "Stockholm, Karolinska Krankenhaus 27./28. März 1993, nachts" geht die Binnenerzählung in die Rahmenerzählung über, die im ersten Kapitel "Stockholm, Karolinska Krankenhaus 27. Februar 1993" angefangen hatte. Nur hier verwendet die Erzählerin einen persönlichen Namen für eine Romanfigur: Das Zimmer in der Entbindungsstation teilt sie mit Maj, einer schwedischen Frau, und deren neugeborener Tochter. Der Verzicht auf die persönlichen Namen der weiblichen Lagerinsassinnen ist somit ein Teil der Modellierung der Lagererfahrung als Trauma. Als S. ihr Trauma verbalisiert kann sie sich selbst und andere wieder im Rahmen der 'normalen' Wirklichkeit, in der Menschen einen Namen tragen, wahrnehmen. Als S. den von ihr entbundenen Jungen betrachtet, erkennt sie in ihm nicht das Gesicht eines ihrer Peiniger, sondern das ihrer im Krieg ermordeten Schwester – zum ersten Mal seit Kriegsausbruch öffnet sie das Familienalbum: Nun stellt sie sich ihrer Vergangenheit. Dadurch kann sie auch über ihr zukünftiges Leben und dasjenige ihres Sohnes nachdenken.17 Die Adoptiveltern des Kindes würden lügen und seine Vergangenheit neu erfinden müssen. Auch wenn sie selbst ihn behalten würde, müsste sie für ihn eine Geschichte erlügen. Die eine wie die andere wäre gelogen, doch nur eine dieser beiden Geschichten bedeutete einen Sieg über die Schrecken des Krieges. Einen Sieg über mich selbst, denkt S., als sie ihre Hand auf ihn legt. Nur sie 17 Eines der Symptome von Traumatisierung ist das Gefühl einer eingeschränkten Zukunft. Vgl. Henning Saß u.a.: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. DSM-IV, Göttingen u.a.1996. 119

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kann ihm zeigen, dass der Hass, in dem er gezeugt wurde, in Liebe verwandelt werden kann. Sein kleiner Körper wendet sich. Sie berührt seine Wange und sein Haar. Eines Tages wird sie ihm sagen, er ist ihr Kind, nur ihres. Einen Vater hat er nicht. Und das ist die Wahrheit. [Als sie sich wieder ins Bett legt, empfindet sie das erste mal, wie eine vollkommene Ruhe sie überkommt.] (Als gäbe es mich nicht, S. 205)18

Als sie in jener Nacht nach der Geburt einschläft, hat sie wieder ihren Albtraum, in dem sie sich rächen will, jedoch von dem Täter nicht erkannt wird, und wacht wieder erschreckt auf: Die Verzweiflung, dass der Mann sie nicht erkannt hat, ist noch da, in ihr, sitzt in ihrer Brust und verwischt für einen Moment den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Sie schaut auf ihre Hand und fragt sich, ob sie tatsächlich die Kraft hätte, mit dem Messer zuzustoßen. Plötzlich versteht sie den Traum und weshalb er sich wiederholt: Wenn der Mann sie, sein Opfer, vergessen hat, so darf sie doch ihn und ihre Vergangenheit nicht vergessen. Jene Henker brauchen das Vergessen, aber die Opfer dürfen es ihnen nicht gewähren. (Als gäbe es mich nicht, S. 206).

Dieser Traum ist als Wiederholungstraum und damit als ein Symptom des Traumas modelliert. Er drückt ihre Angst aus, dass ihr Trauma nicht anerkannt wird, dass ihr auch in ihrem Nachkriegsleben das Recht auf ihre Identität, auf ihre Vergangenheit abgesprochen wird. In Bezug auf diskursive Reaktionen auf erlittene Gewalt unterscheidet der Philosoph Paul Ricoeur (1995) zwischen zwei verschiedenen Formen: die eine ist Trauer ('lament'), die andere Beschuldigung ('blame'), wobei nur letztere eine Folge des vom Menschen verursachten Leidens ist (Ricoeur 1995, S.250). Die zwei Affekte, die aus einem durch Gewalt herbeigeführtem Leiden resultieren, unterscheiden den, der Rache sucht von dem, der trauert und klagt. Jedoch in Drakuliüs Roman bedingt die Macht, die Täter beschuldigen und für ihre Taten belangen zu können, die Trauer. Wenn sich die Opfer ihrer traumatischen Vergangenheit stellen müssen, um ihr Trauma zu bewältigen, dann müssen auch die Täter für ihre Taten Verantwortung übernehmen und somit das Trauma der Opfer und die Opfer selbst anerkennen. Die Opfer werden erst trauern können, wenn ihr Trauma erkannt wird, wenn ihre Zeugenaussage gehört wird, wenn sie beschuldigen können. Die Macht, die Täter zu belangen, ist der Sieg des Friedens über den Krieg. Wenn die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden (können), werden ihre Verbrechen als Kriegsnormalität aner18 Der letzte, in eckigen Klammern zitierte Satz, findet sich nur in der Originalausgabe und wurde der deutschen Fassung von Katja Kobolt hinzugefügt. 120

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kannt und der Krieg normalisiert. Damit im Frieden das Lager nicht als akzeptables Dasein bestätigt wird, müssen die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn sich erst die Opfer ihrer traumatischen Vergangenheit stellen. Nur durch qualvolle Einbindung des vernichtenden Abschnitts der (persönlichen) Geschichte in eine Lebensgeschichte bzw. (persönliche wie auch kollektive) Identität kann die traumatische Vergangenheit aufgearbeitet werden. Die Geschichte des Romans Als gäbe es mich nicht ist die Geschichte über die Aufarbeitung des Traumas der Protagonistin, die durch (Selbst-)Erzählung wieder zur Ich- bzw. Subjekt-Position gelangen kann. Das Trauma nahm ihr die Sprache nicht gänzlich, es machte es ihr aber unmöglich, sich selbst mit der Sprache zu identifizieren. Ihr Gedankenfluss im schwedischen Krankenhaus ist in diesem Sinne keine Wiedergewinnung von Sprache im Allgemeinen, sondern eine Wiedergewinnung der Subjektposition, welche die Bedingung einer politisch relevanten Sprache ist. Die Stellen im Haupterzählstrang, wo die Protagonistin als Opfer und Mitzeugin extremer Gewalt die Situation reflektiert, weisen darauf hin, dass für sie diese Situationen nicht diskursiv unverfügbar sind, dass sie ihre Subjektivität nicht vollkommen zerstört haben. Sie suggerieren, dass sie sich entweder bereits während des traumatischen Geschehens des Traumas erwehrt, oder aber, dass sie in ihrem retrospektiven Bericht ihre Lagererfahrung für sich narrativ wiedergewinnt. Dank ihrer Fähigkeit, das für die Lagerinsassinnen und andere Mitflüchtlinge symbolisch unverfügbare Geschehen zu reflektieren, kann sie auch die Vergangenheit aufarbeiten und das bei der Vergewaltigung gezeugte Baby letztendlich annehmen. Die der Lagerliteratur entnommenen Motti des Romans sowie andere intertextuelle Bezüge lassen darauf schließen, dass in die Protagonistin S. das Wissen um den Holocaust und andere Totalitarismen eingeflossen ist. Die Hauptfigur wurde vor dem Hintergrund der europäischen kulturellen Erinnerung an den Holocaust und totalitaristische Gewalt modelliert. Während S. auf den narrativen Rahmen der durch das literarische Gedächtnis gelieferten Lagererfahrung zugreifen und so ihr Trauma aussprechen und bewältigen kann, droht den anderen Insassinnen der Verbleib in der isolierten Vereinzelung ihres Traumas. Auf diese Weise wird im Roman der Unterschied zwischen der 'aufgeklärten' Stadt und dem 'traditionell gesinnten' Dorf eine Differenz des kulturellen Gedächtnisses, die die Erinnerungsstrategien der Kriege entscheidend prägt. Das Aufgreifen der Themen und Verfahren der Holocaustliteratur zeugt von deren Relevanz für die Formierung des kollektiven Gedächtnisses und somit für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Auch die Problemstellung des Romans – ob die traumatische Vergangenheit in Freud

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und Leid vergessen werden oder ob sie im individuellen wie kollektiven Gedächtnis einen Platz finden soll – wird durch die intertextuellen Stellen bereits implizit beantwortet. Wenn es keine Holocaustliteratur gäbe, wäre es Drakuliü, die selbst das Lager nicht erlebt hat, auch nicht möglich, eine Protagonistin zu erdichten, die es nicht zulässt, dass ihr die Sprache und ihre Subjektivität vollkommen verweigert werden. Indem sie aus dem kollektiven Gedächtnis des Holocaust für das von ihr erlebte traumatische Geschehen den Symbolisierungsrahmen übernimmt, leistet sie Widerstand gegen das Vergessen des Leidens der Opfer. Drakuliüs Roman spricht, indem er von der Bewältigung des unsagbaren Traumas erzählt, zugleich von der Kraft des kulturellen Gedächtnisses, die Gewalt und den Krieg zu besiegen.

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POETIKEN DER IDENTITÄT UND ALTERITÄT. ZUR PROSA VON TERÉZIA MORA UND THOMAS MEINECKE ANDREA GEIER

Wenn in Thomas Meineckes Roman Tomboy (1998) Frauke Stöver von ihrer "wie sie befand, zwangsheterosexuelle[n] Freundin Vivian [Atkinson]"1 spricht, zeigt sich, das sie Judith Butlers Theorie der performativen Geschlechtsidentität nicht nur kennt, sondern als Folie für die Betrachtung ihrer sozialen Umwelt verwendet. In allen Romanen Meineckes bis Musik (2004) unterziehen die Figuren auf diese Weise die Alltagspraktiken der Gegenwart theoretisch inspirierten 'Lektüren' und fragen nach Mechanismen sozial-kultureller Grenzziehungen sowie Spielräumen für deren Subversion. Dass die an postmodernen und poststrukturalistischen Konzepten, an gender und postcolonial studies geschulten Blicke des Textpersonals stets zugleich auf Phänomene der Lebenswelt wie der Kunst gerichtet sind, ist ein Effekt der verhandelten Theorien: Wenn Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Ethnizität sowie deren Interdependenzen untersucht werden, ist die Kunst ein wichtiger Referenzpunkt historischer wie theoretischer Studien: Als ein Repräsentationssystem, das an historisch-kulturellen Wissensordnungen teilhat, diese aber nicht abbildet, sondern in ihren ästhetischen Ausdrucksformen legitimiert oder kritisch mitgestaltet und Deutungsangebote für gesellschaftliche Konflikte und Problemkomplexe zu entwickeln vermag. Dass die Kunst ein im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen zweifelsohne besonderes Potential zur kritischen bis subversiv wirksam werdenden Reflexion gesellschaftlich-sozialer Konstruktionsprozesse und zur Er1

Thomas Meinecke, Tomboy. Roman, Frankfurt a.M. 1998. – Butler: "Die Instituierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität erfordert und reguliert die Geschlechtsidentität als binäre Beziehung, in der sich der männliche Term vom weiblichen unterscheidet. Diese Differenzierung vollendet sich durch die Praktiken des heterosexuellen Begehrens." Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, übs. v. Kathrina Menke. Frankfurt a.M. 1991, S. 46. 123

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schaffung hybrider Räume besitzt,2 betont u.a. die disziplinär breit gefächerte Forschung über Identitätskonstruktionen. Homi K. Bhabha etwa schreibt im Zusammenhang seines Interesses für die Narrativität bzw. Textualität der Identität: Die postmoderne Perspektive betont nachdrücklich, daß die Frage der Identität niemals "außerhalb der Repräsentation" als psychologisches Problem der Persönlichkeit oder als ethisches Problem der personalen Einheit gesehen werden kann. Jegliche Kenntnis dessen, wie menschliche Identifikation vonstatten geht, hängt eng mit den Prozessen von "Schreiben und Differenz" zusammen: jener iterativen Zeitlichkeit des Signifikanten, die eine tiefe Ambivalenz im Spiel der Bedeutungen aufdeckt, so daß [...] die Wiederholung des Ausdrucks – "das wahre Ich" – im Moment des Aussprechens eine zentrale Unentschiedenheit artikulieren kann, welche einen Raum zwischen dem Selbst-Bewußtsein, und dem Hinterfragen der diskursiven und affektiven Bedingungen öffnet, unter denen die Einforderung der Selbstheit erfolgt.3

Den "diskursiven und affektiven Bedingungen" in der Konstruktion von Identität und, so ist zu ergänzen, von Alterität als dem stets komplementären Phänomen4 nachzuspüren, ist ein thematisches Interesse, das 2

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Eine Anfang der 90er Jahre – insbesondere in Teilen der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung – zunächst spürbare Überbetonung der subversiven Funktion von Kunst ist mittlerweile einer Hinwendung zu den Verflechtungen lebensweltlicher und ästhetischer Praxen gewichen. Homi K. Bhabha, "Die Frage der Identität", in: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, hg. v. Elisabeth Bronfen u.a., Tübingen 1997, S. 97-122, hier S. 103 f. Auch Foucault hat in seinem Selbstsorge-Konzept die Bedeutung der Schrift für die sogenannte "Existenzkunst" hervorgehoben. Siehe hierzu Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. v. Helmut Becker. Frankfurt a.M. 1985. – Anknüpfend an Bhabha hat etwa Herbert Uerlings hybride Äußerungen als eine "spezifische Möglichkeit der Literatur" bezeichnet und darauf hingewiesen, dass sich neben einem hegemonialen "strategischen Gebrauch von Fremdheit" in der Globalisierung insbesondere in der Politik von Minderheiten auch subversive Funktionalisierungen fänden, mit denen "die Alteritätsroutine ins Stottern" gebracht werden könne. Herbert Uerlings, "Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme, in: (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Axel Duncker, Bielefeld 2005, S. 17-44, hier S. 23. Identitäts- und Alteritätskonstruktionen sind stets aufeinander bezogen: Alterität wird in der Abgrenzung zum 'Eigenen' definiert, umgekehrt wird Identität über Differenzbildung konstruiert und stabilisiert. Die historischen Wandlungen und die Funktionalisierungen von 'Alteritäten' stehen im Zentrum der For124

INTERKULTURALITÄT UND GLOBALISIERUNG

Terézia Mora und Thomas Meinecke teilen. Mit und ohne Bezug auf entsprechende theoretische Überlegungen werden in den Prosatexten beider Autoren literarische Versuchsanordnungen entworfen: Der konzentrierte Blick auf Einzelschicksale in einer bestimmten sozialen Konstellation (Mora) und die Vertextung wissenschaftlicher wie populärer Identitäts-Diskurse (Meinecke) kreisen jeweils um die Mechanismen sozialer Zuschreibungen von 'Eigenem' und 'Anderem', um das Funktionieren kultureller Verabredungen über geschlechtliche und ethnische Identität, um die individuelle Akzeptanz und Aneignung von Normen und die Möglichkeiten, diese zu verschieben oder zu überschreiten. Dass eine vergleichbare Thematik mit sehr heterogenen Schreibweisen bearbeitet wird, macht den Vergleich der Werke bereits interessant. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist den differenten narrativen Verfahren aber darüber hinaus gemeinsam, dass sie als immanente poetologische Reflexionen der verhandelten Thematik lesbar sind, kurz: als Poetiken der Identität und Alterität.

Terézia Moras Variationen über Fremdheitserfahrungen In ihrem Erzähldebüt Seltsame Materie (1999) entwirft Terézia Mora, die 1971 in Sopron als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit Ungarns geboren wurde und seit 1990 in Berlin lebt, Szenarien der Selbstbehauptung und des Überlebens, in denen die konstitutive Bedeutung von Fremdbildern für das Selbstverständnis der Figuren sichtbar wird: Und dann kalt und schwarz: das Wasser schlägt zusammen über meinem Gesicht. Ich habe dich gewarnt, sagt der Krankenschwestersohn. Meine Teerfüße treten das Wasser, ich winde mich an der Oberfläche, zehn Zentimeter Wasser nur über mir, aber für eine Ratte reicht’s. Ich höre, wie die Luftblasen nach oben brechen und zertreten werden von mir, von den Jungs.5

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schung über Interkulturalität wie des (Post-)Kolonialismus. Siehe hierzu beispielsweise die Bände Die Fiktion des Fremden. Erkundungen kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik, hg. v. Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1994; Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, hg. v. Alexander Hunold/Oliver Simons, Tübingen/Basel 2002; Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, hg. v. Graduiertenkolleg Identität und Differenz, Köln u.a. 2005. Terézia Mora, Seltsame Materie. Erzählungen, Reinbek 1999, S. 127 f. 125

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Dass die Protagonistin aus Der Fall Ophelia an sich selbst als "Ratte" denkt, die ertrinken wird, geht auf eine frühere Begegnung zurück: "Eine Pfütze voll Wasser reicht für eine Ratte aus, hat der Junge, mein Feind, gesagt."6 Diese Drohung hatte er demonstrativ unterstrichen, indem er eine Maus ertränkte. Scheinbar nüchtern übernimmt das Mädchen nun, als es angegriffen wird, die diffamierende Zuschreibung "Ratte", die den Hass des Jungen ausdrückte. In diese Weise führen alle zehn Erzählungen des besagten Bandes konfliktbeladene bis offen gewaltsame soziale Interaktionen vor. In einer dezidiert lakonischen Erzählhaltung zeigen sie, wie das Selbst-Bewusstsein der Figuren vom Wissen oder nur der Vermutung darüber, wie sie von anderen wahrgenommen werden, beeinflusst wird. Der Fall Ophelia führt die Vorurteile der Außenwelt vor: In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist. Wer bei meiner Mutter in die Privatstunde geht, lernt die Sprache des Feinds. Die muß man doch als erstes wissen, sagt meine Mutter. Und: mach dir nichts daraus. Wir sind die einzige fremde Familie im Dorf, wenn man das eine Familie nennen kann, diese drei Generationen Frauen, und alle geschieden, erzählt man sich, kommen hierher, Kommunisten wahrscheinlich, christlich auf keinen Fall. Sprechen fremd und beten nicht. Man dreht sich zu uns um und ist ganz still.7

Das vorurteilsbeladene Bild der Außenwelt ("wahrscheinlich") wird hier nicht durch ein Selbstbild korrigiert. Während in der Haltung der Mutter Distanz zum Ausdruck kommt – "mach dir nichts daraus" –, ist eine Abgrenzung für die Heranwachsende schwieriger. Dies fokussiert auch die Erzählung Durst, wenn sich die Protagonistin mit einer Zuschreibung durch Dritte zu identifizieren beginnt. Charakteristisch für Moras Darstellung ist, dass die Rede der Anderen nicht als zitierte Rede markiert wird: "Bist du wirr im Kopf? Meine Gedanken sind zu schnell. Ich komme mit dem Aufschreiben kaum hinterher. Möglicherweise bin ich tatsächlich wirr im Kopf."8 Die Fremdbilder sind in der Figurenrede immer schon 'aufgehoben', weil die Protagonist/innen Mühe haben, sich von den an sie herangetragenen Zuschreibungen abzugrenzen, selbst wenn sie diese als falsch erkannt haben. Nur vereinzelt finden sich 'eigensinnige', d.h. mit eigenem Sinn versehene, und spielerische Übernahmen.

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Mora, Seltsame Materie, S. 125. Mora, Seltsame Materie, S. 117. Mora, Seltsame Materie, S. 216. 126

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Die zehn Erzählungen siedeln sich im ungarischen Grenzgebiet zu Österreich an, in einem bäuerlich-dörflichen, religiösen und anti-intellektuell geprägten sozialen Raum in Osteuropa in Zeiten der Diktatur (zwischen 1945 und 1990), der, wie Mora es selbst genannt hat, durch eine umfassende "Lebensarmut" charakterisiert ist.9 Die jugendlichen, überwiegend weiblichen und zumeist namenlos bleibenden Protagonisten fühlen sich in ihrer Heimat als Fremde oder werden als solche behandelt – weil sie Angehörige der deutschsprachigen Minderheit sind, weil sie Fähigkeiten besitzen, die sie von ihrem sozialen Umfeld unterscheiden10 oder weil sie offen ein Leben jenseits der Vorstellungen, die im sozialen Nahraum akzeptiert sind, erstreben. Konfrontiert mit Gewaltstrukturen und Gewalttaten in einer bildungs- und kunstfeindlichen Atmosphäre – in Durst heißt es: "Was denkst du soviel nach, fragte Großmutter, nur Idioten denken soviel."11 –, versuchen sie, die Landesgrenzen zu überwinden oder sich zumindest ein Stückweit aus den sie einengenden Denk- und Handlungsräumen zu entfernen. Der Titel Seltsame Materie, ein Begriff aus der Physik, ist, auf die Literatur übertragen, ein Bild für die modrig-feuchte, dunkle und unsichere Landschaft in diesem nationalen wie sozialen Grenzraum, aber vor allem für die Methode der Darstellung.12 Denn die "zehn Variationen auf ein Thema"13 spielen 9

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Diese Beschreibung stammt aus Moras Tübinger Poetikvorlesung Die Dichterin in ihrer Zeit. Eine Annäherung, die sie anlässlich der Poetikdozentur am 23.11.2006 gehalten hat. Für die Überlassung eines Mitschnitts danke ich stellvertretend für das Organisationsteam Dorothee Kimmich. Als Abweichung werden bereits einfache Fähigkeiten wie Schwimmen (in der Erzählung Der Fall Ophelia), Singen und Schauspielern (in der Titelgeschichte Seltsame Materie) oder das Verfassen von Gedichten (in Durst) angesehen. Die Protagonist/innen erleben, dass denen, die anders sind, nur der Ausbruch bleibt oder aber der verzweifelte Rückzug in Räume, in denen sie verachtet, aber nicht bekämpft werden, wie etwa die Verrücktheit. Mora, Seltsame Materie, S. 213. Auf den Titel stieß Mora, als sie bei der Suche nach einer Tabelle des Periodensystems, das in der Titelgeschichte Seltsame Materie ein eher kurioses Motiv darstellt – der geistig zurückgebliebene Bruder der Protagonistin singt es – auf einen wissenschaftlichen Artikel stieß, in dem die Neuentstehung von Elementarteilchen aus instabiler Materie erklärt wurde. Wie Mora erklärt, ist für sie weniger die genaue Funktionsweise beispielsweise etwa des QuarkGluon-Plasmas von Bedeutung als die Vorstellung, was der Vorgang der Entstehung neuer Teilchen aus instabiler Materie bedeute, "wenn sie Literatur ist". Mora, Die Dichterin. Mora, Die Dichterin. Mora erklärt außerdem, sie habe die zehn Erzählungen ausgehend von Durst "aufeinander zu geschrieben" (ebd.); die Kompositionstechnik des Bandes wie etwa den spiegelbildlichen Rahmen habe ich an ande127

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Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten durch, deren Ursachen nicht erörtert werden. Zwischen Scheitern und der Aussicht auf eine teuer erkaufte Freiheit (beispielsweise durch den Wechsel von der Opferin die Täterrolle in Das Schloß) liegen keineswegs klare, kausal durch situative Umstände hergeleitete oder gar durch Figurenpsychologie erklärte Differenzen. Die soziale Landschaft, in der sich die Figuren bewegen, gleicht einer experimentellen Anordnung, an der Zustandsveränderungen beobachtbar sind. Dem korrespondiert die lakonisch-distanzierte Erzählhaltung: Den Erzähler/innen ist eine Art ethnologischer Blick auf ihr Umfeld eigen, welches auch noch die eigene Person einbezieht:14 Sie zeigen keine Empörung oder Wut, und selbst wenn sie unmittelbar von Gewalt betroffen sind, wirken sie durch ihre distanzierte Beschreibung eher als Zeugen denn als Opfer.15 Dies spiegelt, dass sie in bedrückenden Verhältnissen sozialisiert wurden, in denen latente und offene Gewalt als 'Normalität' empfunden wird.16 rer Stelle ausführlich beschrieben: Andrea Geier, "Niemand, den ich kenne, hat Träume wie ich". Terézia Moras Poetik der Alterität, in: Zwischen Inszenierung und Botschaft, hg. v. Ilse Nagelschmidt u.a., Berlin 2006, S. 153-177. 14 Katja Stopka erklärt: "die Landstriche wie die Menschen – seien es Familienangehörige oder Nachbarn – [werden] mit einer Schonungslosigkeit als Fremde betrachtet, die jeder Vorstellung von Geborgenheit und Vertrautheit den Garaus machen: eine 'seltsame Materie', der nur wenig Tröstendes zugebilligt wird." Katja Stopka, "Aus nächster Nähe so fern. Zu den Erzählungen von Terézia Mora und Judith Hermann", in: bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht, hg. v. Matthias Harzer, Würzburg 2001, S. 147-166, hier S. 152. 15 Das Schloß ist eine der wenigen Erzählungen aus Seltsame Materie, in denen die interne Fokalisierung auch dazu führt, dass Gedanken und Motivationen einer Figur sichtbar werden. Auf Grund der Einblicke in die Innenwelt der Figur wirkt die Lakonik um so eindringlicher. Laura Tráser-Vas hat dies als "'Weniger-ist-mehr'-Ästhetik" bezeichnet, die es den Lesern oft erst am Schluss erlaube, aus "knappen, präzisen Sätzen und bildhaften Visionen [...] ein stimmiges Bild zusammenfügen [zu] können." Laura Tráser-Vas, "Terézia Moras Seltsame Materie. Immigrantenliteratur oder Minderheitenliteratur?", in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 15 (2004) (http://www.inst.at/trans/15Nr/05_08/traser15.htm; 22.02.2006), S. 4. 16 Die Darstellung von Fremdheit und Gewalterfahrungen dominiert den Text. Auch wenn die detaillierte Beschreibung der bäuerlich-dörflichen Gemeinschaft mit ihrer genauen Betrachtung der Körper wie der Gerüche und Empfindungen einen eigenen Reiz entfaltet, ist der Blick doch nie sehnsüchtigverklärt. Dagegen kritisierte etwa Gabrielle Killer eine Romantisierung des 'archaischen' Raumes; Gabrielle Killer, "Die Bachmann-Preisträgerin Terézia Mora schreibt die hässliche Welt schön", in: Die Zeit Nr. 39 vom 16.09.1999. 128

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Dass die Protagonist/innen (als homodiegetische Erzählinstanzen) selbst ihre Lebensgeschichten und eine bis dahin stumm erlittene Gewalt zur Sprache bringen, ist ein Akt der Selbstbehauptung. Es verstößt auf eine selbstverständlich erscheinende Weise gegen das Verbot "Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts von hier"17, mit dem die Titelerzählung paradigmatisch beginnt, und folgt der in der gleichen Geschichte enthaltenen, ebenfalls poetologisch lesbaren 'Anweisung' für die lakonische Erzählhaltung: "Sag es einfach. Wort für Wort. Lege kein Pathos hinein. Schluchze nicht. Schmelze nicht. Sag es einfach. Wort für Wort."18 Auf diese Weise wird das Erzählen selbst zum Hoffnungszeichen gegen die allzu oft übermächtig wirkenden Zuschreibungen von außen. Wie Seltsame Materie lenkt auch der Roman Alle Tage die Aufmerksamkeit der Leser/innen auf das Erzählen, um die gegenseitige Konstitution von Fremd- und Selbstbildern erfahrbar zu machen. Die Geschichte des Sprachengenies Abel Nema, der als 19jähriger vor dem Bürgerkrieg in der Heimat flüchtete und durch die Veränderungen der politischen Landkarte der 90er Jahre auf dem Balkan staatenlos wurde, wird von einer Vielzahl von Stimmen erzählt, die unterschiedliche Bilder Nemas entwerfen. Vielen erscheint Nema als 'Barbar' – ein Mensch, der eine andere bzw. in diesem Fall viele fremde Sprache spricht19 –, der ihnen fremd bleibt, weil seine Vielsprachigkeit abstrakt bleibt. Seine Unfähigkeit, Kommunikation zu einer mehr als technischen, nämlich sozialen Verständigung zu nutzen, korrespondiert mit sozialer Distanz und wird

17 Mora, Seltsame Materie, S. 9. 18 Mora, Seltsame Materie, S. 19. 19 "Nema, der Stumme, verwandt dem slawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren." Mora, Alle Tage, S. 14. – Für Abel Nemas Geschichte ist die Verknüpfung von territorialer Fremdheit und sozialer Devianz konstitutiv. Dass er nicht nur ein Fremder ist, sondern anderen fremd bleibt, wird auf eine ambivalent konnotierte neuro-physiologische Störung zurückgeführt: Durch ausströmendes Gas in einer Wohnung schon fast tot, hat er nach dreitägigem Fieberschlaf plötzlich ein neues Talent für Sprachen, das er zielstrebig an der Universität in B. weiterentwickelt: Er arbeitet zeitweise an einer Doktorarbeit über Universalgrammatik und wird ein "Zehnsprachenübersetzer", für den sich Neurolinguisten interessieren. Terézia Mora, Alle Tage. Roman, München 2004, S. 32. Seit dem Unfall ist Abel Nema jedoch traumatisiert: Er leidet an zahlreichen Störungen (des Geschmacks-, Geruchs- und Gehörsinns, auch der Orientierung) und hat bis zur Ohnmacht sich steigernde Panikattacken. Mora, Alle Tage, S. 120. 129

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so zum Zeichen seiner prekären Existenz als staatenloser Bürgerkriegsflüchtling. Das multiperspektivische Erzählen nimmt das zentrale Thema des Romans, die Konstruktion von Differenz und die Erfahrung von 'Fremdheit', im Prinzip schneller, nicht markierter Wechsel von Erzählstimmen auf: Die homodiegetischen Erzählinstanzen aus Abel Nemas Leben sind dabei in die Erzählung eines heterodiegetischen Erzählers integriert.20 Das Montageverfahren bewirkt, dass den Leser/innen Selbst- und Fremdbilder verschiedener Figuren und deren teils einander ergänzende, teils sich gegenseitig korrigierende Sicht auf Abel Nemas Leben inklusive der des Protagonisten selbst vermittelt werden. Da der heterodiegetische Erzähler vielfach auf seine privilegierte Übersicht verzichtet (der Fokalisierungstyp wechselt hier zwischen Übersicht und Mitsicht) werden die Geschehnisse an keiner Stelle letztendlich geordnete oder 'aufgeklärt'. Wie in Seltsame Materie wird jedoch auch in Alle Tage das Erzählen zum Medium der Selbstvergewisserung einer Figur: Im Kapitel "Zentrum. Delirium" tritt Nema als einzige Erzählstimme auf. Die exponierte Stellung dieses Kapitels entspricht der Bedeutung des erzählten Geschehens: Abels Monolog leitet die Heilung (d.h. eine Befreiung von der Traumatisierung) ein und bildet das – nur kurze Zeit dauernde – Zu-sich-selbstKommen des Protagonisten ab. Die narrativen Verfahren der behandelten Prosatexte Moras sind komplementär angelegt. Auf unterschiedliche Weise setzen sie jeweils die soziale Konstruktion von Differenzen und die konstitutive Funktion von Fremdbildern für das Selbst-Bewusstsein der Figuren im Erzählen um. Die Erzählverfahren rücken das Erzählte in Distanz, schaffen den Leser/innen aber gleichzeitig Möglichkeiten zur Empathie mit den Figuren.

Meineckes Text-Körper und Körper-Texte Im Unterschied zu Mora entwickelt Meinecke Fragestellungen zu Identitätskonstruktionen und insbesondere zum Verhältnis von Erleben und Konstruktivität anhand eines Mixes von wissenschaftlichen und populären Diskurselementen. Nach The Church of John F. Kennedy (1996), dem Roman einer Amerikareise, der bereits Selbst- und Fremdbildern nachspürt, konzentriert sich Meinecke in Tomboy (1998), Hellblau (2001), Musik (2004) und dem jüngsten Erzählband Feldforschung 20 Explizite Markierungen der Übergänge zwischen den Erzählstimmen fehlen, so dass sich die Ich-Erzähler/innen vielfach nur durch den Kontext identifizieren lassen. Erst im Verlauf einer Passage wird deutlich, welcher Stimme das Erzählte zuzuordnen ist. 130

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(2006) auf den Zusammenhang von geschlechtlichen und ethnischen Zuschreibungen und empfundenen Zugehörigkeiten. Einzelne Stichworte oder Paraphrasen aus Lektüren aus Theorietexten ebenso wie aus Musikoder Mode-Zeitschriften setzen in den Romanen des 1955 geborenen Autors assoziative Verweisketten in Gang. Immer weitere Lektüren werden aufgerufen und zueinander in teils naheliegende, teils überraschende, teils absurd erscheinende Verbindung gesetzt: Differenz, nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1816 an die Heidelberger Universität berufen: Ein Unterschied, der gleichzeitig verbindet und unterscheidet, also bindet. Vivian Atkinsons Lieblingsstelle in [Judith Butlers] One Girls’s Story, Überlegungen zu Deutschland: Kann es einen Gedanken der Differenz geben, der nicht wieder zum Gedanken der Identität zurückkehrt?21

Dass die Figur Vivian im Nachdenken über Identität auf Hegel stößt, ist weniger durch das Interesse für dessen Philosophie als durch die feministische Philosophin Judith Butler vermittelt, die sich mehrfach mit Hegel beschäftigt hat. Der zentrale Effekt einer solchen Vertextungsarbeit, die der Musiker und DJ Meinecke selbst mit dem sampling verglichen hat,22 ist, dass Kommunikations- und Lektüre-'Wege' den Fortgang des Erzählens bestimmen. Im Briefroman Hellblau (2001) und in Musik (2004) wird dieses Verfahren noch deutlicher zum Thema der Texte, insofern nicht mehr nur einzelne Figuren an Dissertationen o.ä.. arbeiten, sondern mehrere Figuren ein gemeinsames Publikationsprojekt verfolgen, dazu Material austauschen und die eigenen Lektüreeindrücke für ihre fiktionsinternen Kommunikationspartner aufarbeiten. Die Romane führen die Figuren als selbstreflexive Medien vor, die auf der Basis ihrer Lektüren von Michel Foucault, Luce Irigaray, Jaques Lacan, Donna Haraway, Judith Butler und vielen anderen über Prozesse der Identitätskonstruktion nachdenken. Die Texte handeln also nicht von der Identitätsfindung ihrer Figuren, sondern diese vermitteln als Leser/innen Lektüren, die sich mit der Kritik an essentialistischen Auffassungen von Körperlichkeit und geschlechtlicher wie ethnischer Identität 21 Meinecke, Tomboy, S. 84. 22 Eckhard Schumacher fasst das Verfahren zusammen: "Aufzählen und Erzählen sind nicht mehr eindeutig zu unterscheiden, sie bedingen sich vielmehr gegenseitig, gehen in der Aneinanderreihung von Protokollen, Zitaten, Transkriptionen oder Wortkatalogen ineinander über und lassen so einen Text entstehen, der im Medium der Schrift genau die Effekte produzieren kann, die Thomas Meinecke dem Auflegen von Schallplatten, dem Ineinanderblenden von 'Records', der Arbeit der DJs zuschreibt"; Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, S. 191. 131

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sowie Fragen nach der Handlungsfähigkeit von Individuen zwischen der Affirmation und Subversion von kulturellen Normen beschäftigen: Yolanda beginnt die Beantwortung meines Schreibens mit zwei signifikanten Zitaten aus der öffentlichen Berichterstattung über eine afrikanisch-amerikanische Drag Queen namens Joan Jett Blakk, die sich 1991 um den Posten des Bürgermeisters von Chicago bewarb, und bewegt sich dann, über die so beiläufige wie virtuose Erledigung nach wie vor [!] heftig kursierender Begriffe wie Querness und Realness, auf meine Bemerkungen über Mae West zu. Ich läge nicht falsch, schreibt Yolanda, wenn ich in dem darstellenden Spiel dieser so souveränen wie komplizierten Komödiantin die quasi doppelte Travestie eines weißen Mannes, der eine schwarze Frau spielt, die eine weiße Frau spielt, zu erkennen glaubte. Oder auch, fügt sie hinzu, einer schwarzen Frau, die einen weißen Mann spielt, der eine weiße Frau spielt. Vertrackt.23 "Vertrackt" sind die einzelnen Fallbeispiele der Romane allerdings, in denen wie hier in Hellblau die Möglichkeiten von Subversion der Codierung von Geschlecht und Hautfarbe untersucht und nach Differenzen zwischen lebensweltlichen und künstlerischen Versuchen, Normen zu überschreiten, gefragt wird. Meinecke lässt seine Figuren über Konzepte wie Inszenierung, Verkleidung, Maskerade und geschlechtliche Attraktivität diskutieren und dabei immer wieder Alltag und Kunst mit Blick auf Handlungspraxen überblenden. Der Fokus auf die kulturelle Formung 'authentischer' Erfahrung und sozialer Praxen der Inszenierung von Identitätszugehörigkeiten führen ins Feld der Kunst und populären Unterhaltung, deren politische Implikationen herausgearbeitet werden. So referiert etwa Kandis in Musik die Geschichte der Ballade Strange Fruit (deren berühmteste Interpretin Billie Holliday war): [Leo] Katz behauptet, in fragwürdiger Dichotomie von Ernst versus Unterhaltung, bis dahin hätte jedwede schwarz-jüdische Kooperation lediglich Unterhaltungszwecken gedient; Strange Fruit sei aber ein Protest-Lied. Diese politische und kulturelle Reflexion sei ganz neu gewesen, und [der jüdische Lehrer Abel] Meerpol stehe heute als Vermittler zwischen der weißen Gesellschaft und der schwarzen Gemeinschaft da.24

Kunst kommt in Meineckes Romanen als eine ästhetisch-politische Praxis in den Blick, die Räume für das Ausagieren oder das Zurschaustellen herrschender Normen zu schaffen vermag. Im Zentrum stehen dabei immer wieder die geschlechtlichen und ethnischen Codierungen von

23 Thomas Meinecke, Hellblau. Roman, Frankfurt a.M. 2001, S. 168. 24 Thomas Meinecke, Musik. Roman, Frankfurt a.M. 2004, S. 16. 132

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Körperlichkeit. Schon die akademischen Schreibprojekte in Tomboy – Vivians Arbeit über Mode, anhand derer Zuschreibungen von geschlechtlicher Identität über Oberflächenphänomene sowie Körperinszenierungen im sozialen Raum erörtert werden, oder Frauke Stövers Dissertation über die Vorhaut Jesu, die für semantische Besetzungen von Körperlichkeit steht25 – beschäftigen sich mit dem emanzipativen Potential der Vorstellung, dass Körper diskursive Konstrukte sind, und dass das Körpererleben, die Bedeutungen, die man ihm zuschreibt, die Art, wie man seinen Körper 'hat' und wie man über ihn spricht, eine immer schon diskursiv geprägte und damit historisch variierende Rede und Praxis sind. Die Problematik nicht-essentialistischer Denkansätze wird den Figuren gerade auch mit Blick auf ihren eigenen Alltag bewusst, der sich dem dekonstruktiven Blick auf die Welt entzieht. Dafür stehen u.a. die Rekurse auf die auf Eindeutigkeit fixierten Identitätsnachweise: "Bei welcher Ausweiskontrolle würde Identität je als Effekt diskursiver Praktiken durchgehen?"26 Oder Vivians Überlegung anlässlich von Korinnas Schwangerschaft: "Würden sich ihre dekonstruktiven Erkenntnisse zur Leibeserfahrung unter der biologischen Erfahrung einer Mutterschaft halten lassen?"27 Dass die Figuren der erzählten Welten zum Testfall der von ihnen rezipierten Theorien werden, ist, wie sich in Vivians Frage in Tomboy andeutet, ein weiteres zentrales Moment in Meineckes Schreibverfahren. Die Romanfiguren fungieren als exemplarische Medien derjenigen Identitätskonstrukte, deren diskursive Verfasstheit Gegenstand der intensiven Debatten in den überwiegend akademisch gebildeten Freundeskreisen ist. Die Konstruktivität, die inhaltlich thematisiert wird, rückt für die Leser/innen der Romane somit auf der Ebene der Figuren, den "Kopisten und Trägern des Diskurses",28 nochmals in den Blick: Diese sind seitens des Autors "Zuschreibungsorgien" ausgesetzt, über die sie in ihren wissen-

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Meinecke, Tomboy, S. 12. Meinecke, Tomboy, S. 219. Meinecke, Tomboy, S. 117. Moritz Baßler knüpft an diese gute Beschreibung die Beobachtung, dass es Meinecke auf diese Weise gelinge, den Diskurs zu kopieren "ohne ihn – etwa in Form eines sei es engagierten, sei es parodierenden Autor-Subjekts – selbst zu führen." Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 154. Dies ist zweifelsohne zutreffend für die Form der Anspielungen und das stete Aufhäufen von Fragen, aber nicht für die Figurenkonzeption. Daher ist für Meineckes Texte eine Konfrontation von Theorie und Lebenswelt charakteristisch – sei es im Nachdenken der Figuren oder an diesen selbst – , weniger die Funktion der "Archivierung", die Baßler in den Mittelpunkt der Pop-Literatur rückt. 133

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schaftlichen Arbeiten und im Alltag nachdenken.29 Die Beschreibung der Kleidung in Tomboy – Kleid, Wickelrock, Tunika, Jeans, Dirndl etc. – lässt sich auf Vivians Magisterarbeitsthema "Von der Tracht zur Mode; zweihundert Jahre Geschlechterpolarität"30 beziehen und wird mehrfach zwischen den Figuren mit Blick auf theoretische Texte zum Gesprächsthema. Im Mittelpunkt der inszenierten Überblendungen stehen in Tomboy Körperlichkeit und Sexualität: Die Nebenfigur Angela/Angelo, die sich als perfekte Frau mit einem Penis betrachtet und mit einer Lesbierin zusammenlebt, verkörpert am offensichtlichsten eine Transgression geschlechtlicher Normen und ist zugleich der personifizierte Beweis, dass Momente der Überschreitung mit affirmativen Gesten Hand in Hand gehen können.31 Während sich Viviens Freundeskreis darüber streitet, ob Angelo/as Verlobung mit Frauke "als homo-, hetero- oder gar zwangssexuell zu klassifizieren sei", behauptet er/sie eine authentische, natürliche Empfindung seines/ihres Geschlechts und 'Weiblichkeit' und entzieht sich der dekonstruktivistischen Lektüren der eigenen Person: "Angela Guida wollte selbst auf der Autobahn noch nicht einsehen, dass ihre allseits als perfekt empfundene, feminine Gender Improvisation als parodistische Wiederholung diskursiver Bezeichnungspraxen des Geschlechtlichen zu bewerten seien."32 Der Umgang Meineckes mit dem zitierten bzw. verwendeten Material, die kurzen Anspielungen auf Theorien und Konzepte sowie die schnellen assoziativen Wechsel zwischen Referenztexten und zugehö29 Diese Technik der "Zuschreibungsorgien", die ironische Effekte hat, dient laut Meinecke dazu, sich selbst gegenüber, aber vor allem den Leser/innen gegenüber bewusst zu halten, dass "ich auch einer bin, der die ganze Zeit konstruiert." Thomas Meinecke, "Ich muß nicht schreiben, um nicht verrückt zu werden", in: Daniel Lenz/Eric Pütz, LebensBeschreibungen. Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern, München 2000, S. 145-155, hier S. 150. 30 Thomas Meinecke, "Ich muß nicht schreiben", S. 25 f. 31 Dazu gehört eine scheinbar perfekte Inszenierung von Weiblichkeit, die als subversiv von Nicht-Wissenden gar nicht erkannt wird, sowie der Umstand, dass Angelo/a eine hingebungsvolle Leserin von Frauenzeitschriften und gläubige Katholikin ist. Letztlich wird sie über eine irrwitzig anmutende Lektüreassoziation von Vivien in das Lektürespiel der Gruppe integriert – bezeichnenderweise betrifft diese das Motiv des Spiegels, eine der zentralen Metaphern der feministischen Theorie für die abgeleitete Existenz von Frauen in der abendländischen Kultur – "die reale Frau [...] kann gar nicht exakt repräsentiert werden, weil ihre Funktion ja diejenige ist, den Mann zu repräsentieren" (Meinecke, Tomboy, S. 56) –, das in Tomboy mehrfach für Fragen von Selbst- und Fremdbild, die Möglichkeit sich selbst im Blick der Anderen zu erkennen und dem Verhältnis von Oberfläche und Innerlichkeit steht. 32 Meinecke, Tomboy, S. 90. 134

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rigen Theoretiker/innen machen deutlich, dass es darum geht, sich hinsichtlich der Frage, wie geschlechtliche oder ethnische Identitäten entstehen bzw. verändert werden können,33 von Theorien anregen zu lassen. So kurios die assoziativen Verweisketten auch anmuten, so wenig wird das Erkenntnispotential der herangezogenen Theorien in Zweifel gezogen, und das Ziel der Erörterungen ist es auch nicht, gegensätzliche Standpunkte gegeneinander abzuwägen, ein abschließendes Urteil darüber zu fällen oder gar, das Denken der Postmoderne, des Poststrukturalismus oder der Dekonstruktion im 'Praxistest' lächerlich zu machen.34 Der spielerische Zugriff auf diese Diskurse vermittelt Vergnügen am intellektuellen Austausch und an der Beschäftigung mit Theorien, und dies spiegelt sich nochmals in der Konzeption der Figuren, die von den Leser/innen bei ihrer Betrachtung und Analyse der unterschiedlichsten Gegenwartsphänomene begleitet werden. Gerade die Offenheit und Unabgeschlossenheit in der Behandlung der Identitäts-Thematik und –Theorien ist daher einem aufklärerischen, aber nie belehrend-dogmatischen Impuls zuzurechnen, insofern sie die Rezipient/innen zum eigenständigen Nachdenken über die Gegenwart wie deren durch theoretische Ansätze inspirierten Lektüren anregen kann.35

33 Interessiert an und belesen in (post-)feministischen Diskursen unterschiedlichster Couleur verfolgen Meineckes Figuren grundsätzliche Fragen der Geschlechtertheorie wie die, wann einzelne Überschreitungen von Geschlechternormen als subversive Akte bezeichnet werden können – wenn sie als ironische oder parodistische Wiederholung von 'Weiblichkeit', die deren diskursive Formung sichtbar macht, intendiert sind, oder nur, wenn sie auch als solche von anderen erkannt werden? 34 Baßler betont mehrfach zu Recht, dass Meinecke den Geschlechterdiskurs nicht ridikülisiert, aber den Effekt einer "verhaltenen Komik" bewirkt; Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 140. 35 Auch wenn Quellen ineinander fließen, sind zentrale Referenztexte für die Leser/innen identifizierbar, und Meinecke scheint die Leser/innen auch in die Lage versetzen zu wollen, an den Diskursen teilzunehmen, wenn etwa bei weniger bekannten Aufsätzen sogar deren Publikationsorte mitgenannt werden: "Ich finde diese bezeichnende Stelle", heißt es in Hellblau, "in Paul Gilroys Aufsatz über Cultural Studies und ethnischen Absolutismus in einer Ausgabe der Halbjahresschrift für Politik und Verbrechen, Die Beute, zitiert; wenige Seiten, bevor ich abermals auf mein Drexciya-Motiv stoße". Meinecke, Hellblau, S. 13. 135

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Narrative Reflexionen: Meineckes und Moras Poetiken Mora wie Meinecke lassen in ihren Texten eine Art soziale Topographie der Gegenwart entstehen: Meineckes Versuchsanordnungen fokussieren eher das Nachdenken über Identitätskonstrukte im postmodernen Mix von Theorien vor dem Hintergrund von Alltags- und popkulturellen Phänomenen, Moras Konfliktkonstellationen konzentrieren sich stärker auf die Alteritätskonstruktionen anhand einzelner Lebensschicksale und der Erfahrung von Fremdheit in Form von Exil und innerer Fremde in der Heimat. Ausgehend von der gegenseitigen Konstitution von Identität und Alterität führen beide Autoren vor Augen, wie in der alltagspraktischen und/oder theoretischen Konstruktion das geschlechtlich oder ethnisch bestimmte 'Eigene' in Abhängigkeit vom 'Anderen' entsteht bzw. in einer wertend-hierarchischen Unterscheidung aufgehoben wird. So unterschiedlich die Szenarien sind – konkrete Interaktionen im sozialen Nahraum (Mora) und Lektüren postmoderner Subjekttheorien, die an Beispielen aus Alltag und Kunst auf den Prüfstand geschickt werden (Meinecke) –, so verschieden sind auch die Schreibweisen beider: Während der Pop-Autor Meinecke Diskurse der Gegenwart vertextet und dabei insbesondere Theorien über Identität und Subjektivität verarbeitet, finden sich bei Mora Reflexionen über die gegenseitige Konstruktion von Identität und Alterität, die ohne Hinweise auf Überlegungen der Interkulturalitäts- oder (Post-)Kolonialismusforschung auskommen, vor deren Hintergrund sie jedoch beschreibbar sind. Damit stehen Mora und Meinecke für zwei unterschiedliche Positionen des Verhältnisses von Theorie und Literatur: Im Nachdenken über soziokulturelle Konstruktionsprozesse lassen sich gleichzeitige Entwicklungstendenzen ebenso wie direkte Bezugnahmen der Kunst auf theoretische Überlegungen feststellen.36 Betont man vor diesem Hintergrund nicht allein die Heterogenität der Schreibweisen, sondern dass beide als werkimmanente poetologische Verfahren der verhandelten Identitäts-/Alteritäts-Thematik zu betrachten sind, verweist dies zum einen auf das spezifische Erkenntnispotential literarischer Texte. Zum anderen führt es vor Augen, dass das Interesse für Prozesse der Identitätskonstruktion und für eine Reflexion über Authentizität – eine wichtige Tendenz in der Lite36 Diese beiden Pole diagnostizierte Sigrid Weigel auch hinsichtlich der engen Verbindungen zwischen "literarische[n] und theoretische[n] Tendenzen" über die Verhandlungen von 'Geschlecht' in der deutschsprachigen Literatur seit den 80er Jahren, Sigrid Weigel, "'Frauenliteratur' – Literatur von Frauen", in: Gegenwartsliteratur seit 1968, hg. v. ders. u. Klaus Briegleb, München/Wien 1992, S. 245–267, hier S. 252. 136

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ratur der letzten eineinhalb Jahrzehnte – nicht auf die sogenannte PopLiteratur oder das postmoderne Schreiben begrenzt ist. Weder von Moras lakonischem Erzählstil noch von Meineckes Theorie-Sampling führt ein Weg zurück in die siebziger Jahre, in die Verständigungsliteratur der 'Neuen Subjektivität' und 'Innerlichkeit', deren Texte sich aus einer Innensicht der Figuren an Sozialisationserfahrungen und -leiden abarbeiteten. Umgekehrt distanzieren sich beide Autoren nicht nur von einer Ästhetik der Einfühlung und einem auf Identifikation zielenden Schreibverfahren, sondern auch von allzu simplifizierenden Postulaten der Postmoderne: Sie verfallen keiner euphorischen Konstruktivitätsverheißung, welche die Qualität und Bedeutung individuellen Erlebens suspendierte.37 Moras und Meineckes Texten ist vielmehr das Wissen eingeschrieben, dass (authentisches) Erleben selbst Effekt von Konstruktionsprozessen ist38 – ein Wissen, das beide in den narrativen Verfahren ihrer Texte auf vielfältige Weise spiegeln.

37 So definiert etwa Nikolaus Förster in seiner Arbeit über die Wiederkehr des Erzählens das postmoderne Schreiben als Abkehr vom Authentizitätspostulat, vom Originalitätsdenken und Denken der Identität, Intertextualität, vor allem als spielerischer Umgang mit der Tradition, Vielfachkodierung, Mischung von Hoch- und Alltagskultur u.a.m. und erklärt: "Die Texte der Wiederkehr des Erzählens lassen sich u.a. dadurch charakterisieren, dass sie sich bewußt von jeglicher Authentizität lösen und stattdessen ihren fiktionalen Charakter zur Schau stellen." Nikolaus Förster, Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der achtziger und neunziger Jahre, Darmstadt 1999, S. 34. 38 Christine Kanz hat demgegenüber postuliert, dass die Literatur der siebziger Jahre der postmodernen Literatur "Impulse geben" könne. Während sich etwa bei Ingeborg Bachmann bereits ein Bewusstsein inszenierter Authentizität fände, sei "in zahlreichen literarischen Texten der letzten Jahre [...] das Vertrauen auf die 'Wahrheit' des Körpers wieder ungebrochen." Christine Kanz, Postmoderne Inszenierungen von Authentizität? Zur geschlechtsspezifischen Körperrhetorik der Gefühle in der Gegenwartsliteratur, in: Postmoderne Literatur in deutscher Sprache. Eine Ästhetik des Widerstands? hg. v. Henk Harber, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 123-153, hier S. 150. 137

INTERPRETEN DER GLOBALISIERUNG: DOLMETSCHERFIGUREN IN DEN BEIDEN GLEICHNAMIGEN ROMANEN THE INTERPRETER VON SUKI KIM UND SUZANNE GLASS EVA SCHOPOHL

In den zunehmend multikulturellen Gesellschaften der Jahrtausendwende werden DolmetscherInnen und ÜbersetzerInnen als Sprach- und Kulturmittler – obwohl öffentlich kaum wahrgenommen – zu Protagonisten. Das italienische Wortspiel Traduttore, traditore zeigt jedoch die Ambivalenz ihrer Rolle, da sie nicht nur als 'Brückenbauer', sondern auch als 'Sinnverdreher' oder 'Verräter' berüchtigt sind.1 DolmetscherInnen und ÜbersetzerInnen agieren in kulturellen Zwischenräumen und somit am Angelpunkt von Diskursen, die gerade in unserer globalisierten Welt um nationale und kulturelle Grenzziehungen und Identitätskonstitutionen geführt werden. Interkulturalität, Mehrsprachigkeit und die Vermittlerrolle bedeuten aber auch eine Problematisierung der personalen und kulturellen Identität der DolmetscherInnen und ÜbersetzerInnen selbst. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Diskurse richten infolge von Postmoderne und Dekonstruktion ihr Augenmerk verstärkt auf Phänomene der Differenz. Die Vorstellung von homogenen Nationalkulturen und somit von Modellen der völligen Assimilation alles Fremden oder des multikulturalistischen melting pot wird von Konzepten kultureller Hybridität, also einer prozessualen Konstituierung von Identität und Alterität, abgelöst.2 Als Figuren in zeitgenössischer Erzählliteratur treten Dolmetscherund ÜbersetzerInnen aus ihrer realen Unsichtbarkeit heraus und fungieren als Brennglas für die Verhandlung derartiger Problemkomplexe. The Interpreter – so der Titel von zwei in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts veröffentlichten Romanen, die jeweils eine Dolmetscherin als Protagonistin in den Mittelpunkt des Geschehens stellen. Die jungen 1 2

Wörtl.: 'Übersetzer, Verräter'. Zentral ist hier Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, übs. v. Michael Schiffmann u. Jürgen Freudl, Tübingen 2000. 139

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Autorinnen Suzanne Glass und Suki Kim nutzen dieses Motiv auf unterschiedliche Weise, um Fragen nach der Möglichkeit von Handlungsfähigkeit, Loyalität und moralischer Integrität der Dolmetscherinnen sowie nach Selbstverständnis und Identität der Figuren aufzuwerfen. Suki Kim, die in Seoul (Südkorea) geboren und aufgewachsen ist, kam im Alter von dreizehn Jahren nach New York. Sie studierte am Barnard College in New York sowie an der School of Oriental and African Studies in London. Die Autorin ist heute Mitte dreißig und lebt in Manhattan. The Interpreter (2003) ist ihr preisgekrönter Debütroman.3 Suzy Park, die Titel- und Hauptfigur des Romans, ist Tochter koreanischer Einwanderer in New York, wohin die Familie emigrierte als Suzy noch ein Kind war. Mit zwanzig Jahren brach Suzy das Studium der Ostasienwissenschaften ab und brannte mit ihrem Professor durch. Seit ihre Eltern an einem Novembermorgen in ihrem Obst- und Gemüseladen erschossen wurden, lebt Suzy vereinsamt in einer kahlen Wohnung mitten in New York. Fünf Jahre später, zum Zeitpunkt des Romangeschehens im November 2000, arbeitet die 29-Jährige als Gerichtsdolmetscherin für koreanische Einwanderer – der erste Job, den sie länger durchhält. Veranlasst durch einen zufälligen Hinweis beginnt Suzy mit gezielten Nachforschungen und deckt so den Mord an ihren Eltern auf. Dabei findet sie heraus, dass diese als Informanten für die US-Einwanderungsbehörde INS (Immigration and Naturalization Service) tätig waren und dort illegale koreanische Einwanderer denunzierten, wobei Suzys ältere Schwester Grace jahrelang für die Eltern dolmetschen musste. Die Aufdeckung der Familiengeschichte geht mit der Verhandlung von Suzys Identität einher. Die Schwierigkeit der Positionierung in dem von Machthierarchien und Kulturkonflikten geprägten Raum zwischen amerikanischer und koreanischer Kultur wird anhand von Suzys Arbeit als Gerichtsdolmetscherin deutlich. Ihre Zwischenposition fordert von ihr Unsichtbarkeit:4 "The interpreter, however, is the shadow. The key is to be invisible."5 Die von ihr verlangte Neutralität sieht Suzy anfangs als Vorteil: "Both sides need her desperately, but she, in fact, belongs to neither. One of the job requirements was no involvement: Shut up and

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www.sukikim.com/index.html, abgerufen am 30.11.2006 u. "Suki Kim '92. Exploring the immigrant experience in a first novel", in: www.barnard.edu /newnews/news021704.html, abgerufen am 30.11.2006. Das Postulat der Unsichtbarkeit erörtert in Bezug auf den Übersetzer ausführlich Lawrence Venuti, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London 1995. Kim, The Interpreter, New York 2003, S. 12. 140

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get the work done. That's fine with her."6 Die damit einhergehende Norm des wörtlichen Dolmetschens ist allerdings kaum zu erfüllen, vielmehr bedeutet Übersetzen eine komplexe und kreative Tätigkeit sowie kulturelle Vermittlung, wobei Suzy aufgrund ihrer Herkunft die kulturelle Kompetenz besitzt, die Aussagen der Koreaner richtig zu interpretieren. So schwindelt Suzy manchmal bewusst, was aber zunächst noch mit dem Wahrheitsanspruch vereinbar ist, denn "truth, she has learned, comes in different shades, different languages at times."7 Als Suzy bei einem Dolmetschauftrag zufällig an einen Bekannten ihrer Eltern gerät, kommt sie der Aufklärung von deren Ermordung näher, indem sie aus ihrer unsichtbaren, neutralen Rolle als Dolmetscherin heraustritt und falsch übersetzt. Statt die immergleichen Fragen des Anwalts zu dolmetschen, stellt sie dem zur Anhörung stehenden Koreaner eigene Fragen und wiederholt für den Anwalt die schon gegebenen Antworten. Suzy wird hier zur aktiv Handelnden, die sich nicht ins Abseits ihrer Zwischenposition fügt, sondern diese subversiv für ihre eigenen Zwecke nutzt. Suzy erkennt erst allmählich die Machthierarchie, die mit der Kulturdifferenz einhergeht und die Zwischenposition der Dolmetscherin zur Zwangslage macht: "The white prosecutors, the Korean store-owners, the Hispanic workers, and Suzy stuck in between with language as her only shield."8 Diese Machtverteilung betrifft nicht nur eine einzelne Dolmetschhandlung, sondern das ganze Einwanderungsland USA: "The power structure is pretty clear. Between those who get locked up and those who do the locking is a colored matter. There are no two ways about it."9 Suzys letzter Dolmetschauftrag findet ausgerechnet in der USEinwanderungsbehörde10 statt, wo eine Koreanerin befragt wird, die als straffällige Einwanderin abgeschoben werden soll, da sie mit einem Messer auf eine Einbrecherin in ihrem Laden eingestochen hat. Suzy begreift hier, dass sie die berufsethische Forderung nach Neutralität gegen ihren Willen zur Komplizin der Mächtigen, oder zumindest ihnen gegenüber machtlos, macht. In der Erinnerung an ihre Eltern, die als INS-Informanten genau solche Abschiebungsbefragungen provoziert haben, fühlt sich Suzy schuldig, als stünde sie auf der Seite der INS: Deportation had begun the minute she [the woman] stabbed that girl. She should've known better. Immigrants are not Americans. Permanent residency is never permanent. Anything can happen. A teenage thief

6 7 8 9 10

Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 94. Ebd., S. 87. "Returning to the scene of crime." (Ebd., S. 264.) 141

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on one unlucky night. A pair of INS informers eyeing your store. A secret murder that is not so secret anymore. And Suzy, sitting across from the INS attorney on the twelfth floor of the INS building, about to translate a deportation sentence for a Korean woman exactly her mother's age.11

Suzy wird klar, dass Dolmetschen in einem solchen interkulturellen Machtgefüge keine 'unschuldige' Angelegenheit ist. Weil sie als Dolmetscherin der Machthierarchie ausgeliefert ist und nicht für die schwächere Seite Partei ergreifen kann, wird ihr der Dolmetschberuf unmöglich: It is no longer possible. An interpreter cannot pick sides. Once she does, something slips, a certain fine cord that connects English to Korean and Korean to English without hesitation, or a hint of anger.12

Als Dolmetscherin sieht Suzy ihre Zwischenposition und die geforderte Neutralität zunächst als Vorteil an. Als sie erkennt, dass diese Position sie jedoch handlungsunfähig macht und sie selbst der Hierarchie unterworfen ist, befreit sie sich aus der Zwangslage, indem sie den Dolmetschberuf aufgibt. Suzys persönliche Identitätssuche bewegt sich jedoch insgesamt entlang ihrer kulturellen Zwischenposition als in den USA aufgewachsene Tochter koreanischer Einwanderer, aus der sie nicht einfach heraustreten kann. Ihre eigene Bikulturalität bedeutet für Suzy einen Identitätsverlust, das Schweben in einem kulturellen Niemandsland zwischen der koreanischen und der amerikanischen Kultur – wie beim Dolmetschen ist es ihr weder möglich, sich für eine Seite zu entscheiden, noch kann sie beide Kulturen zu einer Identität verbinden: Being bilingual, being multicultural should have brought two worlds into one heart, and yet for Suzy, it meant a persistent hollowness. It seems that she needed to love one culture to be able to love the other. Piling up cultural references led to no further identification. […] She was stuck in a vacuum where neither culture moved nor owned her.13

Suzy und ihre Schwester Grace können sich an die koreanische 'Heimat', die sie im Alter von fünf bzw. sechs Jahren verlassen haben, kaum noch erinnern, und die Vorfahren, auf die sich der Vater immer wieder beruft, sind für Suzy lediglich "a familiar word".14 Auch die koreanische Sprache lernt Suzy nur durch Zwang des Vaters, ein Gefühl von Heimat, wie 11 12 13 14

Ebd., S. 274. Ebd., S. 275. Ebd., S. 165-166. Ebd., S. 45. 142

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dieser es behauptet, vermittelt sie ihr nicht. Aber auch die amerikanische Kultur, ihre Bräuche, Medienereignisse und Symbole sind Suzy fremd.15 Die Abgrenzung der Immigrantensubkultur von der amerikanischen Mehrheitskultur äußert sich in der räumlichen Aufteilung der Stadt New York mit ihren verschiedenen Einwanderervierteln oder darin, dass die koreanischen Einwanderer von den US-Amerikanern als identische Masse wahrgenommen werden.16 Suzys Eltern, lange Zeit kaum des Englischen mächtig, folgen einer klaren Separationsstrategie und verlassen die Immigrantensubkultur nicht. Der Vater betreibt eine ständige Grenzziehung zwischen 'uns' und 'denen' und verbietet den Töchtern, sich wie amerikanische Mädchen zu schminken und vor allem, sich mit amerikanischen Jungs zu treffen.17 Die Abgrenzung gilt auch 'unreinen' Koreanern, 'Mischlingen', wie in der verächtlichen Bemerkung des Vaters über einen Mischlingshund deutlich wird: "See what happens when you mix blood? Even dogs turn out a mess, stupid and ugly!"18 Die koreanische Kultur wird dagegen als einziges Ideal und als verlorene Heimat beschworen: Everything always came to the same end. The reason was Korea. The final answer was Korea. […] But of course her parents had no intention of returning to Korea. It was an excuse, Suzy thought. Korea was a crutch. It was what they used to keep the girls on their own terms.19

Das Beschwören der koreanischen Nationalität durch die Eltern ist Tarnung und Ersatzleistung dafür, dass sie durch ihre Spitzeltätigkeit für die INS selbst Grenzziehungen innerhalb der koreanischen Einwanderergruppe betreiben. Sie nutzen mit den Denunziationen, mit denen sie sich selbst Legalität und materielle Vorteile verschafft haben, die Machtstruktur innerhalb der Immigrantengemeinde aus. In ihrer Rhetorik des 'reinen 15 "Yet American culture, as Suzy was shocked to discover upon leaving home, was also foreign to her. Thanksgiving dinners. Eggnogs. The Mary Tyler Moore Show. Monopoly. Dr. Seuss. JFK. Such loaded American symbols meant nothing to her. They brought back no dear memory, no pull of nostalgia." (Ebd., S. 165.) 16 "Americans love to say that all Koreans are named Kim, but Koreans do not look at it that way. To them, all Kims are not the same. In fact, there is often a world of class difference between two sects of Kim." (Ebd., S. 91-92.) 17 "He would say 'us' and 'them' as though there were always a line between the family and the rest of the world. The implication was clear. The guilt lay with 'white men,' as he never forgot to tell her: 'Don't ever trust them, don't you ever let them touch you.'" (Ebd., S. 82.) 18 Ebd., S. 53. 19 Ebd., S. 122. 143

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Koreanertums' wird die Instrumentalisierung kultureller Identitätsmuster deutlich. Trotz der Beschwörungen des Vaters sehnt sich Suzy nach einer 'normalen' Liebesbeziehung mit einem 'normalen' amerikanischen Mann – solche Männer bleiben jedoch außerhalb ihrer Reichweite, denn "[s]omething about them belongs in another world. Something about them suggests a home, a different kind of home from what she knows."20 Angefangen mit ihrem ersten Kuss, den ihr der Freund ihrer Zimmergenossin im College gibt, wird Suzy als die 'andere' Frau betrachtet: "Later, Suzy would recall that first kiss as if it were an omen. What was it about her that marked her as the other woman?"21 Suzy fügt sich in die Rolle der "mistress"22 und brennt mit dem verheirateten und mehr als doppelt so alten Professor Damian Brisco durch. Ihre Eltern, die sie als 'Hure' beschimpfen und verstoßen, sind der 'Preis', den sie für diese Beziehung bezahlt. Nothing comes for free, look closer, you always find a tag, Damian had whispered into her ear while pulling at the last button on her dress. Then he took five steps backward and stood gazing at her first nakedness as if he were an artist before a muse. His eyes had appeared awfully blue then, bluer than they justifiably were, almost aqua, the ocean color, so different from her own black eyes that she looked away in a sudden wave of embarrassment, thinking the whole time, "Even this has a price, even his lips on my skin, even his bluest eyes on me."23

Suzy will sich weder der Forderung ihrer Eltern nach einer 'anständigen' Ehe mit einem Koreaner unterwerfen, noch ist für sie das Modell der typischen amerikanischen Kleinfamilie erreichbar – genau in einer solchen erscheint am Ende des Romans Damian mit einer blonden weißen Frau und einem Baby. Die Heimat- und Wurzellosigkeit sowie die Abgrenzung von der amerikanischen Kultur sind Merkmale der "1.5 generation",24 der in Korea geborenen aber in Amerika hauptsächlich sozialisierten, dort jedoch nie integrierten Kinder der ersten Immigrantengeneration. Sie resultieren bei Suzy und Grace in einem Identitätsverlust und dem unbedingten Anpassungswunsch:

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Ebd., S. 175. Ebd., S. 54. Ebd., S. 28. Ebd., S. 6-7. Ebd., S. 126. 144

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Yet the one thing both Suzy and Grace so desperately wanted was to be American girls, full-fledged American darlings, more golden than the girl next door, even cheerier than the prom queen, definitely sweeter than all-American sweethearts. Far, far away from their parents' Korea, which stuck to them like an ugly tattoo.25

Suzy erkennt, dass eine Anpassung nur über die Ablösung von den auf der koreanischen Identität bestehenden Eltern zu realisieren ist und sieht dies nachträglich als den Grund für ihre Flucht mit Damian: She could not embrace this place called America while they never forgot to remind her what was not Korea. She could not make sense of her American college, American friends, American lovers, while her parents toiled away twelve hours a day, seven days a week at their Bronx store. She could not become American as long as she remained their daughter. She betrayed them, so she might live.26

Auch das Verhältnis zu Grace, zu der sie seit dem Tod der Eltern keinen Kontakt mehr hat, ist ein Schlüsselmoment in der Identitätsfindung Suzys. Die ältere, schönere, klügere Schwester hat sich immer gegenüber Suzy abgegrenzt, ihr Verhältnis war von Distanz und Kälte geprägt.27 Suzy erkennt diese Distanzierung später als Versuch, sie vor den Machenschaften der Eltern zu schützen, ihre Unschuld zu bewahren.28 Erst am Ende des Romans begreift Suzy, dass sich Grace nach dem Tod der Eltern aus Schuldgefühlen von ihr abgewendet hat: Der Mörder war DJ, ein koreanisches Bandenmitglied, mit dem Grace jahrelang ein Verhältnis hatte. Nachdem Grace sich von ihm getrennt hatte und wieder zu den Eltern gezogen war, erschoss DJ die Eltern, um Grace zurückzugewinnen. Als sich Graces Verdacht bestätigte, tötete sie DJ bei einem fingierten Bootsunfall, bei dem sie selbst untertauchte. Suzys Erkenntnis, dass sie Graces Verhalten jahrelang missverstanden hat, lässt sie ihre eigene Fähigkeit als 'Dolmetscherin' infragestellen: "What the hell's an interpreter if she can't even interpret her own sister?"29 Hier wird noch 25 Ebd., S. 122. 26 Ebd., S. 212. 27 Grace verabscheute es beispielsweise, dass die Geburtstage der Schwestern am 24. und 26. November nur zwei Tage auseinander liegen: "What Grace really could not stand, Suzy suspected, was that they were the same age for those two days. They were equals suddenly, neither younger nor older." (Ebd., S. 63.) 28 "Grace had never let Suzy know. Grace never let Suzy in. If Grace did not speak to Suzy, then Suzy could remain innocent. But is Suzy innocent?" (Ebd., S. 258.) 29 Ebd., S. 293. 145

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einmal das Dolmetschen als Interpretieren im Sinne von Verstehen betont. Letztlich kann Suzy Grace 'interpretieren' und weiß, dass die Ablösung von den Eltern und der Vergangenheit für beide Schwestern die Möglichkeit eines neuen Lebens bedeutet: At the end will be a new country. […] Soon it will be tomorrow. The end of Suzy's birthday. One more day until Grace's. For now, they will remain the same. Two girls with no parents, such fine American beauties.30

Der Begriff "a new country" impliziert, dass die Schwestern in einer Überschreitung beider Kulturen eine neue Identität finden. Sie können aufgrund ihrer Vergangenheit gerade nicht zu 'typischen' Amerikanerinnen werden. Die Präsenz der familiären Herkunft auch noch in der Ablösung von den Eltern wird durch deren Nennung im letzten Satz unterstrichen. Die Bezeichnung Suzys und Graces als "such fine American beauties" beinhaltet einen intertextuellen Verweis auf den Film American Beauty, der genau das amerikanische Stereotyp von der heilen Mittelklasse-Kleinfamilie schonungslos als Fassade entlarvt und die dahinterliegenden (zwischen-)menschlichen Abgründe aufdeckt.31 Die Ironie des letzten Satzes transportiert, wie auch schon das obige Zitat über die "full-fledged American darlings", eine Kritik am Konzept der unbedingten Anpassung, des American melting pot, das weder wünschenswert noch realisierbar ist. Suzanne Glass, geboren in Edinburgh, wuchs in London auf, studierte in Cambridge und lebte in unterschiedlichen Ländern. Sie arbeitete fünf Jahre lang als Simultandolmetscherin, bevor sie als freiberufliche Journalistin tätig wurde und im Jahr 2000 ihr Erstlingswerk The Interpreter veröffentlichte.32 In diesem Roman gelangt die britische Konferenzdolmetscherin Dominique Green zufällig an eine Insiderinformation über die Entdeckung einer neuen Behandlungsmöglichkeit von HIV. Sie erfährt auch, dass diese aus wirtschaftsstrategischen Gründen zunächst nicht weiter entwickelt und noch geheim gehalten wird. Es entspannt sich ein innerer

30 Ebd., S. 294. 31 American Beauty, Regie: Sam Mendes, USA 1999. 32 Ingrid Kurz, "Das Gelübde der Verschwiegenheit. Suzanne Glass' The Interpreter", in: Wortklauber, Sinnverdreher, Brückenbauer? DolmetscherInnen und ÜbersetzerInnen als literarische Geschöpfe, hg. v. ders./Klaus Kaindl, Wien 2005, S. 143-149, hier S. 143. 146

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Konflikt zwischen Dominiques Verschwiegenheitspflicht33 als Dolmetscherin und der moralischen Verpflichtung, das Wissen über eine solch bahnbrechende medizinische Entdeckung veröffentlichen zu müssen, der dadurch verschärft wird, dass ein enger Freund Dominiques an AIDS leidet. Im Vordergrund steht jedoch die Liebesebeziehung zwischen Dominique und dem jungen italienischen Mediziner Nicholas Manzini. Als Dominique erfährt, dass Manzini der Entdecker besagter Behandlungsmethode ist, tritt sie schließlich mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit. Die einzelnen Kapitel werden abwechselnd von Dominique und Nicholas erzählt, ein Kapitel von Anna, Dominiques bester Freundin. Dolmetschen wird in diesem Roman vor allem als ein Zurücktreten der eigenen Person hinter den Worten und der Stimme Anderer gesehen. Die Worte der Dolmetscherin sind nicht ihre eigenen, verweisen nicht auf ihre Persönlichkeit. Wenn sich die Dolmetscher abwechseln, gelingt ein übergangsloser Wechsel von der einen zur anderen Stimme, denn das Individuum tritt beim Dolmetschen idealerweise in den Hintergrund: On a good day after a few sentences you took the whole of your being and in your mind you sat right inside his [the speaker's] head. You lost yourself entirely, so that the whole of you was no more than a piece of sophisticated software programmed to convert his words into some other language.34

So sieht sich Dominique als "regurgitator par excellence"35 und sich und ihre Kollegen als "translating machines".36 Das 'Wiederkäuen' bei der Dolmetschtätigkeit erlaubt keine Kreativität und der Dolmetscher läuft Gefahr, seine Erfindungsgabe verkümmern zu lassen.37 Dominique beschreibt die Aufgabe des Dolmetschers als Vermittlung, indem sie die Vermittlungsbemühungen, die sie als Kind zwischen ihren sich streiten33 Zur Verschwiegenheitspflicht im Roman und in der Berufspraxis vgl. ebd., S. 144-145. 34 Suzanne Glass, The Interpreter, South Royalton, VT 2001 [Erstausgabe London 2000], S. 109. 35 Ebd. S. 18. Zur Darstellung der Automatisierung vgl. Jean Anderson, "The double agent. Aspects of literary translator affect as revealed in fictional work by translators", in: Fictionalising Translation and Multilingualism, hg. v. Dirk Delabastita/Rainier Grutman, Antwerpen 2005, S. 171-182, hier S. 173-174. 36 Glass, The Interpreter, S. 33. 37 "You rarely have time to think a thought extraneous to your translation when you are working. […] But, rooted to the task, the interpreter's imagination is starved. We cannot create. Only recreate. And eventually if we allow ourselves to be trapped in the world of secondhand words our imaginations shrivel and die." (Ebd., S. 79.) 147

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den Eltern unternommen hat, als eine Art der Übersetzung bezeichnet.38 Worte als das Material39 des Dolmetschens werden in ihrer Materialität wiederholt in den Vordergrund gerückt.40 Sprache wird in einer solchen Bildlichkeit selbst zum Akteur, was die Bedeutung von Worten bzw. deren Äußerung oder Geheimhaltung auf der Ebene der histoire widerspiegelt. Die Konferenzdolmetscherin Dominique wird im Gegensatz zu Suzy in Suki Kims Roman nicht als Heimatlose gezeichnet: Sie hat mit einer französischen Mutter und einem englischen Vater zwar eine doppelte kulturelle Herkunft, lebt neben London auch in Zürich und New York und spricht fünf Sprachen. Das Umherziehen und die Mehrsprachigkeit werden jedoch als unproblematisches 'Wandern' betrachtet: "You…are the wanderer…between countries and languages…"41 Dominique, deren kulturelle Herkunft und Sozialisation eindeutig britisch ist und für sie kein Problem darstellt, kann im Reisen sogar die Möglichkeit eines Identitätszuwachses sehen: […] from the moment I feel the laminated plastic of that passport in my hand, […] I am free to reinvent myself. And it is not the exotic that enthrals me. Not so much the ancient pink of Petra nor the deep dramatic reds of Arizona. No, it is not that which excites me so much as the prospect of slipping in Rome into the language of the Romans. The prospect of trying for as long as I am there to immerse myself in them as I walk their streets, of testing myself to see how well I can melt into the sounds and colors of their world.42

Die Welt des Dolmetschens und der Konferenzen erscheint als eigene Welt der Gleichförmigkeit und Ortlosigkeit jenseits von kulturellen 38 Ebd., S. 19-23. 39 "I choose words as a sculptor chooses clay." (Ebd. S. 43.) Dies ist interessanterweise ein Hinweis darauf, Dolmetschen als Kunst zu betrachten, wie es Nicholas nach seiner anfänglichen Geringschätzung auch tut. Es überwiegt aber die Einschätzung des Dolmetschens als unkreativ und automatistisch. 40 Zum Beispiel die Art einer Frage als bestimmte Gestalt des Fragezeichens (ebd., S. 121 u. 128), die Bedeutungslosigkeit von Worten, die wie Schmetterlinge davonfliegen (ebd., S. 154) oder das Gewicht von Worten, das sie in den Fluss fallen lässt (ebd., S. 284). 41 Ebd. S. 237. Das Problem der Heimatlosigkeit wird in Bezug auf Dominiques Mutter angedeutet, die als Jüdin im von den Nazis besetzten Frankreich von ihren Eltern getrennt wurde, zunächst in einem Kloster, dann bei Pflegeeltern in London aufwuchs und noch jahrelang Briefe an ihre Eltern schrieb, die lange vorher im KZ Bergen Belsen ermordet worden waren (ebd., S. 55-56). 42 Ebd., S. 200. 148

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Grenzziehungen. Zwischen den Verhandlungspartnern entstehen keine kulturellen Konflikte, es werden keine Machthierarchien aufgezeigt und die Dolmetscher selbst scheinen die Unterschiede mühelos zu überbrücken. Auch New York wird hier nicht, wie bei Suki Kim, als konfliktbeladene Einwanderermetropole erlebt; fremdkulturelle Einsprengsel dienen ledigllich der exotischen Würze. In der Nebenfigur Lisa Marks, die viersprachig aufgewachsen ist, stellt Glass allerdings eine Dolmetscherin vor, die ihren beruflichen Erfolg nur gegen den Preis der Wurzellosigkeit erreichen konnte: A woman like Marks is rootless. She belongs to every culture and then again to none. All her languages are her own, to play with and dominate as she wishes. And yet at her level no one language is truly her mother tongue. She, like many interpreters, is at home everywhere and nowhere. She is not at peace, never can be, for the words in her head can find no resting place.43

Hier wird eine Sicht auf den Dolmetscher als heimatloser Einzelgänger angedeutet, aber nicht weiter problematisiert.44 Wenn nicht kulturell bedingt wie in Suki Kims The Interpreter, so steht doch auch in diesem Roman eine Identitätsfindung im Mittelpunkt, die diesmal mit dem Beruf des Dolmetschens enger verknüpft ist und als das Finden einer eigenen Stimme dargestellt wird. Durch ihren Beruf daran gewöhnt, immer die Worte anderer zu wiederholen, fühlt es sich für Dominique unsicher an, eigene Worte zu sprechen, "like cycling backward".45 Nicholas entlockt Dominique immer mehr originäre Äußerungen, wobei zu Beginn noch das Moment der Entfremdung im Vordergrund steht: "I talked. I talked as if I were talking to myself. As if I were telling someone else's story, translating someone else's words."46 Als Dominique erfährt, dass ausgerechnet Nicholas der Wissenschaftler ist, der seine Entdeckung verzögert und geheimhält, findet sie schließlich wörtlich und im übertragenen Sinn ihre 'eigene Stimme', indem sie ihr Wissen als Radiomeldung verliest: "As I begin my sentence the adrenaline surges, and the voice that I find this time, the voice though harder at first to recognize, comes from somewhere deep within me."47 Dominique gibt den Dolmetschberuf auf, sie befreit sich aus der Rolle als Übermittlerin fremder Sinnpositionen

43 Ebd., S. 78. 44 Zu einer ähnlichen Bewertung gelangt Jean Anderson, "The double agent", S. 173. 45 Ebd., S. 85. 46 Ebd., S. 123. 47 Ebd., S. 278. 149

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und findet als Radiomoteratorin die Möglichkeit, ihre eigenen Worte zu sprechen. Dieser Entwicklung liegt ganz im Gegensatz zu dem in Suki Kims Roman dargestellten Identitätsfindungsprozess ein statisches Identitätskonzept zu Grunde, das dem Individuum eine authentische Subjektivität zuspricht. Um die Jahrtausendwende sind zahlreiche weitere Romane erschienen, die eine ÜbersetzerIn oder DolmetscherIn zur Hauptfigur machen, und von denen hier nur einige Beispiele genannt seien. Im Roman des kubanischen Autors Jesús Díaz Siberiana (dt. Die Dolmetscherin) erscheint die russische Dolmetscherin Nadeshda durch die Perspektive des kubanischen Journalisten Bárbaro als kulturell Fremde, die durch ihre Arbeit die kulturelle Distanz nicht nahtlos überdecken kann, sondern das Aufeinanderprallen zweier gegensätzlicher Welten hervorhebt.48 Migrationserfahrungen noch im Gefolge des Zweiten Weltkrieges und die dadurch verursachte Wurzellosigkeit sowie Identitätssuche werden in Ward Justs The Translator und Liselotte Marshalls Tongue-Tied thematisiert.49 Auf der Suche nach seinen Wurzeln ist auch Jonathan Safran Foer in seinem mehrfach preisgekrönten Roman Everything is illuminated, in dem der ukrainische Laiendolmetscher Alexander Perchov in bizarrem Englisch neue Perspektiven auf die amerikanische Kultur eröffnet, wobei gleichermaßen kulturelle Differenzen und Möglichkeiten der interkulturellen Verständigung spielerisch verhandelt werden.50 Dolmetscher- und Übersetzerfiguren erscheinen in der Literatur um die Jahrtausendwende somit als 'Interpreten der Globalisierung', als Interpreten von Migrationserfahrungen, kulturellen Differenzen und Identitätskonzepten in einer multikulturellen Welt.

48 Jesús Díaz, Siberiana, Madrid 2000 [dt.: Die Dolmetscherin, übs. v. Astrid Böhringer, München/Zürich 2003]. 49 Ward Just, The Translator, New York 1991 u. Liselotte Marshall, TongueTied, London 2004 [dt.: Die verlorene Sprache, übs. v. Ingrid Lebe, Frankfurt a.M. 1998]. 50 Jonathan Safran Foer, Everything is illuminated, London 2002 [dt. Alles ist erleuchtet, übs. v. Dirk van Gunsteren, Köln 2003]. 150

NARRATING (NEW) ECONOMY: L I T E R A T U R U N D W I R T S C H A F T U M 2000 CHRISTOPH DEUPMANN

Nicht der nebensächlichste Maßstab für den Grad der Einlassung literarischer Texte auf ihre Gegenwart wäre mit der Frage angegeben, inwieweit sie wirtschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungen Rechnung zu tragen vermögen. Denn die moderne Lebenswelt wird nicht an letzter Stelle von einschneidenden ökonomischen Veränderungen bestimmt, die seit den 1990er Jahren im Zusammenhang von weltumspannenden Medien und Informationen, sich angleichenden permissiven Lebensstilen, offenen Märkten und weltweit zirkulierenden Finanzströmen unter dem Stichwort der 'Globalisierung' kontrovers diskutiert werden. Vom autarken Haushalt (oikos) über den räumlich begrenzten, später nationalstaatlich reglementierten Handel bis zum Weltmarkt der global players hat sich seit der Antike der Raum der Ökonomie ausgeweitet, während die Deutungsmodelle der 'politischen Ökonomie' zugleich ihre Orientierungs- und Überzeugungskraft eingebüßt haben. In ihrem rasanten Verlauf entfalten wirtschaftliche Prozesse eine Eigenlogik, die sich mehr und mehr dem planenden Zugriff staatlicher Institutionen entzieht.1 Dass menschliche Subjekte dabei aus dem 'Zentrum' in die 'Umwelt' des wirtschaftlichen Systems ausgewandert sind, wie sich in der Sprache der Systemtheorie sagen lässt, verdrängt auch die Anthropologie als Leitdisziplin der Beschreibung ökonomischer Realität. Hat sich das neuzeitliche Denken (als politische Philosophie, Wirtschafts- oder Sozialtheorie) bis hin zu dem Ökonomen Peter Schumpeter vor allem für den homo oeconomicus interessiert,2 so wendet sich die theoretische Aufmerksamkeit nunmehr der Wirtschaft als selbstregulierender Organisationsform 1 2

Vgl. dazu Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a. M. 1997. Vgl. etwa Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinne, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Leipzig 1912, der den Typus der schöpferisch-innovativen Unternehmerpersönlichkeit als Motor der wirtschaftlichen Dynamik entwirft. 151

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zu: Nicht mehr das Bild des wirtschaftlichen Menschen mit seinen Verhaltensweisen, Rationalitätsformen und Begierden steht im Zentrum analytischer und rekonstruktiver Bemühungen, sondern die regelhaften Kommunikationen und Tauschprozesse, durch die sich das System der Ökonomie organisiert.3 Der Verdacht liegt nahe, dass es sich in literarischen Texten der Gegenwart ähnlich verhält: dass es auch (in) ihnen nicht mehr so sehr um eine Poetik des wirtschaftlichen Menschen geht,4 sondern um die poetische Beschreibung des wirtschaftlichen Systemzustandes und seiner Implikationen. Soweit es aber überhaupt um Formen der Mimesis oder Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen geht, ist der Bezug auf wirtschaftliche Zusammenhänge ganz offenbar unvermeidlich. Tatsächlich lässt sich entgegen der gelegentlich geäußerten Ansicht, dass sich gesellschaftliche Bedeutung und literarische Berücksichtigung der Wirtschaft unproportional zueinander verhielten,5 in deutschsprachigen Dramen und Prosatexten um die Jahrtausendwende ein vitales Interesse für ökonomische Kontexte registrieren. Was Bill Clintons Wahlkampfslogan von 1992 der amerikanischen Öffentlichkeit ins Stammbuch schrieb, haben sich literarische Repräsentationen offenbar durchaus zu eigen gemacht: "It's the economy, stupid!" Die folgenden Überlegungen zu Dramen von Urs Widmer und Rolf Hochhuth sowie Erzähltexten von John von Düffel, Georg M. Oswald und Ernst Wilhelm Händler gehen der Frage nach, wie die Gegebenheiten und Strukturen der modernen Wirtschaft literarisch vermittelt und ästhetisch transformiert werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich also, wie der Titel dieses Beitrags andeutet, darauf, wie von der 'Neuen Ökonomie' und von der Ökonomie 'neu' erzählt werden kann. Die moderne Wirtschaft indes, in der es um shareholder values, joint ventures, mergers and acquisitions, nicht zuletzt aber um Zahlen und Berechnungen geht,6 kommt der literarischen Darstellung auf den ersten Blick nicht gerade entgegen. Zahlen sind abstrakt und 'unpoetisch', Zahlungen aber bilden, Niklas Luhmann zufolge, das Grundelement des 3 4 5

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Vgl. dazu etwa Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des wirtschaftlichen Menschen, München 2002. Vgl. Jürgen Kaube, "Organisation als Erzählung. Einige soziologische Motive bei Ernst-Wilhelm Händler", in: Lutz Hagestedt, Joachim Unseld, Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler, Frankfurt a. M. 2006, S. 118135, hier S. 120. Vgl. dazu im Ganzen die Einträge im DUDEN-Band: Wörterbuch der New Economy, hg. von Trendbüro, Mannheim 2001 (in dem paradoxerweise das Lemma 'New Economy' fehlt). 152

ÖKONOMIE

Wirtschaftssystems. Wie geschichtliche scheinen sich ökonomische Strukturen gegen ein ereignishaftes Erzählen zu sperren.7 Tatsächlich aber haben literarische Texte – von Wirtschaftsreportagen und Unternehmens- bzw. Unternehmergeschichten8 in der Tradition des Kaufmannsromans über eher kolportagehafte, von 'Insidern' der Neuen Ökonomie verfasste Romanen9 bis zu eindeutig fiktionalen (Prosa- und Dramen-)Texten – immer wieder ökonomische Verhaltensweisen und Verhältnisse dargestellt.10 Denn zwischen Ökonomie und Literatur bestehen nicht bloß Gegensätze, sondern auch Affinitäten. Wenn der diabolische Spekulant Agonista in Wilhelm Raabes Zum wilden Mann (1884) mit seinen "Zahlen! Zahlen!" und "eingehendsten, unumstößlichsten Berechnungen" "der ganzen Gegend die Phantasie ver[dirbt]",11 wie es an einer aufschlussreichen Stelle der Novelle heißt, gelingt ihm das eben auch wegen des gemeinsamen Nenners, auf den sich spekulative Phantasie und Dichtung stellen: "juchhe, wie der Dichter stellte ich meine Sache auf nichts!"12 Stellt sich so zwischen narrativer und monetärer Spekulation, Fiktion und Kredit schon ein Zusammenhang her,13 verstärkt sich dieser zwischen den 'Gewinnphantasien' der New Economy und literarischen Erfindungen womöglich erst recht. Und nicht zuletzt mag die ökonomische Desintegrierung des Subjekts den Darstellungsbedingungen einer (post-)modernen Poetik gerade günstig erscheinen, die sich jenseits starker Autorschaft und geschlossener Personenkonzepte situiert.

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Luhmann spricht von "Zahlungen" in missverständlicher Weise als einem "Elementarereignis" der Wirtschaft, ohne den Gegensatz von 'Ereignis' und 'System' bzw. Struktur zu reflektieren; Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 53. – Zum Problem der Erzählbarkeit geschichtlicher Strukturen vgl. etwa Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 144 und S. 148. Vgl. bereits Friedrich Christian Delius, Unsere Siemens-Welt. Eine Festschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses S., Berlin 1972 (Quarthefte; 59). Vgl. etwa Bernwart A. Engelen, Höhenflug ins Nichts? Stuttgart, Berlin 2003. Vgl. etwa jüngst Martin Walser, Angstblüte, Reinbek 2006. – Zum Versuch einer Typologie literarischer Wirtschafts-Texte vgl. Sandra Pott, "Wirtschaft in Literatur. 'Ökonomische Subjekte' im Wirtschaftsroman der Gegenwart", in: KulturPoetik 4 (2004), S. 202-217. Wilhelm Raabe, "Zum wilden Mann", in: ders, Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, hg. v. Karl Hoppe, Bd. 11, Freiburg i. Br./Braunschweig 1956, S. 159-256, hier S. 235 bzw. S. 251. Ebd., S. 234. Vgl. dazu Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a. M. 1996. 153

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Das Drama der globalisierten Ökonomie: Urs Widmers Top Dogs und Rolf Hochhuths McKinsey kommt Eine Reihe von Texten hat inzwischen die Helden und Antihelden der New Economy in den Mittelpunkt gestellt.14 Hatte das naturalistische Drama Ende des 19. Jahrhunderts die Perspektivumkehr vom sozialen 'Oben' nach 'Unten' radikalisiert, also die sozioökonomisch 'kleinen Leute' auf die Bühne gebracht, kehrt Urs Widmers 1996 uraufgeführtes (von der Zeitschrift Theater heute als 'Stück des Jahres' prämiertes) Drama Top Dogs diese Perspektive neuerdings um. Die Protagonisten dieses – auf empirischer "Feldforschung" (Widmer) basierenden – "Königsdrama[s] der Wirtschaft"15 sind gerade jene Exponenten sozialökonomischen Erfolgs, die bis dahin als Träger der New Economy galten: "Die Entlassungswelle hat die 'Macher' erreicht."16 Die mit ihren eigenen wirtschaftlichen Rationalitätsvorstellungen begründete 'Freisetzung' stürzt die durch Status und Macht definierten Figuren in eine Krise der Identität, die das Stück durch seine Versuchsanordnung potenziert. Die Rollenspiele auf dem fiktionalen Schauplatz eines 'OutplacementCenters', das die entmachteten Manager für ihren wirtschaftlichen Wiedereinstieg 'fit machen' soll, führt als dramatisches 'Spiel im Spiel' die Rollenhaftigkeit der dargestellten Identitäten vor. Für Widmer erweist sich das Theater damit als Ort der "Verdichtung und poetische[n] Verwandlung" einer ökonomischen Realität, das seine soziale Erkenntnisfunktion wahrnimmt; auch im Wege einer Inszenierung, die – wie am Neumarkt-Theater Zürich – mit der räumlichen Grenze zwischen Bühne und Publikum auch die Sicherheit des Zuschauers auflöst, nicht bereits selbst zu den (potenziell) Entlassenen zu zählen. Die Ökonomisierung menschlicher Identitäten und Beziehungen demonstriert sich im Stück nicht nur in der Verrechnung von Intimität ("meine eigene Frau, dieses an keiner Börse notierte Wesen"17) und einer zynisch am Krieg Maß nehmenden Konkurrenz-Ideologie – "draufhalten, fies sein, den Gegner 14 Vgl. die Überlegungen zu Georg M. Oswalds Alles was zählt (2000) oder John von Düffels EGO (2001) weiter unten sowie mehrere der Titel, die auf der Internet-Seite www.wirtschaftsroman.de aufgeführt sind. 15 Vgl. Urs Widmer, "Feldforschung im Land des Managements", in: 'Top Dogs'. Entstehung – Hintergründe – Materialien, hg. v. Theater Neumarkt Zürich, Zürich 1997, S. 43-53. – Vgl. auch Clemens Kammler, "Ein Königsdrama der Wirtschaft. Urs Widmers ' Top Dogs'", in: Praxis Deutsch 181 (2003), S. 4650. 16 Widmer, Top Dogs, 11. Aufl. Frankfurt a. M. 2006, S. 87 (Anhang). 17 Ebd., S. 56. 154

ÖKONOMIE

aus dem Weg räumen" –, die (wie später in Händlers Roman Wenn wir sterben) auch Gender-Stereotypen aushebelt;18 sie beweist sich auch in den "Manipulationen a[m] […] Körper", die in der Szene Gangübungen "vom 'Normalen' ins Groteske" führen.19 Der Übergang macht die tragikomische Ästhetik des Stücks sinnfällig, die so 'gebrochen' ist wie die halb bemitleidenswerten, halb belachenswerten Figuren selbst. Deren Funktionalisierung durch einen schicksalsmächtigen ökonomischen Diskurs wird auf formaler Ebene durch den Rekurs auf die antike bzw. barocke Tragödientradition sichtbar gemacht: Chorische Einlagen wie Die Schlacht der Wörter oder Die große Klage thesaurieren jenes neuökonomische Business-Vokabular, das den Kommunikationscode unter 'Entscheidern' in den Unternehmen konstituiert,20 und archivieren zugleich in Form der emphatischen Apostrophe die Namen jener quasinuminosen Firmen und Konzerne, an deren wirtschaftliche Macht die schicksalhafte Größe der antiken Götter oder des Fatums übergegangen ist. Im "pathetische[n] Flehen zu den Göttern unserer Tage", wie die Regieanweisung besagt, vereinen sich die untereinander unsolidarischen Figuren zu einem sozial-ökonomischen Schicksalskollektiv: "ALLE Nestlé! / Metro International! / ABB! Glencore International! / Oh! / Novartis! Oh Novartis! / Oh Migros! / Ahh!!" Dabei sind es die eingefügten Zitate aus der johanneischen Offenbarung, welche die chorische Anrufung in eine apokalyptische Klage transformieren: "Und da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein hären Sack, und der Mond ward wie Blut."21 Es ist die Form des Chors und des biblischen Zitats, welche in der Textur den wirtschaftsideologischen 'Verblendungszusammenhang' (Adorno) hintergehen, in dem die Figuren bis zuletzt befangen sind. Noch die Rache- und Comeback-Phantasien der entlassenen 'Top Dogs' sind dem Hollywood-Film abgeschaut,22 und der 'positive' Schluss – "Frau Jenkins […] hat eine Stelle gefunden"23 – bestätigt durch seine euphemistisch verbrämte Alternativlosigkeit nur die fatale Bedeutung der Ökonomie, die das Drama in seinem Darstellungsverfahren codiert. Im Gegensatz zu Widmers Wirtschaftsdrama, dessen Aussagekraft nicht zuletzt im dramaturgischen Verfahren liegt, tendiert Rolf Hoch-

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"Von Panzerfäusten verstehe ich mehr als alle Männer hienieden." Ebd. S. 63f. Ebd., S. 48. Ebd., S. 24-29. Ebd., S. 76-84. – Vgl. Off 6, 12. Ebd., S. 65ff. ("Büro aus Glas"). Ebd., S. 84 ("Abschied"). 155

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huths viel diskutiertes "Antiglobalisierungsstück"24 McKinsey kommt (2003) zum Thesenhaften: "Das Grundgesetz ist veraltet, weil es zwar regelt, / daß wir allein vor dem Gesetz gleich sind. / Nicht aber vor der Wirtschaft, die heute jeden / viel stärker im Griff hat. […] / Zähmt die Wirtschaft!"25 Wie in zahlreichen Stücken zuvor fungiert das Theater bei Hochhuth als Medium der Kritik gegenwärtiger politischer wie ökonomischer Macht, deren Chiffre hier der Name einer global agierenden Unternehmensberatung darstellt: "Übermacht ist immer faschistisch, gleichviel, ob in privater, ob in staatlicher Faust".26 Trotz der Doppelbesetzungen der Figuren, epilogischer Szenenschlüsse und ausführlicher Motti, welche die dramatische Fiktion (unter-)brechen, erscheinen Hochhuths "Rausgeworfene" mit ihren sozio- bzw. dialektalen Sprechmasken doch als Nachkommen Gerhart Hauptmannscher Sozialdrama-Protagonisten ("Kriegste nich ABM?"27), so wie das Stück im Ganzen mit seinen extensiven, zu wirtschaftspolitischen Kommentaren ausgewachsenen Regieanweisungen der Poetik einer früheren, ökonomisch-industriellen Zeit nahe steht. Indem es der New Economy einen spezifischen ästhetischen Tribut verweigert, formuliert es jedoch seinen Widerspruch auch auf der Eben der Form: Wie stets insistiert Hochhuths Dramatik auf die moralische Verantwortlichkeit des Subjekts.

Ökonomisierte Identitäten: Georg M. Oswalds Alles was zählt und John von Düffels EGO Es sind dieselben Probleme ökonomisch bedingter Subjektivität und Identität, die sich der Rollenprosa beider hier zu erörternden Romane einschreiben. Wie Düffels Roman EGO (2001) stellt der bisher erfolgreichste Roman des Essayisten, Schriftstellers und Rechtsanwalts Oswald28 Alles was zählt (2000) einen (Anti-)Helden der New Economy ins 24 Christian Pohl/Red., "Hochhuth, Rolf", in: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 3. aktualis. u. erw. Auflage, hg. v. Bernd Lutz u. Benedikt Jeßing, Stuttgart, Weimar 2004, S. 334-336, hier S. 336. 25 Rolf Hochhuth, McKinsey kommt / Molières Tartuffe. Zwei Theaterstücke. Mit einem Essay v. Gert Ueding, München 2003, S. 15. 26 Rolf Hochhuth, "Der alte Mythos vom 'neuen' Menschen. Vorstudien zu einer Ethologie der Geschichte", in: ders., Die Hebamme. Komödie, Erzählungen, Gedichte, Essays, Reinbek 1971, S. 352-425, hier S. 357. 27 Rolf Hochhuth, McKinsey kommt, S. 29. 28 Zu Georg M. Oswald vgl. den Artikel von Wieland Freund in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, hg. v. Thomas Kraft, Bd. 2, München 2003, S. 952f. 156

ÖKONOMIE

Zentrum: den Karrieristen Thomas Schwarz, der als stellvertretender Bank-Abteilungsleiter für "Abwicklung und Verwertung"29 – ähnlich den Protagonisten in Widmers Top Dogs – überraschend auf die Seite der bislang verachteten 'Verlierer' gerät. Die ökonomisch-sozialen Bedingungen jedoch, die im saturierten "Drinnen" herrschen, setzen sich – streng symmetrisch wie die beiden so überschriebenen Teile des Textes – im kriminalisierten "Draußen" fort;30 am Ende setzt sich der Held mit dem Erlös eines illegalen Geschäfts mit Drogen und anabolen Steroiden nach Monaco ab.31 Es ist diese 'karnevaleske' Umkehrbarkeit, in der der Erzähler das "Gesetz" des Geldes erblickt,32 und ihr verdankt auch der Roman seine gewissermaßen 'fröhlich relativierende' Struktur.33 Denn die erzählende Stimme ist sowenig substanziell 'gedeckt', wie es in der Diegese das stets geschuldete und zurückgeforderte Geld ist. Über das am Anfang des Romans kreditierte wie über das am Ende vom ErzählerIch gestohlene Geld verfügt ein hasardierendes Ich, das sich bis zum Selbstverlust an die ökonomische Wirklichkeit zu verausgaben bereit ist. In Monaco, dem schon in Franziska zu Reventlows Roman Der Geldkomplex (1916) als Fluchtpunkt anvisierten Paradies der Spieler, werde es ihm – so schließt der Erzähler – nur "leichter fallen als irgendwo sonst auf der Welt, endgültig loszuwerden, was ich ohnehin nie besessen habe: eine Identität."34 Ökonomisch aufs Spiel gesetzte Identität und körperliche Zurichtung, die schon in Widmers Drama eine Rolle spielen, werden in John von Düffels Roman EGO narrativ enggeführt: Für Philipp, Mitarbeiter einer Unternehmensberatung auf dem Karrieresprung zum Juniorpartner, wird die Perfektionierung des Körpers, der sichtbaren, exponierten Oberfläche der Person, geradezu zur Obsession; Körper und Karriere sind im gesellschaftlich-ökonomischen Begehren des Ich-Erzählers verkoppelt. Die ex-

29 Georg M. Oswald, Alles was zählt, München 2002. 30 Der Einschnitt befindet sich nach dem 20. Kapitel des in 40 Kapitel gegliederten Romans (S. 103). 31 "Ich kann nicht erkennen, warum der Verkauf von Anabolika an Leute, die sich damit verschönern und umbringen wollen, Unrecht sein soll, die Vernichtung bürgerlicher Existenzen durch die exponentiell steigenden Zinsforderungen einer Bank hingegen nicht." Ebd. S. 132. 32 Oswald, Alles was zählt, S. 132. 33 Vgl. auch Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, aus dem Russ. übs. u. m. e. Nachwort v. Alexander Kaempfe, Frankfurt a. M. 1990, S. 51: "Der Karneval feiert den Wechsel […]. Er verabsolutiert nichts, er verkündet die fröhliche Relativität eines jeden." 34 Oswald, Alles was zählt, S. 199; vgl. Franziska zu Reventlow, Der Geldkomplex. Roman meinen Gläubigern zugeeignet, Berlin 2002. 157

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ponierte 'Oberflächlichkeit' der verwendeten Rollenprosa, die zu den am häufigsten bemerkten und kritisierten Charakteristika der deutschsprachigen 'Popliteratur' der 1990er Jahre zählt,35 entspricht dabei der obsessiven Anpassung an die erfolgverheißende Norm der "Alpha-Anatomie".36 Schon das als Motto vorangestellte Zitat des Nibelungenliedes stellt die Selbstmodellierung des Romanhelden im Fitness-Studio in mythische Beleuchtung, die seine Mimikry an die ökonomischen Mächte als Travestie der archaischen Heldengeschichte Siegfrieds erscheinen lässt: Es schlug einen Drachen des Helden starke Hand. Er badete in dem Blute; fest wie Horn ist er jetzt. Man hat es oft vernommen, daß keine Waffe ihn verletzt.37

Während der muskulär gehärtete Körper des Erzähler-Ichs mit der geglätteten Oberfläche des Textes korrespondiert, verrät sich spätestens im vorletzten Kapitel des Romans die Identität des Helden als bloße Inszenierung; der Wechsel der Erzählform zur dritten Person macht die vorübergehend bewusst gewordene Selbstentfremdung manifest: "ein Verlierer in einem Siegerkörper, ein mit Muskeln gepanzerter Schwächling."38 Dass der Moment der selbstdistanzierten Bewusstheit folgenlos bleibt, unterstreicht nur die Totalität des Systems, an das sich Philipp verkauft (bzw. "prostituier[t]"39). – Hintergründig, 'verletzlich' wie der Muskelpanzer des Helden ist auch die Narration. Während die Bemühungen des Ich-Erzählers um das Ziel kreisen, die (für den Body-fat-Wert signifikante) 'Nabeltiefe' analog zur diskursiven Textur einzuebnen bzw. "auf Null" zu reduzieren, subvertiert bereits die originelle Wortschöpfung "Nabellid" für das den menschlichen Nabel oben überspannende Häutchen das eindeutige Verhältnis des Ich zu seinem Körper: Wer eigentlich ist der Sehende, wer der Gesehene? Nicht zufällig beginnt der Roman mit einer Szene vor dem Spiegel, die auf unaufdringliche Weise Jacques Lacans psychoanalytische Theorie des 'Spiegelstadiums' der IchBildung aufruft.40 Intertextuell aber evoziert die Metaphorik des sehen-

35 Zur Poetik der 'Oberfläche' in der so genannten neuen deutschen Popliteratur vgl. Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 174 und passim. 36 John von Düffel, EGO, Köln 2001, S. 124. 37 Düffel, EGO, unpag. [S. 5]; vgl. Nibelungenlied, 3. Aventiure, Str. 100. 38 Düffel, EGO, S. 259. 39 Ebd., S. 261f. 40 Jacques Lacan, "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint", in: ders., Schriften I, Weinheim/Berlin 1986, S. 61-70. 158

ÖKONOMIE

den Leibes Rilkes Gedicht Archäischer Torso Apolls, in dem es heißt: "denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern"41 – und kommentiert damit auf ambivalente Weise die ästhetisch-normative Selbstmodellierung des erzählenden Ichs, die im Roman bis zuletzt ökonomischen Zwängen gehorcht. Auch auf der Ebene der Textur widerspricht der Roman der eindimensionalen Ökonomisierung des Subjekts. Dessen verletzliche Autonomie erweist sich letztlich als Konstrukt aus Zitaten; bereits Philipps apodiktisches, gleich eingangs notiertes Postulat "Man muß absolut Athlet sein!"42 wiederholt als kryptisches Zitat die modernistische Losung Arthur Rimbauds: "Il faut être absolument moderne."43 – Im diskreten Rekurs auf die Programmatik der frühen Moderne formuliert Düffels Text mit seiner hintergründigen Ästhetik der Oberfläche seine eigene Lesart ökonomischer Modernität am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Ökonomischer Tausch als Erzählverfahren: Ernst Wilhelm Händlers Wenn wir sterben Die eingangs dieser Überlegungen aufgeworfene Frage nach der 'Poesiefähigkeit' der Ökonomie wird in Ernst-Wilhelm Händlers Wenn wir sterben (2004) bereits im ersten der dem Roman vorangestellten programmatischen Motti thematisiert: "Die Poesie dort suchen, wo sie niemand sonst finden will".44 Bis ins Wörtliche wird damit auf den Prototyp des deutschsprachigen 'Wirtschafts-' bzw. 'Kaufmannsromans' angespielt,45 der auch Händlers Roman genrebildend zugrunde liegt – Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855), dem ein Zitat des Literaturkritikers Julian Schmidt vorangestellt ist: "Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit."46 Die unmarkierte Wiederholung verschlüsselt Traditionsverhalten und Abweichung zugleich: Auch bei Händler geht es 41 Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bdn, Bd. 1: Gedichte 1895-1910, hg. v. Manfred Engel, Frankfurt a. M. 1996, S. 513. 42 Ebd., S. 134. 43 Arthur Rimbaud, "Une saison en enfer", in: ders., Œuvres de Arthur Rimbaud, Paris 1952, S. 159-199, hier S. 198. 44 Ernst Wilhelm Händler, Wenn wir sterben, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2002, unpag. [S. 5]. 45 Vgl. als frühesten Beitrag Wolfgang Kockjoy, Der Deutsche Kaufmannsroman. Versuch einer kultur- und geistesgeschichtlichen genetischen Darstellung, Straßburg 1932. 46 Gustav Freytag, Soll und Haben. Roman in sechs Büchern, erster Teil, Leipzig o.J. (Gesammelte Werke, 2. Serie Bd. 1). 159

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um unternehmerisches Handeln als wesentliche Determinante moderner Lebenswirklichkeit; doch an die vakante Stelle des souveränen unternehmerischen Subjekts, wie es Freytags Roman noch in seinen legitimen wie illegitimen Spielarten vorführt, tritt die Wirtschaft als eigengesetzliche Organisationsform, der die Erzählform des Romans gerecht zu werden versucht. Dass der Schriftsteller, Leichtstahl- und Gerätebau-Unternehmer Händler ökonomische Prozesse aus der 'Insider'-Perspektive zu erzählen vermag, ist in Rezensionen seiner Romane immer wieder hervorgehoben worden.47 Den hier unternommenen Versuch, moderne wirtschaftliche Prozesse und Verwerfungen poetisch umzusetzen, verschlüsselt auch das dritte, Schumpeters Capitalism, Socialism, and Democracy zitierende Motto implizit.48 Es ist der nicht mehr handlungssouveräne, aber umso routiniertere und nach Machtpositionen strebende ManagerTypus, der in den Gestalten der Managerinnen Carlotte, Christine (Stine) und "Bär" im Mittelpunkt des Textes steht; im Verlauf der Intrigenhandlung um das aus Händlers Roman Fall bekannte Unternehmen Voigtländer setzt Stine sich zunächst als Geschäftsführerin durch, um am Ende in einem Joint venture der Managerin Milla des Unternehmens D'Wolf zu unterliegen – homo hominis lupus, wie der Topos frühneuzeitlicher Anthropologie bei Thomas Hobbes' besagt. Nicht zufällig wird die Logik dieser Pseudo-Kooperationsform in Form einer Fabel expliziert, die das gegenseitige Verschlingen der scheinbaren Kooperationspartner demonstriert.49 Die "organisierte Gewalt"50 spätkapitalistischen Wirtschaftens reproduziert den zivilisatorisch überwunden geglaubten Natur-

47 Vgl. etwa Manfred Durzak, "Die Erzählprosa der neunziger Jahre", in: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, hg. v. Willfried Barner, 2., aktualis. u. erw. Aufl. München 2006, S. 994. 48 "Unlike any other type of society, capitalism inevitably and by virtue of the very logic of its civilization creates, educates and subsidizes a vested interest in social unrest." Joseph Schumpeter, Capitalism, Socialism, and Democracy, New York, London 1942, S. 146. Zit. bei Händler, Wenn wir sterben, unpag. [S. 9]. – Schumpeter hatte in dieser 1942 erschienenen Schrift die Ablösung des schöpferischen Unternehmers durch den Typus des modernen Managers postuliert. 49 "Ein Huhn schlägt einem Schwein ein Joint venture vor. Das Schwein fragt das Huhn, was sie denn gemeinsam produzieren wollen. Das Huhn antwortet: Ham and eggs. Vom Markt beeindruckt, verfällt das Schwein in ein langes Nachdenken. Bis es schließlich einen wichtigen Gedanken fasst: Aber das würde ja bedeuten, daß ich geschlachtet werde, und dir geht es besser als je zuvor! Das Huhn erwidert ungerührt, was meinst du denn, worin sonst der Sinn eines Joint venture besteht?" Ebd., S. 454f. 50 Ebd., S. 359. 160

ÖKONOMIE

zustand; die 'strukturelle Gewalt'51 einer liberalistisch entfesselten Ökonomie wird zum Spielfeld der skrupellosen und normativ bindungslosen takeover-Moral der cool killers.52 Sowenig das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen transitorischen Gewinnen und Verlusten über zentralistische Steuerungsinstanzen und 'Entscheider' verfügt, so wenig kennt auch der literarische Text eine privilegierte Stimme oder auktoriale Position; ökonomische Logik und Erzählverfahren nähern sich einander an. Vielmehr diversifiziert sich der Erzählbericht in zehn divergente Erzählerstimmen, deren Darstellungsform zwischen Gedankenbericht und erlebter Rede oszilliert. Aber mehr noch sind es die implizit zitierten Stile, theoretischen Horizonte und (kryptischen) Anspielungen auf unmarkierte Intertexte, welche die 'Heteroglossie' der Roman-Rede erzeugen:53 Ihr Anspielungsreichtum zitiert Autoren und Texte von Kafka (Seminarvorbereitungen auf dem Lande) bis Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq (Extension du domaine de la lutte, 1994).54 Das Pastiche heterogener Stile und Gattungsformen, das der Roman unterhalb der expliziten Lesbarkeit inszeniert, setzt zugleich ein Hauptmerkmal der universalisierten Wirtschaft in der ästhetischen Textur um: Die unbegrenzte, über Geld vermittelte Konvertierbarkeit von allem mit allem korrespondiert mit der ästhetischen Kapazität des Romans. Indem wirtschaftliche Prozesse so in Erzählverfahren (um-)codiert werden, erweist sich die Fähigkeit der literarischen Fiktion, eine vom Wirtschaftlichen geprägte Wirklichkeit adäquat zu begreifen.

51 Vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, übs. v. Hedda Wagner. Reinbek 1975. 52 Händler, Wenn wir sterben, S. 54. 53 Zu dieser Vielstimmigkeit vgl. Michel M. Bachtin, "Der Held im polyphonen Roman", in: ders., Literatur und Karneval, S. 86-100, sowie (in phänomenologischer Hinsicht) Bernhard Waldenfels, Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 1999. 54 Zur Korrelation der sexuell 'optimalen Auslastung' des Körpers mit der ökonomischen Effizienz der Fabrik vgl. den Beitrag von Stefanie Ablass im vorliegenden Band. 161

ÖKONOMISIERUNG

DES

KÖRPERS:

INTERDEPENDENZEN VON ÖKONOMISCHER UND PHYSISCHER SPHÄRE IM WIRTSCHAFTSROMAN1 STEFANIE ABLASS

Ende des 20. Jahrhunderts bearbeitet die literarische Fiktion, parallel zur Beschleunigung der ökonomischen Globalisierungsbewegung, verstärkt die Wucherungen des Ökonomischen in die physischen Körper der Gesellschaft. Mit der Globalisierung des Ökonomischen ist nicht allein eine geographische Tatsache angesprochen. 'Global' impliziert zugleich, dass die kapitalistische Ökonomie der Gegenwart das Leben des Einzelnen ganzheitlich durchdringt, osmotisch Systemgrenzen überwindet und zum dominanten Prinzip avanciert.2 Der Interdiskurs der Literatur, eingebettet und aufs engste verwoben mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen, bildet einen Spiegel des skizzierten Wandels. Doch er bietet keine Reflexion im Sinne eines mimetisch getreuen Abbildes der Wirklichkeit. Stattdessen legt er emphatische Schwerpunkte und bezieht – zumeist kritisch – Stellung gegenüber den von ihm in second order observation beobachteten Prozessen. Die Motive der Wirtschaft wie auch des Körperlichen haben in der Literatur Tradition.3 Doch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

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Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Disseration zur "Ökonomisierung des Körpers in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" und beschränkt sich auf die Behandlung der Romane von Ernst Wilhelm Händler, Wenn wir sterben, Frankfurt a. M 2002 und John von Düffel, Ego, München 2001. Vgl. u.a. Jeremy Rifkin, The Age of Access: The New Culture of Hypercapitalism. Where All of Life is a Paid-For Experience, New York 2000. Für den Bereich der Wirtschaft ist zu denken an den Kaufmann von Venedig von William Shakespeare, Gustav Freytags Soll und Haben oder Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister, für den Bereich des Körperlichen z. B. an Franz Kafkas In der Strafkolonie, Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törless oder neueren Datums Marcel Beyers Menschenfleisch – um nur einige wenige zu nennen. 163

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lässt sich eine gesteigerte Sensibilität für die wechselseitigen Implikationen der beiden Sphären erkennen. Diese Interdependezen gilt es zu analysieren. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, ob die allgemein attestierte 'Ökonomisierung des Sozialen' ihre Konkretisierung im Rekurs auf das Körperliche erlebt. Foucault schreibt: Tatsächlich ist nichts materieller, nichts physischer, körperlicher als die Ausübung der [ökonomischen] Macht … Welche Art einer Besetzung des Körpers ist für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft wie der unseren notwendig und hinreichend? […] Was bleibt, ist, zu untersuchen, welchen Körper die derzeitige Gesellschaft braucht … .4

Auf welche Art und Weise schafft sich die gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftsform jene Körper, die sie optimal in ihre Kreisläufe integrieren kann? Wie prägt sie damit zugleich den individuellen wie auch gesellschaftlichen Umgang mit dem Körper und seinen Stellenwert? An welchen Orten geschieht dies und wie verleiht die Literatur diesen Prozessen Ausdruck?

Wenn wir sterben – Ökonomisierte Körper Ernst Wilhelm Händlers Roman Wenn wir sterben ist zu lesen als Paradigma auf Prozesse der ökonomischen Macht, aus denen jene funktional und ästhetisch perfekt konstruierten und angepassten Körper hervorgehen, die eine kapitalistische Wirtschaft zu ihrem optimalen Funktionieren benötigt. Da ist zum einen Stine. Sie drängt durch eine Intrige die Miteigentümerinnen der Firma Voigtländer – Charlotte und Bär – aus dem Rennen um wirtschaftliche Macht und Einfluss und verliert am Ende selbst die Firma. Sie ist durch ihre rational-funktionalistische Sichtweise des eigenen wie auch fremder Körper eine "Variante", welche "die beste Anpassung an das Fundamentalgesetz der Geschichte, die Ökonomie" (239)5 verkörpert. Als groteskes "Präparat Stine" (233), dem die rechte Körperhälfte abgetrennt wurde6, fehlt ihr moralisch-ethisches 'Rechts'-

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Michel Foucault, "Macht und Körper", in: ders., Analytik der Macht, hg. v. D. Defert u. F. Ewald unter Mitarbeit v. Jaques Lagrange. Frankfurt a. M 2005, S. 74-82, S. 75. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Händler, Wenn wir sterben. "Das Streifenmuster der Sessel schneidet Stines Körper der Länge nach durch. Eine exakt gezogene Linie […] teilt ihren Körper in zwei Hälften. […] Stine fehlt der rechte Fuß, das rechte Bein, die rechte Schamlippe, die rechte Brust, 164

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gefühl und sie bietet absolute Introspektion in ihr Innerstes – optimale Bedingungen für perfekte Marktgängigkeit. Im Roman fungiert sie als die Allegorie des Ökonomischen per se. Ein Messe-Video, das Stine als neuen Vorstand des mittelständischen Unternehmens präsentiert, macht die Amalgamierung von Ökonomie und Körperlichkeit deutlich: Das Bild der Fertigungshalle und das Gesicht überlagern sich gegenseitig. […] Unter dem Kopf der Sprecherin tauchen Schaltschränke auf, Niederspannungsschaltgeräte bewegen sich zu dem orangefarben markierten Auge hin, Schalter für höhere Stromstärken schweben über dem Kopf. Du denkst an ein Heiligenbild […]. Die Frau mit der weißen Haut spricht jetzt, ohne den Mund zu bewegen. (291)

Die Fabrik als konkreter Ort des Ökonomischen und Stines Gesicht werden ineinander übergeblendet. Beide verschmelzen zu einem untrennbaren Körper-Gemisch. Stine erscheint verkabelt und vernetzt, mit medusenhafter Kopfbedeckung aus Produktionsteilen, unmenschlich, überirdisch und in ihrem maschinenhaften Wesen metaphysisch. Den Menschen als und vor allem in seiner Körperlichkeit zeigt der Roman als Effekt der Wirtschaft, in concreto der Fabrik: "Nichts konnte reiner sein als die Art, wie die Fabrik Menschen und Güter ansaugte und wie sie andere Menschen und andere Güter, bessere Menschen und bessere Güter zurückgab." (31) Die neue Ökonomie ist eine Macht, die "ihr Programm den Figuren injiziert"7, Körper diszipliniert, formt, effektiviert und dadurch "Menschenähnliche" (34) erzeugt. Stine als Inkarnation des Ökonomischen "hat mit Egin einen Klon von sich selbst erzeugt" (53): stine hatte egins seele gestreichelt, zu ihr geflüstert, bis sie gezuckt hatte. für einen moment hatte er seine zukunft geliebt, zitternd, doch dann hatte stine seiner seele die kleider heruntergerissen, sie in eine form gerammt. (386)

Sie spielt hier die Macht aus, "leben zu machen oder in den Tod zu stoßen"8. Am Ende des 20. Jahrunderts ist die Ökonomie zu jener von Michel Foucault beschriebenen "Bio-Macht" avanciert, die ihre Herrschaft über die Unterwerfung und Disziplinierung der Anatomie des

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das rechte Ohr, das rechte Auge, das Herz schlägt wie sonst […]. Es fließt kein Blut heraus, da ist eine Glasscheibe, die den Schnitt dicht abschließt […]." (224) Niels Werber, "Optimale Auslastung der Fickmaschine", in: taz v. 28./29. September 2002, S. 15. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M 1983, S. 134. 165

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menschlichen Körpers und die Bio-Politik der Bevölkerung organisiert. Sie gewährleistet hierdurch, "die Kräfte, die Fähigkeiten, das Leben im ganzen zu steigern, ohne deren Unterwerfung zu erschweren"9 und sichert sich damit die Ressource Körper-Mensch, die sie für ihr Fortbestehen benötigt. In Stines Geliebten Egin zeigt sich das auf diese Weise geformte und sozialisierte Disziplinarindividuum, dessen Zwang zu seiner zweiten Natur wird: "aber egin war nur noch ein zwang, kein mensch mehr." (386f.) Unmenschlich sind auch die seelenlosen Arbeitszombies (258), die nicht mehr sind als ein "Ding" (343), "ein haufen fleisch, in geld eingewickelt" (386). Die physische Existenz des Menschen ist reduziert auf sein biologisches Kapital, seine wetware, die nach den Maßgaben der Wirtschaft und ihren Bedürfnissen 'eingewickelt' und in Form gebracht wird. Tiefgefrorene Körper dienen als physische Ersatzteillager (351ff.)10 und der Verkauf des Körpers im Dienste der Karriere ist nicht unehrenhaft, sondern funktional: "egin zog sich aus […]. charlotte verlangte, er solle sich den schwanz reiben. egin rieb sich den schwanz und tanzte weiter […]." (125)11 Während sich in den Körpern als 'Produkt' das Prinzip der Vereinnahmung des Körperlichen für ökonomische Warenkreisläufe und monetäre Austauschprozesse manifestiert, handelt es sich bei der Auffassung des Körperlichen als individuelle Ressource um eine sublimere Form der Integration. Grundlegende Prinzipien der kapitalistischen Marktwirtschaft – Kosten-Nutzen-Abwägung, Optimierung und Rationalisierung, Steigerung von Effizienz und Qualität, Profitorientierung und -maximierung – verlagern sich in den Körper hinein. Intimste physiologische Bereiche wie Nahrungsaufnahme, Sexualität und Reproduktion obliegen von nun an dem ökonomischen Gesetz. Charlottes Tochter Ethel richtet ihren Ehrgeiz darauf, ihr "kleines Startkapital" zu optimieren und "effizient [zu] vermehren" (117), um 100 Jahre alt zu werden. Ihre seitenlange interpunktionslose Ernährungsphilosophie entspricht einer betriebswirtschaftlichen Bilanzierung. Nahrung qualifiziert sich für sie nach dem jeweiligen Nutzen für ihren Körper: […] sie befriedigte ihren täglichen bedarf an eisen von 10 bis 18 mg kupfer (2 bis 5 mg) magnesium (220 bis 300 mg) und zink (10 bis 20 mg) mit mineralwasser erbsen nüssen fischen tierleber sie aß vollkorn-

9 Ebd., S. 135. 10 Vgl. hierzu Andrew Kimbrell, Ersatzteillager Mensch. Die Vermarktung des Körpers, München 1997. 11 Ein interessanter gender-theoretischer Nebenaspekt besteht darin, dass Händler die traditionellen Machtverhältnisse umkehrt: Es sind Frauen, die sich Körper kaufen und Männer, die sich prostituieren. 166

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brot und kartoffeln um sicherzugehen daß sie pro tag niemals weniger als 30g balaststoffe zu sich nahm […]. (116)

Als Anhängerin des bio-technologischen Fortschritts erkennt Ethel in den natürlichen Grenzen ihrer materiellen Existenz kein Faktum, sondern eine Potentialität. Für sie ist die "körperliche Natur des Menschen kontingent geworden […]. Es wird verfügbar, was einst als unverfügbar galt"12: […] ethel vertraute darauf daß in unmittelbarer Zukunft die entschlüsselung des telomerasegens gelingen würde das die zellteilung steuerte auf diese weise würde die apoptose der programmierte zelltod gestoppt werden und der körper ewig jung bleiben […]. (111)

Die durchdringende Macht des Ökonomischen zeigt sich in Händlers Roman in der Parallelmontage einer Szene aus Fleurs Video für die Biennale13 und Bärs Halbierungsspiel. Das Kapitel über Fleurs Video warnt vor very explicit content: Sagen kann ich sowieso nichts, einen Schwanz habe ich immer im Mund. […] Jeder steckte seinen Schwanz irgendwann in meine Fotze, drei trauten sich auch in meinen Arsch […]. (349)

Die Optimierungsstrategien der Unternehmensplanerin Bär gestalten sich wie folgt: Sie hatte durchgesetzt, daß aus einer Gruppe von fünfundzwanzig Arbeitern dreizehn weiterarbeiteten und zwölf zusahen. Tatsächlich konnten die dreizehn Arbeiter das Montageband nicht länger als eine Stunde am Laufen halten, die Aufgabe schien unlösbar. […] Sie versuchten es noch einmal […]. Den dreizehn Mann am Band wurden drei andere zugeordnet, die auf Abruf bereitstanden […]. (149)

12 Annette Barkhaus/Anne Fleig, "Körperdimensionen oder die unmögliche Rede von Unverfügbarem", in: dies. (Hg.), Grenzverläufe. Der Körper als SchnittStelle, München 2002, S. 9-23, S. 9. 13 Die Figur Fleurs spielt auf die amerikanische Soziologien Saskia Sassen an und auf deren These von der globalen Entfaltung der Wirtschaft und umfassenden Veränderung der Lebensgewohnheiten der Menschen. Die Wirtschaft vernetze den Menschen technisch und neutralisiere den physischen Raum ebenso wie die physischen Körper. Saskia Sassen, "Konturen des ökonomisch-elektronischen Raums. Global Cities und globale Wertschöpfung", in: documenta/ Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.), POLITICS -POETICS. Das Buch zur documenta X, Ostfildern-Ruit 1997, S. 736-745. 167

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Im Verlauf des Experiments gelingt es Bär, den Personalaufwand für die Fließbandfertigung der Fabrik zu halbieren. Das Band, das die heterogenen Szenen des filmischen gang bang und der organisatorischen Maßnahmen zur Produktivitätserhöhung verbindet, ist ökonomisch motiviert: die Optimierung von Frequenz und Auslastung. Das Pornoskript fährt fort: […] sie haben an meinen Titten rumgemacht, sie haben mir zwei Schwänze in den Mund gesteckt, und natürlich haben sie auch probiert, mir zwei in die Fotze zu stecken. […] Die in mir keinen Platz hatten, bediente ich mit den Händen […]. (350)

Was hier ausführlich beschrieben wird, ist die Objektivierung einer Frau zur Maschine, welche Vergleichbares leistet wie im produktionstechnischen Versuch die halbierte Anzahl von Arbeitern: Sie erfüllt ein Optimum an Leistung bei gleichzeitiger Reduzierung der notwendig einzusetzenden Ressourcen. "Ein Minimum an Frauen befriedigt ein Maximum an Männern. Die Fabrik erzeugt mit einem Minimum an Personal ein Maximum an Produkten."14 Zwei Aspekte sind hier zentral: Zum einen die Ökonomisierung der Sexualität, durch die basale körperlich-reproduktive Vorgänge lediglich nach wirtschaftlichen Prinzipien gemessen und verwaltet werden.15 An die Stelle der zwischenmenschlichen Beziehung tritt der 'intime' Austausch des Monetären: "Dabei gibt es nichts Intimeres, als wenn jemand Geld von jemand anderem zu bekommen hat." (89) Zum anderen wird deutlich, dass der Mensch im wirtschaftlichen Spiel die Rolle des Handlungsträgers verliert und zum Objekt des Ökonomischen wird. Wenn wir sterben – bereits im Titel klingt das barocke Motiv des memento mori, der vanitas alles Lebendigen an. Historischer Kontext sind im 17. Jahrhundert die Eindrücke und Erfahrungen des 30-jährigen Krieges, heute ist es der generalisierte Wettbewerb. Stines apokalyptische Vorstellung von ihrem Triumph erinnert an Dantes Inferno und offenbart den kriegerischen Charakter des freien Marktes: Sie werden in die Schlucht stürzen, mit aufgerissenen Augen und Mündern, mit verdrehten Gliedern. […] Stine sieht schon vor sich, wie vertraute Körperteile die Abhänge sprenkeln, geknickte Torsi, herausgerissene Gliedmaßen, überall quellen Körperflüssigkeiten. (36) 14 Niels Werber, "Optimale Auslastung der Fickmaschine", S. 15. 15 Selbigen Aspekt verdeutlicht der "Gummi-Uterus", der die Perfektionierung der menschlichen Fortpflanzung, ihre vollständige Externalisierung, Funktionalisierung und Maschinisierung gewährleisten soll, damit "in der Familie der Zukunft Schwangerschaften nicht mehr vorkommen müssen" (209f.). 168

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In Händlers poetisierter Wirklichkeit sind die Körper nicht allein Ware oder Kapital, sondern verwundete, vom Kampf verstümmelte Opfer. Es riecht nach "verbranntem Fleisch" (90) und Egin ist vom "aussatz" (383) der Intrige gegen Charlotte und Bär gezeichnet: ich habe ihnen meine hand entgegengestreckt, die vogelkralle, und mein gesicht gezeigt, das löwengesicht. mit der hand bin ich in mein auge gefahren, dahin, wo kein auge mehr war, auf einem bein bin ich ihnen entgegengehumpelt und habe auf das andere bein gezeigt, das sie mir abgesägt haben, und auf meinen armstumpf. (385)

Selbst gegen Stine richtet sich die gewalttätige Kraft der Wirtschaft in Form der gegnerischen Anwälte, die versuchen, sie "zu vergiften, zu schinden, aufzuschlitzen, zu zertrampeln, zu zerquetschen, zu verbrennen" (447). Am Ende ist sie, die inkarnierte Ökonomie, ebenso versehrte Körperlichkeit wie die anderen: Während Stine sich jetzt über das Geländer beugt, wird auch ihr Körper von […] sieben Klingen zerteilt […] Natürlich ist auch das Herz entzweigeschnitten […]. Der Brustkorb ist geklammert, das Herz genäht, aber die Teile verschieben sich gegeneinander. Das Herz pulst gegen sich selber, der Brustkorb spießt sich selbst auf. (92f.)

An diesem Punkt öffnen sich die Zonen der Exklusion für diejenigen Körper, die für die ökonomischen Kreisläufe nicht mehr von Nutzen sind. Entweder ist es ein aktives Moment des Ausstiegs wie im Falle von Bärs Robinsonade, Charlottes chronischem Müdigkeitsdefizit oder der Flucht ihrer Tochter Ethel in den Drogenkonsum. Oder die beschädigten Körper-Subjekte werden in Randzonen abgeschoben, in Kliniken therapiert oder auf "Deponien" entsorgt. Nachdem Stine für Egin keine Verwendung mehr hat, schiebt sie ihn kurzerhand in die "Sondermülldeponie" (425) ab – ein "Low-cost-Gebäude" (432) in einem "Technopark" (439) vor den Toren der Stadt: Alle sind tot oder sehr schwer verletzt, aber es gibt keine Ärzte, jeder leuchtet und klopft am anderen herum. Trotzdem heult und kreischt niemand, die Opfer kichern nur. Hier reißen alle die Augen auf und blicken ganz tief in den Brunnen hinunter, der ihr Morgen darstellt, hier fließt aus jedem Existenzgründer das Geld heraus wie ein Nasenbluten, das er nicht stoppen kann. (434)

In allen Fällen sind die Körper – geographisch oder psychosomatisch – dem utilitaristischen Zwang der ökonomischen Verwertbarkeit entzogen.

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Es ist eine gewollte16 oder ungewollte Unfähigkeit, die ökonomischen Imperative einer kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft zu erfüllen.17 Im Nexus der Zwecklosigkeit versammeln sich die auf den Status eines nackten, bloßen Lebens reduzierten Existenzen. Der ökonomischen Gesellschaft der Leistungsfähigen nicht mehr nützlich, finden sie sich aus dieser ausgeschlossen wieder als der homo sacer Giorgio Agambens, dem, aus der politisch-rechtlichen Gemeinschaft verbannt, allein seine physische Existenz, sein natürliches Dasein bar jeglicher Rechte bleibt. Weder ganz lebendig noch als vollständig tot anerkannt, war der homo sacer eine Art ‚lebender Toter’, dem noch das elementare Recht verwehrt war, wie ein Mensch zu sterben.18

Kranke und Alte, Verweigerer und Gescheiterte fristen in Transiträumen ihr gesellschaftlich und ökonomisch verwirktes Leben, an Schwellen zwischen Nutzen und tatsächlichem Tod. Wie Charlotte und Ethel in der "Sargfabrik" sind sie lebendig begraben, denn in einer Gesellschaft, in der Leistung alles ist und die Identität des Einzelnen definiert, gilt: "[s]o wie früher stirbt man nicht mehr!" (427) Vor dem endgültigen liegt der ökonomisch-soziale Tod: Man fällt ganz einfach für das soziale Leben aus. […] Ob sie nun im ewigen Eise liegen, ob sie zu Schrumpfköpfen verarbeitet oder von wilden Tieren gefressen werden oder ob sie aus dem Golfclub ausgetreten sind, weil sie die Mitgliedsgebühr nicht mehr bezahlen konnten, es läuft auf dasselbe hinaus. (61)

Ego – Der Selbst-Unternehmer Nach Max Weber ist der Unternehmer Inbegriff und Verkörperung des Kapitalismus.19 Diesem verleiht Ernst Wilhelm Händler literarischen Ausdruck. Doch der Unternehmer wie er Weber vor Augen steht, wird 16 "Doch gerade das Nutzlose bereitet ihm einen besonderen Spaß"(427), heißt es über Egin. 17 Mehr zur Exklusionsdebatte vgl. Heinz Bude (Hg.), Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg 2006. 18 Thomas Lemke, "Die politische Ökonomie des Lebens. Biopolitik und Rassismus bei Michel Foucault und Giorgio Agamben", in: Disziplinen des Lebens: zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, hg. v. Ulrich Bröckling, Tübingen 2004, S. 257-274, S. 259. Siehe auch Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt 2002. 19 Vgl. Max Weber, Wirtschaftsgeschichte. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, München/ Leipzig 1923. 170

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gegenwärtig zunehmend abgelöst vom "Regime der Manager"20, der Beraterriege und den Consulting-Experten, zu denen auch John von Düffels egomaner und fitnesssüchtiger Protagonist Philipp zählt. Aus der subjektiven Perspektive dieser paradigmatischen Zeitgeistfigur schildert der Roman in monologischer Manier drei Tage aus der postmodernen Arbeitswelt, in der sich Ökonomisches und Körperliches vermischen. Mit der wirtschaftlichen Durchdringung der Lebenswelt ergeht der Ruf nach Entrepreneurship über soziale und ethnische, religiöse und geschlechtliche Differenzen hinweg an jeden Einzelnen und zielt auf jenes Gut und Vermögen, das jeder einbringen kann – die somatische Basis. "[U]nternehmerisch handeln können und sollen auch jene, die nichts anderes zu Markte zu tragen haben als ihre eigene Haut."21 Und genau darin ist Philipp Meister. Er ist der personifizierte Shareholder des individuellen Humankapitals, dessen Körper einerseits im generalisierten Wettbewerb einsetzbare Ressource, andererseits aber auch Unternehmung ist, die Planung, Investition und Kalkulation bedarf. Er betreibt sein Ego als Profit-Center und sein Body-Building22 als "Kurspflege an der Ich-Aktie"23. Der Wettbewerb des ökonomischen Marktes wird zum allumfassenden Prinzip, das sich auf unterschiedliche Körperorte ausdehnt und das Individuum zum permanenten Streiter macht: Natürlich muß man Athlet sein. Jeder, der heute ernstgenommen werden will, muß absolut Athlet sein, ob er nun in der Computerbranche arbeitet oder als Filialleiter in einem Supermarkt. Athletsein ist Dogma. (121)24

Philipp hat seine betriebswirtschaftlichen Credos und das Spiel der freien Marktkräfte gelernt ebenso wie er sich den Schlachtruf der radikalen 20 Vgl. James Burnham, Das Regime der Manager, Stuttgart 1951. 21 Ulrich Bröckling, "Der Unternehmer", in: Glossar der Gegenwart, hg. v. U. Bröckling u.a., Frankfurt a. M 2004, S. 271-276, hier S. 271. 22 Mit der Thematik 'Body-Building' und 'Körperkult' befassen sich in der Gegenwartsliteratur u.a. Bodo Kirchhoff, Body-Building, Frankfurt a. M. 1980 und Joachim Bessing, Wir Maschine, Stuttgart 2001. 23 Stephan Maus, "Muckibudenzauber", in: Frankfurter Rundschau v. 10. Oktober 2001, S. 15. Abdoumaliq Simone formuliert, dass "die Individuen immer stärker dazu gedrängt werden, 'sich selbst zu managen', das heißt als Unternehmer in eigener Sache ihr eigenes Ich in einen selbstregulierenden und unablässig verbesserten, effizienten ökonomischen Agenten zu transformieren." Abdoumaliq Simone, "Die globalisierte urbane Ökonomie", in: Documenta 11. Plattform 5: Ausstellung. Katalog, hg. v. documenta/ Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH, Ostfildern Ruit 2002, S. 114-121, S. 116. 24 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Düffel, Ego. 171

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Marktorientierung und die Maximen der Consulting-Industrie buchstäblich einverleibt hat. Die tägliche Selbstkasteiung durch Diätik ist "eine Qual, die mir schon in Fleisch und Blut übergegangen war" (174). Er berauscht sich am "Gefühl von perfekter Körperbeherrschung" (11) und demonstriert gegenüber seinem Körper "den unbedingten Willen zur Härte" (169). Der von Norbert Elias beschriebene Prozess der Umwandlung des äußeren Fremdzwanges in einen verinnerlichten Selbstzwang manifestiert sich auch im Roman vornehmlich an der menschlichen Physis25. Fitness und Gesundheit, Schlankheit, Jugendlichkeit und sexuelle Attraktivität wurden zum Credo der modernen Gesellschaft und zum Leitmuster bürgerlicher Alltagskultur. Das neue Körperideal verlangt Straffheit, demonstrative Gesundheit, Makellosigkeit […].26

In der Figur Philipps findet der "Effekt der Besetzung des Körpers durch die Macht" als Selbstdisziplin sowie "Beherrschung des eigenen Körpers und das Bewusstsein von diesem"27 seine aktuellste Ausformung. Sein gesamtes Universum ist geprägt von Prinzipien wie Effizienzsteigerung, Leistung, Funktionalität und Ergebnisfixierung, die er auf die eigene wie auch auf fremde Körperlichkeit anwendet. Wenn er sein tägliches Trainingsprogramm von Jogging über Sit-Ups und Gewichtheben absolviert, nur ästhetisch wohlgeformte und trainierte Körper gelten lässt und an seinem Ideal Katrin die "Körperbeherrschung anderer Ordnung" (171) und deren Steigerung ins Lusthafte bewundert, liest sich das wie Foucaults Diagnose der Mechanismen der Macht: [D]ie Gymnastik, die Übungen, der Muskelaufbau, die Nacktheit und das Schwärmen vom schönen Körper … das alles liegt auf der Linie, die durch eine beharrliche, hartnäckige und gewissenhafte Arbeit, die die Macht am Körper der Kinder und der Soldaten und am Körper in guter gesundheitlicher Verfassung vollzog, zum Begehren des eigenen Körpers führt.28

25 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt/M 1976. 26 Gertrud Pfister, "Zur Geschichte des Körpers und seiner Kultur – Gymnastik und Turnen im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß", in: Körper, Kultur und Ideologie. Sport und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Irene Diekmann u. Joachim H. Teichler, Bodenheim 1997, S. 11-47, S. 11. 27 Michel Foucault, "Macht und Körper" (s. Anm. 4), S. 75. 28 Ebd. 172

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Philipps Ziel ist die "absolute Alpha-Anatomie" (113), die ihn zum unbesiegbaren Helden macht. Sein selbst geschaffener Panzer, sein "durchgearbeitete[s] Muskelkorsett" (214) macht ihn zum perfekten BusinessKrieger im Kampf mit den "Anfechtungen durch fremde Körper" (109) und lässt ihn vor der "Körperkulisse" (113) des ökonomischen 'Aller gegen Alle' standhalten. Doch der Schein trügt. Das, was ihn scheinbar beschützt und ihm Form gibt, ist – gleich Hegels dialektischem Verhältnis von Herr und Knecht – in Wahrheit eine Fessel, eine Sucht, die seine Beweglichkeit behindert. In dieser Ambivalenz wird Philipps Status als homo clausus deutlich, das heißt jenem menschlichen Typus, der in seinen eigenen Körpergrenzen gefangen und eingepfercht ist und der für die moderne kapitalistische Gesellschaft zum unverzichtbaren Element wurde.29 Daher muss auch der ins Innere ragende Nabel in leitmotivischer Manier auf Nabeltiefe "Null" gebracht werden. Nur so entsteht die unangreifbare, glatte Oberfläche, die sowohl als Schutzschild wie auch als Reflexionsfläche dient und feindliche Blicke am plakativen Äußerlichen abprallen lässt: "Die inneren Kämpfe sieht man mir nicht an, keine Spur. Auf meine Oberfläche ist Verlaß." (18).30 Sich selbst jedoch als unverwundbaren Helden wahrnehmend, gewappnet mit unverwüstlichem Ego und eiserner Selbstdisziplin, begibt sich Philipp in den Kampf der 'neuen' Märkte, bei dem es im Kern um den facettenreichen Wettstreit reiner Körperlichkeit geht. Der harte Wettbewerb zwischen den Arbeitskraftunternehmern wird auf der Ebene von körperlicher Fitness, Stärke und Ästhetik fortgeführt. Der ökonomische Markt-Kampf wird zum symbolischen Zweikampf an der Gewichtmaschine, das Fitness-Studio zur neuzeitlichen Arena und Philipp zum (post)modernen Gladiator: "Dann betrete ich den Maschinenpark. Mein Oberkörper glänzt in feinperligem Schweiß wie eingeölt." (89) Es geht um das darwinistische Prinzip des survival of the fittest und um die Bestätigung einer Hierarchie. Nur wer körperlich und ästhetisch seine Qualifikation beweisen kann, hat Zugang zur höchsten Trainingsebene. Philipps Gegner hätte wenn es nach seiner körperlichen Verfassung ginge, […] auf dieser Trainingsebene jedenfalls nichts zu suchen. (90) […] Vielleicht sollte man ihn darauf hinweisen, daß hier im Maschinenpark niemand auf der Seite der Verlierer steht. (95)

29 Vgl. Elias, Prozeß der Zivilisation. 30 Das Streben nach "Nabeltiefe null" ist zugleich symbolischer Ausdruck der Kultivierung und Beherrschung von ursprünglich Natürlichem, das Philipp zuwider ist. Er will keinen "formlosen Krater im Fleisch", sondern einen "durchtrainierte[n] Nabel" (10). 173

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Ebenso geht es auf sexueller Ebene darum, sein Körperunternehmen erfolgreich zu vermarkten. "Wenn die Körper entscheiden […], wenn die Biologie zuschlägt, der Instinkt, geht es immer danach, wer der Stärkere ist." (192) Es geht um erotische Konkurrenzgefühle und die Frage, ob man zu den genetischen Nieten oder Gewinnern gehört. Das sind die Karten, mit denen man zu spielen hat in der "große[n] Olympiade des Lebens" (180). So wird der Körper zum biopolitischen Spielball im Karrierewettlauf. Philipp stimmt der Schwangerschaft seiner Verlobten Isabell zu, um sie endlich sowohl beruflich wie auch körperlich aus dem Rennen um die Spitzenposition zu drängen. (253) Diese toleriert im Gegenzug den Einsatz seines Körperkapitals bei der Gattin des Chefs. (236) Doch es gilt nicht allein, als "Karriere-Athlet" (216) zu bestehen. Darüber hinaus muss man sich selbst zu einer unverwechselbaren Marke, zu einem Produkt seiner Selbst stilisieren: Jeder von uns muß wissen, nach welchem Bild er lebt und sich formt. Diesem Bild entkommt man nicht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man bestimmt es, oder man läßt es über sich bestimmen. (112)

Der Körper fungiert damit als "Präsentation des Selbst, als Symbol von Kreativitität und Modernität, als ein Mittel der sozialen Distinktion und zur Demonstration von Energie, Effizienz und Selbstdisziplin"31. In der Oberfläche der Muskelkonturen drückt sich – einer Werbefläche gleich – das inszenierte Ego aus: Aber die Konturen [des Gesichts] sind messerscharf. Die Schattenschraffur unter dem Jochbein verleiht mir einen verwegen kämpferischen Zug. Mein Kinn schiebt sich markant ins Bild. […] Kein Wunder, daß Stickroth an mich glaubt. Wenn ich mich immerzu sehen könnte, würde ich auch an mich glauben. Bei solch einer energischen Kinnpartie ist es erstaunlich, daß mein Aufstieg in die oberste Etage so lange gedauert hat. Wie kann Stickroth dieses Kinn sehen und an meiner Entschlossenheit zweifeln? (145)

Der Selbstunternehmer Philipp ist Pygmalion und Narziss in Personalunion. Sein Körper ist sein Lebenswerk, dessen Form und Funktion Produkt seines individuellen Bemühens sind. Das Bild, das Philipp gewählt hat, ist das des erfolgreichen Business-Helden: "Natürlich sehe ich wie der sichere Sieger aus. So auszusehen ist meine Spezialität." (93) Seine Freundin Isabell bestätigt ihm die erwünschte Wirkung: "Aber jetzt, wo dein Körper noch muskulöser ist, wirkst du gleichzeitig […] irgendwie 31 Pfister, "Zur Geschichte des Körpers und seiner Kultur" (s. Anm. 26), S. 12. 174

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vertrauenerweckender." (212) Doch reine Präsenz reicht nicht aus, um die Marke "Philipp" erfolgreich zu verkaufen. Zu Gebote steht die ästhetische Selbstinszenierung: Unterdessen suche ich den günstigsten Winkel im Gegenlicht und verharre einen Augenblick im Profil, um meinen Brustkasten gebührend hervorzuheben. Dann stelle ich mich mit dem Rücken zu ihr […] und lasse sehr langsam die Muskeln spielen. Mein weißes Hemd müßte bei diesen Lichtverhältnissen beinahe transparent sein, mein Oberkörper eine dunkle Silhouette. (20)

Nichts ist essentieller als das Ringen um Aufmerksamkeit32: Was ich in den nächsten dreißig Minuten zu tun habe, ist vollkommen klar. Ich muß ein bißchen für mich selbst Reklame laufen und mein Gesicht möglichst flächendeckend in Erinnerung bringen. (245)

Die Figur Philipps präsentiert ein Körperkonzept, in dem ökonomische Prinzipien mit der Auffassung vom Körperlichen an sich amalgamieren. Wenn er von sich selbst sagt: "Entscheidend ist nicht, was ich bin, sondern was ich sein könnte", so drückt sich darin der Glaube an die generelle Optimierbarkeit des Körpers und die entsprechende Aufforderung dazu aus. Katrin ist das Ideal, denn ihr Körper ist beides: "die Gabe und das Machbare, nicht nur Geschenk, sondern Werk" (111). Darüber hinaus wird der Körper funktionell als Mittel zur Erreichung außerhalb seiner selbst liegender Zwecke eingesetzt, wobei sowohl die Strategie als auch das Ziel ökonomisch motiviert sind. Wichtig ist hierbei nicht, was der Körper fühlt oder empfindet, sondern dass er ein "funktionierender Organismus" (68) ist. Körperliche Vorzüge oder Mängel fügen sich für den Rationalisten Philipp in ein klassifikatorisches Raster. Menschen entsprechen ihren körperlichen Kategorien: der "Apfelpo" (16) oder die perfekten Zwillingsknie (20), die "Knallwaden" (29) oder der "appetitanregende Hintern" (54) – das ist ästhetischer und somatischer Rassismus. Die Perfektion hingegen, die er auch von seinem eigenen Körper verlangt, ist der makellose, fehlerfreie und durch Disziplin und Ausdauer erreichte Körperbau: "Ich habe noch nie einen Nabel gesehen, der sich so logisch aus einem Bauch ergibt." (98)

32 Siehe hierzu die Rolle der Aufmerksamkeit als ökonomisches Medium bei Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/ Wien 1998. 175

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Das ökonomische Subjekt und die autopoietische Wirtschaft Händlers Wenn wir sterben und von Düffels Ego liefern eine Interpretation der omnipräsenten Wirtschaftswelt und zeigen den Menschen als Opfer der wirtschaftlichen Ordnung. Sie hat […] aus charlotte eine amorphe masse [gemacht], aus ethel eine stumme sprechanlage, aus bär gebrochenes blei, aus fleur dünnes glas, aus marco eine salzsäule, aus giovanna hänschen klein, niemand konnte fliehen" (Händler 386f.).

Sandra Pott spricht, in Anlehnung an Foucaults doppeldeutiges Subjektverständnis, von einem "ökonomischen Subjekt"33, das zwar selbständig handelt, aber dennoch Unterlegener und Abhängiger ist. "Das Subjekt werde", so der philosophische Pförtner Händlers in seiner sokratischen Pförtnerloge, "nicht mehr durch Überwachen und Strafen erzeugt. Das Subjekt sei jetzt das Ergebnis eines Optimierungskalküls." (469f.) Wahres Subjekt im Sinne einer handelnden Autorität ist die Ökonomie, versinnbildlicht in Händlers autopoietischer Fabrik Voigtländer, die keines Hüters bedarf und bereits fertig und allwissend 'zur Welt kommt' (30-34). Ihre Macht der Automatisierung und Rationalisierung dehnt sie bis in die kleinsten Winkel aus, bis sie zuletzt den in ihr tätigen Menschen durchdringt und assimiliert. Die Dominanz des Ökonomischen setzt sich bis in die formale Struktur der Romane fort. In beiden Fällen ist die Sprache durchdrungen vom Slang des Business-English. Keiner von Händlers Protagonisten spricht für sich selbst. Ihre Sprachlosigkeit korrespondiert mit ihrem Status als Unterlegene der Wirtschaft, die wie in Ego die Ordnung und Einheit schaffende Instanz darstellt. Nicht die Handlungen der Figuren, ihr Organisieren, Kaufen und Verkaufen, Verhandeln, Optimieren oder Sabotieren machen die Romanhandlung aus, sondern das Thema des Ökonomischen verkettet das, was die Figuren tun, zu Handlungen. "Die Verkettung tritt an die Stelle der Subjekte"34, schreiben Gilles Deleuze und Felix Guattari. Antrieb und Organisation der Verkettung liefert eine "Maschine" und Menschen sind entsprechend "Maschinenteile"35. Übertragen auf die Romane bedeutet dies: Die Figuren sind "Elemente von 33 Sandra Pott, "Wirtschaft in Literatur. 'Ökonomische Subjekte' im Wirtschaftsroman der Gegenwart", in: Kulturpoetik 4 2004, 2, S. 202-217, S. 206. 34 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M. 1976, S. 116. 35 Ebd., S. 112. 176

ÖKONOMIE

Verkettungen, deren Logik die Ökonomie vorgibt"36. Dies bedeutet, dass die Ökonomie das grundlegende Muster aller Prozesse, Entwicklungen, Handlungen und Entscheidungen ist – vor allem auch jener, die den Körper betreffen.

36 Werber, "Optimale Auslastung der Fickmaschine", S.15. 177

SELBSTKRITIK ALS IMMUNISIERUNGSSTRATEGIE IN BERNHARD SCHLINKS DER VORLESER1 TIM REISS

Scham und Schuld In einem Aufsatz mit dem Titel Schuld und Scham des 2006 erschienenen Merkur-Heftes zum Thema "Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik"2 beschreibt Stephan Schlak eine von ihm als "Normalisierung" begrüßte Veränderung des öffentlichen Bezugs zur faschistischen Vergangenheit Deutschlands als Ablösung des bundesrepublikanischen Schuld- durch einen neuen Schamdiskurs. Dem alten Schulddiskurs, der unter anderem mit der Position von Habermas identifiziert wird, wirft der Autor eine tiefe Verstrickung in das "Grundübel der Deutschen" vor, nämlich die "Überbetonung des Gewissens".3 Noch die Gesellschaftskritik der "68er" stehe damit in Kontinuität zur alten deutschen Innerlichkeit, die das erwachsen gewordene Deutschland jetzt endlich zugunsten repräsentativer öffentlicher Darstellung zu verabschieden habe. Gute zehn Jahre zuvor wurde mit Bernhard Schlinks Welterfolg Der Vorleser von der Literaturkritik ein Roman unter der gleichen Kategorie von "Normalisierung" rezipiert, der tatsächlich bis ins innerste narrative Gerüst von genau derjenigen existentialistischen Innerlichkeitsperspektive geprägt ist, die im Merkur-Heft als angeblich typisch deutscher, altbundesrepublikanischer Bezug zum Faschismus kritisiert wird. Die Widersprüchlichkeit, dass zwei sich ausschließende Beschreibungen jeweils als "Normalisierung" geliefert werden, erklärt sich aus der ideolo1

2 3

Ich verdanke dem Kolloquium "Literarische 'Vergangenheitsbewältigung' im Ost-West-Vergleich VI", das im Sommer 2005 am Institut für Germanistik der Universität Potsdam unter der Leitung von Helmut Peitsch stattfand, entscheidende Anregungen, vor allem zu Kapitel 3 dieses Aufsatzes. Mein Dank dafür gilt allen Teilnehmern. Stephan Schlak, "Schuld und Scham", in: Merkur 60 (2006), H. 9/10, S. 829836. Ebd., S. 836. 179

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gischen Funktion dieser Kategorie, die durch einen Blick darauf erhellt wird, welche Form des Vergangenheitsbezugs durch die Schein-Alternative Schuld/Innerlichkeit oder Scham/Äußerlichkeit ausgeschlossen wird: Gesellschaftskritik. Schlinks Vorleser, dessen ideologischer Gehalt, wie ich zeigen möchte, tatsächlich in der systematischen Delegitimation von Gesellschaftskritik besteht, ist in der Rezeption dabei in einem doppelten, einem ästhetischen und einem politischen Sinn, als "Normalisierung" verstanden worden: Einmal die ästhetische "Normalisierung" des angeblichen Sonderfalls der gesellschaftskritischen BRD-Literatur durch Angleichung an die internationale Norm des unterhaltenden Beststellers; zum anderen die politische "Normalisierung" des Vergangenheitsbezugs durch die Verabschiedung der angeblich pauschalen "68er"-Kritik durch ein angeblich differenzierteres Verständnis von Tätern und Opfern. Beide Beschreibungen von "Normalisierungen" stimmen in der Absage an Gesellschaftskritik überein. Ich möchte in meinem Beitrag aber zeigen, dass sie in einem noch engeren Sinne zusammengehören; eine genaue Textanalyse zeigt, dass beide "Normalisierungen" schon im Text ineinandergreifen. Der Roman spricht sein Anliegen, die Absage an die "68er"Gesellschaftskritik, an einigen Stellen ganz offen aus (vgl. z. B. S. 88, 100, 161ff.),4 aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der entscheidende Effekt des Textes dadurch erzielt wird, dass die Ebene der Selbstdeutung und Erzählerkommentare auf eine spezifische Weise mit der rhetorischen Ebene des Schreibverfahrens und der Textorganisation verzahnt ist. Ich analysiere diesen Zusammenhang in drei Schritten: Zunächst wird gezeigt, wie der gesamte Roman durch ein existentialistisches Deutungsmuster strukturiert ist (2). Anschließend wird näher untersucht, wie bei Schlink Selbstkritik Teil einer Selbstimmunisierungsstrategie ist und welche Rolle die in der Rezeption begrüßte "Spannung" des Romans dabei spielt (3). Diese Schreibverfahren des literarischen Textes werden im abschließenden Teil (4) in ihrem Verhältnis zur Ideologie und zum öffentlichen Diskurs untersucht.

Der existentialistische Rahmen Der ganze Roman ist durch existentialistische Gegensätze strukturiert. Als ein erstes und vielleicht wichtigstes Beispiel hierfür möchte ich zunächst die Schilderung der Gerichtsverhandlung durch den Roman untersuchen.

4

Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Ausgabe Bernhard Schlink, Der Vorleser (1995), Zürich 1997. 180

GESCHICHTE ERZÄHLEN

Im zweiten Teil des Romans, in dem die Gerichtsverhandlung gegen die frühere Geliebte des Erzählers im Zentrum steht, findet sich an mehreren Stellen eine Kritik des Erzählers an den Formen dieses Gerichtsverfahrens (vgl. z.B. S. 171), das exemplarisch für den Umgang der Bundesrepublik mit der faschistischen Vergangenheit steht. Dabei deutet der Erzähler die Problematik dieses Umgangs als eine objektive Aporie: "Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen." (S. 151)

Wie Donahue gezeigt hat,5 ist diese Selbstdeutung des Erzählers – dass es sich bei dieser Formulierung um die einer echten Aporie handele – aber keine zutreffende Deutung seiner eigenen Überzeugung, wie sie in den gewählten Formulierungen zum Ausdruck kommt. Denn die beiden Pole der Aporie – "Verstehen" und "Verurteilen" – stehen nicht auf der gleichen Ebene. Dem "authentischen Impuls" des Erzählers6 steht die gesellschaftliche Konvention entgegen – "wie es verurteilt gehörte" und "wie man sich [...] zu fühlen habe" (S. 150; Hervorhebung durch Vf.). Das Bedürfnis, zu verurteilen, ist nicht in derselben Weise ein eigenes Bedürfnis des Erzählers wie der Wunsch, zu verstehen. Diese Hierarchisierung und die damit verbundene Abwertung des Verurteilens als äußerlich aufgezwungen bestimmt auch die eigentliche Beschreibung des Gerichtsverfahrens. Dabei ist die Kritik des Romans an dem Gerichtsverfahren gegen die KZ-Wärterinnen nicht eine Kritik an diesem speziellen Gerichtsverfahren, sondern eine Kritik generell an der Äußerlichkeit eines jeden Gerichtsverfahrens; denn im Gerichtssaal wird die Schuld nach äußerlichen "Regeln" und "Formeln" "verrechnet" (S. 105); Anklagen, Verteidigen und vor allem Richten ist für den Erzähler als solches eine "groteske Vereinfachung" (S. 171). Ausgerechnet die Angeklagte und frühere Geliebte des Erzählers, Hanna, steht dabei kontrastierend für jene Ehrlichkeit (vgl. S. 122) und jenen Ernst (S. 107, vgl. S. 128)7, die der "Maske" des Richters (S. 107)

5

6 7

William Collins Donahue, "Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung. Geschichtsschüchternheit in Bernhard Schlinks 'Der Vorleser'", in: Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbechen, hg. v. S. Braese, Göttingen 2004, S. 165-176, hier: S. 184, Anm. 14. Ebd. Dazu gehört auch Hannas Hilfsbereitschaft am Anfang des Romans. 181

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und dessen Selbstgerechtigkeit (vgl. S. 154) gegenüberstehen, der das soziale und damit äußerliche "man" verkörpert (S. 107). Besonders deutlich wird dies an einer entscheidenden Stelle. Hanna stellt dem Richter die Frage "Was hätten Sie denn gemacht?" – zur Erinnerung: in Erwiderung auf eine Frage des Richters nach Hannas Mitwirken bei den Selektionen in Auschwitz [!] –, und der Erzähler kommentiert die aus seiner Sicht ausweichende Antwort des Richters: "Davon zu reden, was man muss und was man nicht darf und was einen was kostet, wurde dem Ernst von Hannas Frage nicht gerecht." (S. 107; Hervorhebung durch Verf.). "Ernst" sind für den Erzähler nur Fragen, die jenseits der gesellschaftlich verordneten "Klischees" (S. 142) das authentische Innere einer Person berühren. Die Dichotomisierung zwischen authentischem Kern und sozialer Rolle einer Person bedingt auch die Abwertung der Scham als bloß äußerliches Selbstverhältnis. Scham spielt für die Motivstruktur des Romans, wie mehrere Kritiker betont haben, eine entscheidende Rolle: Denn, am wichtigsten und zugleich fragwürdigsten, die Scham über ihren Analphabetismus soll Hannas Wechsel von Siemens zur SS erklären (S. 91f., 127). Und: Wegen ihrer Schamgefühle verletzt Hanna ihren jugendlichen Geliebten (S. 48, 54), aus Angst vor der Entdeckung ihres Analphabetismus kündigt Hanna ihre Stelle als Schaffnerin (S. 79ff.) und belastet sich im Gerichtsverfahren selbst (S. 127, 133). Diese existentialistische Dichotomie zwischen dem AuthentischInnerlichem und dem Äußerlich-Sozialen dient aber nicht nur explizit der Delegitimation des Gerichtsverfahrens und der Motivierung von Hannas Verhalten, sondern strukturiert den Roman von Beginn an. So zieht sich durch den ganzen Text die Abwertung des nachträglich Gewussten als minderwertig gegenüber dem ursprünglich Erlebten (vgl. S. 38, und auch schon S. 14): Das "Erinnern", heißt es, wird als bloßes "Registrieren" niemals dem ursprünglichen "Fühlen" gerecht (vgl. S. 96). Um diese strukturierende Prämisse gruppieren sich dann im Roman eine Reihe von weiteren Existentialismen, so der Gegensatz von "Alltag" und "Leben" (S. 31); die Betonung von "Abschied" und "Heimweh" (S. 32, 206), dem "Daheimsein" (S. 186) und der "Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen" (S. 200); die Abwertung des "Redens" gegenüber dem "Tun" (S. 166); nicht zuletzt auch die Tatsache, dass die entscheidenden inneren Einsichten den Erzähler grundsätzlich im deutschen Wald anfallen (S. 125ff., 144ff.). Die Überzeugung von der Überlegenheit des Erlebens gegenüber dem nachträglichen Wissen auf der Ebene der Selbstdeutung des Erzählers kann dabei seine grundsätzliche Kritik am Gerichtsverfahren erklären: Denn Hanna – und damit sich selbst als ihrem früheren Geliebten –

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GESCHICHTE ERZÄHLEN

verstehend gerecht zu werden, bedeutet für den Erzähler, den Versuch der möglichst differenzlosen Reproduktion ihrer authentischen Erfahrungen zu unternehmen, und das wird durch jede Form gesellschaftlichen Zugriffs auf diese Erinnerungen unmöglich gemacht. Das lässt der Roman auch Hanna selbst formulieren: "Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen." (S. 187) "Verstehen" ist also etwas, wenn wir der Selbstexkulpation Hannas, die auf einer Linie mit der des Erzähler steht, glauben wollen, was authentisch nur jenseits der sozialen Welt (d.h. der Lebenden) möglich ist. So problematisch die existentialistische Strategie der Verteidigung des "Authentischen" gegenüber dem nachträglichen Wissen ganz allgemein schon ist, um so anstößiger erscheint sie im Lichte der spezifischen historischen Erfahrungen, die im Roman verhandelt werden. Denn dieselbe Rhetorik hat einmal zur Folge, dass noch die KZ-Wärterin einen Bonus der Authentizität gegenüber ihren Anklägern und Opfern besitzt (Hannas "Ehrlichkeit" führt zum "Fehlen jeden strategischen und taktischen Sinns", die für Gerichtsverfahren notwendig seien, vgl. S. 132; dagegen erschreckt eines ihrer Opfer den Erzähler bei einem späteren Treffen durch ihre "äußerste Sachlichkeit", S. 200). Zum anderen ist nicht schwer zu sehen, wie diese Rhetorik ganz allgemein dazu dient, die "Verurteilung" der Elterngeneration durch die Studentenbewegung zu delegitimieren (vgl. u.a. S. 87ff., 100, 160ff.). Denn auch außerhalb des Gerichtssaals sieht der Erzähler nur "Formeln" der Schuldzuweisung (S. 105) und "Klischees" (S. 142f.). Die Pointe dieses existentialistischen Angriffs gegen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der eigenen Gesellschaft liegt auf der Hand: Das Wissen um die Verbrechen des Faschismus, denunziert als "aufklärerische[r] Eifer" (S. 162), darf die "Liebe zu den Eltern" (ebd.) nicht untergraben.

Selbstkritik als Selbstimmunisierung Ich habe mich nun bisher in meiner Analyse zu großen Teilen auf der Ebene der Selbstdeutung in den Erzählerkommentaren bewegt. Ein Weg, den Roman zu retten, wäre natürlich, wenn man zeigen könnte, dass es eine Differenz gibt zwischen den Kommentaren der Erzählerfigur (und auch anderer Figuren, etwa Hannas) und der Perspektive des Romans als ganzem, und tatsächlich ist diese Verteidigungsstrategie von einigen Kritikern,8 und mitunter wohl auch von Schlink selbst,9 angewendet 8 9

Vgl. Bill Niven, "Bernhard Schlink’s Der Vorleser and the problem of shame", in: The Modern Language Review 98 (2003), S. 381-396. Vgl. Donahue, "Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung", S. 194. 183

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worden. Dagegen, vielleicht also auch gegen die Selbstdeutung des Autors, lässt sich zeigen, dass die Selbstdeutung des Erzählers in einer spezifischen Übereinstimmung zum (Schreib-)Verfahren des Romans insgesamt steht, und dass sich genau hieraus die besonderen ideologischen Wirkungen erklären lassen. Ich möchte zunächst kurz auf die "Spannung" des Romans zu sprechen kommen, die in der Rezeption als Indiz für die "Normalisierung" zur Unterhaltungsliteratur begrüßt wurde. Die "Spannung" des Romans ist aber durchgängig das Resultat des bewussten und willkürlichen Verschweigens des Erzählers; der Erzähler hält dem Leser Informationen vor (so etwa S. 40, 50, 52, 53f., 79ff., 91, 104f., 112, 121ff.). Ich nenne das spannungserzeugende Verschweigen etwa von Hannas Analphabetismus willkürlich, weil es durch den Text selbst nicht motiviert ist. Es ist insbesondere auch nicht die Konsequenz einer bestimmten Erzählperspektive, etwa einer durchgängigen Erzählung aus der Perspektive des erlebenden Ichs, denn die Erzählung der Jugenderinnerung des erlebenden Ich wird von Anfang an durch Einschübe des erzählenden Ich und seiner Reflexionen unterbrochen10. Auch schaltet sich das erzählende Ich immer wieder mit Reflexionen über das Verhältnis zwischen dem heutigen Wissen und dem damals Erlebten ein. Das heißt, dass die unterschiedlichen Informiertheitsgrade der Erzählfigur, deren Effekt die begrüßte "Spannung" ist, insoweit unmotiviert sind, als dass sie nicht die Implikation einer bestimmten perspektivischen Erzählerpositionierung sind, und deshalb selbstzweckhaft allein der Spannungserzeugung dienen; das "Spannende" wird hier zur Regressionsform des allein "Fesselnden". 11

10 Vgl. zum erstenmal in Kapitel 1: "Ich glaube nicht, daß ich sie sonst besucht hätte." (7; meine Hervorhebung); danach gleich zu Anfang von Kapitel 2: "Das Haus in der Bahnhofsstraße steht heute nicht mehr. Ich weiß nicht, wann und warum es abgerissen wurde." (8; meine Hervorhebung). 11 Diese Unterscheidung trifft Georg Lukács in seiner Ästhetik: Das bloß "fesselnde" Kunstwerk ist ästhetisch defizient, weil es nicht "gestaltetes Abbild der Wirklichkeit in ihrer Totaliät" ist; es kann deshalb beim Rezipienten "bestenfalls eine Permanenz der Interessiertheit erzielen, nicht die evokative Kontinuität der echt künstlerischen Wirkung" (Georg Lukács, Ästhetik Teil I: Die Eigenart des Ästhetischen, 1. Halbband, Neuwied 1963 (=Werke, Bd. 11), S. 726). Aber: Anders als Lukács annahm, kann gerade diese "Permanenz der Interessiertheit" zu einer Form aktiver Selbstmanipulation des Rezipienten führen, die Distanzlosigkeit produziert; so hat es die Kulturindustrie-Kritik der Kritischen Theorie für den Film beschrieben. – In diesem Zusammenhang müssten auch die äußerst fragwürdigen Kolportage-Elemente des Romans erwähnt werden, z. B. die Schilderung der sexuellen Begegnungen zwischen 184

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Als das zentrale rhetorische Verfahren des Romans möchte ich jedoch die Verwendung von Selbstkritik zur Selbstimmunisierung12 bezeichnen. Diese Redeweise ist zunächst erläuterungsbedürftig, da normalerweise die beiden Begriffe als Gegensatz verstanden werden. Ganz grundsätzlich lässt sich aber zeigen, dass es eine Art und Weise der Artikulation von Selbstkritik gibt, welche die allgemeine Struktur eines performativen Selbstwiderspruchs besitzt; das heisst, dass der Gehalt einer Äußerung im Widerspruch zu seinem pragmatischen Verwendungskontext steht. In dem zu beschreibenden besonderen Fall steht also der selbstkritische Gehalt einer Äußerung in einem Kontext, der vermuten lässt, dass die Selbstkritik gerade der Immunisierung gegen Kritik dient. (Das lässt die Frage unberührt, ob dies den Absichten des Sprechers entspricht oder nicht; Selbstkritik kann auch ein Fall von Selbsttäuschung sein.)13 Unter dieser allgemeinen Beschreibung der Strategie der Selbstimmunisierung durch Selbstkritik lassen sich dabei verschiedene rhetorische Techniken zusammenfassen. Im folgenden diskutiere ich zwei (Haupt-)Formen dieser Verfahren, nämlich Schein-Fragen und ScheinDistanzierungen. (1) Schein-Fragen: Die Gemeinsamkeit dieser Techniken besteht darin, Fragen scheinbar neutral zu formulieren, die längst entschieden sind. Das ist einmal innerhalb der essayistischen Passagen des Romans der Fall, wenn scheinbar offene Fragen durch die Art der Fragestellung vorentschieden sind. Ähnlich sind die Fälle, in denen Prämissen der Fragestellungen als selbstverständlich unbefragt bleiben, und damit eine bestimmte Art der Antwort implizieren, beispielsweise die Behandlung der Frage nach der Nazi-Täterschaft als ein Problem der abstrakten Moralphilosophie (vgl. S. 132f., 135ff.), oder die wiederholt artikulierte, rhetorische Frage, ob "wir nun in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen [sollen]" (S. 100). Während diese ersten beiden Techniken sich hauptsächlich auf die essayistischen und selbstdeutenden Passagen des Romans beziehen, gibt Erzähler und Geliebter ("Auch sie war nackt. Sie legte die Arme um mich, die eine Hand auf meine Brust und die andere auf mein steifes Geschlecht. 'Darum bist du doch hier!'", 26) und die Erregung der sexuellen Phantasie des Erzählers durch die Vorstellung der "harte[n], herrische[n], grausame[n]" KZWärterin (S. 141f.). 12 Vgl. zum folgenden Donahue, "Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung". 13 Vgl. zum philosophischen Kontext dieses Problems Martin Löw-Beer: Selbsttäuschung. Philosophische Analyse eines psychischen Phänomens. Freiburg i. Breisgau/ München 1990, insbesondere Kap. XI, S. 219-233. 185

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es eine weitere Technik, Schein-Fragen zu produzieren, die auf einer bestimmten Form der Interaktion zwischen Erzählerkommentaren und Romanhandlung beruhen. Das heißt, dass in den essayistischen Teilen des Romans Fragen angeblich offen gestellt werden, die aber durch die Romanhandlung längst in eine bestimmte Richtung beantwortet sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Korrespondenz zwischen der existentialistischen Deutung des Geschehens in der reflektierenden Deutung der Erzählerfigur und der nach diesem Schema organisierten Handlungsstruktur (vgl. oben, Kap. 2). (2) Schein-Distanzierung: Unter diesem Begriff verstehe ich ein Verfahren, das in einer ganz allgemeinen Beschreibung gerade durch Distanzierungen auf der Oberfläche auf einer tieferen Ebene Identität produziert. Denn (Selbst-)Distanzierung kann, im Roman nicht anders als im Leben, auch zum Gewinn größerer (Selbst-)Gewißheit und Übereinstimmung dienen. Ich hatte erwähnt, dass viele Kritiker, die gleichfalls viele der Kommentare der Erzählerfigur äußerst kritisch bewerteten, den Roman dadurch zu retten versuchten, dass sie eine Differenz zwischen den Ansichten der Erzählfigur und den Absichten des Romans behaupteten. Meine These ist nun, dass es, um das zu begründen, nicht reicht, zu zeigen, dass es Stellen im Roman gibt, an denen man eine Distanzierung des Romans von seinen Figuren und deren Ansichten erkennen kann. Ganz allgemein lässt sich hier nämlich die Einsicht einer psychologisch aufgeklärten Rezeptionsästhetik anführen, dass auch und gerade distanzierende Momente in eine grundsätzlich identifikatorische Rezeptionshaltung integrierbar sind; es muss nicht unbedingt der ungebrochen positive Held sein, der zur Einfühlung einlädt.14 Die Selbstanklage des Erzählers wird nämlich durchwegs zum Gewinn von Identität gebraucht. Wer sich so hinterfragt, sagt der Roman, muss aus dem Hinterfragen endlich erlöst werden: "Aber [...] dass wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden – das sollte es sein?" (S. 99). Die Rhetorik dieser Frage gewinnt ihre Suggestionskraft dabei auch daraus, dass Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gleichgesetzt wird mit einem Gebot zu "verstummen". Das aber ist selbst das Ergebnis der Strategie des Romans, als objektive Aporie zu deuten, was sich nur nach den eigenen existentialistischen Maßstäben so darstellt: "Verstehen" und "Verurteilen" sind nach dieser verstellenden Selbstdeutung zwei gleichermaßen notwendige wie nicht zugleich zu erfüllende ethische Imperative (vgl. oben, Kap. 2). 14 Vgl. Hans-Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982, S. 244-292. – Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Helmut Peitsch. 186

GESCHICHTE ERZÄHLEN

Gerade die vorgebliche Selbstkritik dient dazu, dem Erzähler "narrative Autorität" zu verschaffen.15 Das fortdauernde Überfordertsein durch diese angebliche Widersprüchlichkeit ist nach seiner eigenen Deutung die Gemeinsamkeit des Erzählers mit seiner Generation (vgl. S. 99, 163). Letztlich impliziert diese Beschreibung, dass die Selbst-Distanz des Erzählers, wie der Nachkriegs-Generation überhaupt, in Anerkennung seiner verdienstvollen Bemühung, diese angeblichen Aporien auszuhalten, endlich aufgehoben werden müsse. Wird auf dieser Ebene Identität zwischen Erzähler und Leser über das Band der Generationen (und damit letztlich der Nation) herzustellen versucht, so bemüht sich der Roman auf einer anderen, noch fragwürdigeren Ebene um den Nachweis einer Identität von Tätern und Opfern. Die Gemeinsamkeit zwischen Tätern und Opfern des Faschismus soll in den Begriffen der "Betäubung" und der "Schuld" gegeben sein. Als "Betäubung" deutet der Roman einen Zustand, in dem sich gleichermaßen Erzähler, Angeklagte, Opfer und Richter während des Prozesses befinden (vgl. S. 97ff., 114f., 155, 160). Ein abstrakter Begriff von "Schuld" verbindet Hanna und den Erzähler ("Aber der Fingerzeig auf Hanna wies auf mich zurück. Ich hatte sie geliebt.", S. 162), sowie den Erzähler und seine Generation überhaupt mit der Elterngeneration ("War die Absetzbewegung von den Eltern nur Rhetorik, Geräusch, Lärm, die übertönen sollten, dass mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld unwiderruflich eingetreten war?", S. 163). Es läßt sich gut erkennen, wie das Bemühen der Einschreibung in den Opferdiskurs16 hier durch einen Begriff von "Schuld" ermöglicht wird, der von jedem konkreten Bezug vollständig abgetrennt ist. Es ist das in der öffentlichen Diskussion durchaus bekannte Verfahren, mit Hilfe eines mystifizierten Begriffs von "Schuld", zu der man sich angeblich bekennt, der Frage nach konkreter Schuld auszuweichen.

15 Vgl. Donahue, "Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung", S. 196. 16 Vgl. dazu Omar Bartov, "Germany as Victim", in: New German Critique 80 (2000), S. 29-40. – Ein weiteres offensives Mittel des Romans, "jede spezifische Zuweisung von Schuld zu neutralisieren" besteht in der Fokussierung des Gerichtsprozesses auf den durch die alliierten Bomben ausgelösten Brand (vgl. dazu Donahue, "Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung", S. 193f.). Folgender Satz verdient in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit: "Das Elend begann mit der Auflösung des Lagers und dem Aufbruch der Gefangenen nach Westen." (S. 116; meine Hervorhebung). Das Elend der KZ-Insassen begann mit der Auflösung des Lagers?! 187

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Delegitimation von Kritik Zusammenfassend läßt sich festhalten, dass es dem Vorleser insgesamt um die Delegitimation von Gesellschaftskritik als Modus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht. Diese Delegitimation versucht der Roman durch verschiedene Strategien zu erreichen, wobei sich rhetorische Schreibverfahren und explizite Selbstkommentierung unterschiedlich ergänzen: (1) Die Gesellschaftskritik der Studentenbewegung wird vom Erzähler als bloßer Ausdruck eines Generationenkonflikts gedeutet (vgl. S. 161). (2) Die Kritik der Studentenbewegung wird so gedeutet, dass sie eine Verurteilung der Elterngeneration "zu Scham" bedeute (S. 87). Scham aber ist im Roman negativ besetzt: In den kommentierenden Passagen wird Scham als bloß äußerliches Selbstverhältnis abgewertet, und auch auf der Ebene der Motivstruktur der Romanhandlung ist das Gefühl der Scham das Motiv, das erklären soll, warum Hanna in die SS eingetreten ist (vgl. S. 91, 127). (3) Die Gerichtsverfahren gegen faschistische Täter werden vom Erzähler so gedeutet, dass sie nach "Formeln" und "Klischees" (S. 105, 142f.) verfahren. Wie jedes Gerichtsverfahren sind auch diese Verfahren nur durch "groteske Vereinfachung" möglich (S. 171) und treffen damit nach der existentialistischen Deutung im Text nicht den authentischen Persönlichkeitskern der Angeklagten. (4) Ein weiteres Verfahren, die Gesellschaftskritik der Studentenbewegung zu delegitimieren, besteht darin, dieser Kritik zu unterstellen, sie bedeute vor allem die Immunisierung gegen die Einsicht in das eigene Verstricktsein. Das behauptet der Roman, indem der Erzähler, der sich als Repräsentant seiner Generation versteht, seine Liebe zu Hanna wie die Liebe zu den Eltern überhaupt als schicksalhafte Verstrickung in die Schuld der Elterngeneration deutet (S. 162f., vgl. oben). Wenn in diesem Sinne alle schuldig sind, dann ist in dieser Deutung der Schuldvorwurf der Kinder- an die Elterngeneration nur die Abwehr dieser Einsicht in die eigene Schuld. (Es ist wichtig, hier nochmals zu betonen, dass durch dieses Verständnis natürlich ein sinnhafter Begriff von "Schuld" überhaupt aufgelöst wird.) Insgesamt können wir als Anliegen des Romans die Abwertung von Scham und die Mystifizierung von Schuld betrachten. Damit steht der Roman nur auf den ersten Blick quer zu einer neueren Tendenz in der konservativen Publizistik, die ihre Kritik am "Schuld-Diskurs" der "alten" Bundesrepublik mit einer grundsätzlichen, auch anthropologisch begründeten Aufwertung "äußerlicher" Verhaltensweisen wie der Scham

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begründet.17 Schlinks Roman zeigt aber, wie der abstrakt-innerliche Schuldbegriff, den die Konservativen jetzt u.a. Habermas unterschieben wollen (vgl. oben, Kap. 1), entgegen ihren genau entgegengesetzten Suggestionen gerade nicht heimliches Motiv hinter der Gesellschaftskritik ist, sondern Werkzeug ihrer Delegitimation. Wie die publizistischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Memoiren von Joachim Fest im letzten Jahr gezeigt haben, ist ihnen das Bemühen um eine Diskreditierung einer Position der Kritik, für die den konservativen Vertretern der "Neuen Bürgerlichkeit"18 exemplarisch Habermas zu stehen scheint, so wichtig, dass sogar zu denunziatorischen Mitteln gegriffen wird.19 Das erhärtet den Verdacht, dass es dem Diskurs der "Neuen Bürgerlichkeit" und seinen Vorläufern wie dem Vorleser dabei auch darum gehen könnte, durchzusetzen, dass die Rolle des Bürgertums im Faschismus nicht mehr thematisiert werden darf.

17 Vgl. z.B. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994; dort vor allem auch mit Bezug auf die Anthropologie Helmuth Plessners. 18 Auch in einer weiteren Hinsicht nimmt der Vorleser dabei ein Thema des Diskurses um "Neue Bürgerlichkeit" vorweg. Ein ganzes Kapitel des Romans ist der Verteidigung des bürgerlichen Literaturkanons und der Diskreditierung der ästhetischen Moderne gewidmet (vgl. S. 174ff.), nicht zuletzt spielt das klassische Literaturerbe über das zentrale Motiv des Vorlesens auch im Hinblick eines traditionellen Modells moralischer Erziehung eine große Rolle. 19 Das November-Heft 2006 des Zentralorgans der "Neuen Bürgerlichkeit", Cicero, in welchem der sich auf Fest beziehende Artikel von Jürgen Busche, "Hat Habermas die Wahrheit verschluckt?" veröffentlicht wurde, stand bezeichnenderweise als ganzes unter dem Titelthema "Vergesst Habermas!". 189

STRATEGIEN

MIT

BIOGRAPHIEN:

DEKONSTRUKTION DER STUDENTENBEWEGUNG F.C. D E L I U S U N D S T E P H A N W A C K W I T Z , UTOPIE DES PROTESTS BEI UWE TIMM

BEI

MATTHIAS KUSCHE

Wenn um die Jahrtausendwende vermehrt biographisches Schreiben zu beobachten ist, so spricht aus diesen Werken zumeist eine Entsprechung der Gesellschaft – als einer Tatsache. Diese Literatur nimmt beispielsweise als Generation Golf die Sozialisation ihrer Protagonisten zum Ausgangspunkt, um die individualisierte Gesellschaft zu bestätigen. Der implizite Gegner heißt dabei Gesellschaftskritik. Genau diese war das Anliegen der 68er-Generation. Die Vertreter der Studentenbewegung haben behauptet, als Kollektiv Subjekt der Geschichte zu sein. Als ehemalige Akteure äußern sie sich nun, nach dem Scheitern des Protests, erneut. Ihre biographischen Zeugnisse nehmen aber einen anderen Standpunkt als den der damaligen Kritik ein. Sie bestreiten in der historischen Neubetrachtung, dass der Protestanlass berechtigt gewesen ist. Damit entsprechen sie der heutigen Sicht. In seinem literarischen Rückblick auf die Studentenbewegung revidiert beispielsweise Friedrich Christian Delius mit der Erzählung Amerikahaus und dem Roman Mein Jahr als Mörder das Anliegen der Studentenbewegung als Jugendsünde. Stephan Wackwitz resümiert den Protest als Gefahr für die Charakterentwicklung. Uwe Timm nimmt im Schreiben über 1968 eine besondere Rolle ein. Er bezieht den vorherrschenden Diskurs in seinen Roman Rot mit ein und unterzieht somit nicht nur die damalige Kritik sondern auch die historischen Bilanz der Studentenbewegung einer Überprüfung.

I. Für seine Erzählung Amerikahaus und der Tanz um die Frauen wählt sich F. C. Delius den Schauplatz der ersten wichtigen Demonstration in

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West-Berlin von 1966.1 Sein Protagonist Martin stimmt dem Anliegen der Kundgebung, gegen den Vietnamkrieg zu protestieren, von vornherein zu; ein Flugblatt des SDS hat ihn "überzeugt" (A, 48). Martin ist dennoch "kein Anhänger einer Gruppe oder einer Partei" (A, 56). Ihn treibt ein allgemeines humanitäres Ansinnen. Die gewalttätigen Auseinandersetzung mit der Polizei vor dem Amerikahaus am Ende der Demonstration erlebt er als einen Zwiespalt, den die, "die keinen Widerspruch zwischen Wort und Tat" dulden, augenscheinlich nicht teilen (A, 63). Martin aber ist gleichzeitig "gegen den fernen Krieg und gegen das Prügeln, Verletzen, Bluten." (A, 100). Er will sich zwar "einordnen", aber "bei Gefahr" lieber "den kritischen Beobachter spielen." (A, 101) Vor die Entscheidung "Bist du für oder gegen uns?" wird er dabei bezeichnender Weise gar nicht gestellt (ebd.). Die Frage nach moralischer Integrität trägt er an sich selbst heran. Und auch ein weiterer Grund seiner Teilnahme an der Demonstration äußert sich nicht allein als ein politischer. Er ist dort mit Ellen verabredet – und läuft "als Hoffender neben ihr" (A, 66). Sein Begehren ist dabei jedoch nicht an eine bestimmte Frau gebunden. Nachdem Ellen gegangen ist, kann es auch die mit dem "Blitzen in den Augen" und dem "Feuer" treffen, die er zu einer Art Imago der Studentenbewegung verdichtet und die für ihn das "Wilde" und "Radikalität" verkörpert (A, 87). Für sie hätte er sich sogar prügeln und zum "Radikalismus, Antiamerikanismus und jugendliche[n] Rowdytum" zählen lassen (A, 107). Jenseits moralischer Bedenken. Die ironische Distanz der Erzählung: "Braver Junge, [...] läßt sich von keinem wilden Mädchen verführen, verdammt", entspricht einem inneren Abstand Martins zum Demonstrationsgeschehen. Die Lenkung des Blicks auf Martins Gefühlsleben wird zur entscheidenden Perspektive der Erzählung auf den Besuch der Kundgebung gegen den Vietnamkrieg. In dieser Konstruktion erscheint die Studentenbewegung bereits seit ihrem Beginn als Ausdruck eines individuellen Interesses. Für Martin ist das Kollektiv der Demonstranten eine Projektionsfläche seiner Gefühle und dient dem Text zu einer bildlichen Darstellung der Studentenbewegung als die Adoleszenz-Phase einer Biographie, als neu und unerfahren. Es ist eine Konstruktionsleistung der Erzählung, die Studentenbewegung dadurch wie einen Reifeprozess wirken zu lassen, als Durchgangsstadium auf dem Weg zur Entwicklung einer Persönlichkeit, der sich die Frage nach der Legitimation des Protests subsumieren lässt. Den ersten Schritt zur Reife nimmt Martin, indem er es im Anschluss an die Demonstration schafft, eine Frau kennen zu lernen, mit der

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Friedrich Christian Delius, Amerikahaus und der Tanz um die Frauen, Reinbek 1999. Fortan zitiert unter der Sigle A. 192

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er sein erstes Mal erlebt. Zum kritischen Individuum wird er, indem er die Demonstration kritisieren kann und gleichzeitig ihre Darstellung in der Presse als "Heuchelei", weil er dabei gewesen ist (A,153). Die gewalttätigen Auseinandersetzungen sind für ihn Rock'n'Roll, wie "Ausschreitungen" nach einem Stones-Konzert, also auch nur eine Frage der Jugend (ebd.). Eben Martins Sympathie für die Demonstration lässt die Erzählung als ausgewogen erscheinen. Mit ihrer Schilderung vom authentischen Erleben der ersten Demonstration unterstreicht sie ihre Kritik an der Studentenbewegung als Reifungsprozess, als habe man schon damals wissen können, die Bewegung werde keinen Bestand haben, sei nur eine Phase und würde bloß eine Aura ums erste Mal herum entstehen lassen. Gerade dies aber ist die Konstruktionsleistung der Erzählung.

II. Wenn das Amerikahaus die Erfahrungen mit dem Protest noch frisch und als authentische Erfahrung liefert, so hat sich in Mein Jahr als Mörder, ebenfalls von F. C. Delius, die Studentenbewegung schon etabliert. Sie bleibt aber ein Phänomen der Jugend, an dem sich ein weiteres Mal die Persönlichkeit bewähren muss.2 In diesem Roman blickt nun ein gereifter Ich-Erzähler aus der Distanz auf ein Kapitel der Geschichte zurück, nämlich die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, an der letztendlich auch die BRD gewachsen ist. Im Jahr 1968 bestätigt für den Ich-Erzähler der Freispruch des "Nazijuristen" Hans-Joachim Rehse ein "Klischee", dass in der jungen BRD die Täter verschont werden. Dieser Standpunkt entspricht dem der Studentenbewegung (M, 9). Der Ich-Erzähler plant jedoch ein Vorhaben, das über die Aufarbeitung durch die Protestbewegung hinausgeht, indem er Rehse töten will! Ausschlaggebend für diese Idee ist ähnlich wie im Amerikahaus die Geschichte der Protestbewegung als ein individueller Reifeprozess, nämlich die vom Ich-Erzähler selbst in Aussicht gestellte Überwindung eines Minderwertigkeitskomplexes. Denn zur Hochphase der Studentenbewegung besitzt er "nicht mal den Mut, einen Pflasterstein in die Hand zu nehmen, geschweige denn zu werfen." (ebd.). Gerade die Maßlosigkeit seines Ansinnens reizt den Ich-Erzähler. Es wird zu einer Mutprobe, von der er von vornherein weiß, dass er sie nicht bestehen kann. Entscheidend ist, dass der Ich-Erzähler seine Idee gerade bloß durchdenkt. Sie verbildlicht eine theoretische Auseinandersetzung mit dem unüberwindbaren Gegensatz von Theorie und Praxis.

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Friedrich Christian Delius, Mein Jahr als Mörder, Berlin 2004. Fortan zitiert unter der Sigle M. 193

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Die "fixe Idee" ist mit einem Bemühen um Seriosität gepaart (M, 14). Denn seine Mutprobe versetzt er mit einer aufrichtigen Empörung, die sich aus einem humanitären Ansinnen speist und dem Umstand, dass der Ich-Erzähler mit den Angehörigen von Georg Groscurth bekannt ist, den Rehse 1944 zum Tode verurteilt hat. Zusätzlich dokumentiert er die Ernsthaftigkeit seines Anliegens, indem er parallel zum Mord-Plan für ein Buch über die Widerstandsgruppe um Groscurth recherchiert. Diese Doppelkonstruktion soll es ermöglichen, das eigentliche Motiv des IchErzählers plausibel erscheinen zu lassen: "Wut auf die Mao-Leute." (M, 49). Erst der Bezug auf den Protest der Studentenbewegung ermöglicht es, den Mord-Plan zu erdenken. Protest bewährt sich nicht an der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, weil sie die Opfer instrumentalisiert in einem "Vorwand für Propaganda." (M, 51). In diesem Einwand erledigt sich für den Ich-Erzähler gleich das gesamte Protestanliegen: "Die Studentenbewegung war am Ende, nie traf mich diese Einsicht deutlicher als in jenen Minuten." (ebd.) Der Ich-Erzähler wägt sein differenzierendes Verfahren des geplanten Schreibens über Groscurth gegen die ab, die "Parolen schreien" (M, 45). Ihr Protest gegen den Rehse-Freispruch ist für ihn Symptom seines grundsätzlichen Verfehlens der "gesuchten Massen" (M, 51). Indiz dafür ist ihm lediglich, dass der Protest ihn verfehlt. Er verabschiedet sich von der Studentenbewegung, weil es ihm in ihr nicht möglich ist, seine eigene Position zu vertreten. Der Ich-Erzähler befindet sich in einer Art inneren Opposition. Denn er ist mit Sympathisanten der Protestbewegung zwar befreundet, fühlt sich aber isoliert in seinen Ansichten und einem "Gruppendruck" ausgesetzt (M, 94). Im Mord-Plan handelt es sich explizit um einen Gegenentwurf zur Studentenbewegung. Wie sie scheitert aber auch der Ich-Erzähler. Er kann Rehse gar nicht ermorden, weil dieser ihm mit einem Herzinfarkt zuvorkommt. Erst dieser Umstand ermöglicht es ihm, sich von der "Rolle als Mörder" zu lösen, zu der er sich selbst "konditioniert" hat (M, 298). Dieser Zufall muss aber noch ergänzt werden durch den Umstand, dass seine Freundin in Mexiko einem Raubmord zum Opfer fällt. Diese Tat ist dem Ich-Erzähler die Begründung dafür, dass er auch den Buch-Plan fallen lässt, weil er mit "Mord und Töten und Sterben" nun nichts mehr zu schaffen haben will. Im Tod seiner Freundin sieht sich der IchErzähler mit Selbstvorwürfen konfrontiert: Er hat ihr seinen Mord-Plan verschwiegen, den Buch-Plan aber verraten, über dem es zu einem Zerwürfnis mit ihr gekommen war, weshalb sie erst nach Mexiko gefahren ist. Indem sich der Protest des Ich-Erzählers mit den beiden Toten von selbst erledigt, wird sein Mord-Plan zur Parodie der Studentenbewegung, da ihr falscher Protest zu der 'fixen Idee' des Mords geführt hat. Weil sein Protest aber als Mutprobe nur auf sich selbst gerichtet ist, benötigt er das

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Erfolgskriterium der Studentenbewegung nicht. Im Gegenteil, er kann ja von vornherein nur scheitern. Sein Erfolg ist es, dies einzusehen.

III. Bei Delius äußert sich die Kritik an der Studentenbewegung durch Protagonisten, die mit ihr schon damals nicht überein gestimmt haben. Die mangelnde Übereinstimmung begründet sich hierbei jeweils aus individuellen Interessen. Beglaubigt wird die Kritik dadurch, dass sie vollzogen wird, indem die Protagonisten grundsätzlich ein humanitäres Ansinnen mit der Studentenbewegung teilen. Dass genau hierin das Gefahrenpotential gelegen habe, unterstreicht Stephan Wackwitz. Bei ihm ist die Schreckensmeldung, dass er sich der Bewegung als Aktivist angeschlossen hat. Seinen Weg in das Protestkollektiv beschreibt er autobiographisch und dabei – ähnlich Delius – als Reifeprozess eines Individuums nach Art eines Bildungsromans, so der Untertitel der Neuen Menschen.3 Zunächst lehnt es Wackwitz ab, sich in den Dienst eines Zusammenschlusses zu politischen Zwecken zu stellen. Er nimmt das Erscheinungsbild des MSB als Hinderungsgrund für praktische Arbeit im Kollektiv wahr: Die "politischen Anliegen und Agenden" der Genossen sind aus ihren Persönlichkeiten "wie herausgestanzt" (N, 28). Vertraute Gespräche transformieren sie "zwanghaft" in Politik, die mit ihren Persönlichkeiten nicht übereinstimmt. Dieser Mangel orientiert sich am Vergleichswert eines normalen, nicht eines politischen Menschen: Die Genossen unterscheiden sich vom Durchschnittsbürger durch einen "demonstrativ verwahrlosten" Eindruck, einige Genossen treten bereits in "offenen Wahnsinn" über (N, 29). Wahnsinn erscheint Wackwitz als Symptom einer Persönlichkeitsstörung. Die Erwartung, dass die Genossen ihre politische Tätigkeit als Übereinstimmung mit ihrer Persönlichkeit betreiben, ist aber nur eine Interpretation ihrer Ziele. Er deutet den politischen Anspruch in ein psychologisches Erklärungsmuster um. Das Erfolgskriterium einer möglichen Realisierung ihrer Ziele sind nicht mehr diese selbst, sondern das Erscheinungsbild ihrer Vertreter. Wackwitz' Interpretation der Bewegung steht dem Anschluss ans Protestkollektiv eigentlich entgegen. Er bezeichnet seine politische Aktivität heute als "dumm" (N, 237). Im Rahmen seines Rückblicks revidiert er allerdings nicht nur früher geteilte Ansichten. Er erklärt darüber hinaus, auch damals schon dem MSB kri-

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Stepahn Wackwitz, Neue Menschen. Bildungsroman, Frankfurt a. M. 2005. Fortan zitiert unter der Sigle N. 195

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tisch gegenüber gestanden zu haben. Wie konnte es also angehen, dass er trotz seiner verheerenden Bilanz dort Mitglied geworden ist? Nachdem er die Genossen als psychisch deformiert beschrieben hat, ist seine Antwort, dass die Politisierung gar nicht aus politischen Gründen erfolgt sein kann. Dieser Zirkelschluss begründet seinen wider besseren Wissens erfolgten Eintritt in den MSB. Seine Selbstverwirklichung braucht er jetzt nicht mehr in seiner Mitgliedschaft zu suchen, weil seine Seele schon aus ganz anderen Gründen aus den Fugen geraten ist. Weil Wackwitz den MSB als lebensfeindlich interpretiert, kann er ihm beitreten, denn die Mitgliedschaft ist "in Wirklichkeit ein symbolischer Selbstmord aus Liebeskummer", eine "Übersprungshandlung", aufgrund von 'Liebesverwirrungen', die sich zur selben Zeit ergeben haben (N, 239). In einer Tagebuchaufzeichnung von 1974, die Wackwitz zitiert, notiert er nach der gescheiterten Liebe: "F., die sich nicht entblödet, mit S., dem Begünstigten des Weltgeists, zu flirten. Schade, ich hätte gern eine gute Erinnerung an sie behalten. Dann unkonzentriert Platten gehört, gegessen, in den MSB eingetreten." (N, 259). Da er eigentlich Liebe sucht, kann Wackwitz den MSB nur als Leidenserfahrung beschreiben. Die "politische Tätigkeit" besteht aus "quälenden" Sitzungen, sie fordern ein "Opfer an Zeit", das ihn "bis an den Rand" seiner Kräfte treibt (N, 36). Diese für ihn logische Selbsterkenntnis führt ihn jedoch nicht zum Austritt, sondern gerade daran wird er gehindert. "Der Witz ist: ich traue mich nicht, auszutreten, was wohl auch objektiv schlecht wäre, aber ich trau mich nicht und das ärgert mich." (Ebd.) Er zeigt mit diesem Zitat eine Eigenschaft an sich selbst, die gleichzeitig auf das Gefahrenpotential der politischen Organisation weist: Aufgrund seiner Loyalität gegenüber "Autoritätsfiguren", erscheint es ihm unmöglich auszutreten (ebd.). Hiermit hat Wackwitz allerdings eine erstaunliche Wandlung vollzogen, denn wie er die Genossen, die er bereits als gescheiterte, teilweise wahnsinnige Persönlichkeiten entlarvt hat, nun als Autoritätsfiguren akzeptieren kann, lässt sich auch mit seiner psychologischen Eintrittserklärung als gescheiterte Liebesgeschichte nicht mehr schlüssig begründen. Jene Autoritätsfiguren entfalten ihre Macht nicht unmittelbar nachvollziehbar im Text. Sie bleiben, von dieser Nennung abgesehen, unerwähnt. Vielleicht ist aber gerade ihre Unsichtbarkeit eine Voraussetzung, um sie als Autoritäten zu begreifen. Im Tagebuch von 1975 nämlich erscheint ein Hinweis auf die unsichtbare Autorität schlechthin – niemand anderer als Gott: "Als ich heute aus der Uni kam, schien mir der MSB = ehemalig erlebter Pietismus. Er erfüllt in meinem Seelenleben eine ähnliche Funktion, ob ich es will oder nicht. Z. T. liegt das eben auch am MSB, objektiv (Politik statt Studium usw. ...)" (N,

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36f). Der MSB entpuppt sich in seiner damaligen Wahrnehmung als totalitäre Organisation und entfaltet seine Zwänge spiritistisch, damit Wackwitz sein Studium vernachlässigt. Er lädt den MSB mit religiösem Sinn auf und spricht ihm dadurch einen genuin politischen Anspruch ab. Diese Umdeutung des kollektiven Zusammenschlusses ergänzt die vorherigen Psychologisierungen um einen weiteren Faktor. Die bisherige Freiwilligkeit mündet in Zwang. Und nur wer diesem standhält, entfaltet sich zu einer gereiften Persönlichkeit. Politisches Engagement überprüft die Persönlichkeitsentwicklung als Psychotest: "In Wirklichkeit wurde, glaube ich heute, eine Art Experiment mit uns veranstaltet. Unsere Loyalität wurde totalitär geprüft." (N, 39) Welchen Personen diese Loyalität gelten soll, bleibt stets unklar. Der Kreis der Wahnsinnigen fällt als Instanz der Loyalitätsbekundung aus, wenn Wackwitz ernsthaft eine normale Persönlichkeitsentwicklung anstrebt. Seine Psychologisierungen liefern ihm triftige Erklärungen für den Eintritt in den MSB. Ergänzt um den Vorwurf, der MSB sei eine totalitäre Organisation, begründen sie auch, warum er wider besseren Wissens Mitglied geblieben ist. En passant liefert dieser Vorwurf den Beweis für die Relevanz seines Buchs. Der kleine MSB partizipiert an der großen Weltrevolution, woraus sich seine historische Bedeutung ableitet. Wackwitz' Gruppierung an der Stuttgarter Universität erscheint als Teil einer Quantität von Kollektiven, deren Qualität statt eines inhaltlichen Anliegens Totalitarismus ist. Totalitarismus lässt sich so nur als ein freiwilliger Zusammenschluss denken, dessen – in der Logik von Wackwitz – humanitärer Gründungsgedanke automatisch in sein Gegenteil umschlägt, kaum dass er sich eine kollektive Form gibt. Kritik – für deren Inhalte sich Wackwitz nicht wieter interessiert – darf sich also per se nur in Gestalt individueller Vorbehalte äußern, sonst, so die zeitgemäße Botschaft, wird sie selbst zur inhumanen Kraft.

IV. Bei Delius sind es zwei Einzelgänger im Gefolge der Studentenbewegung, die verdeutlichen, dass Kritik als Ausdruck einer Jugendphase sich nur von selbst erledigen kann. Der Protest der Studentenbewegung erscheint bei Delius als unspezifische Aufmüpfigkeit. Im Amerikahaus scheitert das politische Anliegen an seiner mangelnden Relevanz. Im Jahr als Mörder wird der Protest anhand seiner (ausbleibenden) Konsequenzen widerlegt; das Individuum scheitert an der Möglichkeit, gegen den Protest der Studentenbeweung zu protestieren, vor allem aber an sich selbst. Bei Wackwitz scheitert das Individuum notwendig mit seinem

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Anliegen am Protestkollektiv und wird dadurch zum Exempel scheiternder Gesellschaftskritik. Wenn diese beiden Autoren für einen Wandel im gesellschaftlichen Diskurs über 1968 stehen können, so lässt sich Uwe Timms Rot als eine Entgegnung auf die Tendenz der öffentlichen Neubewertung der Studentenbewegung lesen.4 Seinem Ich-Erzähler Thomas Linde ist vom Protest in der Studentenbewegung noch sein Aussteigerleben geblieben, beruflicher Ehrgeiz oder gesellschaftliche Anerkennung stellen für ihn keine Werte dar. Als Bestattungsredner verdient er gerade so viel Geld, dass er ohne existentielle Nöte bleibt. Die Frage nach Veränderung der Gesellschaft betrachtet er illusionslos. Mit seiner Protestbiographie hat er längst abgeschlossen. Er beginnt sie jedoch neu zu erzählen, als sein ehemaliger Weggefährte Aschenberger stirbt und Linde die Trauerrede halten soll. Dessen Leben ist bis zum Schluss vom Protest geprägt: Kurz vor seinem Tod hat er noch geplant die Berliner Siegessäule zu sprengen. In Aschenbergers Wohnung entdeckt Linde zwei alte Fotos. Das eine zeigt die beiden mit einem Plakat, das spiegelbildlich die Aufschrift "Schluß mit dem Bombenterror" trägt (R, 68). Auf dem anderen Foto verkaufen Aschenberger und Linde vor einer Fabrik die Zeitung der Kommunistischen Partei. Das Interesse der Studenten ist in beiden Fällen Aufklärung. Aber beide Male dokumentiert es auch die Distanz zwischen den Studenten und der Basis. "Arbeitet erst mal. Geht doch rüber. So begrüßte man uns. Das war normal." (R, 75). In ihrem Protest ist die Gesellschaft Objekt der Aufklärung. Der mangelnde Wille der Gesellschaft, aufgeklärt zu werden, ist dabei gerade kein Grund, das Vorhaben der Aufklärung zu unterlassen. Der Protest ist nur denkbar gewesen, weil er in eine objektiv bessere Gesellschaft münden würde, unabhängig davon, ob das damals bereits eingesehen worden ist. Mittlerweile fehlt Linde das Verständnis für "diese intellektuelle Empfindung, diese Unbedingtheit." (R, 76). Ihr utopischer Ausblick auf die Gesellschaft unterscheidet die Studentenbewegung von der Gegenwart. "Das ist heute nicht vorstellbar, [...] welche Modelle entwickelt wurden, um das zu erreichen, was wir ein anderes Leben nannten" (R, 78). In der Grundübereinkunft, dass sich der Protest an der Realisierung dieses anderen Lebens nicht entscheiden braucht, weil es sowieso eintreten werde, hat überhaupt nur ein Methodenstreit die Bewegung auseinanderdividieren können: "Der Kampf der Gruppen gegeneinander um den rechten, den einzigen, den richtigen Weg zur Weltrevolution." (R, 80). Die Auseinandersetzung mit seiner Protestbiographie gibt ihm deshalb keinen Anlass zur Nostalgie: Linde bezeichnet '68 nachträglich als "ver-

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Uwe Timm, Rot, Köln 2001. Fortan zitiert unter der Sigle R. 198

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biesterte, trübe Zeit." (ebd.) In der internen Logik der Studentenbewegung hat sich die Frage nach dem Erfolgskriterium gar nicht stellen können. Lindes Kritik daran bedeutet jedoch nicht, dass Kritikpunkte der Studentenbewegung sich erledigt haben: Diese Gesellschaft [...] durch eine andere, friedliche, gerechtere zu ersetzen. Woran liegt es, daß das so hohl klingt? Jetzt, heute? Warum lachen Sie? Das Leben ohne Lüge, keine Kompromisse machen, das ist so weltfremd, da sich alle auf die kleinen miesen Kompromisse einlassen, eine Gesellschaft, die ständig zum Kompromiß drängt und darauf auch stolz ist. (Ebd.)

Die Kritikpunkte an der Gesellschaft erneuern sich ihm, als Linde zu ergründen sucht, was Aschenberger zu seinem geplanten Anschlag geführt haben mag, zumal dieser der Gewalt als Mittel zum Protest früher stets sehr skeptisch gegenüber gestanden hat. Aschenbergers Position in der Gewalt-Debatte war ein Persönlichkeitsmerkmal geworden. Obwohl er aufgrund seiner Ablehnung des bewaffneten Widerstands ausgelacht und als "naiv" bezeichnet worden ist, illustriert seine Standhaftigkeit in den damaligen Debatten, dass es in der Studentenbewegung keine totalitären Zwangsmechanismen gegeben hat. (R, 322). Gerade seine Standhaftigkeit erscheint Linde als menschliche Größe: Aschenberger ist den "Weg der Empörung" unbeirrt weiter gegangen, auch nach dem Ende der Protesbewegung, während Linde die "bequeme Art" vorgezogen habe. Er bezichtigt sich selbst, nichts "riskiert" und immer nur "ein bißchen protestiert" zu haben (R, 381). Den Prostest an sich hat Aschenberger als Einzelkämpfer weiter betrieben. In der Frage nach dem Mittel hat er im Alter noch einmal einen "Wandel durchlaufen", da man, "wenn man etwas ändern will, vor allem sich selbst ändern muß" (R, 424). Dieser Wandel vom Pazifisten zum Sprengstoff-Attentäter hat aber nur noch eine "symbolische Tat" zum Ergebnis (ebd.). Mit dem Engel auf der Siegessäule bezieht Aschenberger seinen Protest auf eine Metapher. Sie entspringt nicht mehr einem konkreten Anliegen, sondern der Deutung, eine kaputte Siegessäule entspreche der "ruinöse[n] deutsche[n] Geschichte" (R, 104). Protest ist dadurch nicht mehr an das Protestkollektiv der Studentenbewegung gebunden. Statt dessen zielt er auf ein Symbol der Kontinuität in der deutschen Geschichte, die letztendlich auch die Studentenbewegung als eine überwundene Etappe absorbiert, deren kritisches Anliegen sich allein deshalb erledigt, weil 1968 als Symbol sich historisch nicht behauptet hat. Durch die Beschäftigung mit Aschenberger entdeckt Linde den alten Protestanlass neu. Themen wie die 'Drittweltproblematik' und der 'Konsumterror' sind nicht verschwunden. Gerade deshalb ist Kritik immer 199

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noch berechtigt, da "der moralische Imperativ heute ist: konsumieren und profitieren und bloß nicht moralisieren." (R, 348). Er fragt, ob nicht auch "Bekanntes [...] empörend" sein könne, nachdem er seine eigene Empörung zunächst verloren hat. Das Ende der DDR hat Linde zunächst als Zäsur akzeptiert. "Etwas war zu Ende gegangen, etwas Neues würde beginnen." (R, 410). Mit Lindes erneuter kritischer Überprüfung der Studentenbewegung entwirft er hingegen den Protest als Utopie. Er wird unmöglich für die Perspektive einer Gesellschaftsänderung. Mit dem Verschwinden des Kollektivs, in dem sich der Protest geäußert hat, verliert er aber nicht seine Berechtigung. Lindes biographische Aufarbeitung seines politischen Engagements entzieht sich dabei geradezu seiner eigenen Sprache. Äußert er eingangs die Vorstellung, sein Leben in "Untersuchungen" der Farbe Rot als "eine Art Biographie" zu schreiben, so gerät ihm die geplante Rede über Aschenberger am Ende zu seiner eigenen Trauerrede, in der nicht er das Schlusswort erhält, sondern der Engel auf der Siegessäule, der "schwebt" oder "stürzt" – das bleibt unklar. Delius und Wackwitz stellen ihre Kritik an der Studentenbewegung als authentische Erlebnisse aus. Gerade die individuelle Beglaubigung der Erfahrung durch ihre Protagonisten respektive Ich-Erzähler soll die Allgemeingültigkeit ihres Standpunktpunkts liefern. Dem Protest sprechen sie dabei ungeachtet seines Inhalts eine Berechtigung ab, schon sein Anliegen gilt Delius als unmündig und Wackwitz als wahnsinnig. Das Verfahren ihrer Kritik ähnelt dabei dem, was sie kritisieren: Ideologie. Darin entsprechen sie dem öffentlichen Diskurs über 1968 seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ohne Überprüfung ihres Inhalts gilt die Studentenbewegung als notwendig erfolglos, weil sie historisch unterlegen ist. Die Geschichte vollzöge sich demnach mit teleologischer Zielsicherheit. In diesem historistischen Fortschrittsmodell wird das Alte als praktisch wie theoretisch erledigt behauptet. Timm unterzieht in Rot den vermeintlich als abgeschlossen widerlegten Protest einer erneuten Prüfung. Sein Ich-Erzähler entdeckt die Berechtigung seiner Kritikpunkte neu. Dass sie keine Perspektive mehr eröffnen auf eine Gesellschaftsänderung entzieht ihnen dabei nicht ihre Legitimation. Statt dessen werden Zweifel an der Darstellbarkeit einer 'Wahrheit der Geschichte' geäußert, die Delius und Wackwitz mit ihrer Beantwortung der Frage behaupten, was 1968 falsch gelaufen sei. Die Biographie des Ich-Erzählers in Rot lässt sich als Posthistoire im Erzählen nicht linear auf ein Ziel ausrichten – entgegen der Tendenz im biographischen Schreiben um die Jahrtausendwende, als Subjekt der Erzählung einem Objekt der Gesellschaft zu entsprechen.

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M A U R I C E G. D A N T E C S M A N U E L D E S U R V I E E N TERRITOIRE ZÉRO: STRATEGIEN ZUR RETTUNG DER LITERATUR UM DIE JAHRTAUSENDWENDE STEPHANIE SINGH

Seit einigen Jahren veröffentlicht der französische Schriftsteller Maurice G. Dantec umfangreiche, zwischen Tagebuch, zeitgeschichtlicher Dokumentation, philosophischem Essay, Kulturkritik und Poesie changierende Aufzeichnungen zum Zustand der Gegenwart. 2000 erschien Le théâtre des opérations. Journal métaphysique et polémique 1999; ein Jahr später Laboratoire de catastrophe générale. Journal métaphysique et polémique 2000-2001. Im Januar 2007 soll der dritte und vorläufig letzte Band erscheinen: American Black Box. Le théâtre des opérations 20022006. Gegenstand der vorliegenden Betrachtungen sind die ersten beiden Bände, die zusammen über 1500 Seiten umfassen.1 Zentraler Gestus der Journaux ist eine – allein schon durch ihren Entstehungszeitraum millennaristisch akzentuierte – Apokalyptik. Dantecs kanadisches Exil2 fungiert als Observatorium inmitten einer Welt,

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Maurice G. Dantec, Le théâtre des opérations. Journal métaphysique et polémique 1999, Paris 2000 (im Folgenden zitiert als: I); ders., Laboratoire de catastrophe générale. Journal métaphysique et polémique 2000-2001, Paris 2001 (im Folgenden zitiert als: II); ders., American Black Box. Le théâtre des opérations 2000-2006, Paris 2007. Dantecs Journaux wurden, anders als einige seiner Romane, bisher nicht ins Deutsche übertragen. Alle Übersetzungen in dieser Untersuchung stammen von der Autorin. Im Fall der Lyrikübertragungen wurde primär auf die Verständlichkeit Wert gelegt, weniger auf die genuin lyrische Qualität. Bio-Bibliographische Notiz: Maurice G. Dantec wurde 1959 in Grenoble geboren und war nach einem Literaturstudium zunächst Musiker (Technopunk) und Journalist. In den 90er Jahren veröffentlichte er Kriminalromane, seither schreibt er Science Fiction: Babylon Babies, Paris 1999; Villa Vortex, Paris 2003; Cosmos incorporated, Paris 2005; Grande Jonction, Paris 2006. Zudem macht Dantec weiterhin Musik im Bereich Ambient Electronic, etwa auf dem Album Schizotrope (Richard Pinhas/ Maurice Dantec, Sub Rosa 2001), auf 201

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deren Zersetzung und Endzeitstimmung er scharfzüngig, illusionslos und iterativ dokumentiert und kommentiert. Zeitgenössische Kriege wie der Konflikt in Ex-Jugoslawien, mit dem er sich immer wieder beschäftigt, fungieren als Sinnbilder des grundsätzlichen Kriegszustands einer selbstzerstörerischen Gesellschaft: "Le théatre des opérations, c'est une tentative de récit généalogique de toutes les guerres en cours […]" (I, 125).3 Aus Kriegen nämlich, so Dantec, setze sich die gesamte Geschichte bis hin zu unserer jüngsten Gegenwart zusammen (ebd., 126). Die Welt erscheint ihm als Laboratorium einer "catastrophe générale", deren Bestandteile und Entstehung er versammelt und interpretiert, von der Gewalt in den Medien und dem Massaker von Littleton über den Bedeutungsverlust der Religion bis hin zur Allmacht der Globalisierung. Letztlich gründe der prekäre gesellschaftliche Status Quo im Wesen der Menschheit selbst: "L'humanité est un abîme qui la sépare d'elle-même" (I, 14).4

"Les ruines du futur": Darstellungsprobleme des Apokalyptischen Aus dieser Situation kann es keinen Ausweg geben: "Nous vivons dans les ruines du futur" (I, 15).5 Als Mensch zerstört sich der Mensch seine eigene Zukunft. Das Paradoxon einer Zukunft, die bereits vorbei ist, bevor sie beginnen konnte, führt direkt zur Schwierigkeit der Darstellung der Apokalypse, die seit jeher ein erzähltechnisches Problem ist: Innerhalb von erzählten Welten kann sie im Grunde nur in annihilativer oder kontinuativer Weise behandelt werden:6 Entweder fällt das Ende des Texts mit der erzählten Apokalypse zusammen (von der dann aber keiner der Protagonisten der untergegangenen Welt mehr berichten kann, weshalb solche Texte sehr selten sind7) oder der Text thematisiert eine postapokalyptische Zukunft und überwindet damit die erzählte Endzeit noch innerhalb der Narration. Diese narrative Schwierigkeit ist möglicherweise der Grund, weshalb Dantec – parallel zu seinen Science

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dem auch Gilles Deleuze zu hören ist. 1998 wanderte er ins kanadische Montreal aus. "Das Theater der Kampfhandlungen ist der Versuch einer genealogischen Darstellung aller gegenwärtig stattfindenden Kriege […]." "Die Menschheit ist ein Abgrund, der sie von sich selbst trennt." "Wir leben in den Ruinen der Zukunft." Zu dieser Einteilung vgl. Douglas Robinson, "Literature and Apocalyptic", in: Apocalypticism in the Modern Period and the Contemporary Age, hg. v. Stephen J. Stein, New York/London 2000, S. 360-391, hier S. 379-381. Vgl. ebd., S. 379. 202

ENDZEITSTIMMUNG

Fiction-Romanen – die keiner (rein) fiktionalen, keiner literarischen Gattung zuschreibbaren Journaux veröffentlicht. Denn sein Konzept von Apokalypse entspricht nicht dem tradierten Topos des einmaligen schrecklichen Ereignisses am Ende eines Zerfallsprozesses. Vielmehr deutet Dantec diesen Topos vor dem Hintergrund seiner individuellen, in den Journaux dokumentierten Erfahrung unserer Gegenwart um: Die Apokalypse ist nicht mehr Ergebnis eines Prozesses, sondern ist selbst ein Prozess, d.h. ihr wird eine zeitliche Ausdehnung zugeschrieben. Nicht die Apokalypse ereignet sich in unserer Gegenwart, sondern unsere Gegenwart ereignet sich innerhalb eines apokalyptischen Dauerzustands; ist gekennzeichnet von der Grundbefindlichkeit des Untergangs, der in jedem Moment von Neuem bevorsteht und die Selbstwahrnehmung in einen paradoxen Zustand versetzt: "Se réveiller au lendemain d'une catastrophe encore à venir" (I, 439).8 Angesichts dieser Diagnose könnte man annehmen, Dantec praktiziere l'art pour l'art oder schreibe nur für sich selbst und/ oder für den Literaturbetrieb. Denn Rettung ist genauso wenig in Sicht wie eine postapokalyptische Zukunft, in der eventuell die Verhinderung wenigstens der nächsten Apokalypse möglich wäre. Wie aber lässt sich vor diesem Hintergrund die kontinuierliche Produktion von vielen hundert Seiten Text über alle denkbaren Facetten der untergehenden Gesellschaft erklären? Warum noch Schreiben, und warum gerade die Journaux ? Die vorliegende Untersuchung fokussiert nicht die (berechtigte) Frage, ob Dantecs Gegenwartsdiagnose in Teilen oder in allen Punkten zutreffend ist. Vielmehr spürt sie den Effekten nach, die eine Befindlichkeit, wie Dantec sie seiner Gegenwart attestiert, auf Literatur und auf ästhetische Programmatik haben kann. Interessant ist für eine solche Frage vor allem jene Literatur, die sich angesichts einer als stets schon beendet postulierten Zukunft nicht mit dem Gestus der Selbstbezüglichkeit oder Innerlichkeit zufrieden gibt, sondern versucht, Alternativen zu konstruieren. Die folgenden Überlegungen werden zeigen, inwiefern Dantecs Schreiben sich als das Bemühen um eine solche Alternative begreifen lässt. Seine Aufzeichnungen sind eine inhaltliche und formale Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur und zugleich Entwurf und Anwendung einer neuen, (end)zeitgemäßen ästhetischen Programmatik, die sich als Ausgangspunkt einer relevanten Literatur für das neue Millennium begreift. An den Journaux lässt sich zeigen, wie die zeitgenössische Literatur gerade aus einer als krisenhaft wahrgenommenen Situation heraus Strategien der Relevanzsetzung entwickeln kann, die nicht nur ihre (von den Lesern des vorliegenden Texts sicher nicht

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"Erwachen am Tag nach einer noch bevorstehenden Katastrophe." 203

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bestrittene) Kompetenz als gesellschaftliches Analyse- und Reflexionsmedium manifestieren, sondern – gerade auch jenseits solcher Funktionalität – ihre Aktualität als Kunstform offenlegen.

"Sodome et Gomorrhe": Apokalyptik als Thema der "Journaux" Der Schriftsteller muss sich, so Dantec, der Apokalypse als conditio humana stellen: "nier notre condition d'hommes d'Apocalypse ne me paraissait pas une voie raisonnable si je voulais persister à écrire des livres." (II, 74)9 Die methodisch-systematische Bezogenheit auf Zerstörung als gesellschaftliches Dauerphänomen zeigt sich auf der Inhaltsebene in der bereits erwähnten Dokumentation der Kriege, Katastrophen, politischen und moralischen Verwerfungen der Menschheitsgeschichte bis in die jüngste Gegenwart hinein. Der fortschreitende Zerfall der Welt ist für Dantec nicht nur unausweichlich, sondern in all seiner Enormität ein fast schon banaler, weil alltäglicher Teil des Lebens, wie der folgende Textauszug zeigt. In lakonischem Tonfall berichtet das Sprecher-Ich von einer endzeitlichen Begegnung: Deux anges font du stop Sur le bord de la 40 Ouest. Je roule vers Sodome et Gomorrhe, Leur dis-je, est-ce votre direction? Vous ne pouvez mieux tomber, me dit le premier. Vous êtes un don du ciel! fait l'autre en se marrant. Lorsqu'ils montent et que je reprends ma route vers les villes De la fin du monde, j'allume un joint et leur demande Si tout va brûler comme la dernière fois. Aucun doute à ce sujet, répond le premier. J'ai comme l'impression que le travail ne va pas manquer ici, enchaîne l'autre. C'est là que je leur demande si des fois Y aurait pas une place Pour un exterminateur débutant, Motivé, Et dur à la tâche? […] (I, 184f)

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"[U]nsere Beschaffenheit als apokalyptische Menschen zu negieren erschien mir kein vernünftiger Weg, wenn ich weiterhin Bücher schreiben wollte." 204

ENDZEITSTIMMUNG

Am Rand der 40 Richtung Westen Wollen Zwei Engel per Anhalter mit. Ich fahre nach Sodom und Gomorrha, Sage ich Ihnen, ist das eure Richtung? Sie kommen wie gerufen, sagt der erste. Sie schickt der Himmel, amüsiert sich der zweite. Als sie einsteigen und ich meine Fahrt zu den untergehenden Städten fortsetze, zünde ich einen Joint an und frage sie, ob alles brennen wird, so wie beim letzten Mal. Daran besteht kein Zweifel, antwortet der erste. Ich habe den Eindruck, es wird viel zu tun geben, fügt der zweite hinzu. Da frage ich sie, ob nicht zufällig Platz sei für einen Motivierten Hart arbeitenden Praktikanten im Bereich Auslöschung. […]

Die Verwendung biblischer Motivik führt allerdings nicht zur Verankerung der Zerstörung in bekannten – und deshalb Orientierung stiftenden – Kontexten. Die von unserer Kultur internalisierte biblische Erzählung von der Apokalypse bietet einen Ausweg, weil sie auf eine postapokalyptische Zukunft verweist. In Dantecs Szenario aber kommen die Racheengel Gottes zu spät: Als sie den hochmotivierten Aspiranten mit der Begründung ablehnen, sie beschäftigten keine Lebenden, denn auf diese sei kein Verlass ("Nous n'acceptons aucun stagiaire du monde des vivants, me retorque le premier./ Ils ne sont pas fiables, dit le second.", ebd.), entkräftet das Sprecher-Ich ihre Argumentation mit dem Hinweis, es sei bereits nahezu tot, und dies sei viel schlimmer als der tatsächliche Tod ("Mais je suis à peine vivant, leur fais-je remarquer,/ N'est-ce pas pire que d'être absolument mort?", ebd.). Die biblische Apokalypse mit ihrem Erlösungsversprechen verkehrt sich in einer im Modus allgegenwärtiger Zerstörung vegetierenden Welt zu einem herbeigesehnten Ereignis: Lorsque l'Archange viendra larguer ses bombes sur les cités endormies, nous aurons pour quelques secondes le visage d'amour à offrir à la lumière. (I, 171) 205

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Wenn der Erzengel Seine Bomben Über den schlafenden Städten abwirft, werden wir dem Licht für einige Sekunden voller Liebe entgegenblicken können.

Der grundlegende Bedeutungsverlust des biblischen Schreckensszenarios in einer aus sich selbst heraus rettungslos verlorenen Welt heißt zugleich, dass auch die christlichen Heilsversprechen keine Wirkung mehr haben – sie sind vielmehr selbst vom Untergang bedroht. "Si le Christ surgissait aujourd'hui, je ne lui donnerais pas deux jours." (I, 101)10 Neben den religiösen und philosophischen Strategien zur Rettung der bestehenden Gesellschaft erscheinen auch die politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen letztlich wirkungslos oder befördern sogar die Zerstörung. Als Beweis führt Dantec die ständige Abfolge lokaler und globaler Krisen und Konflikte auf militärischer, ökonomischer und ökologischer Ebene an. Die einzige Möglichkeit besteht deshalb in einer konstruktiven Akzeptanz der Situation und ihrer Unausweichlichkeit. Es bedarf einer "nouvelle métaphysique" (I, 443), einer neuen Metaphysik jenseits präetablierter Denkstrukturen, die nicht antritt, die Apokalypse zu verhindern, sondern aus dieser allererst selbst entsteht: Admettre le crépuscule de l'Homme, ce n'est ni lui faire perdre sa dignité ni l'obliger à s'éteindre de façon absurde, c'est au contraire le placer face à ses responsabilités d'anti-animal transitoire […] en vue de préparer aux mieux l'avènement de ce qui va, de ce qui doit inéluctablement lui succéder. (II, 48) Die Menschheitsdämmerung einzugestehen bedeutet nicht, dem Menschen seine Würde zu nehmen oder ihn zu zwingen, sich auf absurde Weise selbst auszulöschen. Im Gegenteil, es bedeutet, ihn mit seiner Verantwortung als transitorisches Anti-Tier zu konfrontieren […]. So kann der Mensch in bestmöglicher Weise das vorbereiten, was unausweichlich auf ihn folgen wird.

Die konzeptionelle Parallele zu Michel Houellebecqs Texten, vor allem zu Les particules élémentaires (Die Elementarteilchen) und der dort geschilderten selbstgewählten Überwindung der Menschen durch Klonwesen, ist besonders anhand dieser These klar zu erkennen (und Dantec selbst bekennt sich in einem gewissen Maß zu diesen Übereinstimmun10 "Wenn Jesus heute wiederauferstünde, gäbe ich ihm keine zwei Tage." 206

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gen).11 Diese Gemeinsamkeit interessiert hier insofern, als sie Ausdruck einer kulturellen, symbolisch um das Jahr 2000 herum konzentrierten Befindlichkeit zu sein scheint, mit der sich diese Autoren systematisch auseinandersetzen. Die Formen und Konsequenzen dieser Auseinandersetzungen allerdings sind sehr verschieden und können an dieser Stelle nicht vergleichend untersucht werden.12 Im Sinne des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung muss stattdessen gefragt werden, welche Folgen sich für die Literatur aus Dantecs Forderung nach einem affirmativen Verhältnis der Kultur zur Apokalpyse ergeben.

"Des planchers qui grinçent": Die Irrelevanz des sogenannten Realismus Die zeitgenössische Literatur, so Dantec, sei weitgehend nicht gerüstet für die gegenwärtige gesellschaftliche Situation und deshalb selbst dem Untergang beziehungsweise dem Abdriften in die Bedeutungslosigkeit geweiht. Er verdeutlicht diese These am Beispiel der aktuellen französischen Literatur, über die er kaum Positives zu sagen hat. Der heutige französische Roman sei überwiegend "[s]colaire, pour ne pas dire scolas-

11 Michel Houellebecq, Les particules élémentaires, Paris 1998 (dt. Die Elementarteilchen, Köln 1999). Zu Dantecs Auseinandersetzung mit Houellebecq vgl. z. B. I, 45-50. 12 Auf eine thematisch und formal völlig andere Weise, jedoch vor dem Hintergrund der gleichen kulturellen Befindlichkeit beschäftigt sich etwa Frédéric Beigbeder mit dem Motiv einer permanenten Endzeitstimmung in der zeitgenössischen Gesellschaft, nämlich indem er sie auf die Ebene der Liebesbeziehungen und der sich in ihnen artikulierenden Selbstwahrnehmung der Protagonisten transpositioniert: Die erwartete Erlösung tritt nie ein, die Zukunft gleicht der Gegenwart, jede Chronik individueller Erlebnisse ist stets nur ein neuerliches Dernier inventaire avant liquidation (Frédéric Beigbeder, Paris 2001). Vgl. ders., L'amour dure trois ans, Paris 1997, und beispielhaft ders., L'Égoiste romantique, Paris 2005: "Si personne n'appartient à personne, alors personne ne s'occupe de personne,et ce sera chacun pour soi pour l'éternité. De nouveau me voilà seul; je remonte la vitre noire avant de cacher mon visage dans mes mains, à l'arrière de cette limousine silencieuse qui roule vers ma fin." (397) [Wenn niemand niemandem gehört, dann kümmern sich die Menschen auch nicht umeinander, und jeder wird für alle Zeit auf sich allein gestellt sein. Ich bin wieder allein; ich fahre die schwarze Glasscheibe wieder hoch, bevor ich mein Gesicht meinen Händen verberge, auf dem Rücksitz dieser lautlosen Limousine, die auf mein Ende zufährt." Übersetzung von der Verf.] 207

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tique, dissertatif et contemplatif" (I, 188).13 Der Literaturbetrieb sei insgesamt selbstbezogen und verliere sich, wo er nicht verflacht sei, entweder in bloßen innerliterarischen Auseinandersetzungen oder in der vergeblichen Reaktivierung und Imitation heute nicht mehr adäquater Erzählformen und irrelevanter Themen.14 Ein Beispiel seien "nos pâles auteurs des éditions de Minuit qui s'obstinent à décrire des planchers qui grinçent, des robinets qui fuient […]" (I, 214).15 Die unzeitgemäße Schreibweise schlechthin ist für Dantec vor allem der zeitgenössische Realismus,16 der sich kritisch auf seine Aktualität hin befragen lassen müsse: Plus aucun réalisme ne semble pertinent en cette ère où tant de réalités concurrentes s'interpénètrent et se dévorent, il est sans doute temps, pour les écrivains de ce siècle naissant, de se poser la question centrale entre toutes – celle de leur utilité spécifique, de leur place dans l'Arche de Noé de la littérature. (I, 41) Heutzutage scheint keine Art von Realismus noch Relevanz zu besitzen, da sich so viele konkurrierende Realitäten gegenseitig durchdringen und verschlingen. Für die Schriftsteller des beginnenden [21.] Jahrhunderts ist es zweifellos an der Zeit, sich die wichtigste aller Fragen zu stellen – jene nach ihrem spezifischen Nutzen, nach ihrem Platz auf der Arche Noah der Literatur.

Die Formulierung "Arche Noah der Literatur" verdeutlicht, erneut mittels biblischer Metaphorik, die Bedrohung, der sich die Literatur insgesamt

13 "[…] verschult, um nicht zu sagen scholastisch, nach Art einer Abhandlung und kontemplativ." 14 "De part et d'autre du champ du bataille, dans les décombres de notre littérature, on peut voir des ombres titubantes se dressant les unes contre les autres pour un combat absurde et sans espoir: les microghettos de la littérature dite de genre ne produisent plus – à quelques rares exceptions près – que des récits précalibrés et indigents […]. En face – et là aussi à quelques exceptions près – une cohorte de faiseurs mondains s'évertue à revendiquer qui l'héritage de Proust, qui celui de Gide, ou alors de Céline, de Virginia Woolf, voire d'Henry Miller […]" (I, 165). 15 "[U]nsere blassen Éditions de Minuit-Autoren, die darauf bestehen, knarrende Dielen [und] tropfende Wasserhähne zu beschreiben". 16 Dantec liefert keine präzise Definition des Begriffs, nimmt aber auf das 18. Jahrhundert bezug. Es ist deshalb anzunehmen, dass er hier vorrangig zeitgenössische Reaktivierungen des "réalisme naturaliste et […] son obsession photographique" (des naturalistischen Realismus' mit seinem zwanghaft fotografischen Stil) meint (I, 40). 208

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gemäß Dantec ausgesetzt sieht. Um die 'Sintflut' zu überleben, muss sie sich den Anforderungen der Gegenwart stellen und den von Dantec kritisierten beständigen Selbst- und/ oder Rückbezug durch neue Formen und Themen ersetzen: "Seuls s'en sortiront ceux qui auront quelque chose de pertinent à dire au sujet de ce nouvel état, et qui en dégageront la beauté spécifique, c'est-à-dire ceux capables d'en faire de l'art." (I, 16)17 Den Zerfall der Gesellschaft in Kunst verwandeln, die "beauté spécifique" des Untergangs darstellen – dies ist ein Konzept, das die Apokalypse als Vehikel einer literarischen Programmatik benutzt, sie also für ästhetische Zwecke funktionalisiert. Diese allerdings bleiben zunächst unbestimmt. Cui bono? Verliert die Aussicht auf eine Zukunft in Ruinen durch ihre Ästhetisierung einen Teil ihres Schreckens? Mit anderen Worten: Ist Literatur, wie Dantec sie fordert, in der Lage, produktiv auf die diagnostizierte Situation zu reagieren? Eine umfassende Antwort kann wohl erst mit einer gewissen zeitlichen Distanz zur gegenwärtigen Literaturproduktion formuliert werden. Möglich ist jedoch die Überprüfung der Journaux selbst auf die spezifische Produktivität der ästhetischen Apokalyptik hin.

"Objet littéraire non identifié": Dantecs Schreibverfahren Das Realitätsverständnis der Journaux ist kondensiert in einem Zitat aus Markowitz' Theory of Social Entropy, das dem zweiten Buch vorangestellt ist: "Only chaos is real" (II, 15). Eine Orientierung des Schreibens an der Realität ist also gleichbedeutend mit dessen Ausrichtung auf das Chaos hin. Konseqenterweise sind die Journaux weder thematisch noch nach formalen Ordnungsprinzipien gegliedert. Eine grobe Struktur entsteht nur durch die lose Verknüpfung einzelner Abschnitte mit ihrer ungefähren Entstehungszeit: "Hiver 1998-1999", "Printemps 1999" und so fort. Die (stets düstere) Aktualität ist also die Matrix, vor der die Aufzeichnungen gelesen werden sollen. Darüber hinaus ist ein chronologisches Gliederungsprinzip neutral: Es hierarchisiert nicht; es bietet über die ungefähre Datierung hinaus keine Orientierung im Chaos der Textteile. Stattdessen lenkt es die Aufmerksamkeit auf das vom chaotischen Weltgeschehen nicht affizierte, unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit, in der sich die Ereignisse langsam vermischen und verlieren, bis sie – wie die Textfragmente der Journaux am Ende der Lektüre – eher eine düstere

17 "Nur jene [Schriftsteller] werden entkommen, die etwas Relevantes zu diesem neuen Zustand beizutragen haben und die dessen spezifische Schönheit zutage treten lassen, also jene, die in der Lage sind, Kunst daraus zu machen." 209

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Grundstimmung zurücklassen als eine rekonstruierbare, orientierungsstiftende Geschehnisabfolge. Die Komplexität der Gegenwart um das Jahr 2000 und die von Dantec immer wieder betonte Vielzahl der Realitäten spiegelt sich auch und vor allem in der Diversität der in den Journaux eingesetzten Formen, Genres und Schreibweisen. Essayistische Passagen wechseln sich ab mit Literaturkritik, reportageähnlichen, autobiographischen, kulturkritischen oder (religions)philosophischen Textteilen. Poetische Redeweise und Notizenstil folgen manchmal in ein und demselben Absatz aufeinander. Immer wieder tauchen englische Passagen im französischen Text auf und vermitteln so das zunehmende Ineinandergreifen der Sprach- und Lebenswelten, das einerseits Folge der Globalisierung ist, zugleich aber in Dantecs individueller Lebenssituation in Kanada gründet. Präzise Argumentation und scharfzüngige Polemik stehen ebenso unvermittelt nebeneinander wie winzige private Begebenheiten und Gedanken zur Situation der Weltpolitik. Historische Abhandlungen finden sich neben Aphorismen und Gedichten. Voneinander getrennt sind diese hochgradig diversifizierten Elemente immer durch einen Asterisken, der ihre Fragmentarizität noch unterstreicht, Wenn es in Dantecs Journaux jenseits eine Kontinuität gibt, so ist es die des Chaotischen, des "désordre baroque" (I, 92),18 wie er es selbst bezeichnet. Die Texte begegnen der Endzeitstimmung mit Schreibverfahren und Darstellungsformen, die sich aus dieser selbst ergeben: "De plus en plus, rien ne sera stable, univoque et donné une fois pour toutes" (I, 55).19 Zu einem nicht geringen Anteil ist es die schiere Textmasse, die das Konzept der Realität als Chaos transportiert und konkret erfahrbar macht. Ein kurzer Auszug muss – zusammen mit den bereits zitierten Passagen – an dieser Stelle jedoch genügen, um einen vorläufigen Eindruck von Aufbau und Beschaffenheit der Journaux zu vermitteln. La liberté ne rend faibles que les faibles. La vérité ne rend libres que les foux et les saints. * Si Dieu n'existait pas, il faudrait quand même inventer la poudre au canon. * Jeunes femmes au regard clair Vieux de plusieurs empires Leurs mouvements dans l'espace

18 "[B]arocke Unordnung". 19 "Zunehmend gilt, dass nichts stabil, eindeutig und ein für alle Mal gegeben ist." 210

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Tracent des frontières sauvages Par-delà lesquelles Il serait si doux de se perdre; […] Elles rient de la Mort de l'Homme Sur l'autoroute panaméricaine. * Die Freiheit schwächt nur die Schwachen. Die Wahrheit befreit nur die Narren und die Heiligen. * Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man dennoch das Schießpulver erfinden. * Junge Frauen mit klarem Blick Mehrere Weltreiche alt Ihre Bewegungen im Raum Folgen den wilden Grenzen Jenseits derer Man sich so sanft verlieren könnte; […] Sie lachen über den Tod des Menschen Auf der Panamericana. *

Der kurze Blick auf die formalen Charakteristika der Journaux legt nahe, dass Dantec sich nicht nur an einer gesellschaftlichen Apokalyptik abarbeitet, sondern, diese reflektierend, auch eine Apokalypse der literarischen Form inszenieren will. Zum Einfall des Chaosprinzips in die Literatur gehören nicht nur die Fragmentarizität und die Unmöglichkeit der Fixierung der Journaux auf ein Genre oder eine Gattung, sondern auch die Aufsplitterung der überwiegend in Prosa verfassten Journaux durch Lyrik. Die wiederholte Unterbrechung der unterschiedlich langen Textfragmente durch Gedichte bezeichnet Dantec als eine Art "irruption du pur langage poétique au sein de mon cheminement critique et métaphysique" (I, 54).20 Allerdings wird auch die Poesie nicht als Ausweg aus der permanenten Krise begriffen: Stets schließen sich an die kurzen lyrischen Texte wieder neue extensive Darstellungen von Krieg, Tod und Verbrechen an. Kunst per se ist also keine Lösung, es muss schon eine besondere Art von Kunst sein. Hinweise auf deren Beschaffenheit geben die in den Journaux verstreuten Metakommentare zum Selbstverständnis der Dantecschen Aufzeichnungen. Da ist die Rede von einem "work-in-progress" (II, 125) 20 "[Der] Einbruch der reinen poetischen Sprache ins Zentrum meiner kritischenmetaphysischen Gedankengänge". 211

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oder die Konvolute werden, in Anlehnung an die Formulierung vom unbekannten Flugobjekt, als "objet littéraire non identifié" bezeichnet (ebd., 124). Das Ziel solch ostentativer Offenheit ist eine möglichst weitreichende Emanzipation von gängigen formalen Kriterien und Gattungsbeziehungsweise Genremerkmalen: [C]e laboratoire de catastrophe générale […] est cet espace aromanesque où ma conscience peut se libérer des contraintes thermodynamiques que l'art du récit a accumulées au cours du XXe siècle […]. Je peux juste laisser mon énergie psychique opérer d'elle-même la séquence des modes d'expression et des relations au réel […]. (II, 54) [D]as laboratoire de catastrophe générale […] ist, anders als der Roman, jener Raum, in dem mein Bewusstsein sich von den thermodynamischen Widersprüchen befreien kann, die die Erzählkunst während des 20. Jahrhunderts angesammelt hat. […] [Hier] kann meine psychische Energie selbst die Ausdrucksmodi und die Relationierung mit der Wirklichkeit steuern […].

Dieser Auszug verdeutlicht nochmals den Zweck, den das Aufbrechen inhaltlicher und formaler Konventionen gemäß Dantecs Ästhetik hat. Angestrebt wird die Kopplung des Schreibens an die Realität – nicht im Sinne der zuvor kritisierten Mehrheit der Gegenwartsliteratur, sondern auf eine Weise, die tatsächlich eine Verbindung zur apokalyptischen, chaotischen Realität herstellen kann und die sich keiner über den Zustand der Gesellschaft hinwegtäuschenden Strukturen oder literarästhetischer Traditionen bedient. Das Verhältnis eines Textes zur Realität muss deshalb die tradierten Bewertungskriterien für Literatur ablösen. Notwendigkeit, also das Gebundensein an einen Zweck in der Wirklichkeit, ist laut Dantec die conditio sine qua non einer Literatur, die im Angesicht des apokalyptischen Gesellschaftszustands wirksam sein will: "Qu'un livre soit bon, que nous importe! Il sort de par le monde des milliers de bons livres en une seule année. Encore faut-il qu'il soit nécessaire." (I, 419)21 Dantecs Forderung nach der Notwendigkeit von Literatur gründet in der Funktion, die er ihr zuschreibt: Sie soll ein Überlebensmodus sein. Dieser Anspruch rückt Dantec erneut in die Nähe Michel Houellebecqs, der in vielen seiner Texte die Funktion der Literatur im Überlebenskampf der Menschen thematisiert. "Ce que je partage peut-être de plus profond avec Houellebecq: comprendre la littérature comme un programme de

21 Was kümmert es uns, ob ein Buch gut ist! Überall auf der Welt erscheinen jedes Jahr tausende gute Bücher. Vielmehr muss ein Buch notwendig sein." 212

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survie" (I, 49).22 Tatsächlich ist sowohl bei Houellebecq als auch bei Dantec ein Rekurs auf Darwinsche Begrifflichkeiten zu verzeichnen;23 außerdem nehmen beide Autoren die Gegenwart als eine Zeit wahr, in der der Überlebenskampf des Menschen reaktualisiert wird. Im 21. Jahrhundert gründet er nicht mehr in einer feindlichen Natur, sondern gerade in der – wenigstens partiellen – Überwindung dieser Natur durch wirtschaftliche Bedingungen und wissenschaftliche Entwicklungen. Die hochtechnisierten Kriege oder die biotechnologischen Möglichkeiten legen für beide Autoren die Gefahr der Selbstauslöschung des Menschen nahe. Die Wirkungsweise des literarischen Überlebensprogramms ist jedoch bei Houellebecq und Dantec grundverschieden. Während Literatur in den Particules élémentaires als Medium der Erinnerung an den Menschen nach der (selbstinduzierten) Apokalypse fungiert,24 ist sie bei Dantec ein Medium zur Rettung des grundsätzlich apokalyptischen Menschen. Indem die Literatur durch Anpassung an die Gegenwart, durch Relevanz und durch radikale Realitätsbezogenheit ihr eigenes Überleben sichert, kann sie auch die schmerzvolle Adaptation des Menschen an seinen fundamental prekären Zustand erleichtern und begleiten. Dies kann ihr nach Dantec gelingen, wenn sie den Menschen stets an seine Situation gemahnt und die Katastrophe immer schon vorweg nimmt: "Oser, aujourd'hui même, […] décrire l'Homme comme on ne l'a jamais décrit, comme un alien, comme un étranger dans un lieu étrange, comme une forme de vie instable et fragile, […] oui, oser entreprendre l'épopée de la fin de l'Homme" (I, 505) (Hervorhebung durch Vf.) "Es gerade heute wagen, […] den Menschen zu beschreiben, wie er noch nie beschrieben wurde, wie einen Außerirdischen, wie einen Fremden an einem fremden Ort, wie eine instabile und zerbrechliche Lebensform, […] ja, den Versuch eines Epos vom Ende des Menschen wagen".

Schreiben, wie nie zuvor geschrieben wurde: Eine solchermaßen radikale Absetzung von tradierter Literatur und Literaturgeschichte ist natürlich 22 Meine wahrscheinlich größte Gemeinsamkeit mit Houellebecq: die Literatur als ein Überlebensprogramm zu begreifen." 23 Vgl. etwa Dantec, I, 264-274. 24 Da diese Beobachtung hier nicht vertieft werden kann, soll der Hinweis genügen, dass in den Particules retrospektiv von der bereits ausgelöschten Menschheit (und ihrer Literatur) erzählt wird. Die Menschen überleben die Apokalypse also nur in der Erinnerung der Klone. 213

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selbst längst zum Gestus geworden. Somit ist Dantecs literarischer Programmatik die ungewollte, doch unvermeidliche Verstrickung in eben jene etablierten ästhetischen Konventionen inhärent, von denen seine Ästhetik sich absetzen will. Seine systematische Konzentration auf die Gegenwart und mehr noch auf die Ruinen der Zukunft ist unhintergehbar verknüpft mit einer rückwärtsgewandten Utopie, die er zwar nie artikuliert, die aber letztlich die Grundlage seiner Kritik an der Irrelevanz und Realitätsfremdheit der Gegenwartsliteratur ist: In Dantecs Augen hat Literatur heute nicht mehr die Möglichkeit der Innerlichkeit, der Selbstbezogenheit, des traditionellem Realismus', denn schließlich ist zugleich mit der prekären Zukunft des Menschen auch der zukünftige Status der Literatur ungewiß. Die ostentative Orientierung allein auf die düstere Zukunft hin indiziert deshalb die Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Literatur sich die Selbstbezogenheit noch leisten konnte, in der ihr Überleben nicht in Frage stand. So funktioniert seine oppositionelle Ästhetik nur als die eine Seite einer Medaille, deren anderes Gesicht eine 'glücklichere' literaturhistorische Vergangenheit impliziert. Die Erkenntnis dieser problematischen Verstrickung können wir Dantec getrost unterstellen. Er zieht daraus die im Rahmen seines ästhetischen Programms einzig logische Konsequenz: keine. Denn die Unmöglichkeit der Loslösung aus der eigenen historischen Situation, die Unmöglichkeit, Widersprüche zu umgehen, sollte nicht das Aufgeben des eigenen Anspruchs an die Literatur zur Folge haben. Letztlich geht es nicht um die uneingeschränkte Anwendbarkeit eines ästhetischen Katalogs, sondern um das Moment des Gelingens im Scheitern, um das kreative Potential, das Dantecs Programmatik in ihrer Auseinandersetzung mit der Apokalypse freisetzt. Kurz: Es geht um die Literatur, die der Autor seiner Gegenwart trotz allem abringt. Darin vor allem besteht ihre Relevanz.

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THOMAS GLAVINICS ENDZEITROMAN DIE ARBEIT DER NACHT BIRGIT HOLZNER Ein Buch. Ein Leben im Regal, Leben in sich bergend.1

Aufdecken, was zuvor verborgen war, nämlich die unvorhersehbare, endgültige Zukunft der Weltgeschichte will das griechische "apokalyptein". Der Apokalypse-Begriff, wie er im Folgenden verstanden wird, bezeichnet ein spezifisch literarisch aufgefasstes Modell, das von einer Vision des Weltuntergangs, der neuen oder verwandelten Welt berichtet und radikale innerweltliche Veränderungen in Metaphern des Weltuntergangs schildert. Wichtigstes Merkmal der Endzeit ist dabei die Vernichtung von Zivilisation und Kultur durch ein apokalyptisches, meist von der Menschheit selbst ausgelöstes, irreversibles Unglück. Apokalypsen beziehen sich denn auch häufig auf konkrete historische Ereignisse, wie zuletzt die Jahrtausendwende. Der Milleniumswechsel hat schon im Vorfeld allerorts Ängste hervorgerufen, denen selbst die sonst so rational orientierte Computerbranche erlegen ist und die gänzlich im Widerspruch zur Fortschritts- und Technikgläubigkeit des 20. Jahrhunderts standen. Die apokalyptische Angst vor Weltuntergang und jüngstem Gericht, die die Menschen noch um 1000 n. Ch. beschäftigte und sich vor allem in der bildenden Kunst manifestierte, ist den konkreten Ängsten vor sozialem Abstieg, Krankheit, Fremden, Terror sowie vor dem Leben nach dem Tod gewichen. Vor diesem Hintergrund lässt sich beobachten, dass auch die Literatur um die zweite Jahrtausendwende drängende Gegenwartsprobleme und globale Zukunftsängste gedanklich aufarbeitet und von einer gewissen Milleniums-Apokalyptik infiziert ist. 1972 in Graz geboren, publiziert Thomas Glavinic seine Bücher allesamt um die Jahrtausendwende. Seine Werke behandeln ganz unterschiedliche Sujets, die jeweils in gemäßer, meist sehr unpersönlicher Sprache erzählerisch umgesetzt werden. 1998 erscheint Glavinics international erfolgreiches Debüt Carl Haffners Liebe zum Unentschieden, 1

Thomas Glavinic, Die Arbeit der Nacht, München 2006, S. 393. 215

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2001 der mit dem Glauser-Preis ausgezeichnete Kameramörder, der über den Fall eines psychopathischen Kindermörders berichtet, 2004 die skurrile Gesellschaftssatire auf die 80er Jahre Wie man leben soll. Im Sommer 2006 kommt sein bislang letzter, vor der Veröffentlichung bereits als Bestseller gefeierter Roman Die Arbeit der Nacht heraus, eine ästhetische Verarbeitung der Endzeitstimmung um die Jahrtausendwende, für die Glavinic den österreichischen Förderungspreis für Literatur erhält. Seine Weltuntergangsvision erinnert motivisch an Arno Schmidts Kurzroman Schwarze Spiegel, Marlen Haushofers Die Wand und Herbert Rosendorfers Großes Solo für Anton. In allen drei Romanen überlebt der Protagonist als Einziger eine rätselhafte Katastrophe, die Autoren entwickeln so ihre Vorstellung des Weltendes. Während Schmidts "letzter" Mensch allein über die mitteleuropäische Erde schweift und die Apokalypse wie ein Fest feiert, Haushofers Erzählerin sich eines Morgens in einer weiterhin funktionierenden Natur durch eine unsichtbare und undurchdringliche Wand von einem erstarrten Dorf getrennt sieht, erwacht Rosendorfers Anton L. eines Morgens und erfährt, dass alle Menschen verschwunden sind. Die Idee zur Arbeit der Nacht, an der Glavinic zweieinhalb Jahre schreibt, hat der Autor eines Nachts, als er von seiner Wiener Wohnung auf die sonst rund um die Uhr vielbefahrene Brigittenauer Lände schaut und diese völlig menschenleer vorfindet. Jonas, der einzige Mensch in dem fast 400 Seiten starken Roman steht eines Morgens auf und stellt fest, dass er völlig allein auf der Welt ist. Früher hatte er des Öfteren den Wunsch, Überlebender eines Unglücks, ein Auserwählter zu sein. Nun ist er der einzige Held einer zum Untergang vorbestimmten Geschichte. An der Bushaltestelle entnahm er dem Aktenkoffer die Wochenendbeilage der Zeitung, für die er an den Tagen zuvor keine Zeit gehabt hatte. Die Morgensonne blendete ihn. Er suchte in den Jackentaschen, doch dann erinnerte er sich, daß die Sonnenbrille auf dem Garderobenkästchen lag. Er sah nach, ob Marie schon zurückgeschrieben hatte. Er nahm die Zeitung wieder auf und blätterte zu den Schöner wohnenSeiten. Es fiel ihm schwer, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Etwas irritierte ihn. Nach einer Weile merkte er, daß er wieder und wieder denselben Satz las, ohne den Inhalt aufzunehmen. Die Zeitung unter den Arm geklemmt, machte er ein paar Schritte. Als er den Kopf hob, stellte er fest, daß außer ihm niemand zu sehen war. Daß kein Mensch da war und daß keine Autos fuhren. Ein Scherz, kam ihm in den Sinn. Und: Es muß Feiertag sein.

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Ja, das erklärte einiges: ein Feiertag. [...] Die Busse fahren in längeren Intervallen. Und es sind weniger Leute auf der Straße. Bloß war der 4. Juli kein Feiertag. Jedenfalls nicht in Österreich.2

Nachdem Jonas’ verzweifelte Versuche mittels Telefonanrufen, Postkarten, überall zurückgelassenen Zetteln oder Wohnungsdurchsuchungen einen Menschen oder ein anderes Lebewesen3 zu finden, fehlschlagen, begibt er sich auf eine Spurensuche in die Vergangenheit seiner Familie. Eine Ordnung starren Stillstands rekonstruierend stellt Jonas den ursprünglichen Zustand der elterlichen Wohnung wieder her und erinnert sich sehnsüchtig an seine Kindheit, jene unbeschwerte Zeit, als in Jugoslawien noch Tito lebte, in den USA Carter Präsident war und in der Sowjetunion Breschnew herrschte. Vergangenes wird in unwirklicher Weise vergegenwärtigt. Denn der Erzähler reißt Jonas brutal aus diesen Tagträumen heraus, wechselt abrupt vom Konditional ins Plusquamperfekt, während er ein Kindheitsfoto betrachtet: "Die Hand auf dem Foto würde wachsen, wachsen, wachsen. Die Hand vor seinem Gesicht war gewachsen."4 Jonas wiederholt Ausflüge, die er früher schon einmal gemacht hat, wie einen Besuch des Donauturms mit seiner Freundin Marie, die die Aussicht liebte und die Kuriosität, dass sich das Café langsam um den Turm herum drehte. Dort liest er noch einmal ihre SMS, die er im Speicher seines Handys aufbewahrt hat, und fragt sich, ob er vielleicht eine Prüfung zu bestehen hat, die ihn aus seiner Lage zu erlösen vermag. Er versucht es mit dem Aufrufen der Websites www.marie.at oder www.gott.com und bringt am Donauturm die weithin lesbare, kryptische Botschaft UMIROM an. Glavinic demonstriert damit nicht nur, dass Jonas mit seinem Latein am Ende ist, sondern auch, dass unter den gegebenen Umständen die Sprache unfähig ist, etwas Sinnvolles mitzuteilen. Später wiederholt Jonas eine Moped-Fahrt zum Mondsee, die er vor vielen Jahren unternommen hat. An diesem locus amoenus erinnert er sich an Gedanken, mit denen er sich früher oft beschäftigt hat, zum Beispiel, dass es Tage ohne ihn geben könnte; eine Schlüsselszene des Romans: Er hatte daran gedacht, daß eine beliebige Person der Geschichte, etwa Goethe, nicht mehr Zeuge des Tages wurde, den Jonas gerade erlebte. Denn er war weg.

2 3 4

Ebd., S. 8f. Auch die Tiere sind verschwunden, lediglich die Toten liegen noch in ihren Gräbern. Glavinic, Die Arbeit der Nacht, S. 188. 217

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Tage wie diesen hatte es auch früher gegeben. Goethe wandelte über die Wiesen, sah die Sonne und betrachtete die Berge und badete im See, und es gab keinen Jonas, und für Goethe war all das gegenwärtig. Vielleicht dachte er an die, die nach ihm kamen. Womöglich stellte er sich vor, was sich ändern würde. Goethe hatte einen Tag wie diesen erlebt, und es hatte keinen Jonas gegeben. Den Tag hatte es trotzdem gegeben, ob Jonas oder nicht. Und nun gab es den Tag mit Jonas, aber ohne Goethe. Goethe war weg. Oder besser: Er war nicht da. So wie Jonas nicht dagewesen war an Goethes Tag. Nun erlebte Jonas, was Goethe erlebt hatte, sah die Landschaft und die Sonne, und für den See und die Luft spielte es keine Rolle, ob ein Goethe da war oder nicht. Die Landschaft war dieselbe. Der Tag war derselbe. Und würde in hundert Jahren derselbe sein. Dann aber ohne Jonas. [...] Doch nun? Würde in hundert Jahren jemand den Tag wahrnehmen? War jemand da, der durch die Landschaft spazierte und an Goethe und Jonas dachte? Oder würde der Tag Tag sein ohne Beobachtung, seiner reinen Existenz überlassen? Und – war es dann noch ein Tag? Gab es etwas Sinnloseres als so einen Tag?5

Das Verschwinden jeglicher Bedeutung und jeglichen Sinns aus dem individuellen Handeln ist ein Thema des Romans. Denn die Zeit wird für Jonas zunehmend unvorstellbar zäh. Für ihn besteht kein Unterschied mehr zwischen den Tagen, nichts ändert sich. In der ermüdenden Gleichheit ereignisloser Tage, in der endlosen Wiederholung gleicher Fragen, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergangslos zusammenfließen, tritt Jonas auf der Stelle, während etwas Unerklärbares seinen unheimlichen Lauf nimmt. Er nahm wahr, wie die Sonne in wenigen Sekunden ihren Tagesbogen beschrieb. Wieder und wieder erschien sie am Horizont, lief, eins zwei drei vier fünf, über den Himmel, versank im Westen, hinterließ Nacht. Dann kam sie wieder, nur um abermals zu eilen und zu verschwinden. Nacht. Die Nacht blieb. Sie blieb und arbeitete.6

Jonas setzt zunächst der grassierenden Banalität des Alltags Weigerung und Schweigen entgegen, später wird er jedoch von einem dichten Misstrauen gegenüber jeder Aktion, welche an der bestehenden Ordnung zu rütteln versucht, angetrieben. Und im Verlauf des Romans schlägt dann die Paranoia zu: Jonas hat ständig das Gefühl, es sei jemand da, zugleich weiß er, dass niemand da ist. Und ihn quält der Gedanke, dass beides

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Ebd., S. 148f. Ebd., S. 347. 218

ENDZEITSTIMMUNG

stimmt. Beim Betreten eines Hauses stellt er paralysiert fest, dass im Flur ein Bild mehr an der Wand hängt als beim letzten Mal. Vor allem des Nachts häufen sich unerklärbare Dinge, alles kann, nichts muss Bedeutung haben, die Nacht arbeitet: Die Streichholzschachtel, die Jonas, wie er es in Filmen gesehen hat, gegen die Wohnungstür legt, liegt zwar am Morgen noch an der exakt gleichen Stelle, allerdings mit der verkehrten Seite nach oben. Argwöhnisch geworden beginnt Jonas, sich nachts mittels Videoaufzeichnungen selbst aufzunehmen. Im Schlaf führt er als "Schläfer" ein beklemmendes Doppelleben, in dem er sich selbst auf sehr verstörende Weise gegenüber tritt und im Zuge dessen der Autor der Frage nachgeht, wie objektiv Videoaufzeichnungen sind. Als er sich die Stelle ein zweites Mal ansah, wurde er unsicher. Nach dem viertenmal war er überzeugt, sich getäuscht zu haben. Es ergab auch keinen Sinn. Nach neunundfünfzig Minuten murmelte der Schläfer einige Sätze. Ihr Wortlaut war nicht zu verstehen. Er ruderte mit den Armen. Drehte sich von der Kamera weg. Der Bildschirm wurde dunkel, die Kassette surrte auf, und Jonas ärgerte sich, nur ein Einstundenband eingelegt zu haben. Er spulte zurück. Sah sich die letzte Minute in Zeitlupe an. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Er lauschte den vier Sätzen. Am verständlichsten war noch der zweite. Aus diesem meinte er drei Worte herausfiltern zu können, "Kaiser", "Holz", "beenden". Was nicht sehr aufschlußreich war.7

Im Blick des Schläfers findet Jonas anstelle von Wut und Hass nur Ruhe, Kälte und eine erschreckende Leere, die sich mit ihm selbst befasst. Es erweist sich jedoch als unmöglich, seinen Schlaf lückenlos zu filmen und die Aufzeichnungen gewissenhaft zu betrachten, da Jonas in diesem Fall an Kameras festgebunden und dazu verdammt wäre, nichts anderes mehr zu tun, als zu schlafen und sich beim Schlafen zuzusehen. Er erträgt es nicht mehr, der Nacht bei ihrer Arbeit zuzusehen, sein eigenes Leben wäre ein Käfig. Obwohl es erst Vormittag war, spürte er bereits die Müdigkeit heraufkriechen. Dies trieb ihn an. Was er gerade tat, hätte er schon am Vortag tun müssen oder am Tag zuvor. Wenn er die Dinge so weit kommen ließ, daß der Schläfer ihn nur noch willkürlich an beliebigen Orten kurz erwachen ließ, ehe ihn der Schlaf gleich wieder überwältigte, war er – Ja, er war verloren. 7

Ebd., S. 104f. 219

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Verloren. Nein, das war er schon jetzt. Verloren. Wenn ihn der Schläfer ins Joch spannte, war er etwas anderes als verloren. Aber was war er dann?8

Während Jonas sich zunächst nichts sehnlicher wünscht, als einem Menschen zu begegnen, fürchtet er plötzlich die Begegnung mit anderen, bewaffnet sich mit einer Pumpgun und weitet seine Videoaufzeichnungen auf ganz Europa aus. Aggressiv und destruktiv geworden greift er imaginäre Feinde an, weil ihm das Gefühl zu agieren eine gewisse Sicherheit spendet. Der Leser kommt zum Schluss, dass das Ungeheuer in Jonas selbst lauert, er ist zugleich Opfer und Täter. Auch mit der österreichischen Identität beschäftigt sich Jonas, was ist Österreich, fragt er sich einmal, wer sind die Österreicher. Der Tod des einzelnen führt zu keiner großen Veränderung, ist nur für den Betreffenden selbst von Bedeutung, nicht jedoch für das Land. Vergleicht Jonas das Land vor ein paar Wochen mit dem Land vor hundert Jahren, kann er behaupten, dass kein großer Unterschied besteht. Das Prinzip zählt, nicht der einzelne. An folgender Stelle wird die unbewegliche, noch immer in der Monarchie verhaftete österreichische Gegenwart kritisiert, wenn es in einem Vergleich heißt: Ein Freund mit kynologischem Interesse hatte Jonas einmal erklärt, warum manch kleiner Hund ungeachtet des Risikos auf einen viel mächtigeren Artgenossen losging. Dem lag Verzüchtung zugrunde. Die Rasse des Hundes war einst eine weit größere gewesen. Im Bewußtsein des Hundes hatte sich noch nicht festgesetzt, daß er von der Schulter bis zur Pfote nicht mehr neunzig Zentimeter maß. Der kleine Hund glaubte gewissermaßen, so groß zu sein wie der andere, und ging ohne Rücksicht auf Verluste gegen diesen vor. Jonas hatte nicht erraten, ob diese Theorie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußte oder ob sein Freund geflunkert hatte. Aber eine Erkenntnis war ihm gekommen: Mit den Österreichern verhielt es sich genau wie mit diesen Hunden.9

In all diesen Ansätzen zeigt sich die Apokalyptik des Romans, die die Wende vom Unheil zum Heil nicht mehr als ein Eingreifen Gottes in die Weltgeschichte erwartet, sondern vielmehr als ein Eingreifen zu deren Beendigung. Seine Situation wird als Unheilsgeschichte dargestellt, die einem schrecklichen Ende zutreibt. Die Vorstellung von einem bewussten Handeln einer die Welt kontrollierenden Person, zergeht wie eine

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Ebd., S. 351. Ebd., S. 178. 220

ENDZEITSTIMMUNG

Fata Morgana, da das Individuum von der Wirklichkeit zermalmt wird und nicht weiß, wie ihm geschieht. Insofern erklärt sich die pessimistische Grundstimmung, die Jonas befällt: In einem letzten Akt beschließt der zunehmende depressive Jonas, eine Reise nach Schottland zu unternehmen und dort Marie zu suchen, wenngleich ihm schon vor Beginn seiner Unternehmung klar ist, er würde ohne sie zurückkehren. Seine Rückreise nach Wien wird eine Reise zum eigenen Tod, führt zum Zusammenbruch seiner Persönlichkeit, zum Zusammenbruch von Zeit und Zeiten. Jonas steht auf das Ende wartend und auf der Stelle tretend wieder dort, wo er schon zu Beginn der Geschichte stand. Die ganze Reise erlaubt Rückschlüsse auf sein Bewusstsein und sein Unbewusstes: auf Jonas’ katastrophale psychische Verfassung, die sein verdüstertes Lebensgefühl, seine Aggressivität und Verkrampftheit erklären, und die wie von Sigmund Freud beim Fall Schreber beschrieben wird als Ausweitung der individuellen Katastrophe zur kosmischen, einmal als Krankheitssymptom, einmal als literarische Technik.10 Der Roman beschäftigt sich mit den großen Daseinsfragen Liebe, Wahrheit und Tod, wenn sein Held sich beispielsweise fragt, ob es jetzt schon jemanden gibt, der weiß, wie er sterbe. Oder ob man von Aussicht sprechen kann, wenn niemand da ist, der sie bestaunt, und muss sich eingestehen, dass es kein ich ohne du gibt. Laut Glavinic kommen in dem Roman zwei neue Motiv-Welten zusammen, einerseits Robinson Crusoe und andererseits Jekyll und Hyde, und er unterstreicht, in dem Moment, in dem jemand sich nicht einmal selbst mehr hätte, wäre er wirklich einsam. Der Roman bewegt sich strikt außerhalb der Autobiographie, er hält es ganz mit Charlie Chaplin, der einmal gemeint hat, wenn ein Künstler sein Werk zur Gänze verstünde, wäre es kein Kunstwerk, sondern Kunsthandwerk, aber das Ich kann dennoch nicht weggeleugnet werden, wie der Autor in Auf die Wirklichkeit antwortet man am allerbesten mit Erzählen gesteht: Es gibt keine ichlose Literatur. Literatur wird ja nicht von Automaten geschrieben. – Trotzdem finde ich verkappte Autobiographien langweilig. Diese Literatur schreiben zu 99 Prozent Autoren, die im Grunde keine Schriftsteller sind. Jeder Mensch trägt einen Roman in sich, jeder. Leute wie Jack Unterweger haben den geschrieben. Einen Roman kann jeder schreiben. Aber es gibt eine Unzahl Autoren, die viele Romane schreiben und auch veröffentlichen, aber im Grunde 10 Vgl. Sigrid Schmid-Bortenschlager, "Apokalyptische Visionen in der deutschsprachigen Literatur", in: Briefe in die europäische Gegenwart. Festschrift für Herbert Rosendorfer zum 70. Geburtstag, hg. v. E. Bialek/J. Rzeszotnik, Breslau 2004, S. 79-89, hier S. 87. 221

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immer nur denselben. [...] Möglichst wenig Ich wünsche ich mir, in dem Sinn, dass man nicht ständig Anleihen in der eigenen Lebensgeschichte nimmt. Die muss oft herhalten, wenn man zu wenig Vorstellungskraft hat oder die Welt zu wenig kennt. Dann schreibt man darüber, dass man in Kärnten aufgewachsen ist in einer Bergbauernfamilie. [...] Eigene Biographie ist in der Regel langweilig; reicht vielleicht gerade für ein einziges Buch. Dabei kann es durchaus sein, dass meine Literatur bloß eine andere Art von Autobiographie ist, dass ich mir Stücke von Welt aussuche, die irgendwas von mir spiegeln; vielleicht ist diese Art unbewusster Autobiographie die reizvollere Art, auch für den Betrachter.11

Glavinics erzählendes Schreiben, das ganz im Gegensatz zu den experimentellen Schreibweisen steht, die lange Zeit als typisch österreichisch gegolten haben, kann beispielhaft für die Schreibverfahren der jüngeren österreichischen Literatur um die Jahrtausendwende angesehen werden. Wie schon in seinen beiden vorherigen Büchern verwendet der Autor eine schnörkel- und kunstlose Sprache und einen sehr unpersönlichen Stil. Die Erzählstrategie, nämlich: die auf scheinbar nebensächliche Details fixierte Sichtweise des Protagonisten in den Mittelpunkt zu rücken, spielt nach dem Kameramörder auch in der Arbeit der Nacht eine wichtige Rolle und spiegelt die passive und voyeuristische Struktur der Gesellschaft der Jahrtausendwende wider. Stilistisch gelingt Glavinic ein Meisterstück, nicht nur deshalb, weil das nur mit einer Person besetzte Buch ohne Monotonie und Wiederholungen auskommt, sondern auch, weil er es versteht, seine imaginäre Welt sprachlich korrekt umzusetzen: So stiehlt Jonas beispielsweise nicht die Dinge, die ihm nicht gehören, sondern er nimmt oder besorgt sie sich. In der dritten Person geschrieben, hat der Roman eine starke Außenperspektive und verzichtet gänzlich auf innere Monologe, es handelt sich trotzdem um eine personale und nicht um eine auktoriale Erzählsituation. Der Leser sieht alles nur aus der Perspektive des Protagonisten, weiß nur, was dieser weiß. Freilich bleibt es fraglich, wer denn hier eigentlich erzählt, wenn außer dem Protagonisten keiner mehr da ist und wozu, wenn keiner mehr diesen Bericht vernehmen kann. Glavinic begibt sich mit diesem Roman auf eine Gratwanderung zwischen erzählter Welt und Fiktion, Säkularisierung und Metaphysik, die immer vom Kollaps gefährdet ist. Er überspringt die Realitäten der Welt

11 Thomas Glavinic, "Auf die Wirklichkeit antwortet man am allerbesten mit Erzählen", in: Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur, hg. v. H. Gollner, Innsbruck 2005, S. 21-28, hier S. 23f. 222

ENDZEITSTIMMUNG

surrealistisch und erschafft eine unstimmige Welt, in der viele Wohnungstüren offen stehen und es trotz Elektrizität kein Internet gibt, eine Welt, in der sich der Leser verliert. Die Wirklichkeit verzerrt sich und nimmt mehr und mehr gespenstische Ausmaße an, entzieht sich den Kategorien von Raum und Zeit. Der Text ist in seiner Kosmologie und "in seiner Gesamtheit keine mögliche Welt", sondern lediglich "ein Ausschnitt der realen Welt und bestenfalls eine Maschine, um mögliche Welten zu produzieren: die Welten der Fabel, der Personen der Fabel und der Vorhersagen des Lesers."12 Dieser sieht sich mit einer Art metaphysischen Schreckens konfrontiert, der die Lessingsche Unterscheidung von Literatur und bildender Kunst als Darstellung in der Zeit und nicht im Raum unterstreicht und möglicherweise mit folgender Metapher Umberto Ecos zu erklären ist: Ein Lebewesen aus einer dreidimensionalen Welt besucht eine zweidimensionale Welt und vermag diese zu verstehen und zu beschreiben, während es den Wesen der zweidimensionalen Welt nicht gelingt, sich die Gegenwart des Besuchers zu erklären (der beispielsweise die Eigenschaft besitzt, sich in ihrer Welt in die Höhe oder Tiefe zu bewegen, während jene nur in Kategorien der Fläche denken können). Eine dreidimensionale Kugel, die eine zweidimensionale Welt durchquert, wird sich dieser als eine Reihe aufeinanderfolgender Kreise von unterschiedlichem Umfang darstellen; die zweidimensionalen Wesen würden nicht begreifen, wie es zuginge, daß ihr Besucher fortwährend seine Gestalt zu ändern vermag.13

Leere und Liebe, Ausweglosigkeit und Ohnmacht kennzeichnen Glavinics millenaristisch akzentuierte Darstellung der Jahrtausendwende, deren unausweichlicher Sog an Guy de Maupassants um die Jahrhundertwende von 1900 verfasste Kurzgeschichte La nuit erinnert. Auch um das ominöse Jahr 2000 häufen sich Texte, in denen apokalyptische Untergangsvorstellungen eine wichtige Rolle spielen, wobei die bildhafte Schilderung der Gräuel und der Gedanke an das Jüngste Gericht verglichen mit dem Bezugstext der Johannes-Apokalypse zugunsten eines Abgesangs auf eine endgültig beendete Menschheitsgeschichte eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die Arbeit der Nacht ist ein Endzeitroman, deren untergehender Held die Menschheit ist. Zum einen zeigt er die Brüchigkeit des Alltags auf, die auch die Ereignisse des 11. September 2001 sichtbar machten, zum anderen ist er eine Liebeserklärung. Die Fra-

12 Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, S. 219. 13 Ebd., S. 185f. 223

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gen nach dem warum und wohin bleiben freilich unbeantwortet, auch wieweit die Menschen verantwortlich zu machen sind für das Geschehen von solcher Determiniertheit. Der Roman verlockt prinzipiell zu Spekulationen, entzieht sich aufgrund seiner Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit einer eindeutigen weltanschaulichen Festlegung. Trotz der apokalyptischen Perspektive am Ende darf man vielleicht von einem offenen Ausgang des Romans sprechen, der es erlaubt, mehrere Schlussvarianten nebeneinander zu stellen und jeder ihr eigenes Recht zu lassen. An die Vorstellung eines danach kann sich der Leser jedenfalls noch klammern, denn das Buch endet mit der verzweifelten Hoffnung auf eine Zukunft nach der Apokalypse: Glück, das war auch, als kleines Kind im Kinderwagen umhergeschoben zu werden. Den Erwachsenen zuzusehen, ihren Stimmen zu lauschen, viele neue Dinge zu bestaunen, begrüßt und angelächelt zu werden von fremden Gesichtern. Dazusitzen und zugleich zu fahren, etwas Süßes in der Hand, und die Beine von der Sonne gewärmt zu bekommen. Und vielleicht einem anderen Kinderwagen zu begegnen, dem Mädchen mit Locken und aneinander vorbeigeschoben zu werden und sich zuzuwinken und zu wissen, das ist sie, das ist sie, das ist die, die man lieben wird.14

14 Glavinic, Die Arbeit der Nacht, S. 395. 224

II. SCHREIBVERFAHREN

DER

JAHRTAUSENDWENDE

TOTENSTIMMEN. PHÄNOMENE PHANTOMISCHEN E R Z Ä H L E N S I N D E R L I T E R A T U R U M 2000 KATRIN SCHUMACHER

Zu den vielen Freiheiten des Dichters gehört auch die, seine Darstellungswelt nach Belieben so zu wählen, daß sie mit der uns vertrauten Realität zusammenfällt oder sich irgendwie von ihr entfernt. Wir folgen ihm in jedem Falle. Sigmund Freud, Das Unheimliche

Nehmen wir also an, die Rede ist unmöglich. Bar jeder Vernunft. Es entspinnt sich eine Geschichte durch ein Gespenst, das nicht erscheinen kann und schon gar nicht erzählen, aufzählen, Rechnung tragen; es wendet sich mit seiner Rede an uns – wir lassen es reden, wir hören ihm zu, wir nehmen an, das erzählende Subjekt hat in seinem Justierungsprozess diesen Bewusstseinszustand aus irgendeinem Grund gewählt – und da das Gespenst spätestens nach Kant in den Echoraum der Kunst gehört, hören wir ruhig, beruhigt zu. Denn wir lesen aus sicherem Abstand. Und doch: Aus dem Schlaf, dem Koma, dem Tod – in diesen Stadien, in denen das Bewusstsein, das – nehmen wir an – so souveräne, so deutlich unsouverän wird, lässt sich auch in der Kunst immer noch nicht erzählen ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Jedenfalls nicht gegenüber uns, den "westlichen Lesern", wie der japanische Autor Haruki Murakami in einem Interview 2002 anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung seines opaken Liebesromans Sputnik Sweetheart sinniert, uns westlichen Lesern, denen der Zugang zur "anderen Seite" dramatisch, kompliziert, nicht selbstverständlich erscheine. "Wir", so Murakami über seine japanischen Leser, "leben Tür an Tür mit der 'anderen Welt'. Wir leben mit ihr."1 Und, so lässt sich ergänzen, mit der Rede aus der 'anderen Welt', die dem westlichen Leser doch so unmöglich wie attraktiv erscheint. 1

"Wenn das Grundgefühl zerbricht. Ein Mann mit zwei Schreibhänden, die voneinander nichts wissen: Der japanische Autor Haruki Murakami im Gespräch [mit Lothar Müller]", in: Süddeutsche Zeitung, 6. November 2002. 227

SCHREIBVERFAHREN DER JAHRTAUSENDWENDE

In beinahe allen Romanen Murakamis wird jene 'andere Welt' – lassen wir zunächst offen, ob wir sie als 'Jenseits', 'Schattenwelt', 'Paralleluniversum' identifizieren – zum Existenzraum einer Person, die von dort Kommunikation generiert, sei es mit einem Telefonat aus dem Jenseits, wie die angehende Schriftstellerin Sumire in Sputnik Sweetheart, sei es durch Traumbotschaften, wie die schlafende Schwester der Protagonistin Mari im kürzlich erschienenen Afterdark. Die Liste der Geschichten ist lang, in denen der Durchgang offen ist, in denen ein permanenter Zeitraum zwischen 24 und 0 Uhr behauptet, eine prekäre Erzählbasis eröffnet wird. Prekär, vom Rande her kommt sie uns vor, und wir formulieren Kategorien wie den unzuverlässigen Erzähler oder die fantastische Narration, um sie zu ordnen. Die Toleranz dem fantastischen Diskurs gegenüber scheint eine deutlich kulturabhängige Variable; dabei enthält diese gespenstische Rede lediglich eine Verschärfung dessen, was seit der Romantik als die fremde, die uneigentliche Rede gehandelt wird – jene Skepsis vor der Souveränität über den eigenen Text, die schon Novalis, Kleist oder Schlegel formuliert haben.2 Ebenso, wie es eine Tradition der vermeintlich souveränen Rede, des allwissenden und vernünftigen Erzählers gibt, verläuft bekanntlich eine Linie der unsouveränen Rede durch die Literatur: des wahnsinnigen, unzuverlässigen Erzählers, des Erzählens aus dem Traum, der Hypnose, dem Koma und Schlaf, dem Tod. Exorbitante Zustände – sie fallen in den Bereich der literarischen Fantastik, und das Extrem des fantastischen Erzählers ist wohl jener aus dem Jenseits. Der Wiedergänger, der untote Botschafter, der Totenchor oder die Gespenster, bemerkenswert oft sind sie es, die sich in der Literatur um die Jahrhundertwende verhalten – als diejenigen, die Geschichte, Geschichten erzählen, denen die narratio unterliegt oder die sich in selbige einschalten. Der Einbruch der Toten ins Diesseits um die Jahrtausendwende ist die Fortführung eines Phänomens, das sich bereits an den Jahrhundertwenden zuvor konstatieren lässt: Die Wissenschaftsfiktionen und der 'Einbruch der Endlichkeit' [Foucault] um 1800 bringen die Signale aus dem Jenseits ebenso auf das (literarische) Tapet wie die neue Psychologie und die allumfassende

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Vgl. zusammenfassend und auf die gespenstische Rede bezogen: Monika Schmitz-Emans, "Gespenstische Rede", in: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, hg. v. Moritz Baßler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2005, S. 229-251, insbes. S. 230f. Vgl. auch Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a.M. 2002, S. 7; Lachmann begreift die fantastische Literatur als Verschärfung kulturologischer und anthropologischer Pointen, da sie offensiv mit "Projekten des Unerwarteten und Spekulativen" operiert. 228

VIRTUELLE BEGEGNUNGEN

Kontingenzerfahrung um 1900.3 Kalendarische Übertritte provozieren die gesteigerte Diskursivierung von Denkfiguren der Endlichkeit und des Wandels – nicht zuletzt deshalb treten an den Jahrhundertwenden gerade jene Konfigurationen zutage, in denen sich die Moderne genealogisch situiert.4 Die literarische Rede aus dem Jenseits um die Jahrtausendwende nun scheint für aktuell virulente Diskurszusammenhänge zu stehen, für eine Skepsis an der Rede selbst, auf deren Unzuverlässigkeit durch die krisenhafte Gespensterrede verwiesen wird. Ausgangspunkte scheinen Fragen nach dem Status und dem Vermögen der Sprache, denn: Wer oder was ist es, das spricht? Wie zunächst zu bemerken ist (und im Folgenden zu betrachten sein wird), handelt es sich um eine Sprache, die sich der kommunikativen Form, dem Dialog, entzieht. Sie verhält sich neutral gegenüber Rückfragen und Wahrheitsansprüchen, sie kann nicht falsifiziert oder verifiziert werden. Während sie im Jetzt erzählt wird und an uns adressiert ist, ist sie ihrerseits ortlos in ihrer Jenseitssituation, entzieht sich einer eigenen Adressierung. Die Stimme, die die Totenstille durchbricht, ist ein ortloses Ereignis. Um dieses Ereignis und das unvernünftige Erzählen von der 'anderen Seite' aus der 'anderen Welt' – die aber doch nirgendwo anders ist als hier und jetzt – kreisen die nachfolgenden Lektüren, welche die Merkmale eines Schreibverfahrens beleuchten sollen, das sich als 'phantomisches Erzählen' bezeichnen lässt. Ich werde versuchen zu skizzieren, welche Totenstimme sich um 2000 ereignet – der Frage nach einer Möglichkeit des Denkens des Todes antwortend: In der Literatur allemal.5

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Vgl. Katrin Schumacher, Femme fantôme. Poetologien und Szenen der Wiedergängerin um 1800/1900, Tübingen 2007. Vittoria Borsò/Björn Goldammer, "Einleitung", in: Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, hg. v. dens., Baden Baden 2000, S. 11-22; hier S. 13. Zur Verbindung von Endlichkeitsvorstellungen und ästhetischen Spiegelungen vgl. Günther Blamberger, "Der Tod nach dem Tode Gottes. Über die Lust am Spiel mit der Tradition thanatologischer Phantasmen in der Literatur der Jahrhundertwende", in: Das Imaginäre des Fin de siècle, hg v. Christine Lubkoll, Freiburg i.Br. 2002, S. 299-312. "Wenn der Tod weder vorher noch während, noch danach denkbar ist, wann ist er dann denkbar?" Vladimir Jankélévitch, Der Tod, übers. v. Brigitta Restorff, Frankfurt a.M. 2005, S. 53. 229

SCHREIBVERFAHREN DER JAHRTAUSENDWENDE

Fernwärme: Maria Rybakovas Die Reise der Anna Grom Vierzig Tage, so sagt eine russische Weise, bleiben die Gestorbenen in einem Zwischenreich, bevor sie aus dem Fluss Lethe trinken, dem Vergessen anheim fallen, schließendlich eingehen in das Totenreich. Die Ich-Erzählerin in Maria Rybakovas Briefroman Die Reise der Anna Grom erzählt aus eben diesem terminierten Zwischenreich, genauer: sie schreibt täglich einen Brief an ihren Geliebten, der glaubt, sie sei nach Amerika abgereist. Doch die junge Russin, die zum Studieren nach Berlin gekommen war, hat den letalen Ausweg gesucht vor der unwirtlichen Großstadt, vor Geldsorgen und unerwiderter Liebe, sie hat sich erhängt. Der Empfänger ihrer 38 Briefe, sie beginnen erst am dritten Tag nach ihren Tod, ist der Kommilitone Ulrich Wilamowitz,6 der wie sie Altphilologie studiert. Wäre mir die Fähigkeit zur Freude geblieben, hätte ich mich darüber gefreut, daß ich mich in diesem meinem neuen Zustand an Dich erinnern und Dir Briefe schreiben kann, die Du lesen wirst – wenn Du es kannst, denn das Geisterpapier wird Dir zwischen den Fingern zerfallen wie eine alte Handschrift.7

Ob diese Briefe ihren Adressaten erreichen, bleibt offen. Keine Herausgeberfiktion rahmt die Beichte aus dem Jenseits. Dass Anna überhaupt schreiben kann, begründet sie mit einer für sie als Tote sicht- und begehbaren Geisterarchitektur, Häusern, Wohnungen, Büros, die einmal in Berlin standen und längst zerfallen, zerbombt oder abgetragen sind; ebenso schimärisch wie das Tintenfass, die Feder, mit der sie auf diesem 'Geisterpapier' schreibt. Nach vierzig Tagen entschwindet die Absenderin, ihren Gang in das Totenreich durch Lethens Wasser reflektierend, "süß und tief wie die Nacht".8 Annas Medium ist nicht das der Dämmerstunde, die sie als optische Erscheinung – in der Tradition des Gespenstes – sichtbar werden lassen

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Nur erwähnt: Hier handelt es sich um eine Referenz an den deutschen Altphilologen und Nietzsche-Gegner Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der ab 1897 in Berlin lehrte. Maria Rybakova, Die Reise der Anna Grom, übers. v. Dorothea Trottenberg, Berlin 2001, S. 9. Der russische Originaltitel Anna Grom i ee prizrak heißt korrekt übersetzt "Anna Grom und ihre Erscheinung"; die englische Übersetzung trägt so auch den Titel Anna Grom and her Ghost. Viel deutlicher wird hier die Tradition des fantastischen Schreibens, in die der Roman sich stellt. Rybakova, Die Reise der Anna Grom, S. 252. 230

VIRTUELLE BEGEGNUNGEN

könnte. Die Rede der Erzählerin ist vielmehr determiniert durch ein spezielles Medium, das nicht erst seit Kafka unter dem Verdacht der Trägheit, der Nachträglichkeit und der Attackierbarkeit steht: dem adressierten Brief. Der Brief ist zwar die "leichte Möglichkeit" der Kommunikation, bestenfalls Wärme aus der Ferne von Absender zu Empfänger, nur ist der Schriftverkehr auch "ein Verkehr mit Gespenstern und zwar [sic] nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt […]."9 Die gespenstische Erzählerin (und nicht das Gespenst einer Erzählerin) nimmt Kafka beim Wort und rechnet in ihren Briefen Episoden aus der Moskauer Kindheit, ihren Umzug nach Berlin, ihr Treiben in der Großstadt auf, beschreibt schließlich einen Punkt, der jedweden biografischen Denkens enthoben scheint: ihren endgültigen Tod. Das Medium des Briefes ist hier auch narratologisch distinktiv: Für die Zuverlässigkeit der Erzählerin gibt es kein Korrektiv, wir müssen ihr glauben, und damit einer Rede aus einem Zustand heraus, der unzweifelhaft ein anthropologisches Enigma ist. Anna Grom wird zu Anagramm, dem Rätsel um versetze Buchstaben, die jene undenkbare Grenze passieren in die 'falsche' Richtung, nämlich vom Jenseits in unser Diesseits. Ihre Briefe sind das Resultat einer massiven Grenzauflösung, denn ihre Rede setzt das vermeintliche Wissen über Leben und Tod außer Kraft. Und doch bewegt sie sich in einem bestimmten Regelwerk, denn ihre Durchdringung von Jenseits und Diesseits geschieht nicht willkürlich. Anna Grom steht in einer Tradition der femme fantôme, der toten Frau, die wiederkehrt, und sieht sich in historisch-ästhetischen Verbindlichkeiten:10 als Motiv der Fantastik, als Auffüllung einer symbolische Leerstelle, und als Gespenst, das seit jeher der Einflüsterung verschrieben ist.11 Letzteres wird anhand des Adressaten der Briefe deutlich: Wilamowitz, verschmähender Liebhaber und Schuldiger an Annas Entschluss zu sterben soll erfahren, wie es um Anna stand und steht, "Du sollst wissen, daß es mich gegeben hat und wie ich war und warum es mich jetzt nicht mehr gibt."12 Der Modus der Rede durch das gespenstische Schreiben erlaubt doppelte Eindringlichkeit; zum einen den exklusiven Adressaten, als der Wilamowitz ausgewiesen wird, zum anderen die

Franz Kafka, "Brief an Milena Jesenská, Prag, Ende März 1922", in: Briefe an Milena, hg. v. Jürgen Born/Michael Müller, Frankfurt a.M. 122002, S. 302. 10 Ausführlich zu diesem Thema vgl. Schumacher, Femme fantôme. 11 Gespenst stammt vom althochdeutschen Femininum kispanst, gleich 'Eingebung'. Zu Etymologie und Theorie vgl. Schmitz-Emans, "Gespenstische Rede", S. 229f. 12 Rybakova, Die Reise der Anna Grom, S. 8. 9

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SCHREIBVERFAHREN DER JAHRTAUSENDWENDE

unerhörte Aufmerksamkeit, die der Lebende der Rede der Toten gegenüber erbringt. Denn der Tote weiß immer mehr als der Lebende. Der Roman der Literaturwissenschaftlerin Rybakova lässt sich unter Umständen als ein später jener ausgemachten 'Berlin-Romane' lesen,13 sicher aber als Psychogramm einer Großstadt, dem das dissoziierte (und hier doch außerordentlich entzweite) Subjet entspricht. Die "[s]tädtische und seelische Topographie", die hier "ineinander über geht" stellt sich allerdings als Gespenstertopographie dar;14 ihre Merkmale sind an die Merkmale der gespenstischen Rede gebunden, welche die Vielschichtigkeit des Subjektes und seine offenen und geheimen Zustände darstellt und die Uneindeutigkeit der Welt und ihrer Sprache metonymisiert. Die Protagonistin des Romans leidet zu Lebzeiten unter gestörter Kommunikation: als Russin mit wenig Deutschkenntnissen, mit wenig sozialem Wissen. Diese Störung kulminiert im schriftlichen Monolog aus dem Jenseits, in unerhörter Einsamkeit. Die Reise der Anna Grom beschreibt eine Möglichkeit der Signale aus dem Jenseits: den Monolog der Einzelnen. Die Differenz, die einen Dialog ausmachen würde ist hier nicht gegeben, ebenso wie sie in einer anderen Form der Rede wesensgemäß fehlt: im Chor.

Totenchöre: Cees Nootebooms Allerseelen und Stewart O'Nans The night country Wir. Der Chor der Toten, der zwar beobachten, kommentieren, aber nicht in Kontakt treten kann – er spielt in einigen Erzählungen und Romanen um 2000 eine Rolle. Chorisches Sprechen ist Sprechen im Konsens, ist keine konfliktuöse sondern additive Rede.15 Ebenso wie der Monolog steht der Chor für das Aufbrechen einer dialogischen Geschlossenheit – und sein Bemühen für die Stimme aus dem Jenseits in der Literatur wird adäquat in dem Moment, wo auch der Tod jeden Dialog unterbindet. Hier sollen zwei Beispiele genügen um Status und Funktion des Totenchores zu beleuchten. 13 Überzeugende Vorbehalte gegen das Etikett des 'Berlin-Romans' formuliert Elke Brüns: "Dunkelkammer und Schwarzes Loch. Die Suche nach dem Berlin-Roman", in: Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, hg. v. Corinna Caduff/Ulrike Vedder, München 2005, S. 141-149. 14 Hania Siebenpfeiffer: "Topographien des Seelischen. Berlinromane der neunziger Jahre", in: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht, hg. v. Matthias Harder, Würzburg 2001, S. 85-104, hier S. 104. 15 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 22001, S. 233. 232

VIRTUELLE BEGEGNUNGEN

Zunächst: Cees Nootebooms Roman Allerzielen, erschienen 1998, schickt den Protagonisten Arthur Daane durch Berlin in seiner schon lang währenden Trauer um die vor zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz verlorene Frau, das verlorene Kind. Daane diskutiert mit Freunden über Berliner Zustände und philosophische Fragen, die Handlung kommt in Gang als er die junge Studentin Elik trifft und sich in die schwierige Person verliebt. Der Chor der Toten schaltet sich neunmal in die Erzählung ein, markiert durch Kapitelabsätze und jeweils drei Sterne vor und nach jenem Absatz. Als Kollektiv schauen 'Sie' nicht nur metaphorisch von oben auf die Welt: "En wij, die vanuit onze lichterwereld naar het vreemde van hun wereld kijken, wat zien we? – Und wir, die wir von unserer Lichterwelt aus auf das Merkwürdige ihrer Welt blicken, was sehen wir?"16 Sie sehen den Protagonisten, der da er trauert, feiert und sich verliebt, sehen auf die Stadt Berlin, auf die Vergangenheit und auch auf den Leser. Das Kollektiv bespricht lakonisch seine eigene Rolle und Nutzlosigkeit – sowohl im Generellen als auch im vorliegenden Roman. "Wijzelf spinnen niets, maar wij zien het web […]. – Wir selbst spinnen nichts, aber wir sehen das Gespinst[…]".17 Dabei identifiziert es sich nie selbst als Totenchor, sondern bleibt allwissendes "Wir". Doch schlägt es an einer Stelle vor: [J]e kunt ons werkelijk elke naam geven, h e r s e n s c h i m is ook goed, het klopt en het klopt toch niet. […] Jullie hoeven niets van ons aan te trekken, we zijn er altijd met die last, maar jullie hebben alleen maar nu met ons te maken, bij dit segment, bij deze geschiedenis, die trouwens nog maar pas twee dagen oud is. Alleen maar nu, nu jullie ons horen of lezen, daarbuiten bestaan we voor jullie niet, behalve als mogelijkheid. [I]hr könnt uns wirklich jeden Namen geben, H i r n g e s p i n s t ist auch in Ordnung, es stimmt, und es stimmt nicht. […] Ihr braucht euch nicht um uns zu kümmern, wir sind immer da mit dieser Last, ihr aber habt nur jetzt etwas mit uns zu tun, in diesem Abschnitt, in dieser Geschichte, die im übrigen erst zwei Tage alt ist. Nur jetzt, da ihr uns hört oder lest, darüber hinaus existieren wir für euch nicht, es sei denn als Möglichkeit.18 (Hervorhebung durch Vf.)

Das niederländische 'hersen' bedeutet Hirn, 'schim' soviel wie Schatten, aber auch Geist eines Verstorbenen. In der Übersetzung heißt es noch 16 Cees Nooteboom, Allerzielen, Amsterdam/Antwerpen 1998, S. 117; Allerseelen, übers. v. Helga van Beuningen, Frankfurt a. M. 1999, S. 113. 17 Nooteboom, Allerzielen, S. 331 – Allerseelen, S. 313. 18 Nooteboom, Allerzielen, S. 186f. – Allerseelen, S. 177. 233

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deutlicher: Hirngespinst, das Gespenst, das dem Gehirn (nicht nur der Vernunft, nicht nur dem Gefühl, sondern wirklich allen Affekten) entweicht, und sich als Möglichkeit jederzeit einmischen kann – in Nootebooms Allerzielen wird es zum zentralen Thema. Das Hirngespinst der Erinnerung und der Widerstand gegen ein Verlieren der Vergangenheit läuft in der Geschichte um Arthur Daane als permanenter Subtext mit: in seiner Person und seinen Handlungen. Denn der Dokumentarfilmer versucht mit den ihm zur Verfügung stehenden Aufzeichnungsmitteln, Kamera und Film, eine Brücke zu schlagen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, beobachtet vom Totenchor, der um die Aporie eines solchen Konservierens aus eigener Erfahrung weiß und berichtet. "En wij? Ach wij…– Und wir? Ach Wir…"19, mit dieser Sequenz endet der Roman. Allerzielen führt ein System vor, in dem die Toten als kollektive Beobachtungs- und Erinnerungsinstanz das Bemühen des Einzelnen kontestieren, sie treten als Zeugen der Vergeblichkeit der Erinnerung auf, denn auch wenn die Toten immer mehr wissen als die Lebenden, so gereicht es ihnen zu keiner attraktiven An- und Einsicht. Eine Position, die der Chor selbst übrigens permanent reflektiert, indem er sich als 'Störung' begreift, sich entschuldigt für sein Auftauchen. Und als Leser dürfen wir ganz nebenbei bemerken: die Geschichte passiert tatsächlich "anderswo" – da, wo sich der Protagonist verliebt, der Liebe hinterher reist, Orte und Erfahrungen sammelt, die unter der Maxime 'Zukunft' stehen. Während Maria Rybakova ihren Briefroman mit der Legende der vierzig Tage Aufenthalt der gerade erst Gestorbenen im Zwischenreich ermöglicht, Nooteboom das Totengedenken am 2. November, den Allerseelen-Tag in den Titel seines Romans nimmt, ist es bei der Gespenstergeschichte des Amerikaners Stewart O'Nan die Nacht auf Allerheiligen, das Halloween-Fest, das die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits durchlässig macht. Mit seiner Motivation der Gespensterrede trägt er sich ein in die Tradition der Rachegespenster, deren Wiedergängerei vorkommt, "wenn der Übergangsritus zwischen Leben und Tod nicht vollständig vollzogen wurde, wenn es für die Lebenden unmöglich [wird], die Toten zu vergessen."20 Beide Ursachen spielen in The night country eine Rolle: der nicht komplettierte Übergangsritus ebenso wie das durchkreuzte Vergessen der Toten. Fünf Teenager aus dem verschlafenen Avon, Connecticut, sind verwickelt in einen Verkehrsunfall. Marco, Toe und Danielle sterben. Kyle überlebt schwer behindert, Tim geht als einziger unbeschadet aus dem 19 Nooteboom, Allerzielen, S. 399 – Allerseelen, S. 377. 20 Jean-Claude Schmitt, Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im Mittelalter, Stuttgart 1995, S. 18. 234

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Horror der Halloween-Nacht hervor. Die folgende Geschichte einer zwanghaften Wiederholung der Schreckensnacht, die an Rasanz kaum zu überbieten ist, wird erzählt von dem Toten Marco, in dessen Rede sich immer wieder auch die anderen beiden Umgekommenen einmischen. Lockend, verlockend eröffnen die Toten die Erzählung: Come, do you hear it? […] Don’t you ever wonder? Don’t you want to know? […] So come, friends, strangers, lovers, neighbours. Come out of your den with the big-screen TV, come out of your warm house and into the cool night. Smell the wet leaves crushed to mush on the driveway, a stale mix of dust and coriander in the wind. It’s the best time of the year up here, the only season you want from us, our pastoral past – […].21

Der Totenchor, in Nootebooms Roman noch anonymes "Wir", hat bei O'Nan drei definierte Namen und Sprecher, doch auch sie verstehen sich als das "Wir" der Totengemeinschaft. Sie beobachten die Bewohner der Kleinstadt, allen voran ihre zwei überlebenden Gefährten und den Polizisten Brooks, der den tödlichen Unfall verschuldet hat. Sie warten auf die Wiederholung der Geschehnisse zu Halloween, genau ein Jahr später, denn neben der Erinnerung ist es die Wiederholung, die als zentrales Moment die Geschichte determiniert. Die Funktion des Chores in O'Nans Roman bleibt, wie in der Antike, das Resümieren, Kommentieren, Abstrahieren. Das Geschick scheint den toten Beobachtern zwar offen zu liegen, doch alle Anstrengungen es zu lenken (und die werden unternommen) sind zwecklos. Die Supervision des Chores erlaubt die Position des allwissenden Erzählers, doch kein Eingreifen in die Geschehnisse; es liest sich als unheimliches Bild dessen, was Jacques Derrida über das Gespenst schreibt: "Dieses Ding betrachtet indes uns und sieht uns, wie wir es nicht sehen, selbst wenn es da ist."22 Monolog und Chor sind zwei prominente Weisen phantomischen Erzählens: Hier wie dort ist die dialogische Rede ausgesetzt, bleiben

21 Stewart O’Nan, The night country, New York 2003, S. 3f. 22 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 1995, S. 22. Das Gespenst, der Geist, der Wiedergänger – bei Derrida steht die Stimme aus dem Jenseits im Plural: "Und man muß mit ihnen rechnen. Man kann nicht nicht mit ihnen rechnen müssen, man darf nicht nicht mit ihnen rechnen können, die sie mehr als einer sind: das mehr als Eine." Ebd., S. 14. 235

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Lebende und Tote auf den ihnen zugewiesenen Seiten ohne das fantastische Moment des Kontaktes. Sprechen die Toten, so haben sie entweder den ganzen Text oder besetzen markierte Partien, mischen sich nicht mit dem Text der Lebenden. Doch was passiert, wenn die Toten in Dialog treten? Ein narratives Experiment? Ein typografisches.

Letaltypografien: Sibylle Lewitscharoffs Consummatus Orpheus heißt Ralph Zimmermann, ist ein Mittfünfziger, Lehrer in Stuttgart und ehemals der Liebhaber der Undergroundschönheit Joey, die ihm geradezu aus Andy Warhols Factory zufiel. Consummatus, 2005 erschienen, führt durch eine vergangene Liebesgeschichte, die einen mörderischen Ausgang hatte, erzählt von jenem Zimmermann, der an einem Apriltag in einem Café sitzt und Wodka trinkt. Die Sehnsucht nach seiner toten Geliebten bzw. das darin begründete Zechen hat ihm bereits ein Nahtoderlebnis beschert, seit jenem Abstecher ins Totenreich steht Zimmermann in Kontakt mit den Toten. Bewohne nur noch bescheidene Teile meiner selbst. Die anderen habe ich großzügig den Toten überlassen. Vergebens, sich gegen die Toten wehren zu wollen, wenn sie einen umzingeln. […] Jawohl, ich bin aus dem Jenseits zurückgekehrt, aber als was? und vor allem: wofür?23

In dem Café tummeln sich neben Zimmermanns Eltern und seiner Joey noch Andy Warhol, Jim Morisson, Edie Sedgwick; Popstars und die nächsten Verwandten, die Toten also, von denen am ehesten ein nachhaltiges Echo bleibt nach dem Ableben. Zimmermann kann sie sehen und hören, zu lesen ist von ihnen in blassgrauer Type, deutlich vom restlichen schwarzen Druck abgesetzt. Die Stimmen der Toten sind so zwar im Text, stechen aber trotzdem daraus hervor, verschwimmen mit Zimmermanns erster Person Singular, wenn er zwischen den Gespensterkommentaren "[e]inen Wodka bitte" bestellt, "[a]ber kalt!"24 Offensichtlich ist Zimmermann ausgesucht, als Mittler zwischen Toten und Lebenden zu fungieren, doch er sitzt vor seinem Schnaps "wie ein ausgewrungener Lappen, untauglich als Bote zwischen den Reichen."25 Weder kann sich der Lebende von den Toten noch die Totenrede vom Erzählertext emanzipieren, die 'Reiche' bleiben verfugt bis zum Ende des Romans. Seltsam ambig, zwischen 'unrein' und 'angereichert' geben sich Druck, Form und 23 Sibylle Lewitscharoff, Consummatus, München 2006, S. 14, 16. 24 Lewitscharoff, Consummatus, S. 50. 25 Ebd. 236

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Inhalt. Letzterer lässt sich als Bestandsaufnahme eines Traumas lesen – die kurze bemerkenswerte Zeit im Leben des Gymnasiallehrers, die sich festgesetzt hat und permanente Wiederholungen hervorbringt, Krisen, die in der Einschaltung längst Verstorbener in den gegenwärtigen Text bestehen. Phantomisches Erzählen ist krisenhaftes Erzählen – zumindest wenn es um die genuin fantastische Variante des gespenstischen Diskurses geht, die in den bisherigen Lektüren zu beobachten war. Solch genuin fantastische Erzählungen fordern eine Erzählweise, in der das fantastische Phänomen (die Rede aus dem Jenseits) in keine nicht-fantastische Erklärungsstruktur (etwa Traum oder Wahn) verwickelt wird, sondern faktisch-fantastisch bleibt. Der fantastische Text bietet das komplette Spektakel der Grenzüberschreitung – und wirkt nicht zuletzt als Beunruhigung einer Ordnung, deren Fundament kein arkanes oder übernatürliches sondern das allgemein konsentierte Wissen ist. Eine letzter Gedanke soll nun zur 'domestizierten' Totenrede führen, jener, die leise, fast unhörbar mitschwingt, wenn es um Recht, Gerechtigkeit, Gewissen, um den unnatürlichen Tod geht, der traditionell Schwingungen erzeugt, die vom Jenseits ins Diesseits tönen.

Tödliche Entwicklungen: Thomas Hettches Der Fall Arbogast und Wolf Haas’ Das ewige Leben Unnatürliche Tode sind skandalöse Angelegenheiten: für den Toten selbst, dessen Übergangsritus misslungen ist genauso wie für die lebenden Zeugen dieses Misslingens. Neben den insepulti (Unbegrabenen) und den indeplorati (Unbeweinten) sind es vor allem die immaturata (vorzeitigen Toten), die als die 'gefährlichen' Toten unter Verdacht stehen, ihre Unruhe den Zurückgebliebenen mitteilen zu wollen.26 Gerade Ermordete beschäftigen sowohl in ihrer fantastischen auch in ihrer nichtfantastischen Variante eine ganze Literaturgattung: die des Krimis. Es gehört zum Wesen des klassischen Kriminalromans, dass "sich die Erzählung an die Reihenfolge der Entdeckungen" hält, dass also die Chronologie mit einem Ereignis beginnt, um dann mit der Rekapitulation der Umstände (bestenfalls der Kapitulation des Mörders) zu enden.27 Im

26 Vgl. Claude Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter, Köln/Wien 1987, S. 20. 27 Roger Caillois, "Der Kriminalroman, oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden [1944]", in: Der Kriminalroman. Poetik, 237

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Krimi informiert so der Tote über den Lebenden, seine Nachrichten aus dem Jenseits lenken die Geschicke im Diesseits (die Wege, die Kommunikation, die Bekanntschaften der Protagonisten, die Überführung des Täters) – so wie es die Leiche der Marie Gurth in Thomas Hettches 2001 erschienenem Roman Der Fall Arbogast macht. In Hettches nach einem aktenkundigen Fall aus den Fünfzigern erzählten Krimimalstück kommt die junge Marie zu Tode während des sexuellen Aktes mit dem Kneipier Hans Arbogast. War es Vergewaltigung, Mord oder war es ein Unfall? Dass Arbogast versucht, die Leiche verschwinden zu lassen, spricht nicht für ihn. Er gerät in die juristische, journalistische und medizinisch-pathologische Maschinerie, die ihn für über 14 Jahre ins Gefängnis bringt. Dabei ist es Maries Leiche in der Pathologie, sind es die Fotos der Toten, die jahrelang Anklage und Entlastung steuern, schließlich den Freispruch organisieren, doch vor allem die Tote für die Gerichtsmedizin ebenso wie für den Leser sukzessive wieder auferstehen lassen. Neben den medizinischen Berichten ist es zusätzlich der Bewusstseinsbericht des Protagonisten, der die Tote revenieren lässt, "[s]o, als wäre Marie durch den Moment ihres Todes ihm übergeben."28 Es wird Herbst, dachte Arbogast und lehnte die Wange an die kalte Mauer unterhalb des Fensters. Wie jedes Jahr um diese Zeit roch es nach ihr. Roch stärker noch nach ihr, als es sonst nach ihr roch. […] Das war es doch, was sich nicht erzählen ließ: Überall war Marie! Seit jenem Moment, als er ihren reglosen Kopf in der Hand gehalten hatte, war sie immer da. […] Keine Berührung in all den Jahren, die nicht ihre Berührung gewesen wäre. […] Er erkannte ihre Stimme sofort. Ein Flüstern war es zunächst, dann ein leises Singen, das er fast schon verstand. Er wußte sowieso, was sie sang, und lächelnd erwartete er die Worte ganz nah an seinem Ohr. Wie schon einmal du mich fandest, komm doch wieder her und hole mich.29

Der Roman verknüpft zwei Möglichkeiten der Totenstimme jenseits des fantastischen Diskurses, indem er die wissenschaftliche Annäherung der Toten durch die medizinische Pathologie mit der körperlichen Erinnerung des Protagonisten gegenschneidet. Mit dem Bild Marie Gurths im Brombeergestrüpp endet der Roman, endet das Spiel mit dem Jenseitsstimmchen, das uns Der Fall Arbogast vorführt.

Theorie, Geschichte, hg. v. Jochen Vogt, München 1998, S. 157-189; hier S. 158. 28 Thomas Hettche, Der Fall Arbogast, Köln 22003, S. 70. 29 Hettche, Der Fall Arbogast, S. 171, 219. 238

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Eine ganz andere Annäherung an einen Erzähler aus dem Jenseits vollzieht Das ewige Leben, der sechste jener Kriminalromane über den Kommissar, Rettungsfahrer, Privatdetektiv Simon Brenner, den der österreichische Autor Wolf Haas 2003 vorgelegt hat. Die Geschichte, mit der Haas seine Hexalogie über Brenner beendet, beginnt mit dem Erwachen des Protagonisten aus dem Koma und führt in Hochgeschwindigkeit über mehrere Morde, Eröffnungen und Katharsiszustände. Der Text drängt voran im typischen Haas-Modus der scheinbar vergessenen Verben und syntaktischen Verknappungen – und bleibt plötzlich stehen: […] und das schießt so schnell aus der hochgerissenen Hand vom ding, vom vom vom, dass ich, und ich höre noch ding wie wie wie ding und ding und riesenrotes Loch und ganz gewaltig ding und ich ding und ich ding ding ich ding ding ding ding ding ding […]30

Der Text verharrt in einem Status der nackten Wiederholung, kein Voranschreiten im inhaltlichen Sinne ist mehr möglich, allein der umgangssprachliche Stellvertreter für die vergessene Bezeichnung, das Entfallene wiederholt sich ohne Schlusspunkt. Was ist passiert? In seinem Tod fällt der bis dahin mysteriöse Erzähler der sechs Brenner Krimis dem Leser schließlich zu, weil er erschossen wird. In dem Moment, in dem er getötet wird, gibt er seine Identität preis und verstummt. Mit diesem Kunstgriff, in eben jener Beantwortung der Frage "wer spricht?" zu verstummen, endet die Brenner-Serie. Identität und Erzählen schließen sich aus. Das ewige Leben endet mit einer Grenzziehung um das Leben. Kokettierend mit der Endlichkeit des Seins (auch das des Erzählers) werfen die letzten beiden Seiten nur einen sekundenlangen Blick hinüber auf das "ding", das Jenseits, und vergeheimnissen wieder, was jenseits der Mimesis liegt.

30 Wolf Haas, Das ewige Leben, Hamburg 2003; hier zitiert nach der Neuausgabe Hamburg 2006, S. 204. 239

V I R T U E L L E B E G E G N U N G E N I M B E R L I N -R O M A N 1998-2001 ELKE GILSON

I. In einem Essay aus dem Jahre 2003, einer Liebeserklärung an ihren Geburtsort, schreibt die Berliner Autorin Monika Maron über die Stadt, in der alle ihre Romane spielen: "Berlin [...] ist von mir bevölkert. In Berlin könnte ich mich, wenn ich es darauf anlegte, hundertmal am Tag treffen, in jedem Alter, glücklich oder heulend, allein, in Gesellschaft, verliebt, verlassen, überall hocke ich und warte darauf, daß ich vorbeikomme."1 Beschreibungen von virtuellen Begegnungen mit anthropomorphisierten, "hinausprojizierten" Erinnerungen oder Traumbildern schieben sich in der Berlin-Prosa der Jahrtausendwende auffällig häufig vor realistischere Wahrnehmungsweisen der neuen Hauptstadt. An vier exemplarischen fiktionalen Texten, die von Autoren unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation verfasst wurden, möchte dieser Aufsatz das gemeinsame Phänomen der virtuellen Begegnung in der Stadtlandschaft erörtern. Die Selbstbegegnungen, Spiegelungen, optischen und akustischen Illusionen in Klaus Schlesingers Trug (2000)2, Inka Pareis Die Schattenboxerin (1998)3, Norman Ohlers Mitte (2001)4 und Sibylle Lewitscharoffs Pong (1998)5 werden dabei als Symptome einer grundsätzlichen Problematisierung der Bedingungen der Wahrnehmung an der Wende zum neuen Jahrtausend aufgefasst. Die zu beschreibenden Konfrontationen stellen immer wieder in Frage, ob es überhaupt möglich ist, im Prozess der Wahrnehmung die Abgrenzung zwischen 'Input' und 'Output' aufrechtzuerhalten. Zuerst sollen die möglichen Spielarten der virtuellen Selbst- und Fremdbegegnung skizziert werden. Mag das Phänomen auch im Ansatz 1 2 3 4 5

Monika Maron, Geburtsort Berlin, Frankfurt a.M. 2003, S. 55. Klaus Schlesinger, Trug, Berlin 2000. (Fortan unter Sigle T zitiert.) Inka Parei, Die Schattenboxerin, Frankfurt a.M. 1999. (Fortan unter Sigle SB.) Norman Ohler, Mitte, Berlin 2001. (Fortan unter Sigle M.) Sibylle Lewitscharoff, Pong, Berlin 1998. (Fortan unter Sigle P.) 241

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jeweils anders motiviert sein, was seine Gestaltung anbetrifft, fällt auf, dass die Romane sich alle, in deutlicher Anspielung auf E.T.A. Hoffmann, besonders des Motivschatzes, der Denkfiguren und Schreibverfahren der Romantik bedienen. Durch die Herangehensweise werden die Texte zum Teil in einen Interpretationszusammenhang gerückt, der von ihrem konventionellen Lesekontext etwas abweicht, da der Entstehungszeit der Texte für die Zusammensetzung mehr Bedeutung beigemessen wird als der geläufigen diskursiven Einbettung der Autoren (z.B. als "DDR-Autor" vs. "Fräuleinwunder"). Gegen Ende dieses Beitrags wird nach Gründen für das Auftreten der dargelegten epistemologischen Verwirrung in der Metropole Berlin an der Schwelle zum neuen Jahrtausend sowie nach den Schlüssen, welche die Autoren in ihren narrativen Konstruktionen daraus ziehen, zu fragen sein. Mit einer Akzentverschiebung wird hier eine Perspektive auf die neueste Berlinliteratur fortgeführt, die von Hania Siebenpfeiffer vorgeschlagen und von Dörte Bischoff weiterentwickelt wurde. Als literarisches Sujet wird die neue deutsche Hauptstadt von Siebenpfeiffer als "Experimentierfeld und Projektionsfläche für Fragen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft"6 bezeichnet. Bischoff sieht sie als geradezu "paradigmatischen Ort des beginnenden 21. Jahrhunderts".7 In ihren Überlegungen zur "Berlinliteratur der 90er" betont Siebenpfeiffer, dass die literarische Topographie des Städtischen bei aller Heterogenität in der Landschaftsdarstellung immer wieder als "Topographie des Seelischen"8, bzw. "Topographie der Erinnerung"9 oder auch Topographie des "Anthropomorphen"10 erscheint, in der die Trennung zwischen Ich und Stadt aufgehoben werde und die beiden "als wechselseitige Spiegelbilder 'ineinanderüberfließen'".11 Bischoffs Fazit zielt in dieselbe Richtung, wenn sie hervorhebt, dass in den von ihr betrachteten Texten die "Unterscheidung von erzählendem Subjekt und erzähltem Objekt" aufgelöst werde.12

6

Hania Siebenpfeiffer, "Topographien des Seelischen. Berlinromane der neunziger Jahre", in: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht, hg. v. Matthias Harder, Würzburg 2001, S. 85-104, hier S. 86. 7 Dörte Bischoff, "Berlin Cuts: Stadt und Körper in Romanen von Nooteboom, Parei und Hettche", in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, 4 (2005), S. 111-142, hier S. 138. 8 Siebenpfeiffer, "Topographien des Seelischen", S. 88. 9 Ebd., S. 100. 10 Ebd., S. 87. 11 Ebd., S. 88. Weiter auf derselben Seite redet Siebenpfeiffer von der "wechselseitige[n] Symbolisierung von Ich und Stadt". 12 Bischoff, "Berlin Cuts", S. 138. (s. Anm. 7) 242

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II. Die Geschichte von Klaus Schlesingers novellistischem Roman Trug (2000) spielt zwar Mitte der achtziger Jahre, sie kann aber eindeutig als Reflexion auf die Ereignisse der Wende gelesen werden. Ein Düsseldorfer Geschäftsreisender namens Strehlow, den es durch eine banale Betriebsstörung der U-Bahn in den Osten Berlins verschlägt, hat kaum das Land betreten, aus dem er 22 Jahre zuvor geflohen war, als er in der Fensterscheibe eines Cafés seinem lebendig gewordenen Spiegelbild gegenübersteht. Die merkwürdige Sinnestäuschung, die ihm gleich das Gefühl gibt, "eine Art Schlemihl" geworden zu sein, der "statt seines Schattens, sein Spiegelbild verloren" (T, S. 10) hat, gewinnt reale Konturen, als Strehlow das Lokal betritt und die Bekanntschaft eines der Stammkunden macht. Der Mann mit dem spöttisch-herausfordernden Blick und dem unheimlichen Namen Skolud scheint auf rätselhafte Wiese über die Vergangenheit seines verdutzten Gegenübers informiert zu sein. Von der Serviererin, die wissen möchte, ob Strehlow und der "Andere" – wie dieser im Weiteren meistens genannt wird – möglicherweise verwandt seien, wird die äußere Ähnlichkeit zwischen den beiden bestätigt (T, S. 28).13 Die charakteristischen Merkmale der unheimlich-romantischen Doppelgängerbeziehung sind damit von Beginn an gegeben. Strehlows neue Bekanntschaft sieht ein paar Jahre jünger aus und kleidet sich, wie er selber es seit seiner Jugend nicht mehr gewagt hat. Im Gespräch, zu dem der Protagonist sich nur widerwillig bewegen lässt, stellt sich heraus, dass der Andere dasselbe studiert hat, beruflich von diesem Architekturstudium jedoch nicht mehr profitiert, weil das von ihm Erwartete nicht mit seinen Prinzipien in Einklang zu bringen war. Strehlow, der im Westen zum gerissenen, vor Korruption nicht zurückschreckenden Immobilienmakler mutierte, sieht seine selbstherrliche Geschäftsarroganz von der moralischen Überlegenheit des Anderen in Frage gestellt. Nach und nach wächst die Einsicht, dass er sich im Grunde "gar nicht so sehr von seinem Gegenüber unterschied" (T, S. 42). Dass Strehlows Doppelgänger, von dem er sich an seine früheren Ideale erinnert fühlt, eine verdrängte, vielleicht sogar die bessere Hälfte seiner selbst repräsentiert, wird von dem ihm wiederholt anfallenden Gefühl einer verlorenen Ganzheit (T, S. 9) sowie von seinen Überlegungen anlässlich der Betrachtung eines Gemäldes, das die Vertreibung aus dem Paradies zeigt, nahe gelegt (T, S. 90).

13 Später wird Strehlow auch von anderen Gästen im Café mit Skolud verwechselt (T, S. 100). 243

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Die politischen Deutungen des Romans, zu denen eine Betonung der deutsch-deutschen Dimension der Beziehung zwischen dem Geflohenen und dem Dagebliebenen Anlass geben könnte14, interessieren in diesem Zusammenhang weniger als die konkrete Gestaltung der Begegnung. Im ersten Zwischenkapitel, das die vielbedeutende Überschrift "Optische Interferenzen?" trägt, lässt der Erzähler Strehlows – von einem Fetzen Musik ausgelöste – Kindheitserinnerung gekonnt in die Beschreibung seiner Wahrnehmung der Außenwelt überfließen. Momente des "erinnernden Sehens", deren suggestive Kraft von der auch später immer wieder verwendeten Formel "er sah sich" (z.B. T, S. 9, S. 131, S. 162) angedeutet wird, bereiten die Erfahrung der Autoskopie vor. Während seiner Spaziergänge im Osten überlagern Strehlows Erinnerungen seine Wahrnehmungen, "von Bilderströmen geradezu überschwemmt" (T, S. 33), "starrt" er oft auf etwas, "ohne es eigentlich zu sehen" (T, S. 73). Ob es sich bei seinen rätselhaften Erlebnissen im Osten tatsächlich um reale Geschehnisse oder doch nur um den Trug seiner Sinne, um die "kurzfristige Störung seines Wahrnehmungsvermögens" (T, S. 22), handelt, wird von Strehlow selber besonders in den Gesprächen mit dem Westberliner Freund Strack problematisiert: "Meinst du, ich leide an Halluzinationen?" (T, S. 87) Zur Unentscheidbarkeit der Lage und zur Verwirrung des Lesers trägt nicht nur bei, dass der Protagonist oft genug die Frage stellt, ob er sich "getäuscht haben" (T, S. 169) könnte, sondern auch, dass seine Begegnungen mit Skolud hin und wieder im Wachtraum, bzw. in Szenen, die eindeutig als solche gekennzeichnet werden, stattfinden. Im Kapitel "Gespräche, Meditationen" (T, S. 104) ergibt sich ein deutlich nur erträumtes Zusammentreffen nicht nur mit Skolud, sondern auch mit Ilka, der Frau, die Strehlow bei seiner Flucht im Osten zurückgelassen hat. Die ehemalige Geliebte erweist sich im Tagtraum, in dem sie schweigend neben dem Protagonisten her geht, als Produkt seiner Fantasie. Ihre Affinität mit der Hoffmannschen Olimpia wird noch größer, als er sie ein paar Stunden später von einem Fenster aus mit einem Opernglas beobachtet:

14 Deutsch-deutsche Spaltungen werden in der Nachkriegsliteratur besonders gern anhand von Doppelpaaren, im Besonderen von Brüder- und Zwillingspaaren reflektiert. In Trug wird die deutsche Teilung der Situation von getrennt aufwachsenden Zwillingen angeglichen in einem Kneipengespräch, das Strehlow überhört. (T, S. 127f.) Andere Berliner Autoren der älteren Generation haben Ähnliches gemacht, Monika Maron in der kleinen Spiegel-Kolumne "Zwei Brüder" (1995/2000), Peter Schneider besonders im letzten Teil seiner Berlin-Trilogie Eduards Heimkehr (1999), Reinhard Jirgl in Abtrünnig (2005). 244

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Strehlow [...] nahm zuerst nur einen Schatten wahr, der sich in den Räumen hinter den gardinenlosen Scheiben leicht, beinahe schwebend bewegte, doch je länger er ihn fixierte, desto klarer wurde seine Gestalt. […] [er] hielt das Glas auf den Punkt gerichtet, wo sie im Hintergrund verschwunden war […] und als sie in den Kegel einer Lampe trat, die über einem Tisch zu hängen schien, […] war sie so deutlich zu sehen und so nah, daß Strehlow glaubte, er müsse nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren […]. [E]r starrte und starrte auf diese Gestalt […]. [Er] konnte sich von dem Anblick so lange nicht losreißen, bis die Gestalt sich erhob, im Hintergrund verschwand, das Deckenlicht löschte und im Schein einer Kerze wieder zum schwebenden Schatten wurde.15 (T, S. 138-139, Hervorhebung durch Vf.)

Strehlows tatsächliche Begegnung mit seiner Jugendliebe am Tag danach wird, wie das erste Treffen mit Skolud im Anfangskapitel, von einer Musik¸ "die ihm bekannt vorkam" (T, S. 170) – und die dadurch fähig scheint, die bildhafte Kraft der Erinnerung in Gang zu setzen – vorbereitet.16 Wie Skolud zuvor, kommt später auch Ilka dem Geschäftsmann in einem kurzen Moment der Halluzination aus einem Spiegel entgegen. (T, S. 155) Neben den leitmotivisch verwendeten optischen Instrumenten werden auch andere Faktoren, die eindeutig zur Verzerrung der Wahrnehmung beitragen, vom Erzähler nachdrücklich hervorgehoben. Außer dem Alkohol und Strehlows Müdigkeit (welche u.a. seinen "meditativen Halbschlaf" (T, S. 14), seine "schweren Lider" und den "akustischen Dämmer" (T, S. 61) um ihn herum auslöst), springen vor allem, wie sollte es in einem so deutlich auf E.T.A. Hoffmann anspielenden Roman auch anders sein, die Lichtverhältnisse, die Dunkelheit der "schummrigen" Kneipe, die dämmrigen Straßen, die flackernden Kerzen und die dann wieder scharfe Beleuchtung von Menschen und Objekten im "aufflammenden Licht einer Glühbirne" in den Blick (T, S. 131; 120). 15 Auf vergleichbare Art wurde Strehlow in seinen Wahrnehmungen schon davor von seinen Erinnerungen betrogen, als er in einem einsamen Augenblick seinen Vater "greifbar wirklich vor sich" gesehen hatte. (T, S. 72.) 16 Eine ausgezeichnete Analyse der Weisen, in denen E.T.A. Hoffmann in seinen späten, in Berlin spielenden Erzählungen die Musik zugleich funktionalisiert hat als Katalysator vieler Begegnungsprozesse und als Mittel, Zweifel am Realitätsgehalt des wahrgenommenen Anderen aufkommen zu lassen, legte Myriam Pelgrims vor in ihrer Dissertation: "'Die Fantasie erscheint Hoffmann zum Troste.' Die Begegnungen in E.T.A. Hoffmanns Doppelerzählung Die Irrungen und Die Geheimnisse im Spannungsfeld zwischen Entdeckung und Erfindung." (Universität Gent, 2003). 245

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Am raffiniert vorbereiteten Romanende stellen letztendlich Strehlows beide ostdeutschen Bekanntschaften, zwei zum Leben erweckte Schatten (T, S. 136.), seine geregelte Existenz auf den Kopf. Nach leisen Indizien der gegenseitigen Anverwandlung der Kontrahenten, die u.a. darin besteht, dass Strehlow immer mehr und der Andere immer weniger trinkt, und dass der von Geschäftslogik bis dahin unbehelligte Andere plötzlich nur noch an Termine denkt, während Strehlow seine vergisst, sowie nach einigen erzähltechnisch sehr subtil angelegten Umkehrungen in den vom einen und vom anderen benutzten Abschiedsformeln (T, S. 66; 166) wird der Rollentausch der Doppelgänger komplett, als Skolud sich explizite für die "gefahrvolle Freiheit" und gegen die "ruhige Knechtschaft" entscheidet (T, S. 161), während der Düsseldorfer Geschäftsmann bei seinen Streifzügen durch die Stadt immer öfter an sein Leben als Student in Ostberlin erinnert wird. In der Nacht, in der Strehlow ein lange vermisstes Glück in den Armen seiner Jugendliebe findet, überschreitet der Andere mit dessen Pass die Grenze nach Westberlin. Das Unmögliche bekommt so eine scheinbar logische, kriminalistische Begründung, doch ein ungelöster Rest haftet der Geschichte auch am Ende noch an, da Strehlow, wie sein ganzes Leben schon, möglicherweise nur "realistisch geträumt" (T, S. 173) haben könnte.

III. Genauso programmatisch wie Trug kann auch der Titel von Inka Pareis Debütroman aufgefasst werden. Überhaupt weist Die Schattenboxerin sowohl in der Konstruktion als auch im Traditionsbezug merkwürdige Ähnlichkeiten mit Schlesingers Roman auf. Nicht so sehr physische Müdigkeit und alkoholische Betäubung als schon seelische Erschöpfung beeinflussen die Wahrnehmung der Heldin, die überwach wirkt und absurd viele Einzelheiten ihrer Umgebung registriert. Die Effekte ihres Gefühls von "Leere und Konzentration" (SB, S. 47) sind denen von Strehlows schläfrig-nebulösem Zustand durchaus vergleichbar, da die Verfassung von Pareis Heldin genauso zu wiederholten Halluzinationen, Wachträumen und Spiegelungen Anlass gibt. Auch wenn Pareis Roman weder die ideologische Dimension noch den Aspekt des Betrugs kennt, mit denen das Doppelgängermotiv bei Schlesinger verknüpft ist, so besteht doch eine auffällige Übereinstimmung darin, dass Berlin-Mitte erneut zum Ort einer Konfrontation mit einem abgespaltenen, verdrängten Teil der persönlichen Vergangenheit wird. Die wegen der Verschachtelung von mehreren Zeitebenen komplex erzählte Geschichte handelt von den langfristigen Folgen eines traumatischen Erlebnisses: Eine Frau namens "Hell", die durch eine körperliche

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Verletzung, vielleicht Vergewaltigung, aus ihrer anscheinend ruhigen Jugend in Westberlin herausgerissen wurde, lebt seit einigen Jahren illegal in einem verwahrlosten, ehemals vornehmen jüdischen Mietshaus im Osten der Stadt. Der Roman setzt mit dem Verschwinden ihrer einzigen verbliebenen Nachbarin, "Dunkel", ein: "Daß sie einfach weg ist, bringt mich aus dem Gleichgewicht." (SB, S. 10) Aus der Ich-Perspektive der Protagonistin wird danach ein, von Streifzügen durch die Stadt begleiteter, mehrtägiger Erkenntnisprozess nachgezeichnet, wobei gleich zu Beginn die Offenheit von Hells Wahrnehmung für halluzinatorische Erfahrungen ins Auge springt. Immer wieder schmelzen Erinnerungen mit wahrgenommenen Objekten zu beklemmenden Wahnbildern zusammen. Eine Pfeife verwandelt sich in ihrer Fixierung in einen "bösen Kobold", der sie anspringen will; "wie ein Flaschengeist" (SB, S. 15) formt sich aus dem Qualm das hässliche Gesicht des Agressors, das sie seit Jahren zu vergessen versucht. Ein in Dunkels Wohnung vermuteter Gegner erweist sich als "Arrangement aus Dreifachsteckern, Verlängerungskabeln und mehreren Zeitschaltuhren, vernetzt mit Fernseher, Musikanlage und Deckenlicht" (SB, S. 23); zuvor hatte Hell schon einen mannshohen Kaktus bekämpft. Zur Schattenboxerin des Titels wird die traumatisierte Heldin nicht nur durch ihre Ausbildung in der asiatischen Kampfkunst, sondern auch durch den mentalen Kampf mit nur im eigenen Kopf gegebenen Feinden. Atmosphärische Umstände lassen immer wieder Zweifel am Wirklichkeitsgehalt von Hells Wahrnehmungen aufkommen: Rauch und Schneeflocken (SB, S. 89) lösen Verzerrungen aus; daneben bilden flackerndes Licht, Dunkelheit, Spiegel und Fenster, von denen optische Illusionen ausgehen (SB, S. 24.), unübersehbare Nebenmotive der Geschichte. In der gegebenen Konstellation fühlt man sich auch vom Chiaroscuro in der allegorischen Namensgebung von Hell und Dunkel an die Beleuchtungseffekte in Hoffmanns Nachtstücken erinnert. Die Spiegelmetaphorik, welche die zentralen Autoskopie-Erlebnisse in den Begegnungen der Nachbarinnen einführt, wirkt durch die häufige Wiederholung etwas aufdringlich. Als Hell eines Tages wegen falsch bestellter Post bei der Nachbarin klopft, sucht sie die Klinke auf der falschen Seite: Als müßte ich plötzlich linkshändig schreiben. […] Als sie auf der Schwelle stand und mich anblickte, zuckten wir beide zusammen. […] Mit dem Gefühl, in einen unkontrollierbaren Spiegel zu sehen, drückte ich ihr die Umschläge in die Hand […]. (SB, S. 14, Hervorhebung durch Vf.)

An der Ordnung von Schuhen und Aschenbechern im Flur ist abzulesen, dass die Nachbarinnen dieselben, nur "seitenverkehrt" (SB, S. 14) durch247

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geführten Gewohnheiten und Rituale haben. Ihre Wohnungen haben "haargenau gleiche Grundrisse […], gespiegelt über die Achse des Treppenhauses". (SB, S. 56) Schließlich bestätigt ein gemeinsamer Freund auch die äußere Ähnlichkeit der beiden Frauen. (SB, S. 31) Dunkel erscheint nicht nur als Alter Ego von Hell, sondern auch als Verkörperung einer verdrängten, früher gekannten Seite von deren Persönlichkeit. Dass das traumatische Erlebnis im Mai 1989 bei der Protagonistin eine Persönlichkeitsspaltung ausgelöst hat, suggerieren sowohl die wiederholt verwendete Bildsprache der Zerrissenheit (SB, S. 64, 98, 106) als auch die Andeutungen Hells über eine nicht mehr zu überwindende "Innenkälte" und "Leere" in ihrer Brust (SB, S. 113). Wie in Trug bereiten in Pareis Roman auffällige Umkehrungen, die sich in diesem Falle um die Figur des Markus März herum kristallisieren, die Apotheose der spiegelbildlichen Beziehung im offenen Ende des Romans vor. Zu März, der als mutmaßliche Jugendliebe Teil von Dunkels Vergangenheit ist, entwickelt Hell in der Gegenwart eine immer größere Zartheit und körperliche Nähe. Der symbolisch stark aufgeladene Roman endet mit der Rückkehr Dunkels. Eine rätselhaft bleibende Verwechslung der beiden Frauen durch den Kneipenwirt Mirca in der letzten Szene und Hells harmonisch klingender Schlussgedanke an den Einzug in die neue Wohnung der Nachbarin könnten als Andeutung eines Auswegs aus der Spaltungskrise gelesen werden.

IV. Eine existentielle Krise bringt auch Klinger, den Helden von Norman Ohlers Berlin-Roman Mitte, dazu, sich in ein kurz vor der Entkernung stehendes, weitgehend verlassenes Gebäude im Zentrum der Hauptstadt zurückzuziehen. Wie für die Helden Pareis und Schlesingers entpuppt sich Berlin für ihn, den misslungenen IT-Mann, der als Kaufhausdetektiv aus der Beobachtung der Stadt wenigstens vorübergehend einen Beruf macht, als ein Ort der unvorhergesehenen, sonderbaren Begegnungen. In seiner Wohnung findet sich Klinger von mysteriösen Geräuschen und Stimmen umgeben, die sich in seine Gedanken einmischen und ihn bedrängen. Er hört Schreie und Geflüster, das mit Liedern und Filmen assoziiert und mit erkennbaren, zuvor noch gedachten Sätzen abgewechselt wird. Wenngleich schon bei der ersten Schilderung der Wohnung mit dem Spiegelungsmotiv gespielt wird (M, S. 27), schaut der Protagonist nicht unmittelbar dem eigenen Ebenbild ins Gesicht. Allmählich wird er in seinem "Bau" aber in ein Gespräch mit einer Stimme verwickelt, die durch Kursivdruck vom Erzählertext abgesetzt und allem Anschein nach einer eigenständigen Person zugeschrieben wird. Der unheimliche Ge-

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sprächspartner ist Igor, der Vormieter, der während eines Drogentrips in der Wohnung ums Leben kam. Da sich seine Seele unter Einfluss des Ketamins gerade vom Körper gelöst hatte, als dieser von einem Schwelbrand erfasst wurde, geistert sie jetzt weiter im Gemäuer des Gebäudes. Die beiden Motti, die Ohler seiner Geschichte vorangestellt hat, liefern wichtige Hinweise über die Beschaffenheit der virtuellen Begegnungen, die dem Helden widerfahren. Aus Michel de Montaignes Reflexionen Über die Einsamkeit wird die Vorstellung übernommen, dass "unsere Seele ihre Bahn um die eigene Mitte zu ziehn [vermag]; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten, sie hat genug anzugreifen und zu verteidigen, genug sich zu geben und von sich zu empfangen." (M, S. 13) Der Titel des Romans verweist damit nicht nur auf den Schauplatz, den nach der Wende von unterschiedlichen ideologischen Gruppierungen heiß umkämpften Berliner Bezirk, sondern zugleich auf den Kampf im Innern, in der "Mitte" des Protagonisten. Das Stimmengewirr in Klingers Umgebung, von dem gesagt wird, dass "nur er" (M, S. 27) es vernehmen könne, lässt sich als "Selbstdialog" im Sinne Montaignes lesen. In Ohlers Roman werden, ähnlich wie in Trug und Die Schattenboxerin, alle Wege zu einer schlüssigen Deutung der Beziehung zwischen dem Protagonisten und seinem Alter Ego verbaut. Dass Igor, der gesellschaftskritische DJ und "Soundkünstler", als eine früher gekannte, radikalere und idealistischere Variante von Klingers Person betrachtet werden könnte, geht aus einer von Igors, indirekt an Montaigne anknüpfenden Überlegungen hervor. Subtil konfrontiert der unheimliche Mitbewohner Klinger mit der Einsicht, "dass es immer wieder die vergangenheit gibt, die uns die einsamkeit stiehlt." (M, S. 94) Gegen Ende der Geschichte erscheint der Verstorbene in der Vorstellung des Helden als Doppelgänger: "Klinger hatte manchmal das Gefühl, zwischen ihm und Igor war ein flüssiger Film gespannt, eine Spiegelfläche." (M, S. 197) Womöglich noch aufschlussreicher als das programmatisch eingesetzte Zitat Montaignes ist im hier aufgebauten Argumentationszusammenhang das zweite Motto, das dem gesamten Roman und somit auch jenem komischen Vorspann zur eigentlichen Geschichte, dem Anfangskapitel über das "Ende, das zu vermeiden ist", vorangestellt ist: "Der Schrecken macht bei der Dämmerung aus einem Wegweiser ein Riesengespenst." (M, S. 7) Die Feststellung verführt nicht nur zu Mutmaßungen über die eventuell wahnhafte Natur der Hauptgestalt, mit dem Zitat aus Kants Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) wird der Leser gleich zu Anfang seiner Lektüre an den Initiator jener "kopernikanischen Wende" in der Erkenntnistheorie erinnert, von dem zu lernen war, dass die im Subjekt angelegten Erkenntnisstrukturen die Gestalt der erscheinenden Wirklichkeit bestimmen. Von Kants Philosophie ausgelöste

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"Krisen" boten bekanntlich schon bei vielen von dessen Zeitgenossen Anlass zu so mancher Verdopplung und Spukerfahrung.17 Dass Klingers virtuelle Begegnungen als Symptome seiner generellen epistemologischen Verunsicherung aufzufassen sind, wird in einem Gespräch mit Igor von dessen selbstentlarvender Antwort auf die Frage, was er denn eigentlich sei, bestätigt: "'Ich [Klinger] versuche wirklich herauszufinden, was du bist.' ein hirngespinst, wie alle phänomene." (M, S. 166) Das Kant-Zitat schärft außerdem die Aufmerksamkeit für die besonders beim Anfang der täglichen Kapitelchen des tagebuchartig angelegten Romans geschilderten Lichtverhältnisse, die zum Spukgehalt der Geschichte beitragen. Mitte handelt von einer "Stadt unter Sonderbeleuchtung" (M, S. 9), in der Photorealismus und Geisterspuk sich abwechseln. Sonne, Mond, Nebel und andere Wetterverhältnisse, sowie nächtliche Schienenschweißer, Trams und Stroboskope werfen Schatten, verursachen optische Täuschungen, lassen Schemen hervortreten.18 Wietere, aus der romantischen Literatur vertraute, Halluzinationen auslösende Motive wie Schlafmangel (M, S. 61), Drogenexperimente (M, S. 62) oder Klingers orangefarbene Sonnenbrille (M, S. 60) treffen auf das Vokabular des IT-Manns, dessen Blick "scannt" und vor dessen Augen Gegenstände "aufpixeln" (M, S. 234). Wie schon in Trug – was, wie Hans-Jürgen Schmitt in seiner Rezension erwähnt, als "trugebilde" auf mittelhochdeutsch soviel heißt wie "Gespenst"19– wird fantastischer Schauer in Ohlers Roman den Effekten digitalisierter Virtualität angeglichen. Schlesingers Strehlow erfährt, dass sein PC sich immer dann rächt, wenn er in einem Brief auf ironische Weise über eine Begegnung mit einer modernen "Radiospiritistin" berichten will, die "aus dem Tönegewirr der Kurzwellen Stimmen und Botschaften längst Verstorbener zu entziffern glaubte" (T, S. 71). Sobald er die Beteuerung der Frau wiedergibt, dass "die Toten leben", stürzt die Schrift auf dem Bildschirm in sich 17 Vgl. zum Doppelgänger in der Literatur um 1800 u.a. Andrew J. Webber, The Doppelgänger. Double Visions in German Literature, Oxford 1996. 18 Beispiele finden sich im gesamten Roman: "Nebel zog auf, Passanten schemten" (M, S. 36); "Er […] schaute in einen Raum, der vom Geflacker der Schienenschweißer nur fragmentarisch beleuchtet wurde – ein gespenstisches Blitzen." (M, S. 36); "Im Licht einer vorbeifahrenden Tram war der Annex, indem die Straßenbahn-Fensterunterteilungen über ihn hinwegglitten, ein Raum aus Schatten, der einen Schatten warf, der einen Schatten warf, der einen Schatten warf –" (M, S. 76.) 19 Hans-Jürgen Schmitt, "Die Sache mit Strehlow und Skolud. Doppelgängerschaft Ost/West: Klaus Schlesingers neuer Roman 'Trug'", in: Süddeutsche Zeitung, 22. März 2000. 250

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zusammen, und statt ihrer erscheint eine "rätselhafte Zeichensprache" (Ebd.). Klinger erlebt nach dem Einzug in seine sonderbare Berliner Behausung etwas ähnlich Unheimliches mit einem alten, stehen gebliebenen Atari. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen gelingt es ihm, der Maschine die anscheinend sinnlose Klangfolge “heyheyheysayheyheyheyheykey” (M, S. 66), gefolgt von der Abschiedsrede eines aus dem Leben Tretenden, zu entlocken. Dass "seheki" in der altägyptischen Gestensprache den Vorgang bezeichnet, bei dem verborgene Information an die Oberfläche geholt wird, ist Ohlers einstiger Website20 zu entnehmen. Zweimal wird somit die gespensterhafte Atmosphäre der Romane durch den Einsatz von scheinbar autonom handelnden Maschinen, die die Interessen der Toten verteidigen, gesteigert. Unübersehbar ist, dass die Begebenheiten in beiden Werken dazu dienen, zu Reflexionen über die Möglichkeiten moderner Speichermedien in ihrem Umgang mit der Vergangenheit anzustacheln.21

V. Sibylle Lewitscharoff hat mit Pong nicht gerade einen prototypischen "Berlin-Roman" vorgelegt. Die Übereinstimmungen zwischen ihrem Werk und den schon behandelten sind dadurch weniger auffällig als die bisher beschriebenen Konvergenzen. Berlin ist aber auch in Pong Schauplatz virtueller Begegnungen. Der Roman handelt von einem "Verrückten" (P, S. 7) namens Pong, über den in der dritten Person berichtet wird. Trotz des anscheinend externen Blicks auf den Protagonisten, bleibt der Leser während der ganzen Geschichte gefangen in der Innenperspektive des schizophrenen Helden, der in seinem Denken und Benehmen auch mit ironisch-überspitzt dargestellten Symptomen von Paranoia, Autismus, Solipsismus und Narzissmus zu kämpfen hat. Pong unternimmt zwar Streifzüge durch existierende, mit Namen genannte Westberliner Straßen, nie ist klar, ob das von ihm Wahrgenommene auch tatsächlich gegeben ist. Überall erkennt er für ihn bestimmte "Botschaften"; dazu scheint die ganze Welt sowieso "in ihm" Platz genommen zu haben. (P,

20 Diese Information wurde inzwischen von entfernt. 21 Eine ausführlichere Analyse von Mitte liegt vor in meinem Aufsatz "Schauerromantik im Zeitalter der Virtual Reality: Zu den Gespenstern in Norman Ohlers Berlin-Roman Mitte", in: Kopf-Kino: Gegenwartsliteratur und Medien. Festschrift für Volker Wehdeking, hg. v. Lothar Bluhm/Christine Schmitt, Trier 2006, S. 105-116. 251

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S. 8)22 Die Vermittlung von Daten zwischen dem Innen- und Außenraum seines Körpers gehört zu den zahlreichen Obsessionen des Helden, der ständig vor etwaigen Löchern in der "Leibhülle" auf der Hut ist. (P, S. 9) "Schemen" (P, S. 71), "Licht und Schatten" (P, S. 56, 72 u.a.) und "Lichtflecke" (P, S. 56), deren Formen zu Pong sprechen, bereiten auf einen ersten Moment der Selbstbegegnung vor, in dem Pong "Sicht auf sich selbst" (P, S. 72) gewinnt. Der Effekt dieser Autoskopie sei nicht zu verwechseln mit demjenigen von "läppischen Selbstfängern wie Spieglein und Photo." (Ebd.) Die Selbstbegegnung, die als Augenblick extremer Selbstobjektivierung des Helden aufgefasst werden kann, ist jedoch nicht die wichtigste unter den im Roman stattfindenden virtuellen Begegnungen. Nachdem er sich schon von Schauspielerinnen umworben wusste, die auf seinem Befehl "mit dem Rhönrad den Tauentzien entlangrollen" (P, S. 23), trifft Pong in der U-Bahn das besondere Wesen Evmarie, das ihrem Namen nach als biblische Urmutter und in der literarischen Zeichnung als Schwester von Hoffmanns Olimpia daherkommt.23 Ohne weitere Widerstände kann Pong im schweigenden Geschöpf all das sehen, was er erwartet: "Verstanden hatte sie ihn wohl nicht, aber aus ihren Augen las Pong ein Ja, und das genügte" (P, S. 100). Der Held zeigt sich besonders "von ihren ausgezeichneten Sitzeigenschaften beeindruckt" (P, S. 107) und bestreitet die Gespräche mit seiner zur Gattin Auserkorenen alleine. (P, S. 102) Pongs Wahrnehmung ist von überlieferten Modellen, allen voran denen aus den beiden Testamenten, in so starkem Maße determiniert, dass er von Reinhard Baumgart in seiner Rezension mit einiger Begründung nicht als Mann, sondern als "Verrücktheitsprogramm"24 bezeichnet wurde. Durch bewusste Identifizierung und unbewusstere Arten der Übernahme erinnert das Verhalten des Helden an die Eigenarten der Protagonisten in den Werken von Beckett, Valéry oder Robert Walser. Später werden besonders die künstlerischen Leistungen von psychiatrischen Patienten wie Adolf Wölfli und Daniel Paul Schreber die Quellen, 22 Dieser "männliche Akt" der Bedeutungsgebung des unbemerkt beobachtenden und den Stadtkörper entziffernden Flaneurs wird von Bischof in ihrem Artikel zum Berlin-Roman thematisiert als problematisches Merkmal älterer Stadtliteratur, das in neueren Texten in Frage gestellt und letztlich unterlaufen werde. 23 An anderer Stelle wird "Olympia", in einer nur leicht abweichenden Schreibweise, auch namentlich genannt. (P, S. 136.) Schon die Erwähnung von "Vorgängern" Pongs, die perfekte Frauen "aus Lehm und Gips" (P, S. 46) kreiert hätten, liefert einen unübersehbaren Fingerzeig auf die Modelle, die den Helden bei der "Entdeckung" bzw. "Konstruktion" seiner Gattin inspiriert haben mögen. 24 Reinhard Baumgart, "In der Grübelschlucht", Die Zeit, 3. September 1998. 252

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aus denen sich Pongs absurde Pläne speisen.25 Der Protagonist selber ist besessen von der Vorstellung, sich von allen genealogischen Bindungen befreien zu müssen: "Die Gespensterverwandten werden nicht mehr mit Gedanken dickgefüttert, ihnen wird keine Gelegenheit mehr gegeben, durch Kalkül und Kommentar auf ihn einzuwirken." (P, S. 14) Pongs Taten aber beweisen, dass all seine Abwehrversuche großartig misslingen. Radikaler als in den anderen hier besprochenen Romanen verschwindet bei Lewitscharoff das "wirkliche" Berlin hinter den Wahnvorstellungen des Protagonisten. Pong ist ein in sich geschlossenes Wesen ohne Öffnungen nach außen, das Frauen dafür verachtet, dass bei ihnen "zwischen außen und innen" alles ganz leicht "hin und her" ginge (P, S. 105). Bei Pong selber stülpt sich dagegen immer nur das Innere nach außen: Seine "Gedanken nehmen immerzu Körper an" (P, S. 118). Die groteske Klimax des Romans, in der Pong seine Kinder als leibgewordene Gedanken gebärt, bietet in der hier nachvollzogenen Logik ein letztes Sinnbild für die Wesensart der dem Helden widerfahrenden Begegnungen.

VI. Eine Auseinandersetzung mit literarisch und filmisch vorgeprägten Bildern lässt sich in keinem neuen Roman über Berlin vermeiden. Auch in den Romanen von Ohler, Parei und Schlesinger sind die Stimmen von Vorgängern in der Stadtrepräsentation prominent, manchmal in buchstäblichem Sinne vorhanden. Mitte, Ohlers Stadt im grellen Licht der Schienenschweißer, zeigt sich atmosphärisch stark mit der Metropole der Expressionisten verwandt; außerdem werden im gespensterhaften Polylog, von dem Klinger sich in seiner Wohnung umgeben weiß, ständig literarische Gewährsmänner, von Trakl über Brentano bis hin zu dem japanischen Vormieter der Wohnung, dem Schriftsteller-Arzt Mori Ogai, herbeizitiert. In der Schattenboxerin wird motivisch und in der Namensgebung der Figuren nicht nur mit den Geschichten E.T.A. Hoffmanns gespielt, sondern auch mit Arbeiten von Rilke und Heinar Kipphardt. Der Erzähler von Trug knüpft mit seiner Geschichte ein intertextuelles Netzwerk, zu dem sowohl implizit anwesende als auch explizit und namentlich genannte Großstadtautoren wie Hoffmann und Chamisso, Brecht, Benn und Goll, der amerikanische Dichter Walt Whitman und der russische Romantiker Alexander Kuprin gehören.

25 Dieser Punkt wurde weiter ausgearbeitet in Elke Gilson: "Masculinity, Madness and Religion: The Patriarchal Legacy of the Bible in Sibylle Lewitscharoff’s Pong", in: Edinburgh German Yearbook 2: Masculinity and German Culture, hg. von Sarah Colvin/Peter Davies, Rochester 2008. 253

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Die Frage nach der Möglichkeit einer direkten Erfahrung des aktuell Stattfindenden bei der Fülle an vorgängigen Erwartungen wird von allen Protagonisten auf ihren Streifzügen durch die Stadt reflektiert, am nachdrücklichsten bei Schlesinger, dessen Protagonist sich aus "Sehnsucht nach dem Unvorhergesehenen" (T, S. 97) vornimmt, "sich den Blick auf das Neue nur nicht vorprägen zu lassen." (T, S. 96) Mit seiner Mahnung, dass "alles erlaubt" sei, "aber eines nie: ein Remake" (T, S. 92), bezeugt jedoch Strehlows Westberliner Freund Strack, dass er früher als dieser selber verstanden hat, in welchem Maße der Held in Ostberlin genau das macht, was er vermeiden wollte: seiner persönlichen Vergangenheit nachjagen. Über zahlreiche Nebenmotive schleichen sich in die anderen Romane genauso bedeutende Überlegungen über den Platz ein, welcher der Vergangenheit auch in allgemeinerem Sinne in der urbanen Landschaft eingeräumt werden sollte.26 In der immer wieder gern als "Palimpsest"27 dargestellten Großstadt haftet Vergangenheit an Objekten wie dem Gerümpel in der Wohnung der Dunkel und dem Müll, von dem sich Hell nur durch äußerste körperliche Anstrengung befreien kann. (P, S. 8) Dörte Bischoff destilliert aus dem Text Pareis und der anderen von ihr betrachteten Autoren eine politische Absicht, die sich auch in Ohlers Werk, und noch eindeutiger in Schlesingers Trug erkennen lässt. Die Romane unternehmen alle einen Versuch, der seit einigen Jahren im Stadtbild zu beobachtenden Tendenz, "das Vergangene durch glänzende Fassaden zu bannen",28 entgegenzustehen. Die glitzernden Scheiben werden gerade, so könnte man Bischoffs Erkenntnis ergänzen, für ständige Konfrontationen mit der Vergangenheit eingesetzt. Genauso wichtig aber sind die subtiler eingebauten Warnungen vor der zu großen Ehrfurcht vor dem Vergangenen, wie sie in Trug vorkommen. Nachdem sein Leben wochenlang von den Toten um ihn herum beherrscht wurde, wendet sich auch Ohlers Held letztendlich gegen sie durch die Umkehrung des Leitgedankens seines Alter Egos im letzten Satz: "du musst erst leben, um auf frische gedanken zu kommen." (M, S. 255) Pareis Heldin entscheidet sich mit ihrer letzten Überlegung genauso gegen die Vergangenheit und für die Zukunft. Bei Lewitscharoff, deren Held an der Last der Geschichte geradezu verrückt wird, werden die

26 Vgl. zur Architekturdebatte in diesem Zusammenhang Brian Ladd, The Ghosts of Berlin. Confronting German History in the Urban Landscape, Chicago und London 1997. 27 Andreas Huyssen, Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003. 28 Bischoff, S. 139. 254

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Folgen eines Übermaßes an Vergangenheit in der Ausgangsszene des Romans ad absurdum geführt. Die Tatsache, dass virtuelle Begegnungen, die hier, im Einklang mit Luhmanns Deutung der wichtigsten Motive der romantischen Literatur,29 als Momente des Reflexiv-Werdens der Wahrnehmung und der Konfrontation mit der Vergangenheit aufgefasst wurden, im Berlin-Roman 19982001 gehäuft vorkommen, lässt sich gewiss zum Teil durch die Notwendigkeit dieser Art Überlegungen über einen angemessenen Umgang mit der Vergangenheit zehn Jahre nach der Wende, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, erklären.30 Der grundlegenden Studie von Webber ist darüber hinaus zu entnehmen, dass literarische Doppelgänger – zu denen sich die hier besprochenen mannigfachen Gestaltungsweisen der virtuellen Begegnung zwar nicht reduzieren lassen, die sich aber als deren häufigste Manifestationsweise erwiesen haben – ein prototypisches Jahrhundertwende-Phänomen darstellen.31 Webbers Erläuterungen zu 1800 und 1900 werden durch den vorliegenden Aufsatz um einige Feststellungen über die um 2000 erschienene Literatur erweitert.32

29 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, besonders S. 465f., sowie ders.: "Eine Redeskription 'romantischer' Kunst", in: Systemtheorie der Literatur, hg. v. Jürgen Fohrmann/Harro Müller, München 1996, S. 325-344, besonders S. 336. 30 Vgl. zur "Literarischen Wahrnehmung von Jahrhundertwenden", die mit einer "gewissen Konstanz" die "Neigung zum Bilanzieren und Antizipieren", zum Rück- und Vorausblicken bewirken auch Erhard Schütz' Vorbemerkung zum Themenheft der Zeitschrift für Germanistik, 1 (2000), S. 7-10, hier S. 10. 31 Schon im Klappentext macht Webber klar, dass seine Studie The Doppelgänger besonders auf "its hey-day in the Romantic period" und dessen "revival at the fin-de-siècle" fokussiert. 32 In ihrem Aufsatz über Doppelgänger als Faszination der Jahrhundertwende wagt Ursula Link-Heer die Vermutung, dass die "Beobachtung der Gegenwart in der Verdopplung des Blicks zurück" auf frühere Jahrhundertwenden, in ihrem Fall besonders 1900, "in größerer Scharfstellung möglich ist, und daß der Anteil literaturwissenschaftlicher Analysemöglichkeiten für die Beobachtungskompetenz dieser Gegenwart nicht zu unterschätzen ist." ("Doppelgänger und multiple Persönlichkeiten. Eine Faszination der Jahrhundertwende", arcadia, 31 (1996), S. 273-296, hier S. 296.) 255

DAS

GEORDNETE UNORDNUNG. SAMMELSURIUM ALS SCHREIBVERFAHREN DER JAHRTAUSENDWENDE MARK LUDWIG

Das erstmals 2002 erschienene Buch Schott’s Original Miscellany (deutsche Erstausgabe 2004 unter dem Titel Schotts Sammelsurium)1 des britischen Autors Ben Schott gilt als einer der größten Überraschungserfolge des internationalen Buchmarktes der vergangenen Jahre. Allein in Deutschland wurden nach Verlagsangaben bisher rund 500.000 Exemplare verkauft, der große Erfolg löste geradezu eine Sammelsurien-Mode aus. So folgten eine Reihe von Büchern ähnlicher Machart, unter anderem Dr. Ankowitschs Kleines Konversationslexikon (2004), das Lexikon der wissenswerten Nebensachen – Zeys Sammelsurium (2005) und jüngst bereits eine Parodie des Konzepts unter dem Titel Schotters seltsames und sinnloses Summelsarium (2006). Auch Ben Schotts Erfolg wurde weitergeführt, mittlerweile sind unter anderem Schotts Sammelsurium – Essen und Trinken (2005), Schotts Sammelsurium – Sport, Spiel und Müßiggang (2006)2 und Schotts Almanach (2007) erschienen.3 Die Erfolgsgeschichte macht deutlich, dass sich mit dem Sammelsurium zumindest begrifflich ein neues literarisches Schreibverfahren am Buch1

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Ben Schott, Schott's Original Miscellany, London 2002; dt: Schotts Sammelsurium. Aus dem Englischen unter Mitarbeit von Matthias Strobel, Alexander Weber u.a., Berlin 2004. Christian Ankowitsch, Dr. Ankowitschs Kleines Universal-Handbuch, Frankfurt 2004; René Zey, Lexikon der wissenswerten Nebensachen. Zeys Sammelsurium, Wien 2005; Benjamin K. Schotter, Schotters seltsames und sinnloses Summelsarium, Frankfurt 2006. Ben Schott, Schotts Sammelsurium – Essen und Trinken. Aus dem Englischen unter Mitarbeit von Matthias Strobel u.a., Berlin 2005. Ben Schott, Schotts Sammelsurium Sport, Spiel & Müßiggang. Aus dem Englischen unter Mitarbeit von Alexander Weber, Ludger Ikas u.a., Berlin 2006; Ben Schott, Schotts Almanach 2007, Deutsche Ausgabe völlig überarbeitet und ergänzt von Alexander Weber, Stephan Pauli u.a., Berlin 2006. 257

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markt etabliert hat. Der folgende Beitrag ist als eine Annäherung an dieses in der Öffentlichkeit breit rezipierte, in der Forschung jedoch bisher nicht beachtete Phänomen zu verstehen. Deshalb ist es zunächst das Ziel, das Schreibverfahren des Sammelsuriums zu analysieren und seine spezifische Verfahrensweise herauszuarbeiten. In einem ersten Schritt soll hierfür gefragt werden, inwiefern das Sammelsurium als ein grundständig neues literarisches Schreibverfahren aufzufassen ist und wie es mit anderen Schreibverfahren bzw. Textsorten in Bezug gesetzt werden kann.4 Von besonderem Interesse soll hierbei das spezifische Ordnungsprinzip des Sammelsuriums sein, das im weiteren Verlauf analysiert wird. Verfolgt werden Anschluss- und Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber bestehender Formen wie der Enzyklopädie, dem Wörterbuch oder dem Lexikon, aber auch erzählerischer Verfahren wie der Popliteratur ("Neuer Archivismus"). Im Zentrum steht dabei die Beobachtung, dass das Schreibverfahren des Sammelsuriums ein paradoxales Konzept verfolgt: das Konzept einer gleichzeitigen Präsentation von Ordnung und Unordnung.

Das Sammelsurium als literarisches Schreibverfahren – Versuch einer begrifflichen Einordnung Mit dem bereits im Titel integrierten und somit prominent gesetzten Begriff des Sammelsuriums werfen Ben Schotts Werke sogleich die Frage ihrer Zuordnung auf. Der Begriff des Sammelsuriums erweist sich hierbei zunächst als problematisch, ist er doch bisher nicht als feststehende begriffliche Zuschreibung eines spezifischen Schreibverfahrens oder einer Gattungs- bzw. Textsortenbezeichnung etabliert.5 Anderseits scheint es schwierig, einen anderen eindeutigen Begriff für das von Ben Schott 4

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Die Analyse erfolgt beispielhaft anhand der deutschen Ausgabe, die im Folgenden als BS zitiert wird: Da diese grundlegend überarbeitet wurde (eine Reihe von Einträgen wurden mit Zustimmung des Autors gestrichen und durch neue oder deutsche Entsprechungen ersetzt), wurde auf die Angabe der originalsprachlichen Textstellen verzichtet. In den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Lexika findet sich bisher unter dem Begriff 'Sammelsurium' kein Eintrag. Eine Selbstthematisierung der begrifflichen Einordnung nimmt, allerdings in deutlich ironischem Ton, bereits der Text selbst vor; eine klare Antwort auf die Einordnung des gewählten Schreibverfahrens gibt er jedoch nicht. "Eine Enzyklopädie? Ein Wörterbuch? Ein Lexikon? Eine Fundgrube? Ein Almanach? Eine Anthologie? Ein Allgemeinplatz? Ein Nonsensgedicht? Ein Vademekum? Nun ja. Schotts Sammelsurium ist all dies und natürlich noch mehr", in: BS, S.5. 258

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gewählte Schreibverfahren zu bestimmen bzw. zu finden; bereits die Frage nach der Zuordnung in die Bereiche Sachbuch/ Belletristik fällt schwer. Es stellt sich die Frage, ob sich mit dem Sammelsurium ein neues literarisches Schreibverfahren entwickelt hat, das somit einer begrifflichen Definition bedarf – oder ob der Begriff des Sammelsuriums letztlich doch nur eine Neuetikettierung eines bereits bekannten Verfahrens darstellt. Es liegt zunächst nahe, Ben Schotts Sammelsurien der Tradition des enzyklopädischen bzw. lexikalischen Schreibens zuzuschreiben. So tauchen in Rezensionen des Bestsellers immer wieder Bezeichnungen wie 'Enzyklopädie', 'Lexikon' oder 'Wörterbuch' auf. Diese Textformen berühren sich mit dem Sammelsurium vor allem in einem Punkt: dem des Sammelns und Archivierens. Im Hinblick auf weitere definitorische Merkmale ergeben sich zwischen den genannten Textformen und dem Sammelsurium jedoch deutliche Differenzen. Insbesondere die folgenden Punkte erscheinen von Bedeutung: a) Universalität: Enzyklopädien, Wörterbücher und Lexika fordern per definitionem einen Universalitätsanspruch; so ist ihr Zielanspruch stets eine möglichst umfassende Präsentation entweder der Gesamtheit des theoretischen und praktischen Wissensstoffes oder im Zusammenhang eines spezifischen Sach- bzw. Fachbereichs. Gerade diesen Universalitätsanspruch umgeht Schotts Sammelsurium bewusst, es "erhebt kaum Anspruch darauf, erschöpfend, maßgebend oder gar praktisch zu sein." (BS, S.5) b) Ordnung/Einheitlichkeit: Entgegen den genannten Textformen Enzyklopädie, Wörterbuch, Lexikon, Almanach oder Anthologie fehlt dem Sammelsurium das Prinzip einer einheitlichen Ordnung. Ein übergreifendes Ordnungsprinzip, etwa nach Sachbereichen (Enzyklopädik), einer alphabetische Ordnung (Wörterbücher, Lexika), nach Autoren oder nach literarischen Gattungen, ist hier nicht zu finden. c) Praktikabilität: Auch eine klar praktische Orientierung scheint Schotts Sammelsurium nicht anzustreben; es erhebt, wie bereits oben zitiert, nicht den Anspruch "gar praktisch zu sein". Eine praktische Orientierung wie sie beim Lexikon, dem Wörterbuch oder dem in Schotts Vorwort zitierten Vademekum, existiert hier nicht. Insgesamt zeigt sich, dass Schotts Sammelsurium zwar in der Form der Präsentation (Listen, Definitionen, Erläuterungen) und im Prinzip des Sammelns und Archivierens auf Verfahren von Enzyklopädie, Lexikon und Wörterbuch zurückgreift, jedoch gleichzeitig deren grundlegende Prinzipien der Universalität, Praktikabilität und der einheitlichen Ordnung unterläuft. Die Funktion und die Verfahrensweise des Sammel-

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suriums besteht demnach gerade nicht in der Zusammenführung, Kanonisierung und Vermittlung von zusammenhängenden Wissensbeständen.6 Einen Hinweis auf das konträre Anliegen des Sammelsuriums gibt die Begriffsgeschichte. Das Grimmsche Wörterbuch definiert den Begriff des Sammelsuriums als "scherzhafte Bildung zur Bezeichnung eines Gemengsels, einer schlechten Kompilation, eines verwirrten Durcheinander". Das Duden Wörterbuch fasst das Sammelsurium als "etw., was sich mehr od. weniger zufällig beieinander findet u. von unterschiedlicher Art u. Qualität ist". Etymologisch lässt sich der Begriff als eine in Hinzufügung der lateinischen Endung –ium scherzhafte Bildung aus dem niederdeutschen 'sammelsnjr' (saures Gericht aus gesammelten Speiseresten) erklären. Wichtig erscheinen in unserem Zusammenhang die in der Definition zu findenden Begriffe des Zufälligen, des Divergenten und des Scherzhaften. Hier liegen entscheidende Merkmale des Sammelsuriums, das es von den bekannten Varianten des enzyklopädischen bzw. lexikalischen Schreibens abhebt. Welche Funktion kann jedoch ein solches "mehr oder weniger zufälliges Nebeneinander" von Listen und Begriffsdefinitionen erfüllen? Welche Denkfiguren stehen hinter einem solchen Prinzip? In den folgenden Abschnitten soll dies genauer hinterfragt werden, um zu einer spezifischen Beschreibung des Verfahrens Sammelsurium zu gelangen.

"Neuer Archivismus"? Das Arbeiten mit Listen oder Sammlungen von "Alltagswissen" stellt in der Gegenwartsliteratur kein neues literarisches Verfahren dar. Insbesondere in der so genannten Pop-Literatur wurde das Zitieren und Erstellen von Listen, wie Moritz Baßler in seiner Studie Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten aufgezeigt hat, zu einem grundlegenden Merkmal. Die Archivierung von trivia, die auch für Ben Schotts Bücher einen entscheidenden Bestandteil ausmachen, ist in diesem Zusammenhang als eine der wichtigen Funktionen dieser Literatur aufgefasst worden. In Rückgriff auf theoretische Modelle von Boris Groys wurde die Archivierung des profanen Raums7 über die "Mechanismen des Neuen"8 als ent6

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"Ein Sieg über alle Sachzwänge, über alles Wissenswerte, Pisa verkehrt", schrieb Hellmuth Karasek in einer Rezension der Berliner Morgenpost. Hellmuth Karasek, "Von Heiligen und Tierpatenschaften", in: Berliner Morgenpost, 5. Dezember 2004, S.1. Groys versteht unter dem profanen Raum den "Bereich, der aus all den Dingen besteht, die von den Archiven nicht erfaßt sind". Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt 1999, S.56. 260

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scheidende Leistung von Kunst und Literatur gesehen. Die Verfahren des Popromans ließen sich, so Baßler "genau als solche Mechanismen verstehen, 'die das Verhältnis zwischen dem valorisierten, hierarchisch aufgebauten kulturellen Gedächtnis einerseits und dem wertlosen profanen Raum andererseits regeln'".9 Die für die Popliteratur genannten Punkte scheinen zunächst auch auf das Schreibverfahren der Sammelsurien zuzutreffen. In der Archivierung des profanen Raums und dem Mechanismus des Neuen, der Vergessenes über die Aufwertung und Aufbereitung in einem literarischen Zusammenhang ins kulturelle Gedächtnis einführt, sind zwei Funktionen genannt, die sicher auch für Ben Schotts Sammelsurium entscheidendes Erklärungspotenzial besitzen. Der Text selbst spricht von einem "Fischzug in den Gründen unbeachteter Kleinigkeiten" (BS, S.5), dessen Ziel darin bestehe das "Treibgut der Konversationsgezeiten einzusammeln". (BS, S.5) Literatur ist hier als ein Archiv des Randständigen bestimmt, in dem Selektionsverfahren entscheidende Bedeutung gewinnen. Man könnte zunächst versucht sein, das Sammelsurium als eine einfache Fortführung oder Zuspitzung popliterarischer Schreibverfahren der 90er Jahre zu bestimmen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass zwischen diesen Schreibverfahren entscheidende Unterschiede auszumachen sind. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass die Texte der Popliteraten im Gegensatz zu Ben Schotts Sammelsurien-Reihe erzählende Texte sind. Mit dem Anliegen eine Erzählung zu schreiben, verbindet sich auch die Funktion der in diesen Texten immer wieder zu findenden Listen und Aufzählungen von Marken, Popbands, Werbeslogans und ähnlichem Material. Erzählen gerät hier zur "Lizenz für das enzyklopädische Verfahren", das gleichzeitig grundlegend für das erzählerische Verfahren ist. Die Elemente dienen letztendlich dazu, eine in sich geschlossene Welt in charakteristischer Weise zu rekonstruieren und archivieren. Ob Kinderjahre in den 70ern bei Andreas Mand10 oder die Generation Golf bei Florian Illies11; immer wieder sind die in die Texte eingefügten Archive tragender Bestandteil der Konstruktion einer fiktiven, aber in sich stimmigen Welt. Sie fungieren hier als Identifzierungs- und Identifika8 9

Ebd. Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S.21. 10 Andreas Mand, Grovers Erfindung, Hamburg 1992. Beispielhaft: "Der Katalog. Die Kataloge sind unsere Lieblingsbücher. Gut sind Gewehre, Messer, Diktiergeräte, Schwimmbassins, Taucherausrüstungen, Heimwerker, Spielsachen, Unterwäsche, Badehosen und Sauna." (S.124) 11 Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Frankfurt 2001. 261

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tionsangebote, am deutlichsten in Nick Hornbys Roman High Fidelity, in dem Bestenlisten immer wieder der Charakterisierung einzelner Figuren dienen.12 Es geht, wie Moritz Baßler schreibt, darum, Paradigmen zu rekonstruieren, über die sich letztlich vollständige13 Welten erfinden lassen. "Paradigmen dieser Art, so meine These, sind das Herzstück aller popliterarischen Verfahren zwischen Sammeln und Generieren: Alle seine rubrizierten Elemente sind Fundstücke aus vorliegenden Texten („Ich sammel“), aber mit dem Anwachsen der Sammlung zeigen sich Regelmäßigkeiten, es schält sich heraus, worin die Äquivalenz der Elemente eigentlich besteht."14 Paradigmen solcher Art stehen in Schotts Sammelsurium nicht im Fokus. Eine gemeinsame Ordnung, eine Äquivalenz der Elemente und ein Streben nach Vollständigkeit bzw. Geschlossenheit im Sinne des Popromans ist hier nicht erkennbar. Chemische Akronyme, Spargelklassen, Mordmethoden von Miss Marple und Warnhinweise auf europäischen Tabakerzeugnissen ergeben in der Zusammenstellung kein Gesamtbild. Vielmehr wird Heterogenität in den Blickpunkt gerückt. In der dieser Absenz eines gemeinsamen, einheitlichen Raumes liegt damit die entscheidende Differenz von Sammelsurium und Neuem Archivismus. Rekonstruktion, Erinnerung, Identifikation – alle diese Schlüsselbegriffe des Popromans bieten für das Konzept des Sammelsuriums kein Erklärungspotenzial. Die im Sammelsurium angelegte Lesedisposition muss demnach eine andere sein. Wenn das Konzept der Rekonstruktion des anderen Ortes, der Utopie nicht zutrifft, dann ist der Schlüssel zur Verfahrensweise des Sammelsuriums möglicherweise in der Heterotopie zu suchen.

12 Beispielhaft: "What am I? Average. A middleweight. Not the brightest bloke in the world, but certainly not the dimmest: I have read books like The Unbearable Lightness of Being and Love in the Time of Cholera, […] my all-time top five favourite books are The Big Sleep by Raymond Chandler, Red Dragon by Thomas Harris, Sweet Soul Music by Peter Guralnick, The Hitchhiker's Guide to the Galaxy by Douglas Adams an, I don't know, something by William Gibson, or Kurt Vonnegut. […] I am not averse to going down to Camden to watch subtitled films (top five subtitled films: Betty Blue, Subway, Tie Me Up! Tie Me Down!, The Vanishing, Diva), although on the whole I prefer American films. (Top five American films, and therefore the best films ever made: The Godfather, The Godfather II, Taxi Driver, Goodfellas and Reservoir Dogs.) Nick Hornby, High Fidelity, London: 1995, S. 29. 13 Vgl. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S.26. 14 Ebd., S.102. 262

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Heterotopien Der entscheidende Hinweis auf seine Poetologie ist Schotts Buch möglicherweise an einer Stelle eingeschrieben, an der es eine Einteilung der Tiere nach einer chinesischen Enzyklopädie aufführt, die bereits in Michel Foucaults Vorwort der Ordnung der Dinge zitiert ist. Borges schreibt in einem seiner Essays, der Sinologe Franz Kuhn habe eine "gewisse chinesische Enzyklopädie" mit dem Titel Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse entdeckt, nach der sich die Tiere wie folgt klassifizieren ließen. Bei Schott taucht sie unter dem Stichwort "Eine gewisse chinesische Enzyklopädie" wieder auf:15 [a] dem Kaiser gehörige – [b] einbalsamierte – [c] gezähmte [d] Milchschweine – [e] Sirenen – [f] Fabeltiere – [g] streunende Hunde [h] in diese Einteilung aufgenommene – [i] die sich wie toll gebärden [j] unzählbare [k] mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete [l] und so weiter [m] die den Wasserkrug zerbrochen haben [n] die von weitem wie Fliegen aussehen. (BS, S.38)

Foucault nutzt diese ungewöhnliche Aufzählung, um auf die dahinter liegende "Monstrosität" aufmerksam zu machen. Dabei ist es nicht die "Bizarrerie ungewohnten Zusammentreffens", die die Monstrosität dieser Liste ausmacht; die Besonderheit liegt vielmehr darin, dass "der gemeinsame Raum des Zusammentreffens darin selbst zerstört wird. […] Das Absurde ruiniert das Und der Aufzählung, indem es das In, in der sich die aufgezählten Dinge verteilen, mit Unmöglichkeit schlägt".16 Foucault spricht in diesem Zusammenhang von Heterotopien, einer Form der "Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten lässt".17 Diese Denkfigur der Heterotopie, die den prominenten Platz des Vorwort der Ordnung der Dinge einnimmt, erweist sich im Hinblick auf das poetologische Prinzip des Sammelsuriums als fruchtbar. Ben Schott folgt in seinem Sammelsurium einem ganz ähnlichen Verfahren; das Sammelsurium erscheint in seiner heterotopischen Anlage als eine neue Version von Borges "monströser" 15 In einem Interview bezeichnete Ben Schott die Liste als seine "Lieblingsliste". Vgl. Armgard Seegers, "Tausend kleine Listen. Ben Schott sammelt Kurioses", in Hamburger Abendblatt vom 22. Januar 2005. 16 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 18f. 17 Ebd., S.20. 263

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Aufzählung. Es lässt die Bruchstücke von möglichen, jedoch verschiedensten Ordnungen aufscheinen, ohne die Möglichkeit einer gemeinsamen Ordnung zu geben. Mit dem Sammelsurium erhalten die Zusammenstellungen von Listen, Erklärungen und Definitionen zwar einen Raum, es fehlt jedoch an Kohärenz. Denn nicht nur in Bezug auf die gewählten Inhalte präsentiert sich das Sammelsurium höchst divergent, schon auf der Ebene der Selektionsund Ordnungsprinzipien lässt sich eine auffällige Uneinheitlichkeit konstatieren. Dass in diesem Spiel mit Ordnungsmustern ein wichtiges Moment des Textes auszumachen ist, belegen die zahlreichen Passagen, in denen diese direkt oder indirekt benannt werden. Unter epistemologischer Perspektive wären dies Ordnungen, die sowohl über Ähnlichkeit als auch über Differenz hergestellt werden. Das Ordnungsmuster der Ähnlichkeit zeigt sich in mehrfacher Weise auf sprachlicher Ebene. So werden etwa in der Rubrik "Sprichwörtlich: Man kann nicht" alle Sprichwörter aufgeführt, die mit der Phrase "Man kann nicht" beginnen, andere Aufzählungen verwenden als Selektionskriterium eine gleichartigen Prä- bzw. Suffigierung. In der "PseudoEcke" (BS, S.14) findet sich eine Aufzählung von Wörtern mit dem Präfix "Pseudo", andere Liste führen "-ologien" (BS, S.21) oder "Manien" auf. Doch auch auf inhaltlicher Ebene werden über das Prinzip der Ähnlichkeit bzw. Gemeinsamkeit Dinge zusammengeführt: So findet sich eine Aufzählungen der "Länder mit Linksverkehr" (BS, S.14), der "Europäische[n] Städte mit U-Bahn" (BS, S.37) oder der "Komponisten, die in ihrem Leben insgesamt neun Sinfonien geschaffen haben" (BS, S.148). Auf der anderen Seite finden sich Ordnungsmuster, die im Gegensatz dazu auf das Prinzip des Unterscheidens bauen. Programmatisch führt Schotts Sammelsurium eine Rubrik mit dem Titel "Linnésche Systematik" auf, eben jenes System, das in Foucaults Ordnung der Dinge maßgeblich der Illustrierung des Übergangs der Episteme der Renaissance (Ähnlichkeit und Verwandtschaft) hin zur Klassik (Identitäten und Unterschiede) markiert. Klassifizierungssysteme, die ähnlich wie Linné mit hierarchisch aufgebauten und das Ziel der Unterscheidung setzenden Modellen arbeiten, finden sich auch in Listen wie "Die Hierarchie der Dämonen" (BS, S.149), der "Fujita-Pearson-Skala der Tornadostärken" (BS, S.129) oder den "Dienstgrade[n] der Bundeswehr" (BS, S.118) wieder. Zusätzlich zur Ebene der epistemologischen Ordnung lassen sich auch auf der Ebene der Anordnung unterschiedliche Verfahrensweisen feststellen. Einige Listen nehmen eine chronologische Ordnung vor, so etwa Listen der "Uno-Generalsekretäre" (BS, S.17), der "Fußballweltmeisterschaften" (BS, S.27) oder der "Gewinner des Grandprix d'Euro-

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vision de la Chanson seit 1970" (BS, S.32). In anderen Fällen wurde eine alphabetische Ordnung gewählt, etwa bei der Aufzählung von YuppieVarianten (BS, S.61), Nationalhymnen (BS, S.69) oder der Auflistung von lateinischen Ausdrücken (S.96). Darüber hinaus finden sich Ordnungen nach Größe der Zahl ("Gewichtsklassen beim Boxen" (BS, S.142), "Tierpatenschaften" (BS, S.42)) und nach räumlicher Ordnung ("Atmosphärenschichten" (BS, S.42), "Kompasspunkte" (BS, S.117)). Ein wieteres wichtiges Ordnungsmuster ist die Entsprechung bzw. Äquivalenz. Sie bestimmt eine ganze Reihe von Listen, die beispielsweise Translationen ("Sushi" (BS, S.15), "Medizinische Laienausdrücke vs. Fachsprache" (BS, S. 23), "Polari" (BS, S. 30)) aufführen oder Akronyme auflösen ("Abkürzungen für antiquarische Bücher" (BS, S. 30), "Einige chemische Akronyme" (S.35), "Einige medizinische Abkürzungen" (BS, S. 36)). Auffällig ist, dass so genannte Hit- bzw. Bestenlisten, die in popliterarischen Texten dominieren (siehe Abschnitt III), kaum Berücksichtigung finden. Statt Top-Ten-Listen präsentiert das Sammelsurium lediglich eine Liste, die mit dem Titel "Die Elften" (BS, S.129) das Prinzip der Bestenliste ironisch unterläuft. Noch einmal wird hier deutlich, dass das Sammelsurium seinen Wert gerade nicht in der Setzung von Werten und Bewertungen sieht. Vielmehr zeigt sich im Sammelsurium ein Schreibverfahren, dessen Eigentümlichkeit darin besteht, eine Vielzahl möglicher Ordnungen aufscheinen zu lassen ohne diesen die Möglichkeit einer gemeinsamen Ordnung zu geben. Damit ist dem Text letztlich eine Beobachterposition eingeschrieben, die weniger auf die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Aspekten der Listen zielt (auch wenn dies möglich ist), sondern, in dem sie verschiedene Ordnungen konfrontiert, in der Gesamtanlage eine Kontingenzerfahrung hervorruft: zum einen die, dass die Auswahl der Dinge, mit der wir uns beschäftigen, immer auf Unterscheidungen und Werten beruhen, die so, aber auch anders ausfallen könnten; und dass zweitens bereits auf der Ebene der Ordnung der Dinge die jeweils gewählte Ordnung nur eine von vielen (und anderen Stellen vorgeführte) möglichen ist. Insgesamt ergibt sich dabei ein Bild, dessen Reiz in der Präsentation eines ungeordneten Nebeneinanders besteht, dessen einzelne Aufzählungen von Marginalien, Kuriosem und manchmal auch Praktischem zwar immer einen hohen Grad von – wenn auch höchst unterschiedlicher – Ordnung aufweisen, zugleich aber nicht in einer gemeinsamen Ordnung gefasst werden können. Wie in Borges' Liste sind es also nicht die einzelnen Rubriken, sondern das zunächst paradoxal anmutende Konzept der geordneten Unordnung, die das Potenzial des Schreibverfahrens Sammelsurium ausmachen.

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Geordnete Unordnung Das Sammelsurium, so haben die vorangehenden Kapitel gezeigt, erweist sich als ein Schreibverfahren, das eine neue Variante enzyklopädistischen und archivistischen Schreibens darstellt und somit Ordnungen auf neue Weise reflektiert. In der Präsentationsweise (Rubriken, Listen, Definitionen) schließt das Sammelsurium an Verfahren des enzyklopädischen Schreibens (Lexikon, Enzyklopädie, Wörterbuch) an, durchbricht diese jedoch zugleich in seinem Verzicht auf den Anspruch von Universalität, Einheitlichkeit und Praktikabilität. In seiner Funktion eines Archivs von Alltagswissen und Randständigem sind zudem Verbindungen zu Verfahren der Pop-Literatur ("Neuer Archivismus") zu sehen. Die rubrizierten Elemente dienen im Gegensatz zu den popliterarischen Schreibverfahren jedoch nicht der Rekonstruktion und Archivierung einer in sich geschlossenen Welt oder der Charakterisierung und Identitätskonstruktion von Personen und Epochen, sondern zielen vielmehr auf die Beobachtung ihrer eigenen Heterogenität. In Anschluss an Foucaults Heterotopie-Begriff (eine Form der Unordnung, die Bruchstücke möglicher Ordnungen aufleuchten lässt), auf den das Sammelsurium verweist, kann das Sammelsurium als ein Schreibverfahren erfasst werden, dessen strukturelles Merkmal in der Gleichzeitigkeit von Ordnung und Unordnung liegt. Möglicherweise steckt in dieser Struktur der geordneten Unordnung auch ein Erklärungsansatz dessen, weshalb sich gerade zur "Jahrtausendwende" ein solches Schreibverfahren mit so großem Erfolg etabliert hat. In einer Situation, in der sich Gesellschaft mehr und mehr ausdifferenziert und zunehmend unüberschaubarer erscheint, könnte ein Angebot besonders attraktiv sein, das entgegen dieser Entwicklung seinen Blick auf das Überschaubare und vergessene Randständige lenkt und zugleich auf spielerische Weise die Komplexität und Kontingenz von Ordnung reflektiert.18 Somit wäre das Sammelsurium zugleich Abbild und Gegenbild der modernen Gesellschaft. Inwiefern Entwicklungen der Literatur der Jahrtausendwende, wie sie sich im Sammelsurium zeigen, als eine Reaktion auf solche gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen sind und worin zukünftig mögliche gesellschaftliche Funktionen von Literatur zu sehen sind, wäre in künftigen Anschlussarbeiten genauer zu spezifizieren. 18 Auch Ben Schott äußerte sich gegenüber der Sunday Times in diese Richtung: "The world is chaotic and perhaps it is the desire to find order. You want someone to wade through the plethora of data for you." Siehe: N.N., "Profile: Ben Schott: Just brilliant – he’s sold us all on the utterly useless", in: Sunday Times Online, 13. November 2005 (Zugriff am 1. Dezember 2006 unter: http:// www.timesonline.co.uk/article/0,2088-1869494,00.html). 266

REALLY GROUND ZERO. DIE WIEDERKEHR DES DOKUMENTARISCHEN STEPHAN POROMBKA

1. Wollte man die Geschichte der Dokumentarliteratur im 20. Jahrhundert mit einer einzigen Linie zeichnen, man müsste sie mit drei großen Wellenbewegungen aufs Blatt bringen. Und weil die dritte Welle, die in den 90er Jahren anhebt und erst zu Beginn des neuen Jahrtausends ihren Höhepunkt erreicht, nicht ohne die ersten beiden zu verstehen ist, macht es Sinn, ihre Vorläufer in ihren programmatischen Ausrichtungen kurz zu pointieren. Die erste Welle geht durch die 20er Jahre. Sie nimmt ihren Ausgang von der Umstellung der Kultur auf das neue Leitmedium Zeitung. Nicht nur wird mit diesem Medium (in Schrift, zunehmend auch in Bildern) die unmittelbare Gegenwart dokumentiert. Auch wird auf Seiten der Zeitungsleser der Blick für die dokumentarische Beobachtung der Gegenwart geschult. Die avantgardistischen Ästhetiken führen vor, wie weit sie bereits in diesen dokumentarischen Blick auf die Gegenwart eingeübt sind. Das Prinzip Zeitung rutscht soweit in sie hinein, dass sich die Werke dem Erfolgsmedium gestisch angleichen. Sie stellen Informationsbruchstücke so nebeneinander, dass ein Mosaik entsteht, das der Leser erst ordnen muss, um ein Bild der Welt (und ein Weltbild) herzustellen. Die dokumentarische Welle nimmt mit Erwin Piscators Inszenierung von Alfons Paquets "Fahnen" 1924 ihren Ausgang vom Theater. Hier wird ein Chicagoer Arbeiteraufstand von 1886 mit – wie Piscator es selbst kommentiert hat – "großen Mitteln" als "Synthese" von "Dokument und Kunst" auf die Bühne gebracht. Während in der Mitte auf einer Drehbühne gespielt wird, werden links und rechts Schlagzeilen, Bilder und Statistiken auf Tafeln projiziert. Ein Jahr später überbietet Piscator das "Fahnen"- Projekt mit der Inszenierung von "Trotz alledem!". "Die ganze Aufführung", schreibt er im Rückblick, "war eine einzige Montage von authentischen Reden, Aufsätzen, Zeitungsausschnitten, Aufrufen,

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Flugblättern, Fotografien und Filmen des Krieges und der Revolution, von historischen Personen und Szenen. Und das im Großen Schauspielhaus, das einst Max Reinhardt gebaut hatte, um das bürgerliche (klassische) Drama zu inszenieren."1 In diesem kurzen Kommentar ist zusammengeführt, was die Dokumentarästhetik der 20er Jahre von Grund auf bestimmt. Erstens die Idee, sich vom traditionellen bürgerlichen Kunst-, Theater- und Literaturverständnis loszusagen und neue, moderne, der unmittelbaren Gegenwart angemessene Spiel- und Erzählformen zu erfinden. Zweitens die damit verbundene Fixierung auf Dokumente, Photographien, Filmschnipsel, Gegenstände, Protokolle, Fakten, Zahlen, O-Töne, in denen sich die unmittelbare Gegenwart verkörpert. Drittens das euphorische, manische Sammeln, Aufzeichnen, Ausschneiden, Einkleben, Exzerpieren, Abphotographieren und erneute Archivieren dieser Materialien, über das Kontakt mit der Gegenwart gehalten wird. Viertens das Montieren der gesammelten Stücke zu einem neuen Werkstück, das einen schärferen Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse ermöglichen soll. Davon wird nicht nur die Theaterarbeit von Erwin Piscator angetrieben. Von ihr leben auch die Reportagetexte, die Zeitstücke und die Dokumentarromane, die sich ihre Stoffe aus der unmittelbaren Gegenwart besorgen und sie mit Zitaten, Paraphrasen und Zahlenkolonnen aus der Presse und aus der einschlägigen Fachliteratur authentifizieren. "Man lasse sich nicht dadurch täuschen, dass dieses Buch auf dem Titelblatt als Roman bezeichnet wird", heißt es in der "Gebrauchsanweisung", die Erik Reger 1931 der "Union der festen Hand" voransetzt.2 Damit gibt er nicht nur einen Lektürehinweis für das eigene Buch. Er markiert auch einen ganz grundsätzlichen Trend, der die Ästhetiken der Zeit bestimmt und über den immer neue Mischformen von Fiktion und Non-Fiktion hervorgebracht werden. Und er markiert die Durchsetzung der Sachlichkeit, der Kälte und Coolness als Habitus der Intellektuellen und Künstler, die der kulturellen Modernisierung nicht mehr mit der Beschwörung der guten alten Zeit begegnen, sondern Gegenwartsfitness durch Medienkompetenz beweisen wollen.3 In der Dokumentarästhetik der 20er Jahre geschieht das allerdings (anders als in der so genannten Neuen Sachlichkeit) nicht mit einem coolen Einverständnis mit dem Stand der Dinge. Wo Fakten dokumen1

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Erwin Piscator, "Das dokumentarische Theater" (1929), in: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, hg. v. Manfred Brauneck, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 268f. Erik Reger, Union der festen Hand, Berlin 1931, S. 7. Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. 268

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tiert werden, geht es immer darum, die Wirklichkeit so zu demontieren und neu zu montieren, dass sie ihr wahres Gesicht zeigt. Egon Erwin Kisch, der vielleicht am gültigsten den neuartig coolen und zugleich kritischen Abenteurer und Dokumentator der Jetztzeit verkörpert, hat dafür im Vorwort zum "Rasenden Reporter" 1925 die berühmte Formel geprägt: "Der Reporter hat keine Tendenz, nichts zu rechtfertigen und keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verlässlich, wie sich eine Aussage geben lässt, – jedenfalls ist sie (für die Klarstellung) wichtiger als die geniale Rede des Staatsanwalts oder des Verteidigers."4 Kisch ruft damit nicht zur Indifferenz auf. Die Formel ist mit der vollen Überzeugung formuliert, dass die Wirklichkeit nicht mehr von außen kritisiert werden muss. Sie braucht Autoren, die sie auf so raffinierte Weise dokumentieren, dass ihre Verlogenheit und Verlorenheit wie von selbst zum Vorschein kommt.

2. Die zweite große dokumentarische Welle ergreift die Literatur der sechziger Jahre. Einmal mehr geht es um die Herausbildung einer operativen Literatur, die in den gesellschaftlichen Prozess eingreift, um etwas zu verändern. Und auch diesmal gilt: Um diese Veränderung in Gang zu setzen, muss man die Wirklichkeit demontieren und neu montieren. Dabei muss man Fakten präsentieren und Tatsachen aussprechen, die bislang unterdrückt worden sind. Auch diesmal grenzt man sich vom gängigen Literaturbegriff ab. Den literarischen Institutionen, Rollenmodellen und Genreregeln wird entgegengesetzt, was sich rein vom Stoff her definiert und sich als gegenwartsbezogene Materialarbeit versteht, die nicht mehr vom Autor quasi-genialisch geschöpft, sondern viel handwerklicher und viel kühler gesammelt und montiert wird. Dafür gibt einmal mehr der Journalismus die entscheidenden Beobachtungsmuster, Recherchestrategien, Schreibweisen und Erzählformen vor. Nicht zufällig spielt Erwin Piscator auch für diese zweite Welle eine wichtige Rolle. Mit seiner Inszenierung von Rolf Hochhuths Stück der "Stellvertreter" von 1963, in dem das Schweigen des Vatikans angesichts der Vernichtung des jüdischen Volkes in Europa thematisiert wird, setzt die große dokumentarische Mode ein. Piscator inszeniert 1964 mit Heinar Kipphardts aus Untersuchungsprotokollen gefertigtem Stück "In der Sache J. Robert Oppenheimer" und der "Ermittlung" von Peter Weiss (die aus collagierten Zeugenaussagen besteht, die Weiss unmittelbar

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Egon Erwin Kisch, Der rasende Reporter, Berlin 1925, S. VII. 269

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zuvor beim Frankfurter Auschwitz-Prozesses aufgezeichnet hatte) zwei weitere, in der Bundesrepublik heftig diskutierte Dokumentarstücke. Damit wird – in unterschiedlichen Verarbeitungsmodellen von Dokumenten, aber immer mit dem Anspruch, ohne Scham, ohne erneutes Verleugnen und ohne Verkitschung die historische Wirklichkeit in aller Kälte und Klarheit zu dokumentieren - die Bühne zur zentralen Instanz für eine kritische Gegenöffentlichkeit. Die Dokumentarstücke leuchten mit ihren Beiträgen zum Dritten Reich, zum Holocaust und zur unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur die bundesrepublikanischen Tabuzonen aus. Sie wenden sich auch den Notstandsgesetzen und dem Vietnamkrieg zu (Max von der Grün, Günter Wallraff, Peter Weiss) und testen revolutionäre Stimmungen und Potentiale aus (Hans Magnus Enzensberger, Tankred Dorst, und einmal mehr: Peter Weiss). Um diese Gegenöffentlichkeit geht es auch der dokumentarischen Prosa. Zum einen soll sie – wie Alexander Kluge es exemplarisch in seiner Auseinandersetzung mit dem Stalingrad-Trauma in "Schlachtbeschreibung" tut oder Friedrich Christian Delius mit der Eindampfung des Protokolls eines Wirtschaftstages der CDU in "Wir Unternehmer" vorführt – den Authentizitätscharakter von Aussagen und Dokumenten entlarven, die als "echt" gehandelt werden. Zum anderen soll sie denen eine Stimme verleihen, für die in der bürgerlichen Medienöffentlichkeit kein Platz vorgesehen ist. Wenn Erika Runge in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre anlässlich der Stilllegung einer Zeche nach Bottrop fährt, um mit den Bewohnern Interviews über die dortigen Lebensverhältnisse zu führen, dann geht es genau darum: den Arbeiterinnen und Arbeitern Gehör zu verschaffen. Weil Runge ihre Fragen aus den Interviews wegkürzt und die Aussagen der Interviewten dramaturgisch leicht bearbeitet, sprachlich glättet und damit die eigenen Eingriffe unkenntlich macht, lesen sich die "Bottroper Protokolle" wie kleine dramatisierte Monologe, in denen Betriebsratsvorsitzende, Pfarrer, Hausfrauen, Rektoren, Verkäufer, Putzfrauen, "Beat-Sänger", Kaufmännische Angestellte endlich erzählen dürfen, was vorher niemand hören wollte. "Hier in diesem Buch kommen sie zu Wort", schreibt Martin Walser in seinem Vorwort zu den "Bottroper Protokollen". "Wer diese Aussagen und Erzählungen gelesen hat, wird wünschen, dass Erika Runge sich wieder auf den Weg macht mit ihrem Tonbandgerät, um weitere Bottrops aufzunehmen, weitere von böser Erfahrung geschärfte Aussagen, weitere Seufzer, Flüche, Sprüche und Widersprüche, weitere Zeugnisse einer immer noch nach minderem Recht lebenden Klasse."5

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Martin Walser, "Berichte aus der Klassengesellschaft", in: Erika Runge, Bottroper Protokolle, Frankfurt a. M. 1972, S. 9f. 270

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Als drei Jahre nach den "Bottroper Protokollen" (mitten in der von Runges Erfolg ausgelösten Protokoll-Mode) Klaus Tscheliesnig seine transkribierten, bearbeiteten und mit weiteren Dokumenten, Statistiken und Zeitungsartikeln versehenen "Lehrlingsprotokolle" herausgibt, streicht Günter Wallraff in seiner Vorbemerkung zur ersten Auflage des Buches den operativen Anspruch noch deutlicher heraus. Wallraff hatte selbst mit seinen "Industriereportagen" einen Bestseller zum dokumentarliterarischen Kanon beigesteuert. "Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben" (so lautete der Untertitel) hatte er in der Recherche- und Schreibtradition von Egon Erwin Kisch nicht nur vor Ort und undercover mit den anderen Arbeitern Gespräche geführt. Er hatte auch seinen eigenen Körper als Medium eingesetzt, um an sich spürbar zu machen, was die Arbeiter aushalten müssen.6 An Tscheliesnigs "Lehrlingsprotokollen" lobt er dementsprechend, dass der Interviewer die Interviewten "nicht in literarischer Manier ausgebeutet" habe. Er sei selbst Lehrling gewesen und habe deshalb "ein Buch mit Lehrlingen, über Lehrlinge und für Lehrlinge zusammengestellt; er hat den Blick der Befragten auf Veränderung hin geschärft und mit ihnen zusammen Möglichkeiten einer politischen Organisation (hier im Rahmen der SDAJ) erprobt. […] Die Lehrlinge, denen man an ihrem Arbeitsplatz gemeinhin 'den Mund verbietet', finden hier zu erstaunlichen Aussagen."7 Mit diesem Einsatz (und diesem Lob) ist der äußerste Punkt der Operativität erreicht: Der Autor verlässt sich nicht mehr darauf, dass sich die wirklichen Verhältnisse durch die Dokumentation so weit bloßstellen, dass auf Seiten der Leser (oder Hörer oder Zuschauer) der Wille zur Veränderung wie von selbst aktiviert wird. Der Autor muss den Prozess des Dokumentierens vielmehr so organisieren, dass denen, die er zum Sprechen bringt, die Möglichkeit gegeben wird, sich ihrer unhaltbaren Situation bewusst zu werden. Und in einem zweiten Schritt muss er dann auch noch dabei helfen, den Widerstand gegen jene zu organisieren, die für die Unhaltbarkeit der Zustände verantwortlich sind. Deutlich wird an diesem äußersten Punkt der Operativität: Der Dokumentarist arbeitet als politischer Stratege, der sich gegenüber den Stoffen möglichst kalt, im Hinblick auf das politische Programm aber möglich heiß verhält. Er setzt sein Wissen, sein Bewusstsein und seine Medienkompetenz ein, um eine Gegenöffentlichkeit zu etablieren, in der die herrschenden Diskurse von den unterdrückten unterminiert werden.

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Günter Wallraff, Industriereportagen. Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben, Reinbek bei Hamburg 1970. Günter Wallraff, "Statt eines Vorworts", in: Lehrlingsprotokolle, hg. v. Klaus Tscheliesnig, Frankfurt a. M., S. 7f. 271

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3. In der dritten Welle der Dokumentarliteratur wird vor allem dieser Avantgardismus und mit ihm das grundlegende Rollenmodell für Dokumentaristen bewahrt. Sie wollen sich von den "warmen", einfühlenden, psychologisierenden Literaten unterscheiden, indem sie sich an die Stoffe, die Materialien und die Oberflächen halten. Sie wollen die Wirklichkeit erkunden statt Welten erfinden. Dafür sammeln, archivieren sie, was sich finden lässt, wenn sie auf die Straße gehen, Zeitungen lesen, Musik hören, Filme sehen, Gespräche mitschneiden, Fragen stellen. Und sie kombinieren und montieren das Gesammelte, um darüber den Blick auf die Wirklichkeit so justieren und fokussieren zu können, dass etwas Neues sichtbar wird. Die Zeit dafür ist gut. Mit dem Fall der Mauer öffnen sich in Deutschland nicht nur neue Gebiete, die erkundet werden können. Auch gehen mit der Aufhebung der Trennung von Ost- und Westblock die alten politischen Koordinaten verloren, an denen die Weltbilder gefestigt und politische (und ästhetische) Programme ausgerichtet werden konnten. Ausgerufen wird das "Ende der Geschichte" (Fukuyama) und die Aufhebung der linearen Zeit (Baudrillard), in der jedes Ereignis seinen festen Platz und seine historische Bedeutung hatte. Nicht zuletzt lösen sich durch die PC- und Internetrevolution die alten medialen Sicherheiten auf: Ob das Buch, die Zeitung, das Fernsehen, die Musik und der Film in ihren alten Formaten und ihren traditionellen Produktions-, Distributionsformen überhaupt überleben werden, wird allgemein bezweifelt. Überdies werden die Schnittstellen von Mensch und Maschine derart optimiert, dass (nicht nur in Science-Fiction-Romanen) die unmittelbare Verbindung von beiden schon für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt wird. Und so scheint es, als ob erst einmal alles neu recherchiert und gesammelt wird, um überhaupt zu wissen, mit was man es zu tun hat.8 Zum dritten Mal gibt dabei der Journalismus die entscheidenden Impulse. In den neunziger Jahren boomt der Markt für Presseprodukte. Das Geld, das immer mehr Unternehmen in immer größeren Mengen über Börsengänge verdienen, wird in das Anzeigengeschäft gepumpt. Die Folge: Mit dem Anzeigenplatz nimmt der Platz für Texte zu. Für viele Zeitungen und Zeitschriften bedeutet das, die Kulturteile auszuweiten und Platz für neue experimentelle journalistische Formen zu schaffen. Und das wiederum bedeutet für Journalisten und Literaten, neue Formen aus-

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Vgl. Stephan Porombka, "Am Ende nicht vorbei. Erlösungs- und Ablösungsphantasien rund um die Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts", in: Zeitschrift für Germanistik 1/2000, S. 95-115. 272

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zuprobieren und vom Ausprobieren durchaus auch leben zu können. Für die dokumentarische Literatur öffnet sich damit ein Feld, auf dem mit den Formen und Rollenmodellen, die aus den 20er und 60er Jahren übernommen werden, auf ganz verschiedenen Ebenen experimentiert werden kann. Das vielleicht einflussreichste journalistische Forum dieser Entwicklung sind die Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die zwischen 1998 und 2000 erscheinen und mit denen die FAZ nicht nur einen neuen Regionalteil entwickeln, sondern auch journalistisch etwas ganz Neues versuchen will. Auf den Berliner Seiten vermischen sich nicht nur in allen Sparten literarische und journalistische Schreibweisen. Auch werden die Spielformen dokumentarischer Literatur renoviert. Die Webcam und die Berliner Chronik werden dabei fest installiert. Für die Webcam muss sich der Autor in einen "Aufzeichungsapparat" verwandeln, der ein Vorkommnis oder ein Geschehnis protokolliert, ohne eine eigene Meinung oder eigenes Wissen beizusteuern. Zwischen 2400 und 3000 Zeichen darf er für die pointierte Beschreibung einer Szene verwenden, für die es kein Vorher und kein Nachher gibt, keinen Konjunktiv, kein Ausrufungs- und kein Fragezeichen: "Es gibt kein 'vielleicht' oder 'anscheinend' in dem, was eine Kamera oder ein Mikrofon aufzeichnet, sondern nur das, was da ist."9 Weil das, was da ist, auch nicht nach großen, sensationellen und kleinen, unbedeutenden Ereignissen sortiert werden soll, bietet jeder Webcamtext einen kleinen, fast beliebigen Ausschnitt aus der unmittelbaren Gegenwart wie eine Kamera, die für einige Sekunden oder Minuten einen Platz, einen Durchgang oder das Innere eines Ladens filmt. Vor dem Text steht die Uhrzeit und der Ort des "Aufnahmebeginns", am Schluss steht die Uhrzeit des Aufnahmestops und das Autorenkürzel. Die Webcam trainiert die Autoren, alles wegzulassen, was man nicht unmittelbar beobachtet hat. Und zugleich zwingt sie die Autoren, genau das, was sie protokollieren, so aufzuschreiben, dass sich eine kleine geschlossene Szene ergibt. So wird mit ihr das dokumentarische Schreiben trainiert, dem es nicht nur darum geht, Wirklichkeit "einzusammeln" und in Material zu verwandeln, sondern dieses Material auch so zu arrangieren, dass es sich in etwas verwandelt, was die Wirklichkeit neu sichtbar macht. Wer alle Webcams gesammelt hintereinander liest, bekommt damit ein Kompendium der unmittelbaren Gegenwart, in dem über kleine Splitterstücke der Berliner Alltag um die Jahrtausendwende quasiethnologisch ausgeleuchtet wird.

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Berlin im Licht. 24 Stunden Webcam, hg. v. Stefanie Flamm u. Iris Hanika, Frankfurt a. M. 2003, S. 258. 273

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Liest man die Berliner Chronik dazu, die ebenfalls auf den Berliner Seiten der FAZ Tag für Tag erschienen ist, wird diese Sammlung von Beobachtungen noch durch eine Sammlung von Zeitungslektüren und kurzen Reflexionen ergänzt. Hier werden von einem Autor Ereignisse aneinandergereiht, die den aktuellen Meldungen entnommen sind. So wird im ersten Eintrag vom 1.9.1999 kurz berichtet, "was zwei Kanuten auf dem und im Müggelsee erlebten"; es wird mitgeteilt, dass die Schulzeit wieder begonnen hat, dass 1998 sechs Kinder auf Berliner Straßen umgekommen, dass 1057 verletzt worden sind; es werden Sätze von Staatsminister Naumann und Bundeskanzler Schröder zitiert; es wird ein Hinweis auf eine Aktion der Stadtreinigung gegeben; schließlich wird am Ende gemeldet, "Hertha BSC werde sich mit dem von München nach Großbritannien abgeschobenen Abwehrorganisator und früheren Nationalspieler Thomas Helmer verstärken."10 Gleich der erste Satz dieses Eintrags weist darauf hin, um was es bei dieser Zusammenstellung und allen weiteren Einträgen in die Chronik gehen wird: "Was zwei Kanuten auf dem und im Müggelsee erlebten, bezeichnet die Großwetterlage."11 Zwar werden hier nur Meldungen aus dem Newsticker aufgelistet, doch werden sie zugleich vom Dokumentaristen so arrangiert, dass sich durch die Montage hindurch etwas Symptomatisches über die Großwetterlage, also über den Zustand der Berliner Kultur ablesen lässt. Die Chroniktexte und Webcams lassen sich lesen, als wären sie den Notizbüchern entnommen, mit denen andere Autoren arbeiten, die dokumentarische Literatur schreiben: Zum Beispiel Iris Hanika, die nicht nur die Webcam für die Berliner Seiten redaktionell begleitet, sondern auch selbst eine Textreihe unter dem Titel "Chronik" verfasst hat.12 Oder auch Max Goldt, der sich aus den Alltagsbeobachtungen und Lektüren besonders jene herausgreift, an denen für ihn die schräge Symptomatik des Unsyptomatischen sichtbar wird, um sie zu einem "Kulturtagebuch" zu verarbeiten.13 Oder Alexander Kluge, der mit dem dokumentarischen Schreiben in den sechziger Jahren begonnen und seither nicht mehr aufgehört hat, über die literarische Eigentümlichkeit des Dokumentarischen und seine Erkenntniskraft nachzudenken: 2002 veröffentlichte er seine 2000 Seiten umfassende "Chronik der Gefühle", in denen er Texte aus verschiedenen Arbeitsphasen versammelt, worin er in immer neuen Anordnungen mit gesammelten Materialien erzählerisch experimentiert, um aus den kleinen Anekdoten und Geschichten das Grunderzählprinzip der 10 11 12 13

Berliner Chronik 1. September 1999 – 31.12.2000, Berlin 2002, S. 15f. Ebd., S. 15. Iris Hanika, Das Loch im Brot. Chronik, Frankfurt a. M. 2003. Vgl. Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 15ff (Abschnitt: "Kulturtagebuch") 274

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großen Geschichte zu gewinnen. Mit diesen Texten und mit seinen Interviews, die er für eine von ihm selbst produzierte Fernsehsendung geführt hat, ist er in den neunziger Jahren zum großen Vorbild des dokumentarischen Schreibens avanciert, das auf Wirklichkeit zielt, doch immer zugleich mehr als die unmittelbare Wirklichkeit haben will: größere Zusammenhänge, umfassende Erkenntnisse, erklärende Theorien, neue Treibsätze, um weiterzuforschen und weiterzuerzählen.14 Die Interviews, die Kluge für das Fernsehen geführt hat, stehen in der Tradition der Dokumentarästhetik, gerade weil sie völlig reduziert arrangiert sind. Während der Interviewer – also Kluge selbst – unsichtbar bleibt, aber aus dem Off zu hören ist, bleibt die Kamera die ganze Zeit über starr auf die Interviewten gerichtet. Ihnen werden die Aussagen nicht als knappe Statements abgefordert. Als Experten sollen sie ausführlich (und auf Nachfrage noch ausführlicher) Sachverhalte erklären. Dazwischen werden Statements isoliert und in Laufschrift über den Bildschirm geblendet. Dokumentiert werden auf diese Weise Gespräche in ihrer ungeplanten Ausführlichkeit, mit ihren Abschweifungen und kurzen Unterbrechungen. Kluge interessiert sich nicht für die geschliffene, präzise Antwort, sondern für die Dokumentation des Prozesses, in dem über das Medium Gespräch Wissen transformiert wird und Gedanken weiterentwickelt werden. Für das Interview haben sich die Dokumentaristen der neunziger Jahre ohnehin stark interessiert. Nicht nur im reduzierten Sinn, wie Kluge es im Fernsehen als authentisches Forschungsgespräch vorgeführt hat, sondern als Spielform, über die man die vor allem im unterhaltenden Journalismus üblichen Interviewformen dekonstruieren oder zumindest dokumentarisch weiterentwickeln kann. Gespräche werden dabei als Versuchsanordnungen verstanden, bei denen man tatsächlich nicht weiß, zu welchem Ergebnis sie führen. So haben die Interviewer für die Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung ihre Gespräche mit Prominenten auf ein bestimmtes Stichwort ausgerichtet (Angst, Schmerz, Wüste, Männer, Hingabe…).15 Und für das Magazin der Süddeutschen hat Moritz von Uslar das 100-Fragen-Interview entwickelt, das ebenfalls mit Prominenten in einer so großen Geschwindigkeit abgearbeitet wird, dass sich die Interviewpartner dadurch nicht nur zu unkontrollierten Antworten hinreißen lassen. Auch entwickelt sich ein Rededuell, dessen

14 Vgl. Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, hg. v. Christian Schulte u. Winfried Siebers, Frankfurt a. M. 2002. 15 Wieso fragen Sie das? Ungewöhnliche Gespräche, hg. v. Rebecca Casati u. Alexander Gorkow, Frankfurt a. M. 2004. 275

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Geschwindigkeit die Beteiligten zuweilen in eine Rage führt, die sie dazu bringt, die Interviewsituation sprengen zu wollen.16 Deutlich wird an diesen Interviewformen vor allem eins: Sie gehen nicht mehr davon aus, dass sich die Wirklichkeit und die Wahrheit bereits irgendwo befindet und nur eingeholt werden muss, indem man fragt und antworten lässt. Über diese Interviews werden Konstellationen entworfen. Es werden kleine Experimente gestartet. Mit ihnen und durch sie hindurch will man entweder selbst Wirklichkeit und Wahrheit hier und jetzt herstellen, indem man im emphatischen Sinn etwas ganz Neues passieren lässt; oder man versucht durch die Interviews hindurch ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich durch das Sprechen so etwas wie ein sich immer weiter verdichtender Zusammenhang herstellt, der dann Sinn genannt und zuweilen mit Wirklichkeit verwechselt wird. Jürgen Teipel folgt diesem Modell, wenn er loszieht, um mit den mehr oder weniger oder auch gar nicht (mehr) berühmten Protagonisten der deutschen Punk-, Post Punk-, New Wave- und Neue deutsche WelleSzenen Gespräche zu führen, die er auf Band aufnimmt (1000 Stunden!), die er abtippt und dann zusammenwirft, um sie wieder auseinander zu nehmen und neu zu montieren.17 Was dabei herauskommt, ist der Versuch, die Popmusikgeschichte aus der Perspektive derer zu erzählen, die diese Form der Jugend- und Protestkultur initiiert, erlebt und dann auch wieder erledigt und durch etwas Anderes ersetzt haben. Die Statements, die Teipel dafür aneinandersetzt, sind mal zwei Zeilen lang, mal gehen sie über eine halbe Seite. Ein Wort gibt hier das andere, eine Stimme bezieht sich auf eine andere, ohne dass wirklich miteinander gesprochen wird. Erfasst wird damit die Arbeit eines Kollektivgedächtnisses, inszeniert als großes gemeinsames, rhythmisches Murmeln. Vorgeführt wird das Erinnern selbst, über das sich so etwas wie Wirklichkeit herstellt und auch schnell wieder verflüchtigt. Kathrin Röggla – vielleicht die symptomatischste und zugleich avancierteste Dokumentaristin der deutschen Literatur an der Jahrtausendwende – treibt dieses Verfahren auf die Spitze. Wer ihre Texte liest und ihre (Radio-)Stücke hört, ist mit einer Form des dokumentarischen Schreibens konfrontiert, das sich immer weiter an jene diskursiven Mechanismen, aber auch ganz materiell medialen Grundlagen herantastet, durch die Kultur Wirklichkeit oder Wahrheit herstellt. Rögglas Witz ist dabei: Sie löst sich mit ihrem Aufschreibeverfahren immer weiter von der Frage nach dem Sinn. Sie interessiert sich für den Bauplan der Sinnmaschinen, die selbst sinnlos sind. In ihren Texten tauchen sie 16 Moritz von Uslar, 100 Fragen an, Köln 2004. 17 Jürgen Teipel, Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt a. M. 2001. 276

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als Plappermaschinen auf. In "Wir schlafen nicht" hat Röggla das Plappern des New Economy-Betriebs festgehalten. Hier sprechen "die onlineredakteurin", "die keyaccount managerin", "die praktikantin", "der senior associate", "der partner" etc., Typen also, die in kleinen Monologen und Statements den engen Raum der von ihnen wahrgenommenen und mit Bedeutung versehenen Welt durchschreiten: "ja, wirklich losheulen kannst du nicht. du musst dich zusammenreißen, denn das geht ja nicht. man muss schon ein wenig kontrolle über sich haben. man muss ja nicht gleich ein kontrollgebirge sein, aber etwas größer soll es schon sein, das felsmassiv, das man zur verfügung hat mit einfahrt und ausfahrt, die man eben auch manchmal geschlossen zu halten hat im arbeitsalltag."18 Im emphatisch-dokumentarischen Sinn ist das, was hier gesprochen wird, echt. Röggla ist selbst mit dem Mikrofon unterwegs gewesen, um die O-Töne aufzunehmen, auseinander zu nehmen und so zusammenzusetzen, dass sich auch diesmal ein großer murmelnder Polylog ergibt – aber einer, bei dem sich deutlich das Klappern vom Plappern hören lässt. Röggla will ihre Sprecher mit diesem Verfahren keineswegs denunzieren. Dass ihre Stimmen nicht sinnvoll sprechen, hat weniger mit dem Betrieb der New Economy und vielmehr mit der Sprache als autopoietischem System und damit auch mit dem Menschen als zwanghaft sprechendem, also plapperndem Wesen zu tun. Folgerichtig hat sie ihre Sammlungen von Sätzen und Sprachfetzen für ihre Hörstücke als Material benutzt: Hier wird das Reden erst zu Gerede und mischt sich schließlich mit den Audioeffekten, die über die digitalen Maschinen eingespielt werden.19 Auch hier gilt: Es geht nicht um Sinn, sondern um die Materialität des Klangs, der zwar menschlich ist, dem aber letztlich jede Menschlichkeit fehlt. Liest man die Aufzeichnungen, die Röggla in New York fixiert hat, als das World Trade Center durch einen Terroranschlag zerstört und die ganze Metropole und die Welt drumherum verstört worden ist, bekommt man genau diesen Wechsel zu spüren: Röggla arbeitet als eine Art mechanisches Aufzeichnungsgerät, das mitprotokolliert, was gerade jetzt passiert.20 Hier wird nicht moralisiert; hier werden auch keine Kontexte eröffnet, die das Geschehen über den Moment hinaus ins Große und Ganze der Geschichte einordnen und dadurch verständlich machen wollen. "really ground zero" markiert nicht nur den Ort des Attentats. Markiert ist auch der Nullpunkt, von dem aus – nach der Sentenz, die nach dem 11. September 2001 geprägt worden ist – nichts mehr so war 18 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht, Frankfurt a. M. 2004, S. 147. 19 Vgl. die Liste von Rögglas Audioprojekten unter www.kathrin-roeggla.de 20 Kathrin Röggla, really ground zero. 11. september und folgendes, Frankfurt a. M. 2001. 277

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wie vorher. Nicht zuletzt ist dadurch der Nullpunkt der Literatur markiert, an dem nicht mehr erzählt wird, sondern überhaupt erst begonnen wird, zu sammeln, wahrzunehmen, was passiert, um dann irgendwann vielleicht einmal begreifen zu können, was überhaupt geschehen ist.21

4. Genau das definiert die dokumentarische Literatur an der Jahrtausendwende; und genau das unterscheidet sie von den beiden anderen Dokumentarkonjunkturen in der Literaturgeschichte des letzten Jahrhunderts: dass diese Literatur vom Nullpunkt aus operiert! Alle drei Wellen der dokumentarischen Ästhetik reagieren auf Medienwechsel: auf den Boom der Massenpresse die erste, auf die Einführung von Tonbändern, Fernsehen und Video die zweite, auf die Computerisierung und Vernetzung der Kultur die dritte. Im ersten Schub entdeckt die Literatur das neue Medium als Agitationsmittel, mit dem die Künste operieren können, um politische Positionen lauter und größer und schneller bekannt zu machen und durchzusetzen: dokumentarische Literatur ist in den zwanziger Jahren deshalb vor allem immer agitatorische Literatur, die sich in den politischen Kampf aktiv einmischen will. Im zweiten Schub entdeckt die Literatur die Scheinhaftigkeit der von den Massenmedien hergestellten Wirklichkeit und versucht, den falschen Schein durch eine auf eigene Faust recherchierte Wirklichkeit zu durchbrechen. Die Texte haben dabei nicht mehr den alten agitatorischen Charakter, sie zielen vielmehr auf die Veränderung des Bewusstseins. Die dokumentarische Literatur der sechziger Jahre will deshalb vor allem operative Literatur sein. Sie will der Motor und Medium der Aufklärung und Bewusstwerdung sein, von der aus der endlich wieder denkende Mensch seine eigene Stimme hört, seine eigene Geschichte findet und seine eigene Zukunft zu gestalten beginnt. Liest man die dokumentarische Literatur an der Jahrtausendwende, stellt man fest: Ihr ist das Agitatorische ebenso wie das Operative verloren gegangen. Auch in diesem Sinn operiert sie am Nullpunkt. Keiner der Texte weiß Bescheid, was immer schon richtig war und in Zukunft immer richtig sein wird. Der dokumentarischen Literatur an der Jahrtausendwende ist die politische Sicherheit abhanden gekommen. Sie zeigt sich von dem, was gerade jetzt passiert, eher irritiert. Die Verwandlung der Kultur scheint so grundsätzlich und umfassend, dass man es schlecht mit etwas Bekanntem vergleichen und deshalb in die richtigen Formeln und in den rechten Zugriff auf Welt und Wirklichkeit über-

21 Vgl. Dirk Knipphals, "Am Nullpunkt des Erzählens", in: taz, 11.1.2008, S. 15. 278

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setzen kann. Die dokumentarische Literatur der Gegenwart versucht deshalb die Wirklichkeit entweder zu ertasten oder Verfahren ihrer Herstellung experimentell in Gang zu setzen, um von dort aus die strukturellen Mechanismen der kulturellen Produktion von Wirklichkeit zu verstehen. So ist sie auf ganz andere Weise – wie die vorauslaufenden Wellen der zwanziger und sechziger Jahre auch – auf die Veränderung von Wirklichkeit ausgerichtet. Nur versucht sie in der Gegenwart die Algorithmen der Veränderung zu bestimmen und weiterzuentwickeln. Sie ist genau deshalb nicht mehr so verspannt, wie es die dokumentarische Literatur bisher gewesen ist. Vielleicht macht sie häufig den Eindruck, allzu locker sein, wenn sie zu spielerisch und zu experimentell verfährt und wenn sie zu emphatisch von einer neuen Machbarkeit von Wirklichkeit Auskunft geben will. Aber das ist ihr State of the Art. Sie muss seismographisch eine Gegenwart begleiten, in der die Herstellbarkeit von Realitäten auf verschiedenen Ebenen selbst zur Realität geworden ist. Unter diesen Bedingungen muss sich das Prinzip des Dokumentarischen notwendig verändern. Es muss selbstreflexiver werden. Es muss ironischer werden. Es muss mit den Mitteln des Dokumentarischen selbst zu spielen beginnen, um sich über das Spiel selbst zu erfinden. "Really ground zero" zu sein, heißt jetzt, alles vom Nullpunkt aus zu sehen, aber immer sich selbst mittendrin. Man muss ins Netz schauen, um zu verstehen, wie grundsätzlich sich dieses dokumentarische Selbstverständnis nicht nur durchgesetzt hat, sondern das kulturelle Agieren in und mit den interaktiven Medien grundiert. Wenn sich die Nutzer im Mitmachnetz, im Web 2.0, selbst in allen Einzelheiten und Momenten zu dokumentieren beginnen und dabei signalisieren, dass sie sich in aller Ernsthaftigkeit selbst spielen, dann ist die dokumentarische Ästhetik an einem Punkt angelangt, an dem man fürs Erste nicht mehr wissen kann, in welchen Zusammenhängen die Kategorie des Dokumentarischen überhaupt noch sinnvoll benutzt werden könnte. So zeichnet sich im Netz der größte Erfolg und zugleich das nahe Ende der dritten großen Phase der dokumentarischen Ästhetik ab. Die nächste, die vierte Phase wird dann mit Sicherheit in einem anderen Medium, vor allem aber in einer anderen Wirklichkeit zu dokumentieren sein.

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IDENTITÄTEN IM REMIX. LITERARISCHES SAMPLING IM FADENKREUZ VON POSTMODERNE UND POSTKOLONIALISMUS FLORENCE FEIEREISEN

Thomas Meinecke ist durchaus kein unbeschriebenes Blatt in der deutschen Literaturszene. Spätestens seit der Veröffentlichung seines Romans Tomboy (1998) wird er von Lesern und Kritik als Vertreter der deutschen Popliteratur verehrt. So bezeichnet Literaturkritiker Hubert Winkels seine Texte als "Beispiele einer hochreflektierten, formbewussten und durchaus experimentellen Gegenwartsliteratur".1 Aufgrund seines Cultural Studies Mixes der Identitäten werden seine diesem Aufsatz zugrunde liegenden Romane bereits international in Germanistik- und German Studies-Seminaren gelesen: Tomboy zum Beispiel gehört an einigen Graduate Departments in den USA bereits zum kulturwissenschaftlichen Kanon. Interessanterweise gilt der Suhrkamp-Autor trotz seines Geburtsjahres 1955 als "jüngerer Autor", als "Jungschreiber". Wenn Meineckes Schriftstellerei in der Vergangenheit mit DJ-ing verglichen wurde, so ist dies nicht nur auf eine hippe Vermarktungsstrategie zurückzuführen, sondern auch auf Interviews mit dem Autor selbst, in denen er immer wieder auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen seinen literarischen Produktionsmethoden und dem Plattenauflegen hinweist: Man nimmt sozusagen einen Pool an Tonträgern mit, ist sich aber am Anfang noch nicht bewusst, in welcher Reihenfolge die dann zum Einsatz kommen werden, weiß aber, dass die sich zueinander irgendwie verhalten, und legt mit einem Mischpult und zwei Plattenspielern los. Unten heraus kommt dann die Summe. Das Schöne ist daran oft, dass nicht ganz klar ist, was man da eigentlich gerade hört, dass man da vermischen kann, dass man sozusagen zitieren kann - so ist es jedenfalls auch bei meinem Schreiben - ohne An- und Abführungsstriche quasi, Dinge überblenden, gleichzeitig laufen lassen kann. […] Das alles ist bei meinem Schreiben ähnlich wie beim Plattenauflegen, nur 1

Hubert Winkels, "Grenzgänger. Neue deutsche Popliteratur", in: Sinn und Form 51, (Juli/August 1999), S. 581-610, hier S. 603. 281

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ist da kein Plattenkoffer, sondern ein Bücherregal, Kisten mit Büchern oder Büchertürme auf dem Fußboden, neben mir oder auf dem Tisch, und da ziehe ich mir das so raus, wie es mir passt, in einer bestimmten Reihenfolge, die schon auch intuitiv abläuft. Natürlich will ich dann etwas erzählen, wie auch ein guter Discjockey eine Erzählung liefert.2

Statt Platten oder kleineren Samples mixt er vorgefundene schriftliche Samples, Exzerpte ganzer Absätze aus seiner jeweiligen Lektüre von Jacques Lacan bis D.H. Lawrence, von Songtexten amerikanischer Punkrockbands bis zu Werbeslogans in seine Romane ein. Intertextualität an sich ist nicht neu in der Literatur: Bei Roland Barthes ist jeder Text ein "Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur".3 Warum man bei Meineckes Literatur von Sampling sprechen kann, ohne seine Texte im Zeichen der Postmoderne unter dem bloßen Label Intertextualität zu subsumieren, liegt, neben der Erfahrung von Autor und Leserschaft mit den Praktiken der DJ-Culture, in der Art und Weise begründet, wie die einzelnen vorgefundenen Samples miteinander verknüpft werden: ein Sound entsteht, der gleichzeitig auch Markenzeichen der Meinecke’schen Popliteratur ist. So sieht Winkels den Unterschied zwischen populärer Literatur, die Versatzstücke des Pop einflechtet und tatsächlicher Popliteratur im "Grad an Reflexivität […] ohne den eigenen, an Pop angelehnten Sound zu vernachlässigen".4 Tatsächlich findet Meinecke "Musik eigentlich besser als Literatur".5 Er ist DJ bei Bayern 2 und Mitglied der von ihm mitbegründeten Band Freiwillige Selbstkontrolle, die bereits vor seiner Omnipräsenz als Schriftsteller (auf Lesungen, als Gastredner auf Kongressen und bei Diskussionsrunden) erfolgreich gewesen war, und deren Stilexperimente (mit beispielsweise Texas-Polkas) seinen schriftstellerischen Werken vorausgingen und diese beeinflussten. In wissenschaftlichen Aufsätzen zu Meineckes Romanen sowie in Rezensionen sind immer auch Zuweisungen zu den Begriffen 'Postmoderne' oder 'Postkolonialismus' zu finden. Ich meine, dass Meinecke

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Daniel Lenz und Eric Pütz, "Ich muss nicht schreiben, um nicht verrückt zu werden: Thomas Meinecke", in: Lebensbeschreibungen. Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern, hg. v. dens., München 2000, S. 145-155, hier S. 148. Roland Barthes, "Der Tod des Autors", in: Performanz hg. v. Uwe Wirth, Frankfurt a.M. 2002, S. 104-110, hier S. 108. Alfonso de Toro, Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005, Köln 2005, S. 118. Martin Büsser, "Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur. Gespräch mit Thomas Meinecke", in: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte. Nr. 6: PopTexte, hg. v. dems. u.a., Mainz 1998, S. 130-135, hier S. 130. 282

ABGEFAHRENE VERFAHREN

nicht nur auf der Inhaltsebene Diskurse der postkolonialen Debatte und Postmoderne einflicht, sondern dass die von ihm verwendeten literarischen DJ-Techniken des Mixings, Remixings und Scratchings vorgefundener Samples auch auf formaler Ebene dem Fundus der Postmoderne und der postkolonialen Debatte entstammen. Durch sein literarisches Sampling kann er die Konzepte 'Original', 'Kopie' und 'Autor' hinterfragen, beziehungsweise zunichte machen. Indem er mit musikalischen Produktionsmethoden, die dem Paralleluniversum der Musik entstammen, verschiedenartigste Samples (von der T-Online-Startseite bis zu Judith Butlers Gender Troubles) in seine Literatur mixt, ist diese 'high' und 'low' zugleich und liefert damit endlich–30 Jahre später–eine Antwort auf "Cross the Border, Close the Gap!", Kulturtheoretiker Leslie A. Fiedlers Forderung nach einer neuen Literatur.6 In Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur erklärt Claudia Breger hybride Identitäten zur Essenz der Postmoderne nach der Dekonstruktion.7 Daher geht es hier vor allem um hybride Identitäten, die in der Postmoderne mit Werkzeugen des Postkolonialismus neue Räume eröffnen, in denen Meinecke seine Figuren ansiedelt, denn "[j]ede Frage, die sich mit Phänomenen wie Andersheit, Identität, Nation, Migrationen, Minoritäten usw. befasst, hängt zwangsläufig und engst mit dem übergeordneten Phänomen der Hybridität zusammen".8 Der dekonstruktivistische Tenor in Meineckes Romanen ist, dass alle Identitäten (nationale, sexuelle, geschlechtliche, ethnische Identitäten sowie Race) in der Gesellschaft Konstrukte sind, die sich aus einem Mix mehrerer Identitäten zusammensetzen. Meinecke konstruiert mithilfe seines literarischen Samplings nicht nur Identitäten, sondern auch Realitäten. Indem er bereits existierendes Material in seine "Faktion" einmixt, schafft er eine eigene postmoderne Realität der Pluralität, weg "from unique truth and a world fixed and found" hin zu "a diversity of right and even conflicting

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Leslie Fiedler, "Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne", in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. v. Wolfgang Welsch, Berlin 1994, S. 57-74. Claudia Breger, "Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes", in: Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung, hg. v. Paul Michael Lützeler, Tübingen 2000, S. 97-126 hier S. 99. Alfonso de Toro, "Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept", in: Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, hg. v. Christof Hamann u. Cornelia Sieber, Hildesheim 2002, S. 15-52, hier S. 15. 283

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versions of worlds in the making".9 Man könnte meinen, Hassan hätte diesen letzten Satz, in dem er Nelson Goodman zitiert, spezifisch auf Meinecke gemünzt.

Identitäten im Remix Hybride Identitäten sind nicht nur Teil des postmodernen und postkolonialen Diskurses in und um Meineckes Romane, sondern auch Voraussetzung und gleichzeitig Essenz des Pops, in dessen Fahrtwasser sich der Autor befindet. Pop wird als Transformation begriffen, "im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten: Klassengrenzen, ethnische Grenzen, oder kulturelle Grenzen".10 Nach Homi K. Bhabha kann Pop als "third space" angesehen werden, in dessen Zentrum die Neuauslotung von Grenzen und damit auch Identitätsfindung steht. Dieser Raum ist durchaus hybrid und dadurch definiert, dass seine Bedeutung ständig neu ausgehandelt werden muss. Ulf Poschardt stellt fest: "Popkultur ist ein Bastard. Pop kann sich nicht entscheiden, ob er Gegenkultur oder herrschende Kultur ist. Meist ist Pop beides und meist ist Pop das Instrument, mit dem aus Gegenkultur herrschende Kultur gemacht wird".11 In diesem Raum der aufeinander prallenden Kulturen vermittelt Pop im Sinne einer "komplexen Austauschbeziehung".12 Kulturelle Konflikte werden nicht überkommen, sondern erklärtes Ziel ist ein produktives Aneinander-Reiben. Durch seine Aktualität und Wechselseitigkeit entzieht sich Pop einer wasserdichten Definition. Im Pop im Fadenkreuz von Postmoderne und Postkolonialismus ist die Identitätsfindung dabei ein Prozess, der durch "stilisierte Wieder-

Ihab Hassan, "Postmoderne heute", in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg.v. Wolfgang Welsch, Weinheim 1988, S. 4756, hier S. 55. 10 Diedrich Diederichsen, "Pop- deskriptiv, normativ, emphatisch", in: Literaturmagazin No.37: Pop Technik Poesie. Die nächste Generation, hg. v. Marcel Hartges u.a., Reinbek 1996, S. 36-44, hier S. 38. 11 Ulf Poschardt, DJ Culture, Reinbek 2001, S. 412. 12 Charis Goer, "Cross the border – face the gap. Äshetik der Grenzerfahrung bei Thomas Meinecke und Andreas Neumeister", in: Text + Kritik: Pop-Literatur X/03, hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Jörgen Schäfer, München 2003, S. 172182, hier S. 173. Goer weist ebenso auf Bhabhas "third space" hin. 9

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ABGEFAHRENE VERFAHREN

holung von Akten zustande kommt".13 Meinecke nimmt dies wörtlich. So stellt jeder Roman einen Remix der nationalen, sexuellen und ethnischen Identitäten dar und wiederholt in abgeänderter Form die Mix-Akte des vorhergehenden Romans, denn, so Meinecke, "[i]ch versuche ja im Grunde genommen immer dasselbe Buch nur immer ein bisschen besser zu schreiben".14 In The Church of John F. Kennedy (1996)15 macht sich der Privatgelehrte Wenzel Assmann angeregt von einer Innsbrucker Magisterarbeit über deutsche Spuren in den USA mit einem Mietwagen auf eine Reise durch die amerikanischen Südstaaten, um schriftliche Dokumentationen über die Deutsch-Amerikaner des 19. Jahrhunderts (besonders das Kathmannsche Arbeiterblatt) zu finden. Als Mix nationaler (und ethnischer) Identitäten stellt Meinecke die Texas-Böhmin Barbara Kruse vor, in deren texanischem Heimatort mit dem deutschen Namen Ellinger noch heute in der Metzgerei tschechisch und deutsch gesprochen wird. Barbara ist als Enkelin eines Indianers ein "Halbblut" und studiert an der Universität von Austin, Texas. Sie trägt "Sonntagsdirndl" und hat, wie Assmann befindet, ein Problem mit ihrer indianisch-amerikanischen Abstammung. "Auf diesem Kontinent wollte wohl jeder gerne Fremder, Eindringling, besser noch, Pioneer, Eroberer, Vandale, Exterminator, ist gleich Europäer, sein".16 Trotz ihres auffallend deutschen Namens spürte sie "nicht die geringste Lust, eine Deutsche zu werden".17 Tomboy (1998)18 machte Schlagzeilen als Mix nationaler und sexueller Identitäten. Halb-Amerikanerin Vivian Atkinson schreibt an der Universität Heidelberg an ihrer ausschließlich interrogativ formulierten

13 Judith Butler, "Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie", in: Performanz, hg. v. Uwe Wirth, Frankfurt a.M. 2002, S. 301-320, hier S. 302. 14 Ulrich Rüdenauer, "Essen Sie mit dem Kanzler, Herr Meinecke?" in: Der Tagesspiegel (21. November 2001), S. 26. 15 Für eine ausführlichere Besprechung von The Church of John F. Kennedy siehe: Beat Mazenauer, "Auf der Suche nach dem Queer-Potenzial. Amerika und das Pop-Konzept in den Romanen von Thomas Meinecke", in: Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, hg. v. Jochen Vogt u. Alexander Stephan. München 2006, S. 381-392. Und: Cecile Zorach, "Thomas Meinecke’s German Fiction of Multicultural America: Model or Admonition?", in: TRANSIT 1 (2005), Artikel 50912. 16 Thomas Meinecke, The Church of John F. Kennedy, Frankfurt a.M. 1996, S. 108f. 17 Ebd., S. 30. 18 Für eine ausführlichere Besprechung von Tomboy siehe: Gabrijela Mecky, "Ein Ich in der Genderkrise: Zum Tomboy in Thomas Meineckes Tomboy", in: Germanic Review 76:3 (Summer 2001), S. 195-214. 285

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Magisterarbeit, in der sie beispielsweise die Geschlechtertheorien Judith Butlers gegen die Otto Weiningers abgrenzt. Ihr kompletter Freundeskreis, vom stark effeminierten Gelegenheitsarzthelfer Hänschen Mühlenkamp bis zu Fraukes "phallischer Verlobten" Angela, fungiert als Anschauungsmaterial für die Geschlechterdiskurse, die in Tomboy diskutiert werden und treten den lebenden Beweis für Judith Butlers Theorie an, dass sowohl das biologische Geschlecht (sex) als auch die Geschlechteridentität (gender) nicht nur als getrennt von einander zu verstehen sind, sondern ebenso als gesellschaftliche Konstrukte. So lebt Vivians Freundin Frauke in einer eheähnlichen Verbindung mit Angela, die, als Angelo in der italienischen Po-Ebene geboren, in einer Handschuhsheimer "Lesbenpizzeria" kellnert. Interessant ist die Verwendung von Pronomen: während Frauke weibliche Pronomen ('sie', 'ihr') propagiert, spricht Korinna immer von 'ihm'. Angelas Penis als "Fleisch gewordenes Ergebnis politischer Einkünfte"19 dagegen hört ausschließlich auf Frauennamen. Angela, biologisch ein Mann ohne die Absicht dies in absehbarer Zeit zu ändern, lebt mit Frauke in einer "normal lesbischen" Beziehung: "Frauke wie Angela Stöver begriffen Angelas Schwanz ja als etwas Zusätzliches".20 Hellblau (2001) setze den Identitätenmix fort: die amerikanische Jüdin Vermillion und ihr deutscher Freund Tillmann diskutieren zusammen mit Tillmans Freunden Heinrich und Cordula in Berlin und Yolanda in Chicago über hybride Kulturen und die Konstruktion von Geschlechtern und Hautfarben. Dabei greift Meinecke vor allem auf zwei Theorien zurück: auf Paul Gilroys The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness (1993) und auf eine vom Detroiter Techno-Duo Drexciya skizzierte Sozialutopie. Dabei geht es Meinecke nicht wie bei Gilroy um die Diaspora in der Welt, sondern er interessiert sich vor allem für jüdisch-afrikanische Interdependenzen in der Kulturpolitik (vor allem Musikszene) der Vergangenheit und die Bedeutung ihrer Errungenschaften für die Zukunft. In seiner Literatur ebenso wie in der postkolonialen Literatur geht es um konstruierte Identitäten, die sich je nach Kontext ändern können. So ist Mariah Carey in Hellblau für die Jury des Black Music Awards schwarz, während sie für Yolanda eine "landläufig gutaussehende Blondine"21 und damit als weiß wahrgenommen wird. Im August 2004 erschien Meineckes bislang neuster Roman Musik, der die Geschichte der Popmusik, von Techno und Disco nachzeichnet und beschreibt, wie die Musikstile als Teil der Gesellschaft funktionieren. Dabei fungiert Musik als Schauplatz, als Meta-Diskurs, auf dem alle 19 Thomas Meinecke, Tomboy, Frankfurt a.M. 1998, S. 90. 20 Ebd., S. 215. 21 Thomas Meinecke, Hellblau, Frankfurt a.M. 2003, S. 11. 286

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Cultural Studies (allen voran Geschlechterstudien, aber auch nationale, ethnische Identitäten und Race) stattfinden. Beispielsweise bestünde das Phänomen der "politisch korrekten"22 Disco – Meinecke liest sie auch als Soundtrack für Minoritäten – darin, dass "schnauzbärtig[e] Machos",23 für die gay community produzierten. Fest steht, dass es Meinecke auch in Musik nicht gelingt, die Kategorien 'Mann' und 'Frau' gänzlich zu beseitigen. Dennoch dekonstruiert er die gesellschaftlichen und geschlechtlichen Machtverhältnisse in Kleinstteile und zeigt im parodistischen Umkehrschluss auf, dass beispielsweise in der Umgebung des heterosexuellen Flugbegleiters Karol Homosexualität die Norm ist und männliche Heterosexualität zum 'Anderen' avanciert. So wird heterosexuelle Männlichkeit von der Weiblichkeit oder von queeren Modellen abgeleitet. Auf den ersten Blick handelt es sich im traditionellen Sinne nicht um postkoloniale Literatur, denn Meinecke berichtet weder von Reisen in ehemalige deutsche Kolonien, noch trifft er auf Menschen aus von Deutschland kolonialisierten Ländern. Als einzige Ausnahme kann die Erwähnung von Safarikleidchen und Stoffen aus Südwestafrika (Tomboy, Hellblau) gewertet werden, was aber nur als Randbemerkung erwähnt wird. Dass Karol in Musik am Strand von Nizza ausgerechnet von einem Nord-Afrikaner angemacht wird, hat auch nur kolonialen Beigeschmack. Paul Gilroys Black Atlantic in Hellblau ist nur ein Sample von vielen. Doch den Autoren des Buches Räume der Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung zufolge kann das Verständnis auf alle von der westlichen Globalisierung "kolonisierten" Bereiche angewandt werden. "Die postkoloniale Theorie beschäftigt sich mit den im Zeitalter des Globalismus immer zahlreicher werdenden Überlappungen und Verkreuzungen der Zivilisationen, die zu neuen kulturellen Formationen führen".24 So geht es vor allem darum, "von den Rändern aus den Blick aus dem Zentrum zu korrigieren und mit diesem in einen kritischen und spannungsreichen Dialog zu treten, um bestehende Verhältnisse bewusst zu machen und ggf. zu ändern".25 Im Vorwort des Sammelbandes Räume der Hybridität sehen die Herausgeber die Räume der Hybridität nicht als Grenzen zwischen Gruppenidentitäten, sondern es geht ihnen um "ihre wechselseitigen Durchdringungen". Dies mache eine "Neubewertung des Verhältnisses von (westlichem) Zentrum und Peripherie" nötig. Wenn Kulturen zusammen kommen, sich vermischen, entstünden Räume mit 22 Jochen Bonz, Meinecke Meyer Musik erzählt, Osnabrück 1998, S. 37. 23 Thomas Meinecke, Musik, Frankfurt a.M. 2004, S. 48f. 24 Paul Michael Lützeler, "Von der Postmoderne zur Globalisierung: Zur Interrelation der Diskurse", in: Räume der literarischen Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung, ders., Tübingen 2000, S. 1-22, hier S. 6. 25 Alfonso de Toro, "Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität", S. 20. 287

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neuen Abhängigkeiten, in denen "veränderliche und plurale Identitäten... neu ausgehandelt werden"26 müssen. Die Konsequenzen können sowohl positiv als auch negativ bewertet werden. Einerseits führt die Pluralisierung der Identitäten zu Unsicherheit und Fragmentierung, andererseits eröffnet dies Freiheiten. Unterdrückte und Minderheiten haben in diesen Räumen (bei Bhabha "In-between-spaces") gröȕeren Handlungsspielraum als bisher angenommen. Die Binaritäten der Moderne entfallen, werden dekonstruiert; in der Identitätsfrage muss sich nicht für das eine und gegen das andere entschieden werden. Bei Meinecke ist interessant, dass er auch innerhalb der westlichen Welt post-koloniale Inseln entdeckt und ihre Grenzen auslotet. Während Tillmanns und Yolandas Erforschung schwarzer Musik in Hellblau traditionellen Denkmustern des Postkolonialismus folgt, verschwimmt die Grenze zunehmend in den Diskursen um deutsche Bräuche der amerikanischen Streitkräfte in Bitburg, i.e. auf deutschem Boden. Eine Art doppelter Kolonialismus macht sich bemerkbar, der zwar das Deutsche wieder nach Deutschland bringt, jedoch unter vollkommen anderen Vorzeichen. Es ist nicht das Deutsche selbst, wie zum Beispiel das auf amerikanischem Territorium in Deutschland eröffnete Restaurant Edelweiß zeigt, sondern die Nachahmung, Mimikry, desselben. Die Chassidim, die Tillmann und Vermilion besuchen, stellen sich als jüdische Territorien auf amerikanischem Grund heraus, in denen mit Hilfe von rotblonden, makellosen Perücken auf den kahlen Schädeln ein amerikanisches Aussehen imitiert wird. Dies positioniert damit die Trägerin der Perücke gewollt innerhalb des Chassids in die Position des 'Anderen'. Es geht in Meineckes Romanen also um crossings von Identitäten (gender crossings, racial crossings, ethic crossings), die innerhalb der Cultural Studies der US-Akademie zur Entstehungszeit diskutiert wurden. Neben der US-Akademie ist Amerika für Meinecke ein reizvolles Terrain (und häufiger Schauplatz seiner Romane), weil die USA, so Meinecke, im Gegensatz zu Deutschland schon immer zu ihrer Hybridität gestanden hätten und sich deshalb als Forschungs- bzw. Anschauungsobjekt besser eignen. In Amerika haben sie das besser gemacht. Dort warfen schon immer die verschiedensten ethnischen Gruppierungen, Blut und Boden weit hinter sich, alle heimatlichen Erbstücke respektlos in die groȕe Salatschüssel. Die besten Polkas werden heute von Tejanos in Texas, Polen in Ohio und Indianern in Arizona hingebrettert, die anrührendsten Walzer von Cajuns in Louisiana und Böhmen in Texas angestimmt, die 26 Christof Hamann u. Cornelia Sieber (Hg.), Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, Hildesheim 2002, S. 8. 288

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schönsten Jodler von halbirischen Mestizen in den Himmel über Oklahoma gejagt.27

Jäger und Sampler Wenn Meinecke (laut Gerald Fiebig der meistzitierte Autor in Spex 199828) als "Musiker-DJ-Schriftsteller" bezeichnet wird, bezieht sich dies zumeist auf Meineckes verschiedene Hobbies/Leidenschaften, die auch separat voneinander existieren können. Meineckes eigenem Zitat zufolge aber, existiert "das eine … nicht ohne das andere".29 Ich verstehe den Begriff 'Sample' auf zwei Arten: zum einen ist ein Sample ein Muster und damit zitierfähiges Ausgangsmaterial. DJ Thorsten Krämer verrät: "Als DJ kann ich keine Songs schreiben. Als DJ ordne ich Material an. Als DJ arbeite ich mit dem, was schon da ist. Ohne Samples kein Sound".30 Zum anderen ist ein Sample ein Zitat, das unter anderen Vorzeichen in der Postmoderne und damit auch in der DJCulture mit neuen Funktionen angereichert wird. Während beim Zitat zwischen Original (Ur-Stoff, bereits existierendes Material, Signifikat) und Kopie (Wiederholung und getreue Abbildung des Signifikats) unterschieden wird, lese ich das Zitat in der Postmoderne als Sample, das sich unter anderem durch einen fließenden Übergang bis hin zum Verschwinden der Unterscheidung von Original und Kopie auszeichnet. Das Sample wird aus dem Kontext entfernt, besteht aber auch als eigenes Objekt, das sich seinen eigenen Kontext schafft, bevor es in einen neuen Kontext gemixt wird. Im Gegensatz zum Sample hat das Zitat keinen eigenen Kontext, sondern verweist nur auf einen Kontext. In jedem Fall jedoch wird auf das Gedankengut einer anderen Instanz zurückgegriffen, ob der zitierte Text bereits publiziert ist oder nicht. Das Zitat wird in der Wissenschaft als solches gekennzeichnet, wenn Autor und Originalwerk als Quelle angegeben werden. Meinecke legt seine Quellen ebenfalls oft offen wie diese kurze Passage aus Hellblau zeigt: "Rolf Surmann schreibt in Konkret, Heft 7, 1999: Mussten Adenauer …" Und auf der gleichen Seite: "In der Allge-

27 Thomas Meinecke, "Alles Mist. Thomas Meinecke über den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur", Spiegel Spezial 2 (1994), S. 83. 28 Gerald Fiebig, "Jäger und Sampler – Literatur und DJ-Culture", in: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte. Nr. 7: Pop & Literatur, hg.v. Martin Büsser et al. Mainz 1999, S. 232-239, hier S. 234. Von Fiebigs Aufsatz ist auch diese Kapitelüberschrift entnommen. 29 Jochen Bonz, Meinecke Meyer Musik erzählt, Osnabrück 1998, S. 31. 30 Thorsten Krämer, "Mischverfahren", in: Sound Signatures. Pop-Splitter. hg. v. Jochen Bonz, Frankfurt a.M. 2001, S. 105-116, hier S. 107. 289

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meinen Jüdischen Wochenzeitung vom 17. September stand: …".31 Auf die Verwendung von Anführungszeichen und Kursivschrift wird verzichtet, dennoch gibt das Beispiel, in größerer Nähe zum wissenschaftlichen Zitat als zu traditionellen Romanen, Auskunft über Meineckes Gewährspersonen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Statement abgegeben haben. Doppelpunkte weisen ausdrücklich darauf hin. Meinecke greift auf Samples zurück, sampelt so bereits Gesagtes und verwendet nach eigenen Angaben die "Methode Pop", die Eckhard Schumacher in Gerade Eben Jetzt mit "Zitieren, Protokollieren, Kopieren, Inventarisieren"32 der Gegenwart beschreibt. Haman und Sieber sehen den gegenwärtigen Augenblick als "Startbasis, eine Art Nullpunkt des Aushandelns von Differenzen".33 Die eigene Position und das 'Andere' sind nicht so leicht zu trennen, daher muss alles jedes Mal aufs Neue situativ in der Gegenwart neu ausgehandelt werden. Kulturen, Identitäten, Diskurse sind nie statisch. Daher prophezeit Böttinger: "Die Themen erneuern sich ständig, und das Rhythmus- und Selbstgefühl des Augenblicks wird in der Gegenwartsliteratur ein immer größeres Gewicht bekommen".34 Ist das ein Plädoyer für noch mehr Pop? Pop befindet sich ständig in Bewegung, in seiner eigenen Entwicklung begriffenen, ist rhythmisch und existiert vor allem im Augenblick, im Jetzt. Laut Schumacher geht es aber nicht um das Verstehen der Gegenwart, sondern um die Präsentation der Gegenwart. So wie Meinecke mit Serialisierungen arbeitet, so ist die Gegenwart auch als eine Serie von 'Jetzts' zu verstehen, daher ist Uwe Schüttes Rezension zu Musik passenderweise mit "Stenographie der Jetztzeit"35 übertitelt. Barthes in Der Tod des Autors dazu: "Jeder Text ist immer im hier und jetzt geschrieben".36 Der moderne Schreiber bringt den Text performativ im Augenblick, in der Gegenwart, hervor. Bei so viel Euphorie um die Gegenwart muss aber auch bedacht werden, dass alle Gegenwart zur Vergänglichkeit verdammt ist: "Spätestens mit der Abgabe meines Manuskripts ist aus [dem Text] unüberseh31 Thomas Meinecke, Hellblau, S. 106. 32 Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, S. 13. 33 Hamann, Räume der Hybridität, hier S. 8. 34 Helmut Böttinger, Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Wien 2004, S. 257. 35 Uwe Schütte, "Stenographie der Jetztzeit. Postmoderner Theorie-Roman: Musik von Thomas Meinecke", in: Wiener Zeitung, Nr. 23, 4. Februar 2005, S. 10. 36 Roland Barthes, "Der Tod des Autors", in: Performanz hg. v. Uwe Wirth, Frankfurt a.M. 2002, S. 104- 110, hier S. 107. 290

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bar ein Gestern, ein Vorhin, ein Eben geworden".37 Dennoch hat Meinecke nach eigenen Angaben kein Problem, wenn seine Texte nach fünf Jahren nicht mehr gültig sind, "denn dieses Ungültigwerden ist bei mir im Schreiben schon festgelegt".38 Genauso verhält es sich in der Musikszene: "Gerade Techno und House können in ihrer Repetitivität, wie Neil Tennant betont, den 'Moment als Moment' hervorheben";39 die Performance des DJs auf der Bühne unterstreicht den Moment und dadurch auch seine Vergänglichkeit. Die eigentliche Aktualität wird durch zwei Dinge erreicht: zum einen sind es aktuelle Begebenheiten, aktuelle Musik, die gesamplet wird. Zum anderen sind es Meineckes eigene verschrifteten Leseprozesse, die die Leser quasi in Echtzeit gemeinsam mit dem Autor und der lesenden und diskutierenden Figur im Buch erleben. Meineckes Zitate sind in die Kategorie "literarische Zitate" einzuordnen, wozu Gerard Genette in Palimpseste bereits anmerkte, dass jeder literarische Text schon eine Literatur zweiten Grades und somit bereits ein Zitat sei. Kulturpessimisten der Moderne würden mit Benjamin argumentieren, dass jede Kunst 'zweiten Grades' ihrer Aura entbehre und damit minderwertiger wäre. 'Erhaben' wäre nur das Original, weil seine Herstellung langwieriger ist und mehr Geschicklichkeit verlangt. Dies würde jeden kreativen Mix und damit die ganze DJ-Culture diskreditieren. Gary Belanger schließt sich diesen Vorwürfen teilweise an, wenn er Sampling in erster Linie als "derivative activity" sieht: "Samples won’t replace all pianos; they will continue to refer to pianos".40 In diesem Sinne verweist jedes Sample (auch in Meineckes Literatur) auf das Original, oder besser: eine frühere Version, ist aber gleichzeitig im Hier und Jetzt seine eigene eigenständige Version. Meinecke versucht nicht, ein neuer Freud oder Boyarin zu sein, sondern samplet ihre Ergebnisse auch als deren Ergebnisse und nicht als seine eigenen "Kopfgeburten". Performativ werden sie durch seinen Remix, also die Eingebundenheit in die Rahmenhandlung aber auch zu seinen Kopfgeburten und alle Grenzen verschwimmen.

37 Thomas Meinecke, "Ich als Text (Extended Version)", in: Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute, hg. v. Ute-Christine Krupp u. Ulrike Janssen, Frankfurt a.M. 2000, S. 14- 26, hier S. 17. 38 Martin Büsser, "Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur. Gespräch mit Thomas Meinecke", S. 134. 39 Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 20f. 40 David Sanjek, "Don’t have to DJ No More: Sampling and the 'Autonomous' Creator", in: The Construction of Authorship. Textual Appropriation in Law and Literature, hg. v. Martha Woodmansee u. Peter Jaszi, Durham 1994, S. 343- 360, hier S. 358. 291

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Als Ihab Hassan Hybridisierung als Merkmal des Programms der Postmoderne definierte, sprach er von der Reproduktion von Genre-Mutationen […] Klischee und Spiel mit dem Plagiat […], Parodie und Pastiche, Pop und Kitsch, sie alle bereichern den Bereich der Re-Präsentation. In diesem Sinne kann das Abbild, die Kopie, dieselbe Gültigkeit besitzen wie das Urbild.41

Daher sind die Samplingmethoden der DJ-Culture als hybrid zu klassifizieren, was auch von David Sanjek unterstrichen wird, der schon den MIDI Sampler in den 1980er als Mittel zur "Orgy of Pastiche"42 bezeichnet hatte. "[It] permits the possibility of deconstructing any available recording or any recordable material into a novel construction".43 Der Rückgriff auf das Gehabte ist in Meineckes Romanen keine emotionale Erinnerung im Sinne einer Hommage wie in der Musik; auch Wiedererkennungseffekte spielen in seiner Literatur nur eine marginale Rolle. Zwar erkennt er die von ihm gesampelte Theorie in ihrer Großartigkeit als solche an, doch samplet er auch Theoretiker, die beispielsweise in anti-semitischem Ruf standen, um die Dynamik der Samples zu evozieren und ggf. zu provozieren. Erst die Dialektik von Konstruktion und Dekonstruktion (wie in der Montage der Moderne) eröffnet Diskussionsgrundlagen. Die von ihm gewählten Sampling-Strategien soll nicht verklären, sondern die Pluralität von Identitäten in Postmoderne und postkolonialer Debatte aufdecken. Von Warhol hat Meinecke nach eigenen Angaben gelernt, "die Kopie zum Maßstab für das Original" zu erheben und "der Referenz selbst das Essentielle" zu verleihen.44 Hierfür sind keine 'Beweise' im Sinne von Referenzen nötig. Indem Meinecke seine Rolle als Autor ohnehin nicht traditionell auslegt, muss er den Lesern nichts beweisen. Ihm geht es vielmehr um das Sample an sich, das – mal mehr oder weniger – als Sample verstanden werden soll beziehungsweise durch das durch Mixing und Remixing mit vorhandenen Konzepten und Konventionen gespielt wird. Gerade durch die Offenlegung der Quellen durch ihre Benennung werden die Zitate politisch aufgeladen. Ob Meinecke nun etwas beweisen will/muss oder nicht, die Offenlegung der Quellen ist ein Beweis in sich selbst, der eigentlich fehl am Platz ist. Mit 'Authentizität' und dem sie beweisenden 'Beweis'

41 Hassan, "Postmoderne heute", S. 52. 42 Sanjek, "Don’t have to DJ No More: Sampling and the 'Autonomous' Creator", S. 348. 43 Ebd. 44 Thomas Meinecke, "Ich als Text (Extended Version)", S. 19. 292

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handelt es sich im Zeitalter der Postmoderne um ironische Begriffe, die obsolet geworden sind. Meineckes Romane dienen als Reißbrett, an dem er die postmoderne Gesellschaft entwirft. Doch trotz aller Theorie, die Meinecke samplet, exzerpiert, zusammenfasst und beleuchtet, ist, und das ist Tillmanns Erkenntnis in Hellblau, unsere Gesellschaft "bei allem dekonstruktivistischen Einvernehmen über das Missverhältnis der Geschlechter, im Privaten noch nicht dort angekommen…, wo uns Vermilion gerne sähe".45

45 Thomas Meinecke, Hellblau, S. 166. 293

DAS LEBEN ARNOLD STADLERS

EIN

SATZ.

EXISTENZIELLE

POETIK

JÜRGEN GUNIA Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Hugo von Hofmannsthal1

Was passiert, wenn man einen Roman nicht in erster Linie zur Hand nimmt, um eine Geschichte zu lesen, sondern wenn man ihn als Transportmedium für Sätze versteht? Und was, wenn diese Sätze gar 'Sätze fürs Leben' sein sollen? Vielleicht beschäftigt man sich ja ohnehin nur deshalb mit Literatur, weil man hofft, solche Sätze zu finden: keine Grundsätze, keine moralischen Maximen, sondern Augenblicks-Sätze, die sich scheinbar selbstständig aus dem Zusammenhang lösen, um im Bewusstsein des Lesenden zum Sprachereignis zu werden. Sätze, die sich ins Gedächtnis einkerben und dabei erahnen lassen, dass das Leben selbst nichts anderes ist als ein unendlicher Text. Begibt man sich auf die Suche nach den Spuren literarischer Texte und Programme, die diese Art von Lektüre stimulieren, so gelangt man schnell in die Gefilde der deutschen Romantik und deren Poetik des Fragments. Eine andere Spur indes führt direkt in die Moderne, etwa zu Friedrich Nietzsches berühmter Definition der Décadence: "Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr."2 Nietzsches Umschreibung betrifft freilich nicht allein den Satz, sie ist vor allem Stilkritik. Hugo von Hofmannsthal dagegen wird Jahrzehnte später in seinem Vortrag Der

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Hugo von Hofmannsthal, "Poesie und Leben. Aus einem Vortrag" [1896], in: ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. v. Bernd Schoeller, Bd. 8: Reden und Aufsätze I (1891-1913), Frankfurt a.M. 1979, S. 13-19, hier S.16, 17 u. 18. Friedrich Nietzsche, "Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem" [1888], in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 6., 2., durchges. Aufl. München 1988, S. 27. 295

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Dichter und diese Zeit (1906) das unruhig-nervöse Moment des Dekadent-Modernen auf die Geste nichtlinearen Lesens beziehen: "Gerade durch sein Fieberhaftes, durch seine Wahllosigkeit, durch das rastlose Wieder-aus-der-Hand-Legen der Bücher, durch das Wühlende, Suchende, scheint mir das Lesen in unserer Epoche eine Lebenshandlung, eine des Beachtens werte Haltung, eine Geste."3 Bei Hofmannsthal gerät nicht der Text, sondern die Lektüre aus den Fugen. Nichtlineare Lektüre ist für ihn eine "Lebenshandlung", d.h. ein existenzieller Habitus. Und sie wird es umso mehr, so die hier vertretene These, je offener die Struktur, aber auch je 'existenzieller' die Thematik der jeweiligen Texte ausgerichtet ist. Die Décadence liefert in dieser Hinsicht mit Motiven wie Krankheit, Wahnsinn, Tod und Erotik einen ersten thematischen Katalog literarisch inszenierter Grenzsituationen. Die Bestandteile dieses Katalogs sind jedoch immer auch Impulsgeber und Motor der fragmentarisch-kursorischen, nichtlinearen Lektüre.4 Die existenzielle Poetik, die in diesem Beitrag skizziert wird, hat somit ganz offensichtlich eine Geschichte, aber man würde sich elementarer Chancen berauben, wäre man allein am historischen Aspekt des Phänomens interessiert.5 Sie ist zu verstehen als Ensemble unterschiedlicher Verfahren, zu denen thematische Determinanten ebenso gehören wie die strukturelle Motivierung 'brutaler Lektüren'.6 Einschlägige Impulse für ihre Konturierung gibt beispielsweise die vitalistische Philosophie des emphatischen Nietzsche-Lesers Gilles Deleuze. So ist es gleich der erste Satz einer Erzählung von F.C. Fitzgerald – "Im Grunde ist alles Leben ein Prozeß des Niedergangs"7 –, den der Satz-Fanatiker Deleuze mit den Worten "Nur wenige Sätze hallen so mit solchem Hammerschlag in unserem Kopf wider" kommentiert.8 Ein

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Hugo von Hofmannsthal, "Der Dichter und diese Zeit. Ein Vortrag" [1906], in: ders., Gesammelte Werke Bd. 8 [siehe Anm. 1], S. 54-81, hier S. 61. Zur nichtlinearen Lektüre allgemein vgl. den Sammelband Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre, hg. v. Jürgen Gunia u. Iris Hermann, St. Ingbert 2002. Die Bedeutung des Existenzbegriffes für die Literatur der Moderne hat Thomas Anz vor Jahrzehnten unter Bezugnahme auf die Philosophie Kierkegaards und Heideggers herausgearbeitet; vgl. Thomas Anz, Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus, Stuttgart 1977. Vgl. Georg Stanitzek, "Brutale Lektüre, 'um 1800' (heute)", in: Poetologien des Wissens um 1800, hg. v. Joseph Vogl, München 1999, S. 249-265. Francis Scott Fitzgerald, Der Knacks [1936], übers. v. Walter Schürenberg, Berlin 1984, S. 9. Gilles Deleuze, Logik des Sinns [1969], übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993, S. 193. 296

ABGEFAHRENE VERFAHREN

Satz, der auch von einem Décadent des Fin de Siecle hätte stammen können (denn was heißt Dekadenz anderes als Niedergang?). Der Satz macht Deleuze nicht betroffen, vielleicht betrifft er ihn nicht einmal. Aber er trifft ihn, er hat für ihn die Qualität eines Ereignisses: "Das Ereignis gehört wesentlich zur Sprache, es steht in einer wesentlichen Beziehung zur Sprache".9 Diese Definition des Ereignisses als Sprachereignis und des Sprachereignisses als Satz gibt der Rekonstruktion einer existenziellen Poetik den Hinweis, dass nicht zwingend – wie in der Décadence – der Körper als ihr Ausgangspunkt gedacht werden muss, sondern eben die Sprache, der Satz. Der Satz ist es, der körperlich erfahren wird; und indem er als 'Hammerschlag im Kopf' erfahren wird, stiftet er einen Zusammenhang zum Leben. Der Zusammenhang wird also gestiftet durch die Intensität seiner Wirkung. Neben dem Philosophen Deleuze gehört eine neuere (und zugleich schon ältere) Generation deutschsprachiger Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu der Gruppe Schreibender, die in Anlehnung an Roland Barthes "Satzdenker"10 genannt werden können: Peter Handke, Friederike Mayröcker, Martin Walser und – Arnold Stadler: Die Texte des Büchner-Preisträgers des Jahres 1999 stellen nicht zuletzt auf programmatischer Ebene immer wieder ausdrücklich aus, worum es geht: "Wenn es schon keine Menschen fürs Leben gibt, so gibt es doch Sätze."11 Stadlers Figuren sind auf der Suche nach Sätzen fürs Leben. Seine Texte tradieren und produzieren solche Sätze. Als Motto von Stadlers Schreiben könnte man in Anlehnung an Seneca behaupten: non scholae sed vitae legimus – wir lesen nicht für die Schule, sondern fürs Leben. In Stadlers Texten werden Geschichten erzählt, Geschichten gescheiterter Marginalexistenzen aus der süddeutschen Provinz (meist Oberschwaben bzw. "Badisch-Sibirien"), die sich in verzweifelter Komik immer wieder an Schmerz und Sehnsucht gleichermaßen abarbeiten. Dennoch führt es in die Irre, wollte man Stadler ohne Weiteres einen Erzähler nennen. Insbesondere seine frühen Texte erzählen nicht, sie zählen auf. Der "Roman" Ich war einmal von 1989 reiht oftmals nur Aussagesätze aneinander, die Ereignisse oder Figurencharakteristika referieren, ohne einen im weitesten Sinne kausalen Zusammenhang nahe zu legen: "Habermeier kommt zum Weißsonntagsbraten. / Habermeier sagt Vergeltsgott. / Habermeier kann mir die Dreifaltigkeit nicht erklären."12 Ein Prinzip, das 9 Ebd. S. 41. 10 Roland Barthes, Die Lust am Text [1973], übers. v. Traugott König, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 75. 11 Mein Hund, meine Sau, mein Leben. Roman [1994], Frankfurt a.M. 1996, S. 141f. Im Text künftig nachgewiesen als HSL. 12 Ich war einmal. Roman [1989], Frankfurt a.M. 1999, S. 71. 297

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bis zur schieren Aufzählung von dialektal gefärbten Schimpfwörtern oder Listen mit "Großen Namen" gesteigert werden kann.13 Mein Hund, meine Sau, mein Leben von 1994 führt schon im Titel das Prinzip des Aufzählens vor (eine Aufzählung, die nicht zufällig in das Wort "Leben" mündet). Das Prinzip des Aufzählens prägt zwar auch die Struktur dieses Romans. Allerdings wird hier eher als in Ich war einmal erzählt: in Episoden, die locker aneinandergefügt sind und große Zeitsprünge in Kauf nehmen, was u.a. an den Bauplan des Schelmenromans erinnert. Die Aufzählung, das Aneinanderreihen von Sätzen, Episoden oder Worten unterläuft den Plot als erkennbares, in sich schlüssiges Handlungsgefüge. Als Prinzip der Textkonstruktion trägt es zu einer Offenheit bei, die auch einer nichtlinearen, auf einzelne Sätze gerichteten Lektüre Vorschub leistet. Etwas anders verhält es sich im Roman Sehnsucht (2002), in welchem als Motto eines Kapitels das Motto von Mark Twains Huckleberry Finn (1884) herangezogen wird: "'Persons attempting to find a plot in it will be shot' ('Wer versucht, einen Plot zu finden, wird erschossen')".14 Ungeachtet dieser Warnung lässt sich in Sehnsucht durchaus ein Plot finden. Überhaupt scheint es so zu sein, dass sich Stadlers Schreiben von Ich war einmal an immer mehr einer Plotstruktur angenähert hat. Das Verfahren des Aufzählens weicht folglich in Sehnsucht – obwohl im Roman darauf angespielt wird – einem anderen, das den schieren Zerfall des Textes aggressiv vor Augen führt.15 Mit Robert Walser, einem Wahlverwandten Stadlers, kann man behaupten, dass sich Sehnsucht von einer "sorgfältig verwahrlosten Höhe" zeigt und "Schlampigkeit" derart konsequent ausstellt, dass aus ihr eine "Kunstleistung" wird.16 Sehnsucht ist durchzogen von Leerzeilen, die schon rein visuell die Kontinuität der Erzählung unterbrechen. Von Abschnitt zu Abschnitt werden Sprünge vollzogen; plötzlich finden Leseransprachen statt, die mit Worten wie diesen beginnen: "Äh – was sagen Sie jetzt?" (Sehnsucht, S. 115) Eine Passage endet mit einer vermeintlichen Internet-Adresse: "www.schwanz.de" (ebd. S. 234). Oft besteht ein durch Leerzeilen abge13 Ebd. S. 87 u. 127. Vgl. hierzu Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/New York 2003. 14 Sehnsucht. Versuch über das erste Mal. Roman, Köln 2002, S. 15. Im Text künftig nachgewiesen als Sehnsucht. 15 Vgl. ebd., S. 269 u. 327. 16 Robert Walser, "Ein ganz klein wenig Watteau" [undatiert], in: ders., Das Gesamtwerk, hg. v. Jochen Greven, Bd. 8, Genf/Hamburg 1967, S. 517-523, hier S. 522. Freilich geht es bei Stadler nicht (nur) – wie im zitierten Aufsatz Walsers – um die Inszenierung einer 'lustigen Person', sondern um die Produktion komischer Texteffekte. 298

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hobener Absatz sogar lediglich aus einem einzigen Satz: "Dieses Buch ist an meiner Sehnsucht entlanggeschrieben wie an einer Hundeleine" (ebd. S. 71), oder: "Man muß Angst haben vor Menschen, die Angst haben." (ebd. 181) Sätze sind denn auch eines der wichtigen Themen des Romans. Da gibt es den "Bankrotterklärungssatz" (ebd. S. 7) oder den "Satz aus meiner Simulantenzeit" (ebd. S. 327). Und es gibt Sätze, mit denen die Figuren einander verletzen – so der Geschlechtsidentitäten entlarvende Satz, den der Ich-Erzähler seiner Frau zuraunt, als diese nackt unter der Dusche steht (ebd. S. 33). Oder der Satz "Wir kriegen dich!" (ebd. S. 46), der von einer männlichen Figur stammt, die vom Erzähler gerade beim Sex in freier Natur beobachtet wurde. Dass diese Sätze den Status von Verletzungen bzw. Wunden haben, also körperlich intensiv erfahren werden, wird in der Wendung "Ein Satz, mit dem ich nun auch noch leben musste" (ebd.) deutlich. Die 'Sätze fürs Leben' haben also nicht, wie man denken könnte, eine Art kompensierende Funktion. Im Gegenteil, es sind oft genug Spreng-Sätze der Desillusionierung (vgl. z.B. "Wie ich mich täuschte!", ebd.). Häufig handelt es sich bei den Sätzen um Eigen- und Fremdzitate. So heißt es aus betont maskuliner Perspektive in Ein hinreißender Schrotthändler (1999): "'Die Welt war voll von schön gewesenen Frauen' (Arnold Stadler, Feuerland)".17 Auf der gleichen Buchseite findet sich auch der Satz "'Heimwärts hieß für mich bergauf'", von dem Stadler im Essay Mein Heimatfriedhof. Eine Niederwalzung behauptet, Peter Handke habe ihn ihm ins "Poesiealbum" geschrieben.18 Die Konstruktion eines intertextuellen Gewebes geht in diesem Zusammenhang einher mit einer im Verlauf der Texte inszenierten modellhaften Rezeption. Intertextualität auf Satz-Ebene gibt bei Stadler das Modell für eine produktive, den Einzeltext übersteigende Rezeption. Sätze werden qua Zitation immer wieder in Umlauf gebracht, um zu zeigen und zugleich zu bewirken, dass sie haften bleiben. Nebenbei wird dadurch deutlich, dass das Leben selbst als Text angesehen werden kann: als gigantisches Archiv von Sätzen, als riesiger, pulsierender, sich autonom fortpflanzender Intertext. Stadlers Poetik kommt hier jener "Mystik des Texts" nahe, von der Roland Barthes in seiner Lust am Text (1973) schreibt, dass sie mit der "Vorstellung von einem Buch" einhergehe, die 'Leben' und 'Text' miteinander verschränke.19 Die Figuren seiner Romane leiden am Leben,

17 Ein hinreißender Schrotthändler. Roman, Köln 1999, S. 24. 18 "Mein Heimatfriedhof. Eine Niederwalzung" [1999], in: ders., Erbarmen mit dem Seziermesser. Über Literatur, Menschen und Orte, Köln 2000, S. 112122, hier S. 112. 19 Barthes, Lust am Text, S. 86f. 299

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und indem sie daran leiden, leben sie es nicht, sondern lesen es, als wäre es ein Buch. Um die Zirkulation der Sätze, das Klebenbleiben im Gedächtnis des Lesenden zu erhöhen, greift Stadler oft auf Sätze zurück, die sich längst als 'geflügeltes Wort' ins kulturelle Gedächtnis eingegraben haben. Vor allem das cartesianische "Ich denke, also bin ich" wird drastisch in einen existenziellen Modus überführt: "('es tut weh, also bin ich' – 'ich blute, also bin ich')" heißt es z.B. in Sehnsucht (Sehnsucht, S. 249).20 Das am häufigsten wiederkehrende Eigenzitat, das geradezu als Motto für das Œuvre Stadlers gelten darf, lautet dagegen: "Einmal auf der Welt, und dann so!" Ob in Der Tod und ich, wir zwei (1996) oder in Eines Tages, vielleicht auch nachts (2003) – er ist die durch fast alle Texte geisternde 'Welt-Formel', die exemplarisch hervorhebt, dass es sich bei den Sätzen nicht in erster Linie um Aphorismen handelt, sondern viel eher um Apophthegmata, d.h. von der Situation determinierte Aussprüche mit der starken Tendenz zur Verselbstständigung.21 "Einmal auf der Welt, und dann so!" ist aber auch die Verwandlung des Heidegger'schen "In-derWelt-Seins" in eine elliptische Miniaturelegie. Denn das "so" ist dabei wenig anderes als der Indikator einer Leerstelle. Es kann einerseits als eine Art kontextuelle Verklammerung im Sinne von "so wie es in diesem Roman eben geschildert wird" verstanden werden. Zugleich ist das "so" eine Einladung zur de- und rekontextualisierenden Aneignung. Wie ein Schwamm saugt es den situativen Kontext des Lesenden in sich auf. "Einmal auf der Welt, und dann so!" ist ein zum Stummelsatz gewordener Klagelaut, verwandt mit denjenigen Redewendungen, die Stadler mit Vorliebe und mit einem implizit anti-ästhetizistischen Gestus zitiert: So das "c'est la vie" in Mein Hund, meine Sau, mein Leben (HSL, S. 129) oder auch "Wat mut, dat mut" in Sehnsucht (Sehnsucht, S. 42). Je lakonischer und trivialer, desto effizienter fällt die Wucht dieser harmlos scheinenden Sätze aus. Ihre tautologische Leere ermöglicht, dass individuelle Situationen und Stimmungen in sie hineinprojiziert werden können und diese Projektion als Evidenzerlebnis erlebt wird. Festhalten lässt sich also, dass in den Romanen Arnold Stadlers die existenzielle Thematik aufs Engste verzahnt wird mit der sprachlich20 Vgl. auch Schrotthändler, S. 102, sowie die "einzige Gewißheit" des "AntiDescartes" in: "Erbarmen mit dem Seziermesser. Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises" [1999], in: ders., Erbarmen mit dem Seziermesser. Über Literatur, Menschen und Orte, Köln 2000, S. 14-27, hier S. 17. 21 Aphorismen finden sich bei Stadler auch, siehe oben: "Man muß Angst haben vor Menschen, die Angst haben." Zur spezifischen 'Aktivierung des Lesers' durch den Aphorismus vgl. Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart 1984, S. 140ff. 300

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poetischen Problematik, nämlich der permanenten Reflexion unterschiedlicher, intensiver Erscheinungs- und Wirkungsweisen von Sätzen. Diese Sätze sind teils Fremd- oder Selbstzitate, teils produktive Aneignungen von geflügelten Worten oder eben von Apophtegmata.22 Dass Sätze überhaupt in den Aufmerksamkeitsradius des Lesenden gelangen, liegt indes nicht allein an der Selbstthematisierung, sondern freilich auch an der Textstruktur, d.h. an den Verfahren des Aufzählens und der 'Verwahrlosung'. Vor allem Letzteres begünstigt, was man die apophtegmatische Beschaffenheit der Stadler'schen Texte nennen könnte. Diese spezifische Beschaffenheit macht Stadlers Romane tendenziell zu narrativ getarnten Satz-Anthologien. Jenseits des Narrativ-Fiktionalen kann sich dieses kompilierende Moment plötzlich nach außen stülpen und dabei die Grenze des Satzes verlassen. Das wird in der von ihm anlässlich des 11. Septembers herausgegebenen Anthologie Tohuwabohu (2002) deutlich. Ausgangspunkt sind nicht die 'Verwundungen' eines fiktiven Ichs, sondern die reale Katastrophe innerhalb der westlichen Kultur des 21. Jahrhunderts schlechthin. Gedichte und längere Textauszüge aus religiösen, philosophischen und literarischen Texten gruppieren sich in diesem Buch um dieses Ereignis wie Metallsplitter um einen Magneten: "Texte sind es, in denen ich wiedergefunden habe: das Unterwegssein, das Kommen und Gehen, das Wahrnehmen und Sehen, das Tun und Erleiden des Menschen, das Aufbauen und das Zerstören."23 Stadler nennt dieses Verfahren der De- und Rekontextualisierung "Vergegenwärtigung". Von "Vergegenwärtigung" spricht auch Martin Walser in einem Essay über Stadlers erste Romane. Was diese "Vergegenwärtigung" laut Walser bewirke, sei der Schmerz; dieser sei der 'Dirigent' der Stadler'schen Prosa.24 Walser bezieht sich dabei vor allem auf den Roman Mein Hund, meine Sau, mein Leben, in welchem es heißt, die Sprache der Gegend um Schwackenreute bestehe "aus Schmerzlauten – oder gleich aus Schreien" (HSL, S. 30); das Leben scheint ein Synonym von Schmerz zu sein. Und der Schmerz wiederum ist Symptom für das schiere "In-der-Welt-Sein". Die Schmerz-Thematik birgt allerdings die Gefahr eines Heroismus des Leidens als emphatisches Ja-Sagen zum 22 Dies ist ein markanter Unterschied zu Walter Benjamin, dessen Texte auf der Basis einer dezidiert aphoristischen Struktur eine vergleichbare Programmatik entwickeln. Vgl. Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1999, S. 49ff. 23 Tohuwabohu. Heiliges und Profanes, gelesen und wiedergelesen von Arnold Stadler nach dem 11. September 2001 und darüber hinaus, Köln 2002, S. 26. 24 Martin Walser, "Das Trotzdemschöne. Nachwort", in: Arnold Stadler, Mein Hund, meine Sau, mein Leben. Roman [1994], Frankfurt a.M. 1996, S. 155164, hier S. 157. 301

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Schmerz, wie ihn etwa – auch als Folge einer pathetischen NietzscheRezeption – Ernst Jünger in seinem Buch Das abenteuerliche Herz (1929) zelebriert.25 Auf der anderen Seite lauert die Falle eines mehr oder weniger platten Buhlens um Authentizität. Völlig zu Recht hebt Helmut Lethen hervor, das "Experiment mit den Konventionen des Schmerzausdrucks" sei "ein probates Verfahren, um den Effekt des Authentischen [...] auszulösen."26 Gegen beides wappnen sich die Texte Stadlers nicht nur durch ihre Lakonie und ihr Understatement, sondern auch durch das Ich, dem sie jeweils zugeordnet werden. Dieses Ich wird als derart übertrieben defizitär dargestellt, dass Heroismus und Authentizität gleichermaßen als Option ausfallen. In Ausflug nach Afrika (1999), einer Erzählung, die man als launige Travestie auf Jüngers Afrikanische Spiele (1936) lesen kann, heißt es treffend: "Es fehlte mir zum tragischen Auftreten die aufrechte Erscheinung". Das Ich stammt eben aus dem "Hinterland des Schmerzes" und hat leider nur ein "Hotzenwaldgesicht".27 Sobald das monströs defizitäre Ich eingeklammert wird oder gar nicht mehr vorkommt, wirken Stadlers Texte – und damit auch ihre existenzielle Poetik – sofort weitaus radikaler. Das ist exemplarisch in Stadlers bislang letztem größerem Text zu beobachten, dem Buch Mein Stifter (2005), das sich vordergründig einer Lektüre von Adalbert Stifters Nachsommer (1857) widmet, letztlich aber ein Essay über die Voraussetzungen des eigenen Schreibens ist.28 Entsprechend geht es abermals um Sätze ('Stifter-Sätze', vgl. z.B. Stifter, S. 23 u. 186), aber freilich auch um den Schmerz. Der Nachsommer erscheint als ein "Sprachereignis, frei von jedem Plot" (ebd. S. 64), und Stifter selbst wird emphatisch gefeiert: "War er nicht einer der allergrößten, die jemals in dieser Sprache ihre Sätze schrieben?" (ebd. S. 28) Das Buch wird getragen von einem durchaus ernst zu nehmenden Pathos, das dann greifbar wird, wenn Stadler über Stifter (man beachte die Assonanz der Namen!) schreibt, "daß Leben und Literatur zweierlei sind und daß beide in ihrem Urheber zusammenkommen; und daß die Bruchstelle, der Graben, mitten durch Stifter verläuft." (Stifter, S. 66) Diese Feststellung bezieht sich auf Stadlers Generalthese, der zufolge 25 Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. 1. Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht [1929], Stuttgart 1987, S. 139f. u. passim. 26 Helmut Lethen, "Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze", in: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, hg. v. Hartmut Böhme u. Klaus R. Scherpe, Reinbek 1996, S. 205-231, hier S. 221. 27 "Ausflug nach Afrika", in: ders., Volubilis oder Meine Reise ans andere Ende der Welt, Eggingen 1999, S. 7-52, hier S. 21 u. 22. 28 Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien, Köln 2005. Im Text künftig nachgewiesen als Stifter. 302

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sich Stifter im Nachsommer ein schöneres Leben erträumt habe. Literatur erfüllt demnach eine kompensatorische Funktion, die freilich einen Kontrast zu Stadlers eigenem Projekt bildet, ist dieses doch allzu konsequent auf Desillusionierung ausgerichtet (siehe oben: "Wie ich mich täuschte!"). Das für Stifter konstatierte Schreiben als Kompensation vollzieht sich offensichtlich um den Preis einer Spaltung, eines 'Grabens'. Dieser Graben mitten durch das Schriftsteller-Subjekt Stifter wird in der Stadlerschen Logik geheilt durch jenen Schnitt, den Stifter sich mit dem Rasiermesser an der Halsschlagader selbst zufügte. Für Stadler ist dieser Schnitt 'wie ein Satz', "der nicht geschrieben, sondern ausgeführt wurde." Das Rasiermesser mutiert zum "Schreibwerkzeug", ja der Selbstmord ist "die Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln" (Stifter, S. 182). Im Augenblick des Todes wird der Satz zum Leben selbst, die Bruchstelle zwischen Leben und Literatur wird aufgehoben: Der Graben schließt sich, indem er zum Grab wird. So wird der Tod zum Sprachereignis stilisiert. Es ist, als erfülle sich hier die Prophezeiung Deleuze': "Man erfasst die ewige Wahrheit des Ereignisses nur, wenn das Ereignis sich auch ins Fleisch einträgt".29 Stadlers eigenes Schreibprojekt ist weit davon entfernt davon, Literatur und Leben im Tode vereinigen zu wollen. Zu sehr steht bei ihm nicht die Kompensation durch das Schöne im Vordergrund, sondern der Modus ebenso radikaler wie komischer Desillusionierung (hier greift die entscheidende Differenz im 'Minimalpaar' Stifter/Stadler).30 Und dennoch: Nur durch das Insistieren auf den Schmerz scheint überhaupt eine existenzielle Poetik möglich. Dieser Schmerz aber wird durch Sprache inszeniert und dadurch vom rein Körperlichen transzendiert. Genau das ist es, was der Satz leistet oder zumindest zu leisten beansprucht. Ein Satz wie "Einmal auf der Welt, und dann so!" ist aus diesem Grund genau das, was Stadler in einem anderen Zusammenhang für Georg Büchner konstatiert: "ein Seziermesser und ein Schmerzmittel".31

29 Deleuze, Logik des Sinns, S. 201. 30 Zur Problematik der Desillusionierung vgl. Jürgen Gunia, "Imperfektes Leben. Deutsche Geschichte und poetische Selbstreflexion in den 'Heimatlosigkeitsromanen' Arnold Stadlers", in: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, hg. v. Barbara Beßlich u.a., Tübingen 2006, S. 225-241. 31 "Erbarmen mit dem Seziermesser. Dankesrede zur Verleihung des GeorgBüchner-Preises" [1999], in: ders., Erbarmen mit dem Seziermesser. Über Literatur, Menschen und Orte, Köln 2000, S. 14-27, hier S. 17. 303

ERZÄHLERISCHE KONTINGENZVERWALTUNG BEI GREGOR HENS SARAH POGODA

"Entspräche alles immer unseren Erwartungen, gäbe es überhaupt nichts zu erzählen. Würde jedes Ereignis auf dem flachen Gipfel der Glockenkurve aufsetzen, mit der Stochastiker ihre Normalverteilungen darstellen: Wir hätten überhaupt keine Literatur."1 In diesem Satz aus Gregor Hens' jüngstem Roman In diesem neuen Licht spiegelt sich ein für den Autor typisches poetologisches Prinzip, demzufolge Literatur vom Möglichkeitssinn lebt und erst in der Ambivalenz von Ordnung und Kontingenz entsteht. Erzählen ist für Hens Arbeit an Erfahrungen, d.h. mittels einer Darstellungsform wird Vergangenes strukturiert, werden ehemals gegenwärtige Kontingenzerfahrungen konstruktiv in einen sinnhaften Text übersetzt. In Hens' Texten brechen zufällige, unvorhersehbare Ereignisse in stabil geglaubte Ordnungen und Lebensweisen – sei es in Form von Terroranschlägen, Tornados oder anderen plötzlichen Katastrophen, sei es – wie im Fall Helenes – "[e]ine Person als Lebensereignis" (HS 50). Hens geht es aber nicht nur um die dargestellten Lebensformen, sondern auch um die Darstellungsformen – es geht ihm nicht um das Leben, sondern um die Literatur: Sie bildet sein eigentliches Thema, sie ist sein Spielfeld. Idealerweise entsteht wie im Falle von Himmelssturz, dem das Interesse dieses Aufsatzes gilt, eine Reziprozität zwischen Darstellungsform und Dargestelltem – dem WIE und dem WAS. Dieses Anliegen charakterisiert Hens' Schreibverfahren. Dabei verortet er sich in der Tradition der Moderne. In seiner weniger epigonal adaptierenden als vielmehr kreativ modifizierenden Arbeit an literarischen Mitteln und thematischen Stoffen von Kleist über Bernhard und Frisch bis hin zu Nabokov bringt er ein eigenständiges Erzählverfahren hervor.

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Gregor Hens, In diesem neuen Licht, Frankfurt a.M. 2006, S. 133 (im Folgenden wird daraus zitiert unter der Sigle: Licht) und ders., Himmelssturz, München 2002 (im Folgenden wird daraus zitiert unter der Sigle: HS). 305

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Sein Ausgangspunkt ist der erzählende Text als sich selbst tragendes System.2 Der autopoietische Text schreibt seine eigenen Gesetze und erfüllt sich mit der Narration selbst. Hens bezweckt, Abhängigkeiten und Freiheiten von literarischer Textualität auszureizen, den von der Literatur selbst aufgestellten Spielraum seiner Grenzen zu überprüfen, an die er paradoxerweise stets rückgebunden bleibt. Diese Auseinandersetzung mit Möglichkeiten von Kontingenzerfahrungen und Kontinuitätsbrüchen in der nicht-kontingenten Textualität des literarischen Mediums geschieht durch Hens' erzähltechnische und zugleich poetologisch begründete Methode – nämlich Funktionsweisen und Mechanismen der Texte metapoetisch offenzulegen – hoch reflektiert. Am Beispiel seines Debütromans Himmelssturz möchte ich hier ein spezifisches Schreibverfahren herausarbeiten, welches diese Kontingenzpoetologie auf inhaltlicher, tiefenstruktureller und metapoetischer Ebene umsetzt und sich zugleich erst in dieser Bewegung konstituiert. Dieses Verfahren realisiert sich mittels eines architektonischen Prätextes: dem im Roman nicht explizit genannten Gebäude Fallingwater des Architekten Frank Lloyd Wright,3 das ursprünglich dem Roman seinen Titel geben sollte.4 2

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Hier steht Hens deutlich in der Tradition Thomas Bernhards, dessen Roman Korrektur letztendlich von der Zerstörung eines Textes berichtet und dadurch einen Text generiert. 1936 vollendet der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright das Wochenendhaus für die Familie Kaufmann, das unter dem Namen Fallingwater Weltruhm erlangen sollte. Das Grundstück – ein Tal, in das eine Schlucht und ein Bach einschneiden – fällt stufenartig ab und lässt den Bach zu einem Wasserfall werden. Das Haus setzt Wright mitten hinein in die exklusivste Stelle: auf einen Felsvorsprung über den Wasserfall. Der Verlauf des Baches, der durch das abschüssige Gelände in mehreren Stufen hinabfällt, ist in die Architektur des Hauses integriert und bleibt stets zentraler Ausrichtungspunkt. Der Stahlbeton ermöglicht die schlanken Balkonkonstruktionen, die sich in verschiedenen Richtungen in den Raum strecken. In Fallingwater verbindet Wright statische und dynamische Elemente. Die statischen Träger werden ebenso expressiv eingesetzt wie das dynamische Bauelement Wasser, das nicht nur am Gebäude vorbeistürzt, sondern es zu durchfließen scheint. Ruhendes und stürzendes Wasser artikulieren die Konjunkturen des Lebens. Wright ging es um eine Auseinandersetzung mit dem Wechselverhältnis von Schwerkraft und Levitation als das Grundproblem der Architektur. Fallingwater betont die Schwerkraft, indem es ihr die schwebende Leichtigkeit entgegensetzt. Dieses Wechselverhältnis ist ein explizites und dominantes Motiv von Fallingwater. Vgl. Daniel Treiber, Frank Lloyd Wright, Basel u.a. 1988. Der Autor Gregor Hens teilte mir in einem Gespräch (am 11. Januar 2005) mit, dass der ursprüngliche Titel des Buches nicht Himmelssturz, sondern Falling306

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Die 'poiesis' von Himmelssturz geht dabei über simple Intertextualität hinaus. Um zu beschreiben, wie Fallingwater auf mehreren Ebenen in die Organisation und Darstellung von Text, Figuren, Handlung und Sprache eingreift und im Hinblick auf Hens' Poetologie als das Referenzund Reflexionsobjekt identifiziert werden kann, greife ich auf George Lakoffs und Mark Johnsons Theorie der metaphorischen Konzeptualisierung zurück.5 Diese rekonstruiert die Grundlagen menschlichen Verstehens und die Funktion der Metapher. Um zu verstehen, "suchen wir [...] permanent nach Gemeinsamkeiten unserer jeweiligen Erfahrung; beim Versuch, das eigene Selbst zu verstehen, suchen wir immer nach Elementen, die unsere mannigfaltigen Erfahrungen miteinander verbinden, um unserem Leben Kohärenz zu geben."6 Metaphern sind Paradigmen unseres Selbstverständnisses, kein uneigentliches Sprechen, sondern "Konzepte nach denen wir leben".7 Diese strukturieren unsere Wahrnehmung, "unser Handeln und unser Verständnis von unseren Handlungen" und unser Sprechen.8 Unterschieden werden vier Metapherngruppen, die allerdings miteinander korrespondieren und sowohl eine Kohärenz in sich als auch miteinander aufweisen können: Orientierungsmetaphern, ontologische Metaphern, solitäre Metaphern und Strukturmetaphern. Die wohl wichtigste Kategorie ist die der Strukturmetaphern. Sie beruhen zumeist auf den anderen Metapherntypen, bestimmen aber eben nicht nur Konzepte, sondern "sie erlauben uns außerdem, dass wir ein komplex strukturiertes und klar umrissenes Konzept benutzen, um damit ein anderes zu strukturieren."9 Die Strukturmetapher ist also die metapho-

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water lautete, vom Verlag aus Vermarktungsgründen jedoch geändert wurde. Hens erklärte sich mit dem alternativen Vorschlag Himmelssturz einverstanden, da dieser wenigstens den Aspekt der Schwerkraft und somit ein dominantes Motiv von Fallingwater impliziere. Dabei wird sich letztlich zeigen, dass Himmelssturz mehr ist als die von der Kritik herausgestellte Adaption und Relokalisierung von Goethes Wahlverwandtschaften, zu denen freilich ein ganz offensichtlicher intertextueller Bezug besteht. Denn auf die Vorlage der Wahlverwandtschaften wird durch ein dem Text vorangestelltes Motto hingewiesen, das Goethes Roman entnommen wurde. In einer anderen Textpassage kommentiert der Text das in den Wahlverwandtschaften überstrapazierte titelgebende Gleichnis durch die amerikanische banale Version der "chemistry": chemische Verbindungen, die entstehen, "wenn man Menschen zusammenbringt, es entstehen Kräfte, Energien, Spannungen" (HS 52). George Lakoff/Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 1998, S. 266. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 75. 307

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rische Übertragung eines Konzeptes auf ein anderes. Das Verhältnis von Fallingwater und Himmelssturz funktioniert nach dem Prinzip der Strukturmetapher. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Dimensionen des Textes erörtert, die wesentlich durch Fallingwater geprägt sind. Zunächst wird Fallingwater – wenn auch anonym und umfunktionalisiert – im Text durch ein konkretes Gebäude, die Universitätsbibliothek integriert. Die Bibliothek übernimmt die markierende Funktion für das intermediale Verhältnis.10 Ihre Beschreibung deckt sich mit denen von Fallingwater: Ich stand auf der Brücke, die den Zugang zur Bibliothek bildete und staunte über die Dramatik dieses Gebäudes, das beinahe frei schwebend, ohne tragende Teile, über den Wasserfall hinausragte. Die Rückseite war in eine schroffe Felswand hineingebaut, und es sah aus, als klammerte sich das ganze Gebäude daran fest. (HS 75)11

Als Bibliothek übernimmt Fallingwater zudem in der Geschichte eine zentrale Erzählfunktion: Sie ist der genius loci der 'Schlüsselszene' des Romans, in der Helene sich Farald offenbart, sie ihm das notwendige Scheitern der Beziehung zu Antonin erläutert und ihm von ihrem 'Schildkrötenjahr' – das ihr Leben prägende und repräsentierende Kindheitserlebnis – erzählt. Die Verbindung zum Prätext Fallingwater wird frei-

10 Das Referenzsystem wird im Text zusätzlich durch ein 'architektonisches Netzwerk' verankert. Zahlreiche Anspielungen führen zu dem Architekten Frank Lloyd Wright und der von ihm repräsentierten Architekturtradition. Hier nur einige Beispiele: Farald lehrt an der Kauffman-Universität – Wright baute Fallingwater für die Familie Kaufmann. Eine Straße des Campus heißt "Walter Burley Griffin Drive" – nach einem Weggefährten Wrights, der u.a. ein Haus in Mason City baute – Mason City wiederum nennt sich ein Architekturbüro in Himmelssturz. Die von Wright verfochtene Philosophie der organischen Architektur wird explizit dem Architekten Antonin zugeschrieben: "Immerhin bist du doch ein Freund der organischen Architektur, nicht wahr?" (HS 27) Der fiktive Antonin trägt den Namen des realgeschichtlichen Architekten Antonin Nechodoma. Der siedelte Anfang des 20. Jahrhunderts in die Karibik um, um dort Häuser nach Wrights Entwürfen unter seinem eigenen Namen zu bauen. Er benutzte dafür Wrights Portfolio "Wasmuth" von 1910 als Vorlage. Er pauste teilweise die perspektivischen Zeichnungen einfach ab und veränderte lediglich hier und da einige Details. Seine Klienten bemerkten dies nie. (Vgl. Thomas S. Marvell, Antonin Nechodoma, Architect, 1877-1928. The Prairie School in the Caribbean, Florida 1994). 11 Zur Beschreibung der Bibliothek siehe HS 75/76 und HS 130/131. Ebenso aufschlussreich sind Passagen zur Architektur des Universitätscampus. 308

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lich nicht aufgegeben, vielmehr wird diese Verbindung geradezu inszeniert und somit das Atmosphärische der Szene verstärkt.12 Eine weitere Dimension, die ebenfalls nicht der Konzeptualisierung zuzurechnen ist, umfasst die Architektonik des Romans, die mit der Bauweise Fallingwaters korrespondiert. Ist das Gebäude im Felsen verankert, so greift es doch gleichzeitig scheinbar ohne Begrenzungen in den Raum aus. Die textuelle Analogie bilden in Himmelssturz die von Helene vorgetragenen Binnenerzählungen sowie die verschachtelten Rückblenden des Ich-Erzählers, ohne dass der Verlauf der Geschichte aus dem Blick geraten könnte. Der Text deutet dadurch eine enorme Raumausdehnung an, die jedoch nicht kompakt, sondern für Leerstellen geöffnet ist. Diese gereichen dem Roman aber nicht zum Nachteil, verursachen keine Brüche in der Erzähllogik, sondern entsprechen gerade dem strukturgebenden Vorbild Fallingwater. Zugleich ermöglicht sich Hens, einen Grundsatz seines Schreibens einzuhalten, nämlich Spielräume der Phantasie und Mehrdeutigkeit abzustecken, die eine hohe Variationsbreite an Perspektiven und Lesarten von Texten zulassen. Das Verfahren der Konzeptualisierung – und damit komme ich zum Hauptpunkt – setzt dort ein, wo Fallingwater dem Text seine architektonischen Grundthemen Schwerkraft, Levitation und Balance als Konzepte zugrunde legt. Sie werden im Text übertragen auf Nicht-Architektonisches: auf Figuren und Figurenkonstellationen, auf emotionale und geistige Vorgänge. Dazu tritt nun, und darauf muss im Vorhinein noch hingewiesen werden, eine weitere Bedeutungsdimension des Prätextes Fallingwater. Diese ist – im Sinne Hans Blumenbergs gesprochen – die einer Daseinsmetapher.13 Fallingwater stellt ein Existenzempfinden

12 Siehe dazu vor allem HS 72-84. 13 In seiner Metaphorologie verfolgt Blumenberg die Aufdeckung der "Substruktur des Denkens", der "Nährlösung der systematischen Kristallisation" (Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, S. 13). Er geht davon aus, dass Metaphern und Bilder auf eine Denkstruktur und dessen Herkunft verweisen. Neben der entwicklungsgeschichtlichen Einordnung "absoluter Metaphern" – zu denen auch die Daseinsmetapher zählt – und der Befragung ihrer Wirkung auf die philosophische Begriffsbildung geht es Blumenberg darum, die Reziprozität zwischen Lebenswelt und Metapher und die Metapher als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen zu betonen (Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1993, S. 77). Als ein Paradigma solcher Daseinsmetaphern analysiert Blumenberg das Bild der Schifffahrt, das in seinen mannigfaltigen Variationen das Leben begreifen helfe. Blumenberg versteht Metaphern somit ganz ähnlich wie Lakoff und Johnson. 309

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architektonisch dar – "like life catapulted to the edge"14 – und ist damit eine konkrete Metapher für die Ambivalenz zwischen Macht und Ohnmacht des Menschen. Dieses unberechenbare und schwankende Verhältnis ist seine Philosophie. Der Doppelaspekt ist nicht nur im Ganzen des Hauses, sondern in jedem Element und jeder Wirkung offensichtlich.15 Dieser metaphorische Sinn, der sich aus dem Zusammenspiel der drei Grundthemen generiert, geht durch die Konzeptualisierung des Romans automatisch auch in dessen Sinnzusammenhang über.16 Der Text nimmt übrigens explizit auf diese Bedeutungsebene Bezug, stellt eine Ambivalenz des Lebens heraus: "Vergängliches und Dauerhaftes greifen ineinander. Aber alles, auch das Vergängliche, hinterlässt eine Spur" (HS 82), sinniert Helene während des 'Schlüsselgespräches' mit Farald in der Bibliothek. Ähnlich kommentiert sie am gleichen Ort eine Kindheitserfahrung: "Auf einmal spürten wir, jeder für sich, wie ernst es war mit dem Leben. Wie nah Höhen und Tiefen beieinander lagen, wie ähnlich sie sich eigentlich waren." (HS 86) Es sind die Gleichzeitigkeit von Dauerhaftem und Vergänglichem, von Statischem und Dynamischem, von Stabilität und Instabilität, die Gebäude und Text thematisieren. In seiner Eigenschaft als Daseinsmetapher ist Fallingwater durchaus auch eine poetologische Metapher für den Roman, da beide der Kontingenz Raum und Konkretion verleihen. Gebäude und Text verwenden die gleichen Konzepte und die gleichen Bilder. Mit dem Entschluss, Fallingwater als Strukturmetapher in seinen Roman zu integrieren, ja den Text danach zu konzeptualisieren, entschei14 Francis Balter hat diese Worte in einem Gedicht Lilian Kaufmann – einer Bewohnerin von Fallingwater – in den Mund gelegt. Zitiert nach: Franklin Toker, Fallingwater Rising: Frank Lloyd Wright, E.J. Kaufmann, and America´s Most Extraordinary House, New York 2003, S. 148. 15 In diesem Sinne ist Fallingwater in die Architekturgeschichte eingegangen und als solches wird es auch in Himmelssturz aufgenommen. Adolf Max Vogt bestimmt in einem Aufsatz Fallingwater als eine kosmologische Metapher, der es gelungen sei, als statische Kunst den seit Newton nur noch dynamisch erfassbaren Kosmos zu veranschaulichen: "Denn spätestens seit der Gravitationslehre ist der Kosmos kaum mehr statisch-bildhaft, nur mehr dynamisch erfaßbar. Also treten statische Künste (wie Bild und Bau) bei der Frage der Veranschaulichung zurück und müssen anderen Medien (wie dem bewegten Modell, wie dem Film) den Platz überlassen." Adolf Max Vogt, "Das Schwebe-Syndrom in der Architektur der zwanziger Jahre", in: Das architektonische Urteil. Annäherungen und Interpretationen von Architektur und Kunst, hg. v. Ulrike Jehle-Schulte Strathaus/Bruno Rechlin, Basel u.a. 1989, S. 201-233, hier S. 232. 16 Das hat dementsprechend auch Auswirkungen auf die Atmosphäre des genius loci (s.o.). 310

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det sich der Autor auch für dessen Sinnbezüge, Kausalitäten und Gesetzmäßigkeiten. Zeigt sich der Sinnbezug der Daseinsmetapher im Atmosphärischen des Romans und metapoetisch in Hens' Poetologie, so zeigen sich die Auswirkungen der Kausalitäten, der von ihnen suggerierten Notwendigkeiten vor allem im Bereich der Figurenkonstellation, deren scheinbar unausweichliche Veränderungen die Dynamik der Handlung entscheidend vorantreibt und anhand derer hier das Verfahren der Konzeptualisierung vorgestellt werden soll. Die Figur Helene bildet den Mittelpunkt der Konstellation: Sie ist eine Schlüsselfigur für Farald, das Romangeschehen und die poetologische Ebene. Die Kulturanthropologin Helene verkörpert Hens' Literaturverständnis und steht somit der poetologischen Metapher Fallingwater nahe. Dementsprechend inszeniert der Text die Verbindungen. In der Figur ist eine Ambivalenz angelegt, die durchaus dem metaphorischen Gehalt von Fallingwater entspricht.17 Die Person Helene "befremdet durch die fehlende Biegsamkeit" (HS 38) sowie durch "das überraschend Gebrechliche an ihr" (HS 41) und unterscheidet sich von der Erzählerin, die "beinahe ohne Unterbrechung [erzählt], so als ginge sie völlig in der Zeit auf, als gäbe es zumindest während des Erzählens nichts anderes als die Vorgänge, von denen sie berichtete. Sie sank in eine andere, in sich schlüssige und sich selbst tragende Welt ein." (HS 141) Andererseits zeugen gerade ihre Geschichten von Gebrechlichkeit, Instabilität, Unvorhersehbarkeit, Kontingenz. Jederzeit sind plötzliche Risse und Brüche möglich, die wiederum ambivalent zu werten sind: als Ursachen für existentielle Krisen und gleichzeitig als Möglichkeitsräume, und somit aus der Sicht von Hens' Poetologie als Ursprung allen Erzählens und aller Literatur. Helene fällt in zweierlei Hinsicht unter das Konzept der Schwerkraft: bezüglich ihrer Wirkung auf Farald und bezüglich ihrer Beziehung zu Antonin. Besonders auffällig ist die sprachliche Sedimentierung des Bauelements Wasser bei der Beschreibung von Helenes Wirkung auf Farald, der dieses dynamische und destabilisierende Potenzial Helenes bewusst einsetzt, um seine inkontingente geordnete Welt aufzubrechen.18 Von 17 "Und wenn Helene ihr Glas in die Hand nahm, wenn sie mit und sprach, als hätte sie und alles, was um sie herum geschah im Griff, als könnte sie ihr Schicksal selbst bestimmen, wäre ohne Angst und froh und offen für alles, was sich hier an Reaktionen, an Verbindungen und Vertrautheiten entwickelte, dann machte sie sich etwas vor. Das hätte man sehen müssen" (HS 58). 18 "Als sie sich verabschiedet hatte, [...] wusste ich, dass Helene eine entscheidende Rolle in meinem Leben spielen würde. Das zwar ausgeglichen schien und erfolgreich, in dem aber ein Ungleichgewicht angelegt war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es kippen würde. Ich hoffte, dass sie mir am Ende ein Fazit präsentieren würde. Wenn sie bereit ist, sich in diesem Leben umzu311

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Anfang an erliegt Farald dem "warmen, gleichmäßigen Fluss ihrer Stimme" (HS 30), den "von ihren Stimmbändern erzeugten Schallwellen" (HS 41). Farald badet sich in ihrem Licht (HS 41) und setzt sich "dieser Frau einfach aus, die sprudelt, die offensichtlich erzählsüchtig ist". Er will, "dass ihre Rede weiterströmte", will sich "davon umspülen lassen" (HS 41). Später nimmt der Zug des Wassers bedrohliche Ausmaße an: "In meinem Kopf fallen die Geschichten zusammen, verschwimmen. Etwas, das die Eindrücke in meinem Gedächtnis auseinander halten soll, bricht ein. Rausch der Bilder." (HS 44) Der mentale Dammbruch verstärkt sich mit fortlaufender Zeit.19 Farald lässt sich nicht nur "hineinziehen" (HS 174) in Helenes Geschichtenpanorama,20 sondern auch in seine eigenen "verschwommenen Erinnerungen" (HS 31) und "übersprudelnden Kindheitserinnerungen" (HS 170). Schließlich stürzt er in seinen Gedanken immer weiter ab (HS 175), fällt in einen Sessel, stolpert über Treppen oder stürzt aus dem Raum (HS 175f.). Hier ist es nicht mehr nur das Konzept des Wassers, sondern das um das Motiv der Schwerkraft erweiterte Konzept des Wasserfalls, das Faralds unausgeglichenen affektiven und geistigen Zustand erklären soll. Auch die Beziehung Helenes zu Antonin wird durch das Konzept der Schwerkraft ausgelegt, Antonin eben dadurch charakterisiert. So sagt Larry über seinen Vater Antonin: Er "ist ein Meister der Schwerkraft. Schwermut. Es ist eine Pose." Und warnt Farald: "Lass dich nicht mitziehen." (HS 61) Das Bild "Meister der Schwerkraft" spielt auf den Architektenberuf Antonins an. Das Wort Schwerkraft wird nun in zwei Momente differenziert. Die Bedeutung von „schwer“ findet sich in der Bezeichnung "Schwermut" wieder: das belastende, nach unten drückende Gewicht der Materie wird übertragen auf das bedrückende, niedergeschlagene Gemüt des Melancholikers. Der zweite Aspekt, die Kraft, wird von dem Verb "mitziehen" übernommen. Larry macht transparent, wie er von der fachlichen Fähigkeit seines Vaters eine charakterliche Eigenschaft sprachlich ableitet. Das Verb "mitziehen" verbindet die beiden Begriffe sprachlich und stellt somit auch eine Kausalität zwischen den beiden Phänomenen her. Gleichzeitig suggeriert die Erweiterung: "Es ist eine Pose", dass auch Antonin selbst aufgrund der sprachlichen Koinschauen, es auf seine Schwachstellen hin abzuklopfen, dachte ich. Meinetwegen etwas zu Fall zu bringen" (HS 51/52). 19 Und so wirft Farald während einer Prüfung im Kognitionsforschungsbereich gedankenverlorenen einen Cappuccino um, weil er sich in seinen Erinnerungen verfangen hatte. Hier hilft es Farald noch, dass er sich "mit einem kleinen Stapel Papiertaschentücher (...) eine Art Damm" baut, um den Cappuccino, der seine Papiere "bedrohte", einzudämmen (Vgl. HS 174f.). 20 Zu Helenes Sog-Wirkung auf Farald vgl. auch HS 164. 312

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zidenz die Schwermut nur spielt. Das würde bedeuten, Antonin handle seinem Beruf entsprechend bewusst metaphorisch. So stellt der IchErzähler fest, dass Antonin vor der Fahrt in die Shoppingmall nur so tut, "als müsse er sich in den Wagen hineinzwängen" (HS 98), in den er ebenso "behäbig" ein- wie aussteige (HS 118). Die Schwerfälligkeit gehört also genauso wie die Pose der Schwermut zu Antonins metaphorischem Handeln. Dementsprechend erweckt Antonin den Eindruck, "als wäre alles ein paar Nummern zu klein für ihn" (HS 98). Seine Größe unterstreicht den Eindruck der Kraft und Schwere: "Bei jedem Gerät, das er anfasste, [...] egal wie groß und schwer das Gerät oder wie massiv das Besteck war, das man ihm gab, alles wurde in seinen Händen zu zerbrechlichem, billigem Spielzeug" (HS 98). Antonin wirkt immer als der Schwerere, der Stärkere, obwohl er nicht größer sei als Farald. Demgemäß nennt die Institutssekretärin Antonin auch Faralds "wuchtigen Freund", "Betonmensch" (HS 35) oder "Brachialmensch" (HS 35). Antonin und Helene werden also vom Ich-Erzähler gegensätzlich gezeichnet. Während Farald sich Antonin als "Kraftmenschen", "Bezwinger" (HS 101) vorstellt, erweckt die gebrechliche und unbiegsame Helene den Eindruck, "als könnte sie zerspringen, wenn sie sich zu heftig bewegte" (HS 38). In dieser Gegenüberstellung scheint mit der Logik der physikalischen Gesetzmäßigkeit der Schwerkraft tatsächlich eine zwangsläufige Entwicklung angelegt, nämlich dass Helene Antonin verfällt. Die Konzeptualisierung der Figuren Antonin und Helene legt eine Notwendigkeit nahe, so dass Helene im Grunde jede Möglichkeit der Wahl abgesprochen scheint. Helene gibt im Gespräch mit Farald in der Bibliothek zu verstehen, dass sie sich der Schwerkraft Antonins nicht widersetzten konnte: "Ich weiß, was du denkst, sagte sie. Ich hatte die Wahl. Ich hatte die Freiheit. War gewarnt. Und dann." (HS 83) "Er habe sie dazu gezwungen. Habe sie unterworfen." (HS 83) Gemäß der von Fallingwater verkörperten Balance zwischen Schwerkraft und Levitation verhalten sich Antonin und Skye zueinander: Die nach dem Konzept Levitation funktionierende und benannte 'Skye' ergänzt Antonin perfekt,21 ein auf Unterwerfung beruhendes Verhältnis ist hier nicht möglich, zumal Farald Helene gegenüber – erneut im besagten Schlüsselgespräch – erläutert: "Dass er [Antonin] natürlich zu 21 "Skyes Stärke und Antonins Starrheit ergänzten sich vollkommen. Im Ringen um den Bau verband sich seine etwas grobschlächtige Kühnheit mit ihrer selbstvergessenen Eleganz, sein Wissen mit ihrem Wollen, seine Erfahrung mit ihrer verhaltenen Neugier, verband sich und verschmolz zu einer einzigen Eigenschaft, die über die zu erwartenden Spannungen weit hinauswies. Sie standen in einem diametralen Verhältnis zueinander, aber sie befanden sich auf derselben Umlaufbahn" (HS 129/130). 313

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allem, was wir taten und zu allem, was ich dachte und plante, dazugehörte. Er war eine Bedingung, eine Voraussetzung für unser Leben, nicht wegzudenken." (HS 84) Durch die metaphorische Konzeptualisierung der Figurenmuster wird eine begründende Logik konstituiert, die eine Zwangsläufigkeit des Handlungsverlaufes suggeriert. Da die Figuren einzig als Textbedeutung existieren, sind sie den Gesetzmäßigkeiten des sich selbst generierenden Textes unterworfen. An den Grenzen seiner nicht-kontingenten Textualität endet ihr freies Spiel. Zugleich aber sind die Figuren selbst Text und als solche Größen der textimmanenten Gesetzmäßigkeiten. Die aufgezeigte übergreifende Systematik von Fallingwater bildet das organisierende Konzept und eine wesentliche Referenz der Sinnhaftigkeit des Romans, wobei sich freilich einzelne Elemente verselbständigen und das Konzept Fallingwater nicht mehr als Ursache gelten muss. Mittels des offenen Referenzsystems Fallingwater reflektiert Hens die Einengung erzählerischer Freiheiten durch Gleichnisse wie dem des Prätextes Wahlverwandtschaften – die von einer naturwissenschaftlich belegten Zwangsläufigkeit ausgehen und damit einen teleologischen Handlungsverlauf erzwingen. Gleichzeitig erweitert er dadurch den Spielraum des Textes mit dem Ergebnis größerer Entwicklungsmöglichkeiten, gerade auch im Hinblick auf die Figuren und deren Konstellation.22 Da der Text nicht allein durch das Konzept Fallingwater determiniert wird, sondern dieses durch andere intertextuelle Beziehungen ergänzt, zurückgenommen, durchbrochen, aber auch gespiegelt wird, garantiert Hens, dass keines seiner Konzepte überstrapaziert werden kann.23 Doch reicht dieses Schreibverfahren aus, um einen literarischen Kontingenzraum und somit literarische Sinnlosigkeit zu konstituieren? Wo für Hens die letzte Grenze literarischer Vermittlung liegt, zeigt er – wie könnte es auch

22 So verändert sich z.B. Faralds Sicht auf Helene. Aus der gebrechlichen Giraffe (HS 38) wird eine gefestigte Persönlichkeit, die an dem Scheitern der Lebenskonstellation nicht zerbricht, sondern reift: "Ich sah ihr nach und glaubte eine Veränderung in ihrer Haltung zu bemerken, oder vielleicht war es dieselbe, gerade, fast steife Haltung, die nun eine neue Bedeutung erhalten hatte. Ihr Gang hatte etwas Getragenes, Würdiges, von Zerbrechlichkeit, Unsicherheit konnte keine Rede sein. Gefasst ist sie, dachte ich" (HS 209). 23 Es ist gerade die Tendenz von Goethes Wahlverwandtschaften, das Gleichnis fatalistisch überzustrapazieren, gegen die Hens in Himmelssturz anschreibt. Das er ausgerechnet einen Teil der Rede des Maurers über die vollkommene Planung und Ausführung eines Gebäudes seinem Roman – in dem die perfekte Planung und Ausführung eines Gebäudes zwar gelingt, deren angedachte Bewohner dieses aber niemals beziehen werden – als Motto voranstellt, darf als ironischer Kommentar verstanden werden. 314

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anders sein – an Helene. Sie erzählt von ihrem Bruder Alexander, einem erfolglosen Drehbuchautor: Er habe auf den Standpunkt gestanden, [...] dass jeweils ein Todesfall, ein Unglück in einer erfundenen Geschichte natürlich nicht mehr dieselbe Bedeutung habe wie das Unglück oder der Unfall im richtigen Leben. Denn welcher Autor verzichtet schon darauf, auch dem Unfalltod, dem willkürlichsten, sinnlosesten Unfalltod noch Bedeutung, Vorsehung, Sinn unterzuschieben. Und dann sei es eben kein Unfall mehr, ja, eigentlich sei so ein Tod nicht mehr von der Sinn- oder Signalhaftigkeit eines Mordes oder Selbstmordes zu unterscheiden. Und Mord oder Selbstmord sei ja nun die Holzhammermethode. Normales Sterben ist also nicht darstellbar. (HS 141/142)

Im Hinblick auf diese poetologische Reflexion gilt es, den Ausgang des Romans – den Flugzeugabsturz Skyes – zu bedenken, der als Beleg für Alexanders These gelten könnte. Skyes buchstäblicher Himmelssturz wird zwar als sinnlos inszeniert, sprengt die Beschränkungen narrativer Textualität allerdings nicht, insofern dieser Einsatz eines 'deus ex machina-Effekts' als ironische Aufhebung der Figurenkonzeptualisierung durch Fallingwater fungiert – ausgerechnet die über alle Naturgesetze erhabene Person erliegt den Tücken der Schwerkraft.24 Der vermeintliche Zufall bleibt in die ästhetische Ordnung eingebunden, letztendlich kann auch hier eine konzeptuelle Motivierung identifiziert werden, selbst dann noch, wenn der Ich-Erzähler Filipe von seiner Reaktion auf das unvorhersehbare Unglück folgendes berichtet: Dann kam die Zeit, von der ich dir schon erzählt habe, die Nächte, in denen ich das Haus auf den Kopf stellte, um ein Zeichen zu entdecken, etwas über Skye zu entdecken, das ich noch nicht gewusst hatte, und

24 Letztendlich zeugt auch Helenes 'Emanzipation' von Antonin davon, dass die Figuren gegen ihre putative Determination angehen können. Dennoch bleiben auch diese Widerstände innerhalb des konzeptuellen Netzes. Die Veränderungen, die Farald während der Autofahrt zur Shoppingmall an Antonin beobachtet, sind die Symptome eines Gleichgewichtsverlustes, den Helenes Botschaft, dass sie schwanger sei, bei ihm ausgelöst hat. Genau das intendierte Helene auch: "Sie wollte ihn aus dem Gleichgewicht bringen, aus dieser unverschämten Selbstgewissheit" (HS 207), gesteht sie Farald. Dass ihr das zweifellos gelungen ist, bestätigen Faralds Beobachtungen, während der Autofahrt zur Shoppingmall. Der Verlust des Gleichgewichts bringt Antonin zu Fall, zum "Verfall" (HS 101) – und zwar gedanklich als auch körperlich. Hier setzt demnach das Konzept der Balance ein, das hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden konnte. 315

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das mir die Abwesenheit erklären konnte. Aber da war nichts. Es gab keine Hinweise in diese Richtung. Was passiert war, war nicht vorgesehen gewesen. [...] Ich lief durch das Haus, [...] immer auf der Suche nach dem Zeichen, dass sich in ihrem Leben etwas auf dieses Ende zubewegt hatte. Etwas, das mit entgangen war. Ich, der es gewohnt war, meinen Studenten die Bedeutungen darzulegen, klar zu machen, die obskursten Hinweise so offen zu legen, dass sie auf einmal so wirkten, als stünde tatsächlich ein Plan dahinter. Ich, der ich gewohnt war, diesen Plan mit einer Sicherheit und Überzeugung zu präsentieren, als wäre er mein eigener, als hätte ich alle möglichen Sinnbezüge selbst erfunden, ich musste an dem, was hier hereingebrochen war, scheitern. Ich bemerkte auf einmal, dass Skyes Geschichte ein Text war, den ich nicht selbst geschrieben hatte. Den ich nicht einmal selbst ausgewählt hatte. (HS 213/214).

Insofern dieses Zitat in eine bewusst strukturierte und sinnhaft arrangierte Erzählung integriert ist, gilt dessen Aussage nicht für den Roman, vielmehr gibt sich der Text als Text zu erkennen.25 Kontingenz und Sinnlosigkeit können hier allerhöchstens noch inszeniert werden, bleiben aber ein vermitteltes und zudem ordnungsimmanentes Ereignis. In der narrativen Textproduktion gehen kontingente Lebensereignisse in eine nicht-kontingente Ordnung ein und werden so sinnvoll. Erzählen wird als Kontingenzverwaltung explizit.

25 Bereits an früherer Stelle gibt sich der Text als bewusst arrangierte Erzählung zu erkennen. Auf Filipes Frage, welche die Erzählung initiiert: "Was das überhaupt für ein Leben sei, das ich da drüben geführt habe" (HS 125), entwirft der in diesem Moment zum Ich-Erzähler werdende Farald seinen 'Erzählplan': "Zuerst werde ich ihm von Skye erzählen. [...] ich werde ihm von Augenblicken und Möglichkeiten erzählen" (HS 125; vgl. dazu außerdem HS 127). Der Ich-Erzähler wird also als arrangierende, textstrukturierende und somit sinnstiftende Instanz und die Kontingenzerfahrung (Flugzeugunglück) als Erzählmotivation transparent. 316

R H I Z O M A T I S C H E S S C H R E I B E N ( U N D L E S E N ): ALBERT GOLDBARTHS PIECES OF PAYNE SABINE ZUBARIK

In den letzten Jahren ist auf dem Buchmarkt eine Entwicklung zu verzeichnen, die sich als 'Boom der Fußnotenromane' bezeichnen ließe. Was ist damit gemeint? Schon seit den 80er Jahren häufen sich literarische Texte, die Anmerkungen, insbesondere Fußnoten als textkonstituierende Mittel verwenden, d.h. es handelt sich um Werke, deren narratives Vorgehen sich stark auf die strukturelle Aufteilung in (mindestens) zwei Textebenen stützt. War die jährliche Neuerscheinungsrate dieser sogenannten Fußnotenromane vor der Jahrtausendwende noch an einer Hand abzuzählen, so steigt ihre Zahl seit dem Jahr 2000 exponentiell an. Die Strategien, derer sich die Autoren anhand der Anmerkungen bedienen, sind dabei nicht nur typographisch, sondern auch in ihrer jeweiligen Erzählwirksamkeit sehr vielseitig. Albert Goldbarths Roman Pieces of Payne1 treibt das, was vielen Fußnotenromanen inhärent ist, auf die Spitze: Aufspaltung, Fragmentierung, Diskontinuität. Pieces of Payne verhandelt nicht nur Bi(und Poly-)furkation explizit, sondern führt sie zudem struktural konsequent durch. Auch dieser Roman besteht zu einem großen Teil aus Anmerkungen, die allerdings nicht am Fuß der Seite oder am Ende eines Abschnitts zu finden sind, sondern in einem Anhang. Der laufende Text nimmt dabei 83 Seiten ein, die 50 Anmerkungstexte, die in ihrer Länge mal wenige Zeilen, mal einige Seiten ausfüllen, 110 Seiten.2 Ausgangspunkt ist das Gespräch – während eines langen Abends in einem Lokal bei acht Drinks – zwischen Eliza, Tochter von Dr. Phillips (einer chirurgischen Koryphäe auf dem Gebiet der Brustkrebsbehandlung), und ihrem ehemaligen Literaturprofessor und gutem Freund Albert

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Albert Goldbarth, Pieces of Payne, Minnesota 2003. Diese Edition von Graywolf Press ist die bisher einzige. Bereits die Vorderseite des Einbands verspricht diese Zweiteilung: Zwischen Titel und Autornamen befindet sich der Hinweis ''a novel'', versehen mit einer hochgestellten Eins, die am unteren Rand den Zusatz liefert ''with footnotes''. 317

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Goldbarth (!). Eliza, von Kindheit an mit Zer-teilung und Auf-teilung konfrontiert, sucht Ordnung, System und Einheit in ihrem Leben: Während es im Alltag des elterlichen Hauses unablässig um Amputationen, Transplantationen und körperliche Verluste geht, forscht sie in Astronomiebüchern nach der Einheit des Universums und der Ordnung am katalogisierten Sternenhimmel,3 und während der Vater sich gleichzeitig in zwei Leben aufteilt, die miteinander wenig zu tun zu haben scheinen – er führt in seiner Praxis zwei Terminbücher, ein offizielles als der 'rechtschaffene' Arzt und Familienvater und ein geheimes als Marathon-Dater von unzähligen Frauen –, verbindet sie das ihrige mit dem der berühmten Astronomin Cecilia Payne-Gaposchkin und macht sich zu deren Double: When I was fourteen, and I read Cecilia Payne-Gaposchkin’s autobiography – bam! I was smitten. I wanted to be a clone of her. She dabbled in botany: so did I. She read Shakespeare: I read Shakespeare. She married a Russian astronomer: well, ditto. […]4

Doch auch Albert Goldbarth ist ein (mindestens) Doppelter: Er ist der Goldbarth, der an jenem Abend Eliza als Gesprächspartner dient und dies als intradiegetischer Erzähler wiedergibt. Aber er ist auch ein extradiegetischer Textsammler – der Autor Goldbarth, von dem wir annehmen, dass er all die Textfragmente, auch die Dialogpassagen des erzählten Goldbarth, zusammengestellt und miteinander verwoben hat. Dem zuhörenden Albert im 'Haupt'-Text, der auf den Monolog Elizas meist nur im Sinne eines facilitators antwortet, indem er den Verlauf des Gesprächsfadens durch Fragen, Einwürfe und Bedenken nicht abreißen lässt, wird die nachträgliche Dialogarbeit des Textverfassers Goldbarth, der all seine Assoziationen zu Elizas Rede in den Text ein- und vor allem anfügt, zur Seite gestellt. Somit hat man es bei den Anmerkungen mit einer Sammlung von Assoziationen zu tun – Gehörtes, Gelesenes, das durch ein Stichwort ausgelöst aus der Erinnerung auftaucht und in einer nicht

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Eliza: ''All of the ways we order randomness up there – a Belt, a Dipper, Fishes, you know – […] these things said there were parts of the universe I could count on not to change unrecognizably the moment I turned my back.'' Goldbarth, Pieces, S. 22. ''I could see how all of that endlessness and all of that unknowableness out there in the sky in fact was being ordered… domesticated… tagged… one element of the periodic table at a time, one fiery asterisk after another… it was being brought into a system of human meaning. That revelation saved my adolescent sanity, I swear.'' Ebd., S. 70. Ebd., S. 69f. 318

ANGEMERKT

abschließbaren Kette Elizas persönlichen Kampf zwischen Auseinanderdriften und Zusammenkommen universalisiert. Pieces of Payne kommt dem nahe, was Deleuze und Guattari in ihrem Werk Tausend Plateaus5 als Rhizom-Buch bezeichnen: ''Ein Rhizom-Buch, das nicht mehr dichotom, zentriert oder gebündelt ist''.6 Der Roman lässt sich sowohl inhaltlich als auch durch seinen Aufbau mit dem Modell der Rhizomatik parallelisieren, was im Folgenden anhand einiger Textauszüge belegt werden soll. Um zu erläutern, warum Goldbarths Schreibweise rhizomatisch genannt werden kann, müssen zunächst die Hauptaspekte des Rhizoms näher betrachtet werden.

Rhizomatik Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt.7

Das Rhizom ist ein Strukturmodell, das der Pflanzenkunde entstammt. Rhízǀma bedeutet im Griechischen 'das Eingewurzelte' oder auch 'das Wurzelnschlagen', 'Anwurzeln' (abgeleitet von rhiza = die Wurzel).8 In der Biologie ist ein Rhizom ein Wurzelstock bzw. ein Sprossachsensystem, das meist unterirdisch oder dicht über dem Boden wachsend die Pflanze mehrere Winter überdauern lässt. Auffallend dabei sind die Dynamik des Wurzelstocks, seine Unberechenbarkeit und seine permanente Verjüngung: Die Seitenachsen ''treten von Jahr zu Jahr an verschiedenen Stellen auf. Das Rhizom stirbt im Laufe der Jahre hinten ab; vorne […] wächst es weiter''.9 Deleuze/Guattari greifen das rhizomatische Modell der Netzwurzelwerke auf und stellen es dem binären und bi-univoken Modell der Baumverzweigung gegenüber. Sie beschreiben damit Beziehungsgefüge in jeglicher Hinsicht, übertragbar auf Gesellschaft, Kommunikation oder auch die Schreibweise von Texten. 5 6 7 8 9

Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus, übers. v. Gabriele Ricke/ Ronald Voullié, Berlin 2002. Ebd., S. 38. Franz Kafka, Tagebücher 1910-1923, Frankfurt a.M. 1967, S. 9. Vgl. Duden, neu bearb. u. erw. Aufl. v. Günther Drosdowski, Mannheim u.a. 1994, Bd. 6, S. 2780. Hans Mohr/Peter Schopfer, Lehrbuch der Pflanzenphysiologie, Berlin/Heidelberg 1985, S. 490f. 319

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Ein Rhizom10 besitzt bestimmte strukturale Eigenschaften: Es ist ahierarchisch aufgebaut, es hat kein Zentrum, keinen Anfang und kein Ende; es besteht aus Verbindungen und Intensitäten; durch sein nichtlineares Wachstum ist kein Schnitt oder Bruch signifikant – es kann an jeder Stelle fortgesetzt werden und neue Verbindungen aufnehmen; insofern gleicht sein 'System' (das Rhizom hat kein System!) dem einer Karte: es ist immer nur Ausschnitt, die Zugänge an allen Seiten sind offen, es gibt Fluchtlinien, Richtungen, Anknüpfungen, Erweiterungen – ein Rhizom ist nicht abschließbar. Was bedeutet nun 'Rhizom sein' im Hinblick auf Texte, und im Speziellen auf den hier zu behandelnden Text? Rhizomorph sein bedeutet, Stränge und Fasern zu produzieren, die so aussehen wie Wurzeln oder sich vielmehr mit ihnen verbinden, indem sie, selbst auf die Gefahr hin, dass ein neuer, ungewöhnlicher Gebrauch von ihnen gemacht wird, in den Stamm eindringen.11

Ein Fußnotenroman ist in diesem Sinne immer in gewissem Maße rhizomorph, denn er produziert Textfasern, manchmal ganze Stränge, die vom Stammtext abgehen und gleichzeitig in ihn eindringen. Diese Verbindung konstituiert sowohl die Beschaffenheit des Stamms als auch die der Faser mit. Die Gefahr, dass ein neuer, ungewöhnlicher Gebrauch von den Fasern gemacht wird, besteht bei den Fußnoten insofern, als durch ihre Anknüpfung an den Stammtext ein neuer Kontext entsteht, mitunter ein ungewöhnlicher Zusammenhang, der die Textfaser neu bestimmt. Ein Kriterium für Rhizome ist also die Offenheit nach allen Seiten und die Absenz eines Zentrums: Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo. Der Baum ist Filiation, aber das Rhizom ist Allianz, einzig und allein Allianz. Der Baum braucht das Verb 'sein', doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion 'und... und... und...'.12

Das Prinzip der Kartographie ermöglicht ''vielleicht eine der wichtigsten Eigenschaften des Rhizoms, immer vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu

10 Es wird hier vereinfachend von 'dem Rhizom' die Rede sein. Strenggenommen aber gibt es kein einzelnes Rhizom als abstrakte oder gar abgeschlossene Einheit. Gemeint ist keine Entität sondern ein Prozess. Es wäre richtiger – wenngleich umständlich –, vom Modell der 'Rhizomorphizität' zu sprechen. 11 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 27. 12 Ebd., S. 41. 320

ANGEMERKT

bieten.''13 Auch Pieces of Payne hat keinen Anfang, sondern einen Zugang – ''since we need to declare some entryway'';14 Anfang impliziert Entwicklung, Zugang bedeutet, alles ist schon längst da, und so führt der Weg hinein in den Text über alles und nichts: statistische Krebsraten, die Erwähnung von Nachthimmel, Wal und Werwolf – all dem wird man noch mehrmals begegnen im Laufe des Parcours durch den Roman. Ebenso gibt es kein Ende, sondern einen Ausgang über das Nachwort, das den Anschein einer weiteren Folge von Fußnoten gibt und wiederum weitere Nachworte – ein unendliches Nachliefern von Fakten und Geschichten, Gedanken und Eindrücken – zur Folge haben könnte. Selbst in den Acknowledgments nach dem Nachwort setzt sich die Liste fort: weitere Anekdoten, weitere Verbindungen. Die Geschichte geht weiter, weil das Leben weiter geht: ''And yet the elements of Pieces of Payne are never completed. They go on, noticed or not [...]: unstoppably''.15 In einem Rhizom gibt es keine Hierarchie: ''Jedes Plateau kann von jeder beliebigen Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden.''16 Dies macht sich auch Goldbarth zum Prinzip. Im Inhaltsverzeichnis befindet sich bei der Angabe Notes eine Fußnote, die der Leserschaft ausdrücklich die Freiheit lässt, mit den Anmerkungen zu verfahren, wie sie möchte: Each may be turned to as its number is first encountered, and so read singly, as a kind of erratic punctuation to ''Pieces of Payne''; or they may be read as one continuous block of prose called ''Notes''; or they may be read through any mixture of these two approaches. In a sense, they are pieces of ''Pieces of Payne'', and their repiecing is at the reader’s discretion.17

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Ebd., S. 23-24. Goldbarth, Pieces, S. 3. Ebd., S. 211. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 37. Goldbarth, Pieces, (contents). – Eine ähnliche 'Anweisung' findet man in der Vorbemerkung zu Tausend Plateaus: ''Es [das Buch] besteht nicht aus Kapiteln, sondern aus 'Plateaus'. [...] Außer dem Schluß, der zuletzt gelesen werden sollte, kann man diese Plateaus nahezu in beliebiger Reihenfolge lesen.'' 321

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Bifurkationen Ah! – all of the bi(and tri- and more)furcated lives!18

Oberflächlich betrachtet könnte bei Pieces of Payne zunächst der Eindruck entstehen, dass sowohl inhaltlich als auch formal die Zweiteilung im Vordergrund stünde. Es geht in diesem Buch oftmals um Gabelungen, ''bifurcated lives'', ausgelöst durch das Unverständnis Elizas für ihren Vater, dessen Leben in zwei unterschiedliche Richtungen verläuft (''philandering diversions'' of a ''compartmented life''19). Davon ausgehend zeigt Goldbarth eine Reihe von sich gabelnden Biografien und Lebenszuständen.20 Immer wieder folgt der Zusatz: ''another bifurcated life''. Doch, soviel auch von Bifurkation die Rede ist, muss man feststellen, dass es letztlich um die Vielheit geht. Die grobgliedrige Zweiteilung ist nur eine Durchgangsphase, die so offensichtlich gar nicht ist, zählt man auch Vorbemerkung, Motti, Nachwort, Danksagung und Literaturangaben hinzu; sie dient dem, was Deleuze und Guattari die ''Zauberformel'' nennen, ''die wir alle suchen: Pluralismus = Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen''.21 Die Auffächerung in zwei erweist sich eher als Verfaserung. Gerade im Hinblick auf die Identitätsfrage der Romanpersonen in Pieces of Payne findet sich anstatt der Gabelung das rhizomatische Prinzip der Mannigfaltigkeit.22 Insbesondere Eliza mit ihrer holistischen Vision eines stabilen Selbst in einem verstehbaren, ein-

18 Goldbarth, Pieces, S. 108. 19 Ebd., S. 68. 20 So ist z.B. von Dickens’ jahrelanger heimlicher Liebschaft mit Nelly die Rede (ein Doppelleben, das erst Mitte des 20. Jhd. aufgeklärt werden konnte), von Jack Londons Hauptfigur aus seiner Science-Fiction-Story The Star Rover, der, tagelang in einer Foltermaschine gefangen, sein Bewusstsein vom Körper befreien kann und währenddessen in Welten und Universen wandert ("All my life I have had an awareness of other times and places. I have been aware of other persons in me. – Oh, and trust me, so have you, my reader"; Jack London in ebd., S. 87), von Marian Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot ihre Bücher veröffentlichte, Loreta Janeta Vasquez, die als vermeintlicher Mann 2 Jahre im amerikanischen Bürgerkrieg kämpfte, das Doppelleben der Zwangskonvertierten im Spanien des 15. Jhd., das spätviktorianisches Interesse für ''this divided-self theme'' (ebd., S. 159), Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Siamesische Zwillinge, lange Listen von Tiermenschen – von der Antike bis zu heutigen Comics, durch Tätowierung und plastische Chirurgie erzeugte Tigermänner, Werwölfe, Schizophrene, antike Halbgötter, Androgyne, Transsexuelle..., kurz ''a glissando of selves'' with ''endless possibilities.'' (Ebd., S. 113f.). 21 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 35. 22 Vgl. ebd., S. 17. 322

ANGEMERKT

heitlichen Kosmos muss feststellen, dass sie selbst als Person eine unstabile Vielheit darstellt.23 Dies ist die Geschichte des Scheiterns des binären Baummodells: Eliza die Eine, Dr. Phillips der Doppelte, weichen einer anderen Vorstellung von persona: Der vielfältige und metamorphotische Mensch verhält sich selbst als Rhizom, nach den Maßstäben ''werdende und sich verändernde Mannigfaltigkeiten, und nicht mehr zählbare Elemente und geordnete Beziehungen; unscharfe und nicht mehr genaue Mengen''.24 So hat ein Rhizombuch keinen Autor, weil es viele sich verändernde Autoren hat. Es gibt nicht nur den Goldbarth des Dialogs im ersten Textteil und den Goldbarth des Anmerkungsteils, sondern mit jedem Textfragment einen anderen, und jedes Zitat von einem VorläuferAutor, der selbst wieder 'viele' war, erzeugt einen nochmals anderen Goldbarth, einen Dickens-Goldbarth, Melville-Goldbarth usw. – so wie auch Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus von sich sagen: ''Wir haben den Anti-Ödipus zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge.''25 Zwei Erklärungen liefert Goldbarth für die menschliche Fähigkeit, vieles und immer anders zu sein; eine davon ist unsere biologische Grundkonzeption zur Metamorphose: It’s everywhere, the proof of our astounding metamorphic capability. Except it’s not ''astounding'', it’s our first prenatal talent and we bear it all our years: we start as ''stem cells'', undifferentiated, each with the promise of specifying into, say, the isinglass rind of a toenail or the watt-charged web that lights the neocortex or the tiny museum of bones inside the ear or […]. It ought to be clear by the time the intrauterine photos show a fetus floating in its angelically silky hairshirt of lanugo: we were born to be to identity what the chameleon is to color.26

Die andere Erklärung ist die physikalische Entdeckung, dass das Universum keineswegs nur zweispurig ist – das sei nur der Anfang der Quantenphysik gewesen. Heute gehe man davon aus, dass es mindestens viele, wenn nicht unendlich viele tracks gibt, und dass es möglich ist, dass

23 Eines Nachmittags wird sie wie erstarrt vor dem Spiegel der Mädchentoilette in der Schule gefunden: ''I only stood there… it was maybe fifteen minutes until they ushered me out… lost in the realization that Eliza Phillips wasn’t exempt: I was standing there looking to see how many mes I could find in the mirror.'' Goldbarth, Pieces, S. 22. 24 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 700. 25 Ebd., S. 12. 26 Goldbarth, Pieces, S. 4f. 323

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Teilchen sich gleichzeitig an verschiedenen Orten aufhalten können.27 Wenn dem so ist, müssen viele Vorstellungen der traditionellen Denkweise aufgegeben werden, die auch Handlungen wie Schreiben und Lesen betreffen. Wenn es nie nur ein 'hier' gibt, sondern parallel immer auch ein 'dort', dann findet Lesen an vielen verschiedenen Orten gleichzeitig statt. Ein einspuriger Text kann nicht genügen.

Konnexionen When one tugs at a single thing in Nature, he finds it hitched to the rest of the Universe.28

Das rhizomatische Prinzip der Konnexion und der Heterogenität – ''Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden.''29 – scheint für einen Text, der noch immer einen Roman darstellen soll, gar nicht so einfach umsetzbar zu sein, will man nicht davon ausgehen, dass man es mit einer völlig losen Reihung von Aussagen zu tun hat, sondern trotz aller Rhizomatik mit einem Grundausmaß an Kohärenz, um überhaupt noch von einem Erzähltext sprechen zu können. Zunächst ist bei den Fußnoten zu beobachten, dass die Konnexionen zum Stammtext wie Assoziationsketten funktionieren. Oft gleichen die Anmerkungen essayartigen Ausführungen auf ein einziges Stichwort hin, wie Ring, Insel, Verlust, Amputation. Manchmal werden im Lauf der Beispielsammlung zwei oder mehrere dieser Stichwörter verbunden, z.B. Ring, Verlust und Rückkehr, und es werden eine Reihe von Geschichten 27 Vgl. ebd., S. 182: ''What we now suspect, 101 years after Planck’s revealing of quantum mechanics, is that there may be many tracks, much more than two, may even be infinite tracks – or call it infinite ('parallel'? 'congruent'? do we need a new term altogether?) universes. Discover says: 'The laws of quantum theory insist that the fundamental constituents of reality, such as protons, electrons, and other subatomic particles, are not hard and indivisible. They behave like both waves and particles. They can appear out of pure void, and disappear. A single particle occupies not just one position but exists here, there, and many places in between. […] Physicist David Deutsch argues that the theory’s laws must hold true at every level of reality. Because everything in the world, including ourselves, is made of these particles, and because quantum theory has proved infallible in every conceivable experiment, the same weird quantum rules must apply to us. We, too, must exist in many states at once, even if we don’t realize it' – so all of us have twin counterparts in an überconstruct of (maybe) infinite universes.'' 28 John Muir in ebd., S. 85. 29 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 16. 324

ANGEMERKT

erzählt, in denen es um verlorene und wieder gefundene Ringe geht. So kann es passieren, dass die Fußnote zur Textstelle erst einmal keinen thematischen Bezug aufweist, außer dass es sich um dasselbe Objekt, eben einen Ring, handelt. Fußnote 28 führt den Inhalt einer im Jahr 1919 publizierten Fantasy-Novelle, The Girl in the Golden Atom von Ray Cummings aus, in der ein Wissenschaftler sich so verkleinert, dass er in dem Kratzer eines Goldrings Platz findet. Die damit verbundene Textstelle schildert den Moment, als Elizas Mutter ihren Ehering aus dem Fenster in den Gemüsegarten wirft, den Eliza noch in derselben Nacht heimlich und verzweifelt suchen und nicht finden wird. Zunächst keine signifikante Verbindung. Jedoch, weiter im Text,30 und dann in den Fußnoten 48 und 49, und selbst noch im Nachwort und in den Acknowledgements kommt Goldbarth auf den Ring zurück: Es häufen sich Geschichten, Zeitungsnotizen, historische Anekdoten, in denen ein verlorener Ring durch eigenartige Umstände wieder zu seinem Besitzer zurückfindet. Auch hier immer noch die Frage: Was hat es mit Eliza zu tun, wo ist die Verbindung, abgesehen von der Assoziation 'Ring'? Am Ende des Abends und am Ende des ersten Textteils, als Eliza ihre inoffizielle Eheschließung mit Carlota und die Umstände, die dazu geführt haben, bekannt gibt, schließt sich der Kreis, der Ring kommt zurück: ''This is why we decided, kablooey, to go get married. C. was preparing potato quiche. We grow them ourselves, in the garden. So she’s out there, at night, and picks a couple, and comes back in and slices one...'' Bingo. ''YOU’RE WEARING IT RIGHT NOW.'' I point – ''That’s it, right?''31

Alles wird klar ohne explizit erklärt zu werden. In einem Textuniversum, in dem es seitenlang um verlorene und zurückgekehrte Dinge geht, genügt ein Hinweis, um zu wissen, auch dieser Moment gehört zur Welt der wiedergefundenen Ringe, und jegliche bis jetzt unverbunden scheinende Fußnote findet ihren Anschluss. Verbindung ist aber nicht nur ein textinternes, sondern vor allem auch ein intertextuelles Prinzip in Pieces of Payne, das zu einem großen Teil aus Zitaten besteht. Die Fußnoten eröffnen bzw. erweitern dadurch einen Bedeutungsraum, in dem Interferenz und Überlagerung mit den literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Vorgängern zur eigentlichen Substanz des Textes wird. Es geht hierbei nicht mehr darum, welcher Autor zu welchem Zeitpunkt welche Aussage getroffen hat, sondern, um mit Deleuze und Guattari zu sprechen, um kollektive Aussageverkettungen: 30 Goldbarth, Pieces, S. 77-79. 31 Ebd., S. 76. 325

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Es gibt keine individuelle Aussage, sondern nur maschinelle Gefüge, die Aussagen produzieren. [...] Jeder von uns steckt in einem solchen Gefüge und reproduziert dessen Aussage, wenn er glaubt, in seinem eigenen Namen zu sprechen, oder spricht vielmehr in seinem eigenen Namen, wenn er dessen Aussage reproduziert.32

Oder, mit Goldbarth in Cortázars Worten: ''In quoting others we cite ourselves.''33 Ein Werk reiht sich ein in einen Kontext von Verbindungen, die miteinander interferieren, und so ist es durchaus nicht unlogisch, wenn Goldbarth am Ende einer langen Literaturliste der erwähnten Werke und einem uneingeschränkt akkuraten Umgang mit Zitaten und Quellenangaben behauptet, Pieces of Payne habe eigentlich gar keine Quellen, ''it simply takes its place among elements that precede it and that follow it''.34 Ein Buch also, das als Zustand der reinen Verbindung fungiert, das 'Rhizom macht' mit Themen, literarischen Texten, Autoren und Lesern; ein Buch, das dadurch, dass es ein Buch ist, als epistemische Einheit die Un-Einheit vorführt und sich selbst somit als ebendiese epistemische Einheit aufhebt, da es seine eigenen formal und inhaltlich bedingten Grenzen aushebelt, indem es – formal und inhaltlich – immer wieder auf sie verweist. In der steten Rede von der Vielheit und dem Fragmentarischen wird aber gerade dadurch doch wieder eine Einheit geschaffen, die den Titel Buch oder Roman als begrenzten und begrenzenden Gegenstand rechtfertigt.

Fragmente These pieces won’t halt: the boundary of a book is less than air to them. These pieces wink at each other, they shnoogle sighingly, they meet to confer, they part, they wave adieu and zip toward different mental planet zones, they reproduce, they tease us with coherence, they grimace and coil about and finagle, they repeat one another, they flaunt, they taunt, they sail away. Maybe only a deity – if deities exist – explains (or is) these splinters’ unity.35

32 33 34 35

Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 56. Julio Cortázar in Goldbarth, Pieces, S. 207. Ebd., S. 211. Ebd., S. 213. 326

ANGEMERKT

Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es gemacht ist. Deshalb hat ein Buch auch kein Objekt. Als Gefüge besteht es selber nur in Verbindung mit anderen Gefügen [...]. Man frage nie, was ein Buch sagen will, ob es nun Signifikat oder Signifikant ist; man soll in einem Buch nicht etwas verstehen, sondern sich vielmehr fragen, womit es funktioniert, in Verbindung mit was es Intensitäten eindringen läßt oder nicht, in welche Mannigfaltigkeiten es seine eigene einführt und verwandelt [...].36

Dementsprechend handelt Pieces of Payne nicht nur von Fragmentierung und Zerstückelung, es ist auch so 'gemacht', es funktioniert nur als Stückwerk und mit Stückwerken. Ziel ist nicht das Verständnis von Elizas 'Krankheit' (die Wahrnehmung der Welt im Bruch, in der Zerteilung) und ihrem 'Heilungsversuch' (die Suche nach Einheit und Ordnung);37 das Buch wird gleichzeitig zu dieser Krankheit und zum Heilungsversuch. Das bedeutet nicht nur, dass es darstellt, was es bespricht, dass es sich also sowohl Bruch- als auch Einheits-suchend verhält; es bedeutet, dass es zur entsprechenden Intensität wird und in seiner Verbindung nach außen ebensolche erzeugt – 'Eliza-Zerstückelungs-' und 'Eliza-Vereinheitlichungs-Intensitäten', die 'Rhizom machen' mit dem Leser, der selbst zur intensiven 'Krankheits'- und 'Heilungs'Wahrnehmung wird. Elizas Jugendtrauma besteht, wie schon erwähnt, darin, alles um sich herum als zerstückelt wahrzunehmen; ihre Feststellung, dass sie sich bei der Scheidung und dem Auszug ihrer Eltern ''amputated from something I’d originally been a part of''38 fühlt, und ihr Vergleich mit einem abgetrennten Körperteil39 veranlassen Goldbarth zu einer sechsseitigen Ausführung in Anmerkung 17 über religiöse Relikte, Transplantationen, künstliche Ersatzgliedmaßen und Arten der Entleibung, die sich auch über weitere Fußnoten und Einschübe im 'Haupt'-Text hinziehen wird. Das Thema Zerlegung wird also ebenso über den gesamten Text zerlegt. Elizas Art der Wahrnehmung – ''if we perceive it through eyes in 36 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 13. 37 Vgl. im Roman: ''Eliza could tell: what she had for herself was only a piece of her father. […] And so my therapist said I started pretty early seeing life as essentially fractured – seeing my task in life as 'seeking out unification''' Goldbarth, Pieces, S. 13f. 38 Ebd., S. 23. 39 ''You know 'phantom limb'? – when the body continues to feel sensation as if its severed leg or arm were still attached? Well, nobody ever wonders if the chopped-off body part still feels anything, but I can tell you: yes it does, its nerve ends burn in the bed at night like a million oil refineries seen from an airplane.'' Ebd., S. 23. 327

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dismemberment mode''40 – wird zum Motto, zum Leitfaden und zur Anleitung des Romans: Schreiben (aber auch Lesen) im ''dismemberment mode''. Die Konfrontation Elizas mit der Inkohärenz ihrer Eltern, das Gefühl mit jemand oder etwas (''a shape'') zu kommunizieren, das zusammengefügt ist aus ''little shifting kaleidoscope pieces'',41 wird umgehend textuell umgesetzt: Es folgt die Ankündigung des Erzählers (im 'Haupt'Text), dass der darauffolgende Textteil aus verschiedenen Versatzstücken zusammengebaut ist – ''cobbled together from that night’s talk and several earlier conversations''.42 Doch interessanterweise, um das Spiel mit der (In)kohärenz fortzusetzen, ist dieser als Patchwork ausgewiesene Abschnitt kohärenter erzählt als der chronologische Dialog des tatsächlichen Abends, der von einem Thema zum nächsten springt. Dieser Leseeindruck wirft die Frage auf, was mehr Kohärenz erzeugt, der tatsächlich chronologisch erzählte Hergang oder die fragmentarische Neuordnung des Materials. Elizas sofortige Diskreditierung der Umordnungsversuche seitens ihres Gesprächspartners – ''Look, let me tell this my way, in my order. I’m all about order.''43 – zeigen einmal mehr, dass diejenige, die Ordnung sucht und stiften will, in Wirklichkeit Inkohärenz evoziert, da sie die dem Fragmentarischen innewohnende Kohärenz nicht entdeckt. Elizas Heilungsversuch besteht im Anfertigen von Listen, um möglichst alles zu erfassen, die Lücken zu schließen, das Chaos zu systematisieren und zu katalogisieren. ''Like making a hundred lists a day. Of food I had in the refrigerator. But then if I had cheese, I might write Havarti and start a separate list for 'h' foods wether I had them or not, or it might go under 'd' for Danish, or both.'' […] ''And you thought that… what? … this would make your life whole again?'' ''If I had enough lists. If I had every list, I would have the whole world, without gaps. […] I made lists of stars, like my heroes did. I wanted big theories that unified.''44

Just an dieser Stelle von Elizas Ausführungen knüpft sich eine Fußnote mit einer Liste literarischer Varianten von Elizas Hang ''to compile lists'' 40 Ebd., S. 26. 41 Die genaue Stelle lautet: ''I could see the separate parts of the universe interlinking, making, or anyway trying to make, a whole; and then I’d turn and see my father’s life, which had come to represent... how should I put it?… disunity. Mother, too: she’d visit sometimes, I’d feel as if I were talking to a shape composed of little shifting kaleidoscope pieces.'' Ebd., S. 55. 42 Ebd., S. 56. 43 Ebd., S. 59. 44 Ebd., S. 16. 328

ANGEMERKT

an, von lateinischen Gebetsanrufen, ''in which […] heaven and earth are surrendered and captured'',45 über Richard Wilbur bis hin zu Borges’ Ficciones und der Frage, ob ein Buch die Welt enthalten kann oder eine Bibliothek alles Geschriebene in seiner Potentialität. Der Text, der von 'Liste machen' handelt, macht sich selbst zur Liste, versucht wie Eliza, alles zu erfassen und zu katalogisieren – ''the whole world, without gaps''; das Anmerken von immer noch weiteren Informationen ist auch ein Weg, Lücken zu füllen. Doch gerade die Tatsache, dass stets noch Weiteres angemerkt werden kann, ist einmal mehr Beweis dafür, dass die Lücken nicht zu füllen sind. Schließlich ist alles eine Frage der Ordnung. Elizas Art, die Welt 'in Ordnung' zu bringen, ist folgende: [...] all of my books lined up by size, from shirpocket Biblical tracts to trendy hairstyle books as large as newspaper pages. And then I’d try to get doubles so I could arrange them by color of spine as well. Or by author – see? – if I had, like, J, K, L, M, N, O, Q, I’d be frantic until I could find an appropriate P.46

Ebendies wird zur Art und Weise, wie die Ordnung des Romans funktioniert. So wie Eliza Bücher re-arrangiert, werden im Text Fakten und Geschichten in Stichpunktsammlungen kombiniert: 'alles über amputierte Körperteile', 'alles über metamorphotische Tiermenschen', 'alles über verlorene und zurückgekehrte Ringe' usw., – eine Umsortierung und Neukombination aus Bibel, antiker Philosophie, Geschichtsbüchern, Biografien, klassisch-kanonischen literarischen Werken, Klatschzeitschriften, Quantenphysik, wissenschaftlichen Meldungen, ScienceFiction und Comics – ein Teil des menschlichen Wissens in anderer Ordnung.47 Das ist hier die Aufgabe des Autors: die Fakten einsammeln, sie domestizieren48 für einen Roman, den Fragmenten Form geben, einen neuen Kontext, und mag er auch so willkürlich sein wie die Zuordnung 45 Ebd., S. 100. 46 Ebd., S. 18. 47 Vgl. Deleuzes/Guattaris Vorstellung vom rhizomatischen Buch: ''Ideal für ein Buch wäre, alles auf einer solchen Ebene der Äußerlichkeit, auf einer einzigen Seite, auf ein und derselben Fläche auszubreiten: wahre Ereignisse, historische Bedingungen, Ideenentwürfe, Individuen, gesellschaftliche Gruppen und Konstellationen.'' Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 19. 48 ''Domesticate'' nennt Eliza das Katalogisieren des Chaos am Sternenhimmel: ''I could see how all of that endlessness and all of that unknowableness out there in the sky in fact was being ordered… domesticated… tagged… one element of the periodic table at a time, one fiery asterisk after another… it was being brought into a system of human meaning.'' Goldbarth, Pieces, S. 69f. 329

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von Sternen in bestimmte Sternbilder. Goldbarths Fußnoten muten dabei an wie die polyhistorischen Kompendien aus dem 18. Jhd. Mit leichten Umsortierungen ließe sich daraus eine enzyklopädische Sammlung von loci comunes herstellen, mit den bereits genannten Stichwörtern (z.B. 'bifurcated lives', 'loss', 'missing body parts'). Zwei Dinge lassen sich bei der fragmentarischen Schreibweise nicht verhindern: die bereits erwähnten Leerstellen und Widersprüche. Das liegt jedoch in der Natur der Dinge, wie uns in den Anmerkungen von Pieces of Payne erklärt wird: Als Max Planck den Quantensprung entdeckte, war das nicht nur der Beginn der modernen Quantenphysik, sondern revolutionierte gleichzeitig die gesamte westliche Weltvorstellung: [...] in order to account for certain energy-spectrum phenomena, he needed to hypothesize that energy is emitted not continuously, but in what Planck called quanta: unconnected units. […] Planck’s most formative achievement […] still remains his insight of 1900, when the given-wisdom structure of a universe without leaps was completely and (so far) forever destroyed. – Which is to say, Eliza was right. There are gaps. There are strange, incomprehensible lagunae. Reality blinks: we don’t know what takes place in those betweens.49

Kann man nach dieser Erkenntnis überhaupt anders schreiben als sprunghaft, 'quantisch'? Wird das neu entdeckte Naturgesetz nicht auch zum Verhaltensgesetz für die Literatur? Ebenso verhält es sich mit dem Verständnis des Widerspruchs: Wenn selbst Licht in sich ein Widerspruch ist, warum sollte dann irgendwas auf der Welt es nicht sein? ''Sometimes light’s a wave; sometimes a bolus. Who are we, to be imutable?''50 Mit diesem Paradox wird man (vorerst – bis zur Entdeckung der Großen Vereinheitlichenden Theorie) leben müssen. ''Contradiction! Not at all, inconsistency; a contradiction kills its opposite; inconsistencies exist side by side''.51 Die Strategie der Fußnoten steht unter diesem Stern; sie produziert auch Komplementarität, nicht nur Diskontinuität. Pieces of Payne ist gleichzeitig ein Buch, das auseinanderdriftet, das stückelt und zerteilt, als auch eines, das Listen macht, ordnet und vereint. Es ist umfassend, gerade weil es fragmentarisch ist.52

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Ebd., S. 132f. Ebd., S. 118. Ebd., S. 61f. Vgl. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.16: ''Eine seltsame Mystifikation: das Buch wird immer umfassender, je fragmentarischer es ist.'' 330

D E R "H U N D E B L I C K "

DES

KOMMENTATORS -

KOMMENTIERUNG UND HERAUSGEBERFIKTION INGO SCHULZES NEUE LEBEN

IN

YVONNE PIETSCH

Lange Zeit hat er an seinem angekündigten "Wenderoman" geschrieben. Im Oktober 2005 erschien schließlich Ingo Schulzes Roman Neue Leben, nach sieben Jahren intensiver Arbeit. Dargestellt wird ein vor allem auf die so genannte 'Wendezeit' fokussierter Lebensausschnitt des Ostdeutschen Enrico Türmer, der in 82 Briefen vom 6. Januar bis 11. Juli 1990 seinen bisherigen Werdegang als gescheiterter Schriftsteller und schließlich aufstrebender und erfolgreicher Geschäftsmann in den Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs aus autobiografischer Perspektive beschreibt. Türmers erste, unsichere Schritte in der Welt des Kapitalismus, das zunehmend selbstbewusstere und damit rücksichtslosere Verhalten gegenüber Kollegen und Familienmitgliedern werden dabei ebenso geschildert wie die geschichtlichen Veränderungen, die Türmers unmittelbares Umfeld betreffen. Türmers Briefe werden von einer Herausgeberfigur in den Fußnoten kommentiert. Den Abschluss des Buches bildet der Abdruck einiger literarischer Texte Türmers. Im Feuilleton wurde das Buch intensiv und kontrovers diskutiert. Die positiven Kritiken rühmten Schulzes Neue Leben als monumentales, ironisch-burleskes Epos, als "aufschlussreiches Schaustück deutscher (Sozial-)Geschichte".1 In anderen Artikeln reagierten die Rezensenten auf das 790 Seiten starke Werk enttäuscht: Der Roman biete formal und inhaltlich wenig Neues, orientiere sich an traditionellen Gattungen wie Brief-2, Bildungs- und Entwicklungsroman, sei in deutlicher Anlehnung

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Vgl. Karsten Hermann, "Die Wende von unten", in: www.titel-forum.de/ modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=4038 "Und die Briefform: ist das nicht reinster Anachronismus, romantische Rückblende?" Verena Auffermann, "Wie kommt der Westen in den Kopf?" in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 11 (2005), S. 56-60, hier S. 60. 331

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an E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr konzipiert3 und weise sprachlich klare Schwächen gegenüber Schulzes international renommierten Simple Storys (1998) auf.4 Die Bezeichnung des Inhalts als "neue deutsche Geschwätzigkeit",5 als "lakonisch zubereitete [...] Hausmannskost",6 bringt die vorgebrachte Kritik auf eine prägnante Formel. Allerdings wird bei diesen kritischen Stimmen zu Schulzes Text übersehen, dass in Neue Leben ein raffiniertes, z. T. selbstironisches, intertextuelles Spiel durch die für den Text konzeptionell maßgebliche Herausgeberfiktion betrieben wird, was im Folgenden aus editionsphilologischer Perspektive näher analysiert werden soll. Insbesondere bei den kritischen Rezensionen zu Neue Leben fällt eine fehlende bzw. ungenaue Differenzierung der Begriffe 'Autor' und 'Herausgeber' bei der Bezeichnung Ingo Schulzes auf.7 "Schulze" tritt innerhalb des Romans – ähnlich wie in seinem Erstlingswerk 33 Augenblicke des Glücks – als Herausgeberfigur auf8 und beginnt damit ein

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Dies zu konstatieren ist per se nichts Neues, da Schulze selbst angibt, dass E.T.A. Hoffmann für ihn seit seiner Studienzeit zunehmend wichtig geworden sei. Vgl. Matthias Auer, "Essay über Ingo Schulze", in: www.klgonline.de, [Stand: 27.11.2006] S. 4. Die Simple Storys wurden in 25 Sprachen übersetzt und gelten als kunstvoll gearbeitetes Mosaik, das sich stark an der Gattung der amerikanischen short story orientiert (vgl. Auer, "Essay", S. 7). In zahlreichen Punkten weist Neue Leben jedoch auch auf diesen vorangegangenen Roman Schulzes zurück. Wie in Simple Storys ist der Schauplatz Altenburg und wieder stehen Geschichten der 'kleinen Leute' in der Provinz im Vordergrund. Anders als bei den Simple Storys erhält in Neue Leben jedoch die Vorwendezeit eine stärkere Fokussierung, nicht vorrangig die Nachwendezeit. Vgl. ebd., S. 9. Hans-Peter Röntgen, "Die große Umwendung", in: www.literatur-fast-pur.de/ 3leben.html. Iris Radisch, "Die 2-Sterne-Revolution", in: Die Zeit 13.10.2005 (Nr. 42). Ein Beispiel: "Ingo Schulze, der Meister des elliptischen Erzählens, hat sich in die Fussnoten verflüchtigt." Martin Krumbholz, "Schlagen Sie ein! Ingo Schulze macht Furore mit dem Roman 'Neue Leben'", in: Neue Zürcher Zeitung, 26. Oktober 2005; www.nzz.ch/2005/10/26/fe/articleD93PP.html. In 33 Augenblicke des Glücks befindet sich der fiktionale Herausgeber, der unter das einleitende Vorwort die Initialen Ingo Schulzes setzt, stärker im Hintergrund als dies bei Neue Leben der Fall ist. In diesem Roman, der aus 33 "abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter" – so der Untertitel – besteht, finden sich am Ende "Ausgewählte Anmerkungen des Herausgebers", die Hinweise auf intertextuelle Vernetzungen der dargebotenen Geschichten mit Texten russischer Autoren geben. Dies wird jedoch allenfalls bruchstückhaft vorgenommen und bezieht sich lediglich auf acht der 33 Geschichten. 332

ANGEMERKT

"romantisches Spiel mit den Identitäten".9 Dabei erweist sich der fiktionale Herausgeber als eigenwillige, in zunehmendem Maße besserwisserisch auftretende Figur, die Türmer immer wieder in den Fußnoten zu korrigieren versucht. In der Einleitung geriert sich der fiktionale Herausgeber zunächst als Schriftsteller auf der Suche nach einem geeigneten "Romanstoff", der Material über deutsche Geschäftsleute sammelt und dabei auf die Briefe Türmers stößt.10 Damit wird formal auf die traditionelle Herausgeberfiktion zurückgegriffen, die zur Beglaubigung des 'Authentischen' der im folgenden edierten Texte dienen soll. Auf den nächsten Seiten nimmt sich die Herausgeberfigur selbst als Schriftsteller scheinbar zurück, indem sie für sich die Rolle des Editors proklamiert: "Und ich beschloss, mein eigenes Romanvorhaben zurückzustellen und mich mit ganzer Kraft der Herausgabe dieser Briefe zu widmen."11 Gewinnt der Leser zunächst den Eindruck, er habe durch die Anmerkungen des Herausgebers im Fußnotentext einen hilfreichen "Reisebegleiter"12 an der Hand, wird vor allem gegen Ende durch den apodiktischen Gestus in den Fußnoten deutlich, dass die Herausgeberfigur eigene Interessen verfolgt. Sie trägt letztendlich eine persönliche Rache an Türmer aus, was sie allerdings vor dem Leser zu verbergen sucht. Sie stilisiert sich als Sprachrohr eines in ihren Augen teils missverständlichen, teils in sich widersprüchlichen, erfolglosen Schriftstellers, dem sie bereits im Vorwort kritisch gegenüber steht: Nicht immer war es möglich, das Einverständnis von allen [in den Briefen erwähnten Figuren] zu erreichen oder auf ihre Bedingungen einzugehen. Wie wenig ausgewogen, ja wie falsch und gehässig mitVgl. Ingo Schulze, 33 Augenblicke des Glücks: aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter. Berlin 1995, S. 268f. 9 Ariane Thomalla, "Ingo Schulze, Neue Leben", in: www.arte.tv/de/kunstmusik/Buchmesse-Frankfurt/Ingo_20Schulze_3A_20Neue_20Leben/1008626. html. 10 Vgl. Ingo Schulze, Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa, hg, komm. u. m. e. Vorwort v. Ingo Schulze. Berlin 2005, S. 7. 11 Schulze, Neue Leben, S. 9-10. 12 So Ingo Schulze in einem Interview zu seinem Roman, vgl. Jürgen Sander, "Die Welt im Wassertropfen. Interview mit Ingo Schulze", in: www.buecher gilde.de/archiv/exklusivinterviews/schulze.shtml. Nach der Funktion des Herausgebers gefragt, antwortete Schulze: "Die Figur des Herausgebers, die ja meinen Namen trägt, bot sich durch die 'Briefedition' an, er ist sozusagen der Reisebegleiter des Lesers und scheint auch hier und da ganz nützliche Hinweise zu geben. Wichtig ist aber, dass er Türmers Erzählungen korrigiert, relativiert und zum Teil ganz in Frage stellt. Zugleich offenbart der Herausgeber mehr und mehr seine eigenen Ambitionen." (ebd.) 333

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unter Türmers Beschreibungen sein konnten, haben fast alle erfahren müssen, auf die sein Blick fiel. Auch dem Verfasser dieser Zeilen blieb es nicht erspart, sich entstellt im Türmer'schen Zerrspiegel wiederzufinden. [...] Manchmal war ein Einverständnis nur durch die Zusage zu erlangen, auch eine gegenteilige Position zu Wort kommen zu lassen.13

Mit dieser Einleitung erteilt sich die Herausgeberfigur die Legitimation, gegenüber Türmer eine gegensätzliche Meinung zu vertreten, und ruft auch den Leser noch einmal explizit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den dargebotenen Briefen auf: Die Fußnoten sollen die Lektüre erleichtern. Was dem einen oder der anderen überflüssig erscheinen mag, werden gerade jüngere Leser dankbar zur Kenntnis nehmen. Ich habe mich eines Kommentars enthalten, wenn sich der Sachverhalt aus späteren Passagen erschließen lässt. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass der Briefschreiber Türmer ein und denselben Vorgang je nach Adressat in höchst unterschiedlichen Versionen schildert. Dies zu bewerten ist nicht Sache des Herausgebers.14

Damit spricht der fiktionale Herausgeber einen wichtigen Aspekt bei der Edition von Briefen an, indem er, der selbst in den Fußnoten sehr wohl wertend verfährt, hier beim Leser den Eindruck erweckt, als trete er als objektiv urteilendes Organ auf. Er lässt dabei unkommentiert, dass Briefe stark adressatenbezogen sind. Formulierungen, Stillage und Ton eines Briefes sind vom Adressaten und von der Art bzw. Intensität der Beziehung zwischen Briefschreiber und Empfänger abhängig15 und damit von vornherein unsichere Quellen. Bei Türmer liegt zudem die prekäre Situation vor, dass er zu jeder bzw. jedem der drei Briefempfänger eine erotische Beziehung entweder intendiert oder bereits durchlebt hat: zu seiner Schwester Vera, seinem Jugendfreund Johann Ziehlke und zu seiner späteren Verlobten Nicoletta Hansen. Die Konstruktion einer Sonderwelt in Türmers Briefen, die mit fiktionalen Elementen ausgestattet ist und in denen in einigen Fällen der gleiche Sachverhalt unterschiedlichen Briefempfängern anders dargestellt wird,16 ist demnach 13 Schulze, Neue Leben, S. 10. 14 Ebd., S. 11. 15 Vgl. Winfried Woesler, "Der Brief als Dokument", in: Probleme der BriefEdition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn 1977, S. 41-59, hier S. 49. 16 Vgl. etwa den ersten und letzten Brief in Neue Leben. In seinem Schreiben an seine Schwester vom 6. Januar 1990 berichtet Türmer von einem Schneeball, der ihn direkt ins Auge getroffen habe. Als er daraufhin auf diesem Auge 334

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nicht verwunderlich. Bei Türmers Briefen handelt es sich um halbliterarische, die geschichtlichen Ereignisse der 'Wendezeit' aus persönlicher Sicht reflektierende Texte, die als Tagebuchersatz dienen. Dadurch fungieren sie als biografische Quelle und gleichzeitig als Selbstreflexion und (literarische) Identitätssuche insbesondere des Schriftstellers Türmer innerhalb der neuen historisch-gesellschaftlichen Verortung.17 Der Briefeschreiber wird vom Herausgeber – entgegen seiner gerade zitierten editorischen Notiz, in der er beteuert, dass die Bewertung von auftretenden Widersprüchen "nicht Sache des Herausgebers" sei – in den Anmerkungen der Scheinheiligkeit, der Falschheit und "Fabulierlust"18 bezichtigt.19 Damit ist eine Schwäche der Herausgeberfigur angesprochen: Da sie selbst Teil der Geschichte ist und von Türmer in einem seiner Briefe auch implizit genannt wird,20 hat sie zwar einen wesentlich besseren Einblick in die Geschehnisse als ein mit Türmers Umfeld nicht vertrauter 'Editor',21 ihr fehlt aber auch der notwendige Abstand, um eine möglichst wertungsfreie Kommentierung vorzunehmen. Die Verankerung einer Editionsmethode in einem voreingenommen negativen Dichterbild ermöglicht die potentielle Diffamierung des – im Fall von Neue Leben fiktionalen – Autors durch den Herausgeber und stellt ein deutliches Signal für die unreliability des fiktionalen Kommentators dar. Es geht dem Herausgeber nicht um die literarische Rehabilitation Enrico Türmers,22 sondern um "eine kritische Abrechnung mit T.s Leben [...],

17 18 19

20 21 22

nichts mehr sehen kann, behauptet seine Lebensgefährtin Michaela, es sei "nur Schnee, ein Schneeball!" gewesen (Schulze, Neue Leben, S. 14), während Türmer im Bericht an seine spätere Geliebte Michaela beteuert, "[e]s war nicht nur Schnee". Zum Zeitpunkt des zuletzt genannten Briefes lebt Türmer bereits von Michaela getrennt. Dies scheint der Grund dafür zu sein, dass er seine ehemalige Lebensgefährtin seinen eigenen Verdacht, es habe sich nicht nur um Schnee gehandelt, selbst aussprechen lässt und ihr damit Schadenfreude unterstellt. Vgl. Woesler, "Der Brief als Dokument", S. 41. Schulze, Neue Leben, S. 602. Dass Türmers Aussagen "irreführend" (ebd., S. 196), "[u]nrichtig zitiert" (ebd., S. 197), "nicht ganz klar" argumentiert (ebd., S. 198) oder "die Schilderungen T.s" vom Herausgeber als "nicht zutreffend" bezeichnet werden (ebd., S. 206), sind nur einige Beispiele von vielen. Vgl. Schulze, Neue Leben, S. 315. So kann die Herausgeberfigur über die gemeinsame Schulzeit eigene Erfahrungswerte hinzufügen, vgl. ebd., u.a. S. 197; 206; 222. Vgl. dazu Ferdinand van Ingen, "Edition als Legitimation und als Rehabilitation", in: Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft, hg. v. Hans-Gert Roloff, Berlin 1998, S.103-122. Van Ingen weist auf die Werbungs335

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die anderen als abschreckendes Beispiel dienen soll".23 Durch die zeitlich nachgeordnete Kommentierung – schon daran erkennbar, dass Türmer die alte Rechtschreibung gebraucht, in den Fußnoten die neue verwendet wird – ergibt sich für die Herausgeberfigur zwangsläufig die Rolle des besser Informierten, wobei der fiktionale Herausgeber diesen Wissensvorsprung gegenüber Türmer, der 1990 im europäisch-kulturellen Kontext und kapitalistisch orientierten Umfeld keineswegs sicher agierte, gnadenlos ausspielt,24 gleichzeitig aber dessen Erfolge in der freien Wirtschaft als Journalist und Verleger eines erfolgreichen Anzeigenblatts vehement verurteilt. Die autobiografischen Äußerungen Türmers erfahren dadurch eine Entstellung und Beschränkung.25 Wird mit Hans-Gert Roloff davon ausgegangen, dass der Kommentar literarischer Texte immer dann einen Aufschwung erlebte, wenn eine kulturelle Neuorientierung, eine Aktualisierung und eine damit einhergehende neue Kanonisierung des Wissens anstand,26 so kann die Aufspaltung von Neue Leben in Briefe und editorische Kommentare als Ausdruck des sich nach 1989

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funktion einer kommentierten Ausgabe hin, wodurch ein zu unrecht kaum zur Kenntnis genommener (hier empirischer) Schriftsteller rehabilitiert werden soll. In Neue Leben hingegen geht es besonders gegen Ende eher um die Diskreditierung des fiktionalen Schriftstellers Türmer durch den Herausgeber. Fußnote der Herausgeberfigur in: Schulze, Neue Leben, S. 205. Mit dieser Anmerkung nimmt der Herausgeber Bezug auf eine vorangegangene Stelle in einem Brief Türmers, in der er seiner späteren Geliebten sein Vorhaben, ihr Teile seiner Geschichte zu erzählen, begründet: "Ich will Ihnen ja nicht mein Leben erzählen, sondern allein jener Spur folgen, jenem Pfad, auf dem ich so jämmerlich in die Irre gegangen bin und den zu beschreiben am Ende eine Art Geschichte ergeben könnte, eine böse Geschichte, jedoch als abschreckendes Beispiel vielleicht nicht ohne Nutzen" (ebd., S. 142). Zwei Beispiele dazu: Türmer beschreibt in einem Brief an seinen Jugendfreund Johann Ziehlke, dass er bei einem Geschäftsessen zum Nachtisch einen "dunklen italienischen Kuchen, weich und feucht und sahnig" gegessen habe. Die Herausgeberfigur führt knapp und lakonisch in einer Fußnote zu dieser Passage lediglich das Wort "Tiramisu" an (Schulze, Neue Leben, S. 44), ohne auf die für Türmer hier neue Geschmackserfahrung eines bislang fremden Gerichts einzugehen. Ähnlich verhält es sich im zweiten Fall: Als Türmer bei der Beschreibung, wiederum eines italienischen Essens in einem Restaurant, erwähnt, dass es zum Nachtisch "einen italienischen Schnaps" gegeben habe, bemerkt die Herausgeberfigur dazu in einer Fußnote: "Wahrscheinlich meint T. Grappa" (ebd., S. 127). Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt/M., New York 1989, S. 309. Hans-Gert Roloff, "Zur Geschichte des editorischen Kommentars", in: editio 7 (1993), S. 1-17, hier S. 8. 336

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vollziehenden kulturellen Wandels und dessen künstlerische Verarbeitung bewertet werden. Durch die Unterbrechung des linearen Fließtextes wird der kulturelle (Um)bruch der 'Wendezeit' visualisiert und zugleich eine Mehrstimmigkeit erzielt, die durch die drastischen Veränderungen in Ostdeutschland ab 1989 für die Bürger der DDR bzw. der neuen Bundesländer charakteristisch wird: 'Neue Leben', 'neue Stimmen' ergeben sich in der Übergangszeit zwischen Mauerfall und staatlicher Einheit als Mitkonstituenten einer neuen Lebensstrategie, die nicht mehr staatlich verordnet bzw. bedingt ist. Somit geriert sich der Herausgeber auch als 'freier Editor', der die Grenzen der Kommentierung auslotet und überschreitet. Konkurrenzdenken und Neid auf Türmer spielen bei der Herausgeberfigur – wie noch zu zeigen sein wird – eine große Rolle. Indem sie ihr eigenes Romanprojekt der Edition der als widersprüchlich dargestellten Briefe Türmers hinten anstellt, wird ihre Hilflosigkeit in bezug auf das eigene Schreiben offenkundig. Der Roman parodiert also in zweifacher Form – über den Briefeschreiber Türmer und über die Herausgeberfigur – das Ringen um einen qualitativ hochwertigen Text. Für die durch den Herausgeber vorgenommenen Anmerkungen in Neue Leben lassen sich sieben unterschiedliche Erläuterungskategorien nachweisen: 1. editorische, formale Anmerkungen, 2. Kommentare mit verweisender Funktion, die auf andere Briefe oder die im Anhang abgedruckten Texte Bezug nehmen, 3. auf das Lebensumfeld Türmers abzielende, kontextualisierende Erläuterungen, die der Herausgeber durch 'Befragung' der Freunde und Verwandten Türmers erhalten hat, 4. ausführlichere Hinweise zu den historischen Ereignissen der 'Wendezeit', die über Türmers Biografie hinausgehen, 5. genauere bibliografische Angaben und intertextuelle bzw. intermediale Verweise auf authentisches bzw. scheinauthentisches Material,27 6. Worterläuterungen sowie 7. die bereits erwähnten kritisch-wertenden Äußerungen des Herausgebers.28

27 Alle literarischen, historischen oder journalistischen Texte, die von fiktionalen Figuren im Roman verfasst sind und in den Fußnoten von der Herausgeberfigur genannt werden, erweisen sich als scheinauthentisch, so etwa Nicoletta Hansens Bericht über Zeitungsneugründungen, Clemens von Barristas Living money – Lebendes Geld. Heidelberg 1987, Johann Ziehlkes Buch mit dem Titel Dresdner Demonstranten oder P. Schnabels Aufsatz "Die Heimkehr des Patrons" im ersten Heft der Altenburger Pfade in die Vergangenheit. 28 Herbert Kraft listet folgende sechs Themenbereiche für einen wissenschaftlichen Kommentar auf, die "für ein Verstehen der geschichtlich-ästhetischen Form" eines Textes konstitutiv sind: "1. historische (kulturgeschichtliche, sozialgeschichtliche, philosophiegeschichtliche etc.) und literarische Folien, Parallelen[,] 2. Quellen[,] 3. Überlieferungen, Fassungen[,] 4. Motive und Topoi, Anspielungen, Verweise, Zitate[,] 5. metrische und sprachliche Formen 337

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Deutlich in der Überzahl sind die Erläuterungen nicht-fiktionaler Aspekte, die als Beweislieferanten für die Authentizität der erzählten Handlung fungieren.29 Interessant sind dabei vor allem die unter der 7. Kategorie subsumierten Anmerkungen des fiktionalen Herausgebers, da sie die aufschlussreichsten Hinweise auf den sozio-kulturellen Hintergrund des Romans liefern und am stärksten von der üblichen (nicht-fiktionalen) Kommentarpraxis abweichen. Die zentrale Passage, in der dem Leser die hinter dem 'Editionsprojekt' verborgenen, eigenen Ambitionen "Ingo Schulzes" vor Augen geführt werden, stellt die implizite Nennung eines vom Herausgeber verfassten Textes in einem Brief Türmers dar. Hier erfährt der Leser, welche Meinung Türmer gegenüber der Herausgeberfigur vertritt. In einem Brief an Nicoletta Hansen beschreibt er, dass er nach einem für ihn erniedrigenden Gespräch über Schriftstellerei mit dem Freund seiner Schwester noch einmal mehr gedemütigt wird, indem sie [seine Schwester Vera] mir Arbeiten von einem ihrer Verehrer versprach, Texte über die Armee, die sie 'nicht schlecht' fand. Gerade weil Vera ihn sonst nicht ernst nahm – sie machte sich über seine Eifersucht und seinen Hundeblick lustig, mit dem er sie überall verfolgte –, war ich alarmiert. Vor allem beunruhigte mich, daß jemand in meinem Territorium wilderte.30

Der Herausgeber bemerkt dazu in einer Fußnote: T. verschweigt, dass er denjenigen, von dem hier die Rede ist, aus der Schulzeit kannte: Gemeint ist der Herausgeber dieser Briefe. Gern hätte ich T.s Urteil über meine Texte erfahren, auf die er im Weiteren nicht mehr zu sprechen kommt.31

Äußert sich der Kommentator hier noch trotz des erniedrigenden Urteils Türmers über ihn noch gewissermaßen wertneutral, indem er eine

und Bedeutungen[,] 6. Sachen" (Herbert Kraft, Editionsphilologie. Frankfurt/ M. u.a. ²2001, S. 197). Während Kraft starken Wert auf die Überlieferung und Genese des Werkes legt, ist der fiktionale Herausgeber in Neue Leben eher an der Frage interessiert, ob Türmer logisch bzw. wahrheitsgetreu argumentiert. 29 Einschränkend muss hier angemerkt werden, dass sich einige Anmerkungen unter mehrere Kategorien einordnen lassen, dass die Grenzen also fließend sind. So können die historischen Erläuterungen auch Bestandteil der Geschichte Türmers sein bzw. die Worterläuterungen zugleich Anmerkungen zur Biografie Türmers oder zur Zeitgeschichte fungieren. 30 Schulze, Neue Leben, S. 315. 31 Ebd., S. 315. 338

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kontextualisierende Erläuterung gibt (Kategorie 3), lässt sich im folgenden, d.h. etwa kurz vor Beginn der zweiten Hälfte des Buches, eine Wendung in der Kommentierung nachweisen. Der Tonfall wird deutlich schärfer, der Herausgeber greift öfter als zuvor korrigierend in die Briefe ein (Kategorie 7). Seine Berichtigungen und Verbesserungen beziehen sich indes auf für den Gehalt der Briefe eher belanglose Bemerkungen, z.B. wenn er nachweist, dass Türmer in einer Briefpassage falsche Angaben mache: "Denn wäre es tatsächlich so dunkel gewesen, wie er [Türmer] es beschreibt, hätte ihn wohl kaum eine Fliege 'umschwirren' können."32 An einer anderen Stelle fügt er einen zwar gut gemeinten, aber an dieser Stelle wertlosen Kommentar hinzu, als Türmers Lebensgefährtin anlässlich eines Besuches bei einem Neuen-Forum-Mitglied in Halle "nicht mit einem Einkaufspaket [vor deren Haustür] erscheinen" wollte: "Die Einkäufe hätten sie auch im Auto verstauen können."33 An anderen Stellen fragt er süffisant nach: "Wann war er [Türmer] denn schon mal 'an so einem Punkt'?",34 "Warum sollte kühles Beobachten der 'größte Kitsch' sein?"35oder wirkt unangenehm rechthaberisch etwa durch Sätze wie "Das hätte sich T. bei einer Flüchtlingsfamilie wie den Paulinis auch denken können"36 oder "Das muss sich ja nicht ausschließen!"37 Zum Verständnis der Briefe tragen diese Anmerkungen nicht mehr bei. Statt dessen handelt es sich um eine durch die Edition öffentlich gemachte Abrechnung von 'Schriftsteller' zu 'Schriftsteller': Während sich Türmer in seinem Brief darüber ausließ, jemand anderes habe in seinem Terrain gewildert, können die Kommentare des 'Rivalen' als unautorisiertes Betreten eines (Text)Reviers gedeutet werden. So wird der von Türmer nicht rezipierte fiktionale Autor "Ingo Schulze" paradoxerweise dessen bester Leser und Kritiker, zugleich aber auch dessen Richter. Die von Türmer genannten charakteristischen Eigenschaften des Herausgebers, "Eifersucht" und "Hundeblick", können vom Leser anhand der Art der Kommentierung als zutreffend nachvollzogen werden. Der anhängliche, (detail)treue, teilweise aber auch als lästig empfundene Blick des Herausgebers löst während der Lektüre beim empirischen Leser eine gewisse Gereiztheit aus, die auch in den Rezensionen zu Schulzes Roman immer wieder angesprochen wird.38 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 406. Ebd., S. 435. Ebd., S. 360. Ebd., S. 422. Ebd., S. 417. Ebd., S. 656. Vgl. hierzu etwa Wolfgang Höbels Urteil: "Klar manifestieren sich hier [in den Fußnoten] die Skrupel Schulzes gegenüber seinen eigenen Aufzeichnungen 339

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Die Tendenz, die etablierte Praxis der Kommentierung von Texten durch einen fiktionalen Herausgeber zu hinterfragen, sie zu parodieren (besonders prägnant in Sternes Tristram Shandy) oder auf skurril-humorvolle Art zu ironisieren (etwa in E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr oder Jean Pauls Werke), lässt sich bereits für das 18. und 19. Jahrhundert nachweisen. Da Schulze schon durch die Form seines Romans auf E.T.A. Hoffmans Lebensansichten eines Katers, die mit der Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler vermischt ist, anspielt, liegt eine Orientierung an diesem Werk auch bei der Konzeption der 'hündischen' Herausgeberfigur nahe. In Hoffmanns Roman tritt in der Kreislerbiografie ein namenloser Biograf ebenfalls nicht hinter die Lebensgeschichte des Künstlers zurück, sondern meldet sich immer wieder zu Wort, um Einzelheiten zu kommentieren. Dadurch ergibt sich für Hoffmanns Roman im Verlauf der Lektüre das Bild eines akribisch arbeitenden, geistig aber Kreisler unterlegenen 'Schriftstellers', der nicht alles versteht, was er überliefert und der der Komplexität der dargestellten Personen nicht gewachsen ist.39 Auch in Neue Leben weist der Herausgeber 'Wissenslücken' im Rahmen seiner Kommentierung auf: So wird z.B. in einer Fußnote zu einer Passage über Türmers Liebesbeziehung mit Nadja eine Notiz Türmers wiedergegeben, die der Herausgeber "auf einem mit Büroklammer am Durchschlag befestigten Zettel fand": Was man in Gegenwart der Geliebten aufnimmt, ist nur ein Negativ, man entwickelt es später, wenn man zu Hause ist und wieder über die Dunkelkammer im Inneren verfügt, deren Eingang, solange man andere Menschen sieht, 'vernagelt' ist.40

In der zusätzlichen Anmerkung des Herausgebers wird bedauert, dass "[d]ie Quelle [dieser offensichtlich für ein Zitat angesehenen Stelle] bisher nicht ermittelt werden" konnte.41 Tatsächlich handelt es sich bei der Notiz Türmers um ein Zitat aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu.42 Die dadurch offenbar werdende Unkenntnis des Heraus-

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aus frühen Jahren, aber wirklich komisch oder unterhaltsam (oder auch nur irgendwie erhellend) ist das nicht" (Wolfgang Höbel, "Der ganz normale Wahnsinn", in: Der Spiegel, 10. Oktober 2005). Vgl. E.T.A. Hoffmann, Lebens-Ansichten des Katers Murr, hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt/M. 1992, S. 956. Schulze, Neue Leben, S. 327. Ebd., S. 327. Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte. Bd. 2. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Berlin 1975, S. 529. Es handelt sich 340

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gebers verleiht Neue Leben eine ironische Ebene, die jedoch vom Leser nur wahrgenommen wird, wenn er die Fußnoten als z.T. pseudo-editorische Anmerkungen dechiffriert. Einen impliziten, ironisch gebrochenen Hinweis auf Proust gibt Türmer selbst in einem Brief, der an seine spätere Verlobte Nicoletta Hansen adressiert ist. Dort merkt er an, dass er "den ganzen Proust" nicht besäße.43 Indes lassen sich Spuren einer intensiven Proust-Lektüre – über die in den Fußnoten zitierte Passage hinaus – in Türmers Texten durchaus nachweisen. Wie in Prousts siebenbändigem Monumentalwerk steht auch in Türmers Briefen die Darstellung von über die Erinnerung vermittelten Wirklichkeitssegmenten, die Erkundung der Dimension des Bewusstseins durch einen die vergangene Zeit und seine Identität suchenden Ich-Erzähler, der in Vielem seinem Autor ähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist, im Vordergrund. Für A la recherche du temps perdu und für Neue Leben ist die Tendenz zur Selbstbetrachtung des Ich-Erzählers bzw. Briefeschreibers prägend und geht mit einer Suche nach den Konstituenten des Ich und einer damit verbundenden Dominanz auf Reflexionen und Erinnerung, auf 'Recherchen', einher. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass durch die Kreation einer scheinidentischen Herausgeberfigur, die den Duktus eines wissenschaftlichen Editors zunehmend verliert, eine Traditionslinie des Romans der Romantik fortgeführt wird. Hierzu gehören auch die verwendeten märchenhaften Elemente, die "Affinität fürs Fragmentarische"44 sowie das Verwirrspiel mit den Identitäten von empirischem Autor, Herausgeber und Briefeschreiber. Die Unentscheidbarkeit von Spiel und 'realer Welt' wird am Ende insofern auf die Spitze getrieben, als der empirische Autor Ingo Schulze in seiner Danksagung nicht nur seiner Verlegerin, den Verlagsangestellten und seinen Freunden, sondern auch den fiktiven

folgerichtig um die in der DDR-Zeit veröffentlichte Übersetzung des Proustschen Textes. 43 Schulze, Neue Leben, S. 526. Indes lassen sich Spuren einer intensiven ProustLektüre – über die in den Fußnoten zitierte Passage hinaus – in Türmers Texten durchaus nachweisen. Wie in Prousts siebenbändigem Monumentalwerk steht auch in Türmers Briefen die Darstellung von über die Erinnerung vermittelten Wirklichkeitssegmenten, die Erkundung der Dimension des Bewusstseins durch einen die vergangene Zeit und seine Identität suchenden IchErzähler, der in vielem seinem Autor ähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist, im Vordergrund. Für A la recherche du temps perdu und für Neue Leben ist die Tendenz zur Selbstbetrachtung des Ich-Erzählers bzw. Briefeschreibers prägend und geht mit einer Suche nach den Konstituenten des Ich und einer damit verbundenden Dominanz auf Reflexionen und Erinnerungen, auf 'Recherchen', einher. 44 Auer, "Essay", S. 11. 341

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Figuren dankt.45 Die Ironie fungiert somit als das gestalterische Grundprinzip. Vor diesem Hintergrund sollte nicht voreilig vom "abgenutzten Spiel vom schuldlosen 'Herausgeber' und Fußnotenlieferanten"46 gesprochen werden. Vielmehr ist die hier gewählte Form der Darstellung der 'Wendezeit' durch die ambivalente, von Misstrauen dem Anderen gegenüber geprägten Einstellung in sich schlüssig und führt am Beispiel Türmers und des Herausgebers die Relativierung der 'alten Leben' in der geschichtlichen Umbruchszeit 1989/90 und die Ambivalenz bei dem Versuch der Etablierung eines neuen Selbst deutlich vor Augen.

45 Vgl. Schulze, Neue Leben, S. 689. 46 Radisch, "Die 2-Sterne-Revolution". 342

III. ENTSTEHUNGS- UND REZEPTIONSBEDINGUNGEN D E R L I T E R A T U R U M 2000

AUTHENTIZITÄT IN LITERARISCHEM TEXT UND PARATEXT. ALEXA HENNIG VON LANGE UND AMÉLIE NOTHOMB KATRIN BLUMENKAMP

Benjamin von Stuckrad-Barre, einer der bekanntesten Vertreter der Popliteratur, behauptete 1999 in einem Interview, ein Autor müsse heute "zu den Büchern ein Image mitliefern".1 Dies kann für den Literaturbetrieb nicht ohne Auswirkungen bleiben: Der Autor steht im Mittelpunkt des Medieninteresses und weniger sein literarischer Text, der sich 'nur' verkaufen lässt, weil der Autorname wie ein Markenzeichen über ihm schwebt. Ob ein Autor medienkompatibel ist, ob er es versteht, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, ist Voraussetzung für den kommerziellen Erfolg seiner Bücher. Durch seine Auftritte in den Medien entsteht beim Publikum offenbar ein Interesse, mehr über ihn, die populäre Person, zu erfahren. Je öfter zum Beispiel ein Autor im Fernsehen aufgetreten ist, desto größer wird beim Leser das Bedürfnis sein, ihn 'in echt' zu sehen, d.h. desto besser besucht werden seine Lesungen, die nun keine intimen Veranstaltungen mehr sind, sondern Events. Die Zuschauer kommen, um einen Teil des Schriftstellers zu fassen, den sie sonst nur aus den Medien kennen. Sie besuchen diese Veranstaltungen nicht vornehmlich der Literatur wegen, sondern wollen die Aura des Schriftstellers erleben – Teil dieser Aura ist beispielsweise das Autogramm in der neuerworbenen Ausgabe des letzten Romans. Würde sich das, was von Stuckrad-Barre im Interview mit der Süddeutschen Zeitung angedeutet hat, aber nur auf die Medienauftritte zeitgenössischer Schriftsteller auswirken? Es ist zu vermuten, dass der Autor seine Person in der Öffentlichkeit interessant macht, damit beim Publikum der Wunsch entsteht, mehr über ihn 'persönlich' zu erfahren. Diesem Bedürfnis wird dann durch eine bestimmte Schreibweise sowie der vom

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Benjamin von Stuckrad-Barre/Wolfgang Farkas, Die Voraussetzung ist Größenwahn. "Jeder möchte in Deutschland berühmt werden": Autor Benjamin von Stuckrad-Barre über seine Motivation, in: Süddeutsche Zeitung, 28.10.1999. 345

ENTSTEHUNGS- UND REZEPTIONSBEDINGUNGEN

Verlag vorgenommenen äußerlichen Gestaltung der Erzählungen und Romane genüge getan. Um den Bedürfnissen der Leser gerecht zu werden und damit gleichzeitig den kommerziellen Erfolg zeitgenössischer Literatur zu fördern, wird mit unterschiedlichen Mitteln Authentizität erzeugt. Diese These soll anhand zweier Fallbeispiele überprüft werden. Untersucht werden zwei Romane der deutschen Popliteratin Alexa Hennig von Lange sowie drei Romane der belgischen Erfolgsautorin Amélie Nothomb, denn es stellt sich die Frage, ob es sich bei der formulierten These um ein nationales, auf die deutsche Popliteratur beschränktes Phänomen handelt oder ob es für zeitgenössische Literatur generell, auch auf einer internationalen Ebene gültig ist. Wenn im Folgenden von Authentizität die Rede ist, dann ist also eine 'konstruierte' Authentizität gemeint – eigentlich ein Paradox, das sich aus von Stuckrad-Barres weiteren Worten ergibt: "Das ist genau wie in der Popmusik, und ob [dieses Image] authentisch ist oder nicht, spielt keine Rolle."2

"Darstellung von Nichtdarstellung" Dass der große kommerzielle Erfolg der Romane Alexa Hennig von Langes nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass ihre Bücher dem Leser Authentizität versprechen, ist in der Forschung bereits angeklungen. Yvonne Wolf3 findet diese von ihr nicht näher definierte Authentizität in der inhaltlichen Aktualität der Romane. Gemeint ist das Wissen der Autorin um die Lebensumstände, die Wünsche und Gedanken der Generation der 20- bis 30-jährigen, wie es sich in den Worten "der Kleinen" in dem Roman Relax (1997) äußert: Ich will mir nicht immer diese Sorgen machen. Ich will, daß alles gut ist, und ich will eine Familie haben und glücklich sein. "Ich will doch nur ne Familie haben und glücklich sein!" "Formidabler Traum, Alte. Und wer soll das bitte bezahlen? Ich meine, Chris jobbt doch auch nur, wenn er wieder Geld für seine Drogen braucht. Sonst hat er ja keine Zeit, weil er feiern muß!"4

Die Kleine denkt im Grunde ganz konservativ, sie möchte möglichst viel Zeit mit ihrem Freund Chris verbringen, ihn in Las Vegas heiraten und eine Familie gründen. Aber ihre Wünsche kollidieren mit der Wirk-

2 3

4

Ebd. Yvonne Wolf, "Alexa Hennig von Lange", in: Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hg. v. Christiane Caemmerer u.a., Frankfurt a. M. 2005, S. 85-107. Alexa Hennig von Lange, Relax, Reinbek 1999, S. 287. 346

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lichkeit, damit, dass Chris, obwohl er sie offensichtlich liebt, nur von seinen Freunden, den Drogen und dem Feiern gesteuert wird. Die Freiheit, die dieser Generation zuteil wird, der im Grunde alle Wege offen stehen, äußert sich in einer privaten wie beruflichen Orientierungslosigkeit, die bei Chris eine der schlimmsten Ausprägungen erfährt: erst Drogensucht, dann Drogentod. Seine Freundin, die Kleine, hingegen will die Lösung ihrer Probleme in einem Zurückfallen auf die Wertmaßstäbe ihrer Eltern und Großeltern finden. Hennig von Lange weiß, was diese Generation bewegt: Sie hat offensichtlich die gleiche Sozialisation erfahren wie ihre Figuren, kann auf die gleichen Konsumbedürfnisse und Medienerfahrungen zurückgreifen und streut diese auch in ihre Texte ein. Man könnte hier den Nagellack "Rouge-Noir"5 der Kleinen nennen, ihr "Vampirella-Comic"6, aber auch Lelles Vorlieben in Ich habe einfach Glück (2001), die Mädchen7 liest und am liebsten den ganzen Tag ihre "Marillion-CD" mit dem Titel Misplaced Childhood hört: "When you love me, dilly, dilly, I will love you."8 Die auf der Inhaltsebene erzeugte Authentizität findet ihre Entsprechung auch auf formaler Ebene. Der Ablauf eines Wochenendes wird im ersten Teil des Romans Relax aus der Perspektive von Chris erzählt, dann, im zweiten Teil, aus der Sicht der Kleinen. Die Präsenz einer narrativen Instanz wird durch den Einsatz verschiedener erzählerischer Mittel fast völlig ausgeschaltet: 1) Zitierte Figurenrede ("'Ich will doch nur ne Familie haben und glücklich sein!'") wechselt sich mit zitiertem inneren Monolog ab ("Ich will mir nicht immer diese Sorgen machen. Ich will, daß alles gut ist, und ich will eine Familie haben und glücklich sein."). 2) Der Erzähler sieht mit Chris bzw. im zweiten Teil mit der Kleinen auf das Geschehen, ist also jeweils auf eine Figur fixiert und weiß nicht mehr als sie. 3) Auf der zeitlichen Ebene scheint eine nahezu vollständige Koinzidenz zwischen Erzählen und Erzähltem vorzuliegen. 4) Es handelt sich um einen autodiegetischen Erzähler, d.h. der Erzähler ist an der von ihm erzählten Geschichte als Hauptfigur beteiligt, es wird also aus der Ich-Perspektive erzählt. Durch die strukturelle Anlage des Romans und einer sprachlichen Unverblümtheit werde der Eindruck der Authentizität, des Mitstenographierten erzeugt, so Wolf.9 Spätestens, wenn man auf die Ich-Perspektive in den Romanen Hennig von Langes zu sprechen kommt, sollte man sich 5 6 7 8 9

Ebd., S. 151f. Ebd., S. 139. Alexa Hennig von Lange, Ich habe einfach Glück, Reinbek 2002, S. 86. Ebd., S. 137. Wolf, "Alexa Hennig von Lange", S. 89. 347

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jedoch fragen, was denn genau der Begriff der Authentizität meint: dass die Texte die Realität widerspiegeln oder zumindest widerspiegeln könnten? Oder etwa auch, dass das Ich, was hier spricht, authentisch in Bezug auf die Autorin ist, dass es Teile ihres eigenen Lebens sind, die sich in ihren Texten abbilden? Der Medienwissenschaftler Jan Berg konkretisiert den Authentizitätsbegriff, indem er ihn als Effekt, als Resultat einer authentifizierenden Darstellungstechnik begreift und diesbezüglich von der "Paradoxie einer Darstellung von Nichtdarstellung" spricht.10 Damit ist gemeint, dass das Authentische zwar dargestellt werden muss, andernfalls wüsste man ja nicht um seine Authentizität, dass aber gleichzeitig vermieden werden soll, dass der Rezipient das Authentische nur als ein Resultat der Darstellung begreift, es also nicht wirklich als authentisch empfindet. Wenn Authentizität "Darstellung von Nichtdarstellung" ist, dann heißt das auch, dass der Begriff nicht mit Echtheit oder Faktizität gleichzusetzen ist,11 sondern dass der Rezipient die Bedeutung, die er glauben will, mitgenerieren muss.12 Bezogen auf Relax ist demnach festzustellen, dass an keiner Stelle Authentizität expliziert wird, dass der Rezipient jedoch aufgrund der genannten inhaltlichen und formalen Hinweise eine Authentizität des Textes deuten wird. Durch die "Darstellung von Nichtdarstellung" wird zum einen bewirkt, dass der Leser glaubt, im Text das Lebensgefühl der 20- bis 30-jährigen widergespiegelt zu sehen und sich ggf. damit identifiziert. Zum anderen wird dem Leser suggeriert, dass er etwas über die Sozialisation der Autorin erfährt, die er bereits aus anderen Medien kennt.

Die Bedeutung von Paratexten Bezüglich der Frage, wie Authentizität von Literatur erzeugt wird und über diesen Weg Bücher verkauft werden, sind "Paratexte" noch immer zu wenig beachtet worden, obwohl sie in der mediendominierten Gesellschaft und im Zuge der fortschreitenden Kommerzialisierung des Kultursektors einen immer größeren Einfluss auf die Rezeption von Literatur haben. Christine Rigler verfolgt zwar in ihrer kürzlich erschienenen Monographie Ich und die Medien u.a. die These, dass junge Autorinnen und Autoren sich eine Rezeption ihrer Bücher, die auf dem Schein von Authentizität beruht, nicht nur gefallen lassen, sondern dass nicht wenige 10 Jan Berg, "Techniken der medialen Authentifizierung Jahrhunderte vor der Erfindung des 'Dokumentarischen'", in: Die Einübung des dokumentarischen Blicks, hg. v. Ursula Keitz/Kay Hofmann, Marburg 2001, S. 51-70, hier S. 55f. 11 Vgl. ebd., S. 64. 12 Vgl. ebd., S. 67. 348

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von ihnen diese durch ihre Art der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit oder indem sie ihren Verlagen entsprechende Werbemaßnahmen gestatten geradezu fördern.13 Riglers Untersuchung bleibt aber an der Oberfläche. Sie zieht einige Paratexte wie Autoreninterviews oder Buchcover als anschauliche Beispiele heran, ihre Analyse aber erfolgt wenig systematisch und wenig differenziert, mit dem Begriff des Genetteschen Paratextes setzt sie sich nicht auseinander, das Attribut "authentisch" definiert sie nicht näher und zeigt keine Facetten des Authentischen auf. Mit Paratext bezeichnet Gérard Genette vom Autor oder vom Verlag verfasstes Beiwerk (Widmung, Titel, Motto etc.), das den literarischen Text umgibt. Durch dieses Beiwerk hindurch trete das Buch vor die Öffentlichkeit. Somit erfolge die Rezeption des literarischen Textes unter dem Eindruck und Einfluss seiner Paratexte.14 Dass man Genettes Definition des Paratextes als "Beiwerk des Buches" im Unterschied zum "eigentlichen Text" wörtlich genommen hat, ist wohl als ein Grund dafür anzusehen, dass die Reichweite des Paratextes noch immer unterschätzt wird. Es ist unbedingt zuzustimmen, dass es die jeweiligen Paratexte sind, die die Kommunikation von Texten organisieren: Nimmt man Genettes Argument ernst, bleibt [...] keines der Elemente eines Werks oder Buchs von paratextuellen Qualitäten unberührt. Und insofern Paratexten ein für jede Rezeption weichenstellender Status zukommt, geht ihre Beobachtung keineswegs auf Randständiges, sondern tatsächlich aufs Ganze.15

Genettes Theorieentwurf hat einige Schwachstellen, von denen aus das Konzept weiterentwickelt werden müsste. Zum einen differenziert er zwar zwischen Peritext und Epitext,16 jedoch hierarchisiert er die verschiedenen Paratexte nicht. In der Regel hat aber z.B. die Gestaltung des Buchcovers oder die Titelgebung einen sehr viel größeren Einfluss auf die Rezeption des literarischen Textes als z.B. eine relativ unauffällig 13 Christine Rigler, Ich und die Medien. Neue Literatur von Frauen, Innsbruck 2005, S. 49. 14 Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 10. 15 Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek, "Vorwort", in: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, hg. v. dens., Berlin 2004, S.VII-VIII, hier S. VII. 16 Elemente, die im unmittelbaren materiellen Zusammenhang mit dem Text stehen wie Titel, Autorname, Gattungsangabe, aber auch nonverbale Elemente wie Umschlag, Format und Typographie bezeichnet Genette als Peritext. Anhängsel, die sich außerhalb der materiellen Erscheinungsform befinden wie Vorankündigungen, Interviews und Werbung bezeichnet Genette als Epitext des Werkes. 349

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platzierte Widmung im Innern des Buches. Zum anderen bleibt Genettes Paratext-Begriff uneindeutig. Dass Genette diese Uneindeutigkeit selbst thematisiert,17 sollte nicht daran hindern, den Begriff konziser zu fassen als er selbst das tut. Z.B. wäre die Literaturkritik in den Begriff miteinzuschließen, denn die Lektüre des Textes erfolgt unter dem Eindruck aller vorher gelesenen Kommentare über ihn. Es ist nicht haltbar, ein Interview mit dem Autor zum Paratext zu zählen, die Rezension aber nicht. Wie groß der Einfluss der Literaturkritik auf die Rezeption des literarischen Textes ist, wird auch darin deutlich, dass sie bis in die materielle Umgebung des Buches dringen, also zu einem textuellen Peritext werden kann: Ab der zweiten Auflage eines Titels finden sich auf dem Buchrücken oft Zitate aus Rezensionen, die in prestigereichen Medien erschienen sind und das Buch positiv besprechen.

Auffällige Signale von Authentizität Welch wichtige Erkenntnisse sich aus der Analyse der Paratexte ergeben können, zeigt das Beispiel Alexa Hennig von Lange. In der Titelei der Taschenbuch-Ausgabe ihres Romans Woher ich komme (2003) findet sich folgendes Zitat aus der Süddeutschen Zeitung: "Momentaufnahmen aus einem beschädigten Leben, die in der Schwebe zwischen Autobiographie und Fiktion bleiben. Ein kleines Dokument des Widerstands gegen sich selbst." Von Authentizität im Sinne einer "Darstellung von Nichtdarstellung" kann hier nicht mehr gesprochen werden, auch weil sich dieses Zitat auf der selben Seite wie die Biografie der Autorin befindet und auf dem Buchcover ein Porträt von ihr abgebildet ist – Signale, die vom Verleger bewusst gesetzt wurden. Hier wird dem Leser sehr bewusst offenbart, dass es sich bei Woher ich komme um eine autobiografische Textgattung handeln muss. In der Forschung ist die Problematik der Definition von Autobiografie vor allem in Abgrenzung zum autobiografischen Roman bereits intensiv diskutiert worden, allerdings ohne zu einem Konsens zu kommen.18 Doch es hat sich herausgebildet, dass Philippe Lejeunes 17 Genette selbst räumt ein, dass der Paratext, besonders der Epitext, ein "vielförmiges und ausuferndes Objekt" sei. Deshalb wiesen seine Untersuchungen einige Lücken auf, um die er wisse, die er aber nicht bedauere: "Der Paratext ist eine Zone zwischen Text und Außen-Text, und man muss der Versuchung widerstehen, diese Zone zu vergrößern, indem man ihre Ränder untergräbt." (Genette, Paratexte, S. 388) 18 Eine ausführliche Darstellung findet sich u.a. bei Heide Volkening, Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting – Signatur – Geschlecht, Bielefeld 2006, S. 11-52. 350

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Theorie des "autobiographischen Paktes" eine entscheidende Rolle zukommt. Laut Lejeune handelt es sich erst dann um eine Autobiografie, wenn zwischen dem Autor (wie er namentlich auf dem Umschlag steht), dem Erzähler und dem Protagonisten der Erzählung Namensidentität besteht.19 Im Fall von Woher ich komme ist dies nicht eindeutig gegeben. Zwar haben wir hier mit der Erzähler-Instanz des Ich eine Identität zwischen Erzähler und Protagonisten, jedoch wird der Name der Erzählerin/Protagonistin nicht genannt. Auch dass Alexa Hennig von Lange auf dem Cover des Romans abgebildet ist und dass das Zitat aus der Süddeutschen Zeitung eine autobiografische Komponente des Romans hervorhebt, ist gemäß Lejeune kein Beweis dafür, dass es sich um eine Autobiografie handeln muss, denn zum einen spielen Paratexte in seiner Theorie keine einschlägige Rolle, zum anderen könnte man dahingehend argumentieren, dass in der Regel nicht der Autor für die Buchgestaltung zuständig ist, sondern der Verlag. Es ist daher viel eher zu prüfen, ob Woher ich komme in die Kategorie der autobiografischen Romane fällt. So bezeichnet Lejeune alle fiktionalen Texte, "in denen der Leser aufgrund von Ähnlichkeiten, die er zu erraten glaubt, Grund zur Annahme hat, daß eine Identität zwischen Autor und Protagonist besteht, während der Autor jedoch beschlossen hat, diese Identität zu leugnen oder zumindest nicht zu behaupten."20 Tatsächlich gibt es in dem Roman eine Reihe von inhaltlichen Hinweisen, die der Leser dahingehend entschlüsseln könnte, dass eine Identität zwischen Autorin und Protagonistin vorliegt. Zum Beispiel heißt es: "Damals war ich dreizehn, das Unglück in Tschernobyl war passiert, und meine Mutter wollte nicht, dass mein Bruder und ich im See baden oder Gemüse aus Herrn Wallbrechts Garten essen."21 Ein Blick in die im Buch abgedruckte und wahrscheinlich vom Verlag formulierte Biografie der Autorin informiert über ihr Geburtsjahr 1973; das Reaktorunglück von Tschernobyl ereignete sich 1986, damals war Alexa Hennig von Lange ebenfalls 13 Jahre alt. Und auch folgende Aussage, die sich sowohl am Beginn als auch am Ende des Romans findet, lässt auf eine Parallele zwischen Autorin und Protagonistin schließen: "Meine Mutter, gebräunt und sommersprossig. Sie hatte viele Sommersprossen, im Gesicht und auf den Armen."22 Die äußerliche Ähnlichkeit "der Mutter" zu Alexa Hennig von Lange suggeriert, dass diese Figur Überschneidungen zur leiblichen Mutter der Autorin aufweist.

19 Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, übers. v. Wolfram Bayer/Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1994, S. 25. 20 Vgl. ebd., S. 26. 21 Hennig von Lange, Alexa, Woher ich komme, Reinbek 2005, S. 14. 22 Ebd., S. 7 und S. 109. 351

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Wie schon bei Relax wird Authentizität zudem durch den Einsatz bestimmter erzähltechnischer Mittel erzeugt. Der Roman ist aus der IchPerspektive der namenlosen Protagonistin erzählt, beschränkt sich also auf ihr Wissen. Es handelt sich vorwiegend um die unkommentierte Erzählung von Ereignissen, die an manchen Stellen von der Erzählung von Worten und Gedanken durchbrochen wird. ("Blinzelnd öffnete mein Bruder die Augen, dann den Mund. 'Jetzt hast du ihn aufgeweckt!'")23 Die Mittelbarkeit der Erzählung wird zurückgedrängt, allerdings nicht soweit wie bei Relax, wo es überhaupt keine distanzschaffende Erzählung von Ereignissen mehr gibt, sondern nur Schilderung von Worten und Gedanken. Außerdem gestaltet sich der Zeitpunkt des Erzählens bei Woher ich komme komplexer. Zwar liegt auch hier hauptsächlich ein gleichzeitiges Erzählen, d.h. Koinzidenz zwischen Erzählen und Erzähltem, vor ("Es ist Anfang August. In ein paar Tagen hätte mein Bruder Geburtstag, und an seinem Geburtstag waren wir immer irgendwo am Meer. Dieses Jahr fahren wir nicht ans Meer ...")24, aber das gleichzeitige Erzählen wird immer wieder durchbrochen durch ein späteres Erzählen ("Mein Vater kam allein zurück.")25 Die Protagonistin erinnert sich zurück an den Sommer, in dem ihre Mutter und ihr Bruder im Meer ertranken. Erzählungen aus der Gegenwart stehen unverbunden, durch Absätze voneinander getrennt neben im Präteritum gehaltenen Erzählungen aus der Vergangenheit, aber auch neben Erinnerungseinblendungen im Präsens, die sich offensichtlich im Kopf der Ich-Erzählerin abspielen ("Mama schließt die Fenster, draußen läuft Herr Wallbrecht in seinen grünen Gummistiefeln über die Wiese.")26 Dieser Wechsel der Zeitebenen, der Wechsel von Erzählbericht zu "zitiertem inneren Monolog" bewirkt, dass der Leser oft überlegen muss, ob er sich nun in den Erinnerungen der Protagonistin befindet oder in der Gegenwart des Erzählten. Der entscheidende Unterschied zu Relax liegt darin, dass wir es dort tatsächlich mit "Darstellung von Nichtdarstellung" zu tun haben. Durch die inhaltlichen und formalen Hinweise wird vermittelt, dass das Erzählte authentisch in dem Sinne ist, dass es in einer realen Welt stattfindet, und dass die Gefühle und Gedanken der beiden Protagonisten die einer bestimmten Generation widerspiegeln, zu der sich die Autorin als zugehörig zählt. Dass auch auf dem Cover der Taschenbuchausgabe von Relax ein Porträt der Autorin abgebildet ist, bestärkt diese These nur, denn Hennig von Lange wirkt dort sehr jugendlich und 'trendig'. In Woher ich komme jedoch sind die Hinweise so geartet, dass der Leser zur 23 24 25 26

Ebd., S. 15. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 14. 352

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Reflexion angeregt wird und vermuten kann, dass sich Teile der Lebensgeschichte der Protagonistin mit der der Autorin decken. Hier liegen also zwei Facetten der Darstellung des "Ich in literarischem Text und Paratext" vor.

Alexa Hennig von Lange als PR-Gag Dass Alexa Hennig von Lange auffällig oft auf den Buchcovern ihrer Romane abgebildet ist, hat auch einen kommerziellen Grund: Schon bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machen konnte, war ihr Gesicht der Öffentlichkeit durch das Fernsehen bekannt. 1994 begann sie ihre Karriere in der MTV-Produktion "Das wahre Leben", modelte nebenbei für Benetton und moderierte ab 1995 die Kindersendung "Bim Bam Bino". Durch Auftritte wie zum Beispiel in der erfolgreichen "Harald Schmidt Show" ist sie dem Publikum präsent. Wenn nun der potentielle Käufer durch die Buchhandlungen geht und Hennig von Langes Gesicht auffällig auf dem Cover eines ihrer Romane platziert sieht, kann er sofort etwas mit dem Buch verbinden und wird gleichzeitig vermuten, dass der Text etwas über die Autorin als Privatperson verrät. Dadurch wird das Interesse am Roman gesteigert, denn, so Rigler, aller Medienkompetenz zum Trotz, bei allem Wissen um die Konstruiertheit von Romanen oder Filmen existiere auch beim ernsthaft an Literatur interessierten Lesepublikum zum Beispiel dieser Wunsch nach Authentizität, diese prickelnde Unterstellung, dass literarische Figuren oder Handlungen etwas über den Autor als Privatperson verraten.27 Der große Erfolg von Autobiografien und Biografien auf dem Buchmarkt belegt diese Vermutung, allerdings müsste empirisch abgesichert werden, warum dieser Wunsch des Lesers nach Authentizität wirklich besteht und welche Leserschichten er betrifft. Sicher ist, dass der Literaturbetrieb mit dem Wandel von der Produkt- zur Markenwerbung, der allgemein für alle wirtschaftlichen Bereiche symptomatisch ist, darauf reagiert.28 Dirk Niefanger überträgt diese Werbestrategie auf die Popliteratur: So stelle die Kombination des Autornamens "Stuckrad-Barre" mit einer speziellen Titelgebung aus dem Bereich der Plattenkultur (Soloalbum, Livealbum, Bootleg usw.) eine klassische Markenwerbung dar.29

27 Rigler, Ich und die Medien, S. 13. 28 Vgl. hierzu: Naomi Klein, No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinner, übers. v. Helmut Dierlamm/Heike Schlatterer, München 2005. 29 Dirk Niefanger, "Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)", in: Autor353

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Man könnte nun argumentieren, dass sich diese Entwicklungen ausschließlich auf die Popliteratur beschränken, die ja ohnehin oft als "PRGag" diffamiert worden ist, der mit den Texten nicht allzu viel zu tun habe.30 Als Kriterien der Popliteratur – und Alexa Hennig von Lange gilt als eine ihrer populärsten Vertreterinnen – werden u.a. Pop-Assoziationen wie die Jugendlichkeit von Autoren und Lesern, die glamouröse (Selbst-)Inszenierung von Jung-Schriftstellern, die Verbindung von Schriftstellerdasein und einer anderen Tätigkeit in den Medien sowie eine Zugehörigkeit zu bestimmten subkulturellen Szenen ins Feld geführt.31

Zwischen Autobiografie und autobiografischem Roman Wie das Beispiel der belgischen Erfolgsautorin Amélie Nothomb zeigen wird, beschränken sich diese hier kurz skizzierten Entwicklungen jedoch keineswegs nur auf die Popliteratur, sondern sie scheinen allgemein für den nationalen wie internationalen Literaturbetrieb symptomatisch zu werden. In einer Rezension zu Nothombs Roman Kosmetik des Bösen (2001, deutsch 2004) schreibt Martin Halter über die Autorin: Die Diplomatentochter [...] inszeniert sich in ihren halbautobiographischen Lebensbeichten ("Mit Staunen und Zittern", "Metaphysik der Röhren", "Im Namen des Lexikons") und Romanen gern als unberührbares Wunderkind, das sich weigert, erwachsen zu werden.32

Zu dieser Aussage passend, wird die Rezension begleitet von einem Foto der jungen Autorin, das sie beim Auspusten einer Geburtstagstorte zeigt. Sie trägt das schwarze Haar zu zwei Zöpfen geflochten, in ihrer Mimik

schaft. Positionen und Revisionen, hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart/ Weimar 2002, S. 521-539, hier S. 522. 30 Jörgen Schäfer, "Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit'. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland sei 1968", in: Pop-Literatur, hg. v. Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer, Sonderband Text + Kritik, X/03, München 2003, S. 7–25, hier S. 9. 31 Vgl. ebd., S. 8. 32 Martin Halter, "Blut ist auch nur Rouge", in: http://www.faz.net/s/Rub1DA1 FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/Doc~EFD3F02457EB843AFAAE95F AAC201398E~ATpl~Ecommon~Scontent.html – Die Printfassung erschien unter dem Titel "Dr. Jeckyll und Monsieur Hyde. Blut ist auch nur Rouge: Amélie Nothomb schminkt den Teufel" am 28.05.2004 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung. 354

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liegt etwas Diabolisches. Das Foto trägt die Unterschrift "Kindfrau als Bestie". Die drei Romane, die Halter unter "halbautobiographische Lebensbeichten" subsumiert, sind in Wirklichkeit, gerade was den Faktor des Autobiografischen und seine Darstellung angeht, recht heterogen und es ist nicht haltbar, sie unter diesem einen Schlagwort zu fassen. Der Roman Metaphysik der Röhren (2000, deutsch 2002) ähnelt in Bezug auf seinen autobiografischen Gehalt auf den ersten Blick Hennig von Langes Woher ich komme. Die Ich-Erzählerin/Protagonistin erinnert sich zurück an ihre ersten drei Lebensjahre, die sie als Tochter eines belgischen Botschafters in Japan verbrachte. Zwar wird der Name der Protagonistin nicht genannt – eine Autobiografie im Sinne von Lejeunes "autobiographischen Pakt" liegt also nicht vor –, es gibt jedoch eine Reihe inhaltlicher Spuren, die auf eine Identität zwischen Protagonistin und Autorin schließen lassen. Bereits zu Beginn des Romans heißt es, dass die Eltern der Protagonistin belgische Staatsbürger seien,33 und später wird offenbart, dass ihr Vater als belgischer Konsul in Osaka arbeite.34 Diese Informationen überschneiden sich mit der Biografie der Autorin. Weiterhin heißt es an einer Stelle, dass ihr Name das japanische Wort für Regen beinhalte,35 wobei es freilich der Kenntnis des Japanischen bedarf, um diesen Hinweis zu entschlüsseln (bzw. die Kenntnis von Nothombs Roman Mit Staunen und Zittern, in dem explizit gesagt wird, dass in Amélie das japanische Wort "Ame" für Regen enthalten ist). Diese inhaltlichen Spuren werden ergänzt durch paratextuelle Informationen: Auf dem Buchcover befindet sich ein Kinderfoto der Autorin. Man erkennt sie nicht, jedoch hat der Verlag gleich an zwei Stellen den Hinweis platziert, dass es sich bei der Fotografie um "Amélie Nothomb als Kind. Nach einer Fotografie von ihrer Mutter" handele: an einer recht prominenten Stelle, nämlich auf der U2, und im Impressum. Der Klappentext des Buches behauptet, dass Metaphysik der Röhren "[e]ine Autobiographie der ersten Jahre – von 0 bis 3" sei. Neben diesen textuellen und paratextuellen Hinweisen auf den autobiografischen Gehalt des Romans steht aber folgende Textstelle: Aus der Zeit vor der weißen Schokolade erinnere ich mich an nichts; ich muß mich daher auf die Aussagen meiner Angehörigen verlassen,

33 Amélie Nothomb, Metaphysik der Röhren, übers. v. Wolfgang Krege, Zürich 2002, S. 14. 34 Ebd., S. 92. 35 Ebd., S. 113. 355

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die ich nach meiner Art umdeute. Die Informationen für die Zeit danach sind aus erster Hand: derselben Hand, die dies niederschreibt.36

Nimmt man den Terminus Autobiografie wörtlich, so ist sie "die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)."37 Mit dieser Definition des Autobiografischen bricht die Ich-Erzählerin, wenn sie behauptet, dass es sich bei der Beschreibung ihrer ersten zweieinhalb Lebensjahre nicht um ihre eigene Sichtweise handele, sondern das Erzählte durch mindestens eine Instanz gebrochen worden sei: Zwar ist es immer noch sie selbst, die ihr Leben erzählt, allerdings kennt sie es lediglich aus den Schilderungen ihrer Familie. Somit handelt es sich 'nur' um die Wirklichkeit Dritter, die durch den Filter der Ich-Erzählerin zum Leser kommen – so zumindest wird es dargestellt. Diese Aussage wird dadurch unterstützt, dass sich die Stellung des Erzählers zum Geschehen im Roman wandelt. Die ersten zweieinhalb Lebensjahre der Protagonistin werden aus der Perspektive eines heterodiegetischen Erzählers beschrieben, der sie in Anlehnung an ihre Selbstwahrnehmung entweder "Gott" oder "die Röhre" nennt. In diesem ersten Teil des Romans38 wird also nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sondern aus der Perspektive eines unbeteiligten Erzählers: "Die Eltern der Röhre machten sich Sorgen."39 Erst als "die Röhre" in den Genuss belgischer Schokolade kommt, beginnt ihre Wahrnehmung als Indiviuum: " – Hier bin ich! Ich bin es, ich lebe. Ich bin es, ich spreche. Ich bin nicht 'er' oder 'es', ich bin ich."40 Interessant an dem Schlüsselzitat aus Metaphysik der Röhren ("Aus der Zeit vor der weißen Schokolade ...") ist auch, dass die Ich-Erzählerin behauptet, Verfasserin der Geschichte zu sein, die niedergeschrieben wird, denn damit wird eine Verschmelzung von Ich-Erzähler und Autorin inszeniert. Der Roman kann als eine Zwischenform zwischen autobiografischem Roman und Autobiografie bezeichnet werden. Es handelt sich eindeutig um eine autobiografische Textgattung, weil der Text und die ihn umgebenden Paratexte beim Rezipienten den Eindruck erzeugen, dass hier die Kindheit der Autorin durch diese selbst erzählt wird: "[Nothomb's] remarkable feat ist to make us forget that she is not writing her memories,

36 Ebd., S. 36. 37 Georg Misch, "Begriff und Ursprung der Autobiographie", in: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hg. v. Günter Niggel, Darmstadt 1997, 33-54, hier S. 38. 38 Nothomb, Metaphysik der Röhren, S. 5-31. 39 Ebd., S. 8. 40 Ebd., S. 31. 356

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be they early ones, but reconstructing pre-verbal sensations."41 Dass der Roman nicht Nothombs Kindheit als Thema habe, sondern die Empfindungen eines Kindes in der vorsprachlichen Lebensphase ist zentral. Die Frage, die sich daraus stellt, ist allerdings, warum Nothomb ihr eigentliches Thema autobiografisch verpackt. Wie schon bei Alexa Hennig von Lange liegt hier die Vermutung nahe, dass autobiografischer Gehalt aus rein kommerziellem Interesse produziert wird.

Die Besiegelung des "autobiographischen Paktes" Mit Staunen und Zittern (1999, deutsch 2000) lässt sich im Vergleich zu den bisher beschriebenen Romanen am ehesten als Autobiografie bezeichnen. Denn hier ist die Namensidentität zwischen Autorin, IchErzählerin und Protagonistin ausformuliert. Dass die Ich-Erzählerin ein Jahr lang in einer japanischen Firma gearbeitet hat und unter der dort herrschenden Arbeitsmentalität und Hierarchiedenken zu leiden hatte, überschneidet sich mit den Angaben in der Biografie der Autorin, wie auch diverse andere Aussagen der Ich-Erzählerin sich mit dieser überschneiden. Für eine sehr starke Annäherung an die Gattung der Autobiographie spricht außerdem, dass der Roman (wie es für die Autobiografie üblich ist)42 den Idealfall einer autodiegetischen Erzählung verkörpert und es sich um ein späteres Erzählen handelt, was durch die Verwendung des Präteritums angezeigt wird ("Am 8. Januar 1990 wurde ich vom Fahrstuhl auf die vierundvierzigste Etage des Yumimoto-Gebäudes ausgespien.")43 Auch wird dieser Eindruck durch das Buchcover unterstützt, das ein Porträt der Autorin zeigt. Zwar wird an keiner Stelle der explizite Hinweis darauf gegeben, dass es sich hier wirklich um Amélie Nothomb handelt, die Ähnlichkeit ist jedoch offensichtlich. Der "autobiografische Pakt", der laut Lejeune mit dem Leser geschlossen wird, wird zum Ende des Textes noch einmal gestärkt: Am 14. Januar 1991 begann ich eine Geschichte mit dem Titel Die Reinheit des Mörders zu schreiben. 41 Hélène Jaccomard, "Self in Fabula: Amélie Nothomb's Three Autobiographical Works", in: Amélie Nothomb. Authorship, Identity and Narrative Practice, hg. v. Susan Bainbrigge/Jeanette den Toonder, New York 2003, S.11-23, hier S. 13. 42 Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002, S. 83. 43 Amélie Nothomb, Mit Staunen und Zittern, übers. v. Wolfgang Krege, Zürich 2000, S. 8. 357

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Der 15. Januar war der Tag, an dem das amerikanische Ultimatum für den Irak ablief. Am 17. Januar begann der Krieg.44

Hier wird nicht mehr allein die eigene Biografie als Referenz dafür hinzugezogen, dass der Text die Wirklichkeit darstellt, sondern auch zwei weitere historische Daten sollen dies unterstützen.

Authentizität durch Verbindung zwischen literarischem Text und Paratext Im Namen des Lexikons (2003, deutsch 2002), der dritte Roman, den Halter in seiner Rezension als "halbautobiographische Lebensbeichte" bezeichnet, ist die Geschichte des Wunderkindes Plectrude. Der Roman ist bezüglich seines autobiografischen Gehalts ganz anders geartet als die zwei bisher besprochenen, was sich auch in der Sicht, aus der erzählt wird, äußert sowie in der Stellung des Erzählers zum Geschehen. Der Erzähler hat eine Übersicht über die Ereignisse und weiß soviel wie alle Figuren des Romans zusammen. Es scheint so zu sein, dass der heterodiegetische Erzähler nicht zu den Figuren der Geschichte gehört, dementsprechend dominiert die dritte Person. Am Ende des Romans wird allerdings aufgeschlüsselt, dass Amélie Nothomb die Rolle des Erzählers einnimmt. Amélie Nothomb und Plectrude begegnen sich, so heißt es im Roman, und werden Freundinnen: "Plectrude erzählte ihr Leben und Amélie hörte sich dieses Atridenschicksal bestürzt an."45 Nachdem Amélie ihrer Freundin eingeredet hat, dass sie von dem Mord geprägt sei, den ihre Mutter kurz vor Plectrudes Geburt an ihrem Vater verübt hat, und sie deshalb selbst zur Mörderin werden müsse, erschießt die aufgebrachte Plectrude Amélie mit einem Gewehr. Hier scheint das romantische Muster der Selbstbezüglichkeit durch, wie man es etwa bei Chamisso oder E.T.A. Hoffmann finden kann. Warum aber lässt Nothomb, in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen stehend, sich selbst in dem Roman sterben? Es zeigt deutlich, dass sie sich ihrem Spiel mit den Instanzen Autor, Erzähler, Protagonist durchaus bewusst ist und es gezielt als erzählerisches Mittel einsetzt. Vordergründig ist der gewaltsame Tod der Figur der Amélie Nothomb eine Absage an einen autobiografischen Gehalt des Romans. Dem Leser wird bewusst gemacht, dass es sich um Fiktion handeln muss, denn es ist natürlich paradox, dass Amélie Nothomb, nachdem Plectrude ihr ihre Lebensgeschichte erzählt hat, stirbt, sie aber danach den Stoff zu einem Roman verarbeitet. Aber 44 Ebd., S. 158. 45 Amélie Nothomb, Im Namen des Lexikons, übers. v. Wolfgang Krege, Zürich 2002, S. 146. 358

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wenn man in den Blick nimmt, wie sich die Autorin in der Öffentlichkeit inszeniert, wird deutlich, inwieweit sich auch hinter diesem erzählerischen Schachzug das Kalkül verbirgt, durch das Erzeugen von Authentizität Leser zu binden. "Hat mir Spaß gemacht, mich von meiner Hauptfigur umbringen zu lassen", sagt sie in einem Interview, sie kleidet sich schwarz, trägt Ringel-Nylons, schwere Stiefel, dicke Pulswärmer und viel Make-up im Gesicht. Dass sie sich nach eigener Aussage gern auf den vielen Pariser Friedhöfen aufhält, deutet ebenfalls auf ihre Faszination für den Tod hin: "Nie werde ich kapieren, warum die Leute ständig in Cafés zusammenhocken, wo es doch hier viel schöner ist."46

Die Ausweitung des "autobiographischen Raumes" Die Fallbeispiele Alexa Hennig von Lange und Amélie Nothomb haben gezeigt, dass die Schreibweise der beiden Autorinnen von einem kommerziellen Interesse beeinflusst wird. Durch Auftritte in den Medien konstruieren sie sich ein Image, machen sich für das Publikum interessant, um dann dieses Interesse an ihrer Person durch inhaltliche Andeutungen und durch gezielt eingesetzte narrative Mittel in ihren literarischen Texten zu bedienen. Dass diese 'angebliche' Authentizität dabei auf ganz verschiedene Art und Weise erzeugt werden kann, wurde durch die Analyse der fünf Romane deutlich, in denen jeweils mit ganz verschiedenen Mitteln an der Suggestion von Authentizität gearbeitet wurde. Wird z.B. bei Relax Authentizität durch "Darstellung von Nichtdarstellung" erzeugt, so handelt es sich bei Im Namen des Lexikons vordergründig um eine totale Absage an Authentizität. Gerade das Beispiel dieses Romans hat gezeigt, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Paratexte sind, mit Hilfe derer eine Verbindung zwischen der Inszenierung der Autor-Persönlichkeit und deren literarischem Text geschaffen wird. Dass die Vermarktung von Literatur über den Faktor der Authentizität innerhalb des deutschsprachigen, aber auch des frankophonen Literaturbetriebes eine Rolle spielt, zeigt noch einmal eindringlich eine Aussage der Erfolgsautorin Amélie Nothomb: Je pense que je me révèle avec beaucoup plus de véracité dans mes romans non-autobiographiques que dans mes romans autobiographiques, ce qui ne signifie pas nécessairement que je mens. Mais l'autobiogra46 Tilman Müller, "Die morbide Welt der Amélie; Angst, Magersucht, Mord, Tyrannei – die belgische Schriftstellerin und Friedhofsliebhaberin AMÉLIE NOTHOMB schreibt ungemein erfolgreiche Romane über menschliche Abgründe" in: Stern, Nr. 14, 31.03.2005, S. 170. 359

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phie, en même temps on se dit "Bon; là ils vont se douter que c'est moi ... faisons attention. Disons, mais ne disans pas trop." Tandis que dans les romans non-autobiographiques [...] je me dis "personne ne va savoir que c'est moi, donc je peux y aller: je peux tout déballer, déballons, déballons." Ich denke, ich gebe in meinen nicht-autobiografischen Romanen sehr viel mehr von mir preis als in meinen autobiografischen – was nicht notwendigerweise bedeutet, dass ich lüge. Aber wenn man eine Autobiografie schreibt, sagt man sich gleichzeitg "Gut, sie werden vermuten, dass es sich um mich handelt ... pass auf, sag es, aber sag nicht zu viel." Während ich mir in nicht-autobiografischen Romanen [...] sage: "niemand wird erfahren, dass es sich um mich handelt, also kann ich loslegen: ich kann alles offenlegen, raus damit, raus damit."47 (Übersetzung durch Vf.)

Was Nothomb hier als Abwertung der Autobiografie inszeniert, ist in Wahrheit das Gegenteil: Sie dehnt den "autobiographischen Raum" (Lejeune) auf ihr Gesamtwerk aus, treibt also die Leser sehr bewusst in Richtung einer generellen autobiografischen Lesweise.48 Eine solche Äußerung macht Signale im literarischen Text und seiner unmittelbaren materiellen Umgebung wie Covergestaltung oder Klappentext, die auf einen autobiografischen Gehalt verweisen, überflüssig. In allen ihren Texten, auch in den als fiktiv deklarierten, könne der Leser etwas über sie und ihr Leben erfahren, so die Aussage der Amélie Nothomb. Nachdem die meisten Schriftsteller in der Vergangenheit dem Lesepublikum versucht haben deutlich zu machen, dass die Ich-Erzähler in ihren Romanen und Erzählungen nicht mit dem Autor gleichzusetzen sind, geht nun die Entwicklung in die genau andere Richtung.

47 Susan Bainbrigge/Jeanette den Toonder, "Interview mit Amélie Nothomb", in: Amélie Nothomb. Authorship, Identity and Narrative Practice, hg. v. dens., New York 2003, S. 178-211, hier S. 195f. 48 Vgl. hierzu: Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 45-48. 360

T E X T -L A B Y R I N T H E : R O B E R T O C O T R O N E O S ROMANE IM SPANNUNGSFELD VON PROFESSIONELLER LITERATURREZEPTION UND AMBITIONIERTER LITERATURPRODUKTION SUSANNE GRAMATZKI

Der Literaturkritiker Roberto Cotroneo, Jahrgang 1961, veröffentlicht seit Mitte der 90er Jahre Romane, die nicht nur in seinem Heimatland Italien hohe Verkaufszahlen erzielen, sondern auch auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich lanciert wurden. Ausgehend von seinem vielbeachteten Erstlingswerk Presto con fuoco (1995), prämiert mit dem Literaturpreis Premio selezione campiello, wurden alle seine Romane von bekannten Übersetzern wie Burkhart Kroeber und Karin Krieger ins Deutsche übertragen und in den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen besprochen. Am Beispiel Cotroneos lässt sich paradigmatisch aufzeigen, wie um die Jahrtausendwende neue Literatur vor dem Hintergrund professioneller Literaturrezeption entsteht. Durch seine langjährige Tätigkeit als Literaturkritiker, Kulturredakteur (des Nachrichtenmagazins Espresso) und Dozent für Journalistik und Kreatives Schreiben ist Cotroneo mit der diachronen und synchronen Vielfalt narrativer Strategien ebenso vertraut wie mit den aktuellen Strukturbedingungen der nationalen und internationalen Buchszene. Cotroneos schriftstellerische Ambitionen sind Teil eines in der Mediengesellschaft weit verbreiteten Phänomens: Zahlreiche professionelle Literaturrezipienten – Kritiker, Journalisten, Wissenschaftler etc. –, aber auch Angehörige der im wietesten Sinne medienverbundenen oder auch nur medienwirksamen Berufe reihen sich in die kaum noch überschaubare Riege der Buchautoren ein. Cotroneo ist sich dieser Tatsache und der daraus entstehenden Notwendigkeit, sich abzugrenzen, bewusst.1 Im Folgenden wird in einem ersten Schritt Cotroneos Literaturkonzeption dargestellt, um daran anschließend das ästhetische Profil seiner Romane herauszuarbeiten, das sich unter dem Stichwort des 'labyrinthischen Erzählens' fassen lässt. 1

Manfred Hardt/Salvatore A. Sanna, "A colloquio con Roberto Cotroneo", in: Italienisch 39 (1998), S. 2-17, hier S. 3. 361

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Das labyrinthische Universum der Bücher Wichtige Anhaltspunkte für die literarästhetische Positionierung Cotroneos finden sich in dem Essayband Se una mattina d'estate un bambino. Lettera a mio figlio sull'amore per i libri, mit dem Cotroneo 1994 zum ersten Mal an die literarische Öffentlichkeit getreten ist. Wie sich dem Untertitel entnehmen lässt, handelt es sich um einen literarisierten Brief an seinen Sohn, mit welchem er diesem anhand einer kleinen Auswahl von Texten – u.a. Stevensons Treasure Island, Eliots The Waste Land und Bernhards Der Untergeher – die Freude an der Lektüre vermitteln möchte. Cotroneo versteht seine Essaysammlung als Antithese zu seinem Brotberuf, nämlich über Bücher schreiben zu müssen, die ihm nicht gefallen;2 aus der Ablehnung des Kritikers Cotroneo und der Begeisterung des Lesers Cotroneo entstehen dann in den Folgejahren, um in der dialektischen Terminologie zu bleiben, als produktive Synthese die Romane des Autors Cotroneo. Die heterogen und für einen nicht einmal dreijährigen Jungen ungewöhnlich anmutende Zusammenstellung der Titel entspringt der universalistischen Literaturkonzeption Cotroneos, die nicht nach 'schwierigen' oder 'sakrosankten' Büchern differenziert,3 sondern Literatur als unendliches Kontinuum miteinander kommunizierender Texte auffasst: "Die Literatur ist eine parallele Welt, in der die Bücher miteinander sprechen".4 Diese in Se una mattina d'estate un bambino wiederholt verwendete Formulierung lässt sich auf die Schlussworte in Ecos Nachschrift zu Il nome della rosa zurückführen: "Moral: Es gibt obsessive Ideen, sie sind niemals privat, die Bücher sprechen direkt miteinander [...]".5 Auch den ersten Teil des Zitats, der den Zusammenhang zwischen obsessiven Ideen und Büchern betrifft, repetiert Cotroneo.6 Die Anbindung an Umberto Eco ist unübersehbar: Nicht nur taucht Guglielmo di Baskerville aus Il nome della rosa neben Jorge Luis Borges im Epilog zu Se una mattina d'estate un bambino auf,7 Cotroneo zählt Eco explizit zu den Autoren, die ihn am stärksten beeinflusst haben und bezeichnet den 2

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Roberto Cotroneo, Wenn ein Kind an einem Sommermorgen. Briefe an meinen Sohn über die Liebe zu Büchern, übers. v. Burkhart Kroeber, Berlin 1998 [1996], S. 8. Ital.: Se una mattina d'estate un bambino. Lettera a mio figlio sull'amore per i libri, Mailand 1996 [1994], S. 4. Ebd., S. 8f. Ital.: Ebd. S. 4f. Ebd.. S. 14. Ital.: Ebd. S. 9. Umberto Eco, Nachschrift zum 'Namen der Rose', übers. v. Burkhart Kroeber, München 1987, S. 90. Hardt/Sanna, "Colloquio", S. 5. Cotroneo, Wenn ein Kind, S. 143-149. Ital.: Se una mattina, S. 136-142. 362

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Handlungsablauf seines ersten Romans Presto con fuoco als "Ecoschen Plot".8 Zudem hat Cotroneo 1995 einen längeren Essay über Eco veröffentlicht, in dem er diesen gegen den Vorwurf verteidigt, gleichsam maschinenmäßig Bestseller zu produzieren.9 Die Insistenz auf dem Moment des Irrationalen und Obsessiven, das sich der Verfügbarkeit durch den Autor entzieht, soll das Verdikt vom "kalten, berechnenden und distanzierten Intellektuellen" entkräften, dem sich Eco gegenübersieht,10 das aber ebenso gut auch auf Cotroneo selbst Anwendung finden könnte, den Journalisten und Buchkritiker, der im selben Jahr wie La diffidenza come sistema seinen ersten Roman publizierte. Das Werk Ecos – beide Autoren sind übrigens im piemontesischen Alessandria geboren – bildet zweifellos einen der wichtigsten Bezugspunkte für Cotroneos eigene schriftstellerische Tätigkeit. In seiner Einleitung zu einer Sonderausgabe von Ecos Il miracolo di San Baudolino stilisiert Cotroneo sein erstes Interview mit Eco zur schicksalsentscheidenden Begegnung und konstruiert einen privaten Mnemotopos, der beide Autoren über ihren gemeinsamen Herkunftsort und das Medium der Literatur miteinander verbindet: "Dort, auf der Piazza Genova, auf der Bank sitzend, die auf den Brunnen und das Plana-Gymnasium schaut, glaube ich, einen großen Teil von Opera aperta gelesen zu haben. Niemand wird es je beweisen können, aber wahrscheinlich stimmt es, dass Orte eine mysteriöse Kraft besitzen".11 Diese Zeilen spiegeln "Cotroneos Liebe zur Mystik und seine[n] Hang zur Mystifikation" wider, die ein Rezensent auch an seinen Romanen feststellte.12 Die Mystifizierung der literarischen Produktion zu einem durch obsessive Ideen ausgelösten und vom Autor nur partiell zu kontrollierenden Schaffensprozess, bei dem offene Kunstwerke entstehen, über deren Bedeu-

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Hardt/Sanna, "Colloquio", S. 4. Roberto Cotroneo, La diffidenza come sistema. Saggio sulla narrativa di Umberto Eco, Mailand 1995. Vgl. auch: Roberto Cotroneo, Eco. Due o tre cose che so di lui, Mailand 2001. 10 Cotroneo, La diffidenza, S. 12. 11 "Lì, in piazza Genova, seduto sulla panchina che guarda la fontana e il liceo Plana, credo di aver letto buona parte di Opera aperta. Nessuno potrà mai dimostrarlo, ma forse è vero che i luoghi hanno un potere misterioso". Roberto Cotroneo, "Introduzione", in: Umberto Eco. Il miracolo di San Baudolino, Mailand 1995 [meine Übers. im Text, S.G.]. 12 Hansjörg Graf, "Wo die Zeit vergisst, ihren Tribut zu fordern. Roberto Cotroneo korrigiert in seinen Romanen aus dem Mezzogiorno die Wirklichkeit", in: Süddeutsche Zeitung (Nr. 185 vom 12./13.08.2000). 363

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tung der Autor nicht mehr zu sagen weiß als der Leser,13 ist literarästhetische Überzeugung, aber auch literardefensive Strategie, um die Literatur im Zeitalter der Postmoderne und Post-Postmoderne als 'Kunst' zu retten und aus der allgemeinen Kulturproduktion herauszuheben. Während Eco in seinem ganz und gar unmystischen Werkstattbericht den Genie-Mythos destruiert14 und im eruditen, aber spielerisch wirkenden Umgang mit der Tradition seinem Werk die Bedingungen seiner Möglichkeit, mithin die (Selbst-)Reflexion, einschreibt und damit auch dem Leser eine distanzierte Rezeption ermöglicht, ist bei Cotroneo ein jenseits dieser postmodernen Zitations- und Ironisierungspraxis liegendes neues Ringen nach Relevanz und Ernsthaftigkeit spürbar. Dies zeigt sich explizit an der pädagogischen Attitüde seiner Essays, die sich in Form belehrender Briefe an die eigenen Kinder,15 aber durch die Veröffentlichung an alle Buchleser/innen wenden. Implizit ist dieser didaktische Gestus in seinen Romanen enthalten, da für Cotroneo die Literatur "nicht nur ein intellektuelles Spiel ist, sondern das einzige Mittel, die Welt zu verstehen".16 Mit seiner Auffassung von literarischen Texten als "Gebrauchsanweisungen für das Leben"17 stellt Cotroneo einen hohen Anspruch an die Literatur insgesamt und an das eigene Werk. In einer 2001/2002 veröffentlichten internationalen Umfrage zur Poetizität der Prosa stellt er fest, dass sich auf Grund des Einflusses des Buchmarktes und der nichtliterarischen Sprachregister, etwa der Werbesprache, die italienische Prosa in den letzten zehn Jahren erheblich verändert habe: Sie sei durch

13 Zum Nicht-Wissen des Autors in Bezug auf sein eigenes Werk vgl. Cotroneo in La diffidenza, S. 42 und im bereits zitierten Interview: Hardt/Sanna, "Colloquio", S. 7. Vgl. auch Cotroneo, "Die Rose, das Pendel, die Insel", in: "Staunen über das Sein". Internationale Beiträge zu Umberto Ecos 'Insel des vorigen Tages', hg. v. Thomas Stauder, Darmstadt 1997, S. 114-131, hier S. 121-129. Warum Jorge in Der Name der Rose so böse ist, weiß Eco nicht zu sagen, er verweist stattdessen auf die innere Logik der erzählten Welt: Eco, Nachschrift, S. 36. 14 "Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben, lügt er. Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration". Eco, Nachschrift, S. 18. 15 Außer Se una mattina d'estate un bambino erschien 2003 der Band Chiedimi chi erano i Beatles. Lettera a mio figlio sull'amore per la musica, Mailand 2003. Dt.: Frag mich, wer die Beatles sind. Briefe an meinen Sohn über die Liebe zur Musik, übers. v. Karin Krieger, Frankfurt a.M. 2006. 16 Cotroneo, Wenn ein Kind, S. 13, vgl. S. 70 und S. 103. Ital.: Se una mattina, S. 9, vgl. S. 65 und S. 97. 17 Ebd., S. 147. Ital.: Ebd., S. 140. 364

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die Tendenz zu kürzeren Texten und eingängigen parataktischen Satzstrukturen gekennzeichnet. Zwischen dieser "semplificazione linguistica" und der kleinen Nische von Autoren, die an der hohen literarischen Tradition festhielten, fehle zunehmend ein mittleres Produkt, so dass sich eine Entwicklung anbahne hin zu einer immer kleiner werdenden Gruppe anspruchsvoller Leser, die neuen Generationen von Konsumenten konfektionierter Literatur gegenüberstünden.18 Da Cotroneos eigene literarische Produktion in den benannten Zeitraum fällt, stellt sich die Frage, wo innerhalb dieser Polarität seine Romane einzuordnen sind.

Der Faden der Ariadne im Labyrinth der Texte "Die Bibliothek ist ein großes Labyrinth, Zeichen des Labyrinthes der Welt" heißt es in Il nome della rosa.19 Die topische Verbindung von Welt, Text und Labyrinth, die durch Ecos Bestseller wieder verstärkt ins literarische Bewusstsein gerückt ist,20 bildet das Grundmotiv der Romane Cotroneos. Es scheint, als habe er die 1995 am Schluss seines EcoEssays formulierte Charakterisierung von Il nome della rosa, Il pendolo di Foucault und L'isola del giorno prima in seinen eigenen Werken umzusetzen versucht: "Drei Labyrinthe, aus denen man nur wieder herausfindet, wenn man sie mit der Obsession durchläuft, sich in ihnen verlieren zu wollen, sie ewig zu durchlaufen, niemals mehr aus ihnen herauskommen zu wollen".21 Allerdings ist es nicht ganz zutreffend, von einem labyrinthischen Text-Universum Cotroneos zu sprechen, da es sich eigentlich um ein nicht-hierarchisch strukturiertes, rhizomatisches22 Universum handelt, in dem jeder Punkt potentiell mit jedem anderen ver-

18 Roberto Cotroneo, "International Inquiry on Poetic Prose", in: Yale Italian Poetry 5/6 (2001/2002), S. 409-411. 19 Umberto Eco, Der Name der Rose, München/Wien 198322, S. 201. 20 Eco schließt mit seinem Roman an das Werk des wohl wichtigsten Vertreters literarischer Labyrinthik im 20. Jahrhundert, Jorge Luis Borges, an, der als Hüter der Bibliothek auch in Der Name der Rose auftaucht. 21 "Tre labirinti da cui si esce solo se si percorrono con un ossessione in testa: quella di volersi perdere, quella di percorrerli all'infinito, quella di non voler uscire mai piú", Cotroneo, La diffidenza, S. 87f. [meine Übers. im Text, S.G.]. 22 Zum Konzept des Rhizoms vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizome. Introduction, Paris 1976, zum Rhizom-Labyrinth vgl. Eco, Nachschrift, S. 65. 365

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bunden werden, d.h. jeder Text mit einem beliebigen anderen in Beziehung treten kann.23 In Cotroneos erstem Roman, Presto con fuoco (1995), wird der Konnex von Welt, Text und Labyrinth anhand eines lange verschollenen, nun aber plötzlich wieder aufgetauchten Chopin-Manuskriptes veranschaulicht. Der Ich-Erzähler, ein erfolgreicher Pianist, der in den Besitz des Autographen gelangt, sieht sich mit der Frage konfrontiert, wie diese Noten, die ein bisher unbekanntes Finale der Vierten Ballade Chopins indizieren, zu interpretieren seien: Die einzelnen Noten sind zu dechiffrierende Zeichen, das Manuskript ließe sich als Text lesen – als Geschichte der Liebe Chopins zu Solange Dudevant –, der wiederum unzählige andere Narrationen generiert. Der Erzähler verliert sich in diesem "Labyrinth von Noten",24 da es unendliche viele Interpretationsund Kombinationsmöglichkeiten der Zeichen gibt und sich kein eindeutiger, endgültiger Sinn des Textes (und der Welt) herauslesen lässt.25 Durch die Verflechtung unterschiedlicher Zeitebenen und Handlungsstränge, die in den folgenden Romanen Cotroneos noch prononcierter durchgeführt wird, soll sich die labyrinthische Erfahrung des Ich-Erzählers unmittelbar den Lesern mitteilen. Cotroneos Romane sind somit doppelt labyrinthisch kodiert: Einerseits wird das Labyrinth thematisiert (in Gestalt eines Notenmanuskripts oder, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, eines Kirchenmosaiks oder Gartens), andererseits soll es durch die Form der Romane, d.h. durch die rezeptionserschwerende Verschränkung der Erzählebenen, unmittelbar realisiert werden. Als Sequenz eindeutig dechiffrierbarer Zeichen könnte das Notenmanuskript Symbol für die Existenz von Ordnung, Sinn und Kohärenz in einer offenkundig vom Zufall bestimmten, chaotischen Welt sein, doch erweist sich der notationelle Ariadne-Faden als mindestens ebenso komplex wie das Welt-Labyrinth, zu dessen Bewältigung er hätte dienen sollen: "Aber ich mußte es aufgeben, es blieb mir nichts anderes übrig, als das Gegenteil zu akzeptieren: einzusehen, daß die Musik sich nicht um die Welt und ihre Analogien kümmert".26 Da sich der Ich-Erzähler

23 Vgl. Cotroneo, Wenn ein Kind, S. 113: "[...] denn es gibt einen Ort, literarisches Universum genannt, wo die Personen aus den Büchern miteinander reden". Ital.: Cotroneo, Se una mattina, S. 106. 24 Roberto Cotroneo, Die verlorene Partitur, Frankfurt a.M. 1999 [1997], S. 185. Ital.: Presto con fuoco, Mailand 1997 [1995], S. 165. 25 Hier zeigt sich der Einfluss des Semiotikers Umberto Eco, der im Übrigen auch als Figur im Roman auftritt. 26 Cotroneo, Partitur, S. 123. Ital.: Presto, S. 109. 366

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als Autor geriert,27 aber an seinen Sinnstiftungsversuchen immer wieder scheitert, entspricht er dem Typus des dädalischen Künstlers, der sich in seinem Werk verliert. Schon in Ovids Metamorphosen findet sich dieses Motiv des von der eigenen Genialität bedrohten Künstlers,28 von besonderer Signifikanz ist es indessen für die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Der in sein Labyrinth eingeschlossene Dädalus ist Symbolfigur einer kritischen Selbstreflexion der Kunst über das Verhältnis von Kunstproduzent und Kunstprodukt und, auf einer allgemeineren Ebene, über die in der Moderne virulent werdende Erfahrung der Selbstentäußerung des Individuums an eine ihm zunehmend opaker werdende Gegenstandswelt.29 Wenn es den rettenden Ariadnefaden gibt, so verbirgt er sich unter den vielen Fäden, die das Geflecht des Textes bilden.30 Cotroneo setzt in seinen Romanen wiederholt die Faden- und Gewebemetaphorik ein, die auf die ursprüngliche Bedeutung von textum als "Geflecht" bzw. "Gewebe" rekurriert. Der Text als Geflecht unzähliger miteinander verwobener Fäden fungiert als Darstellungsmodus einer nicht-teleologischen Literaturauffassung und als mise en abyme des intertextuellen Universums der Bücher. Außer dem in absentia präsenten Ariadnefaden und den miteinander verflochtenen Erzählfäden umfasst die textumMetaphorik Cotroneos auch noch die Fäden des Schicksals, wie sich an dem auf Presto con fuoco folgenden Roman Otranto (1999) zeigen lässt. Hier wird die Frage nach dem Verhältnis von Zufall und Schicksal noch eindringlicher behandelt und sowohl in einen größeren historischen Rahmen gestellt – die Handlung spielt teilweise im 15. Jahrhundert – als auch in archaisch-mythische Dimensionen gerückt. Die (Haupt-)Erzählstimme gehört Velli, einer jungen niederländischen Restauratorin, die in die süditalienische Stadt Otranto kommt, um an der Restaurierung des dortigen Kirchenmosaiks mitzuarbeiten. Bereits die Kanäle in ihrer Heimat erscheinen ihr als "Trassen eines Labyrinths, aus dem man nicht herauskann",31 die Labyrintherfahrung steigert sich aber angesichts der 27 Stellvertretend für zahlreiche weitere Belegstellen: "Ich bin es, der den Geschehnissen einen Sinn gibt", ebd., S. 173. Ital.: Ebd., S. 154. 28 Vgl. Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. u. hg. v. Erich Rösch, München 19798, VIII, 166-168. 29 Zum Typus des Dädalikers und zum Labyrinth als narrativer Repräsentation von Entfremdung vgl. Manfred Schmeling, Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt a.M. 1987, S. 225-236 und passim. 30 Cotroneo, Partitur, S. 245: "[...] handelte es sich um einen der letzten Fäden für mein Gewebe, nach denen ich suchte?". Ital.: Cotroneo, Presto, S. 219. 31 Roberto Cotroneo, Otranto, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt a.M. 1998, S. 105f. Ital.: Otranto, Mailand 1999 [1997], S. 107. 367

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verwinkelten Gassen der italienischen Kleinstadt und des riesigen, ob seiner Figurenfülle kaum zu überschauenden Kirchenmosaiks zur psycho-sozialen Desorientierung. Genau in der Mitte des Buches – sozusagen im Inneren des Labyrinths, in dem der gefährliche Minotaurus verborgen ist – erreicht Vellis Krise ihren Höhepunkt: Während sie das Mosaik abschreitet, verschieben sich die Zeit- und Raumebenen, die Figuren scheinen lebendig zu werden, Velli verliert die Orientierung, bewegt sich schließlich nur noch im Kreis und fühlt sich als "Geisel des Mosaiks".32 Der Roman lässt den Leser im Unklaren darüber, ob dieses zur labyrinthischen Selbst- und Welterfahrung gehörende paradoxe Phänomen der endlosen Bewegung ohne Fortbewegung pathologisch zu deuten ist oder im Sinne eines christlichen Buß- und Sühnerituals, das sich traditionellerweise mit den Labyrinthdarstellungen in christlichen Kirchen verbindet.33 Für Velli bedeutet die "Offenbarung des Mosaiks der Kathedrale" die Hoffnung, auch das Mosaik ihres Lebens zu verstehen und "Teil eines Ritus zu werden, für den ich endlich nicht mehr gezwungen bin, eine Erklärung zu suchen, den Anfang eines Fadenknäuels zu finden".34 Vellis Lektüre35 des Mosaiks als Verständnishilfe für den labyrinthischen Text ihres Lebens muss allerdings fraglich bleiben, da auch dieser Ariadnefaden, wie das Manuskript in Presto con fuoco, selbst labyrinthisch strukturiert ist. Die Protagonistin glaubt zwar, allmählich zu begreifen, "wohin jene zufälligen Fäden führen, die viele immer noch Schicksal nennen",36 doch sieht sie sich auch viel später noch mit dem labyrinthischen Urgefühl, der Angst,37 konfrontiert, da das Mosaik weiterhin

32 Ebd., Kap. IX, Zitat S. 137. Ital.: Ebd., Kap. IX, Zitat S. 139. 33 Vgl. Paolo Santarcangeli, Il libro dei labirinti. Storia di un mito e di un simbolo, Mailand 1984, S. 173-184 und Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds, 19953, S. 207-241. 34 Cotroneo, Otranto, S. 143 und S. 173. Ital.: Otranto, S. 144 und S. 174. 35 Es ist im Roman durchgängig davon die Rede, dass das Mosaik 'gelesen' wird: Es wird – wie ein Buchstabentext oder das Notenmanuskript in Presto con fuoco – als Zeichenkomplex aufgefasst, der einer (potentiell unendlichen) Semiose unterworfen werden kann. 36 Cotroneo, Otranto, S. 159. Ital.: Otranto, S. 160. 37 Zur Komplementarität von Labyrinth-Angst und Labyrinth-Lust vgl. Schmeling, Der labyrinthische Diskurs, S. 13 und Monika Schmitz-Emans, "Labyrinthe. Zur Einleitung", in: Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle, hg. v. Kurt Röttgers u. Monika Schmitz-Emans, Essen 2000, S. 7-32, hier S. 12. 368

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ein Orakel für sie darstellt, ein "zu lösende[s] Rätsel".38 Nach dem Ende der Restaurierungsarbeiten bleibt Velli in Otranto – als tragische Figur mit theseisch-dädalischen Zügen, die Gefangene des Labyrinths ist, an dem sie selber mitgewirkt hat. Wenn sie am Schluss des Romans als gleichsam "schwereloses Gespenst"39 nachts auf den Bastionen der Stadt umherstreift, bleibt offen, ob ihre Aufzeichnungen als Nosographie einer fortschreitenden Paranoia oder als Bericht über eine geheimnisvolle Initiation zu lesen sind. Das hier an den ersten beiden Romanen Cotroneos herausgearbeitete labyrinthische Narrativ findet sich auch in den anderen Erzähltexten des italienischen Autors wieder, was hier nur kurz angedeutet werden kann. Hatte Cotroneo in Otranto erzählerisch an die Kathedrallabyrinthe angeknüpft, so evoziert er in L'età perfetta (1999) die Tradition der Gartenlabyrinthe: Schauplatz der Handlung ist ein Palazzo mit dazugehörigem Garten, dessen Labyrinthik indes weniger sprachlich evoziert als von den Figuren des Romans ausdrücklich benannt wird.40 Die Lektüre und Interpretation des Hoheliedes als Initialmoment einer 'verbotenen' Liebe zwischen Lehrer und Schülerin und die Metaphorisierung des Gartens zum "blühenden Buch" und "Buch der Lüste", zur "Welt aus Farben und Düften"41 bilden die weiteren Ingredienzen des labyrinthischen Diskurses, mit dem Cotroneo sein Thema der Sinnsuche in der Text-Welt und im Welt-Text vermitteln möchte. In Per un attimo immenso ho dimenticato il mio nome (2002) – der tiefschürfende Titel musste einem schlichten Tempestad in der deutschen Übersetzung weichen – ist es ein Kreuzfahrtdampfer, dessen verwirrende Kabinenanordnung ein labyrinthisches Spiegelkabinett bildet.42 Die Faden- und Flechtterminologie ist bereits durch die in der rätselhaften Stadt Tempestad angesiedelte Garnfabrik präsent und wird von Cotroneo in

38 Cotroneo, Otranto, S. 201. Ital.: Otranto, S. 201. 39 Ebd., S. 270. Ital.: Ebd., S. 268. 40 Vgl. die Selbstbeschreibung des Gärtners: "Ich bin nicht so einer, der Paläste oder Museen baut. Ich bin Architekt, das stimmt schon. Aber von Labyrinthen. Ein Gärtner. Ich arbeite für reiche Leute, damit sie in den Plänen, die ich mir für sie ausdenke, den Verstand verlieren können. Ich bin wie Dädalus." Roberto Cotroneo, Das vollkommene Alter, Frankfurt a.M./Leipzig 2000, S. 116, vgl. auch S. 129f. und S. 171. Ital.: L'età perfetta, Mailand 2000 [1999], S. 111, vgl. auch S. 121f. und S. 159. 41 Ebd., S. 18 und S. 158. Ital.: Ebd., S. 17 und S. 148. 42 Roberto Cotroneo, Tempestad, Frankfurt a.M./Leipzig 2003, S. 106. Roberto Cotroneo, Per un attimo immenso ho dimenticato il mio nome, Mailand 2003 [2002], S. 73f. Zur literarischen Koppelung von Labyrinth und Spiegel vgl. Schmitz-Emans, "Labyrinthe: Zur Einleitung", S. 8. 369

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gewohnter Weise auf metaphorischer Ebene genutzt.43 Der zuletzt erschienene Roman Questo amore (2006) konstituiert durch die kaleidoskopartige Mischung von Reflexionssplittern und Dialogfetzen, die unterschiedlichen Zeitebenen zuzuordnen sind, eine strukturelle Labyrinthik, die auf semantischer Ebene von dem Konzept des Buch-Universums ergänzt wird, hier emblematisiert als Buchhandlung, die zum paradiesischen, enigmatischen Ort mystifiziert wird.44

Die neue Ernsthaftigkeit in der italienischen Literatur Der Ariadnefaden, der Cotroneos Romanlabyrinthe thematisch miteinander verbindet, ist die Suche der Protagonisten nach einer intellektuell und emotional nachvollziehbaren Relationierung von Schicksal und Zufall als Ermöglichungsgrund eines sinnvollen Daseins. Diese Sinnproblematik wird in einer exzessiven, zuweilen das Lächerliche streifenden Schicksalsrhetorik verbalisiert, die sich bedeutungsschwerer, aphorismenähnlicher Formulierungen bedient, welche nicht durch einen ironischen Gestus relativiert werden, wie dies für die postmoderne Literatur typisch ist.45 Auch wenn Cotroneo in seinen Romanen immer wieder das 43 Es seien hier nur zwei exemplarische Stellen zitiert: "Nur so wird er begreifen können, was ein Faden der Existenz eigentlich ist. Ein starker, salzdurchtränkter Faden" (Cotroneo, Tempestad, S. 262) und "Sie [die Liebe] war eine Kette von Leidenschaften, wie das Gewebe eines Teppichs, von ineinander verflochtenen Leidenschaften [...]" (ebd., S. 126). Ital.: Per un attimo, S. 172 und S. 86. In diesem Roman tritt außerdem die Metaphorik des Schachspiels hinzu, mit der die Frage nach dem Verhältnis von Kontingenz und Ordnung, Freiheit und Schicksal narrativiert wird. 44 Roberto Cotronoe, Questo amore, Mailand 2006, S. 41. Zum Universum der Bücher vgl. auch S. 50, zum (Schicksals-)Faden S. 28. 45 Beispiele aus Cotroneos letztem Roman: Das Zeichnen mit einem kleinen Stock im Sand wird sogleich zum Versuch überhöht, das Schicksal zu korrigieren (ebd., S. 33). Sätze wie der folgende: "Il desiderio è una domanda la cui risposta nessuno conosce" ("Das Verlangen ist eine Frage, auf die niemand die Antwort kennt", ebd., S. 52 [meine Übers., S.G.]) finden sich zuhauf und erinnern an das Pathos in den Romanen eines anderen italienischen Bestsellerautors gleicher Generation, Alessandro Baricco. Vgl. hierzu: Gerhild Fuchs, "Zur 'Überfülle des Möglichen' und seiner fiktionalen Bewältigung bei Alessandro Baricco", in: Italienische Erzählliteratur der Achtziger und Neunziger Jahre. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren in Einzelmonographien, hg. v. Felice Balletta/Angela Barwig, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 273-285, hier S. 281-283. 370

AUTOREN

Moment des Spiels herausstellt und mit der Schicksalsthematik verbindet,46 entbehren seine Texte der (sprach-)spielerischen Haltung der Postmoderne: In Abwandlung des Buchtitels von Maria Kopp-Kavermann könnte man hinsichtlich der Romane Cotroneos von einer 'neuen Ernsthaftigkeit in der italienischen Literatur' sprechen. Cotroneos Bemühen um Tiefgang blieb von der deutschen Literaturkritik nicht unbemerkt und unkommentiert. Während Hans-Martin Gauger an Presto con fuoco lediglich moniert, dass der Roman an manchen Stellen "etwas seicht und klischeehaft" sei,47 spricht Joachim Kaiser in seiner Rezension desselben Romans deutlicher von "forciertem Feinsinnskult" und qualifiziert Cotroneos Satz "Ich weiß nicht, ob Gott ein Septakkord von Cis-Dur ist" als "schwachsinnige Erbaulichkeit" ab.48 In seiner insgesamt positiven Besprechung von Otranto kommt Thomas Wirtz nicht umhin, auf "manche zu groß geratene Spekulation um Schicksal und Zufall" zu verweisen.49 Manfred Hardt fasst L'età perfetta als "Kolportage von Klatsch, Geschwätz und Gemeinplätzen" und als "Strom von Banalitäten" zusammen.50 Cotroneos Narrativik wird von der Kritik eher mit dem Signum literarischer Professionalität denn Obsessionalität versehen und als markt- und publikumsorientiertes Schreibverfahren interpretiert: Cotroneo habe mit seinem ersten Roman offenbar "einen Bestseller-Erfolg" angestrebt (Kaiser). Sollte Cotroneo dieser Einschätzung noch zustimmen können – welcher Autor wünscht sich keinen Bestseller-Erfolg? –, so wäre er mit Gaugers resümierender Bemerkung über Presto con fuoco sicherlich nicht einverstanden: "Aber etwas Kühnes und Modernes wollte

46 Vgl. das Würfelspiel in Otranto und das Schachspiel in Per un attimo immenso ho dimenticato il mio nome. Zum Konzept des Spiels in der postmodernen italienischen Literatur vgl. Maria Kopp-Kavermann, Die neue Unterhaltsamkeit in der italienischen Literatur 1970 – 1990, Frankfurt a.M. u.a. 2002. 47 Hans-Martin Gauger, "Der alte Mann und die Mazurka. Roberto Cotroneo schreibt einen Schlüsselroman in f-Moll", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Nr. 38 vom 14.02.1998). 48 Joachim Kaiser, "Was uns ein Genie erzählt. Möglicherweise ein Kult-Buch für Klavier-Freaks: Roberto Cotroneos 'Die verlorene Partitur'", in: Süddeutsche Zeitung (Nr. 186 vom 14./15.08.1997). 49 Thomas Wirtz, "Auch Gespenster brauchen Pausen. Roberto Cotroneo sucht nach Otrantos Farbe und Wahrheit", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Nr. 279 vom 01.12.1998). 50 Manfred Hardt, "Hohes Lied, einfacher Reim. Schullektüre: Roberto Cotroneos Roman 'Das vollkommene Alter'", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Nr. 150 vom 01.07.2000). 371

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Cotroneo gewiß nicht schreiben, bloß ein flottes, postmodernes Buch".51 Die postmoderne leggerezza wird bereits in Cotroneos erstem Roman vom Schicksalspathos überlagert, ohne dass es Cotroneo damit gelänge, dem bereits häufig literarisierten Thema von der labyrinthischen Unübersichtlichkeit der Welt neue, ernst zu nehmende Facetten abzugewinnen.

51 Ähnlich lautet die Einschätzung des Zeit-Rezensenten: Er spricht vom "EcoSyndrom" und nennt Presto con fuoco ein "Virtuosenstück aus Semiotik, Synästhesie und Sensationshascherei", vgl. Dieter Hildebrandt, "Furios in die Tasten gehauen", in: Die Zeit (Nr. 47 vom 14.11.1997). 372

LESENDE SCHREIBER, SCHREIBENDE LESER. LEKTORAT IN DEN LITERATURVERLAGEN DER JAHRTAUSENDWENDE PETER PAUL SCHWARZ UND SUSANNE KRONES

"Was ein Lektor für Belletristik tut, weiß fast niemand." Thomas Beckermann, langjähriger Suhrkamp-Lektor

Unsichtbare Zweite. Geistige Geburtshelfer. Kühl kalkulierende Produktmanager. Ghostwriter. Die Liste der Bilder und Klischees, mit denen die Arbeit von Lektorinnen und Lektoren in Literaturverlagen beschrieben wird, ist lang. Vergleichsweise kurz fällt eine Bestandsaufnahme dessen aus, was über den Traumberuf junger Literaturwissenschaftler tatsächlich bekannt ist. Dazu kommt: Lektor ist nicht gleich Lektor, je nach Verlagsprogramm ergeben sich handfeste Unterschiede zwischen Belletristik und Sachbuch, Fachbuch und Schulbuch. Für die belletristische Lektoratsarbeit in Literaturverlagen will dieser Aufsatz Licht ins Dunkel bringen: Wie intensiv arbeiten Lektorinnen und Lektoren an belletristischen Texten? Wie gehen Lektorinnen und Lektoren bei der Akquise vor? Nach welchen Kriterien fallen Auswahlentscheidungen? Was sind die wesentlichen Schritte bei der Textarbeit? Wie gehen Lektoren mit Stil und Vokabular, mit Figuren und Plots um? Und natürlich: Was eigentlich ist ein guter Text? "Was ein Lektor für Belletristik tut, weiß fast niemand."1 Ziel dieser empirischen Studie2, die auf einer Fragebogenerhebung unter Belletristiklektoren basiert, ist es, zu erhellen, wie das Tagesgeschäft von Lektoren heute aussieht, wie sich etwa die Arbeitszeit auf die verschiedenen Tätigkeitsbereiche von Akquise und Autorenbetreuung bis Produkt1 2

Thomas Beckermann, "Kritiker – Lektor – Autor", in: Über Literaturkritik, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 1988 (TEXT+KRITIK, Heft 100), S. 77. Selbstverständlich kann auch dieser Aufsatz nur einen kleinen Einblick in die Ergebnisse der Studie geben. Eine vollständige Auswertung der Erhebung soll in Buchform erscheinen: Susanne Krones/Peter Paul Schwarz, Lektorat in den Literaturverlagen der Jahrtausendwende. Eine empirische Studie (2009). 373

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management und Textarbeit verteilt.3 Dass über den Beruf des Lektors so wenig bekannt ist, hat unter anderem damit zu tun, dass es keine allgemeine Berufsausbildung für Lektoren gibt und dass der Lektorenberuf "heute einem raschen Wandel unterworfen" ist.4 Je nach Verlagsprofil, Stellenbeschreibung und Selbstverständnis des Lektors changiert seine Rolle zwischen "Literaturexperte" und "Produktmanager".5 Zu ihren literarischen Kenntnissen, ihrem Sprachgefühl, ihrer literarischen Entdeckerfreude und Leselust brauchen Lektoren auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten, um Buchprojekte erfolgreich zu realisieren. In der spärlich vorhandenen Forschung zum Thema gilt der Wandel der lektoriellen Tätigkeit hin zum Produktmanager als "vorläufig letzter Wandlungsschritt"6 dieses Berufs. Ein Blick in die im Rahmen dieser Studie erhobenen Fragebögen aber sensibilisiert dafür, mit einer Verallgemeinerung solcher Tendenzen vorsichtig zu sein. Denn klassische Anforderungen an Lektoren wie Sprachgefühl und Leselust, so ein Ergebnis der Studie, rangieren deutlich vor betriebswirtschaftlichen Kenntnissen. Ob der Begriff der "Krise"7, mit dem der Wandel des Berufsfeldes immer häufiger etikettiert wird, angemessen ist, scheint fraglich: Mittels dieser empirischen Studie soll innerhalb deren Möglichkeiten untersucht werden, ob dieser Krisenbegriff in den Fragebögen empirisch greifbar ist oder ob andere Beschreibungsweisen dieses Wandlungsprozesses zutreffender sind. Um der Vielschichtigkeit dessen, was ein Lektor tut, gerecht zu werden, differenziert der zehnseitige Fragebogen8 mehrere Ebenen der Lektoratsarbeit im Bereich Belletristik. Die erste Ebene erfasst den 'Lektor als Person'. Auf dieser Ebene wurden persönliche Angaben, Angaben zur beruflichen Situation (Festanstellung oder Freiberuflichkeit, Führungsposition, ...), Studien- und Berufserfahrung, Geschlecht, bisherige Verlagswechsel u.a. erfasst sowie die Verteilung der persönlichen Arbeitszeit auf Tätigkeitsbereiche und die Einschätzung der notwendigen Kompetenzen für die tägliche Arbeit abgefragt. Die zweite Ebene um-

3

4 5 6 7 8

Die Berufsgeschichte des Lektors ist nicht Gegenstand dieses Aufsatzes mit synchroner Perspektive. Für berufshistorische Fragen sei auf Ute Schneiders Darstellung Der unsichtbare Zweite aus dem Jahre 2005 verwiesen. Beckermann, "Kritiker – Lektor – Autor", S. 77. Vgl. Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag, Göttingen 2005, S. 9. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 253. Vgl. Krise des Lektorats?, hg. im Auftrag der Deutschen Literaturkonferenz von Gunther Nickel, Göttingen 2006. Fragebogen: www.promtion-lit.lmu.de/publikationen/schreibverfahren.htm 374

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fasst das "Lektorat als Institution im deutschen (literarischen) Verlag";9 die hier abgefragten Bereiche umfassen Programmgestaltung, Akquise, Auswahlkriterien, die Einbindung des Lektors in Marketing- und Presseaktivitäten sowie die damit verbundene Frage, inwieweit sich der häufig diagnostizierte Wandel des Lektorats hin zum Produktmanagement aus den Angaben ableiten lässt und was dieser Wandlungsprozess im Berufsbild des Lektors bedeutet. Die dritte Ebene beschäftigt sich mit dem für die Literaturwissenschaft zentralen Aspekt, nämlich dem eigentlichen 'Lektoratsprozess', also der konkreten Textarbeit von der Konzeption bis zur Endredaktion. Dass eine solche empirische Untersuchung bisher nicht vorliegt, "ist um so unverständlicher, als unterstellt werden kann, daß Lektoren entscheidenden Einfluß auf den Schreibprozeß eines Autors, auf die Entwicklungstendenzen der Literatur sowie auf das allgemeine literarische Urteil nehmen."10 Die vorliegende Studie schließt mit einer Reihe spontaner O-Töne von Lektoren auf die letzte Frage des Fragebogens ('Was ist eigentlich ein guter Text?') und lässt Rückschlüsse auf den jeweiligen Literaturbegriff zu. Der Fragebogen wurde an die 35 bedeutendsten Literaturverlage11 sowie an die einschlägigen Branchennetzwerke versandt. Insgesamt basiert diese Studie auf dem Datenmaterial 25 ausgefüllter Fragebögen belletristischer Lektoren, fester und freier, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.12 Die Beantwortung der Fragen erfolgte anonym.

9 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 9. 10 Ebd. 11 Die belletristischen Lektorate folgender Verlage wurden in die Fragebogenerhebung einbezogen: A1, Amman, Arche, Aufbau, C.H. Beck, Berlin Verlag, dtv, Diogenes, Dörlemann, Dumont, Eichborn, S. Fischer, Frankfurter Verlagsanstalt, Carl Hanser, Hoffmann und Campe, Insel/Suhrkamp, Kein & Aber, Kiepenheuer & Witsch, Kookbooks, Droschl, Luftschacht, Luchterhand, Nagel & Kimche, Piper, Residenz, Rowohlt, Salon, SchirmerGraf, Skarabaeus, Steidl, Tisch 7, Tropen, Ullstein, Klaus Wagenbach, Wallstein und Zsolnay. Freie Lektorinnen und Lektoren wurden über den Verband der freien Lektorinnen und Lektoren VFLL e.V. sowie über das Branchennetzwerk BücherFrauen e.V. angesprochen, beide Gruppen außerdem über die Branchenpresse (www.boersenblatt.net). 12 Jeder, der sich etwas im Lektorat auskennt, weiß, dass es den belletristischen Lektor als solchen schlechterdings kaum noch gibt. Vielmehr überschneiden sich die Tätigkeitsbereiche Sachbuch und Belletristik mehr und mehr, dies gilt insbesondere auch für freie Lektoren. Daher steht im Zentrum dieser Arbeit nur derjenige Anteil der Arbeitszeit eines Lektors, der auf Belletristik entfällt, auch wenn beispielsweise vom Lektor auch Sachbücher betreut werden. Die Fragen wurden in den Bögen entsprechend formuliert. 375

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Insbesondere für die freien wie auch für diejenigen festangestellten Lektoren, die bereits für mehr als einen Verlag gearbeitet haben, gilt ein Multiplikatoreffekt der in den Fragebögen gemachten Angaben. Insofern geben die gemachten Angaben einen zuverlässigen, wenn auch keinen repräsentativen Einblick in die lektorielle Tätigkeit im belletristischen Bereich. Daher versteht sich diese Studie als ein Auftakt für weitere empirische Forschungen mit ähnlichen Fragestellungen. Eine ähnliche Umfrage ist, soweit recherchierbar, in den letzten dreißig Jahren (in Ost und West) bzw. nach 1990 nicht durchgeführt bzw. nicht publiziert worden. Auf zwei ältere Umfragen soll an dieser Stelle verwiesen werden: 1970 erschien in der Zeitschrift Neues Forum eine auf zwölf ausgefüllten Fragebögen basierende nichtrepräsentative Umfrage unter Verlagslektoren der Bereiche Belletristik und Sachbuch mit dem Titel "Konsumlektoren. Ergebnis einer Umfrage"13, die sich zum Ziel setzt, "den Wurzeln der in der Bundesrepublik so plötzlich aufgebrochenen verlagsinternen Auseinandersetzungen nachzuspüren." Die dabei gezogenen "Rückschlüsse auf die berufliche Situation der Verlagslektoren in der Bundesrepublik"14 umfassen auch eine Gewichtung von Tätigkeitsbereichen, an deren "erster Stelle" die "Redaktion von Manuskripten und Übersetzungen"15 genannt wurde. Fünf Jahre später veröffentlichte der Schweizer Germanist Peter André Bloch in dem von ihm herausgegebenen Buch "Gegenwartsliteratur" eine Umfrage16, die interessanterweise Autoren und Verleger aus dem gesamten deutschen Sprachraum umfasst. Beide Umfragen aus den Jahren 1970 und 1975 jedoch sind nicht so angelegt, dass sie Aufschluss über das konkrete Tun, den Lektoratsprozess zu geben vermögen. Vielmehr geht es um Fragen der Unabhängigkeit des Lektors, um die Chancen der Literatur auf dem Massenmarkt, um die literarische "Produktion im 'kapitalistischen' Wirtschaftssystem" (Formulierung in beiden Fragebögen) sowie um "das Problem der Zensur"17. Allein der Titel "Konsumlektoren" der Umfrage aus dem Jahr 1970 verdeutlicht die Zielrichtung. Der von Gunther Nickel 2006 herausgegebene Band Krise des Lektorats? versammelt aufschluss-

13 Wilfried Schwedler (München), "Konsumlektoren. Ergebnis einer Umfrage", in: Neues Forum, Wien, Februar 1970, 17. Jahrgang, Heft 194/I, S. 116-119. 14 Schwedler, "Konsumlektoren", S. 116. 15 Ebd. 16 Gegenwartsliteratur. Mittel und Bedingungen ihrer Produktion. Eine Dokumentation über die literarisch-technischen und verlegerisch-ökonomischen Voraussetzungen schriftstellerischer Arbeit, hg. v. Peter André Bloch, Bern und München 1975, S. 111-380. 17 Gegenwartsliteratur, S. 9. 376

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reiche und fundierte Einblicke in den "lektoriellen Alltag"18 aus verschiedenen Perspektiven, wie der des Kritikers, des Literaturwissenschaftlers und natürlich auch der des Lektors. Die Relativierung dieses Titels durch das beigefügte Fragezeichen nimmt die hier vorgestellte Studie als Anlass zu untersuchen, ob sich der Krisenbegriff anhand des vorhandenen Datenmaterials empirisch untermauern lässt.

Unsichtbare Zweite: Lektorinnen und Lektoren um die Jahrtausendwende 68 Prozent der befragten Lektoren sind in Festanstellung tätig, 32 Prozent sind freie Lektoren. 80 Prozent der teilnehmenden Lektoren sind weiblich, entsprechend 20 Prozent männlich. Mit Blick auf die Lektorinnen und Lektoren in Führungspositionen stellt sich die Zahlenlage entgegengesetzt dar: Unter den Befragten, die in einer Führungsposition arbeiten, sind nur 33 Prozent Lektorinnen, 67 Prozent Lektoren. Im Durchschnitt haben die Befragten 7 Jahre Berufserfahrung in Festanstellung und 3 Jahre als freie Lektoren.19 Freie Lektoren haben fast immer weitere Tätigkeitsbereiche; am häufigsten wurden hier Gutachterund Übersetzertätigkeiten, wie auch journalistische, universitäre Aufgaben und Autorentätigkeiten genannt. Zur Ausbildung sowohl der freien wie der festangestellten Lektoren lässt sich sagen, dass 96 Prozent (ein Mal 'keine Angabe') ein Studium, davon 17 Prozent ein Lehramtsstudium bzw. Lizenziat, vorweisen können. Alle, die studiert haben, können auf einen Abschluss, davon 17 Prozent auf einen Promotionsabschluss, verweisen. Ebenfalls relativ häufig – 12 Prozent der Befragten – verfügen die Lektoren über eine abgeschlossene Ausbildung als Buchhändler, und nur zu 4 Prozent über eine als Verlagskaufmann.20 Entgegen der weit verbreiteten negativen Einschätzung von Praktika (und teilweise auch von Volontariaten) bezüglich der Möglichkeit einer sich daraus ergebenden beruflichen Perspektive dort, wo das Praktikum geleistet wird (genannt sei das Schlag18 Ekkehard Faude: "Pelzwerker in geschützten Räumen", in: Krise des Lektorats?, S. 102-116, hier 115. 19 Die Berufsjahre der befragten Lektorinnen und Lektoren verteilen wie folgt: Sechs von ihnen sind 1-3 Jahre im Beruf, vier 4-7 Jahre, weitere vier 8-10 Jahre, sechs sind 11-14, drei 15-20 und zwei 21 und mehr Jahre als Lektoren tätig. 20 Zu den studierten Fächern gehören Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Romanistik, Amerikanistik, Anglistik, Geschichte, Komparatistik, Sprachwissenschaft, Deutsch, Sozialkunde, Politikwissenschaft, Buchwissenschaft, Kunstgeschichte, Kulturwissenschaft, Sozialwissenschaften, Publizistik, Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Philosophie. 377

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wort 'Generation Praktikum'), enthalten die Angaben in den Bögen den Hinweis, dass dies ein erfolgreicher Weg zu einer Festanstellung im belletristischen Lektorat eines Verlages ist: 37 Prozent aller Verlagslektoren (Mehrfachnennungen waren möglich) haben ihre jetzige Stellung auf dem Weg eines Praktikums bzw. Volontariats / Junglektorats gefunden. 53 Prozent der Verlagslektoren haben bisher in einem Verlag und 29 Prozent in zwei Verlagen gearbeitet. Ob sich daraus jedoch eine Tendenz geringer Fluktuation von Verlagslektoren ableiten lässt, muss offen bleiben, da Vergleichszahlen fehlen. Die Mehrzahl der freien Lektoren ist für eine Vielzahl von Verlagen tätig. Mehr als die Hälfte (55 Prozent) ist für 4 bis 7 und 18 Prozent sind für 11 bis 12 Auftraggeber tätig. Der sich so ergebende Multiplikatoreffekt verstärkt die Aussagekraft der von den freien Lektoren in den Fragebögen gemachten Angaben. Wie sieht nun das 'Tagesgeschäft' der befragten Lektoren aus? Als "vorläufig letzter Wandlungsschritt" im Berufsbild des Lektors ist derjenige Schritt "vom 'literarischen Wächter' hin zum 'Produktmanager'" bezeichnet worden. Schon 1971 finden sich Belege, dass dieser Wandel mit Blick auf die BRD mittels der Begrifflichkeit des "Lektors als Produktmanager" erfasst worden ist. Dieser also langfristige und keinesfalls abgeschlossene Wandlungsprozess beruht "auf neuen ökonomischen und strategischen Bedingungen."21 Der Lektor wird zum einen als "Textarbeiter"22, zum anderen als Manager in "marktbezogene[r] Funktion"23 verstanden; zum Aufgabenprofil des "Textarbeiters" gehören in diesem Sinne "die klassischen Aufgaben des Lesens, Redigierens und Entdeckens"24 sowie intensive Autorenkontakte. Das Aufgabenprofil des "Produktmanagers" lässt sich durch "Begriffe wie 'Programmplanung', 'Marktanalyse' und 'Marktprognose', 'Konkurrenzanalyse' und 'Marketingplan'"25 bestimmen. Kalkulation, das Finden von Absatzwegen, Werbe- und "Verkaufsstrategien"26 wie auch Lizenzen gehören je nach Verlagsgröße ebenso zu diesem Tätigkeitsprofil. Anhand einiger hier genannter Aspekte der Lektorentätigkeit sollen die in der Forschungsliteratur zu findenden Zuschreibungen im Folgenden durch die Angaben in den Fragebögen überprüft werden.

21 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 253. 22 Momo Evers: "Handwerk, Geld und Leidenschaft", in: Krise des Lektorats?, S. 78-92, hier 79. 23 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 254. 24 Ebd., S. 253. 25 Ebd., S. 254. 26 Michael Krüger zit. n. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 256. 378

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Zwischen Literatur- und Marktorientierung: Lektorat im Literaturverlag Eine der Kernkompetenzen, die dem Textarbeiter zugeschrieben wird, ist das Redigieren, die Arbeit am Manuskript. Die Auswertung aller Angaben bezüglich der Verteilung der Arbeitszeit auf verschiedene Tätigkeiten zeigt, dass die Textarbeit nach wie vor ein wichtiger Schwerpunkt der alltäglichen Arbeit ist. Für 52 Prozent der Lektoren ist festzuhalten, dass sie mindestens 20 und höchstens 35 Prozent der täglichen Arbeit auf die Arbeit am Manuskript verwenden. Allerdings lässt sich daraus nicht schlussfolgern, dass hinter den dieser Studie zugrunde liegenden Angaben der klassische Lektor in "Reinkultur" auszumachen ist. Ein Blick auf einen der tragenden Tätigkeitsbereiche des Produktmanagements, den 'Marketingplan', macht dies deutlich. Nach 'Bedeutung der Rolle gefragt, die Marketingüberlegungen bei der Projektentscheidung spielen', antworten 52 Prozent der Lektoren, dass Marketingüberlegungen 'sehr wichtig' bzw. 'wichtig' seien. 20 Prozent hingegen halten sie für 'weniger wichtig'. Dem stehen 16 Prozent gegenüber, die sie als 'sehr wichtig' einstufen, womit sich an den Polen ein ausgewogenes Bild ergibt; niemand übrigens, der 'verzichtbar' angekreuzt hat. Interessant ist an dieser Stelle ein Blick auf eben diese Pole. Für wen sind Marketingüberlegungen eigentlich 'sehr wichtig' bzw. 'weniger wichtig'? Auf diese Frage antwortet kein einziger für einen Konzernverlag, also für einen 'einem Konzern eingegliederten' Verlag tätiger Lektor mit 'weniger wichtig'. Mit anderen Worten: Marketingüberlegungen sind ausschließlich 'weniger wichtig' für Lektoren, die für inhabergeführte Verlage tätig sind. 'Sehr wichtig' als Einstufung von Marketingüberlegungen erfolgt hingegen zu 75 Prozent durch für Konzernverlage tätige Lektoren. 48 Prozent aller Lektoren geben an, dass 10 bis 15 Prozent ihrer täglichen Arbeitszeit und 16 Prozent der Lektoren, dass bis zu 20 Prozent ihrer täglichen Arbeitszeit auf die Gebiete Herstellung, Marketing, PR, Vertrieb und Lizenzen entfallen. Dies verdeutlicht ebenfalls, wie umfassend und vielschichtig, wie marktbezogen die lektorielle Tätigkeit ist, sodass sie mit 'Textarbeit' allein nicht hinreichend zu beschreiben ist. Befragt danach, 'welche Faktoren in ihrer jetzigen Position eine Rolle für die Programmentwicklung spielen?', zeigt sich, dass die Marktorientiertheit in Form der 'Marktanalyse' in der Lektoratstätigkeit eine entscheidende Rolle spielt, da diese genau mit 40 Prozent als 'wichtig' eingestuft wird; 20 Prozent halten sie sogar für 'sehr wichtig', sodass 60 Prozent aller Lektoren der 'Marktanalyse' eine große Bedeutung bei der Entscheidung zumessen, was überhaupt verlegt werden wird.

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Die Tatsache, dass als Motiv für den Besuch von Buchmessen am dritthäufigsten, mit 24 Prozent, 'Informieren über das Marktgeschehen' genannt wird, untermauert die Bedeutung der marktbezogenen Funktion ebenfalls. Dies lässt sich ebenso mit Blick auf die Debatte um höhere Staffeln für Übersetzer und Urheberrechtsfragen beobachten. Gefragt, ob 'vor diesem Hintergrund weniger jüngste nicht-deutschsprachige Literatur übersetzt' wird, antworten zwar insgesamt 44 Prozent mit 'nein'. Dieses 'nein' ist allerdings insofern ein abgeschwächtes, da 24 Prozent derjenigen, die 'nein' angeben, es durch den Zusatz: 'aber noch stärkerer Blick auf Marktfähigkeit entsprechender Projekte' ergänzen. Die Suche nach Absatzwegen spielt bei der Programmentwicklung ebenfalls eine maßgebliche Rolle. Die Analyse des 'Potentials bei Leserinnen und Lesern' weist die höchste Rate der Bewertungen als 'sehr wichtig' auf, nämlich 60 Prozent. Gefolgt wird sie von der Analyse des 'Potentials im Buchhandel': hier liegt der Wert der Einstufung als 'sehr wichtig' bei 44 Prozent. In dieses Bild fügt sich, dass die 'Medientauglichkeit eines Autors' als Kriterium für von den Lektoren 'getroffene positive Projektentscheidungen für jüngste Gegenwartsliteratur (deutschsprachig wie international)' mit 44 Prozent als 'wichtig' eingestuft wird; wird der Wert von 4 Prozent derjenigen, die dies als 'sehr wichtig' einstufen, hinzugerechnet, ergibt sich ein Wert, der zu knapp der Hälfte der Medientauglichkeit eine ausschlaggebende Bedeutung bei der Projektentscheidung beimisst. Dies korrespondiert mit der Bedeutung von Aspekten des Marketings und der Suche nach Absatzwegen. Als 'weniger wichtig' wird dieses Kriterium der Medientauglichkeit mit 28 Prozent eingestuft; kein einziges Mal jedoch als 'verzichtbar'. Die Einstufung der 'Medientauglichkeit' als 'weniger wichtig' erfolgt zu 71 Prozent von Verlagslektoren bzw. freien Lektoren, die für inhabergeführte Verlage tätig sind. Die Einstufung als 'sehr wichtig' hingegen geht vollständig auf Konzernverlage zurück. Der Umstand, dass dem Faktor der 'Medienbeobachtung' mit 48 Prozent eine 'sehr wichtige' (24 Prozent) und 'wichtige' (24 Prozent) 'Rolle für die Programmentwicklung' von allen Lektoren beigemessen wird, rundet diesen Einblick ab. Diese Marktbezogenheit wird ebenfalls eindrücklich daran deutlich, dass danach befragt, die eigenen 'Fähigkeiten' und 'Talente für die gegenwärtige Tätigkeit' zu bewerten, die 'Marktorientierung' mit mehr als drei Vierteln (76 Prozent) als 'sehr wichtig' (20 Prozent) und 'wichtig' (56 Prozent) für die eigene Lektoratsarbeit eingestuft wird. Als 'verzichtbar' wird sie kein einziges Mal eingestuft. Interessant ist es abermals festzustellen, dass die Einstufung als 'weniger wichtig' zu 75 Prozent auf Lektoren zurückgeht, die für inhabergeführte Verlage arbeiten. Bei der Be-

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wertung als 'sehr wichtig' halten sich die Angaben genau die Waage. Die sich verdichtenden Regelmäßigkeiten in den Unterschieden zwischen den Verlagstypen einmal genauer, das heißt repräsentativ zu untersuchen, wäre sicherlich aufschlussreich. Am häufigsten wird das 'Sprachgefühl' in der bereits erwähnten Kategorie der Fähigkeiten und Talente als 'sehr wichtig' eingestuft, nämlich mit 80 Prozent, kein einziges Mal erfolgt eine Einstufung als 'weniger wichtig' bzw. 'verzichtbar'. Dies trifft auch auf die 'Leselust' zu, die bezogen auf die Häufigkeit der Einstufung als 'sehr wichtig' sich dem 'Sprachgefühl' unmittelbar anschließt; in Zahlen ausgedrückt, halten 76 Prozent der Lektoren die 'Leselust' für eine sehr wichtige Fähigkeit bzw. ein sehr wichtiges Talent. Mit dem 'Sprachgefühl', das dem Redigieren, der Arbeit am Manuskript korrespondiert, und mit der 'Leselust' kommen nun wiederum die charakteristischen Zuschreibungen für den Textarbeiter, für das klassische lektorielle Aufgabenprofil, sehr stark zum Tragen. Was bedeutet dies? Ute Schneider ist sicherlich zuzustimmen, dass "[e]ine starke Ausrichtung des Verlagsprogramms am Marktbedürfnis […] die Basis für die weitere Lektoratsarbeit bilde[t] und die Akquisition der Titel bestimm[t]."27 Deren Einschätzung jedoch, dass "[d]ie Betonung der marktbezogenen Funktion […] dazu [führte], daß die klassischen Lektoratsfunktionen, nämlich der intensive Kontakt mit Autoren und die umfassende Manuskriptbetreuung, zurückgedrängt wurden"28, ist angesichts der bereits dargestellten Ergebnisse zur Arbeit an Manuskripten als Kernaufgabe als zu pauschal zu bewerten. Auch im Hinblick auf den Kontakt mit den Autoren enthalten die Angaben in den Fragebögen entsprechende Hinweise. So sind 16 Prozent der Meinung, dass in der jetzigen Position die Begleitung und Betreuung 'junger deutschsprachiger Autoren über einen langfristigen Zeitraum' 'sehr gut' bzw. zu 28 Prozent 'gut' gelingt (36 Prozent 'k.A'; 'kaum': 16 Prozent und 'gar nicht': 4 Prozent). Ebenfalls 44 Prozent der Lektoren bewerten die Begleitung und Betreuung 'junger ausländischer Autoren über einen langfristigen Zeitraum' als positiv; hier entfallen auf 'sehr gut' 12 Prozent und auf 'gut' 32 Prozent (36 Prozent 'k.A'; 'kaum': 20 Prozent und 'gar nicht': 0 Prozent). Diese Bewertungen eines Aspektes des eigenen lektoriellen Handelns und Handeln-Könnens lassen sich auch lesen als Ausdruck einer nicht per se negativen Haltung bezüglich der eigenen Handlungsoptionen, die den Krisenbegriff kontrastriert.

27 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 254. 28 Ebd. 381

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Zu den eben dargestellten Ergebnissen passt, dass der Pflege 'bekannter literarischer Hausautoren' auch 'unabhängig von kalkulatorischen Aspekten' mit knapp drei Vierteln eine 'sehr wichtige' (36 Prozent) und 'wichtige' (36 Prozent) Rolle zugesprochen wird. Wenn auch bei den 'Hausautoren' Imagefragen zum Tragen kommen, so sind die Angaben dennoch dahingehend interpretierbar, dass der Kontakt zu Autoren in der konkreten Lektoratstätigkeit keinesfalls zurückgedrängt ist. Dass knapp die Hälfte (48 Prozent) aller Lektoren ihren Autoren 'am Beginn oder im Verlaufe des Schreibprozesses' 'stilistische Anregungen' in Form von 'Arbeitsproben' geben, enthält einen Fingerzeig auf die tatsächliche Intensität der Kontakte der Lektoren zu den Autoren. Betrachtet man die Schwerpunkte der Autorenkontakte, 'die über die engere Lektoratstätigkeit hinausgehen' (wobei Mehrfachnennungen möglich sind), zeigt sich, dass Zeit und Terminprobleme (27 Prozent) vor Störungen im Arbeitsumfeld des Autors (16 Prozent), finanziellen Problemen (16 Prozent), Perfektionsdrang (16 Prozent), Schreibblockaden (14 Prozent) und überfordernde Materialfülle bei der Arbeit am aktuellen Projekt (11 Prozent) die zeitintensivsten Formen der Autorenbetreuung darstellen. Die Übersicht gibt einen qualifizierten Einblick in die Vielfältigkeit und Intensität der Kontakte der Lektoren zu ihren Autoren. In puncti 'Arbeit an Manuskripten' und 'Autorenkontakte' zeigt sich, dass Aussagen über das Berufsbild des Lektors und dessen Wandel ohne hinreichende empirische Daten tendenziell zu pauschal und damit ungenau sind. Es fehlt schlichtweg an aktuellen empirischen Arbeiten, um diesen vielschichtigen Wandlungsprozess zuverlässig erfassen zu können. Dies kann als eines der Ergebnisse dieser Studie gelten. Diese Kritik erscheint auch für Momo Evers' Resümee angebracht: "Den Platz des Lektors als Textarbeiter, der mit Autoren gemeinsam an ihrem Werk feilt, nimmt immer häufiger ein anderer ein: der freie Lektor."29 Denn ohne zuverlässige Quantifizierungen lassen sich auch keine qualifizierten Aussagen über solche Prozesse machen. Hier nämlich haben die Fragebögen ergeben, dass 32 Prozent der Verlagslektoren 20 Prozent ihrer Arbeitszeit und 20 Prozent der Lektoren 30 bis 35 Prozent ihrer Arbeitszeit auf die konkrete Textarbeit verwenden. 8 Prozent verwenden die Hälfte der täglichen Arbeitszeit für die Arbeit am Manuskript. Es lässt sich somit festhalten, dass für 60 Prozent der Verlagslektoren die 'Arbeit an Manuskripten' während der 'Arbeit am letzten Halbjahresprogramm' 20 bis 50 Prozent der täglichen Arbeitszeit ausmacht. Spitzenanteile von 70 bzw. 88 Prozent finden sich hingegen

29 Momo Evers: "Handwerk, Geld und Leidenschaft", in: Krise des Lektorats?, S. 78-92, hier 79. 382

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ausschließlich bei den freien Lektoren so wie sich Spitzenanteile von 0 und 5 Prozent ausschließlich bei den Verlagslektoren finden lassen. Aufgrund der Häufigkeit von 'keine Angabe' lassen sich über die Verteilung der Arbeitszeiten bei den freien Lektoren keine Aussagen machen.30

" K o h ä r e n z n a c h s c h a f f e n " 31: Lektoren als Textarbeiter Mit Blick auf die Wandlungstendenzen im Lektorenberuf hat sich gezeigt, dass dieser Beruf aktuell verschiedene und vielfältige Anforderungen und Tätigkeitsschwerpunkte in sich vereint. Um zu einem Bild des Lektorenberufs zu kommen, das der Realität nahe kommt, spricht vieles dafür, Aspekte der 'Textarbeit' einerseits und 'marktbezogene Funktionen' andererseits nicht gegeneinander aufzurechnen. Tut man dies, ist die Neigung groß, Wandlungstendenzen zu überzeichnen und den grundlegenden Wandlungsprozess als krisenhaft zu substantialisieren. Um dem vorzubeugen, empfiehlt sich neben zu erbringender Empirie ein fluider und luzider Lektorenbegriff im Sinne Göbels, der dem Lektor 1981 einen "ganzheitlichen Beruf"32 bescheinigt. Den Stellenwert und die Handlungsoptionen des Lektorats zu analysieren, bedeutet auch, die Vielschichtigkeit des Begriffs der Rolle des Lektors mit zu bedenken. "Der Begriff der Rolle beschreibt ein gesellschaftlich institutionalisiertes 'Bündel von Verhaltensnormen'"33 und bietet sich somit an, Kernpunkte des Lektorenberufes zu erfassen. Denn der Lektor ist nicht einfach ein Dienstleister, "der sein hartes Wissen konkret definierten Zwecken zur Verfügung stellt, sondern der Vermittler zwischen dem Autor und dem literarisch und wissenschaftlich gebildeten Publikum."34 Und für diese Rolle gilt: "Ebenso markant wie der Wandel des Berufsbilds ist die Kontinuität in der Ambivalenz der Rolle."35 Beherzigt man dies, und verwendet nicht allzu leichtfertig den Krisenbegriff, um den Wandlungsprozess des Berufsbildes zu beschreiben, ist 30 Beide Zitate von Schneider und Evers können aufgrund der diesem Aufsatz zugrunde liegenden schmalen empirischen Basis lediglich im Sinne eines Auftaktes mit Zahlen konfrontiert werden. Doch zeigt dieses Vorgehen die Notwendigkeit weitergehender empirischer Überprüfungen zu dieser Thematik auf, und dies nicht zuletzt mit Blick auf die allgemeine Literaturgeschichte. 31 Ekkehard Faude: "Pelzwerker in geschützten Räumen", in: Krise des Lektorats?, S. 102-116, hier 104. 32 Zit. n. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 260. 33 Siehe Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 29; sie zitiert Heinrich Popitz. 34 Ulrich K. Preuß zit. n. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 29. 35 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 344. 383

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der Blick frei für das Konkrete. Und hierzu zählt eben unter anderem, dass bei allen Zwängen, die mit der Marktbezogenheit des lektoriellen Handelns zu tun haben, es eine deutlich positive Bewertung der langfristigen Betreuung von Autoren durch Lektoren gibt (vgl. oben). Dies ist interpretierbar als eine positive Bewertung der eigenen Handlungsoptionen im Kernbereich lektoriellen Handelns, was mit Abstrichen ebenso für die konkrete Textarbeit, die Arbeit an Manuskripten zu sagen ist. Ein Blick auf die Empirie also relativiert drastische Einschätzungen wie die von Hans-Ulrich Müller-Schwefe: "In Zeiten, in denen in Verlagen über den Kostenfaktor Lektorat mit und ohne Konsequenzen lamentiert wird, ließe sich aus den skizzierten Erfahrungen ketzerisch folgern, daß Lektorat eben nicht unumgänglich ist."36 und lädt ein, genauer in das Lektorat als eine Keimzelle der Literatur und des literarischen Lebens zu schauen. So schreibt Dieter Wellershoff, dass "die Vertriebs- und Werbeabteilungen der Verlage gegenüber den Lektoraten stark an Einfluß gewonnen [haben]. [Und folgert:] Der Markt regiert die Produktion".37 Auf die Frage in den Bögen zu Projektentscheidungen jedoch, ob das Marketing in den Verlagen 'über die Annahme oder Ablehnung von Projekten mitentscheidet', antworten 52 Prozent mit 'nein' und 20 Prozent mit 'ja'. Auch anhand der wichtigen Frage 'Wie die Titelfestlegung erfolgt' zeigen sich klare Handlungsoptionen des Lektorats, denn 'hauptsächlich durch das Lektorat' antworten 60 Prozent; 'hauptsächlich durch das Marketing' wurde nicht ein einziges Mal genannt. Obwohl die gestiegene Rolle des Marketings nicht von der Hand zu weisen ist: Apodiktische Einschätzungen wie die Wellershoffs bedürfen der empirischen Überprüfung. Vielmehr scheint es angemessen, Schneider zu folgen, die schreibt: "Die Ambivalenz der Lektorenrolle kann nicht überwunden werden, sie ist ihr immanent."38 Eine solcherart ausgewogene Gewichtung marktbezogener Funktionen und klassischer Funktionen, die mit dem Lektorenberuf verbunden werden, justieren schließlich auch Konnotationen der Krisenhaftigkeit, um die aktuelle lektorielle Tätigkeit zu erfassen. Die Ambivalenz der Lektorenrolle besteht einerseits in der "strukturelle[n] Abhängigkeit des Lektors vom Buchmarkt"39 sowie naturgemäß auch in seiner Bindung an den Verlag, für den er steht: "Ansonsten liest auch er, der Lektor, für seinen Arbeitgeber."40 Andererseits ist der 36 Hans-Ulrich Müller-Schwefe, "Grenzen des Lektorats", in: Krise des Lektorats?, S. 72-77, hier 77. 37 Dieter Wellershoff: "Vielstimmiges Intermezzo. Meine Zeit als Lektor", in: Krise des Lektorats?, S. 9-29, hier 29. 38 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 302. 39 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 191. 40 Beckermann, "Kritiker – Lektor – Autor", S. 77. 384

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Lektor im Auswahlprozess, vor allem in der Negativauswahl, autonom und auf sein eigenes Urteilsvermögen verwiesen. Eine professionelle Freiheit, die individuelle Kriterien und Vorbildung erfordert: "Der Lektor [...] hat es mit Ungedrucktem zu tun. [...] Bei seiner Lektüre kann er sich auf nichts verlassen. […] Die bekannte Literatur ist ihm dabei der Parameter, der ihm die Abweichungen des unveröffentlichten Textes anzeigt. Das Schwierigste für ihn aber ist, diese Abweichungen gegenüber der Summe der veröffentlichten Erzählweisen zu bewerten."41 Literarische Wertung42 ist ein komplexer Handlungsprozess. "[N]icht nur literarische Texte [… sind] Objekte der Wertung […], sondern auch die Wirkung eines Textes […], der Autor als Person, außerdem konkrete Objekte, z.B. Werkausgaben, und häufig werden Ereignisse, Institutionen und Konstellationen nicht nur des literarischen Lebens, sondern Gesellschaft allgemein beurteilt."43 Bei der Programmentwicklung durch Lektoren hat sich gezeigt, dass hierbei deren Marktorientierung handlungsleitend ist. So wurde die Abschätzung des 'Potentials bei Leserinnen und Lesern' am häufigsten (60 Prozent) mit 'sehr wichtig' eingestuft und kein Mal als 'weniger wichtig' oder 'verzichtbar'. Gleich danach und somit vergleichbar wurde das 'Potential im Buchhandel' mit 44 Prozent als 'sehr wichtig' eingestuft. Auf dem vorletzten Platz (nach 'Konkurrenzverlage') bei der Häufigkeit der Einstufung als 'sehr wichtig' rangiert (gemeinsam mit 'Programmplätze für Reihen') das 'Potential im Kulturbetrieb' (12 Prozent). Dieses Bild komplettiert sich dadurch, dass die 'Marktanalyse' von Titeln zu 60 Prozent als 'sehr wichtig' bzw. 'wichtig' eingestuft wird. Ein Konsens über allgemeine, textbezogene Wertungsmaßstäbe ist schwer herzustellen; gemeinsamer Nenner scheint für viele Buchprojekte deren 'Originalität' innerhalb des eigenen Verlagsprogramms und auf dem Markt zu sein. An textbezogenen Wertungskriterien für die Projektentscheidung ist den befragten Lektorinnen und Lektoren am wichtigsten, dass die Charaktere überzeugen: Der Aspekt, ob die 'Figurenzeichnung nachvollziehbar und stimmig' ist, wurde am häufigsten als 'sehr wichtig' (64 Prozent) eingestuft. Nimmt man die Gewichtung als 'wichtig' hinzu, ergibt sich ein Wert von 96 Prozent. Am zweithäufigsten wurde die 'Stimmigkeit von Erzählperspektive und Handlung' als 'sehr wichtig’ (60 Prozent) eingestuft; der Gesamtwert mit der Einstufung als 'wichtig' liegt abermals bei 96 Prozent. Der Frage nach 'juristischen Problemen'

41 Beckermann, "Kritiker – Lektor – Autor", S. 79. 42 Vgl. Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 27f. 43 Simone Winko, Einführung in die Wertung von Literatur, Paderborn u.a. 1996, S. 39f. 385

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(12 Prozent) und des 'Realienabgleichs' (24 Prozent) kam hingegen weit weniger die Gewichtung als 'sehr wichtig' zu. Dieter Wellershoff erlebte bereits zu Beginn seiner Lektorentätigkeit, wie durch die zunehmende Konkurrenz der Verlage und die Steigerung der Buchproduktion zunehmend auch Manuskripte realisiert wurden, die in größerem Maße der Bearbeitung bedurften: "Meistens erkannten sie [die Autoren] dann die Schwächen und Fehler selber. Vieles wiederholte sich natürlich: ungenaue Wortwahl, überladene Sätze, überflüssige Adjektive, Umständlichkeiten und Längen, ungewollte logische Widersprüche, ungeschickter Szenenaufbau, schwerfällige oder gestelzte Dialoge, psychologische Unwahrscheinlichkeiten oder Klischees bei der Personendarstellung und vieles sonst."44 Wellershoffs Aufzählung zeigt deutlich eine Richtung, die die Ergebnisse der Fragebogenuntersuchung bestätigen: Die Schwerpunkte der Texteingriffe sind klar sprach- und weniger inhaltsbezogen. Das bedeutet, dass Eingriffe in 'Formalsprachliches' (56 Prozent), in die 'Textkonzentration' (52 Prozent) und in die 'Stilistik' (48 Prozent) klar hinsichtlich der Häufigkeit der Einordnung dieser als 'Schwerpunkte der Texteingriffe' dominieren. Der 'Plot' (4 Prozent) und die 'Handlungsschritte' (4 Prozent) liegen gemeinsam auf dem letzten Platz, da sie am seltensten als 'sehr häufige' 'Schwerpunkte der Texteingriffe' bezeichnet werden.

"Ein guter Text hat etwas zu sagen – und weiß, wie er es sagen kann": Vom guten Text Sowohl die Auswahlkriterien als auch die Kriterien der Textredaktion laufen auf ein gemeinsames Ziel zu: den guten Text. Was aber ist für Lektorinnen und Lektoren ein guter Text? Diese zentrale Frage der Lektoratsarbeit, in der das subjektive Selbstverständnis der Lektoren einerseits und das objektive Ziel ihrer Arbeit andererseits zusammenfallen, wurde als abschließende Frage des Bogens in Form einer offenen Frage gestellt. Die Antworten der befragten Lektorinnen und Lektoren zeigen, dass ein guter Text vor allem eines ist: "selten" (Lektorin in inhabergeführtem Verlag, *1964). Sie zeigen auch, dass sowohl Lektorinnen und Lektoren in unabhängigen Literaturverlagen wie auch in Konzernverlagen eine dezidierte Vorstellung von dem haben, was einen guten Text ausmacht – mit einem durchaus herauszulesenden Unterschied in der Selbstdarstellung dieses Selbstverständnisses vom guten Text. Einige Beispiele sollen dies illustrieren:

44 Dieter Wellershoff, "Vielstimmiges Intermezzo. Meine Zeit als Lektor", in: Krise des Lektorats?, S. 9-29, hier 25. 386

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Ein guter belletristischer Text, so die Stimme einer Lektorin sehr dezidiert, sei ein Text "mit einer starken identifikatorischen Hauptfigur, der in personaler Perspektive geschrieben ist, deshalb den Leser das Geschehen 'miterleben' lässt und den Leser nicht gängelt. Ein guter Text erlaubt die Kommunikation/Interaktion des Lesers mit dem Text, er 'zeigt' die Welt der Helden, ohne sie (auktorial) zu kommentieren. Ein guter Text behauptet nicht das, was geschieht, sondern beschreibt es." (Lektorin, *1963) Andere Stimmen lassen dem "guten Text" in Erzählweise und Struktur mehr Freiraum und zielen vor allem auf eine sprachlich und erzählerisch adäquate Realisierung dessen, was der individuelle Text will: "Ein guter Text hat etwas zu sagen – und weiß, wie er es sagen kann. Er bewegt. Er lässt nicht los, bevor er zu Ende gelesen ist. Wie gelingt ihm das? Manchen Texten gelingt es, indem sie intertextuelle Bezüge herstellen, Motive wiederholen und in den Dienst ihrer eigenen Aussage stellen. Anderen, indem sie selbstbewusst ihre eigenen Regeln, ihre ganz eigene Sprache, ihre eigenen Bilder entwerfen und konsequent umsetzen. Anderen, indem sie, ganz gefangen von dem, was sie sagen möchten, sagen müssen, keinen einzigen Gedanken an das Wie verlieren, sich ganz ihrer eigenen Botschaft ausliefern. Und wieder anderen – Dass es jedem gelungenen Text auf seine ganz eigene Weise gelingt, das macht den Lektorenberuf so spannend." (Lektorin, *1979, in konzernunabhängigem Literaturverlag) Häufig betont die Antwort auf die Frage nach dem guten Text diese im vorherigen Statement bereits angeklungene innere Stimmigkeit: "Ein guter Text ist ein 'runder' Text, der in sich stimmt. Eine Geschichte kann auf tausenderlei Weisen erzählt werden, aber sie muss in sich stimmig sein, dann überzeugt der Text." (Lektorin, *1965) Ein häufig verwendetes Bild ist das von der "einen Stimme", die ein guter Text haben müsse: "gut (literarisch) aufgebaut, unterhaltsam, nachvollziehbar, persönlicher Stil ('eine Stimme')". (Lektorin in einem inhabergeführten Verlag, *1966). Dass gute Texte sowohl inhaltlich wie sprachlich überzeugen müssen, ist bei allen Antworten unbestritten: "Ein Text, der inhaltlich und sprachlich überzeugt, egal ob klassisch oder experimentell, und egal, ob der Schwerpunkt mehr beim Inhalt oder bei der Sprache liegt." (Lektorin in einem inhabergeführten Verlag, *1966) Bei den Lektorinnen und Lektoren in Konzernverlagen überwiegen Aussagen, die weniger auf das Wie der Realisierung zielen, sondern auf die Effekte, die der Text auf den Leser hat. Sie denken wesentlich mehr vom Leser also vom Text aus: Ein guter Text, so eine Lektorin, "fesselt ab der ersten Zeile, keine Längen, komplexe Struktur, die sich einfach erschließt ..." (Lektorin in einem Konzernverlag, *1974). Ein Text sei dann gut, so eine andere, wenn er "mich weiterlesen lässt, obwohl ich Hunger habe, müde bin, das Telefon klingelt" (Lektorin in einem Kon-

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zernverlag, *1970). Gute Texte müssten "von Anfang an mitreißen und immer wieder überraschen" (Lektorin in einem Konzernverlag, *1963), schlicht Texte sein, "die man gerne liest!" (Lektorin in einem Konzernverlag, *1978) und bei denen "Sprache und Inhalt so gut aufeinander abgestimmt sind, dass ich mir Fragen zum sprachlichen Handwerk erst bei der zweiten Lektüre stelle." (Lektorin in einem Konzernverlag, 20 Berufsjahre) Denn auf die Originalität des Textes, seine Logik und Kohärenz in Inhalt und Struktur legen selbstverständlich auch Lektorinnen und Lektoren in Konzernverlagen wert: Ein guter Text sei "einer, der sich eine formale sowie sprachliche Logik erfindet und ihr treu bleibt, die genau seinen inhaltlichen Gewichtungen korrespondiert; und ein Herz und eine Seele muss er haben, emotionale Überzeugungskraft." (Lektor in einem Konzernverlag, *1954) In einigen Antworten der Lektorinnnen und Lektoren wird die Perspektive der Leser, ausdrücklich oder implizit vorausgesetzt, als entscheidend für die Definition des guten Textes eingeführt: Ein guter Text sei "etwas, was jeder anders versteh[en könne]" (Lektorin mehrerer Verlagshäuser, *1958). Was ein guter Text sei, "liegt oftmals an der Leserperspektive." (Lektorin, *1975) Und: "1.: Ein guter Text ist ein Text, den man (bzw. ein real existentes Zielpublikum) gerne, mit Freude/Spannung/Interesse/Genuss/Gewinn liest. Textbeurteilung im Lektorat erfordert (anders als in Literaturkritik oder -wissenschaft) immer den Blick auf die potentielle Leserschaft. 2.: Ob ein Text gut ist, stellt sich in der Regel erst nach Abschluss des Lektorats heraus, in allen Phasen davor sollte die Frage nicht lauten: Ist der Text gut?, sondern: Hat der Text das Potential zum guten Text?" (Lektor in einem inhabergeführten Verlag, *1977). Gute Texte reizen vor allem "zum Weiterlesen – selbst wenn sich der Leser oder die Leserin ursprünglich gar nicht für das Thema oder den Inhalt interessiert hat." (Freie Lektorin, *1953).

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DIE SCHULEN

DES

SCHREIBENS

KATRIN LANGE

Der Vorbehalt des Feuilletons "Und immer wird gerade jemand anderes geküsst" war ein Artikel von Helmut Böttiger überschrieben, der am 7. Juli 2005 in der Süddeutschen Zeitung erschien. Sechs Porträts von jungen Autoren waren ihm voran gestellt, junge Gesichter, deren Namen wahrscheinlich nicht allzu vielen Feuilletonlesern bekannt waren. Der Artikel war im Stil einer Kanzelrede geschrieben, sein Gegenstand war "die junge deutsche Literatur" und die schlechte Botschaft lautete, sie sei "brav, ordentlich und monoton". Es war durchaus bedeutungsvoll, dass Text und Autorenporträts aufeinander bezogen waren, denn Böttiger argumentierte ad personam, seine Kritik setzte bei spezifisch biographischen Daten der jungen Autoren an. Denn eins fällt bei den heutigen Debütanten auf: Sie belegen oft direkt nach der Schule einen angewandten Studiengang, in dem sie Schreiben und Medientechniken lernen und als praktizierten Beruf mit akademischer Rückendeckung "Schriftsteller" angeben können. Wenn man aber außer Elternhaus, Schule und Schreibwerkstätten nichts anderes kennen gelernt hat, stellt sich die Frage, worüber man nun eigentlich schreibt. Über eigene Erfahrungen etwa?

Seiner Meinung nach bedingen sich in einem fatalen Zirkelschluss die persönliche Erfahrungsarmut der Autoren, ihre Entscheidung für eine Schriftstellerausbildung, die zudem auf einem falschen Begriff vom Schriftsteller und der Literatur basiert und Büchern, denen man gerade noch zugestehen mag, "handwerklich solide" zu sein. Der von Böttiger kritisierte falsche Weg zur Literatur über Studium oder Schreibwerkstätten war für eine Autorengeneration in den 90er Jahren zunächst einmal ein neuer Weg. In den angelsächsischen Ländern gehörten Kurse zum kreativen Schreiben seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil der akademischen Ausbildung. In Russland gab es mit dem berühmten Maxim-Gorkij-Institut Moskau eine staatlich geförderte, akademische Autorenausbildung, die auch das Vorbild für das 1955 gegrün389

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dete Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig bildete. In Westdeutschland existierte nichts Vergleichbares, sieht man einmal von der Autorenwerkstätte am Literarischen Colloquium in Berlin ab, die von Walter Höllerer gleich mit dessen Gründung im Jahr 1963 eingerichtet wurde. Die Gruppe 47 hatte für einige Jahre eine wichtige Funktion, wenn es darum ging, jungen Autoren öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, doch sie funktionierte unter gänzlich anderen als Ausbildungsbedingungen. Noch in den 80er Jahren gab es für Autoren kaum Orte und Möglichkeiten, ihre literarischen Projekte zur Diskussion zu stellen. In den 90er Jahre aber hat sich die Situation grundlegend geändert. 1995, um nur einige Daten zu nennen, wurde das Literaturinstitut Leipzig neu gegründet, 1999 der Diplomstudiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, und die Bertelsmann Stiftung bot Seminare für Autoren und Übersetzer an, die 1999 unter dem Namen textwerk am Literaturhaus München institutionalisiert wurden. Ich will zunächst den für die Autoren natürlich nicht unwichtigen Unterschied zwischen Studium und Seminar vernachlässigen, bündele unter dem Begriff Schreibwerkstätte beides und konzentriere mich auf das Curriculum, das bei all diesen Aus- und Weiterbildungen ähnlich ist. Zuallererst geht es überall darum, dass Autoren ihre Texte diskutieren können. Erfahrene Autoren oder Lektoren geben ihr Urteil ab und lenken die Aufmerksamkeit auf Stärken und Schwächen des Textes. Die Gruppe oder Klasse bündelt Leseeindrücke und hält die Intention des Autors und die Intention des Textes gegeneinander. In eigenen Übungen werden literarische Techniken wie beispielsweise Dialoge, Umgang mit Zeit oder Erzählperspektiven behandelt und schließlich werden früh Informationen über Strukturen und Protagonisten des literarischen Marktes gegeben. Studium wie Seminare sind als Nachwuchsförderungen konzipiert, sind gedacht für junge Autorinnen und Autoren am Start einer literarischen Karriere. Und gerade die haben von Anfang an mit großer Nachfrage auf die verschiedenen Angebote reagiert. Überall regelt ein eigenes Bewerbungsverfahren die Teilnahme: Viele versuchen es und nur wenige werden ausgewählt. Bei textwerk, dessen Programm ich seit 1999 betreue und das in den letzten Jahren durch den Deutschen Literaturfonds gefördert wurde, haben seit 1998 dreizehn Seminare für Autoren stattgefunden, die in unterschiedlichen Gattungen angeboten wurden, 130 Autoren haben insgesamt teilgenommen. Die Liste der aus diesen Seminaren hervorgegangenen Bücher umfasst heute mehr als 50 eigenständige Publikationen, also ungefähr die Hälfte aller Teilnehmer hat das Buchprojekt der Bewerbung abschließen und publizieren können. Zahlen aus Leipzig, Hildesheim oder Berlin zeigen prozentual vergleichbare Daten. Für viele der heuti-

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gen Autoren zwischen 30 und 40 Jahren, so lässt sich festhalten, war der Besuch einer Schreibwerkstätte eine prägende Erfahrung auf dem Weg zum ersten Buch. Von Anfang an wurden diese Schreibwerkstätten in der Öffentlichkeit mit einem gewissen Argwohn begleitet. Aus einer Tradition der deutschen Genieästhetik, in der sich alle Avantgarden stets über den Bruch mit dem Überkommenen und über den unmittelbar eigensten Selbstausdruck bestimmten, schien es suspekt, das literarische Schreiben lehren zu wollen. Dieser Vorbehalt klingt auch in Helmut Böttigers Artikel nach. Von Institutsprosa ist da und in anderen Rezensionen zu lesen oder eben dem schalen Lob des handwerklich soliden Buches, das immer zugleich einen Vorbehalt formuliert, denn es ist eben nur das Handwerk gut, und Handwerk ist nicht Kunst. So endet Böttigers Artikel denn auch apodiktisch: „Schreiben kann man lernen. Die Literatur aber nicht.“ Stimmt das? Ich habe nachgefragt bei jenen Autoren und Lektoren der textwerk Seminare, an die sich Böttigers Kritik richtet. Wie nehmen die Lektoren die Schreibwerkstätten wahr? Haben sie die Autoren verändert? Und mit welchen Erwartungen haben sich die Autoren beworben, was ist ihnen vermittelt worden, welche Erfahrungen haben sie gemacht? Und welchen Status haben solche Schreibwerkstätten heutzutage in unserer literarischen Kultur?

Die Arbeit der Lektoren Mittlerweile arbeiten alle Lektoren, die in den Verlagen für deutsche Literatur zuständig sind, mit Autoren zusammen, die Schreibwerkstätten besucht haben. Die Lektoren unterrichten dort oder hatten, wie Jo Lendle in Hildesheim und Leipzig, selbst einen entsprechenden Studiengang belegt und kennen die Seminare so auf verschiedene Weise. Martin Hielscher (C.H. Beck Verlag), Angelika Klammer (Jung und Jung Verlag), Jo Lendle (DuMont Literaturverlag), Klaus Siblewski (Luchterhand Verlag), und Thomas Tebbe (Piper Verlag) verfolgen und gestalten durch die Bücher in ihren Programmen die Entwicklung der jungen deutschen Literatur. Sie haben ihren großen Sommer in den späten 90er Jahren erlebt, als mit einem Mal junge Autoren im Mittelpunkt des literarischen Interesses standen, Aufmacher in Zeitungen und Magazinen über sie erschienen, die Verlage große Vorschüsse boten, um die Debütanten zu gewinnen, – und sie mussten den ökonomischen Kater aushalten, als dann nur wenige Titel die notwendigen Gewinne einspielten. Damals war der Open Mike in Berlin, waren die verschiedenen Abschlusslesungen der Schreibwerkstätten fixe Termine im Kalender der Lektoren. Auch heute trifft man sich noch dort, den einen mehr, den anderen weniger, 391

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wie es sich ergibt, doch sie haben nicht mehr das Gefühl, gleich vor Ort Verträge anbieten zu müssen. "Man kann auch wieder warten", sagt Angelika Klammer. "Ich erwarte nicht, dort Spitzentitel zu entdecken", fügt Thomas Tebbe hinzu. Die große Aufregung des Betriebs hat sich gelegt, dennoch will keiner der Lektoren sich der Schelte auf Literaturstudium oder Schreibwerkstätten anschließen. "Institutsprosa", das halten sie für ein feuilletonistisches Label. Gewiss, "große Erfolge haben es an sich, kopiert zu werden", konstatiert Angelika Klammer, und so kennen sie die Bücher diverser Autorinnen und Autoren mit diesem gewissen Ton einer melancholischen Selbstbezüglichkeit und einer an Raymond Carver geschulten Lakonie, für deren Beschreibung man um den Namen Judith Hermann nicht herumkommt. Den kausalen Rückschluss aber, das gehe auf stilistische Instruktionen von Schreibwerkstätten zurück, mag keiner gelten lassen, ebenso wenig wie die geringschätzige Abqualifizierung des literarischen Handwerks. Das klinge immer, so Jo Lendle, als ob sich handwerkliche Beherrschung auf der einen Seite und literarische Kraft und formale Ambition auf der anderen Seite ausschlössen. Die Lektoren wissen aus der direkten Arbeit, was einen Autor ausmacht, welche Zeit und Unterstützung ein Talent braucht, um sich zu entfalten. Differenzierung prägt auch ihre Sicht auf Schreibwerkstätten. Es gehört zu ihrem Alltag, zur Kenntnis zu nehmen, wenn ihnen die verschiedenen Institutionen neue Abgänger melden. Unter den Bedingungen von Beschleunigung und Wachstum, unter denen im letzten Jahrzehnt in den Verlagen gearbeitet wurde, gilt die Teilnahme an Schreibwerkstätten als ein "Unterscheidungsmerkmal" (Klaus Siblewski). Es signalisiert, dass es sich hier um Autoren handelt, die schon einmal aufgefallen sind, die unter vielen ausgewählt wurden, denen Talent bescheinigt und an deren Texten gearbeitet wurde. Einige Lektoren nutzen diese Seminare gezielt für erste Kontakte zu jungen Autoren. Jo Lendle hat beispielsweise einmal mit Unterstützung der Jürgen Ponto-Stiftung zehn junge Autorinnen und Autoren, die ihm aufgefallen waren, zu zwei Wochenenden auf das Herrenhaus Edenkoben eingeladen, um dort gemeinsam mit ihnen ihre Texte zu diskutieren. "Da habe ich die Autoren eingeladen, von denen ich glaube, dass sie bald gute Bücher schreiben können." Dass er die meisten davon erst einmal noch nicht in seinem Verlag vorstellen wird, weiß er dabei genau. Es kann Jahre dauern, bis aus Textproben Romane werden. Aber durch das Seminar ist eine Vertrauensbasis zwischen ihm und den Autoren geschaffen, man bleibt in Kontakt, ein Gespräch über das Schreiben hat begonnen. Und manchmal kann es auch ganz schnell gehen, wie im Herbst 2006 Saša Stanišic mit dem großen Erfolg seines Erstlings bewiesen hat: Er hat in Leipzig stu-

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diert, hat in Klagenfurt gelesen und war auch in Edenkoben dabei. Dem breiten Publikum wurde er durch seinen ersten Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert bekannt, der es kurz nach seinem Erscheinen bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gebracht hat. "Schreibschulen haben keine negativen Effekte, sie können nur positive haben", befindet doppeldeutig Klaus Siblewski und beschreibt, was alle anderen Lektoren bestätigen: das Niveau der Texte auf einer mittleren Ebene ist in den letzten Jahren gestiegen. Das hat ihrer Meinung nach durchaus mit der Förderung durch Schreibwerkstätten zu tun. Es gibt konkrete Aspekte des Schreibens, bei denen Textdiskussionen in Seminaren ansetzen können. Martin Hielscher zählt beispielsweise Erzähltechniken, Umgang mit Perspektive und Textaufbau dazu. Dann gibt es Fehler, auf die sich hinweisen lässt, Irrwege, die sich abkürzen lassen. Sich einer solchen Kritik auszusetzen, schafft, so hat er beobachtet, eine Distanz zum eigenen Text, die produktiv werden kann. Doch damit, fordert Angelika Klammer, dürfen sich die Schulungen nicht bescheiden. "Das bringt nur etwas, wenn man bereit ist, auf maximale Konfrontation zu gehen, immer vorausgesetzt, ein literarischer Wille ist da, ein 'ich gebe mich mit dem, was dasteht, noch nicht zufrieden'. Dann nämlich geht es nicht nur um Handwerk, sondern ebenso um das Thema, um die Sprache, um die gesamte Anlage des Textes." Autoren hat diese Erfahrung durchaus verändert. Das Bewusstsein, hat Thomas Tebbe festgestellt, dass Literatur etwas Gemachtes ist, sei gestiegen, und damit häufig die Bereitschaft, konstruktiv über den eigenen Text zu sprechen. Die Idee des Lektorats ist öffentlich geworden (Jo Lendle) und gehört für viele Autoren zum selbstverständlichen Bestandteil des Arbeitsprozesses. Das bedeutet allerdings nicht, betonen alle befragten Lektoren, dass die Arbeit im Lektorat sich damit erübrigt hat, denn die bleibt eine im Vergleich zum Seminar gänzlich andere und individuell verschiedene. In den Jahren, in denen die Schreibwerkstätten eingerichtet wurden, haben sich auch die Rahmenbedingungen des literarischen Marktes einschneidend verändert: Beschleunigung, Wachstum, ökonomische Erfolge der Buchbranche oder der Strukturwandel im Buchhandel werden auch öffentlich verhandelt. Die Autoren erfahren in den Seminaren Interna aus den Verlagen. Namen von Lektoren, Vorschüsse, die Platzierung in der Verlagsvorschau, Vertreterkonferenzen, Auflagenhöhen, all das sind ihnen keine fremden Vokabeln und Vorgänge. Schon vor der ersten Veröffentlichung bieten ihnen die Schreibwerkstätten durch Lesungen häufig eine erste Öffentlichkeit. Viele der Autoren haben mittlerweile einen Agenten, der für sie die Verhandlungen mit den Verlagen führt. Unter diesen Bedingungen, das lässt sich leicht vorstellen, entstehen Debüts vor einem anderen Horizont. Schon mit der Arbeit am ersten Buch müssen

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sich die jungen Autoren positionieren: zu dem, was an Anforderungen aus den Verlagen formuliert wird, zu all den Geschichten von Erfolgen und Niederlagen. Das kann Vor- und Nachteile haben. Bei manchen Autoren, so hat Thomas Tebbe beobachtet, führt dies Wissen zu einer professionellen Einstellung, bei anderen hingegen herrschen unrealistische Erwartungen an den Verlag und den ökonomischen Erfolg. Bleibt schließlich die Frage: Was lässt sich in Seminaren nicht lehren? Die Lektoren antworten auf diese Frage spontan: "Eigenart und Talent" (Klaus Siblewski), das "Schriftsteller-Sein" (Angelika Klammer), die "anarchische Kraft genuiner Erzähler" (Thomas Tebbe). Aber den Autoren, die diese Kraft haben, früh ein Bewusstsein für ihre Eigenart zu vermitteln, sie ermutigen zu allem, was damit verbunden ist, zum Beispiel auch dem Nicht-Konformen, dem Mut zur Uninterpretierbarkeit, darin sieht Thomas Tebbe eine Aufgabe und Chance von Schreibwerkstätten.

Der Zuspruch der Autoren "Wenn die mich nehmen, werde ich Autorin", hat Annette Pehnt gedacht, als sie ihre Bewerbung für das zweite textwerk Seminar für Romanautoren in den Briefkasten warf. Sie wurde genommen und hat sich ihr Versprechen erfüllt. Nicht allzu lange nach dem dritten Seminarteil erschien ihr Roman Ich muß los, inzwischen sind ihm drei weitere, zwei Kinderbücher und ein paar Literaturpreise gefolgt. Thomas Lang hat sich auf die Anzeige beworben, "um mich später nicht zu ärgern, dass ich es nicht gemacht habe." Auch er wurde ausgewählt. Etwas Zeichenhaftes hat es für fast alle bedeutet, sich in einem solchen Auswahlverfahren mit dem eigenen Projekt durchzusetzen. Viele hatten zwar schon vorher geschrieben, einige schon kleinere Texte publiziert, aber als Autor hat sich noch keiner (erkannt) gefühlt. "Jetzt werde ich entdeckt", nahm Oliver Bottini an, als er die Einladung zum dritten Seminar für Romanautoren bekam, um dann das Seminar erst einmal als große Desillusionierung zu erleben. "Gemessen an den Ansprüchen der Lektoren, waren wir ja alle noch nicht soweit." Die Hälfte der befragten Autoren hatte ganz pragmatisch die Hoffnung, über ein solches Seminar einen Verlag zu finden, 'entdeckt' zu werden. Bei den anderen standen diffuse Erwartungen nach Begleitung des eigenen Schreibens, nach Förderung und Kommunikation im Vordergrund wie zum Beispiel bei Annette Pehnt. Nicht immer aber entsprachen die praktischen Erfahrungen den vorherigen Erwartungen. Annette Pehnt hatte nach dem dritten Seminarteil Agentin und Verlagsvertrag. Andere, die genau mit diesen pragmatischen Hoffnungen kamen,

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entdeckten wie hilfreich die Rückmeldungen und Änderungsvorschläge für die Entwicklung ihres Buches waren. Wer in welchem Verlag einen ersten Roman veröffentlichen könnte, spielte im Seminar zunächst jedoch überhaupt keine Rolle. Im Mittelpunkt standen die eingereichten Projekte, die in jeweils zweistündigen Sitzungen diskutiert werden. Die erste Vorstellung des eigenen Romans – "heikel" sei es gewesen, "aufregend und anstrengend", "am Anfang ein Schock", so erinnern sich die meisten Teilnehmer. Einige hatten schon Erfahrungen mit Schreibgruppen und konnten besser mit der Situation umgehen, andere mussten erst erfahren und begreifen, dass ein Seminar ein "geschützter Raum" (Thomas Lang) ist und das Abenteuer der Kritik eine Expedition auf sicherem Grund. Er musste dort erst lernen "seinen Text zugleich zu entblößen und zu schützen", sagt Peter Kaiser. In der Kritik kann es sowohl um die gesamte Anlage des Textes wie auch um konkrete inhaltliche und sprachliche Details gehen. Was der Autor aus diesen Rückmeldungen macht, ist denkbar unterschiedlich. Barbara Lehnerer kam nach dem ersten Seminar nach Hause und legte ihren Text erst einmal zur Seite. Ihr hatte man geraten, die Perspektive zu ändern. "Was bilden die sich eigentlich ein?", hat sie gedacht, um in den folgenden Wochen zu merken, dass sich schleichend im Kopf mit diesem Perspektivenwechsel ein anderes Bild, neue Möglichkeiten für den Roman ergaben. Sie hat die Perspektive geändert, ein Stipendium für den Jugendroman erhalten, noch vor Seminarende einen Verlag gefunden. Das Gespräch mit Profis, findet sie, kürzt die falschen Fährten ab und beschleunigt kreative Prozesse. Andere hat die Seminardiskussion beim Weiterschreiben längst nicht so nachhaltig beeinflusst. Aber allein der Umgang mit Kritik sei hilfreich, hat Oliver Bottini festgestellt, führt zu einer "Positionsbestimmung", bei der man viel über das eigene Schreiben lernen könne und zwar nicht nur, wenn der eigene Text besprochen wird. Denn daneben gibt es neun weitere Romananfänge, die es von innen heraus zu verstehen gilt: wie funktioniert dieser Text, was will er, wo erreicht er seine eigenen Vorgaben nicht und warum? Diese Fragen zu beantworten, erfordert eine ebenso kritische wie kreative Lektüre und schärft die eigene literarische Sensibilität. "Ein Text braucht viele Blicke", diese Grundüberzeugung Annette Pehnts teilen alle befragten Seminarteilnehmer. Sie meint ein Bedürfnis, die Schreibphasen durch Diskussionen zu ergänzen, um danach mit neuer Distanz weiterzuarbeiten, Kritik als eine Form der Kommunikation zu ermöglichen und als Korrektiv zu nutzen. Schließlich könne man sich ja nicht selbst auf den Kopf gucken, beschreibt Raphael Urweider, Teilnehmer am ersten Lyrik-Seminar, diese Suche nach einer Perspektive auf den eigenen Text, die alleine nicht herzustellen ist.

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Da hilft es, wenn man wie man, wie Peter Kaiser, die Gruppe als "die zehn Gefährten des Rings" erlebt, eine glückliche Konstellation, die sich nicht immer herstellt. Die meisten Teilnehmer aber beschreiben Kontakte und Freundschaften als wichtigste Gewinne eines Seminars. Da sind zum einen die Referenten, Autoren oder Vertreter aus den Verlagen, die man kennen lernen kann. "Das Seminar öffnet Türen", beschreibt Oliver Bottini die Möglichkeit solcher Kontakte, man bewege sich als Autor auf anderem Terrain, egal ob man seinen Roman dann veröffentlichen kann oder nicht, mit dem Seminar habe man die Schwelle des rein privat schreibenden, amateurhaften Autors überschritten. Den meisten aber sind die Kontakte zu der Seminarleitung und den anderen Seminarteilnehmern noch wichtiger. Einige haben erst in solchen Seminaren andere Autoren getroffen. Freundschaften sind immer wieder entstanden, und man liest weit über Seminargrenzen hinaus die Texte des anderen. Andere Seminare treffen sich, privat organisiert, auch nach Abschluss des letzten Seminarteils noch in der Gruppe. Kann man das literarische Schreiben also lernen? Die alte Gretchenfrage kann die interviewten Seminarteilnehmer nicht mehr herausfordern. Sie kommen nicht, um das Schreiben, gar die Literatur zu lernen. Den "inneren Trieb zum Schreiben" (Thomas von Steinaecker), die Fähigkeit, fiktionale Geschichten zu entwickeln, hat man oder man hat sie nicht. Gewiss gibt es Fertigkeiten, so Thomas Lang, die sich vermitteln lassen, und das ist hilfreich, aber das macht nicht den Gewinn der Seminarteilnahme aus. Wichtiger hingegen fanden die meisten Befragten den disziplinarischen Druck, dran zu bleiben, bis zum nächsten Seminarteil eine bestimmte Seitenmenge abzugeben. Wer erst einmal die hundert Seiten bis zum dritten Teil geschrieben hat, der schreibt den Roman auch zu Ende. Um eine bestimmte stilistische Zurichtung der Prosa geht es im Seminar nicht, sondern um umfassende Hilfestellungen, das eigene Potential zu entfalten. Mit der Kritik des Feuilletons an der "Institutsprosa" gehen die meisten deshalb achselzuckend bis genervt um. Der "geschützte Raum" ist nicht öffentlich, und wahrscheinlich wird, wer nie daran teilgenommen hat, schwerlich beurteilen können, was dort vermittelt wird. Für die Lektoren stellt die Verständigung über handwerkliche Fragen durchaus eine Basis dar, um mit Autoren zu arbeiten. Sie nutzen zudem die Selektion, die mit der Auswahl betrieben wird. Neben der verbindlichen Arbeit im Lektorat oder der unverbindlichen Begegnung auf öffentlichen Lesefesten sind Seminare und Schreibwerkstätten ein dritter Weg: sie ermöglichen Kontakte und eine eigene Form der Kommunikation, ebenso informell in der Umgangsform wie verbindlich in der Sache. Erfordernisse des Marktes, Bedingungen der Öffentlichkeit bilden von Anfang an einen Horizont des Gesprächs und

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prägen das Bewusstsein der Autoren. Für sie ist vor allem die gezielte Textarbeit ebenso motivierend wie förderlich. Für einen Teil hat sich über Kontakte und Empfehlungen nach dem dritten Seminar tatsächlich die Tür eines Verlags geöffnet, andere haben diesen Weg mühsam und oft erst lange nach dem Seminar gefunden. Für alle waren Austausch und Kritik eine Erfahrung, die sie geprägt hat. Die Kontakte halten oft lange. Man trifft sich, erzählt Thomas Lang, beim Sommertreffen der textwerk Seminare, einzelne Autoren bei anderen Kolloquien, bei der Vergabe von Stipendien oder in Dichterhäusern. Sie suchen diese Orte, den geschützten Austausch, das fällt auf. Es sei ein Gefühl, durch diese Erfahrung ihrer Generation von Autoren verbunden zu sein, findet Annette Pehnt. Wahrscheinlich findet jede Zeit und jede neue Autorengeneration eine eigene Kultur der literarischen Kommunikation. Das, was in Schreibwerkstätten geschieht, gehört seit den 90er Jahren unbedingt dazu.

"Schulen des Schreibens" im deutschsprachigen Raum Literaturinstitut Leipzig Das Literaturinstitut Leipzig ist Teil der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Es wurde 1995 neu gegründet, nachdem das Institut für Literatur Johannes R. Becher fünf Jahre zuvor geschlossen worden war. Es wird seither von den beiden Autoren Josef Haslinger und Hans-Ulrich Treichel geleitet. Die Ausbildung besteht aus dem sechssemestrigen Bachelorstudiengang B.A. "Literarisches Schreiben" sowie dem gleichnamigen Master-Studiengang.

Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim Der Diplomstudiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus wurde 1999 von Hanns-Joseph Ortheil an der Universität Hildesheim gegründet. Neben dem Hauptfach "Schreiben und Literatur" sind Theater/Medien, Bildende Kunst oder Musik sowie Kulturmanagement Bestandteile des Studiengangs.

textwerk im Literaturhaus München textwerk ist ein Förderprogramm für Junge Autoren und Übersetzer, das von der Bertelsmann Stiftung entwickelt wurde. Zeitweise gefördert vom Deutschen Literaturfonds ist es seit 1999 am Literaturhaus München institutionalisiert. In einwöchigen Seminaren, die nach Gattungen unterteilt sind, haben zehn ausgewählte Teilnehmer Gelegenheit, ihre Texte mit Lektoren und Autoren zu diskutieren, handwerk-

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liche Aspekte des Schreibens zu reflektieren und Informationen über Verlage und Literaturbetrieb zu erhalten. textwerk soll speziell junge Autoren auf dem Weg zum ersten Buch fördern.

Autorenwerkstatt Prosa im Literarischen Colloquium Berlin Schon mit der Gründung des Literarischen Colloquiums 1963 durch Walter Höllerer wurden dort Autorenwerkstätten eingerichtet. Heute werden einmal jährlich Stipendien an acht bis zehn junge Autoren vergeben, die damit an vier Wochenendseminaren teilnehmen und professionelle Begleitung beim ersten Buch erhalten.

Literaturkurs im Rahmen der "Tage der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt Im Vorfeld des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs werden zehn talentierte Autoren unter 35 Jahren auf Bewerbung eingeladen und erhalten Gelegenheit, ihre Texte in Tutoriumsgesprächen mit erfahrenen Autorinnen und Autoren zu diskutieren und weiter zu entwickeln.

Manuskriptum. Münchener Kurse für Kreatives Schreiben Manuskriptum richtet sich alle Studierende der drei Münchener Universitäten, die nicht älter als 28 Jahre sind. Zwölf Studenten werden jährlich ausgewählt, die in einem zweisemestrigen Kurs eigene Texte mit renommierten Autoren und erfahrenen Praktikern diskutieren können, um da sowie in begleitenden praktischen und theoretischen Seminaren Einsichten in das literarische Schreiben zu gewinnen.

Nordkolleg Rendsburg In Zusammenarbeit mit der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld, findet alle zwei Jahre das Sommerseminar für den "hochbegabten schriftstellerischen Nachwuchs" statt. Für diese handwerklich orientierte Woche stehen jeweils 16 Plätze zur Verfügung, die über das literarische Umfeld der Gastdozenten und über Kontakte zu wichtigen deutschen Verlagen vergeben werden.

Autoren-Förderungsprogramm der Stiftung Niedersachsen Das Autoren-Förderungsprogramm verbindet finanzielle und ideelle Unterstützung: ein Stipendium für die Arbeit am zweiten Buch sowie Begleitkolloquien in der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, u.a. mit der Möglichkeit zum Dialog mit eingeladenen Literaturwissenschaftlern und -kritikern und mit Persönlichkeiten aus an-

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deren wissenschaftlichen und künstlerischen Fachbereichen sowie einer öffentlichen Lesung. Das Programm wird jährlich im Oktober in einer der Sparten Prosa/Lyrik/Essay ausgeschrieben.

Seminare der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel Die Bundesakademie für kulturelle Bildung dient der Fort- und Weiterbildung für Personen, die im kulturellen Bereich tätig sind. Mit Wochenendseminaren zu Themen aus den Bereichen Theater, Musik, Museum, Bildende Kunst, aber auch Literatur fördert sie nicht nur im strengen Sinne Künstler und Autoren.

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Ä S T H E T I K -I N G E N I E U R E . INTERNATIONALE BELLETRISTIK AUF DEM DEUTSCHSPRACHIGEN BUCHMARKT RENATE GRAU

Der jährliche Ausstoß von fiktionalen Titeln auf den deutschen Buchmarkt ist immens: Seit einigen Jahren liegt er etwa bei 25 Prozent der insgesamt 78.000 Erstauflagen.1 Mögen die Experten darüber streiten, ob die hohe Anzahl ein gutes oder schlechtes Zeichen für die Qualität der Titel sei, für diejenigen, deren Name auf dem Deckel steht, gilt: Du bist ein glücklicher Autor, wenn du es geschafft hast, darunter zu sein! Erst recht, wenn es sich um das erste Werk eines vorher unbekannten Autors handelt, und umso mehr, wenn das Buch in einem renommierten Verlag erscheint oder von einem Verlag als Spitzentitel angekündigt und beworben wird. Was in den Zahlen nicht erscheint, ist die Dunkelziffer derjenigen Titel, die keinen Verlag gefunden haben. Niemand führt Buch über die Absagen bzw. die unbeantworteten Anschreiben, die an Literaturagenten und Lektoren geschickt werden. In deren Büros stapeln sich die Manuskripte zu Papierbergen, die die englischsprachigen Büchermacher slash piles nennen. Die Chance, es von einem solchen Slash Pile in einen Buchladen zu schaffen, ist winzig. Das Ringen um Aufmerksamkeit endet längst nicht, wenn ein Agent oder Lektor sich für einen Titel entschieden haben. Nach dieser ersten und sicher schwersten Hürde muss sich ein Titel mit jedem weiteren zu erschließenden Publikumskreis immer wieder neue auf Neue beweisen. Warum ist das so, was muss ein Titel beweisen und wie gelingt dies dem Titel bzw. den Menschen, die hinter ihm stehen? Bevor wir uns diesen Fragen widmen, seien zunächst einige wesentlichen Bedingungen erläutert, unter denen internationale Belletristik zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu den deutschsprachigen Lesern gelangt.

1

Vgl. Börsenverein_des_Deutschen_Buchhandels (Hg.), Buch und Buchhandel in Zahlen 2006, Frankfurt 2006. 401

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Die Zahlen des Börsenvereins des deutschen Buchhandels e.V. belegen, dass ein relativ großer Anteil der in Deutschland verlegten belletristischen Titel Übersetzungen aus dem anglo-amerikanischen Raum sind und das ist typisch für den deutschen Buchmarkt. Dabei wird klar: Das heimliche Mekka, die Drehscheibe für den deutschsprachigen Buchmarkt, ist weder Frankfurt (mit seinen renommierten Verlagen und der Buchmesse), noch München (mit den Marktriesen des Bertelsmannkonzerns), noch Berlin (mit der Literatenszene, den Literaturagenten und etablierten Verlagen) oder Leipzig (die altehrwürdige Verlagsstadt, die zudem junge erfolgreiche Autoren wie Juli Zeh aufzubieten hat). Die Hauptstadt ausländischer Lizenzen für den deutschsprachigen Markt liegt vielmehr in der Schweiz, in Zürich. Die Stadt ist Sitz der Großen Drei des Lizenzgeschäfts. Durch die Hände von Liepman, Mohrbooks und der Peter & Paul Fritz Agentur geht ein Großteil der ins Deutsche übersetzten Lizenzen. Die Agenturen leben von einem reinen b2b-Geschäft, arbeiten also Business-to-Business nur zwischen Geschäftskunden und damit außerhalb der Aufmerksamkeit der großen Publikumskreise. Was die Zahlen des Börsenvereins nicht zeigen, ist ein scheinbar paradoxes Phänomen des Marktversagens in spezifischen Feldern: Die Allokation von Autoren zu Verlagen und damit ihr Zugang zu einer breiten Masse von Lesern im Buchmarkt scheint nicht zu funktionieren. Wie kann es sein, dass so viele deutschsprachige Autoren oft vergeblich kämpfen einen Verlag zu finden, während Verlage klagen, sie fänden keine deutschsprachigen Autoren, bzw. keine solchen, deren Geschichten die Deutschen auch lesen wollen? Hinter dem Allokationsproblem von unbefriedigtem Angebot und unbefriedigter Nachfrage müssen also Faktoren nicht-ökonomischer Art stehen. Die zentralen Institutionen am Markt sind die Verlage. Über die ökonomische und gesellschaftlich-kulturelle Situation der Verlage zu Jahrtausendwende ist schon viel von Insidern und Branchenbeobachtern gesagt und geschrieben worden.2 Sehr viel fruchtbarer als der Verweis auf außerhalb des Einflussbereichs der Verlage liegende unabwendbare Rahmenbedingungen scheint daher die Frage nach den Schrauben, an denen jeder Verlag selber drehen kann: nämlich nach seinem Geschäftsmodell und der Gestaltung seiner Beziehung zu seinen wichtigsten Anspruchsgruppen, den Autoren und den Lesern. Meines Erachtens liegt hier ein Kernproblem, das ein Managementproblem ist, und die Strukturund Prozessebene der Verlage genauso betrifft, wie deren internes und 2

Vgl. dazu Jason Epstein, Book Business: Publishing Past, Present, and Future, New York, London 2001; André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher, Berlin 2000; Klaus Wagenbach (Hg.), Warum so verlegen? Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, Berlin 2004. 402

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externes Kommunikationsverhalten.3 Verlage scheinen sich zu scheuen, ein genaues Anforderungsprofil zu formulieren und es nach innen und außen zu kommunizieren, einerseits an ihre potentiellen Autoren und Leser, und andererseits an die zahlreichen an externen Mitarbeitern (wie Gutachter, freie Redakteure/Lektoren), um diese umfassend darüber zu informieren, was sie sind, was sie wollen, was genau sie brauchen und in welcher Qualität. Verlage betreiben schwaches Anspruchsgruppenmanagement und vernachlässigen damit die Bedürfnisse ihrer primären Stake Holders. Fairerweise muss gesagt sein, dass immer noch einige Autoren ihre Hausaufgaben nicht machen und sich nicht ausreichend informieren, welche Agenten oder Verlage die richtigen für sie beziehungsweise die Art der Titel, die sie schreiben, sein könnten. In der Folge decken sie dann Agenten und Lektoren mit unaufgefordert zugesandten Manuskripten ein, die dann auf dem Slash Pile enden.

Der Literaturbetrieb, seine Metaphern und Akteure Dass die große Filtermaschine der Buchbranche, der Literaturbetrieb, nicht durch unüberwindliche Mauern von denjenigen, die Zugang suchen, getrennt ist, versteht sich von selbst. Wie jedoch der Zugang funktioniert, und welches die Mechanismen sind, die von der Buchidee zum fertigen Buch führen, mag selbst so wichtigen Playern wie Autoren als eine undurchsichtige Black Box erscheinen. Außenstehenden sehen nur, dass vorne Manuskripte hineingesteckt werden und hinten dann die Bücher auf den Markt purzeln. Theorien zum Literaturbetrieb Als ein faszinierendes gesellschaftliches Phänomen ist der Literaturbetrieb Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, die mit je eigenen Metaphern arbeiten, um dessen Eigenheiten und Besonderheiten zu veranschaulichen. Zu den bedeutendsten Autoren (und ihren Metaphern) zählen Howard Becker (Kunstwelt), Niklas Luhmann (Literarisches System), Lewis Coser (Schleusenwärter) und Pierre Bourdieu (Literarisches Feld).4 3

4

Vgl. Renate Grau, "Making Fiction Books. Management Challenges from a Socio-Aesthetic Perspective", in: International Journal of the Book 3/3 (2006), S. 61-69. Vgl. Howard Becker, "Art as Collective Action", in: American Sociological Review 39/6 (1974), S. 767-776; ders., Art Worlds, Berkeley 1982; Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1996; Lewis A. Coser, "Publishers as Gatekeepers of Ideas", in: Annuals of the American Academy of Poli403

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Die meisten Autoren beschränken sich auf den Ausschnitt fiktionaler Literatur, die als Literatur im engeren Sinn und damit an den Kriterien/Regeln der Kunst (neuartige Erzählweise, Neuartigkeit, etc.) gemessen wird. Dabei gilt Beckers Idee von der Kunstwelt als bahnbrechend. Becker (1974 u. 1982) zeigte als erster Sozialwissenschaftler, dass Kunstwerke (und hier also auch literarische) nicht wie Meteoriten vom Himmel fallen (Flaubert), sondern im Kollektiv, der so genannten Kunstwelt, geschaffen werden. Angewendet auf die "Literaturwelt" gilt, dass sich der Literaturbetrieb aus einer Vielzahl von Akteuren und Institutionen zusammensetzt, die selbst keine unmittelbaren Produzenten, aber wesentliche Akteure für die Herstellung und Verbreitung von Belletristik sind. Ergänzende Einsichten liefert Luhmanns Vorstellung vom Literatursystem (1996). Die entscheidenden Merkmale aus seiner systemtheoretischen Sicht sind die Unabhängigkeit, mit der Literatur von diesem Literatursystem erzeugt wird (Luhmann: "autopoetisch"). Das heisst aber auch, dass es dieses soziale Gebilde selbst ist, welches anhand selbst aufgestellter Kriterien darüber entscheidet, was als Literatur zu gelten hat. Das erklärt auch die Schwierigkeit, von außen Einblick in diese Regeln zu gewinnen. Wer sorgt nun dafür, dass Titel von außen in das System gelangen? Dies ermöglichen die "Schleusenwärter" (gatekeeper) des Literaturbetriebs, wie Coser sie nennt (1975). Diese zentralen Figuren – Agenten, Lektoren und Verlage – sind nicht nur die Vermittler zwischen den Schöpfern, ihren Ideen und dem Publikum, sondern auch die Former dieser Ideen. Damit kommt ihnen einerseits die Aufgabe zu, aus der Fülle an Buchideen bestimmte wenige auszufiltern und zu verbreiten, und andererseits diese Ideen auch in geeigneter Weise aufzubereiten und in konkrete Form zu bringen. Basierend auf einer breiten empirischen Untersuchung zum amerikanischen Buchmarkt stellt Coser auch Überlegungen zur Situation der Verlage und des Verlegens im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz an. Innerhalb der Buchbranche bestehen ganz unterschiedliche Kulturen mit je eigenen Standards, Bedingungen und Kriterien nach denen die Lektoren Bücher auswählen. Dabei besteht eine engere Vernetzung zwischen den Personen unterschiedlicher Institutionen (Verlage, Agenturen), die in ähnlichen Buchkategorien beschäftigt sind, als zwischen Personen in derselben Organisation. Folglich sind es denn auch diese Netzwerke, die die Werte und Standards der jeweiligen Segmente setzten, erhalten und ändern, und nicht Organisationen, wie

tical and Social Science 421 Sept. (1975), S. 14-22; Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt 2001. 404

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Verlage oder Agenturen. Dieses Ringen um Werte und Standards, zusammen mit dem Kampf um Macht und Ressourcen, ist ausführlich beschrieben in Bourdieus Betrachtungen zum Literaturbetrieb (2001), den er, im Zusammenhang mit seiner Feldtheorie, als Literarisches Feld bezeichnet. Akteure Elementarer Bestandteil des Literaturbetriebs sind, neben den Titeln, die Menschen und Organisationen, die sie verantworten. Akteure innerhalb des Literaturbetriebs, sind nicht nur jene Büchermacher, die in vorderster Front des Medieninteresses stehen. Es gilt, das durch die Medien verzerrte Bild zurechtzurücken, demzufolge Büchermacher vorwiegend Überverleger, also Männer in Verlagsleiterposition, und Einzelkämpfer sind. Im Gegenteil: Unter den einflussreichen Büchermachern sind überaus viele Büchermacherinnen; sie besetzen diverse Funktionen und Rollen in Verlagen und im Literaturbetrieb und müssen zwar Kämpferinnen für ihre Titel sein, niemals aber Einzelkämpferinnen. Bücher zu verlegen ist eine Leistung, für die Verantwortung auf den Schultern vieler Personen verteilt ist. Wer sind nun die Personen genau und worin besteht ihr jeweiliger Beitrag zum einzelnen Titel? Die zentralen Institutionen des Literaturbetriebs sind und bleiben die Verlage: Erstens bündeln sie die Arbeit von diversen Personen und richten diese entlang ihres Verlagsprogramms, ihres Geschäftsmodells und ihrer Strategie aus. Dafür stellen sie als Unternehmen Zielvorgaben und Ressourcen zur Verfügung. Die Verlage tragen weitgehend das unternehmerische Risiko, denn einerseits legen sie das Geld für den Ankauf von Rechten und die Produktion von Büchern vor, andererseits leben sie mit dem Risiko, dass, aufgrund des deutschen Remissionsrechts, nicht verkaufte Bücher aus den Buchläden wieder an sie zurück gehen. Neben ihrem eigenen Personal, den Lektorinnen, Projekt- und Rechtemanagern, Fachleuten in Marketing, Presse und Vertrieb, sind sie umgeben von einer Corona von mehr oder weniger "freien" Büchermachern, deren Aktivitäten sie beeinflussen. Dazu zählt eine Manövriermasse an Personen, von Volontären, freien Gutachterinnen, freien Lektorinnen bzw. Redakteuren bis zu Übersetzerinnen und Übersetzern reicht. Einer Profession ist es Ende des 20. Jahrhunderts gelungen, ihren Status auszubauen: den Literaturagenten, die Interessen der Autoren gegenüber den Verlagen vertreten.5 Innerhalb der Gruppe der Agenturen bestehen jedoch zahlreiche funktionelle Unterschiede: Während einige die Rolle der

5

Vgl. Ernst Fischer (Hg.), Literarische Agenturen - die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb?, Wiesbaden 2001. 405

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Autorenakquise und -betreuung übernehmen, wie dies früher ausschließlich Aufgabe des Lektorats war, agiert eine andere Gruppe von Agenten, die so genannten Sub- oder Overseas-Agenten, als reine Rechtevermittler, die entweder wie die Großen Drei in Zürich eigenständig arbeiten, oder aber, vor allem in den großen Märkten wie New York, an große Agenturen wie Aaron Priest oder Janklow & Nesbitt angegliedert sind. Eine weitere einflussreiche Gruppe, die weitgehend im Verborgenen arbeitet, ist die der Scouts. Scouts arbeiten im Auftrag der Verlage auf den wichtigen Ursprungsmärkten New York, London, Paris, Mailand, um von dort die interessantesten Titel und Marktentwicklungen an ihre Auftraggeber zu melden. Als die Augen und Ohren der Verlage vor Ort stellen sie auch ein Gegengewicht zu den im Auftrag der Autoren handelnden Agenten dar. Diese faszinierende Berufsgruppe lebt von der umfassenden, zuverlässigen und vor allem schnellen Berichterstattung sowie einer ausgezeichneten Kommunikationsstrategie und bündelt damit die "rasenden Reporter" der Branche. Karrieren Warum ist nun der Literaturbetrieb – mal abgesehen von den wenigen prominenten Vertretern – als Ganzes so eine unbekannte Größe für Außenstehende? Erstens fällt auf, dass, im Gegensatz beispielsweise zum Filmgeschäft, in der Regel nur wenige der an einem Projekt Beteiligten namentlich genannt werden. Die wenigen Angaben in Büchern beschränken sich auf Autor, Verlag, Übersetzer, Druckerei. In Ausnahmefällen ist die Lektorin oder der Lektor genannt oder auch die Agentur, nie aber ein Scout, ein Außengutachter oder eine Volontärin. Zweitens gibt es bisher kaum professionalisierte und standardisierte Ausbildungen zu den einzelnen Professionen: keinen Diplom-Lektor, keine Agenten-Schulen, kein Harvard für Verleger und erst recht keine definierten und gemeinsam getragenen Standards oder Zertifizierungen, an denen sich die geforderten Kompetenzen und Fähigkeiten einer Person messen lassen. Einen ersten Schritt in diese Richtung haben die Buchwissenschafts- und verlagspraktischen Studiengänge in den traditionellen deutschen Buchstädten München und Mainz, Frankfurt und Leipzig unternommen. Drittens, und das hängt mit der schwachen Professionalisierung der Branche zusammen, sind die Zugangswege zu den Positionen ebenso wenig standardisiert. Jede Lektorin und jeder Scout hat einen eigenen spezifischen Karriereweg hinter sich. Warum ist das relevant, um zu verstehen, wie Bücher entstehen? Es ist deshalb relevant, weil die Mechanismen und Muster, nach denen Menschen es schaffen, Zugang und Akzeptanz im Literatubetrieb zu fin-

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den, verknüpft sind mit den Mechanismen, mit denen es Büchern gelingt, verlegt zu werden. Die Faustregel und die goldene Regel des Erfolgs Erfolg in der Vergangenheit ist die beste Voraussetzung, um neue Projekte und Ideen umzusetzen und dafür Interesse zu generieren und Unterstützung zu gewinnen. So die Faustformel, die im Literaturbetrieb für Bücher und Büchermenschen gleichermaßen gilt. Sie eröffnet den klassischen Teufelskreis, dem sich nicht nur Autoren gegenüber sehen, die nach jahrelanger Arbeit an einer Idee die Rechte dazu verkaufen wollen, sondern auch junge Menschen, die eine Karriere in der Verlagsbranche anstreben. Der Schlüssel zum Verständnis des Literaturbetriebs ist deshalb, den Zusammenhang zwischen beiden zu erkennen: Nicht Beziehungen oder die Qualität eines Manuskripts, sondern beides in Kombination. Die goldene Regel für den Literaturbetrieb lautet daher: Wenn du Erfolg haben willst, schaffe mir eine starke Kombination aus Titel und Mensch, quasi einen Titel-Menschen oder einen Mensch-Titel; also einen HybridAkteur aus Person und Objekt, wie der französische Techniksoziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour es vorschlägt.6 Nachdem die Spezies der Hybrid-Akteure eingeführt ist, wird bei den nun folgenden Erläuterungen zu Charakteristiken der Akteure und ihrer Verhaltensweise deutlich, dass es sich bei der Generierung von Titeln um zwei Dinge dreht: Ästhetik und das Herstellen wirkungsvoller ästhetischer Objekte.

Die fünf Merkmale erfolgreicher Titel und Akteure Folgende fünf Merkmale lassen sich identifizieren, die erfolgreiche Akteure und Titel gleichermaßen auszeichnen: 1. Durchschlagskraft Die Erfolgschance von Titel, Autor oder Fachperson der Buchbranche hängt von dessen Durchschlagkraft (englisch: clout) ab, das heißt von der Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu finden und andere von seinen Ideen und Projekten zu überzeugen. Entsprechend der Faustregel steht Clout in engem Bezug zu vergangenen Erfolgen und signalisiert damit eine Kompetenz. Clout wird erarbeitet und ist eine Folge des Merkmals Repräsentation.

6

Vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt 2002. 407

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2. Repräsentation Repräsentation steht für die hybriden Verbindungen, die Menschen und Titel eingegangen sind. Eine Lektorin vertritt einen bestimmten Verlag (und damit eine bestimmte Art von Titeln), sie weist eine bestimme "Liste" (englisch: the list), das heißt eine Reihe von vergangenen Projekten aus; ein Agent vertritt bestimmte Autoren oder Verlage; Verlage stehen mit Literatur-Agenturen und Scoutagenturen in vertraglich geregelten Beziehungen. Ein Titel wiederum zeichnet sich durch die Personen und Institutionen aus, die ihn repräsentieren, wie beispielsweise die Autorin, der Agent oder der Verlag, der die Originalausgabe herausgebracht hat. So kann der Titel eines unbekannten Autors Aufmerksamkeit erregen, wenn sein Autor durch eine renommierte literarische Agentin vertreten wird. Repräsentieren muss nicht immer auf vertraglicher Zusammenarbeit beruhen, sondern kann auch Empfehlung oder Fürsprache bedeuten. So hat beispielsweise der damals unbekannte Jonathan Safran Foer mithilfe von Testimonials, die er von sehr erfolgreichen Schriftstellerkollegen hatte sammeln können, immense Aufmerksamkeit für seinen Erstling "Everything is Illuminated" erzeugen können. 3. Ästhetik Neben der speziellen Verbindung zwischen Menschen und Titeln muss, wer den Literaturbetrieb verstehen will, die Grundkategorie der Branche kennen: Ästhetik. Ästhetik bestimmt Ausrichtung und Verhalten von Menschen und Titeln und sie lassen sich anhand der Ästhetik bestimmen. Titel sind ästhetische Artefakte – das heißt, von Menschen hergestellte Objekte, die auf die Sinne wirken sollen. Dabei umfasst Ästhetik weit mehr als den Inhalt. Als Primärartefakt tritt Inhalt stets in Verbindung mit Form, dem Sekundärartefakt, auf. Und, da nur wenige Menschen die Muse bzw. die Humanressourcen aufbringen wollen oder können, einen Titel vollständig zu lesen, bevor sie sich dafür entscheiden, spielt insbesondere auch der Katalog, das Begleitmaterial in Form von Gutachten, Empfehlungen, Zusammenfassungen etc. eine wesentliche Rolle. Alle Elemente des Titels – Primär- und Sekundärartefakt mit Katalog – wirken ästhetisch und sprechen die Sinne der Menschen in bestimmter Art und Weise an. Ein Titel hat umso größere Chancen auf Erfolg, je stärker er wirkt, das heißt, ästhetisch anspricht. Die ästhetische Ausrichtung einer Person schlägt sich in deren Geschmack nieder, ihrer persönlichen Neigung zu bestimmten Ideen oder Erzählweisen. Dieser Geschmack wiederum geht in ihre Liste ein. Doch Achtung: Buchprojekte sind kein Geschäft der individuellen Vorlieben. Zwar spielen diese eine nicht zu unterschätzende Rolle, jedoch ist nicht

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zu vergessen, dass die zentralen Akteure, wie Lektoren oder Verlagsleiter wiederum noch wichtigere Player repräsentieren, nämlich ihre Organisationen. In erster Linie vertreten Verlagsleute den Geschmack ihrer Verlage, die wiederum den Anspruch haben, den Geschmack einer bestimmten Leserschaft zu vertreten bzw. Produkte für deren Bedürfnisse herzustellen. Wann sind nun Menschen und Titel in ästhetischer Hinsicht erfolgreich? Nun, Titel, egal welcher Art, Genre oder literarischer Qualität, müssen wirken beziehungsweise Versprechen von ehemaligen Lesern vorweisen können, dass sie wirken. Menschen brauchen einerseits hoch entwickelte ästhetische Fähigkeiten: Sie müssen die Wirkung von Titeln erkennen, bestimmen und beschreiben können. Andererseits müssen sie "Farbe bekennen", sich oder ihre Organisation ästhetisch einordnen, damit ihnen aus der Fülle an Titeln auf dem Markt diejenigen zugetragen werden, für die sie sich interessieren und sie somit eine zugespitzte Auswahl erhalten. 4. Verhalten In einer Branche, die von den sprichwörtlichen Beziehungen lebt, ist das Geschäftsgebahren ein sensibler Punkt. Nicht selten erwachsen aus den geschäftlichen Kontakten Freundschaften, auch weil der treibende Faktor Ästhetik so eng mit der individuellen Persönlichkeit eines Menschen verknüpft ist. Die Buchbranche trägt, im Gegensatz zu ihrer Schwester, der Filmindustrie, einen verhältnismäßig guten Ruf als business of gentlemen, was auch an den wesentlich geringeren Summen liegen mag, die hier im Spiel sind. Dass sie gegen schlechtes Marktverhalten nicht vollständig gefeit ist, zeigen die berühmten Ausnahmen von der Regel, wie das als "pissing-contest" geschmähte Gerangel deutscher Einkäufer um Lizenzrechte anglo-amerikanischer Titel Ende der Neunzigerjahre oder die Softspionage-Methoden der Scouts auf den umkämpften Ursprungsmärkten New York und London. Um mittel- bis langfristig Erfolg zu haben, müssen sich Akteure, vor allem solche noch ohne Liste, durch ihre professionellen Tugenden auszeichnen: Vertragstreue angesichts der relativ offenen Verträge; Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit von Autoren bei der Lieferung von Texten; Offenheit der Rechtemanager hinsichtlich der Bedingungen ihrer Lizenzgeschäfte. Warum spielen solche Tugenden eine so große Rolle? Das liegt in der Natur der Organisationsprozesse von Titeln. Das Buchgeschäft besteht aus vielen kleinen Titelprojekten, wobei viele ineinander greifende, aber oft unabhängige Einheiten zusammenspielen müssen, um zu reüssieren. Die größeren Projekte verlaufen dabei international über Lizenzgeschäfte und verlangen eine besonders effektive Organisation. Hier kommt auch das "Verhalten" der Titel ins Spiel. Titel verhalten sich, wie oben erläutert, über ihre ästhetische Wir-

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kung. Diese muss, um die unterschiedlichen Personen, die ein Titel auf dem Weg zum Buch überzeugen muss, vor den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen und Geschmäckern bestehen können. Beispielsweise wird ein New Yorker Scout seinen europäischen Kunden bestimmte Titel nicht empfehlen, weil sie "zu amerikanisch" sind, das heißt, nur Menschen mit dem entsprechendem kulturellen Hintergrund ansprechen. 5. Ausrichtung Entscheidend, ob ein Titel Anklang oder sogar Unterstützung bei einem Vertreter des Literaturbetriebs finden wird bzw. ob eine junge Lektorin Erfolg versprechende Titel angeboten erhält, ist die Ausrichtung beider Seiten. Ausrichtung meint die Vorstellung eines Akteurs über das, was er oder sie bzw. die Organisation sein will – beispielsweise ein Spezialist für Liebesromanzen, ein Verlag mit besonderer Kompetenz für Krimis oder, im Fall des Titels, ein anspruchsvolles Familiendrama – , also das Profil eines Verlagsprogramms, und welches die Titel bzw. die Repräsentanten sind, um diese Vorstellung zu erreichen. Erst im Aufeinandertreffen von Mensch und Titel zeigt sich, ob ein effektiver Hybrid-Akteur entstehen kann.

Ästhetisches Engineering: Vier Praktiken, um Bücher durchzusetzen Bleibt zu klären, was die Akteure im Literaturbetrieb auf welche Weise tun, um erfolgreich zu sein bzw. was getan werden kann, um ein neues Buch auf den Markt und damit zur Leserschaft zu bringen. Die vier typischen Verhaltensweisen sind sozio-ästhetisch sind, sie verbinden soziale mit ästhetischen Praktiken. Da dieses Handeln das Ziel hat, ein Objekt mit möglichst wirkungsvoller Ästhetik zu schaffen, lässt es sich unter dem Begriff Ästhetisches Engineering (englisch für "Entwickeln" bzw. "Konstruiere") zusammenfassen.7 1. Sozio-ästhetisches Wissen Wissen ist die Grundlage eines jeden zielorientierten Handelns. Das für den Literaturbetrieb relevante Wissen ist bezogen auf Ästhetik in Verbindung mit Titel und Menschen. Ästhetik des Objekts: Erfolgreiche Akteure im Literaturbetrieb besitzen ein umfangreiches Wissen über die ästhetische Wirkung von Titeln im Sinne einer professionellen Kennerschaft. Ihr Wissen erstreckt sich

7

Vgl. Renate Grau, Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb, Bielefeld 2006. 410

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von Inhalte (literarische Qualität, Sprache und Sprachen, Kenntnisse über Genres und Subgenres) über die möglichen Formen, in welche Titel gebracht werden können um am besten zu wirken (Art der Bindung, Cover, Papier, Größe, Aufmachung etc.) bis hin zur bestmöglichen Gestaltung der Vorschau bzw. des Gesamtverzeichnisses, der Paratexte (Exposé, Testimonials, Zusammenfassungen, Beschreibungen auf Buchrücken oder Werbetexten). Durch dieses Wissen erlangen die Profis Urteilskraft und vermögen Qualität und Potential von Titeln einzuschätzen und zu bestimmen. Ein Teil dieses Wissens kann durch Ausbildung (Germanistik, Literatur- oder Sprachwissenschaften) erworben werden, der wichtigste Anteil jedoch ist Wissen, das in der Praxis erworben wird. In der Folge erwerben Akteure nicht nur Urteilskraft, sondern kennen auch die Referenzsysteme und Referenztitel der Branche. Akteure: Das objektbezogene Wissen steht stets in Verbindung mit dem Wissen darüber, was bei wem in welcher Situation wie wirkt. Das bedeutet, dass ästhetisches Wissen auf mögliche Leser und Repräsentanten bezogen sein muss. Dazu gilt es, zunächst die professionellen Leser, die als Geschäftspartner in Frage kommen, und deren ästhetische Neigungen bzw. diejenigen, die sie vertreten, zu kennen. Entscheidend ist, neben den relativ stabilen geschmacklichen Neigungen herauszufinden, wie die aktuelle Situation des potentiellen Publikums und dessen Ziele sind. Dieses Wissen erhält der Fachmann durch Blick auf vergangenes Kaufverhalten (die Liste von Agenten und Lektoren, das Programm von Verlagen, die Verkaufszahlen auf bestimmten Märkten), das mehr oder weniger öffentlich zugänglich ist. Erfolgreich Akteure zeichnen sich dadurch aus, dass sie darüber hinaus Zugang zu personengebundenem Wissen aus dem Bereich der Privatsphäre von Personen und Organisationen haben, welches informell, im Gespräch ausgetauscht wird. 2. Benennen Um aus der Masse an Titeln diejenigen mit Potential herauszufiltern, braucht es nicht nur Urteilskraft, sondern auch die Fähigkeit, das Neue in die bestehenden Kategorien und Genres der Branche einzuordnen. Das Benennen (english: labelling) hat eine wichtige psychologische und praktische Funktion: Mit der Zuordnung bestimmt sich auch das professionelle und breite Zielpublikum und damit mögliche Wege, wie ein Titel Interessenten finden kann und in welche Form er gebracht werden muss, damit er die ihm zugewiesene Wirkung bestmöglich entfalten kann.

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3. Formendes Vermitteln Um einen Titel an das Publikum bringen zu können, müssen zunächst beide, auch im physischen Sinn zusammengebracht werden. Die Aufgabe des Vermittelns ist dabei immer auch ein formendes. Ein Mensch (Autor, Agent, befreundeter Autor etc.) interpretiert und kommentiert den Inhalt, formt die äußere Gestalt und die Beschreibung des Titels auf bestimmte Weise, um Aufmerksamkeit auf den Titel zu lenken, den Geschmack des anderen zu treffen und Interesse zu wecken. Der Übergang zur vierten Praktik, dem Überzeugen ist dabei fließend. 4. Überzeugen Wollen Agentin oder Lektor eine andere Person für einen bestimmten Titel gewinnen, so muss diese davon überzeugt werden. Überzeugen heißt hier, die Wirkung eines Titels glaubwürdig vermitteln zu können und dem anderen den Titel als Mittel für die eigene Zielerreichung schmackhaft zu machen. Dabei stellen erfolgreiche Profis Bezüge zu anderen erfolgreichen Titeln und der Situation des anderen her und sie versprechen eine bestimmte ästhetische Qualität. Wichtig ist die ökonomische Argumentation. Es handelt sich um wirtschaftliche Entscheidungen vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen; jeder Rechtekauf ist eine Investition unter Risikobedingungen. Die Erfolgschancen steigen dabei mit der Glaubwürdigkeit, die der Akteur genießt. Diese wird im Lauf des Berufsleben erarbeitet (die Liste), wobei Interessenten insbesondere die Selektivität und Gewichtung von Titelempfehlungen berücksichtigen. Wer ein erfolgreicher Ästhetik-Ingenieur sein will, muss das sozialästhetische Handlungsrepertoire beherrschen. Mögen die Zugänge – und das gilt sowohl für die Menschen auf beiden Seiten der Theke, die Verkäufer und Käufer von Buchlizenzen, als auch für die Titel – auch nicht durch Qualifizierungshürden eingeschränkt sein, so müssen sie ihre Fähigkeiten in der Praxis unter Beweis stellen. Dabei zeichnen sich die über lange Jahre erfolgreichen Praktiker über zwei besondere Tugenden aus. Sie beweisen einerseits oft jahrelanges Durchhaltevermögen, um Titel zu verkaufen und wissen andererseits zu kapitulieren, das heißt, sie können mit Misserfolg umgehen und wissen, wann die Grenzen ihres Einflusses erreicht sind.

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VIERTER AUFGUSS, BESTSELLERBIBLIOTHEKEN

ABGESTANDEN? AUF DEM

BUCHMARKT

SUSANNE KRONES

Bibliotheken auf dem Buchmarkt? Betrachtet man Bibliotheken funktionsgeschichtlich als gesellschaftliche und kulturpolitische Akteure, die unsere Vorstellung von 'Kanon', 'Leser' und 'Text', auch von 'Bildung', wesentlich mitprägen, dann agieren sogenannte 'Bibliotheken' spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf dem Buchmarkt. Reihen wie die "Bibliothek Suhrkamp", Editionen wie die im Eichborn Verlag von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene "Andere Bibliothek" gehören dazu – und die Namen, die Verleger und Herausgeber diesen Publikationsformen geben, zeugen von deren Selbstverständnis. Das jüngste Phänomen, das insbesondere den italienischen1, spanischen und deutschen Buchmarkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägt, sind Medienkooperationen zwischen Buch- und Zeitschriftenverlagen – wie die "SZBibliothek" oder die "Brigitte-Edition". Am Beispiel der SZ-Bibliothek und ihrer Nachfolger zeigt sich: Medienkooperationen sind nicht nur ökonomisch erfolgreich, sie entwickeln auch in kultureller Hinsicht eine ungeahnte Breitenwirkung und haben jedes der geschichtlich variablen Konzepte 'Kanon', 'Leser', 'Bildung' und 'Text' auf ihre Weise neu akzentuiert: Worauf gründet sich dieser immense Erfolg von Reihen, Editionen und Medienkooperationen? Und was bedeutet es für die Literatur, die heute im Entstehen ist, wenn auf dem Buchmarkt die jüngere Vergangenheit in Gestalt verbilligter Lizenzausgaben derart dominiert? Reihen in einem weiten Sinn verstanden, sind kein Phänomen des 20. Jahrhunderts, aber mit dem Wandel vom produzentendominierten Buchmarkt der Nachkriegszeit zu dem heutigen händlerdominierten Markt entstanden Reihen im engeren Sinn. Auf einem Markt, bei dem das Angebot bei weitem die Nachfrage übersteigt, sind es nicht mehr die Produ1

Bekanntestes Beispiel sind die Aktivitäten der italienischen Tageszeitung La Repubblica, die 2003 knapp 15 Prozent ihres Gewinns durch den Vertrieb von Büchern machte. 413

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zenten, die Verlage, die die Konditionen diktieren, es sind die Händler, die großen Filialisten des Buchhandels. In dieser schwierigen Situation ist die 'Reihe' ein Instrument, das etliche Vorteile bietet: Einmal eingeführt, ist ihre Programmatik bekannt und muss nicht bei jedem Einzeltitel neu kommuniziert werden; das einheitliche Erscheinungsbild mehrerer Titel wird von der Öffentlichkeit wahrgenommen; von Erfolgsautoren profitiert die ganze Reihe; Lektoren haben ein Instrument, mit dem sie unbekannte Autoren aufwerten können, durch Aufnahme in die Reihe; jeder Bereich der Verlagsarbeit wird durch die Synergieeffekte erleichtert, die das Reihenkonzept bietet (etwa die Programmarbeit der Lektoren; die Arbeit der Pressereferenten, da der Titel durch Aufnahme in die Reihe bereits platziert ist; die Arbeit der Werbeabteilung, da das bewährte Reihenkonzept auch hier bereits eingeführt ist, etc.).

Bewährtes Umfeld für zeitgenössische Literatur: Verlagreihen des 20. Jahrhunderts Ein erstes Beispiel: Als der Suhrkamp Verlag mit seiner Gründung 1950 die erste seiner bis heute Maßstäbe setzenden Reihen, die "Bibliothek Suhrkamp", entwickelte, war die Drastik des Übergangs vom Produzenten- zum Händlermarkt noch nicht abzusehen – und so entwickelte Suhrkamp diese Reihe auch aus in erster Linie programmatischen Gründen. Diesen versucht er vor allem über die vier einschlägigen Buchreihen "Bibliothek Suhrkamp", "edition suhrkamp", "suhrkamp taschenbücher" und "suhrkamp taschenbuch wissenschaft" zu entsprechen. Seit 1951 steht die "Bibliothek Suhrkamp" für die Klassiker der Moderne; in ihr sind bedeutende Autoren des 20. Jahrhunderts mit heute weit über 1300 Titeln vertreten, etwa Ingeborg Bachmann, T.S. Eliot, Federico García Lorca, André Gide, James Joyce, Wladimir Majakowski u.v.m. "Es ist die Absicht dieser Sammlung, eine erlesene kleine Bibliothek zu bieten, die so vielseitig wie außergewöhnlich sein will. Wohlverstanden, keine Ausgrabungen abseitiger Gelegenheitsarbeiten, vielmehr trotz divergierendster Themen eine Geschlossenheit im Ziel, die die Behauptung rechtfertigt: Hier wird Literatur zur Flucht in das Leben.", so die Programmatik des Verlages Konsequent startete die "Bibliothek Suhrkamp" mit Bänden der bereits genannten Autoren: Bertolt Brechts Hauspostille und Hermann Hesses Morgenlandfahrt.2 Die "edition suhrkamp" verstand sich seit Erscheinen der ersten 20 Bände im Mai 1963 als die Avantgarde des Suhrkamp-Programms. Ziel

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Die Geschichte des Suhrkamp Verlages 1950-2000, Frankfurt a. M. 2000, S. 27. 414

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des Verlages ist es, mittels Literatur und Essays die Lage des zeitgenössischen Bewusstseins und die politische Situation in einer sich verändernden Welt zu spiegeln; insbesondere Studenten werden angesprochen, denen man neue deutsche Literatur, Übersetzungen und theoretische Texte in Taschenbüchern zu niedrigen Preisen zugänglich macht.3 Dieses Nebeneinander von Literatur und Theorie ist eines der wesentlichen Kennzeichen der "edition suhrkamp": Hier steht die Prosa von Thomas Bernhard oder Peter Weiss neben theoretischen Werken von Walter Benjamin. Nach 1968 wurde die "edition suhrkamp" besonders wichtig, da in ihr wesentliche Programmtexte der Kritischen Theorie neben politischen Manifesten der intellektuellen Opposition und aufklärerischer Literatur standen (Frisch, Weiß, Johnson u.a.). Von Anfang an war auch die Gestaltung der Reihe revolutionär: Jeder der 48 Umschläge der jährlichen Produktion wird in einer der 48 Farben des Sonnenspektrums gedruckt, beginnend bei Blauviolett über Rot, Orange, Gelb, Grüngelb, Grün, Blau, um dann beim ersten Band des nächsten Jahres wieder mit Blauviolett zu starten. Die Umschläge sind rein typographisch gestaltet, keine Photos, stattdessen Linien, die Titel und Autorenname voneinander trennen. Bereits seit wenigen Jahren nach ihrem Start bis heute legt die "edition suhrkamp" im literarischen wie im theoretischen Bereich ausschließlich Originalausgaben und Erstausgaben vor.4 Der Suhrkamp Verlag setzt damit sehr stark auf Reihen – wie auf Schubladen, in die fast das ganze Programm einsortiert ist. Die "Bibliothek Suhrkamp" und die "edition suhrkamp" bezeichnete der Germanist Reinhold Grimm als die "wichtigste deutsche Büchersammlung unserer Zeit". Dem Verlag ist es mit den beiden Reihen gelungen, dass das Programm als solches, seine Inhalte als 'Marke' empfunden wurden. 1973 prägte George Steiner dafür den Begriff "Suhrkamp-Kultur".5 Ein zweites Beispiel: drei Reihen aus dem Carl Hanser Verlag, der, anders als Suhrkamp, nach dem Zweiten Weltkrieg quasi bei Null startet, obwohl schon 1928 gegründet.6 Im belletristischen Bereich bestand aus Vorkriegszeiten nur eine minimale Backlist, da der Verleger Carl Hanser die belletristische Produktion bereits mit Beginn des Nazi-Regimes einstellte und den Krieg als Fachverlag überdauert hat.7 Die ersten Nach3 4 5 6 7

Ebd., S. 155-158. Zur edition suhrkamp vgl. den Sonderdruck Kleine Geschichte der edition Suhrkamp, hg. v. Raimund Fellinger/Wolfgang Schopf, Frankfurt a. M. 2003. George Steiner am 9. März 1973 in "The Times Literary Supplement", zit. nach: Die Geschichte des Suhrkamp Verlages, S. 97. Zur Verlagsgeschichte des Carl Hanser Verlags vgl. Reinhard Wittmann, Der Carl Hanser Verlag 1928-2003. Eine Verlagsgeschichte, München 2005. Ebd., S. 27f. 415

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kriegsjahre war Hanser – heute einer der bedeutendsten Literaturverlage – vor allem als Klassikerverlag etabliert, und was die Akquise neuer Autoren betraf, ein erschreckend konservatives Haus. Der Publikumsgeschmack hatte sich bisher kaum verändert, außerdem waren es vor allem Autoren der inneren Emigration, deren Verlage keine Lizenz mehr erhalten hatten, die auf der Suche nach neuen Verlagen waren. 8 Die Öffnung zur Moderne, zur zeitgenössischen deutschen sowie zunehmend auch internationalen Literatur gelang dem Verlag vergleichsweise spät, aber nachhaltig, indem Carl Hanser 1952 Walter Höllerer mit der Gründung der Literaturzeitschrift Akzente betraute, die seit 1954 bis heute im Verlag erscheint und dem Buchprogramm entscheidende Impulse gab.9 1959 übernahm der Hanser Verlag außerdem die Reihe "Literatur als Kunst" vom kleinen Darmstädter Hermann Gentner Verlag, wo Höllerer sie gemeinsam mit seinem Lehrer, Prof. Dr. Kurt May betreut hat – ein Jahr bevor Höllerer mit seiner Antrittsvorlesung an der Technischen Universität Berlin Furore macht, drei Jahre bevor die Gruppe 47 in der Wannseevilla Am Sandwerder 5 tagen wird, vier Jahre vor der Gründung des Literarischen Colloquiums Berlin 1963. "Literatur als Kunst" ist eine in ihrem Programm deutlich herausgeberzentrierte Reihe, in der aktuelle Dissertationen und Forschungsarbeiten junger Autoren um Höllerer erschienen10, etwa F.C. Delius’ Der Held und sein Wetter, Martin Walsers Beschreibung einer Form oder Hans Magnus Enzensbergers Brentanos Poetik, theoretische Publikationen von Autoren also, die selbst die ›andere Seite‹, die der Literaturproduktion kennen. Natürlich durften unter einem Herausgeber Höllerer Vertreter der Gruppe 47 (Joachim Kaiser: Grillparzers dramatischer Stil u.a.) sowie internationale Literatur (Bachtin, Bachelard, Blanchot u.a.) nicht fehlen. Wohlgemerkt: Bei allen Titeln handelt es sich, wie bei dieser Typ Verlagsreihen üblich, um Original- und Deutsche Erstausgaben, auf verlegerisches Risiko ins Programm genommen (es handelte sich nicht um das in der Wissenschaft oft übliche Modell eines Druckkostenzuschussverlages). Das Gesamtbild der Reihe wurde von den Herausgebern, insbesondere Walter Höllerer so komponiert, dass sich eine Programmatik abzeichnete – ein internationaler Schwerpunkt und die im Wissenschaftsbereich einzigartige Konzentration auf die literaturwissenschaftliche Forschung von 'Dichtern'. In gewisser Weise nimmt die "Literatur als Kunst" damit das Programm der wesentlich jüngeren "Edition Akzente" vorweg. Die "Edition Akzente" wurde 1983 gegründet; eine Ausnahme von dem Prinzip, dass 8 9

Ebd., S. 47ff. Susanne Krones, Akzente im Carl Hanser Verlag. Geschichte, Programm und Funktionswandel einer literarischen Zeitschrift, Wiesbaden 2009. 10 Wittmann, Der Carl Hanser Verlag 1928-2003, S. 205ff. 416

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der Verlag seit Einstellung der "Reihe Hanser" eigentlich zum Ziel hatte: keine Reihen mehr zu machen. (Die "Reihe Hanser" war die legendäre gelbe Taschenbuchreihe, durchweg mit Originalausgaben bestückt, die von ihren Titeln dezidiert politische Bezugnahme, gesellschaftliche Relevanz wünschte.) Die "Edition Akzente" beginnt ihr Erscheinen mit dem 30. Jahrgang der gleichnamigen Zeitschrift und "will in einer Zeit, die der Literatur und ihren spezifischen Ausdrucksformen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, ein Forum sein für literarische Auseinandersetzung. Ihr Motto heißt deshalb schlicht: Für Literatur."11 Hier erscheinen Literatur und Essayistik gleichberechtigt nebeneinander, wie in der "Literatur als Kunst" sind es Essays und Theorieentwürfe von Dichtern, in der Regel von Akzente-Autoren: Italo Calvino, Michael Hamburger und Oscar Pastior sollen als Beispiele genügen. Ausgesattet sind sowohl "Edition Akzente" als auch das Vorgängermodell "Literatur als Kunst" als Klappbroschuren, trotz Konzentration auf Original- und Erstausgaben, mit einheitlicher Reihengestaltung – deutlicher wissenschaftlicher bei der "Literatur als Kunst", verspielter bei der "Edition Akzente".12 Ein drittes, ganz anders gelagertes Beispiel. 1985 bis 2005 gab Hans Magnus Enzensberger im Eichborn Verlag seine bibliophile Buchreiche "Die Andere Bibliothek" heraus. Diese von Enzensberger zusammen mit dem Verleger und Buchkünstler Franz Greno konzipierte Reihe wächst monatlich um einen Band: Die Bände der 'anderen Reihe' wurden bis 2005 von Enzensberger, heute vom Eichborn Verlag, ausgewählt und bis 1997 in Bleisatz gesetzt und mit ledernem Rückenschild und Lesebändchen ausgestattet. 1997 wurde mit Band 145 das Druckverfahren auf Offsetdruck umgestellt, Grenos Druckerwerkstatt steht seitdem im Deutschen Museum in München. Ab Oktober 1989 übernahm Vito von Eichborn die Andere Bibliothek in den Eichborn Verlag, Greno blieb jedoch weiter als Buchkünstler für die Gestaltung der Bände verantwortlich. Die organisatorischen wie gestalterischen Details der Reihe sind bis heute vom Feinsten: Für Bibliophile gibt es von jeder Ausgabe eine auf 999 Exemplare limitierte und nummerierte Vorzugsausgabe. Was für Titel sind es, die in der "Anderen Bibliothek" erscheinen? "Anything goes" lautete das Programm. Branchenübliche Unterscheidungen wie die in Literatur und Sachbuch, in Klassiker und Neuerscheinungen haben die Macher der "Anderen Bibliothek" nie interessiert. Mit Lügengeschichten und Dialogen des Lukian von Samosata startete die Reihe im Januar 1985, seitdem bemüht sich Enzensberger um wiederentdeckte Klassiker, in Vergessenheit geratene literarische Kostbarkeiten, um Originalaus11 Zit. nach: Ebd., S. 243. 12 Zur "Edition Akzente" vgl. auch Susanne Krones: Akzente im Carl Hanser Verlag. 417

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gaben und deutsche Erstausgaben hierzulande unbekannter Schriftsteller. Spektakuläre Erfolge gelangen mit Christoph Ransmayrs Letzte Welt, Irene Disches Fromme Lügen, und Raoul Schrotts Erfindung der Poesie. Ein Blick in das mittlerweile beachtlich umfangreiche Programm der "Anderen Bibliothek" zeigt, dass sich trotz der Zentrierung auf eine Herausgeberpersönlichkeit und des exotischen Status’ der Reihe ein breites Programm entwickelt hat: deutsche Literatur, englische und amerikanische Literatur, französische Literatur, Hand- und Nutzbücher, Reiseberichte und Reportagen, Vielvölker-Erzählungen, Lebenszeichen, Politische Interventionen sowie der Hörverlag der "Anderen Bibliothek" und der aktuelle Programmschwerpunkt, das Humboldt-Projekt, das sich einer Wiederentdeckung der Werke Alexander von Humboldts verschrieben hat. 2005 endete die Zusammenarbeit zwischen Enzensberger, Greno und dem Eichborn Verlag, die Reihe und ihr Programm gibt es weiterhin. Allen drei Beispielen ist gemeinsam, was den Typ der klassischen Verlagsreihe des 20. Jahrhunderts kennzeichnet und ihn für die zeitgenössische Literatur so unverzichtbar macht: Herausgeber mit einer Mission ("Wir drucken nur die Bücher, die wir selber lesen möchten"), ein Programm, das in einer Mischung von Originalausgaben, deutschen Erstausgaben und nur in Ausnahmefällen Lizenzen, eine höchst individuelle Gestaltung der Reihen, die stets hohen Ansprüchen folgt und konsequent für die Einzelbände umgesetzt wird. Allen genannten Reihen der Verlage Suhrkamp, Hanser und Eichborn sind in ihrer Verschiedenheit einige zentrale Punkte gemeinsam: Die Reihe arbeitet in sich nach dem Prinzip einer 'Mischkalkulation' und ist in ein Verlagsprogramm eingebunden, das wiederum nach dem Prinzip einer ›Mischkalkulation‹ arbeitet, also prinzipiell eine literarisch innovative Reihe mit marktgängigen Einzeltiteln gegenfinanzieren kann. Außerdem arbeiten die genannten Reihen kontinuierlich an ihrem Programm: Über Jahrzehnte hinweg erscheinen regelmäßig Bände. Die Reihe reagiert auf politische, gesellschaftliche und ästhetische Strömungen, sie kann Positionen ergreifen.

Eine neue Dimension: Medienkooperationen des 21. Jahrhunderts Die Bibliotheken der Medienkonzerne, die seit dem Start der "SZBibliothek" im März 2004 im Buch- und Zeitschriftenhandel und, über ihre Marketingkampagnen, im öffentlichen Raum unübersehbar sind, gehen mit vollkommen anderen Voraussetzungen und Zielen an den Start als ihre nur vermeintlichen Vorgänger – egal, ob sie "SZ-Bibliothek", "Bild-Bestseller-Bibliothek", "Brigitte Edition", "SPIEGEL Edition", "ZEIT Lexikon" oder "Handelsblatt Management Bibliothek" heißen.

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Nach dem historischen Rückblick nun praktische Fragen an ein tagesaktuelles Medienphänomen des 21. Jahrhunderts: Warum investieren reine Zeitungs- und Zeitschriftenverlage plötzlich im soviel schwierigeren, weil nicht anzeigenfinanzierten Buchgeschäft? Wie funktioniert das – hochwertig ausgestattete Hardcover zu Preisen von unter 5 EURO? Welche Auswirkungen hat es auf den Buchmarkt insgesamt? Die SZ-Bibliothek kennt jeder. Was aber ist das fundamental Neue an dieser Art, "Bücher" zu machen? (Nicht "Literatur", denn die verlegten literarischen Texte sind bereits "gemachte": Nicht nur Autoren und Lektoren haben ihre Arbeit längst getan, auch der Rezeptionsapparat von Buchhändlern bis Literaturkritikern und Lesern hat bereits gearbeitet, die Titel sind längst kanonisiert und durchgesetzt.) Am leichtesten erschließen sich die Unterschiede in vergleichendem Blick auf die Ziele. Anders als die Reihen der Verlag sind die der Buchreihen der Pressekonzerne ausgerichtet auf die Generierung von Zusatzerlösen neben dem Vertrieb des Zeitungs- oder Zeitschriftenprodukts13, die Gewinnung von Neuabonennten für die Zeitung, die Stärkung der Leser-Blatt-Bindung, die Etablierung eigener Direktvertriebskanäle, sowie die Erschließung neuer Geschäftsfelder außerhalb des eigenen Kerngeschäfts Printjournalismus. Die Initiative ging nicht etwa von den Buchverlagen aus, die neue Abnehmer für Lizenzen erschließen wollten, sondern von den Pressekonzernen, die bisher keine Bücher machten. Die Gründe liegen auf der Hand: sinkende Zeitungsauflagen, sinkende Werbeetats und eine gelockerte Leser-Blatt-Bindung machen den Zeitungen seit einigen Dekaden schwer zu schaffen. Nicht zu unterschätzen außerdem der Image-Gewinn: Zeitungen wie die SZ als Herausgeberin von Weltliteratur, die BILD von Unterhaltungsliteratur der Spitzenklasse. In der Tat, es sind durchweg große Namen, die die Regale der Medienbibliotheken füllen – und das in traumhafter Ausstattung. Kann sich das überhaupt rechnen? Ja, denn die Lizenzgebühren dürften durch den Einkauf in größeren Paketen jeweils mehrerer Titel relativ günstig gewesen sein (die Rechte für die 50 Titel der ersten Staffel der SZ-Bibliothek stammen von weniger als 10 Verlagen), Zeitungen und Zeitschriften können günstig produzieren, indem sie eigene oder angestammte Druckereien nutzen, hohe Auflagen senken die Herstellkosten, das verlegerische Risiko ist durch die klassischen, bekannten und bewährten Titel gering. Weitere Erfolgsfaktoren: die Einbeziehung des Buchhandels durch sehr günstige Konditionen, die Strategie, beliebte, aber nicht ganz ein13 Wie langfristig diese Strategie angelegt ist, zeigte auch der Start des eigenen Online-Medienshops der Süddeutschen Zeitung, der SZ-Mediathek, zur Leipziger Buchmesse 2005: ein eigener Direktvertriebskanal, über den SZ-Leser und andere Kunden Bücher, CDs, DVDs und mehr beziehen können. 419

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fache Literatur aus der oberen, dünneren Käuferschicht der Vielleser, oft sogar professionellen Leser, an eine größere, untere zu verkaufen, ein ansprechendes Design und Marketing (zielgruppengerecht, auf eine junge, große Käuferschicht abzielend)14, ein gebundenes Buch zum niedrigen Preis, der Reiheneffekt verbunden mit dem Wunsch, zum Trend zu gehören, eine Serie zu besitzen sowie das Setzen auf Markentreue. Die Lizenzgeber für die erste Staffel der SZ-Bibliothek waren Hanser, Suhrkamp, Diogenes, Hoffmann und Campe, Nymphenburger und Steidl; DVA (damals noch vor dem Verkauf an Random House im Besitz der FAZ), Piper und Rowohlt haben abgelehnt.15 (Bei Rowohlt habe die Entscheidung auf der Information beruht, die Süddeutsche Zeitung plane jeweils eine Auflage von 40.000 Exemplaren, eine Höhe, die sich der Verlag auch selbst zutraute und damit kein Grund, die Verunsicherung am ohnehin instabilden Markt weiter zu fördern. Hardcoverbücher für 4,90 Euro würden nicht die Realität des Büchermarktes widerspiegeln. Außerdem wollte Rowohlt die Preise der eigenen Taschenbuchausgaben nicht unterbieten und sah längst nicht gesichert, dass dadurch neue Leser für den Belletristikmarkt gewonnen werden.16) Zweites Beispiel, die "BRIGITTE Edition". Im Unterschied zur SZBibliothek geht sie mit einem starken Partner aus dem herstellenden Buchhandel, dem Hanser Verlag, ins Rennen, auf dessen Vertrieb sie zurückgreift. Einzigartig hier: die Verbindung von Herausgeberin Elke Heidenreich und der unbestrittenen Nummer 1 der Frauenzeitschriften. Eine Verbindung, die – gekonnt umgesetzt etwa in der Präsenz der Edition in der Zeitschrift, in der Ausstattung der Bücher (Leinenrücken, warme Rottöne) – ein einzigartiges Standing bei der weiblichen Zielgruppe verspricht und einlöst. Drittes Beispiel, die "SPIEGEL Edition", deren 40 Titel aus 40 Jahren "Spiegel"-Bestsellerliste ausgewählt sind. Neu ist die Kombination von Belletristik und Sachbuch in einer Edition, allerdings mit der Möglichkeit für den Kunden, nur eine Hälfte als Paket zu ermäßigten Konditionen zu erwerben. Der Einzelpreis der HC-Bände liegt bei 9,90 Euro, Vertriebspartner ist dtv. Ebenfalls neu: das Prinzip der Auswahl aus einer Liste, die nach Verkäufen erhoben wird.17 14 Die Bewerbung der SZ-Bibliothek (GBK Heye Werbeagentur) wurde mit dem "BuchMarkt"-Award 2005 in Gold in der Kategorie 'Verlagskommunikation' ausgezeichnet. – vgl. www.boersenblatt.net, 31.5.2005 15 Vgl. u.a. "Verlage", in: www.boersenblatt.net, 22.1.2004 16 Vgl. u.a. "Auftakt für SZ-Bücher. Die 50 Titel stehen fest", in: www.boersenblatt.net, 11.1.2004 17 Zu Produktdesign, Edition und Direktmarketing der "SPIEGEL-Edition" vgl. auch "Bestseller-Bibliotheken", in: www.boersenblatt.net, 15.5.2006 420

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Buchverlage sind Organisationen, die das Medium des 'kulturellen Treuhandsystems', Wertbindungen, in das Medium des Wirtschaftssystems, Geld, konvertieren. Sie verknüpfen den Selektionstransfer des Mediums Wertbindung aus dem kulturellen Treuhandsystem mit dem Selektionstransfer des Mediums Geld aus dem wirtschaftlichen Subsystem der Gesellschaft. Sie realisieren diese Medienkonvertierung in Gestalt einer Doppelcodierung. Auf diese Weise entsteht das gedruckte Buch, das auf der einen Seite seinen kulturellen (oder im engeren Sinne literarischen, wissenschaftlichen etc.) Wert und auf der anderen Seite seinen wirtschaftlichen Wert hat.18

Der genannte kulturelle Wert wird in der Kritik, der wirtschaftliche auf dem Markt festgestellt. Indem der Buchverlag wirtschaftliche auf kulturelle oder kulturelle auf wirtschaftliche Entscheidungen anwendet, organisiert und stabilisiert er einen wechselseitigen Transfer systemspezifischer Selektionen aus den Bereichen der Kultur und Wirtschaft. Als Organisation gehört der Buchverlag also der Interpenetrationszone zwischen diesen beiden Subsystemen an. Schon hier zeigt sich, wie anders die Medienkooperation agiert: Der Wert ihrer Produkte, obwohl hohe Literatur vertrieben wird, wird nicht über die Literaturkritik, sondern komplett über Gewinn und Umsatz festgestellt: Kritik findet nicht statt – nur als Werbung. Das SZ-Feuilleton bespricht jeweils pünktlich zum Erscheinen des neuen Bandes das eigene Produkt – Werbung redaktionell verpackt – andere Blätter rezensieren nicht, warum auch, es sind keine Neuerscheinungen vertreten. Weil jedes Buch doppelt kodiert ist, Kulturgut und Ware zugleich, genießen Bücher auch gesetzlich eine Sonderstellung und sind durch die Buchpreisbindung von den Gesetzen des Marktes zum großen Teil ausgeschlossen. Auch Medienkooperationen produzieren Bücher, sind also durch die Preisbindung privilegiert. Dies ist gerechtfertigt, wenn ein ganz wesentlicher Impuls jedes Verlagshandelns wegfällt – die Mischkalkulation, die Gegenfinanzierung von neuen Autoren, abseitigen Themen durch Etabliertes. Dass Medienkooperationen gehörig von der Preisbindung profitieren, um sich dem Druck des Handels zu entziehen, hat sich bei der SZ-Cinemathek gezeigt: Große Handelsketten wie Mediamarkt haben die unverbindliche Preisempfehlung (DVDs sind nicht preisgebunden) nach unten korrigiert und damit den Gewinn der SZ offenbar drastisch geschmälert; deren Gegeninitiative: Die Edition mit Pop-CDs wurde mit einem schnell-gestrickten, weil mit Archivmaterial der SZ be-

18 Georg Jäger, "Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung einer Theorie des Buchverlags", in: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung, hg. v. Monika Estermann u.a., Wiesbaden 2005, S. 69. 421

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stückten Booklet ausgestattet, das genau die Seitenzahl aufweist, ab der die Preisbindung greift. Wiederum analog zur Buchproduktion im Verlag erfordert auch die Buchproduktion der Medienkooperationen eine Kapitalinvestition im Voraus, die sowohl die herstellerischen Kosten wie auch Vorschüsse auf Honorare und Lizenzbeträge umfasst. Der grundlegende Unterschied: Der organisatorische Apparat eines Buchverlags dekomponiert Entscheidungsprozesse, es differenzieren sich Bereiche wirtschaftlicher und kultureller Kompetenz aus: Der Bereich des kulturellen Inputs, der Kontakt mit den Autoren, die Betreuung ihrer Manuskripte mit dem Ziel der Akquisition von Verwertungsrechten liegt beim Lektorat, während der wirtschaftliche Output von den Abteilungen Verkauf und Vertrieb betreut wird. Zu diesen von den Wertmustern der kulturellen und wirtschaftlichen Felder geprägten Sphären tritt als dritte eine technologisch geprägte, die Herstellung, der die Transformation vom Manuskript ins gedruckte Buch obliegt. Bei den Medienkooperationen dagegen ist die Rollenverteilung eine ganz andere: Ein Lektorat wird durch die Beschränkung auf Lizenztitel nahezu überflüssig, eine Herausgeberinstanz wird eigentlich nur ›vorgespielt‹ (hier unterschieden sich die Bibliotheken in der Taktik), die Herstellung wird übernommen, zu günstigen Bedingungen, verfügen die Medienhäuser doch alle über eigene Druckereien und standardisieren die Bände innerhalb der Bibliotheken sehr stark, den Vertrieb wiederum geben sie an Buchverlage, die im Handel kompetent sind und eigene Vertreter haben; was in der Hand des Pressekonzerns bleibt, ist das Marketing. Für die Medienkonzerne sind die Bibliotheken im Kern eine Marketingveranstaltung, die wirtschaftliche (Vertrieb) und technologische (Herstellung) Kompetenz des Pressehauses wird optimal ausgenutzt. Zur Verlegerrolle: Sie zeichnet aus, dass der Verleger in der Regel zwei Rollen vereinen muss: Kulturvermittlung und kaufmännisches Vorgehen. Entsprechend groß ist seine Verantwortung.19 An diese herausgehobene Funktion des Verlegers reichen auch die Herausgeber in keiner Weise heran, da sie nicht 'Unternehmer' sind. Eine Verlegerfigur gibt es für die Medienkoopertionen nicht. Zu den Programmen: Verlagsprogramme haben eine Außen- und eine Innenperspektive, sie stehen für Präsentationskontinuität den Kunden, also Buchhändlern und Lesern gegenüber, und stellen innerbetrieblich Rationalitätsschemata dar, die auch für künftige Programmentscheidungen eine gewisse Verbindlichkeit darstellen. Programmstrategie meint längerfristige, zielorientierte Planung der Produktion unter Berück-

19 Ebd., S. 72. 422

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sichtigung der Konkurrenzsituation auf dem Beschaffungs- und Absatzmarkt sowie der Bedürfnislage und des Kaufverhaltens des Publikums. Die Medienkooperationen hingegen gehen eigentlich vor nach dem Muster: die besten eine Genres am lautesten proklamieren. Verlage legen bei ihren Entscheidungen den Wert der einzelnen Medien fest, der ihnen bei der Konvertierung zukommt, und stellen in diesem Sinn 'Börsenplätze' dar, an denen der "Kurs" des jeweiligen Mediums ermittelt wird – damit lässt sich der Wandel vom Kultur- zum Publikumsverlag miterklären. Auf einer Mikroebene gedacht: Wie groß ist das Prestige einer klassischen Reihe bzw. einer modernen Medienkooperation in einzelnen Phasen wirklich? Wann wertete das Label 'Bibliothek Suhrkamp' oder 'SZ-Bibliothek' die darin verlegten Autoren auf, wann eher die Namen der Autoren die Labels? Im Buchverlag verschieben sich gewöhnlich mit wachsender Populärität der Autoren die Kräfteverhältnisse: Wird ein unbekannter Autor durch eine Reihe aufgewertet oder kanonisiert, werten angesehen Autoren Reihen auf. Bei den Buchpaketen der Medienkooperationen gibt es eine solche Entwicklung nicht: Von Anfang an profitiert die Zeitung vom Renommee der Autoren, da nur durchgesetzte Werke ausgewählt werden, die Autoren bzw. ihre Erben sowie die Verlage profitieren umgekehrt in jedem Fall finanziell. Ob mit der Aufnahme in eine Reihe, die kurze Zeit heftig beworben, dann ausverkauft wird und deren Bücher sämtlich zu Niedrigstpreisen im MA landen, Renommee für den Autor verbunden ist, wird sich zeigen; ein gewisses Renommee versprechen Zeitschriften von SZ bis Spiegel natürlich schon. Hauptunterschied ist der Marketing-Aspekt: Es geht allerdings kaum einer der Bibliotheken darum, einen Autor zu kanonisieren, indem man sie in die Reihe nimmt, denn das sind ja gar keine Hausautoren, sondern in Lizenz genommene. Überhaupt sind Reihen ein guter Vergleichspunkt, in dessen Fokus sich die Unterschiede zwischen Verlag und Medienkooperation noch einmal perspektivieren lassen: Im klassischen Buchverlag bedeuten Reihen auf einer theoretischen Ebene Selbstreferenz und Diversifizierung innerhalb eines Verlagsprogramms. Das Prinzip der Reihenbildung stellt also die Reflexivform des Programms dar, Reihen sind ein Format dafür. Die Reihen der Medienkooperationen dagegen sind Produkte. Das einzelne Buch ist pure Ware, weil es eben nicht neue Literatur querfinanziert. Zuletzt zur These, dass Verlage heute vom Markt her geführt werden. Das ist richtig – und unvermeidlich. Diktierten anfangs die Verlage als Produzenten Tempo und Konditionen, tun es heute die großen Handelsketten. Tun dann nicht die Bibliotheken genau das Richtige?

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Kanon Die Bibliotheken, egal, ob sie 50 bedeutende Romane des 20. Jahrhunderts, die Klassiker der Comic- oder der Management-Literatur verlegen, tragen augenscheinlich entscheidend zur 'Kanonbildung' in ihrem Segment bei: Einerseits, weil die Auswahl durch von einem breiten Publikum anerkannte 'Experten' des jeweiligen Segments fundiert wird (für die Belletristik etwa die SZ-Feuilleton-Redaktion, Marcel Reich-Ranicki, Elke Heidenreich), andererseits, weil die Ausgaben der Bibliotheken durch ihre Ausstattung (hochwertige Hardcover in ausgezeichneter Gestaltung) und ihren Preis (meist um 4,95 EURO) außerhalb jeder Konkurrenz stehen. An ihren Auflagenhöhen lässt sich ablesen, dass diese Ausgaben von Eco, Boyle, Kundera, Updike und Tabucchi schon jetzt die privaten Bibliotheken und Bücherschränke gegenüber den jeweiligen Ausgaben der Originalverlage dominieren. Andererseits ist diese Kanonisierung über Zeit gesehen nicht von Dauer: Während klassische Verlagsreihen wie die Edition Akzente viele Autoren oder Titel entdeckt und erstmals veröffentlicht haben, laufen die Lizenzen aus, die die Medienhäuser bei den Originalverlagen einkaufen. Auch ein derartiges Marketingkonzept funktioniert wohl nur einmalig. Bislang waren ein wichtiger Part für Kanonisierung Listen wie bspw. die ZEIT Bibliothek, die sachlich erstellt werden konnten, da es nicht darum ging, die entsprechenden Titel in Lizenz einzukaufen, homogen bewerben zu können etc. Es wurde schlicht auf die regulären Verlage der Titel verwiesen. Ein anderer wichtiger Part sind Kassetten, wie Der Kanon. Die Deutsch Literatur. Gedichte, hg. v. Marcel Reich-Ranicki im insel taschenbuch: ein umfassende Sammlung deutschsprachiger Gedichte von Walter von der Vogelweise bis Durs Grünbein, 7 Bände und ein Begleitband mit den Biographien der Autoren und einer Einführung von Marcel Reich-Ranicki. Was passiert, wenn nun Kleists Marquise von O. mit Leseanleitung in Brigitte erscheint bzw. Abstracts der Weltliteratur in FOCUS? Inwieweit schreiben solche Reihen Literaturgeschichte? Inwieweit tragen solche Reihen zur Kanonisierung bei?

Leser Den Bibliotheken ist noch mehr gelungen: Sie sprechen neue ›Leser‹ an. Unter den Käufern der SZ-Bibliothek etwa waren 9% erstmalige Belletristikkäufer und 3% erstmalige Buchkäufer, die Bild-BestsellerBibliothek erreichte gar 11% erstmalige Belletristik- und 13% erstmalige

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Buchkäufer.20 Damit tragen derartige Medienkooperationen zwischen Buch- und Zeitungsverlagen wesentlich dazu bei, 'literarische Bildung' zu verbreitern, allerdings um den Preis einer ausschließlichen Konzentration auf moderne Klassiker. Ein paar Zahlen zu der Frage, wer eigentlich Bücher kauft – oder besser, wer nicht: 40 Mio Nichtkäufern pro Jahr stehen jeweils ein Drittel für 13 Mio Vielkäufer (mehr als 3 Bücher pro Jahr), 13 Mio Mittelkäufer (weniger als drei Bücher pro Jahr) sowie 13 Mio Wenigkäufer (weniger als ein Buch pro Jahr) gegenüber. Weitere Zahlen aus einer GfK-Studie 2004: Fünf Prozent der SZ-Käufer haben im 1. bis 3. Quartal ausschließlich Bände der Sammeledition gekauft. Möglicherweise hätten die Käufer ohne das Verlagsangebot gar keine Bücher gekauft, mutmaßt die GfK. Immerhin ein Viertel der Bibliothekskäufer haben 2003 gar keine Bücher gekauft. Es wurden also Neukunden in erheblichem Ausmaß gewonnen. Der Belletristikmarkt verbuchte 3% Zuwachs im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Ohne die SZ-Bibliothek wäre es nur ein Plus von 0,3 Prozent gewesen. Auch die Zielgruppe der Käufer unterscheidet sich vom Typ der sonstigen Belletristikkäufer: Mit 54% sind Männer stärker als sonst vertreten, 70% der Käufer haben eine höhere Schulbildung, 44% gehören zur "werberelevanten" Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen. 28 Bände erschienen bis zum dritten Quartal 2004. 14 Prozent der Käufer erwarben jeden der Bände, 75 Prozent kauften nur gelegentlich und selektiv ein (ein bis fünf Bände) – sie bestreiten dennoch die Hälfte des gesamten Umsatzes. Die bundesweite Werbung für attraktive und preiswerte Bücher hat Aufmerksamkeit erregt. 50.000 neue Käufer hatte die Sammelbibliothek angesprochen – insbesondere jüngere Buchkäufer. Tenor auf der Leipziger Buchmesse 2005 bei der Diskussionsrunde von Inforadio RBB im Berliner Zimmer: Die Billigbuch-Aktionen haben neue Käuferschichten für den Buchhandel gewonnen, aber sie fördern nicht die verlegerische Initiative. Billigbuch-Editionen hätten den Buchhandel belebt: laut der GfK-Studie haben 350.000 Menschen mehr im vergangenen Jahr 2004 Bücher gekauft als im Jahr zuvor. Aber auch Kritik: Die SZ werde nicht verlegerisch tätig, sie erschließe allenfalls neue Leserkreise, es sei zu hoffen, dass die Billigbuch-Editionen nicht inflationär werden. Der damalige Aufbau-Verleger Bernd Lunkewitz vermisst verlegerische Initiative der Zeitungsverlage, die mit ihrer Medienmacht lediglich die Sahne der Buchproduktion abschöpften. 20 Immerhin ein Viertes der Bibliothekskäufer haben 2003 gar keine Bücher gekauft. Zur Studie der GfK vgl. auch "Segen oder Fluch für den Belletristikmarkt? Der SZ-Bibiothek verdankt der Belletristikmarkt ein deutliches Umsatzplus", in: www.boersenblatt.net, 2.12.2004 425

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Texte Die literarischen 'Texte' sind in dieser Situation Sieger und Verlierer zugleich: Sieger, weil Literatur neue Öffentlichkeit bekommt. Das 'Wie' mag einem als Vielleser, der sich im viel ausdifferenzierteren System der Reihen und Editionen der Literaturverlage gut zurechtfindet, missfallen. Verlierer, weil Bibliotheken dieser Art nur durchgesetzte Autoren publizieren, keine Debütanten oder Wiederentdeckungen. Das bedeutet nicht nur, dass es eben innerhalb der Programme dieser Bibliotheken eben keinen Platz für neue Bücher gibt. Viel gravierender: Die Tatsache, dass diese Reihen nur gemacht werden, um wegbrechende Umsätze aus dem Anzeigengeschäft von Zeitungen und Zeitschriften zu refinanzieren, bedeutet, dass Gewinne, die etablierte Autoren machen, eben nicht in Debüts, in neue Texte reinvestiert werden – wie es jeder klassische Verlag über die sogenannte Mischkalkulation tut. Abschließend gefragt: Ist es nicht denkbar, dass über kurz oder lang es eine SZ-Bibliothek der Newcomer gibt? Nein, denn dieses Verfahren funktioniert nur mit Lizenzen, die hohe Auflagen versprechen.

Perspektiven Und in Zukunft? Ist nicht jede Schwarzmalerei übertrieben, weil die Billig-Bibliotheken ohnehin wieder verschwinden werden? 2005 waren 15 Editionen auf dem deutschen Buchmarkt, weitere 10 sind für 2006 geplant und laufen gerade nach und nach an. Auf dem italienischen Markt sind 2004 100 sogenannte Zeitungs-Editionen erschienen. Billigbuchreihen haben bereits die Bedingungen für alle Verlage verändert: Die Preissensibilität ist größer geworden, eine HC-Originalausgabe für um 24 EURO, eine TB-Orginalausgabe um 12 EURO haben es ungleich schwerer, wenn sie von bibliophil ausgestatteten 'Marken-HCs' der Zeitungskonzerne umgeben sind, die nach einfacheren Regeln spielen. Noch funktioniert das Konzept, Literatur auch im vierten Aufguss zu vermarkten. Wenn die großen Literaturverlage mit neuen Originalausgaben und Deutschen Erstausgaben die Literatur nicht weiter am Leben halten, wird der Nachschub für die Billigbibliotheken irgendwann versiegen. Viel schlimmer aber: Zuvor könnte viel von dem, was jüngste Literatur heute ausmacht, von einem von modernen Klassikern dominierten Markt verschwunden sein.

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EDIT, BELLA T R I S T E ! L I T E R A T U R Z E I T S C H R I F T E N UM DIE JAHRTAUSENDWENDE THOMAS GEIGER

Das Erstaunlichste an Literaturzeitschriften heute ist ihre schiere Existenz. Ihr Monopol als Forum der Präsentation und Diskussion von Literatur haben Literaturzeitschriften längst verloren – so sie es denn je hatten. In einer Zeit, in der ein Taschenbuch in ein paar Stunden produziert werden kann, in der im deutschsprachigen Raum mehrere Wochenzeitungen und mindestens sechs Tageszeitungen mit einem im internationalen Vergleich ambitionierten Feuilleton erscheinen, in dem die Literatur und das literarische Leben ihren natürlichen Platz neben Film und Tanz, Bildender Kunst und Musik haben, wird der Raum für Periodika, die in einem meist vierteljährlichen Rhythmus erscheinen, sehr eng. Dazu kommt, dass im Internet außergewöhnlich preisgünstig publiziert werden kann. Dennoch: Es gibt im deutschsprachigen Raum sicher mehrere hundert Literaturzeitschriften, vielleicht noch mehr, je nachdem, wie man literarische Zeitschriften definiert und von allgemeinen Kulturzeitschriften abgrenzt. Wenn im Folgenden von Literaturzeitschriften die Rede ist, dann sind Zeitschriften gemeint, die sich, wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend mit Literatur, genauer mit zeitgenössischer Literatur, befassen. Sei es, indem sie neue fiktionale Texte und Lyrik vorstellen, Primärtexte also, oder indem sie poetologische Texte oder Essays zu literarischen Themen drucken. In diesem Sinne sind etwa das Kursbuch, der Merkur, Du oder auch Lettre keine Literaturzeitschriften, auch wenn in diesen Periodika immer wieder literarische Texte oder Texte zur Literatur zu finden waren und zu finden sind. Im Kern aber sind die aufgeführten Titel kulturpolitische Zeitschriften, die man sogar – die einen mehr, die anderen weniger – ohne große Schwierigkeiten in ein politisches Rechts-Links-Schema einpassen könnte. Das ist bei reinen Literaturzeitschriften deutlich komplizierter, wenngleich es natürlich auch nicht unmöglich ist. Literaturzeitschriften im engeren Sinne beschäftigen sich zentral mit nichts anderem als der schönen Literatur. Im allgemeinen Zeitschriftenjargon würde man von spezial-interest-Blättern sprechen,

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einer Kategorie, die sich Literaturzeitschriften teilen mit Zeitschriften für Angler und Bergsteiger, Modellbauer und Hobbyköche. Aber selbstverständlich unterscheiden sich Literaturzeitschriften in einem wesentlichen Punkt von den special-interest-Blättern: in der Tatsache, dass der natürliche Ort der Literatur das gedruckte Wort ist, Medium und Inhalt somit viel enger zusammengehören als etwa bei Zeitschriften über das Tiefseetauchen. Diese Nähe ist der eigentliche Urgrund, warum noch immer so viele Literaturzeitschriften mit viel Liebe und Aufwand gemacht werden. Schließlich sind sie für viele Autorinnen und Autoren auch heute noch der Ort, wo sie sich das erste Mal als solche erfahren haben: schlicht, weil sie dort zum ersten Mal gedruckt wurden und damit von einem Zweiten (einem Redakteur oder einer Redaktion) den Status 'Schriftsteller' verliehen bekamen. Denn diese Instanz fehlt meist bei Internetpublikationen: Wenn jeder sich selbst eine Homepage einrichten kann, um dort seine schriftstellerischen Arbeiten zu präsentieren, fehlt die Beglaubigung eines qualifizierten Redakteurs, Lektors oder Verlegers, der eine Auswahl trifft, ganz gleich wie diese motiviert ist. Das Ziel eines jeden Autors bleibt das eigene Buch. Denn dieses bietet gegenüber der Online-Publikation derzeit noch entscheidende Vorteile. Nicht nur weil es auch Ware ist und verkauft werden kann, um so zumindest teilweise Lebensgrundlage für einen Schriftsteller zu sein. Darüber hinaus ist es für jeden Autor identitätsstiftend; erst durch das eigene Buch kann man sich beglaubigt als Schriftsteller oder gar als freier Schriftsteller bezeichnen. Und last but not least: Als Schriftsteller will man gelesen werden, und die der old economy zugehörige Kunst des Bücherverlegens hat in ihrer 500-jährigen Geschichte ein Produkt geschaffen, das in puncto Lesefreundlichkeit von keinem noch so flachen Flachbildschirm übertroffen wird. Aber noch einmal zurück zu Definitionsfragen: Was also macht eine Literaturzeitschrift zur Literaturzeitschrift? Eine Abgrenzung inhaltlicher Natur wurde oben schon vorgenommen, eine andere wäre gegenüber germanistischen Fachzeitschriften vorzunehmen, also Zeitschriften, die akademisch ausgerichtet sind und entsprechend theorielastig sein müssen. In diesem Sinne sind also Neue Beiträge zur Germanistik oder auch Text und Kritik keine Literaturzeitschriften, denn ihnen fehlt der definitorisch notwendige Teil Primärtexte. Immer wieder gab es auch in Deutschland Versuche, eine Rezensionszeitschrift nach angloamerikanischem Vorbild zu etablieren, und immer wieder scheiterte dieses Unterfangen, nicht zuletzt wegen der vergleichsweise guten Qualität des deutschsprachigen Feuilletons. So leistet sich die Süddeutsche Zeitung seit Juli 2001 jeden

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Tag eine ganze Seite zur Literatur, zumeist gefüllt mit Rezensionen, die aber auch das Sach- und Fachbuch miteinschließen. Das Kunststück, ein Magazin zur Literatur auf dem deutschsprachigen Markt durchzusetzen, gelang erst der ehemaligen Chefin des ZeitFeuilletons Sigrid Löffler, die ihre Popularität aus ihrer Zeit als Viertel des Literarischen Quartetts im ZDF dazu nutzen konnte, die zehnmal jährlich erscheinenden LITERATUREN fest zu etablieren.1 Es wird kolportiert, dass die Zeitschrift immerhin 33.000 Käufer findet. Weil sie nur in Ausnahmefällen primärliterarische Texte veröffentlicht, erfüllem auch die LITERATUREN die strenge Definition von Literaturzeitschriften nicht. Sigrid Löffler selbst sagt dazu: "Nein, eine Literaturzeitung im Sinne der Manuskripte sind wir nicht, auch keine Rezensionszeitung. Wir berichten mit allen möglichen journalistischen Formen zu literarischen Themen. Das reicht von Reportagen zu einzelnen Autoren über Interviews bis zur klassischen Rezension. Darüber hinaus haben wir den Anspruch, für den Leser den Markt unter einem streng qualitativen Anspruch übersichtlicher zu machen."2 Die LITERATUREN können mit ihrem Konzept von den Anzeigen und Verkaufserlösen leben, dagegen ist, vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen, das Kerngeschäft der Literaturzeitschriften in unserem Sinne gerade das, was sich nicht rechnet. Würde es sich rechnen, gäbe es sicher Hochglanzhefte von Zeitschriftenmultis, die dank ihrer Marketingkraft diesen Bereich umfassend beherrschen. Warum die Nische wirtschaftlich nur schwer bedient werden kann, wurde weiter oben schon angerissen: Es liegt an der Konkurrenz des schnellen Buches und an der Lust des Feuilletons jede, auch die blödsinnigste, Debatte, bis zum Letzten auszuschlachten. Was also ist dann das Periphere, das sich nicht rechnet? Es ist topographisch tatsächlich das, was am Rande liegt. Die Gebiete etwa, um die sich eine Zeitschrift wie der Krautgarten kümmert, der, unterstützt von der belgischen Regierung, literarische Plattform der deutschsprachigen Minderheit in Belgien ist, oder eine Zeitschrift wie Allmende, die länderübergreifend die alemannische Literatur der Bodenseeregion abbildet. Aber auch Zeitschriften wie der von Karl Krieg herausgegebene Passauer Pegasus, in dem die Literaturen der Tschechischen Republik und der Slowakei und andere Literaturen des östlichen Mitteleuropa immer wieder behandelt werden. In diese Kategorie fallen auch viele Blätter, die regional finanziert und verbreitet sind. So gibt es in Österreich eine Reihe geförderter Zeitschriften, die entweder vom 1 2

Zu Sigrid Löfflers LITERATUREN vgl. Löfflers Beitrag "Literaturen, Literaturkritik und Leser um 2000" am Ende des vorliegenden Sammelbands. Sigrid Löffler im Gespräch mit Thomas Geiger im Jahr 2007. 429

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Bund oder von den Ländern kofinanziert werden, wie die Rampe aus Oberösterreich. Es ist schwierig, die verschiedenen Motivationen, die einer Zeitschrift zugrunde liegen, wertend zu gewichten. Wer wäre in der Lage zu entscheiden, ob es wichtiger ist, eine regionale Zeitschrift herauszugeben, einer bestimmten Generation ein Forum zu bieten oder einer literarischen Gattung eine Heimstatt zu geben, um darin zu überwintern? Denn wie fast alles unterliegen auch Genres Moden. Bis vor zehn Jahren, zum Beispiel, erschienen kaum Bände mit Kurzgeschichten. Alle Verleger und Lektoren schienen sich einig: Kurzgeschichten verkaufen sich nicht. Dann kam, scheinbar aus dem Nichts, Judith Hermann mit ihrem Band Sommerhaus, später, war erfolgreich auf dem Markt und in der Kritik, und kurz darauf konnten sich weder Buchhändler noch Kritiker und Leser vor Short Stories retten. Ein weiteres Beispiel ist die Lyrik. Zwar ist sie seit je eine Gattung, die nicht von der großen Masse der Leserinnen und Leser gekauft wird, aber derzeit werden besonders wenig Lyrikbände verlegt, und es gibt viel zu viele Buchhandlungen, in denen man vergeblich nach einem Lyrikband Ausschau hält. Wer je in einer Buchhandlung in Irland war, weiß, dass das durchaus nicht so sein muss. Natürlich liegt das an der problematischen Verkäuflichkeit von Gedichtbänden. Außer Durs Grünbein und vielleicht Lutz Seiler kann wohl keiner der Jüngeren (und das meint Autoren unter sechzig) auch nur annähernd mehr als 3.000 Exemplare von einem Gedichtband verkaufen. Und so ist es kein Wunder, dass reine Lyrikzeitschriften wie das von Anton Leitner herausgegebene DAS GEDICHT oder die von Urs Engeler im deutsch-schweizer Oberrheintal redigierte Zeitschrift Zwischen den Zeilen existieren. Dabei gehen die beiden sehr unterschiedliche Wege. Während Leitners Qualitätsbegriff ein durchaus zu hinterfragender ist, der auf das Populäre setzt, fürchtet sich Engeler nicht vor der schwierigsten Gedichtlektüre. DAS GEDICHT ist damit zwar ökonomisch erfolgreicher, gleichwohl ist Engelers zweimal im Jahr erscheinende Zwischen den Zeilen für den gegenwärtigen poetologischen Diskurs das zweifelsfrei bedeutendere Magazin. Aus Berlin sollen zumindest zwei weitere reine Lyrikzeitschriften genannt werden, zum einen der seit vielen Jahren von Michael Speier herausgegebene Park und die Losen Blätter, die als Bogendruck erscheinen. Das Interessante an den Losen Blättern ist der generationsübergreifende und internationale Ansatz. Renatus Deckert und seinen Kollegen gelingt es immer wieder, einerseits zu Unrecht vergessene Autoren zu drucken und zugleich immer wieder auch neue Namen aus der nationalen und internationalen Szene vorzustellen. Die Losen Blätter sind

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inzwischen eingestellt. Damit wären zwei weitere zentrale Aufgaben des Peripheren genannt, die zum Kerngeschäft der Literaturzeitschriften gehören. Erst durch dieses publizistische Wurzelwerk, das manchmal kaum zu durchhauen oder zu begehen ist, entsteht der Boden dessen, was eine wirklich reiche Literaturszene ausmacht. Es sind die Orte, an denen das Neue ausprobiert werden kann und an denen das Alte nicht vergessen wird. Neben den schon genannten Genres Lyrik und Short Story wären das etwa die Kurzprosa, der Aphorismus oder auch die experimentelle Literatur, alles literarische Ausdrucksformen, die sich momentan fast nur noch in Nischen halten können. Joachim Kalka führte in seiner Laudatio auf die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter bei der Vergabe des Calwer Hermann-Hesse-Preises für Literaturzeitschriften im Juli 2006 noch einen weiteren Aspekt aus, der im Wurzelwerk-Zusammenhang wichtig wird: "An älteren Zeitschriften begreift man die chronikalische Funktion einer solchen Publikation. Sie wird unendlich wichtig für den, der sich später einmal vergewissern möchte, 'wie es gewesen ist'. Jede Epoche, jedes Jahrzehnt bringt eine Handvoll Texte hervor, die überdauern und als charakteristische Zeugnisse ihrer Zeit einen fast symbolischen Charakter annehmen. Man begreift sie aber eigentlich nur, wenn man sie nicht isoliert sieht, sondern in der Fülle des Beziehungsgeflechts ihrer Zeit mit allen erhellenden und überraschenden Nachbarschaften. Dieses Geflecht rekonstruiert sich der Leser aus den alten Jahrgängen der Literaturzeitschriften." Und so ist es kein Wunder, dass einer der ältesten Beweggründe für die Produktion einer Zeitschrift quasi in jeder Generation neu auftritt. Junge Autorinnen und Autoren schaffen sich selbst ein Forum, um darin zu veröffentlichen, ohne sich von älteren anhören zu müssen: 'Was ihr da macht, haben wir schon vor dreißig Jahren gemacht – und übrigens auch besser'. Oder wenn es offensichtlich etwas Innovatives ist, sich vorhalten zu lassen, das sei 'gar keine Literatur und tauge damit eh nichts'. Der Selbsthilfeaspekt ist seit je einer der produktivsten. Die zwei bedeutendsten Neugründungen dieser Spezies kommen heute aus der Provinz: aus Leipzig und Hildesheim. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer anderen neuen Entwicklung. Aus der Insolvenzmasse der DDR-Institutionen wurde das Institut für Literatur Johannes R. Becher, ein dem Moskauer Maxim-Gorkij-Institut nachempfundene Einrichtung, in der das künstlerische Schreiben gelehrt wurde, in die neue Zeit übernommen. In der alten Bundesrepublik gab es keine Einrichtung, in der das Schreiben gelehrt wurde, und im Grunde wurde der Glaube an die Lehrbarkeit von Literatur immer abgelehnt. Der Geniegedanke war der

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stärkere.3 Seit der Neugründung als Deutsches Literaturinstitut im organisatorischen Rahmen der Universität Leipzig gibt es in Leipzig Jahr für Jahr Studierende, und es gibt ähnliche Studiengänge wie etwa den für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Diese Studierenden und Jungautoren also sind es, die jeweils eine Zeitschrift gründeten: die etwas ältere und mithin schon fast etablierte EDIT aus Leipzig und die etwas jüngere BELLAtriste aus Hildesheim. Bei beiden sticht im Gegensatz zu den älteren Blättern das innovative, graphisch anspruchsvolle Layout hervor, beide sind illustriert und in beiden publizieren vor allem sehr junge Beiträger. Bei EDIT wechseln auch die Herausgeber verhältnismäßig häufig, damit die Studenten aus den verschiedenen Studienjahrgängen die Welt auch einmal von der anderen Seite des Redaktionstisches aus sehen. Jedenfalls sind diese beiden "Selbsthilfeorgane" momentan vielleicht jene, in denen man in einigen Jahren oder Jahrzehnten die meisten Erstveröffentlichungen von dann bekannten Namen der deutschsprachigen Literatur wird finden können – ganz im Sinne Kalkas! Die institutionelle Anbindung an eine Literaturlehreinrichtung ist, weil die Institutionen neu sind, eine Entwicklung der letzten Jahre. Dass Zeitschriften an Institutionen gebunden sind, ist dagegen seit je verbreitet. Zum einen sind das Verlage, die sich noch immer ein Periodikum leisten. Zuallererst ist hier die von Walter Höllerer einst gegründete und zusammen mit Hans Bender redigierte Literaturzeitschrift Akzente zu nennen. Die Akzente erscheinen seit 1954 im Carl Hanser Verlag und werden heute vom Verlagsleiter Michael Krüger selbst herausgegeben, und zwar alleine, denn wie er einmal dazu anmerkte: "Wenn ich das nicht alleine machen würde, dann hätte ich gar nicht die Zeit dazu." Bei S. Fischer erscheint schon seit über hundert Jahren die Neue Rundschau, und seit vor ein paar Jahren dort Hans Jürgen Balmes für das Blatt verantwortlich ist, wird sie durch prägnante Themensetzungen wie "Heiligenleben" oder "Statt Kunst" und durch die Verjüngung der Beiträger wieder sehr interessant. Nichtsdestotrotz unterliegen Verlagszeitschriften immer der Gefahr, entweder als etwas aufwendigerer Werbeträger zu erscheinen oder aber zur Befriedung von Hausautoren zu dienen, die mit einem Zeitschriftenbeitrag über eine nicht zustande kommende oder verschobene Buchveröffentlichung hinweggetröstet werden sollen. Zwei weitere wichtige Zeitschriften sind bei anderen Institutionen angesiedelt. Sinn und Form, 3

Die Diskussion um die Lehr- und Lernbarkeit literarischen Schreibens soll an dieser Stelle nicht fortgesetzt werden. Vgl. dazu den Aufsatz von Kathrin Lange "Institutsprosa? Von der Professionalisierung literarischen Schreibens" im vorliegenden Sammelband. 432

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herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste, und Sprache im technischen Zeitalter. Die Spr.i.t.Z., wie sie kurz genannt wird, wurde ebenfalls von Walter Höllerer gegründet und wird im Literarischen Colloquium Berlin redigiert. Sinn und Form, verantwortlich betreut von Sebastian Kleinschmidt, druckt Literatur und Essays, mit einer Tendenz zur Philosophie. In Sprache im technischen Zeitalter finden sich deutsche und internationale Primärliteratur mit einem erkennbaren Schwerpunkt auf Lyrik. Neben Prosa, Untersuchungen zur Literatur und Werkstattgesprächen runden Essays das Programm ab. Von den unabhängigen Zeitschriften ist vor allem das von Norbert Wehr herausgegebene Schreibheft zu nennen. Themen und Autoren, die das Schreibheft aufnimmt, gelangen immer wieder in das Zentrum der literarischen Diskussion – so wurde etwa durch das Schreibheft William Gaddis für den deutschsprachigen Raum entdeckt und, um bei der amerikanischen Literatur zu bleiben, eine Melville-Renaissance ausgelöst. Schließlich sind noch die in Hannover und Bremerhaven beheimateten Horen zu nennen, eine Zeitschrift, die nunmehr seit über fünfzig Jahren erscheint und die es vermochte, sich immer wieder zu verjüngen. In den letzten Jahren ragten etwa ein Shakespeare-Heft und ein Heft mit dem zentralen Thema Märchen heraus. Sonderfälle bilden das Wespennest und Volltext aus Wien. Während das Wespennest zwar überregional wahrgenommen wird, ist es doch vor allem eine österreichische Institution mit einer linken Tradition. In letzter Zeit fällt auf, dass das Wespennest oftmals geographische Schwerpunkttitel bringt, etwa zu Rumänien oder Bulgarien, und schließlich wenden sich die Macher dem Thema Globalisierung zu. Bei Volltext verhält es sich anders: Wieder einmal versuchen Literaturzeitschriftenherausgeber den Weg über den Kiosk zu gehen. Ein ökonomischer Husarenritt, denn um in den Zeitungsgroßhandel zu gelangen, müssen große Auflagen eingeliefert werden. Vielleicht gelingt es, mit den erheblichen staatlichen Unterstützungen von Literaturzeitschriften in Österreich und durch die mehrjährige Anfangsunterstützung durch den Deutschen Literaturfonds, wieder einmal eine Literaturzeitschrift in den Zeitschriftenhandel zu bringen. Zu einem Zustandsbericht zur Lage der Literaturzeitschriften gehören die eingestellten Blätter. Zum einen traf es das renommierte Rowohlt Literaturmagazin, das den neuen geschäftsführenden Verlegern des Großverlages um ein paar Tausend Euro pro Jahr zu teuer wurde. Literaturhistorisch und literaturpolitisch noch symbolischer ist die Einstellung der Neuen deutschen Literatur. Sie war die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der DDR und wurde nach der Wende im Aufbau Verlag herausgegeben. Obwohl die Zeitschrift nach der Wiedervereinigung

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wohlwollend betrachtet wurde, verlor sie immer mehr an Abonnenten und wurde 2005 endgültig eingestellt. Wie es weitergeht? Péter Esterházy hat in seinem großartigen Roman Harmonia cælestis geschrieben, es sei unglaublich schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt. Ähnlich schwierig ist es, Tendenzen der Zukunft vorherzusagen. Sicher ist nur eines, die Digitalisierung der gedruckten Welt wird auch vor literarischen Zeitschriften nicht haltmachen. Erste Versuche gab es schon 1999, als der DuMont Verlag ein von Thomas Hettche vorangetriebenes Internetprojekt unterstützte. Unter dem Titel Null wollte im Jahr vor der Jahrtausendwende eine Netzpublikation zwischen Anthologie und Zeitschrift die neuen Möglichkeiten ausloten. Eine Anthologie, die sich quasi selbst kommentiert und fortschreibt. Die Autoren, die mitmachten, konnten sehr schnell auf neue Beiträge der Kollegen reagieren. Interessanterweise erschien nach einem Jahr doch eine gedruckte Form des Nullprojektes. Das Buch wurde von der Literaturkritik viel besprochen, verkauft hat es sich jedoch nicht sehr gut. Im Rückblick sagt Thomas Hettche heute, das sei eigentlich Pionierarbeit gewesen. Viele der beteiligten Autoren seien erst durch das Projekt Null online gegangen. Aber das ganze Projekt sei von vornherein nur auf ein Jahr angelegt gewesen. Wie es weitergeht mit den Literaturzeitschriften ist also schwer vorauszusehen. Im Moment scheint es, als könnten einige der Aufgaben der Literaturzeitschriften ins world wide web abwandern, aber wer weiß, vielleicht erfahren die alten gedruckten Medien ja sogar eine Renaissance.

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LITERATUREN, LITERATURKRITIK U N D L E S E R U M 2000 SIGRID LÖFFLER

Offenbar trauen Sie der Literatur einiges zu, haben Sie doch 2000 sicher sehr bewusst entschieden, Ihre Zeitschrift international und mit Themenschwerpunkt zu konzipieren. Seitdem sind zahlreiche Hefte zu politischen Themen erschienen – "Die USA und der Terror" (7-8/2006), "Europa – Schöne alte Welt" (7-8/2003), "Noch einmal für Jugoslawien" (78/2005), "Unser Afrika. Phantasien, Vorurteile, Projektionen" (6/2002), "Revolution und Utopie – Neues von der Zukunft" (3/2003) oder "Literatur im neuen Russland" (9/2003). Hat eine Literaturzeitschrift Verantwortung, weil Literatur Verantwortung hat? Der Plural im Titel ist Programm. LITERATUREN will Belletristik und Sachbücher gleichberechtigt präsentieren, daher werden eben auch neue politische Sachbücher thematisiert, wenn sie uns interessant erscheinen. Auch der Untertitel "Journal für Bücher und Themen" signalisiert, dass diese Zeitschrift den Blick auf Bücher weiten will – über die herkömmliche Kritik hinaus – und dass sie nach Korrespondenzen und Anschlussfähigkeiten sucht, über die Gattungsgrenzen hinweg. Die deutschsprachigen Neuerscheinungen sind unser Ausgangspunkt und unser Untersuchungsobjekt. Eben weil der Buchmarkt so unübersichtlich ist, wollen wir ihn für den Leser vorsortieren, wollen geheime Trends und versteckte Schwerpunkte entdecken und wichtige Themen ins Bewusstsein des Publikums rücken. Durch die Bündelung von vermeintlich Zufälligem werden übergreifende Zusammenhänge erst wirklich erkennbar. So haben wir beispielsweise schon ganz früh das Thema der Konflikte zwischen westlicher und islamischer Welt aufgegriffen, im Schwerpunkt "Fremde. Leben in anderen Welten" (4/2005), gruppiert um ein Portrait des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, der damals hierzulande noch völlig unbekannt war. Ein halbes Jahr später erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und ein Jahr darauf den Nobelpreis. Vielleicht hat LITERATUREN hier einen Anstoß geben können, indem wir zuerst auf diesen Autor aufmerksam machten.

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"Nine/Eleven ist das Hintergrundgeräusch in unzähligen amerikanischen, aber auch deutschen Gegenwartsromanen". Themen der Literatur um 2000 Die großen Themen der Jahrtausendwende sind schnell benannt: Globalisierung, Europäisierung und Migration, der internationale Terrorismus, die Schere zwischen so genannter Erster und Dritter Welt, der Balkankrieg, Ökonomie und diffuse Endzeitstimmung sind einige davon. Inwieweit findet in der internationalen Literatur der Jahrtausendwende eine fruchtbare Auseinandersetzung mit diesen Themen statt? Zu allen von Ihnen angeführten Stichwörtern gibt es Unmengen von aktuellen Sachbüchern – in unterschiedlichster Qualität. Bei der Belletristik ist das nicht so offensichtlich, denn die Schöne Literatur funktioniert nach anderen Gesetzen und arbeitet mit einem anderen Aktualitätsbegriff und in anderen Geschwindigkeiten. Dennoch kann man feststellen, wie aktuelle politische Themen, etwa die Anschläge des 11. September oder der islamistische Terrorismus generell, auch Romanschriftsteller beschäftigten und allmählich in die erzählende Prosa einsickern. Nine/Eleven ist das Hintergrundgeräusch in unzähligen amerikanischen, aber auch deutschen Gegenwartsromanen. Offenbar glauben Autoren, durch die Erwähnung dieser Anschläge ihre kritische Zeitgenossenschaft beweisen zu können. 2006 gab es eine regelrechte Welle von Terror-Romanen – von John Updike (Terrorist) bis Salman Rushdie (Shalimar der Narr) und von Christoph Peters (Ein Zimmer im Haus des Krieges) bis zu Kiran Nagarkar (Gottes kleiner Krieger). Mit einiger Zeitverzögerung werden nun auch die jugoslawischen Zerfallskriege immer öfter thematisiert, zumeist von jugoslawisch-stämmigen Autoren im Exil, man denke etwa an Sasa Stanišiü (Wie der Soldat das Grammofon repariert), an Dzevad Karahasan (Der nächtliche Rat) oder an Beqe Cufaj (Kosova, Rückkehr in ein verwüstetes Land). Und bei der Vorbereitung eines Schwerpunkt-Heftes "Leben und Schreiben in Putins Russland" (4/2007) haben wir festgestellt, dass russische Roman-Autoren sich sehr oft von aktuellen politischen Ereignissen in ihrem Land inspirieren lassen. Arkadi Babtschenko hat einen Roman über die Gräuel des Tschtschenien-Kriegs geschrieben (Die Farbe des Krieges) und Andrej Wolos hat die Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater zu einem Roman verarbeitet (Der Animator). Viele Ausgaben der LITERATUREN haben dezidiert soziologische Themen: "Wem die Arbeit lacht" (2/2001), "Generation Kind" (9/2001), "Ich und die Stadt" (7-8/2002), "Land ohne Leute? Ein deutsches Dilemma"

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(6/2006), außerdem zwei Hefte zu Glaube und Religion (11/2002 und 12/2005). Sehen Sie in der deutschsprachigen Literatur der Jahrtausendwende ein Medium, um unsere gesellschaftlichen Fragen konstruktiv und produktiv zu verhandeln? Am liebsten bauen wir Schwerpunkt-Hefte zu Themen, zu denen aktuelle Sachbücher wie auch neue belletristische Werke vorliegen. Nicht immer gelingt das. Zur Debatte über den Geburtenrückgang (6/2006) etwa gibt es schlicht keine Romane, sondern nur Sachbücher. Und bei unseren zwei Heften zum Thema Religion haben wir die erstaunliche Erfahrung gemacht, wie sehr sich der Zeitgeist binnen drei Jahren gedreht hat. Im Jahr 2002 war es fast unmöglich, Schriftsteller zu finden, die sich zur Frage äußern wollten, ob die Bibel für ihr Schreiben von Bedeutung sei. Im Jahr 2005 gab es plötzlich eine ganze Reihe von Autoren, die sich als gläubige Christen, besonders gerne als begeisterte Katholiken bekannten. Aber niemand kann vorhersagen, welche gesellschaftlichen Themen von Romanschriftstellern aufgegriffen werden und welche nicht. Ungezählte Neuerscheinungen kommen jedes Jahr auf den Markt. Nach welchen Prinzipien bereitet LITERATUREN Neuerscheinungen auf und bestimmt damit was und auch wie gelesen wird? Sie haben einmal das Prinzip der Strukturierung, Bündelung und Inszenierung als entscheidend genannt, entgegen dem enzyklopädischen Prinzip der Tageszeitungen. Inwieweit wird LITERATUREN damit der Literatur der Jahrtausendwende gerecht? Wie man weiß, werden auf dem deutschsprachigen Buchmarkt pro Jahr mehr als 80.000 Neuerscheinungen publiziert – das sind bei weitem mehr Bücher als benötigt werden. Es gibt daher beim Lesepublikum ein legitimes Bedürfnis nach Orientierung. Es gibt ein Bedürfnis nach einem Medium, das diesen unübersichtlichen Markt auf glaubwürdige Art kritisch vorsortiert und ihn in einer Rangordnung abbildet – und das auf möglichst unterhaltsame und abwechslungsreiche Art. Hierarchisierung wird gewünscht, Navigation, Thematisierung. So kontingent, so unübersichtlich und unstrukturiert der Buchmarkt auf den ersten Blick auch erscheinen mag: wenn man genauer hinschaut, zeichnen sich in der Titelflut doch geheime Trends ab; versteckte Schwerpunkte kristallisieren sich heraus. Wir heben die unserer Ansicht nach bemerkenswerten Bücher hervor. Wir wollen die Neuerscheinungen kritisch begleiten und kommentieren, ohne uns vom Werberummel und vom Aktualitätszwang des Literaturbetriebs abhängig zu machen.

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"Nicht jede Neuheit ist innovativ, und sehr oft ist das Neue nicht einmal neu". Schreibverfahren der Jahrtausendwende Auch im Bereich der Schreibverfahren ist die Bandbreite groß: Autorinnen und Autoren der Jahrtausendwende inszenieren virtuelle Begegnungen, reizen die Möglichkeiten auf den ersten Blick literaturferner Medien aus (Mitschnitt, Sampling, Sammelsurium), erweitern ihre Zielgruppen (All age- bzw. Crossover-Strategien), verfahren höchst individuell oder lenken den Blick aufs Detail bzw. mit dem Detail den Blick ihrer Leser (Anmerkungspraktiken, Kommentierung, Herausgeberfiktionen). Gibt es aus Ihrer Sicht typische Schreibverfahren um die Jahrtausendwende? Sind darunter genuin neue? Der kalendarische Zufall der Jahrtausendwende ist für die Literaturproduktion bedeutungslos. Autoren schreiben nicht anders, bloß weil der Kalender von 1999 auf 2000 gesprungen ist. Es gibt daher gar keine "typischen Schreibverfahren um die Jahrtausendwende". Natürlich ist es zu jeder Zeit die größte Herausforderung für einen Literaturkritiker, Neues zu erkennen und das Innovative vom bloß Modischen zu unterscheiden. Nicht jede Neuheit ist innovativ, und sehr oft ist das Neue nicht einmal neu – wenn das literarische Gedächtnis des Kritikers nur weit genug in die Geschichte zurückreicht, um die jeweiligen Vorbilder feststellen zu können. Ist die Literatur der Jahrtausendwende innovativer im Bereich Schreibverfahren oder im thematischen Bereich? Das lässt sich so nicht beantworten. In der Literatur gibt es ewige Themen: Kindheit. Familie. Adoleszenz. Liebe. Sexualität. Tod. Aber die jeweilige Epoche bringt auch neue Themen hervor. Der Holocaust etwa beschäftigt als horrendes Thema jede Generation aufs Neue. Und das wird auch noch sehr lange so bleiben. Das Layout, also das Konzept der Illustration und Verwendung von Fotos, ist ein wesentliches Element von LITERATUREN. Inwiefern ist dies eine Möglichkeit, das Paradigma des Bildes, die Vorherrschaft des Visuellen, in das Konzept einer zeitgemäßen Literaturzeitschrift zu integrieren? Es geht uns nicht darum, Literatur als solche oder die Texte im Heft platt zu illustrieren. Auch die üblichen Autoren-Fotos sind in LITERATUREN

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eher selten zu finden. Vielmehr wollen wir durch Fotografien und Bilder die Welt der LITERATUREN anschaulich machen. Den Bildstrecken, die etwa die Schwerpunkte begleiten, widmen wir große Aufmerksamkeit. Sie sollen eigene Assoziationsräume öffnen und eine eigene Bildsprache zu den Textstrecken entwickeln. Oft lassen wir uns von originellen Bildund Kunstbänden inspirieren, oft beauftragen wir selber Fotografen, eine Bildstrecke zu einem bestimmten Thema zu erarbeiten. Für einen Fontane-Schwerpunkt (4/2002) haben wir einen Fotografen beauftragt, Fontanes Schauplätzen und Figuren nachzugehen. Und für den Schwerpunkt "Fremde" haben wir Fotos von muslimischen Gebets-Orten in Deutschland ausgesucht. Warum existiert aus Ihrer Sicht ein offenbar großes Bedürfnis nach Klassikern, das sich deutlich in einer Vielzahl entsprechender Themenhefte von LITERATUREN niederschlägt? "Krieg um Troja" (10/2001), "Fontane und die Frauen" (4/2002), "Kafka und seine Kinder" (12/2003), "Eine Party für James Joyce" (6/2004), "Die Antike: Modelle mit Zukunft" (3-2006), "Der Herr der Märchen – Hans Christian Andersen" (3/2005) bis zu "Wozu Klassiker? Im Test: Schiller, Shakespeare & Co." (1-2/2005). Warum lässt sich offensichtlich auch um die Jahrtausendwende noch mit Klassikern und Kanondebatten Auflage machen? Kann tagesaktuelle Literatur eben doch nicht alles? Zu beobachten ist, dass bei deutschen Buchkäufern und Buchlesern das Bedürfnis nach kritischer Orientierung stark zunimmt. Die Konsumenten verlangen nach einer Richtschnur im Labyrinth der Bücher, nach verlässlichen Kunsturteilen, nach einem Kanon. LITERATUREN hat die Kanon-Debatte früh und äußerst kritisch thematisiert ("Wer bestimmt, was wir lesen?", 1–2/2002). Gerade angesichts der Überproduktion von Büchern wächst aber das Bedürfnis nach einem haltbaren literarischen Bildungsfundus. Und eben dieses Bedürfnis haben allerlei kanonisierende Privatleute als Marktlücke für sich entdeckt. Das Aufstellen von Kanon-Listen hat sich inzwischen ja fast zur Landplage entwickelt. Allerdings haben sich Kanon-Begehren und Lese-Begehren des Publikums völlig voneinander abgekoppelt und driften immer mehr auseinander. Das Publikum verlangt nach autoritativen Bücherlisten – aber weniger, weil es diese Bücher lesen möchte, sondern weil es erfahren möchte, was es alles nicht lesen muss. Mein Verdacht ist: Die Leute wollen eine Notration von einer Handvoll Bücher fürs Regal. Sie wollen die absoluten Musts. Sie wollen nur von irgendeiner Instanz bestätigt bekommen, dass sie unzählige Bücher weglassen können und sich trotzdem noch halbwegs gebildet fühlen dürfen.

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Gleichzeitig halten wir die ständige Überprüfung der so genannten Klassiker für eine der Aufgaben von LITERATUREN. Die jeweilige Gegenwart ist der Lackmus-Test für jeden Klassiker. Jeder Klassiker muss sich vor jeder Gegenwart neu bewähren. Was haben uns Schiller oder Mörike oder Kafka oder Joyce heute zu sagen? Die Klassifizierung der Klassiker ist eine permanente Aufgabe, auch ganz unabhängig vom Jubiläumsrummel.

"Der Strukturwandel auf dem globalen Buchmarkt beeinflusst selbstverständlich auch die Schreibweise der Autoren". Das Literarische Feld um 2000 Literatur der Jahrtausendwende erscheint unter ihren ganz eigenen Entstehungsbedingungen: die Zahl der Neuerscheinungen ist explodiert, auf dem Buchmarkt dominiert die jüngste Vergangenheit in den Editionen der Medienhäuser, etwa der SZ-Bibliothek, Verlagen wird häufig vorgeworfen, sie inszenieren Autoren anstelle von Texten, Lektorat wird zum Produktmanagement, genuin literarische Zeitschriften verlieren Auflage. Welche dieser Entstehungsbedingungen haben tatsächlich Auswirkungen auf die Literatur, die zurzeit entsteht? Welche prägen die Literatur der Jahrtausendwende so entscheidend, dass man sie später daran wird erkennen können? Der Strukturwandel auf dem globalen Buchmarkt beeinflusst selbstverständlich auch die Schreibweise der Autoren, deren Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit sowie die Wahl der literarischen Gattungen und Themen. Es ist natürlich kein Zufall, dass immer mehr seriöse Autoren das Krimi-Genre bedienen. Das wird ihnen von ihren Verlagen nahe gelegt. Zu beobachten ist eine starke Homogenisierung und Konformisierung der Verlagsprogramme; vor allem die konzern-produzierten Bücher werden nivelliert, was ihr Aussehen, ihren Inhalt und ihren Stil angeht. Grundsätzlich gilt: Je mehr Verlage unter einem einzigen Konzerndach versammelt werden, desto ähnlicher werden die Verlagsprogramme. Die Eigenständigkeit und das Eigenprofil der hinzugekauften Verlagshäuser werden in der Regel konzern-intern beseitigt, das eigenständige Profil wird eingeebnet und dem Mainstream angeglichen. Die Folge ist eine starke Vereinheitlichung der Verlagsprofile und eine starke Uniformisierung der Verlagsprodukte. Angepeilt wird das globalisierte Massenbuch, und konzipiert wird das Massenbuch als weltweit verkäuflicher Lesestoff, als internationaler "content". Konzernmanager reden nicht mehr von Autoren, sie sprechen von "Content-Providern". Produziert werden sollen Mainstream-Bücher, die weltweit an-

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schlussfähig sind. Mainstream-Bücher sollen marktgängig und benutzerfreundlich sein, sie sollen mit Lesern rund um den Globus kompatibel sein, sie sollen leicht übersetzbar und womöglich verfilmbar sein, besser noch: überhaupt multimedial weiter verformbar. Auf diese Weise sollen sie hohe Verkäuflichkeit garantieren. Was den Buch-Konzernen vorschwebt, ist das Buch als gedruckter Hamburger. Gewetteifert wird um das marktgängigste Massenbuch, das aber naturgemäß auch das austauschbarste ist. Und je gleichförmiger die Bücher ausfallen, desto mehr müssen die Marketing-Strategen sich einfallen lassen, um sie als unverwechselbar ausrufen zu können. Je ununterscheidbarer die Texte, desto abwechslungsreicher die Parolen, die ihnen verpasst werden müssen, um Differenz mindestens zu simulieren. Deshalb ist es heute so wichtig, immer wieder neue Literaturmoden zu erfinden und diesen Moden griffige Etiketten und einprägsame Parolen anzuheften. Generell gilt: Je mehr sich die Literaturproduktion dem Mainstream annähert und darin aufgeht, desto einfallsreicher muss die Etikettierungspolitik sein, um das Immergleiche immer neu zu inszenieren und um Veränderungswellen und Veränderungsschübe zu behaupten, auch wo sie nicht oder kaum existieren. Weil sich die Neuerscheinungen immer mehr ähneln, müssen sie immer wieder neu und anders etikettiert werden. Und natürlich wirken all diese Markt-Phänomene auf die Literatur zurück, die heute geschrieben wird. Ein Signum der Literatur der Jahrtausendwende ist die Professionalisierung der Autorenausbildung seit 1995. Hat sich Ihrer Einschätzung nach in Hildesheim, Leipzig etc. ein eigener Stil herausgebildet? Kein Stil, aber eine gewisse technische Versiertheit. Das Lektorat ist der Ort, an dem entschieden wird, was der Leser überhaupt zu lesen bekommt. Die Literaturkritik hingegen ist maßgeblich der Ort, der mitprägt, was wie gelesen wird. Diese Vermittlungsinstanz zwischen Neuerscheinungen und Lesern hat der ehemalige SuhrkampLektor Thomas Beckermann als "erster Vorleser" bezeichnet. Inwiefern sieht sich LITERATUREN als ein solcher Vorleser? Diese Zeitschrift versteht sich als Moderator zwischen den neuen Büchern und dem Publikum. LITERATUREN versucht, aus dem Fluss der ephemeren literarischen Erscheinungen das möglicherweise Bleibende und Bewahrenswerte herauszufiltern. Wir wissen natürlich, wie fragwürdig dieses Tun ist. Wir wissen, dass sich über die Zeit, der man selber angehört, am schwersten urteilen lässt. Als Zeitgenossen sind wir natür-

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lich alle in den Vorurteilen der Epoche gefangen. Umso mehr ist die Literaturkritik aber auch gefordert, gerade in Zeiten chaotischer BuchÜberproduktion – nicht, indem sie nun ihrerseits willkürliche Listen aufstellt und irgendwelche kurzlebigen Bücher tollkühn als kanonisch ausruft, sondern indem sie etwas viel Bescheidenes tut. Die Literaturkritik hat die Aufgabe, bestimmte Bücher so ins Gedächtnis zu heben, dass ihr literarischer Wert von späteren Generationen entdeckt oder bestätigt werden kann. Das versuchen wir zu leisten. Der deutsche und deutschsprachige Literaturmarkt hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren stark verändert, ebenso die Lesegewohnheiten. Wie wurde bei der Konzeption von LITERATUREN darauf reagiert? Alle statistischen Untersuchungen zeigen uns, dass sich das Leseverhalten gewandelt hat – weg vom Durchleser, hin zum Überflieger, zum Häppchen-Leser, zum Bücher-Zapper. Immer mehr Menschen lesen so, wie sie fernsehen – sie zappen sich durch die Bücher wie durch die TVProgramme. Sie lesen mehrere Bücher parallel, blättern nach interessanten Stellen, legen sie kaum angelesen wieder weg. Wir haben es also immer öfter mit gehetzten, ungeduldigen und zerstreuten Gelegenheitslesern zu tun. Aber allen Verfallsklagen zum Trotz kommt die Kulturtechnik des Bücherlesens keineswegs aus der Mode. Es wird immer noch gelesen – zum Vergnügen, zur geistigen Selbstintensivierung, zur Erweiterung der Kenntnisse, zur Selbstverständigung über die Welt, zum Zeitvertreib, zum sozialen Distinktionsgewinn. Auf diese neuen Gegebenheiten reagiert LITERATUREN mit einer Doppelstrategie. Die Zeitschrift muss an ihrem kritischen Anspruch festhalten, sie muss ihre kritische Kompetenz und Unabhängigkeit ständig aufs Neue unter Beweis stellen, wenn sie glaubwürdig sein will. Aber sie muss journalistisch abwechslungsreich und animierend gemacht sein, sie muss sich optisch attraktiv, grafisch originell und einfallsreich in den Bildstrecken darbieten, wenn sie das Interesse der Leser gewinnen und fixieren will. Um die Balance zwischen kritischer Qualität und unterhaltsamer Machart muss ständig gerungen werden.

"Wer heutige Leser erreichen will, muss die veränderten Lesegewohnheiten berücksichtigen". LITERATUREN im literarischen Feld um 2000 "Wolfs Revier. Aufschwung Ost im Leseland" titelte eine Ihrer Ausgaben (4/2004). Gibt es im jungen 21. Jahrhundert noch Unterschiede zwischen

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dem Leseverhalten in Ost- und Westdeutschland? Kann man sie an den Auflagen einzelner Themenhefte ablesen? Nach wie vor gibt es zwei deutlich von einander unterscheidbare Lesebevölkerungen in Deutschland, eine östliche und eine westliche. Die Lektüre-Erfahrungen sind ebenso unterschiedlich wie die jeweils vertrauten Autorennamen. Der Osten hat andere Lieblingsautoren als der Westen. Die Demarkationslinie zwischen Ost und West ist literarisch leicht festzumachen: hüben Böll, Lenz oder Koeppen; drüben Strittmatter, Christa Wolf oder Brigitte Reimann. Auch hat sich die Weltdominanz der anglo-amerikanischen Literatur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch nicht herumgesprochen, hat sich zumindest ins Leseverhalten noch nicht eingefräst. Außerdem sind Englischkenntnisse selbst bei Gebildeten in den neuen Bundesländern nicht ubiquitär. Weil wir das wissen, versuchen wir vor allem in der LITERATUREN-Ausgabe, die auf der Leipziger Buchmesse ausliegt, den örtlichen Interessen Rechnung zu tragen, eben mit einem Schwerpunkt zu Christa Wolf. LITERATUREN ist für ihre innovativen Rezensionsformate bekannt (z. B. Pro-Contra-Besprechung, "Was liest eigentlich …?"). Wo sehen Sie die besonderen Möglichkeiten dieses Konzepts? Es ist klar, dass eine Literaturzeitschrift, die heutige Leser erreichen will, die veränderten Lesegewohnheiten berücksichtigen und ihre Leser abholen muss. Das funktioniert nicht mehr durch stures Festhalten am herkömmlichen reinen Rezensions-Feuilletonismus. Gewiss: die Rezension ist immer noch das klassische Format der Literaturkritik, die Königsdisziplin. Die Rezension kann aber nicht das einzige Format bleiben. LITERATUREN nähert sich der Literatur daher nicht nur in klassischen Rezensionen, sondern in allen journalistischen Formen – vom Portrait über den Essay und das Gespräch bis zur literarischen Reportage. Wir setzen also auf eine breite Palette von journalistischen Darbietungsformen. Einen panoramatischen Blick auf ein literarisches Werk kann eine literarische Reportage vielleicht besser werfen als eine Rezension, das ästhetische Imaginarium eines Autors und der literarische Horizont eines Œuvres können im Autoren-Portrait vielleicht reichhaltiger entwickelt werden als in der Einzelrezension. Auch muss der Annäherung und Vermischung der literarischen Genres, die seit einiger Zeit zu beobachten ist, Rechnung getragen werden. Die Sachbücher literarisieren sich, die Belletristik bedient sich der Erzählstrategien des Sachbuchs und eignet sich die journalistischen Techniken der Recherche und der Reportage an. Die Hochliteratur borgt sich die Spannungstechniken vom

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Krimi. Die Grenzen zwischen den Buch-Genres verschwimmen immer mehr. Man kann nicht mehr kategorisch zwischen schöner Literatur und Sachbuch unterscheiden. Auf solche Trend-Veränderungen muss eine Literaturzeitschrift flexibel reagieren. Sie kann die alten Gattungsgrenzen nicht perpetuieren, entgegen den real existierenden literarischen Tatsachen. Eines allerdings darf trotz aller Anpassung an veränderte Rezeptionsgewohnheiten keinesfalls aufgegeben werden. Was nicht preisgegeben werden darf, ist der kritische Anspruch und die kritische Kompetenz und Unabhängigkeit. Welcher Literaturbegriff steht hinter Ihrer Arbeit bei LITERATUREN? Am Literaturbegriff dieser Zeitschrift arbeiten alle Beiträger mit, die in ihr schreiben. LITERATUREN hat bewusst Platz für die verschiedenen heutigen Kritiker-Typen, mit Ausnahme des Service-Journalisten. Der publikumsorientierte Kritiker, der sich eher als Moderator und Kunstrichter versteht, hat ebenso seinen Auftritt wie der diskurs-orientierte Kritiker, der eher am Autor und seinem Ingenium oder eher am Werk, an der Eigenlogik der Kunst, interessiert ist. Gefordert ist allerdings grundsätzlich der sachbezogene, konzise, meinungsfrohe, an seinen ästhetischen Gegenständen wie auch am Publikum orientierte Kritiker. LITERATUREN ist keine Literaturzeitschrift klassischer Ausrichtung (klassisch hieße, dass die Primärliteratur deutlich überwiegt). Ist diese Konzeption als Reaktion auf den veränderten Literaturmarkt zu lesen? Gar auf einen veränderten Literaturbegriff der Jahrtausendwende, der mediale Prägungen und veränderte Lesegewohnheiten einschließt? In LITERATUREN wird einerseits über Literatur geschrieben, übrigens auch von Schriftstellern – Daniel Kehlmann etwa schreibt regelmäßig über die Bücher von Kollegen; auch John Banville oder Antonia S. Byatt gehören zu unseren Rezensenten. Andererseits publizieren hier Schriftsteller durchaus auch literarische Primärtexte. Peter Handkes großer Jugoslawien-Text Die Tablas von Daimiel wurde ebenso in LITERATUREN erstveröffentlicht wie Essays von W. G. Sebald, Juli Zeh oder Terézia Mora. Josef Winkler hat uns sein Indisches Notizbuch zum Erstabdruck überlassen. Péter Esterházy hat einen Essay über den UngarnAufstand 1956 für uns geschrieben. Diese Doppeltradition wollen wir auch in Zukunft weiterführen. Mit welchen Zeitschriften sehen Sie LITERATUREN am ehesten in historischer Kontinuität?

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LITERATUREN ist von seiner Machart her mit anderen literarischen Zeitschriften in Deutschland nicht vergleichbar. Am ehesten könnte man diese Zeitschrift mit dem französischen Magazine Litteraire vergleichen, inhaltlich, aber nicht im journalistischen und optischen Auftritt gibt es Schnittmengen mit der New York Review of Books. Wie würden Sie aus Ihrer ganz persönlichen Sicht die Literatur der Jahrtausendwende beschreiben? Was bedeutet sie Ihnen? Erlauben Sie, dass ich diese Frage ins Bescheidenere umformatiere. Ich erhoffe und erwarte von jedem neuen Buch, das mir vor Augen kommt, das literarische Paradies.

Das Gespräch führten Susanne Krones und Peter Paul Schwarz

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Autorenverzeichnis (in der Reihenfolge der Beiträge des Bandes)

I. Evi Zemanek studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Italianistik an der LMU München, in Pisa und Chicago. Promotion (20042007) als Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes und im Rahmen des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft der LMU über Poetische Porträts. Forschungssemester an der Yale University und Columbia University (2005). Seit 2007 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft und NdL an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Daniella Jancsó studierte Medizin sowie Englische Sprach- und Literaturwissenschaft in Budapest und München. Promotionsstipendien des DAAD (2001/02) und des Bayerischen Staates (2003/04). Promotion über Shakespeare and Wittgenstein: Excitements of Reason. The Presentation of Thought in Shakespeare's Plays and Wittgenstein's Philosophy (Universitätsverlag Winter, 2007). Derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Englische Philologie an der LMU München. Mary Ann Snyder-Körber studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Nordamerikastudien an der University of California Irvine, der Georg-August-Universität Göttingen und der Freien Universität Berlin. Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes (20002003). Seit 2005 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, FU Berlin. Jüngste Publikation: Das weiblich Erhabene. Sappho bis Baudelaire (München: Fink, 2007). Karin Peters studierte Komparatistik, Spanische Literaturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der LMU München und der Venice International University, Venedig. Magisterarbeit zum Thema "Opfergaben. Roland Barthes und die Semiologie des Körpers". Seit April 2007 Kollegiatin des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft der LMU mit einem Projekt zur Opferästhetik im 20. Jahrhundert; Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 2007 Vertretung der wissenschaftlichen Assistenz am Institut für Komparatistik der LMU. Johanna Schumm studierte Komparatistik, Politikwissenschaft, Spanische Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der LMU München und an der Washington University in St. Louis, Missouri. Dort Tätigkeit am Center

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for Contemporary German Literature bei Prof. Michael Lützeler. Derzeit Promotion im Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Veranstalterin und Autorin von Konzeptlesungen des write club in München sowie freie Kuratorin für das Goethe-Institut Zagreb. Boris Previšiü studierte an der Universität Zürich Vergleichende und Französische Literaturwissenschaft sowie Germanistik; Dissertation über Hölderlins Rhythmus. Daneben leitete er Kulturprojekte in Ländern des ehemaligen Jugoslawiens (www.pre-art.ch). Derzeit Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds für seine Habilitation Poetik der Grenzen – der Balkan als Reflexion europäischer Identität. Veröffentlichungen zur Kultur in Ex-Jugoslawien, u.a. "Balkan und Kultur – essaystische Spiegel der Reflexion". In: Dissonanz Nr. 88. Edition text+kritik, München 2004. Katja Kobolt studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft in Ljubljana. Promotion mit einem DAAD-Stipendium im Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft der LMU München zum Thema Frauen schreiben Geschichte(n) – Zur Kanonisierung literarischer Erinnerungsmodelle der postjugoslawischen Kriege. Derzeit Vorbereitung eines Postdoc-Projekts "Performanz und Frauen in der Balkanregion" sowie Programmleitung der Organisation City of Women, Ljubljana. Andrea Geier studierte Neuere deutsche Literatur, Rhetorik und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen. Stipendiatin des Tübinger GKs "Pragmatisierung/Entpragmatisierung", Dissertation über Gewalt und Geschlecht. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre. Koordinatorin des Tübinger GKs "Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit", Postdoktorandin des Trierer GKs "Identität und Differenz". Seit 2004 Assistentin am Institut für NdL der Universität Marburg. Habilitationsprojekt über "Antisemitismus und Kulturkritik". Eva Schopohl studierte Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der LMU München und der Universidad de Santiago de Compostela. Magisterarbeit über Das Problem der Identität. Neue Figurenkonzepte im deutschen Drama des frühen 20. Jahrhunderts. Derzeit Arbeit an einer Dissertation zu Dolmetscher- und Übersetzerfiguren in der zeitgenössischen Literatur. Mitglied im Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft der LMU München sowie Lehrtätigkeit am dortigen Institut für Komparatistik.

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AUTORENVERZEICHNIS

Christoph Deupmann studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie in Göttingen und Kiel, Magisterabschluss (über J.G. Hamann) 1995, Promotion 1999 zum Thema Furor satiricus. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert (2002). Danach Postdoktorand am Graduiertenkolleg "Pragmatisierung/Entpragmatisierung" an der Universität Tübingen. Seit 2002 Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe (TH). Stefanie Ablaß studierte Germanistik, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie an der Universität Mannheim. Auslandsaufenthalt mit Lehrauftrag an der Northwestern University, Chicago, USA. Derzeit Promotion über Die Ökonomisierung des Körpers im deutschsprachigen Wirtschaftsroman der Gegenwart. Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft und qualitative Medienanalyse der Universität Mannheim. Forschungsinteressen: Medien- und Erkenntnistheorie; Gegenwartsliteratur; Ökonomie und Literatur. Tim Reiß studierte Philosophie und Germanistik. Derzeit promoviert er über ein rechtsphilosophisches Thema am Institut für Philosophie der Universität Potsdam. Letzte Veröffentlichung: "Ideologiekritik und Erbetheorie", in: Lesarten. Beiträge zur Kunst-, Literatur- und Sprachkritik, hg. v. B. Krüger u.a., Berlin 2007. Forschungsinteresse an den Mechanismen der Etablierung und Durchsetzung publizistischer Deutungsmuster und literaturkritischer Kanonisierungstechniken. Matthias Kusche studierte Germanistik, Medien- u. Kommunikationswissenschaften und Sprachwissenschaft an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Derzeit Promotion über Literarische Rückbezüge auf 1968. Veröffentlichungen zur Kommunikationsforschung sowie über Gegenwartsliteratur: "Kollektivität als Schranke von Individualität. Die Dekonstruktion der Studentenbewegung bei Stephan Wackwitz und Sophie Dannenberg". In: Masse Mensch. Das 'Wir' – sprachlich behauptet, ästhetisch inszeniert, hg. v. Andrea Jäger u.a., Halle 2006; Stephanie Singh studierte Komparatistik, Germanistik und Philosophie in Tübingen, Aix-en-Provence, Strasbourg und München. Promotion im Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft der LMU München zur Semantik der Krise: über Gegenwartsliteratur und Feuilleton als Formen kultureller Krisenreflexion. Ausgebildete Redakteurin. Freie Übersetzerin, u. a. Nicolas Sarkozy, Bekenntnisse. Frankreich, Europa und die Welt im 21. Jahrhundert, München 2007; Steve Coll, Die Bin Ladens. Eine arabische Familie, Hamburg 2008.

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LITERATUR DER JAHRTAUSENDWENDE

Birgit Holzner studierte Germanistik, Romanistik und Komparatistik an der Universität Innsbruck, 1995-96 EU-Fremdsprachenassistentin am Lycée franco-finlandais Helsinki, 2003-2006 ÖK-Lektorin an der Université de Caen und Maitre de conférence an der Sciences Po Paris. Derzeit Verlagslektorin und Doktoratsstipendiatin der Nachwuchsförderung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Dissertation über Kultur als Hypertext. Forschungsschwerpunkte: Neue österreichische Literatur, Literatur und andere Künste. II. Katrin Schumacher studierte Germanistik, Journalistik und Kunstgeschichte in Bamberg, Antwerpen und Hamburg. Graduiertenstipendium der Friedrich Ebert Stiftung. Promotion zum Thema Femme fantôme. Poetologien und Szenen der Wiedergängerin um 1800/1900 (Tübingen 2007). Lehrbeauftragte der Universitäten Hamburg, Halle und Lüneburg. Derzeitiges Forschungsprojekt zum Thema Theater und Illusion. Rezensionen zur Gegenwartsliteratur; Autorin und Radiomoderatorin für den NDR, WDR, MDR und DIE ZEIT. Elke Gilson studierte Germanistik in Gent und Berlin, Dissertation (2004) über die Konstruktion von Wirklichkeit im Werk von Monika Maron. Derzeitiges Forschungsprojekt zur Gegenwartsliteratur: Wahrnehmung als Simulation, Erinnerung und Begegnung in zeitgenössischen deutschen Stadtromanen. Eine vergleichende Studie zu einer literarischen Ethik des Sehens. Oberassistentin für Forschung des Fonds für wissenschaftliche Forschung in Flandern, Universität Gent. 2007 Visiting Fellow am Institute of Germanic & Romance Studies, University of London. Mark Ludwig studierte in Köln und London Germanistik, Kunstgeschichte und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienforschung in Köln und Arbeit an einer Dissertation über Robert Musil. Veröffentlichungen zur Literatur der klassischen Moderne und der Gegenwart sowie zur Ästhetik und Visualisierung der Medien. Stephan Porombka, Professor für Kulturjournalismus und Literatur an der Universität Hildesheim. Gemeinsam mit Hanns-Josef Ortheil Leiter des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Veröffentlichungen zu Gegenwartsliteratur und Literaturkritik: u.a. Kritiken schreiben, Konstanz 2006; Felix Krulls Erben. Zur Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Berlin 2001; Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos, Fink, München 2001. Mitherausgeber des Jahrbuchs für Kulturwissenschaften & ästhetische Praxis und der Zeitschrift Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen.

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AUTORENVERZEICHNIS

Florence Feiereisen Assistant Professor of German Studies am Middlebury College in Vermont, USA. Studium der Germanistik und Computerlinguistik an der Universität Heidelberg, Promotion 2007 in German Cultural Studies an der University of Massachusetts Amherst mit einer Dissertation über Thomas Meinecke. Veröffentlichungen zu W.G. Sebald, Tanja Dückers, Julia Franck und Judith Hermann. Forschungsinteressen: Gegenwartsliteratur und Sound Studies. Jürgen Gunia studierte Germanistik und Philosophie in Freiburg und Würzburg. Promotion an der Universität Bielefeld (1999), dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter (1997-99) und Assistent (1999-2004). Seit März 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen u.a. zu Geschwindigkeit und Literatur, Robert Musil u. Arnold Stadler. Sarah Pogoda studierte Neuere deutsche Literatur, Neuere Geschichte sowie Publizistik an der Freien Universität Berlin und an der Universität Wien. Magisterarbeit über "Architektur als Metapher in Gregor Hens' Roman Himmelssturz". Arbeitet an einer Dissertation über literarische Architektenfiguren. Forschungsschwerpunkte: Architekturtheorie der (Post-)Moderne, Literaturtheorie und Ästhetik des 20. Jahrhunderts. Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes und Lehrbeauftragte des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin. Sabine Zubarik studierte Literaturwissenschaft (Schwerpunkte AVL und Hispanistik) in Erfurt, lehrt und promoviert in Erfurt. Magisterarbeit: "Paratexte. Fußnoten und Anmerkungen als textkonstituierende Bestandteile neuerer Erzählliteratur". Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Dissertationsprojekt: "Strategie(n) der Fußnote im gegenwärtigen Roman". Organisation der Tagung "Am Rande bemerkt: Anmerkungspraktiken in literarischen Texten" und (Mit-)Herausgabe des gleichnamigen Sammelbands. Yvonne Pietsch studierte Germanistik, Anglistik, Theater- und Medienwissenschaft in Erlangen. Promotion (2006) im Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft der LMU zum Thema: Textkonstitution, historisch-kritische Kommentierung und Interpretation: Ludwig Achim von Arnims "Schaubuehne" (1813). Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der historisch-kritischen Ausgabe der GoetheBriefe, Klassik Stiftung Weimar sowie in der Forschergruppe "Anfänge (in) der Moderne" der LMU München.

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LITERATUR DER JAHRTAUSENDWENDE

III. Katrin Blumenkamp studierte Germanistik und Romanistik, Abschluss 2005, derzeit Promotion in Neuerer Deutscher Literatur in Göttingen, Mitglied des Promotionskollegs der Volkswagen Stiftung Wertung und Kanon. Veröffentlichungen über Gegenwartsliteratur. 2007 erschien der von Blumenkamp und Hauke Hückstädt herausgegebene Band Das begehbare Feuilleton. Gespräche und Berichte aus dem Kulturbetrieb, ein Querschnitt aus dem Kulturbetrieb des letzten halben Jahrzehnts. Susanne Gramatzki arbeitet derzeit an der Universität Wuppertal in einem Forschungsprojekt zu makroästhetischen Strukturen in der europäischen Literatur. Dissertation: Zur lyrischen Subjektivität in den Rime Michelangelo Buonarrotis, Heidelberg 2004. Forschungsschwerpunkte u.a.: Bild-Text-Relationen, Literatur und Bildende Kunst, Geschlechter- und Körperdiskurse, italienische Renaissance, französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Peter Paul Schwarz studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Politikwissenschaften und Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Seit Dezember 2007 promoviert er dort als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Überdies dreijährige Assistenz beim Lektor und Verleger der Potsdamer Polzer Media Group; Mitarbeit im Lektorat des Aufbau-Verlags bei der Herausgabe von Werner Bräunigs Rummelplatz (2007); Organisation von Lesungen für den Zeitpfeil e.V. Susanne Krones studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft an HU Berlin und Buchwissenschaft an der LMU München. Promotion im Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft der LMU über die Literaturzeitschrift Akzente; Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Humboldt-Preis für wissenschaftlichen Nachwuchs für die Magisterarbeit Engelbert Donner. Eine editionspraktische Studie. Seit 2005 Lektorin der Reihe Hanser im dtv und Carl Hanser Verlag sowie akademische Lehre. Preis für Nachwuchslektoren der Akademie des Deutschen Buchhandels und des Rowohlt Verlags (2001). Katrin Lange absolvierte ein Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Würzburg, Wien und München und ist seit 1999 Programmreferentin am Literaturhaus München mit Schwerpunkt auf den Schreibprojekten des Hauses, insbesondere textwerk, den Seminaren für Autoren und Übersetzer.

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AUTORENVERZEICHNIS

Renate Grau studierte Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forschte und lehrte an der New York University, an der Universität St. Gallen und an der Cambridge University. 2001 bis 2004 war sie am Institut für Medien und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen Wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Dr. Peter Glotz, mittlerweile lehrt sie als Professorin in Bern. Thomas Geiger absolvierte eine Lehre als Buchhändler in Nürnberg, bevor er in München Neuere deutsche Literatur sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte studierte. Seit 1989 betreut er als Redakteur im Literarischen Colloquium Berlin die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter und ist mitverantwortlich für das Programm des LCB. Im Frühjahr 2009 gibt er im Deutschen Taschenbuchverlag die Lyrik-Anthologie Schädelmagie. Gedichte aus der Gegenwart heraus. Sigrid Löffler studierte u.a. Germanistik und Anglistik in Wien. Sie arbeitete für das Nachrichtenmagazin profil und für Die Woche, für Theater heute, die Basler Zeitung und die Süddeutsche Zeitung. 1996-99 leitete sie das Feuilleton der Zeit und 1988-2000 war sie im Literarischen Quartett des ZDF zu sehen. 2000 gründete sie die Zeitschrift LITERATUREN. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik (1983), dem Bayerischen Fernsehpreis (1991) und dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik (1992).

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Lettre Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Christof Hamann (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848 Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung

Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft

Dezember 2008, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-966-4

Monika Leipelt-Tsai Aggression in lyrischer Dichtung Georg Heym – Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film November 2008, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-583-3

Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.) Literatur der Jahrtausendwende Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 Oktober 2008, 456 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-924-4

Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur August 2008, 308 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-880-3

Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert

Juni 2008, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-821-6

Juni 2008, 392 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN: 978-3-8376-1006-2

Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-913-8

Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller März 2008, 240 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-908-4

Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater Februar 2008, 386 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3

Juli 2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-824-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Lettre Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe 2007, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-760-8

Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-508-6

Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.) Weiterlesen Literatur und Wissen 2007, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-606-9

Christina Burbaum Vom Nutzen der Poesie Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie 2007, 374 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-770-7

Stefan Hofer Die Ökologie der Literatur Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes 2007, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-753-0

Margret Karsch »das Dennoch jedes Buchstabens« Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz 2007, 388 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-744-8

Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt 2007, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-520-8

Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4

Julia Freytag Verhüllte Schaulust Die Maske in Schnitzlers »Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut« 2007, 142 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-425-6

Thomas von Steinaecker Literarische Foto-Texte Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds 2007, 346 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-654-0

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