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German Pages 350 Year 2021
Anastasía Antonopoúlou (Hg.) Literarische Ägäis
Lettre
Anastasía Antonopoúlou (Prof. Dr.) lehrt am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und vergleichende Literaturwissenschaft mit besonderem Schwerpunkt auf den deutsch-griechischen Literaturbeziehungen sowie den intermedialen Beziehungen.
Anastasía Antonopoúlou (Hg.)
Literarische Ägäis Ein Kulturraum zwischen Mythos und Geschichte
Gefördert vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts (AA)
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Inhalt
Einleitung Anastasia Antonopoulou................................................................... 9
Von Hölderlin zu Zaimoglu Die Ägäis als Begegnungsraum der Kulturen und Religionen Michael Hofmann......................................................................... 27
Das stille Nennen der Götter Anmerkungen zu Heideggers Zwiesprache mit der Dichtung. Mit einem Seitenblick auf Hölderlins Hymne Patmos Georgios Xiropaidis ...................................................................... 39
Eleusis und Athen bei Hegel und Hölderlin Martin Vöhler............................................................................. 55
Epiphanie der Wahrheit in der Ägäis Zu Martin Heideggers Griechenlandreisen Kosmas Raspitsos........................................................................ 67
Eine Poetik der Ägäis Von der griechischen Moderne zu Erich Arendt Anastasia Antonopoulou.................................................................. 77
Ägäische Essentialität Poetiken der Reduktion vom Neoklassizismus bis zur Aussteigerkultur Sergio Corrado ........................................................................... 99
Sehnsuchtsort Ägäis »Archaische Verzauberung« und politische Erfahrungen in Erasmus Schöfers Sonnenflucht Jürgen Pelzer ............................................................................ 119
Christa Wolfs Griechenlandreise Kritik der abendländischen Zivilisation Monika Albrecht ......................................................................... 135
»Starrend von Zeit und Helle« Die kosmogonische Tiefe der Ägäis in Gedichten Erich Arendts Heinz-Peter Preußer..................................................................... 153
Produktive Missverständnisse: Aegeus und Ikarus Alexandra Rassidakis..................................................................... 177
Poseidon: Kafka und Borges Katerina Karakassi ...................................................................... 195
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten Julian Happes und Julian Zimmermann ................................................... 211
In der Ägäis unterwegs mit Seiner Majestät Ludwig Ross als »sprach- und landeskundige[r] Begleiter« König Ludwigs I. von Bayern Stefan Lindinger ........................................................................ 235
Die »unsichtbare Hand« Gottes im Paradies Zu Fallmerayers literarischem Reisebericht Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos Aglaia Blioumi .......................................................................... 251
»Und zwischen unsern Herzen lag das Meer« Emanuel Geibels und Ernst Curtius’ gemeinsame Ägäis-Reise Konstantina Tsonaka .................................................................... 269
Von den Seeräubern zu den Raubfischern Die Ägäis als literarischer Abenteuerraum Hans-Bernhard Schlumm ................................................................ 289
Figurationen des Meeres in Gerhard Roths Roman Der Berg Odyssee einer Zeugensuche Marieke Krajenbrink ..................................................................... 299
Die Ägäis als Testfall für die Gestaltungsmöglichkeiten einer Europäischen Union im Krisenmodus Martin Schwarz ......................................................................... 325
Autorinnen und Autoren .......................................................... 343
Einleitung Anastasia Antonopoulou
Als Verbindungselement zwischen drei Kontinenten stellt die Ägäis von der Antike über das Mittelalter bis in die heutige Zeit hinein einen Ort der Begegnung von Kulturen und Religionen, des Kulturtransfers, aber auch der politischen Auseinandersetzungen dar, denn der friedliche Austausch ging und geht immer noch mit Dominanztendenzen einher. Zugleich fungiert die ägäische Inselwelt im Rahmen eines breiteren mediterranen Denkens als Projektionsraum von literarischen und politischen Utopien; sie wird oft als Denkraum, poetologischer Raum oder als kosmogonisch mythischer Raum wahrgenommen, auch als Abenteuerraum und nicht zuletzt als Ort der Epiphanie der philosophischen Wahrheit (Heidegger auf Delos) inszeniert. Sie fungiert weiterhin zum Anlass für kritisches Denken in Bezug auf die abendländische Zivilisation und im Zuge des Postcolonial Turn als Modell für den Dialog der Zivilisationen. Gerade auf ihren Wert als Kulturraum und als literarischer Raum fokussiert der vorliegende Band. Er versteht sich als ein Beitrag zu den modernen Mediterranean und Island Studies und setzt sich das Ziel – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – möglichst viele Ägäis-Diskurse in diachroner und komparatistischer Weise zu veranschaulichen. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen literarische Darstellungen der Ägäis sowie poetisch-ästhetische Ägäis-Konzepte, wie sie hauptsächlich in der deutschsprachigen und griechischen Literatur vom Mittelalter bis heute mit Schwerpunkt das 19. und 20. Jh. formuliert werden.1 Das Werk Friedrich Hölderlins bietet mehrere Anregungen, die Ägäis als Raum von Synthesen und Begegnungen zu betrachten. Es ist ja bekannt, dass Hölderlin ein differenziertes Antikenbild im Vergleich zur deutschen Klassik entwickelt, das offener, dionysischer, ekstatischer und dem Orient zugewandt ist, mit dem er sich 1
In der Forschungsliteratur zur Ägäis gibt es in deutscher Sprache den Band Ägäis und Europa von Evangelos Konstantinou (2005), der mit einer historisch-kulturellen Ausrichtung die ägäische Welt in ihren geschichtlichen und kulturellen Ursprüngen als Wurzeln der europäischen Kultur zeigt. In griechischer Sprache gibt es das zweibändige Werk Griechenland der Inseln. Von der Frankokratie bis heute (vgl. Argyriou 2004). Hier wird die griechische Inselwelt (ägäische und ionische) zum Gegenstand einer breiten Forschung, bei der Geografie, Sprache, Religion, Geschichte, Gesellschaft, Architektur und literarische Tradition behandelt werden.
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immer mehr vom griechisch-plastischen Konzept Winckelmanns entfernt. Es handelt sich um eine Anschauung, die »die griechische Antike von ihrem allgemein vorausgesetzten Zentrum Athen immer mehr de- und ex-zentriert« (Kocziszky 2009, 93). Diese Distanzierung Hölderlins von Athen, mit gleichzeitiger Verschiebung des Interesses in die Richtung ägäischer Archipel2 als Ort, wo Synthesen möglich sind, ist einzigartig für die Wahrnehmung seiner Epoche und nimmt Konzepte der Moderne vorweg. Gefesselt von den alten seligen Küsten3 macht Hölderlin die Ägäis, die er nie besucht hat, zum imaginären Ort der Reflexion und der Göttersuche. Diese den eurozentristischen Klassizismus überwindende Konzeption Hölderlins behandelt der Beitrag von Michael Hofmann. Der Verfasser zeigt, wie die Ägäis zum Ort einer pantheistischen Lebensfülle in der Dichtung Hölderlins wird, wie symbolhaft die Insel Patmos im gleichnamigen Gedicht die Verschmelzung der Antike mit der christlich-jüdischen Tradition der Apokalyptik verbindet, wie Homer, der für Hölderlin das höchste Genie der griechischen Dichtkunst war, als lydischer Dichter, angeborene Aspekte des Orientalischen mit der »junonischen Nüchternheit« harmoniert und nicht zuletzt wie Dionysos und Christus als verwandte Boten des Göttlichen konzipiert werden. Mit Ausgangspunkt die hölderlinsche Konzeption stellt Hofmann dar, wie im Begegnungsraum Ägäis Propheten und Rebellen im Laufe der Geschichte gewirkt haben, die sich vom Meer, von den Inseln und von der Landschaft der Ägäis inspirieren ließen und häufig herrschaftskritische Impulse vermittelten, wie Johannes auf Patmos, ein Frommer im Exil, oder der muslimische Rebell Scheich Bedreddin oder der jüdische Pseudomessias Sabbatai Zwi. Der Beitrag schließt mit der Darstellung des Briefromans Liebesmale, scharlachrot von Feridun Zaimoglu (2000), der als Nachgeborener eine »romantische Rebellion« mit Rückbezug auf Hölderlins Hyperion aus dem Geist der Ägäis unternimmt, bei der er die Ägäis als Bewegungsraum (wieder-)entdeckt. Hölderlin steht im Mittelpunkt von zwei weiteren Beiträgen des Bandes. Giorgos Xiropaidis untersucht Hölderlins Hymne Patmos, eines der gewaltigsten Gedichte der deutschen Literatur, und zeigt, dass Hölderlins »deutscher Gesang« (Hölderlin 1951, 172) als ein stilles Nennen der Götter zu fassen ist. Im Zentrum der hier unternommenen Interpretation steht der Nachweis, dass Geschichtsphilosophie, Theologie und Kunstcharakter der Hymne einander bedingen; der Dichter selbst deutet dies in der letzten Strophe der Hymne an. Ihr entnimmt
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Zu bemerken sei, dass sein Romanheld Hyperion auf der kykladischen Insel Tinos geboren wird, ausgebildet wird er in Smyrna, an der ionischen kleinasiatischen Küste. In Kalauria, die heutige Insel Poros, lernt er Diotima kennen, während er das Ende seines Lebens als Eremit auf der Insel Salamis verbringt. Vgl. seine Hymne Der Einzige: »Was ist es, das | An die alten seligen Küsten | Mich fesselt, daß ich mehr noch | Sie liebe, als mein Vaterland?« (Hölderlin 1951, 153)
Einleitung
der Verfasser den deutlichen Hinweis, dass die philosophischen, religiösen, geschichtlichen Fragestellungen in enger Verbindung mit poetischen, ästhetischen, hermeneutischen, rhetorischen Fragestellungen stehen. Deshalb geht es in diesem Text primär um die Frage, wie man mit einem solchen Gedicht umgehen kann, wie man seiner Komplexität gerecht werden kann. Dabei sind die an dem immanent hermeneutischen Charakter der Hymne Hölderlins orientierten Anmerkungen Martin Heideggers von diesem inspiriert und gleichzeitig gegen ihn gerichtet. Die genialen Einsichten, die Heidegger aus seiner denkerischen Zwiesprache mit Hölderlins Dichtung gewinnt, sind von einer unaufhebbaren Blindheit gezeichnet. Seine Deutung läuft oft auf eine Instrumentalisierung der Gedichte Hölderlins für philosophische, quasi-religiöse oder gar politische Zwecke hinaus. Das dichterische Werk droht auf außerdichterische Impulse reduziert zu werden. Die hier vorgeschlagene Interpretation der Hymne Patmos zielt darauf, der Gefahr einer solchen einseitigen Vereinnahmung des dichterischen Werks Hölderlins entgegenzuwirken. Hegel und Hölderlin ist die Studie von Martin Vöhler gewidmet, die Hegels Gedicht Eleusis und Hölderlins Elegie Brod und Wein vergleichend untersucht. Beide, Hegel und Hölderlin, hatten zur Zeit der Französischen Revolution in Tübingen studiert und hofften, alsbald wieder den bewährten Austausch aufnehmen und vertiefen zu können. In gespannter Erwartung schreibt Hegel für Friedrich Hölderlin das freirhythmische Gedicht Eleusis, das sich auf zwei Aspekte konzentriert: auf die dithyrambische Form des großen freirhythmischen Gesangs wie auch auf eine konkrete Bezugnahme zu Hölderlins Dichtung. Hegel beginnt und beendet sein Gedicht mit der Anrufung der Nacht. Diese ermögliche es, die ekstatische Begeisterung wiederzufinden, die auch der Tradition der Mysterien zukommt. Aus der Versenkung in die begeisternde Nacht leitet Hegel das überlegene Wissen der antiken Mysten ab. Hölderlins späte Elegie Brod und Wein greift wiederum auf Hegels zentrales Motiv der Nacht, die das Gedächtnis freisetzt, zurück. Anders als Hegel jedoch, der keine »Spur« der alten Götter mehr zu erkennen vermag, sieht Hölderlin in den Früchten von Brot und Wein Zeichen, die auf einen neuen Göttertag verweisen und Kraft spenden für das Ausharren in der Gegenwart. Der Beitrag von Kosmas Raspitsos fokussiert auf die griechische Reise Martin Heideggers, die sich jedoch in geistiger Begleitung Hölderlins vollzieht. Obwohl sich Heidegger schon seit seiner Schulzeit dem Studium der philosophischen und kulturellen Tradition Griechenlands widmete, besuchte er Griechenland erst spät in seinem Leben, zum ersten Mal 1962. Der Aufsatz untersucht seinen Bericht von dieser Reise in die Ägäis mit dem Titel Aufenthalte, der gewandt Reiseerlebnis und philosophische Einsicht integriert. Ständig präsent ist dabei die Poesie Hölderlins, dessen dichterisches Wort nach Heidegger die hellenische Landschaft jenseits des neuzeitlichen verstellten Horizontes in einem ihr angemessenen Licht erscheinen lässt. Bei diesen Ausführungen handelt es sich um kein bloßes Tagebuch, sondern
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Anastasia Antonopoulou
um einen wesentlichen Beitrag in Heideggers Auslegung der griechischen Philosophie, dadurch dass er die ägäische Landschaft als den Ort einer Epiphanie der Wahrheit inszeniert, und zwar im Sinne seiner eigenen Interpretation des griechischen Begriffes von ἀλήθεια als Entdecktheit, als Einheit von Entbergen und Verbergen. In den Mittelpunkt des literarischen Interesses rückt die Ägäis – wie überhaupt das Mittelmeer – im Rahmen der Moderne der ersten Jahrzehnte des 20. Jhs. Die von Franck Hofmann und Markus Messling herausgegebene Anthologie Leeres Zentrum (2015a) mit literarischen Texten über das Mittelmeer der ersten Hälfte des 20. Jhs. dokumentiert eben dieses neue Interesse. Durch die Texte wird das »Krisenbewusstsein einer mediterranen Moderne« herauskristallisiert, »die nach dem unwiderruflichen Ende des klassizistischen europäischen Humanismus in den Weltkriegen die Frage nach dem Menschenbild neu aufwerfen musste« (Hofmann und Messling 2015b, 265). Die Moderne bestimmt sich u.a. durch die endgültige Entfernung vom klassischen und romantischen Ideal der mitteleuropäischen Italien- und Griechenland-Sehnsucht. Der Bezug zum Süden bleibt jedoch auch im Rahmen der Moderne als Teil der Bestimmungen des Europäischen erhalten, er wird aber mit bestimmten Verschiebungen und mit einer Änderung der Sichtweise verbunden. Die südlichen Landschaften und klassischen Stätten, die im Mittelpunkt der europäischen Antikensehnsucht als Norm der Klassizität standen, werden nun eher zu »Projektionsflächen des Krisenbewusstseins« (Müller 2015). Zugleich verschieben sich die Zentren: vom klassischen Athen, Olympia oder Delphi zu anderen für die Klassik unvorstellbaren Zentren, die Marguerite Yourcenar in ihrem 1940 entstandenen und in der Anthologie von Hofmann/Messling aufgenommenen Essay über den griechischen Dichter Konstantin Kavafis auf markante Weise beschreibt: Kavafis’ Humanismus ist nicht der unsere: Rom, die Renaissance und der Akademismus des 18. Jahrhunderts vermitteln uns ein heroisches und klassisches Griechenlandbild, einen Hellenismus aus weißem Marmor. Der Mittelpunkt unserer antiken Geschichte ist die Akropolis von Athen. Kavafis’ Humanismus führt uns durch Alexandria, Kleinasien, in geringerem Maße durch Byzanz und durch eine komplexe Reihe von griechischen Reichen, die sich immer weiter von dem entfernen, was uns als das Goldene Zeitalter erscheint. (Yourcenar 1997, 16) Im Rahmen dieser zeitlichen und räumlichen Verschiebungen wird die Ägäis in der ersten Hälfte des 20. Jhs. modern (Tournikiotis 2003). Sie wird von den griechischen Modernisten entdeckt und ins Zentrum einer neuen Poetik gestellt (dazu Antonopoulou in diesem Band). Die schon mit Hölderlin begonnene Tendenz der De-Zentrierung der Griechenland-Betrachtung findet im Rahmen der Moderne ihren endgültigen Niederschlag, bei der die Archaik der ägäischen Inseln einen neuen Schwerpunkt bildet. Es gibt Dichter wie Giorgos Seferis (vgl. Antonopoulou
Einleitung
in diesem Band) oder Jannis Ritsos (vgl. Corrado in diesem Band), die durch ägäische Symbole eben das moderne Krisenbewusstsein artikulieren. Und andere, wie Odysseas Elytis, die sich in Korrespondenz mit dem mediterranen Denken der Epoche, das von Denkern wie Albert Camus und René Char, von Dichtern wie Lorca und Ungaretti, aber auch von Künstlern und Architekten wie Le Corbusier kultiviert wird, bemühen, eine ägäische Poetik zu konstruieren (vgl. Pourgouris 2011). Mitte des 20. Jhs. ruft der algerienfranzösische Denker Albert Camus zu einem »mittelmeerischen Denken« auf. In seinen frühen lyrischen Mittelmeeressays (1938-1954), aber auch in seinem philosophisch-politischen Essay Der Mensch in der Revolte von 1951 wird der mediterrane Raum als ein geistiger Raum wahrgenommen, wo vor allem ein humaner Individualismus kultiviert wird (vgl. Camus 2010 und 1969). Das menschliche Zusammensein, die großzügige Bereitschaft für den Anderen einzustehen, das Verwobensein von Ethik und Lebensweise beschreibt Camus als mediterranes Denken.4 Licht und Farben der mediterranen Landschaft formen weiterhin ein Denken des Maßes, der reflektierten Freiheit und des Glücks, das Camus dem Rationalismus des Nordwestens und dem wilden Gang der Geschichte entgegengesetzt (vgl. Lehmann 1998). Seine lyrische, autobiografische Züge aufweisende Prosa verknüpft die poetische mit der philosophischen Reflexion und gründet einen mediterranen Mythos (vgl. Camus 2010). Ursula Mathis-Moser zeigt – auch spätere Essays Camus’ berücksichtigend – wie Camus das mediterrane Denken als ein geistiges Prinzip über nationale Grenzen hinaus versteht und den Mittelmeerraum als einen offenen Raum der Bewegung, der Pluralität und der kulturellen Begegnung zwischen Okzident und Orient als positives Paradigma antithetisch zum eurozentristischen Weltbild beschreibt (vgl. Mathis-Moser 2010). An diese Entwicklungen schließen sich auch griechische Dichter an, allen voran Odysseas Elytis (1911-1996), der in seinem poetischen und essayistischen Werk die Ägäis zum Symbol eines neuen Humanismus hervorhebt und ihn als einen Gegenvorschlag zum westlichen Rationalismus erklärt.5 4
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Charakteristisch heißt es in Der Mensch in der Revolte: »Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt. Dann erwacht die sonderbare Freude, die zu leben und zu sterben hilft und die auf später zu verschieben wir uns fortan weigern.« (Camus 1969, 248) Elytis kennt Camus’ Werk, er bezeichnet es als »die glasklarste und unzerbrechlichste Prosa der zeitgenössischen französischen Literatur« und schlägt jungen Lesern vor, seine lyrischen mediterranen Essays Beachtung zu schenken (Elytis 2919, 23, 24). Der griechische Dichter wird Camus persönlich bei seinem dreijährigen Pariser Aufenthalt (1948-1951) in Paris kennen lernen. Als in den 1940er-Jahren Camus und Char sich entscheiden, eine neue Zeitschrift mit dem Namen Empedocles zu gründen, bitten sie Elytis, einen Beitrag für das erste Blatt zu schreiben. Elytis skizzierte den Plan für einen Essay mit dem Titel Für einen Lyrismus der Sonnenmetaphysik, der aber am Ende nicht verwirklicht wurde (vgl. Elytis 1987, 448f.). Den
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Die modernistische Bewegung vom Zentrum in die Peripherie und die Hervorhebung der Ägäis zu einem neuen Zentrum der Betrachtung veranschaulicht auf prägnante Weise die Modifizierung des Griechenlandbilds des Schweizer Architekten Le Corbusier zwischen seinen zwei Griechenlandfahrten, die er jeweils 1911 und 1933 realisiert hatte. Die erste Griechenlandreise, die der junge Schweizer im Geist seiner westlichen Ausbildung unternimmt,6 wird noch in der Tradition der Reisenden des 19. und des frühen 20. Jhs. konzipiert. Athos, Delphi und vor allem Athen stehen im Mittelpunkt der Reise. Die zwei Wochen seines Athener Aufenthaltes widmet Le Corbusier ausschließlich der Akropolis, er studiert die Ruinen und fertigt Skizzen der Bauten und der sie umgebenden Topografie an. Auf die Akropolis-Erfahrung beziehen sich mehrere Texte Le Corbusiers der 1920er-Jahre, die seine Bemühungen, die klassische Tradition als eine architektonische Tradition des Glanzes und der Einfachheit mit der Erfahrung des Modernen zu harmonieren, dokumentieren.7 Die Wende zu einer neuen und modernen Wahrnehmung des Griechischen vollzieht sich während seiner zweiten griechischen Reise (1933) bei der Le Corbusier – am Rande eines internationalen Athener Kongresses zusammen mit einer Anzahl von Teilnehmern – die Inseln Mykonos, Delos, Santorini, Seriphos, Siphnos und Ägina besucht. Diese zweite Reise fungiert wie eine Offenbarung für den Architekten und markiert eine Verschiebung des Interesses von der Akropolis und von einer »künstlerischen und literarischen Konventionen« unterliegenden und »kulturell vermittelten« Griechenlandannäherung (Moos 1999, 28) zur zeitlosen weißen Architektur der Kykladen (vgl. Moos 1999, 25; Fröbe 2016, 40). Die Ägäis wird für ihn zu einer wichtigen Inspirationsquelle »genau in dem Moment, als er begann nach etwas anderem zu suchen und anders zu bauen als bisher« (Fröbe 2016, 40). Eine braudelsche longue durée feststellend bemerkt er: »Wir besuchen die Inseln, die Kykladen. Ihr tiefes tausendjähriges Leben ist unberührt geblieben. Wir entdecken ewige Häuser, lebendige, heutige Häuser, die zurück in die Geschichte gehen, und deren Formen wie diejenigen sind, die wir seit 10 Jahren imaginiert haben.« (Le Corbusier 1964, 52f.)8 In mehreren kleineren Texten, publiziert zwischen 1934 und 1939, rühmt Le Corbusier das mediterrane Gefühl und das
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Terminus ›Sonnenmetaphysik‹ wird Elytis jedoch weiterentwickeln und in den Mittelpunkt seiner Poetik stellen. Die Reise war Teil einer Grand Tour, die Le Corbusier zusammen mit dem Kunstgeschichtsstudenten August Klipstein unternimmt. Die wichtigsten Stationen dieser längeren Bildungsreise waren Serbien, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Griechenland und Italien. Es handelt sich also um eine Reise zur geistigen Reifung. Drei Jahre nach der Reise (1914) entstehen die Texte Athos und Le Parthenon. Beide wurden erstmals in seiner Schrift Le voyage d’orient von 1966 veröffentlicht. Ein großer Auszug von ›Le Parthenon‹ wurde unter dem Titel Sur l’Acropole schon vorher publiziert (vgl. Le Corbusier 1925, 63-71). Zur Akropolis-Wahrnehmung Le Corbusiers vgl. grundlegend Fröbe 2016. Wenn nichts anders angegeben stammen die Übersetzungen der Zitate von der Verfasserin.
Einleitung
kreative Potenzial, das in diesem geografischen Raum verborgen ist.9 Die ägäische Erfahrung vertieft seine Sicht für das Mediterrane, die er schon bei seinem Besuch in Nordafrika zwei Jahre zuvor (1931) gewonnen hatte. Sie wird die Grundlage für sein archaisierendes »mediterraneismo« seiner reifen Phase bilden (vgl. Moos 1999, 25 und 28). Der Ägäis-Besuch offenbart ihm eine Architektur des Maßes, die das Alltägliche mit dem Göttlichen harmoniert und der natürlichen Landschaft völlig integriert ist, vor allem aber eine Architektur der menschlichen Widerspiegelung: »Ihre Häuser haben keine Geschichte, keine Entwicklungsstadien. Sie stellen ewige, ewigdauernde, unwandelbar, lebendige, wahre menschliche Widerspiegelung dar.« (Le Corbusier 2009, 160) Mit der oben beschriebenen Mythisierung der Ägäis in der griechischen Moderne beschäftigt sich der Beitrag von Anastasia Antonopoulou. Die Ägäis wird in der Nachkriegszeit, besonders in den Kreisen der sogenannten »Generation der 30er-Jahre« ästhetisiert und als Symbol von alternativen Kunst- und Kulturwerten wahrgenommen, und so wird sie ins Zentrum einer neuen Poetik gestellt. Das griechische Konzept befand sich stets im Dialog mit der internationalen Avantgarde und war Teil eines breiteren mediterranen Ideals der Zeit. Der Aufsatz untersucht diese Fragen anhand der Dichtung und der theoretischen Äußerungen von Odysseas Elytis und Giorgos Seferis. Vergleichend zu den griechischen Dichtern wird im letzten Teil der Arbeit die Ägäis-Poetik des DDR-Lyrikers Erich Arendt behandelt. Die Entfernung von Athen und die Hervorhebung einer zeitlosen archaischen Ägäis stellt für alle drei Dichter eine moderne Entscheidung dar. Sie entwerfen jedoch verschiedene Konzeptionen der Ägäis. Elytis kreiert mit ägäischen Symbolen eher eine poetisch humane Welt als Antwort auf die zunehmende Entfremdung und Technokratisierung seiner Zeit. Mittels der mythisch-ägäischen Symbolik veranschaulichen dagegen Seferis und Arendt die Spaltungen des poetischen Ich, die moderne Leere und das zeitlos schmerzhaft existenzielle Gefühl. Die formende Kraft der ägäischen Landschaft (Arendt) ist in der Dichtung aller drei zu spüren. Die Wahrnehmung des Ägäischen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. wird mit Beiträgen zu Christa Wolf, Erasmus Schöfer und Erich Arendt vertreten und mit Begriffen wie Essenzialität und Kulturkritik angenähert. In den stark politisierten 70er- und 80er-Jahren wird die Ägäis zum Ort der Projektion von einem alternativen – zum dominanten nordwestlich-europäischen – Kulturmodell. Auf den ägäischen Inseln und in Matala auf Kreta werden Hippies und enttäuschte AussteigerInnen mit alternativen Lebensmodi experimentieren. Diese neue Leidenschaft für das Griechische vergleicht Sergio Corrado mit der Griechenland-Idealisierung
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Diese Texte, in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht, befinden sich im griechischen Band Le Corbusier, Texte über Griechenland versammelt (vgl. Le Corbusier 2009).
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des deutschen 18. Jhs. und lokalisiert die Analogien in der Suche nach Essenzialität, eine Tendenz, die auch auf das mediterrane Denken der ersten Hälfte des 20. Jhs. bezogen werden könnte. Im Rahmen der westdeutschen Aussteigerthematik behandelt Jürgen Pelzer Erasmus Schöfers Roman Tod in Athen (1986), der der politischen Situation in der BRD sehr kritisch gegenübersteht. Bei beiden Aufsätzen von Corrado und Pelzer wird Griechenland keinesfalls als ein eindeutig positivutopisches Beispiel behandelt. Corrado verbindet die Thematik der Essenzialität auch mit literarischen Darstellungen der Lebensbedingungen auf ägäischen Inseln der Verbannung während der griechischen Militärjunta (1967-1974), die eine andere dunkle Seite des Ägäischen dokumentieren. Pelzer auf der anderen Seite bleibt nicht bei der ägäischen Sonnenflucht – so der modifizierte Titel von Schöfers Roman in der Ausgabe von 2005 –, sondern diskutiert die auch im Roman dargestellte politisch unruhige Situation in Griechenland um 1980. Ebenso wird in den 1980er-Jahren und im Umfeld ihrer Griechenlandreise Christa Wolf bei ihrer Kritik der abendländischen Zivilisation kritisch der Antike gegenüberstehen (dazu Albrecht in diesem Band). Die »Barbarei der Neuzeit« beginnt schon mit der »Verherrlichung eines Raubkrieges« bei Homer (Wolf 1983, 19). Fern von einer Idealisierung der Antike ist auch die Ägäis-Lyrik Erich Arendts,10 die im Anschluss an seine Ägäis-Reise in den späten 1960er-Jahren entsteht. Die ägäische Landschaft bietet ihm Anregungen, über existenzielle Fragen nach dem poetischen Ich und nach der Zeit bzw. der Zeitlosigkeit zu reflektieren. Konkreter zu den Beiträgen: Sergio Corrado untersucht den Begriff der Essenzialität hauptsächlich in Bezug auf Ägäis-Wahrnehmungen der zweiten Hälfte des 20. Jhs. Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass der Idealisierung der klassischen griechischen Kultur in der (besonders deutschen) Literatur und Philosophie ab der zweiten Hälfte des 18. Jhs. und der Leidenschaft für das moderne Griechenland vieler junger Menschen, die als AussteigerInnen auf der Suche nach alternativen Lebensmodellen in den
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Zu bemerken sei hier, dass das Ägäis-Bild Erich Arendts in seiner essayistischen Prosa differenziert erscheint, die vielmehr auf Harmonien angelegt ist. Die zentrale Erkenntnis ist hier die Ambivalenz der ägäischen Landschaft, die er als voller »Härte und Schönheit« (Arendt und Hayek-Arendt 1967, 5) erlebt. Sie habe entsprechend auf das Leben und auf den Charakter der Menschen gewirkt, sie gleichermaßen bedroht und gestärkt: »In dieser alten, jungen Landschaft erwuchs in einem schweren Prozess voller Gefahr, Tragik, Scheitern und endlosem Mühen ein Gelingen, ein Maß für das Leben, die Dinge und das Handeln, das ganz des Menschen ist. Alles ursprünglich Wilde, Elementare, triebhaft Dunkle verschmolz ganz mit einer menschlich hellen Geistigkeit.« (Ebd., 8) Vor allen Dingen erfährt er den ägäischen Raum als Ort, wo die Dimensionen der Zeit zusammenfallen: »Wie nirgends sonst haben in dieser ältesten Mittelmeerlandschaft Gegenwart und Vergangenheit solch befruchtende Einheit vollzogen; […]« (Ebd.) Neben der Natur hebt Arendt die humanisierenden Potenzen der uralten ägäischen Kunst vom minoischen Zeitalter bis zur archaischen kykladischen Kunst als Mittel zur Überwindung der Disharmonien der Geschichte hervor.
Einleitung
70er- und 80er-Jahren auf einer der griechischen Inseln der Ägäis ihren ›sentimentalischen‹ Traum ausgelebt haben, ein gemeinsamer Aspekt eigen ist, nämlich die Suche nach Essenzialität. Diese erweist sich als ästhetische und anthropologische Komponente des ägäischen Lebensraums, dessen besonderes Licht Landschaften, Gegenständen, Lebensformen und Wohnräumen etwas Paradigmatisches verleiht. Diese Hypothese wird im Beitrag an verschiedenen Texten überprüft: am Werbetext einer italienischen Schmuckfirma, an Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst und an Goethes Werther, an Yourcenars Rekonstruktion von Hadrians Griechenlanderlebnis, an DeLillos und Seferis’ Reflexionen über das ägäische Licht sowie an Fioretos’ Roman Mary (2015) und an zwei Gedichten Ritsos’ (1970) – die letzten beiden zeugen von der tragischen Essenzialität der Lebensbedingungen in einem Internierungslager bzw. Verbannungsort auf ägäischen Inseln während der Diktatur der Obristen. In solchen unterschiedlichen Beispielen des Ägäis-Diskurses fungiert dieser Lebensraum als literarisches und existentielles Labor zur Konstruktion verschiedenartiger, und doch im Rahmen einer Kulturgeschichte der Ägäis miteinander kompatibler Poetiken der Reduktion von Komplexität. Jürgen Pelzer beschäftigt sich mit dem 1986 erschienenen Roman Erasmus Schöfers Tod in Athen, der aktuelle Ereignisse im Griechenland um 1980 mit der spezifisch westdeutschen Aussteigerthematik, die nach dem Auslaufen der Studentenbewegung um 1973/1974 en vogue war, verbindet. Der Roman erschien 2005 erneut, diesmal unter dem Titel Sonnenflucht und als Teil einer großangelegten Tetralogie zur Geschichte der politischen Linken nach 1968 mit dem Titel »Kinder des Sisyfos«. Die Hauptakteure des Romans, Viktor Bliss und dessen Freund Manfred Anklam, hatten sich im Kampf gegen die rechtspopulistische Springerpresse politisiert, gingen danach jedoch verschiedene Wege: Der aus der Arbeiterklasse stammende Anklam wurde erfolgreicher Betriebsrat, Bliss ist dagegen vom seit 1972 praktizierten Berufsverbot betroffen und kann deshalb nicht die geplante Lehrerkarriere einschlagen. Sein Versuch, im »Land der vergessenen Verbrechen« demokratische Aufklärung zu leisten, scheitert. Nach aufreibendem, erfolglosem Kampf flieht er schließlich auf die Ägäis-Insel Leros. Doch die »archaische Verzauberung«, die er dort erlebt, die Naturnähe und die einfache, weitgehend unentfremdete Lebensweise, löst keineswegs seine persönliche Lebenskrise. Auf dem Rückweg nach Deutschland lernt er zuvor in Athen Frauen und Männer kennen, die in ihrem politischen Kampf für eine befreite Gesellschaft auch Niederlagen verarbeiten und demonstrieren, wie zentral vor allem die Tugend der Solidarität ist. Auch Bliss beginnt sich wieder zu engagieren, nachdem er die Umstände der Ermordung einer jungen Aktivistin erfährt und deren enge Freundin Katina kennenlernt, für die der Kampf für eine Befreiung auch im Persönlichen stattfindet, etwa im Kampf gegen das Patriarchat.
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Monika Albrecht behandelt Christa Wolfs Griechenlandreise als Kritik der abendländischen Zivilisation. In Christa Wolfs Frankfurter Vorlesungen fungieren Griechenland und »das Meer, die Ägäis […], die tiefblau und ruhig atmend daliegt und alles, was wir gewohnheitsmäßig weiter reden, unwesentlich macht« (Wolf 1983, 49), als Reflexionsraum für eine westlich-abendländische Zivilisation, deren destruktives Potenzial auch schon in der Zeit von Wolfs Griechenlandreise im Frühjahr 1980 nicht mehr zu übersehen war. Im Brückenschlag von mehr als drei Jahrzehnten fragt der Beitrag von Monika Albrecht nach weltanschaulichen Veränderungen seit Wolfs Kassandra-Projekt, insbesondere im Hinblick auf ihre zentrale Denkfigur, die angesichts eines vorstellbaren Endes der Menschheit nach den Verfehlungen der westlichen Zivilisation als ganzer und nach einer mutmaßlichen westlichen Logik fragt, die von Homer geradewegs zur »Barbarei der Neuzeit« führt (Wolf 1983, 23). Bei aller Nähe zu einflussreichen Denkmustern der Gegenwart weicht Christa Wolfs Zivilisationskritik jedoch in entscheidenden Punkten von jenem Generalverdacht ab, mit dem ›die‹ westliche Welt von vielen als Quelle allen Übels betrachtet wird: Anders als heutige Positionen, für die das westliche Denken nicht nur mit einer gewissen Logik, sondern auch notwendig zu Zerstörungen führt, spricht Wolf von folgerichtigen, jedoch vermeidbaren Phänomenen (Wolf 2000a, 228f.). Entsprechend ist bei ihr auch eine Denkbewegung zu beobachten, die von der Suche nach vorstellbaren Alternativen oder der Hoffnung darauf »zu dieser Barbarei« getrieben ist. Und vor allem kommt Wolf von der nach wie vor hochaktuellen Frage, »was eigentlich […] diese Kultur gegeben [hat], daß sie zu überleben verdient« (Wolf 2000b, 221), zu der Einsicht, dass Selbstvergewisserung und Rückbesinnung auf das Positive dieser Kultur, ohne ihre negative Seite aus dem Blick zu verlieren, Teil der »Friedensvorbereitung« und »Kriegsverhinderung« sein muss. Erich Arendt steht im Mittelpunkt von Heinz-Peter Preußers Studie. Die griechische Ägäis erscheine bei Erich Arendt beseelt, schreibt Heinz-Peter Preußer in seinem Aufsatz, und stehe mit dem lyrischen Ich in Zwiesprache. Dieses antworte durch die pathische Schau und gerate so bis in kosmogonische Tiefenschichten. Das Meer werde in metaphorischer Übertragung gar zum Auge des Planeten. Doch mit der Referenz auf geologische Schichten oder Lichtspiegelungen – und entsprechende kulturgeschichtliche Reflexionen – werde insbesondere das Spätwerk des Dichters nicht allein nihilistisch eingefärbt, sondern führe zur Aufarbeitung und Selbstanklage gegenüber dem historischen Prozess. Der Kommunist revidiere sich selbst und seine Biografie. Das verleihe der hermetischen Dichtung des DDR-Autors eine zusätzliche Schwere, aber auch Aufrichtigkeit. Die Kritik der Verdrängung der Matriarchate, eine Klimatheorie der Kulturentwicklung, die Feier des dionysischen Rauschens oder der kretischen Frühzeit werden so ihrerseits einbezogen in die Prüfung der eigenen Verführbarkeit, des Verrats und der Sühne: bis an den Nihilismus des großen ›Umsonst‹. In der dichterischen Reduktion auf das
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›Total-Wort‹ mag dieser tief empfundene Pessimismus sich noch verrätseln, doch in der Analyse tritt er deutlich zutage als magisch aufgeladene Bilderschau in kosmischer Korrespondenz, der sich in Ur- und Frühgeschichte bereits manifestiert – und dem das moderne, historisch verantwortliche Subjekt, hochartifiziell sich beiordnet. Archaik und geologischer Horizont verschmelzen so, lassen das offene Auge des Planeten ›starrend‹ verharren – ›von Zeit und Helle‹. Diese Bildwirkung der Erstarrung forciere sich im Spätwerk noch einmal – angesichts der Zerrüttung des Planeten und der gesteigerten Kulturkritik des Autors. Im Bereich des Mythos und der Mythosrezeption bewegen sich zwei Beiträge des Bandes. Alexandra Rassidakis fokussiert in ihrem Beitrag auf zwei mythologische Missverständnisse, auf zwei Stürze ins Meer, welche zur Namensgebung der Ägäis und des Ikarischen Meeres geführt haben. Aegeus stürzt sich in die Wellen vor der Küste von Attika, als er fälschlicher Weise aus den schwarzen Segeln schließt, dass sein Sohn Theseus auf Kreta ums Leben gekommen ist. Es handelt sich um ein tragisches Missverständnis, denn Theseus, der seine Mission, Athen von dem Tribut des König Minos zu befreien, erfüllt hat und als Sieger zurückkehrt, versäumte in seiner Freude, wie vereinbart die weißen Segel zu hissen. Ein weiterer begeisterter Sohn, Ikarus, hingerissen von dem Erlebnis des Fliegens, verkennt die Weisheit seines Vaters, fliegt immer höher, das Wachs seiner Flügel schmilzt und er stürzt ins Meer. Allerdingst lassen sich diese Geschichten auch als mythologische Inszenierungen von Generationenkonflikten lesen: Im Fall von Aegeus glückt es seinem Sohn, ihn zu stürzen und an seiner Stelle König von Athen zu werden. Der Kunstgriff mit den Segeln erscheint – so gelesen – als eine weitere, notwendige Etappe in der glorreichen Karriere des skrupellosen attischen Helden. Auch Ikarus glückt die Rebellion gegen seinen Vater, allerdings zu einem hohen Preis. Er schlägt die weisen Ratschläge von Dädalus buchstäblich in den Wind und erkauft sich so seine Freiheit von der väterlichen Autorität. Der Beitrag widmet sich den zahlreichen Lesarten dieser mythologischen »Missverständnisse« und zeigt anhand von ausgewählten Bildern und Texten deren »Produktivität« auf, da sie nicht nur besagten Gewässern ihre Namen gaben, sondern seit der Antike als Inspiration für Kunst und Literatur dienten. Die mythische Figur von Poseidon, so wie sie in der Antike formiert wurde und bei Franz Kafka und Jorge Louis Borges inszeniert wird, steht im Zentrum des Beitrags von Katerina Karakassi. Fokussiert wird auf Kafkas Kurzerzählung Poseidon und auf Borges’ kleinen Prosatext Der Poseidon-Tempel, der nach dem Besuch des Poseidon-Tempels auf Kap Sounion 1984 verfasst wurde. Der Aufsatz entschlüsselt die narrativen Strategien, die von beiden Autoren eingesetzt werden, um den Mythos zu variieren und ihn mit neuen Bedeutungen aufzuladen. Dabei wird auch rudimentär die komplizierte Beziehung zwischen Mythos und Logos in der Mo-
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derne und in der Postmoderne am Beispiel von Kafka und Borges besprochen, um die Literatur in ihrer Funktion als Refugium des Mythos zu explorieren. Verschiedene Aspekte der Ägäis-Reiseliteratur bieten vier Beiträge des Bandes. Anders als Italien, das im 18. und 19. Jh. von Reisenden und Schriftstellern auf der Suche nach dem klassischen Ideal stark besucht wird, werden die Voraussetzungen für eine sichere Griechenlandreise erst im späten 19. Jh. geschaffen. So mussten sich Griechenlandverehrer wie Winckelmann oder Goethe mit einer mit der Seele suchenden Annäherung begnügen. Es gibt jedoch Reisende im 19 Jh., die eine Fahrt in den ägäischen Archipel gewagt haben. Ludwig I. von Bayern, Jakob Philipp Fallmerayer, Εmanuel Geibel und Ernst Curtius, denen entsprechende Beiträge des Bandes gewidmet sind, sind einige von ihnen. Zunächst aber ein Beitrag zu frühen Zeugnissen des ägäischen Raumes in Pilgerberichten des Mittelalters. Julian Happes und Julian Zimmermann untersuchen in ihrer Studie Fragen der Raumwahrnehmung und -konstruktion bezüglich der Ägäis in spätmittelalterlichen Jerusalempilgerberichten. Im 15. Jahrhundert etabliert sich, wenn auch nur für kurze Zeit, die Pilgerreise in das Heilige Land als Vorform des ›Pauschaltourismus‹. In bis dahin ungekannt großer Anzahl machten sich Pilger über das Mittelmeer ins Heilige Land auf. Auf ihrer Reise durchquerten sie auch die südliche Ägäis. Der Beitrag greift exemplarisch den Pilgerbericht des Basler Ritters Hans Bernhard von Eptingen heraus, um – flankiert von vergleichenden Blicken in verwandte Berichte – anhand dieser spezifischen Quelle die literarische Beschreibung der zu durchreisenden Ägäis zu analysieren. Basis dieser Analyse ist eine ausführliche Beschäftigung mit raumanalytischen Zugängen, aus denen ein analytischer »Dreischritt des Raumes« abgeleitet wird, dem folgend der Beitrag die literarische Beschreibung der Ägäis in einen geografischen, einen politischen und einen mythischen Raum ›Ägäis‹ unterteilt. Diese Raum-Dreiteilung zeigt sich dabei als vorrangig kollektive Form der literarischen Raumkonstruktion, die die individuelle Erfahrung des einzelnen Pilgers in dessen Beschreibung größtenteils überlagert. Stefan Lindinger beschäftigt sich mit der Ägäis-Reise des glühenden Philhellenen Ludwig I. von Bayern, Vater des jungen griechischen Königs Otto, der im Februar 1836 im Rahmen eines mehrmonatigen Staatsbesuches die Kykladen besuchte. Über zwanzig Jahre später veröffentlichte der Altertumswissenschaftler und Archäologe Ludwig Ross, der während dieser Ägäis-Reise als sprach- und landeskundiger Begleiter Ludwigs I. fungiert hatte, einen Bericht über die Inselreise des bayerischen Monarchen, dessen Analyse im Mittelpunkt des Beitrags steht. In seinen Reiseberichten, die mit dem Titel Reisen auf den griechischen Inseln des ägäischen Meeres zwischen 1840 und 1852 in vier Bänden erschienen, verbindet Ross die Beschreibung archäologischer Fundstätten mit Beobachtungen zu Land und Leuten, mit volkskundlichen Informationen und Einschätzungen der gesellschaftlichen Situation im neuen griechischen Staat im ersten Jahrzehnt der Herrschaft
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König Ottos. Ein Hauptpunkt der Ausführungen Ludwig Ross’ in Bezug auf den Ägäis-Aufenthalt des bayerischen Monarchen besteht in der Schilderung der Art und Weise, wie der König auf den Inseln jeweils empfangen wird. Dabei zeigt sich, dass die Einheimischen vom Besuch Ludwigs I. durchwegs begeistert sind, dass es aber auch immer wieder zu interkulturellen Missverständnissen kommt. Ross stellt das, was er auf der Reise sieht und erlebt, immer in einen Zusammenhang mit den aktuellen Verhältnissen im jungen Staatswesen Griechenlands, einem Staat, mit dem er sich identifiziert und den er als Heimat empfindet. Wenn er rückständig oder auch ›orientalisch‹ anmutende Szenen beschreibt, so geschieht dies stets mit dem Hinweis darauf, dass die dargestellte Situation aufgrund der jahrelangen Herrschaft durch das Osmanische Reich zwar im Moment noch so sein mag, dass das junge Staatswesen aber rasch Fortschritte macht und letztlich einen westlicheuropäischen Standard erreichen wird. Der Beitrag von Aglaia Blioumi widmet sich den Athos-Kapiteln des Reiseberichts Fragmente aus dem Orient (1845) von Jakob Philipp Fallmerayer. Die Studie versteht sich als Beitrag zur Alteritätsforschung der im 19. Jh. entstandenen Reiseliteratur über Griechenland. Der Fokus wird auf die literarische Beschaffenheit von Fallmerayers Bericht gelegt, wobei Funktion und Darstellungsmodi, wie z.B. binäre Reflexionsstrukturen, konfigurierte Episoden und Naturnarrative untersucht werden. Die Verfasserin zeigt, wie die Athos-Kapitel zur anderen Reiseliteratur des 19. Jhs. gehören, die im fallmerayerschen Kontext nicht nur Abkehr von der Antikenverklärung bedeutet, sondern vielmehr die Gattung des literarischen Reiseberichts unterstützt, da hauptsächlich auf die Reiseerfahrungen fokussiert wird. Im Mittelpunkt des Beitrags von Konstantina Tsonaka steht die Untersuchung der gemeinsamen fünfwöchigen Ägäis-Reise im Sommer 1839 von zwei jungen deutschen Philhellenen, des Dichters Εmanuel Geibel und des Historikers, Topografen, Archäologen und Führers der Ausgrabungen zu Olympia Ernst Curtius. Geschildert wird ihr gemeinsamer Weg vom Besuch des gleichen Humanistischen Lübecker Gymnasiums, über das Interesse beider an den klassischen Studien bis hin zu ihrer Hauslehrerrolle in Athen in den Kreisen König Ottos, gekrönt durch ihre Ägäis-Wochen. Fokussiert wird zunächst auf die Poetisierung der Ägäis, wie sie in ihren Gedichten dokumentiert wird. Manche von diesen Gedichten entstehen schon während der Reise und haben »den Reiz unmittelbarer Empfindung«, andere dagegen später, im Nachklang der Jugendfahrt. Auf den Vortrag von Ernst Curtius Naxos, die vielseitigen Jugendbriefe beider in die Heimat, ihre Tagebücher und weitere Schriften wird ebenfalls fokussiert. Sie ergänzen das Bild der Ägäis, das sich nicht nur auf die Antike beschränkt, sondern die mittelalterliche Geschichte und das zeitgenössische Volksleben der Inselbewohner mitberücksichtigt, und bezeugen das Spektrum der sich daraus ergebenden Inspiration für die spätere Entwicklung beider in Bezug auf das Griechentum. Zu betonen sei, dass auch der Kontrast zwischen der südlichen Magie der griechischen Inselwelt und
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dem Norden zum Bestandteil ihrer Überlegungen wird. Die Ägäis, wo »glücklichere Menschen in ungestörtem Frieden und reineren Genüssen wohnen« (Curtius), erhält Züge einer Utopie. Mit zwei weiteren Aspekten des Ägäischen, nämlich die Ägäis als literarischer Abenteuerraum und die Ägäis als Schauplatz eines modernen und auf das Kriminalgenre sowie auf die Reiseliteratur rekurrierenden politischen Romans beschäftigen sich die Beiträge von Hans Schlumm und Marieke Krajenbrink. Hans Schlumm zeigt in seinem Beitrag an zwei verschiedenen literarischen Texten aus verschieden Epochen, wie die Ägäis als ein literarischer Abenteuerraum dargestellt wird. In Lord Byrons Text Der Korsar (1814) ist die Ägäis ein Fantasieraum, in der er die Geschichte seines Helden Conrad, des Anführers der Seeräuber, verortet. Seine Geschichte oszilliert in romantischer Manier zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen. Dagegen stellt der erfolgreichste Griechenlandroman der deutschsprachigen Literatur Raubfischer von Hellas (1939) von Werner Helwig die Ägäis sehr realistisch dar. Der Autor hat seine genauen Kenntnisse von Alfons Hochhauser erworben, der schon viele Jahre als Fischer im Pilion lebte. Diese Kenntnisse und die Erzählungen Hochhausers hat der Autor zu einem spannenden Roman über die Raubfischer, die mit Dynamit fischen, literarisch verarbeitet. Marieke Krajenbrink untersucht die Figurationen des Meeres in Gerhard Roths Roman Der Berg (2000). Im Roman sucht ein Wiener Journalist in der nordöstlichen Ägäis nach einem serbischen Dichter, der Augenzeuge des Massakers von Srebrenica wurde und sich nun auf dem Berg Athos versteckt halten soll. Der Beitrag analysiert die narrativen Funktionen des Meeres als Handlungsraum, Akteur und Stimmungs- und Symbolträger sowie die ausgeprägte Intertextualität, in der der Kriminalroman, der Reiseroman und insbesondere Homers Odyssee als Vorlagen eines selbstreflexiven Erzählens eingesetzt werden. Thematisch kreist dies um Fragen der Wahrnehmung und der Perspektivierung der Wahrheit und setzt sich vor dem Hintergrund der postjugoslawischen Kriege mit der Problematik der Repräsentation von Kriegsgewalt bzw. des Verschweigens und Fälschens von Kriegsverbrechen auseinander. Es wird gezeigt, wie das Meeresmotiv unter Bezugnahme auf Theo Angelopoulos’ Film Der Blick des Odysseus zu einer Erkundung geschichtsphilosophischer Fragen führt und wie Wahrnehmungsarten aus Film, Fotografie, Ikonenmalerei sowie das Fenstermotiv die Repräsentationthematik weiter konturieren. In einer an James Joyces’ Ulysses geschulten Abwandlung von Homers »weinfarbenem« Meer erscheint das Meer bei Roth in schillernder Farbenvielfalt jedes Mal anders und wird zum Inbegriff der steten Bewegung unter wechselnden Perspektiven. So erfolgt am Ende kein homerischer Nostos, wohl aber ein potenziell hoffungsvoller Ausblick auf einen Neuanfang.
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Der Band schließt mit einem politikwissenschaftlichen Beitrag. Martin Schwarz untersucht die Rolle der Ägäis als Testfall für die Gestaltungsmöglichkeiten einer Europäischen Union im Krisenmodus. Die Europäische Union steht – wieder einmal – vor einer Zäsur. Nach den Erfahrungen mit der Euro-Rettung (Finanzkrise seit 2007), der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 und angesichts des Brexits muss die 2019 ins Amt gekommene Kommission Antwort auf die drängenden Fragen finden: Was hält die EU im Inneren (noch) zusammen? Was kann sie ihren Mitgliedstaaten und den Beitrittskandidaten anbieten? Wie will sie nach außen hin wahrgenommen werden? Bezugspunkt ist der Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2009 in Kraft trat und somit einen Integrationsstand anzeigt, der nach dem Scheitern des Verfassungsprojektes (2005) bestenfalls als Minimalkonsens zwischen den ratifizierenden nationalen Regierungen gilt. Das seit 2017 vorliegende und vom damaligem Kommissionspräsidenten Juncker geprägte Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union scheint hingegen schon wieder Makulatur zu sein. Daher ist es nun an seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen, diesen Minimalkonsens mit Leben zu füllen. Sie kann dabei auf die Erfahrungen ihrer Vorgänger aufbauen, welche gezeigt haben, wie sich die vertraglich limitierten Governance-Kapazitäten dieser Kommission soweit optimieren lassen, dass die Mitgliedstaaten die ihnen offerierten neuen Gestaltungsmöglichkeiten ergreifen und den Integrationsprozess fortschreiben. Legt man die unterschiedlichen Zuschreibungen, die im Hinblick auf die Kommission vorgenommen werden, übereinander, ergeben sich interessante Schnittmengen mit ganz anders gelagerten Diskussionssträngen, da die Kommission als Anpassungsregime ihre integrative Kraft aus dem Gemeinsamen Besitzstand bezieht. Der Beitrag diskutiert, inwiefern sich solche Gedankenspiele auf die Ägäis und damit auf die Praxis in einem Raumausschnitt übertragen lassen, der neben Griechenland auch die Türkei einschließt und noch dazu u.a. durch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 konflikthaft vorgeprägt ist. Von einem neuen mediterranen Denken ist auch zu Beginn des 21. Jhs. im Rahmen der Globalisierungsdebatten, der andauernden Finanzkrisen und der Flüchtlingskrise der letzten Jahre die Rede. So versucht der Soziologe Franco Cassano die Mittelmeerutopie Camus’ aus heutiger Perspektive weiterzuführen (vgl. Cassano 2011 und 1996). Cassano zufolge wäre die Aufwertung des südlichen Denkens die einzige Möglichkeit für den Nordwesten, aus einer gefährlichen Krisensituation herauszukommen. Die westliche Weltanschauung – stellt der italienische Soziologe fest – entfernt sich immer mehr von ihrem mittelmeerischen Ursprung; unter dem Diktat des ökonomischen Rationalismus verabsolutiert sie Werte wie Effektivität, Schnelligkeit, unendliches Wachstum und Profit. Aus der Ethik des Kapitalismus sind so die in den uralten Kulturen des Südens geprägten Werte des Maßes, der menschlichen Rhythmen, der Lebensweisheit und der Solidarität verbannt. Der
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Süden erscheint aus der rationalistisch-kapitalistischen Perspektive des Nordens als rückständig, langsam und faul und sollte daher bekämpft werden. Wichtig für Cassano wäre nun eine neue Selbstbehauptung des Südens, die Verteidigung seiner Andersartigkeit und Autonomie – und vor allem notwendig sei die Änderung der Perspektive: Die Welt sollte neu vom Süden her betrachtet werden. Das würde nichts anderes bedeuten, als die auferlegte Ethik des rücksichtslosen Wachstums kritisch zu hinterfragen, Werte wie Entschleunigung, die mit wesentlichen Aspekten des heute gefährdeten Humanen (Liebe, Geselligkeit, Reflexion) verbunden sind, wieder ins Denksystem einzuführen. Es handelt es sich dabei um keine Idealisierung des heutigen Südens, um keine Verabsolutierung der Langsamkeit, sondern um eine grundlegende Kritik am kulturellen Modell des Nordens, um den Vorschlag für ein neues Europa. Das theoretische Programm des mediterranen Denkens, sagt Cassano (2011, 62), ist klar: »dieses Bild dekonstruieren, die lange geschichtliche Periode beenden, während welcher der Süden von anderen gedacht wurde, und ihm die antike Würde als Subjekt des Denkens zurückgeben.« Auch Camus’ Idee der Pluralität setzt Cassano fort. Der mediterrane Raum kann nur als ein Raum der Verbindung, der Vielheit und der Kontakte gedacht werden. Ob diese Gedanken, mit denen sicherlich griechische Modernisten wie Odysseas Elytis einverstanden wären, realisierbar sind, sei dahingestellt. Das Bild der Ägäis bleibt heute von einer Barbarei der Neuzeit verletzt, die blauen Gewässer unter schönem Sonnenhimmel werden oft zum Massengrab von verzweifelten, eine neue Heimat suchenden Flüchtlingen. Der Appell von Christa Wolf nach Frieden und Kriegsverhinderung zur Beendigung der Barbarei der westlichen Zivilisation scheint heute aktueller als je zu sein. Der vorliegende Band geht auf eine internationale Tagung im Rahmen einer vom DAAD geförderten Hochschulpartnerschaft der Universität Vechta mit der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen zurück, die vom 21. bis 23. November 2019 unter dem Titel Die Ägäis in Literatur, Geschichte, Kultur, Mythos in Athen stattfand. Der Projektleiterin Monika Albrecht möchte ich an dieser Stelle für ihre ständige Unterstützung herzlich danken. Für konstruktive Gespräche und Anregungen möchte ich Sergio Corrado danken sowie den Kolleginnen, Kollegen und Studierenden am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Athen, die das Projekt unterstützt haben. Herzlich möchte ich mich zum Schluss bei allen Beiträgerinnen und Beiträgern zu diesem Band für die schöne Zusammenarbeit bedanken. Für das sorgfältige Korrekturlesen schulde ich Michael Stork besonderen Dank.
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Von Hölderlin zu Zaimoglu Die Ägäis als Begegnungsraum der Kulturen und Religionen Michael Hofmann
Die Ägäis als Begegnungs-, Bewegungs- und Zwischenraum zwischen Europa und Asien Die Ägäis kann allgemein als ein Sehnsuchtsraum der deutschen Literatur bezeichnet werden, wobei insbesondere das Werk Hölderlins in dieser Hinsicht wichtige Impulse liefert. Die Ägäis erscheint in seinem Werk als ein Raum der Reflexion des Göttlichen und der Verbindung von griechischer Antike und »Orient«. Im Zuge des Postcolonial Turn geht es darum, Europa und insbesondere Griechenland nicht in Opposition zum »Orient« und zu Kleinasien zu sehen, sondern Griechenland und speziell die Ägäis als Begegnungsraum von Kulturen zu verstehen (vgl. Said 1995; Kontje 2004). Im Sinne einer Überwindung des eurozentrischen Orientalismus ist darauf zu verweisen, dass Griechenland und die Ägäis zivilisatorische Errungenschaften wie die Demokratie und die griechische Kunst, Literatur und Philosophie nicht (ausschließlich) in Abgrenzung von »Asien« entwickelt haben, sondern in einem lebendigen Austausch. Die Ägäis erscheint aus heutiger Sicht als ein Ort der Grenzüberschreitung par excellence: Im Windschatten der Globalisierung verändert sich unser Blick auf die Welt. Nationale Kulissen fallen, Wahrnehmungsräume bisher unbekannter Art öffnen sich. Europa mutiert zum Appendix des gewaltigen eurasischen Kontinents, große und feine Verbindungs- und Vernetzungswege treten ins Zentrum. Grenzen werden in ihrer faszinierenden Ambivalenz, in ihrer Zwiespältigkeit erkennbar: Demarkationslinie, Eiserner Vorhang, Mauer einerseits – pure Illusion, leerer Raum, Beliebigkeit auf der anderen Seite. Wahrnehmungsgeschichte im Zeitalter der Globalisierung ist angewandte Philosophie der Grenze, Grenzziehung und der Grenzüberschreitung. (Wertheimer 2014, 16) Zurzeit geht durch die Ägäis eine unsichtbare und doch sehr bedeutsame Grenze, welche die Europäische Union von der Türkei und den Ländern des Nahen Ostens trennt. Neue Nationalisten beschwören die Festung Europa; demgegenüber geht es mir darum, die Ägäis als Bewegungsraum zu beschreiben, in dem Europa und Asi-
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en ineinander übergehen und sich an Gleichem, Fremdem und Ähnlichem abarbeiten. Die Begegnungsgeschichte der Ägäis findet in Hölderlin einen exemplarischen Vertreter. Hölderlin kann in einer zeitgemäßen Perspektive als ein Dichter verstanden werden, der den Eurozentrismus des Klassizismus überwindet und die asiatisch-orientalischen, jüdischen (und afrikanischen) Bezüge der griechischen Kultur rezipiert hat (vgl. dazu Bay 2006; Kocziszky 2009). Dieser Beitrag will zeigen, dass ausgehend von Hölderlin die Ägäis als ein Begegnungsraum verstanden werden kann, in dem griechisch-antike, »kleinasiatische«, aber auch jüdische und später muslimische kulturelle Akzente zu verzeichnen sind. In dem Begegnungsraum der Ägäis haben Propheten und Rebellen gewirkt, die sich vom Meer, von den Inseln und von der Landschaft der Ägäis inspirieren ließen und häufig herrschaftskritische Impulse vermittelten. Bei Hölderlin (vgl. zu Hölderlin umfassend Kreutzer 2002) werden die Inseln der Ägäis (»Archipelagus«) und Kleinasien (Smyrna/Homer) als Synthese aus asiatischen (»orientalischen«, auch jüdischen) und europäischen Einflüssen verstanden, wobei vor allem der späte Hölderlin eine komplexe Konzeption vertritt, in der das (europäische) Eigene und das (kleinasiatische) Andere / Fremde in einer spezifischen Weise verknüpft erscheinen. Im Sinne dieser Konzeption Hölderlins macht der vorliegende Beitrag auf Figuren und Denker aufmerksam, die im Sinne des Geistes der Ägäis zwischen europäischen und (klein-) asiatischen Denkmustern vermittelt haben und bedeutende kulturelle Anregungen für ein postkoloniales, an Diversität orientiertes Selbstverständnis Europas vermitteln können. So wirkte Scheich Bedreddin in Edirne im 14./15. Jahrhundert; sein Aufstand gegen die Herrschaft der Osmanen erfolgte in Zusammenarbeit mit Juden und Griechen und endete in der Schlacht bei Karaburnu nahe Izmir. Sabattai Zwi wirkte als vermeintlicher Messias und jüdischer Rebell im 17. Jahrhundert in Smyrna/Izmir. Nach den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg vollzog sich ein »Bevölkerungsaustausch«, der eine relative Abschottung der verschiedenen Ethnien zur Folge hatte, sodass der Charakter der Ägäis als Begegnungsraum infrage gestellt wurde. So wird in der deutsch-türkischen Gegenwartsliteratur von Feridun Zaimoglu die (»Heim«-)Reise eines Deutsch-Türken an die Ägäis gestaltet, wobei einerseits binäre Oppositionen zwischen »Orientalen« und Europäern evoziert, andererseits aber Erinnerungen an grenzüberschreitende Begegnungen reaktiviert werden. Als geografische Grundlage ist zu bemerken, dass die Ägäis als Zwischenraum zwischen Griechenland und »Kleinasien« verstanden wird. Hölderlin spricht von »Asia« (= Kleinasien) als dem Kulturraum, in dem die griechische Kultur mit Homer entstanden ist. »Die so genannte ›klassische Antike‹ mit der Stadt bzw. mit der attischen Kultur der Schönheit wird als nur ein Exempel unter anderen betrachtet. Das dichterische Gedächtnis scheint sogar andere Kulturräume wie Kleinasien […] zu bevorzugen.« (Kocziszky 2009, 113) Die Insel Patmos erscheint als Zwischenraum zwischen Europa und Asien und historisch als Schutzraum vor dem
Von Hölderlin zu Zaimoglu
römischen Kaiser; die dort entstandene Apokalypse des Johannes verbindet griechisches, christliches und jüdisches Denken. Ephesos wird verstanden als Ort der »heidnischen« Antike und des Christentums. Hölderlins Dionysos kann ebenfalls als eine Figur der Ägäis verstanden werden. Nach den verschiedenen Überlieferungen kam Dionysos aus dem Osten, aus Indien oder Ägypten; in jedem Fall gelangte er über die Ägäis nach Griechenland: »Des Ganges Ufer hörten des Freudengotts | Triumph, als allerobernd vom Indus her | Der junge Bacchus kam, mit heilgem | Weine vom Schlafe die Völker wekend.« (Hölderlin MHA I, 197) 1 Die Ägäis war später im Osmanischen Reich ein klassischer Bewegungsraum, in dem »Levantiner«, Griechen, Juden, Italiener und Türken auf den Inseln und an der Küste im Handel und in der Seefahrt einen nicht konfliktfreien, aber doch sehr intensiven Austausch pflegten. Die Juden können als eine bedeutende Minderheit in der Ägäis gelten, die einen starken kulturellen Einfluss ausübte. Durch die keineswegs gewaltfreie »Entmischung« der Bevölkerungen und durch weitere Entwicklungen wie die Migration von Juden in den Staat Israel hat die Ägäis teilweise den Status eines Bewegungsraums der Völker verloren. Der internationale Tourismus, die Öffnung der Handelswege und nicht zuletzt die deutsch-türkische und deutsch-griechische Migrationsgeschichte bewirkten demgegenüber eine Neubewertung des ägäischen Raums und eine intensive Pflege eines kulturellen Gedächtnisses, das den Austausch der Völker und religiöser wie kultureller Gruppen betont.
Die Ägäis als Raum der Rebellion Einen wichtigen Akzent können wir dahingehend setzen, dass wir die Ägäis auch als einen Raum der Rebellion gegen die Zentralgewalten der großen Imperien verstehen: das Römische Reich, Byzanz-Konstantinopel und das Osmanische Reich versuchten ebenso wie Venezianer und Genueser, die Vorherrschaft über die Region zu erringen. In diesem Kontext sind die hier zu beschreibenden historischen und mythischen Gestalten Rebellen und Kämpfer gegen eine zentrale Herrschaft, aber auch Außenseiter in ihren eigenen Gemeinschaften, wobei die Sonderstellung der ägäischen Rebellen insgesamt darauf beruht, dass sie Anregungen anderer Kulturen und Gruppen aufnehmen. So war Johannes auf Patmos ein Frommer im Exil; in der Apokalypse finden sich Sendschreiben an die Gemeinden in Kleinasien angesichts der Verfolgung durch den römischen Kaiser. Im Mittelalter organisierte der muslimische Scheich Bedreddin eine interreligiöse Rebellion gegen den osmanischen Sultan aus dem demokratisch-revolutionären Geist der Ägäis (vgl. dazu 1
Hölderlins Texte werden zitiert nach der Münchner Hölderlin-Ausgabe (mit der Sigle MHA): Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Michael Knaupp. 3 Bände, München 1992.
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Frischmuth 2002) und Sabbatai Zwi wandte sich als der selbsternannte Messias von der Ägäis ebenfalls zunächst als Rebell gegen den Sultan. Der deutsch-türkische Autor Feridun Zaimoglu unternimmt als Nachgeborener eine »romantische Rebellion« aus dem Geist der Ägäis.
Hinführung: Hölderlins Ägäis Bei Friedrich Hölderlin erscheint die ägäische Inselwelt als Modell einer pantheistischen Lebensfülle. Er bezieht sich aber auch auf Johannes auf Patmos und verbindet mit dieser Figur eine christlich-jüdische Tradition der Apokalyptik und des Messianismus. Homer, der »lydische« Dichter und Sohn der Ägäis, verbindet in Hölderlins Perspektive »junonische Nüchternheit« und asiatisches Feuer. Im Sinne einer Begegnung Europas mit Asien erscheint die Kultur Homers und der Ägäis als Vermischung und gegenseitige Relativierung des »Orientalischen« und des »Hesperischen« im Brief Hölderlins an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801: Deßwegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgaabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. (MHA II, 912) Und in einem Brief an Friedrich Wilmans vom 28. September 1803 zur SophoklesÜbersetzung heißt es: »Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist […], dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe […].« (Ebd., 925)
Die ägäische Inselwelt als Ort der pantheistischen Lebensfülle Immer, Gewaltiger! lebst du noch und ruhest im Schatten Deiner Berge, wie sonst; mit Jünglingsarmen umfängst du Noch dein liebliches Land, und deiner Töchter, o Vater! Deiner Inseln ist noch, der blühenden, keine verloren. Kreta steht und Salamis grünt, umdämmert von Lorbeern, Rings von Stralen umblüht, erhebt zur Stunde des Aufgangs Delos ihr begeistertes Haupt, und Tenos und Chios Haben der purpurnen Früchte genug, von trunkenen Hügeln Quillt der Cypriertrank, und von Kalauria fallen Silberne Bäche, wie einst, in die alten Wasser des Vaters. (MHA I, 295f.) Die Inseln der Ägäis erscheinen hier als Töchter des Vaters »Archipelagus«. Hier erkennen wir das, was Ottmar Ette (2017, 169-222) archipelisches Denken nennt – die
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Inseln der Archipele sind verschieden, aber gleichberechtigt, sie haben Teil an der Fülle des Lebens; der »Vater« ist hier keine transzendente Größe, sondern der Inbegriff der Fülle der Einzelnen. Die Einheit des ägäisch-ozeanischen Lebens erscheint als Moment einer stoisch-pantheistischen Einheitserfahrung (vgl. Hölderlin 2005, 683). In der Tradition der ionischen »Vorsokratiker« kann das Wasser als Urprinzip verstanden werden (Thales, Heraklit). Hier zeigt sich das »heidnische« Moment des ägäischen Denkens (das aber für andere religiöse und denkerische Perspektiven offen ist). Patmos […] Denn nicht, wie Cypros, Die quellenreiche, oder Der anderen eine Wohnt herrlich Patmos, Gastfreundlich aber ist Im ärmeren Hauße Sie dennoch Und wenn vom Schiffbruch oder klagend Um die Heimath oder Den abgeschiedenen Freund Ihr nahet einer Der Fremden, hört sie es gern, und ihre Kinder Die Stimmen des heißen Hains, Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche, die Laute Sie hören ihn und liebend tönt Es wider von den Klagen des Manns. So pflegte Sie einst des gottgeliebten, Des Sehers, der in seliger Jugend war Gegangen mit Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn Es liebte der Gewittertragende die Einfalt Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau […] (MHA I, 448f.) In der Apokalypse des Johannes finden sich Sendschreiben an die Gemeinden in Kleinasien im Kontext der Verfolgung der Christen. Dieser Teil des neuen Testaments ist durch Apokalyptik und Messianismus und durch eine Entwicklung
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christlicher Apokalyptik aus jüdischen Quellen gekennzeichnet. In unserem Kontext kann postuliert werden, dass Patmos somit den Bezug zum Jüdischen als einem Element des Orientalischen dokumentiert. Der karge Charakter von Patmos im Gegensatz zu den anderen Inseln des Archipelagos verbindet sich in Hölderlins Denken mit einer christlichen Apokalyptik nach dem Tode Jesu; aus heutiger Sicht erkennen wir im Blick auf Hölderlins Spätwerk eine erste Ahnung von der »Götternacht« und hieraus ergibt sich eine Betonung der Innerlichkeit des Apokalyptikers. Im Blick auf die Ägäis als Bewegungsraum zeigt sich eine Abwendung Hölderlins vom Schematismus des Weimarer Klassizismus und eine Einbeziehung des (jüdisch-christlichen) messianischen Denkens in das Bild der Ägäis: Homer und Moses (vgl. dazu Witte 2018).
Homer, der lydische Dichter Homer war – wie dargelegt – in Hölderlins Augen das höchste Genie der griechischen Dichtkunst, »weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonreich zu erbeuten« (MHA II, 912). Homer wird damit in Hölderlins Perspektive zu einem Musterbeispiel für das grundlegende Prinzip des »freien Gebrauchs des Eigenen«. »Homers Genialität habe also die angeborene orientalische Natur mit dem erworbenen künstlerischen Prinzip verbinden können, er als angeborener ›Mäönide‹ [= Ionier/Lydier, M.H.], also Orientale, wurde zum ersten griechischen, das heißt europäischen Dichter.« (Kocziszky 2009, 108) Und Kocziszky fährt fort: Was Hölderlin unter der Aufdeckung der orientalischen Quelle des Griechischen […] versteht, würde also […] heißen: Mit dem griechisch verlautbarten, aber ursprünglich hebräischen Begriff des »Apokalyptischen« wird sowohl der griechischen Kultur als auch dem Abendland ein neuer Sinn gegeben. Die Erkenntnis von der apokalyptischen Natur der Schönheit kann das Griechentum von seiner anachronistischen Konstruktion durch die Moderne befreien, etwa von seiner Wiederbelebung als überzeitliche Menschlichkeit, die durch die deutsche Klassik und durch neohumanistischen Strömungen immer wieder inszeniert wurde. (Ebd., 116)
Dionysos und Christus […] wozu Dichter in dürftiger Zeit? Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester, Welche von Land zu Land zogen in heiliger Nacht.
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[…] Mit allen Himmlischen kommt als Fackelschwinger des Höchsten Sohn, der Syrer, unter die Schatten herab.2 Dionysos und Christus werden als verwandte Boten des Göttlichen konzipiert. Manfred Frank (1982, 285) spricht von einer »enharmonischen Verwechslung« des Antik-Griechischen und des Christlichen. Die Referenz auf Dionysos bedeutet in Vorwegnahme Nietzsches als Überwindung des Klassizismus in der Folge Winckelmanns eine Integration dunkler Aspekte in das Verständnis des Göttlichen. Zwar ist Dionysos nicht in einer irrationalistischen Perspektive der Gott der Raserei und des heiligen Wahnsinns; er verkörpert aber für Hölderlin eine spirituelle Dimension, die über die ästhetisierende Religion der Weimarer Klassik hinausgeht. Und Jesus aus der römischen Provinz Syrien nähert sich Europa über die Ägäis, worauf auch die Existenz christlicher Gemeinden in Athen und Ephesus hindeutet, die in den Briefen des Paulus angesprochen werden.
Der muslimische Rebell und die Ägäis: Scheich Bedreddin (gedeutet durch Nâzım Hikmet) Scheich Bedreddin (vgl. Frischmuth 2002) wurde 1359 als Sohn des Kadis von Simavna geboren. Er studierte in Bursa, Jerusalem und Kairo. Eine Beeinflussung durch den Sufismus ist deutlich zu erkennen; die Legende berichtet, dass er alle seine Bücher im Nil verbrannt haben soll. Die Quellen berichten dann von einer Rückkehr nach Edirne und ab 1411 war er Heeresrichter unter dem Sultanssohn Musa Çelebi. 1413 kam es zur Verbannung, 1416 zur Flucht in die Walachei. Sein Gefährte und Sympathisant Börklüce Mustafa organisierte in Westanatolien (Karaburnu) eine bewaffnete Revolte gegen das Heer des Sultans, Bedreddin bereitet einen Aufstand in Silister und Deliorman (Balkan) vor. Ihr Programm umfasste die Schaffung von Gemeineigentum und die Gleichbehandlung von Muslimen, Juden und Christen. 1420 wurde Bedreddin unter Sultan Mehmed I. hingerichtet. Die theologischen Aussagen Bedreddins sind in der Schrift Varidȃt überliefert. Dabei sind Texte mit Bezügen zu politischen Fragen nicht überliefert (Kißling 1950, 112). Die theologischen Aussagen sind aber revolutionär und nehmen viele Ideen der Aufklärung vorweg. So meint Bedreddin, die Propheten sprächen zu den Menschen in Bildern, die sie verstehen könnten. »Diesseits« und »Jenseits« seien solche Symbole; die Begriffe »Hölle« und »Paradies« hätten nur symbolische Bedeutung. Rituelle Handlungen seien nur äußerliche Formen, die nicht sklavisch befolgt werden müssten. Am Ende des Pfades der Erkenntnis stehe der wissende Mensch. Dieser sei von den äußerlichen Formen des Wissens und der Rituale
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1. Fassung; MHA I, 378-382.
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befreit. Scheich Bedreddin kann in eine Bewegung des religiös inspirierten »anatolischen Humanismus» integriert werden, in dem zum Teil heterodoxe islamische Dichter und Denker zusammengefasst werden: Mevlana Rumi, Haci Bektaş Veli, Yunus Emre, Pir Sultan Abdal. Diese Denkbewegung erscheint von der Begegnung zwischen dem traditionellen islamischen Denken und dem Denken der Ägäis beeinflusst (vgl. dazu Keskin 2001). Nâzım Hikmet verfasste zwischen 1932 und 1934 Das Epos von Scheich Bedreddin, in dem er die Figur Bedreddins in die populäre Tradition der Türkei integrierte und eine Verbindung zwischen theologischem Denken und sozialem Protest herstellte. Das Ich des Textes unternimmt im Gefängnis mit einem Jünger Bedreddins und Börklüce einen Flug in das historische Anatolien und an die Küste der Ägäis. Wir erkennen eine Distanzierung von der orthodox marxistischen Sicht: »Sag nicht, | Solches war | nach den sozialen, historischen und ökonomischen Umständen | nicht zu vermeiden. | ich weiß. | Aber mein Herz | will diese Sprache nicht leiden. | Es schreit: He, niederträchtige Welt! He Schicksal, gemeine Hure! | und zuckt | unter den Schritten | des Zugs der Besiegten von Karaburnu, | barfuß. Die Gesichter im Blut, | Schultern an Schulter, von Peitschenriemen zerschnitten.« (Hikmet 2008, 111f.) Ganz im Sinne von Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte schreibt Hikmet eine Geschichte der Verlierer. Es geht um das Gedächtnis eines muslimischen Rebellen, der in unserer Perspektive für den Geist der Ägäis steht. In der von Hikmet gestalteten Figur des Bedreddin verbinden sich spirituelle Würde und soziales Engagement mit einem apokalyptischen Moment, das in Hölderlins Perspektive auch für Johannes auf Patmos charakteristisch war, sich aber hier mit einem religiös-politischen Aktivismus verbindet: »Dieses Feuer, | das in meinem Herzen entbrannt ist, | das heftiger flammt jeden Tag […] | darin mein Herz hingehen und schmelzen wird, | und wäre es von geschmiedetem Eisen […] | Ich werde hinausgehen, ich werde den Aufstand wagen!« (Ebd., 83) Dabei zeigt Hikmet einen gemeinsamen Kampf von Muslimen, Juden und Christen: »Türkische Dörfler aus Aydın, | griechische Schiffer aus Chios, | jüdische Händler, | eintausend Weggenossen das Börklüce Mustafa«. (Ebd., 109)
Sabbatai Zvi: der mystische Messias aus Smyrna (gedeutet von Gershom Scholem) Eine bedeutende Figur der jüdischen Religions- und Ketzergeschichte und ein jüdischer Rebell der Ägäis war Sabbatai Zvi, geboren 1626 in Smyrna; seine Eltern stammten aus der Gegend von Patras. 1665 erklärte er sich in Izmir zum Messias. Ab 1666 war er in Konstantinopel/Istanbul; er kam in Haft beim Sultan und es erfolgte eine bis heute umstrittene und viel diskutierte Konversion zum Islam. 1676 ist er im heutigen Bulgarien gestorben. Seine Anhänger blieben seiner Lehre treu; es bildete sich die krypto-jüdische Sekte der Dönme; dabei handelte es sich um zum
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Islam konvertierte Anhänger Sabattais, denen nachgesagt wird, dass sie heimlich rebellische Juden geblieben seien (vgl. maßgeblich Scholem 2014; vgl. auch Kastein 2017). Gershom Scholem hat eine umfangreiche Studie über Sabattai vorgelegt und hält ihn für eine hochbedeutende Figur des Judentums in der beginnenden Moderne. Sabattai, so erklärt er, wurde von der Orthodoxie vehement abgelehnt und von der rationalistischen Aufklärung vernachlässigt. Dabei erkennt Scholem bei Sabattai eine spektakuläre und für die Entwicklung des Judentums wichtige Verbindung lurianischer Kabbala (Mystik) und Messianismus. Die Verbindung von Mystik (mit Bezügen zum Pantheismus) und Messianismus macht aus ihm eine Gestalt ganz im Sinne Hölderlins; von uns aus gesehen eine Figur, die das Denken der Ägäis weitergeführt hat. In seiner Monografie betont Scholem Sabattais Verbundenheit mit dem ägäischen Meer: »daß Sabattai wenig schlafen und um Mitternacht aufstehen würde, um seine rituellen Eintauchungen im Meer zu vollziehen, und jeden Morgen in der Synagoge unter den ersten wäre.« (Scholem 2014, 423) Sein Auftreten in Smyrna/Izmir beschreibt er so: »Sabbatais Begeisterung steigerte sich noch, als er die mystische Bedeutung des Liedes erläuterte und dabei aus der Beschreibung der Geliebten im Hohelied wie aus den Psalmen zitierte, bis er sich schließlich in klaren Worten als der Gesandte Gottes und als Erlöser Israels offenbarte.« (Ebd. 438) In einem zeitgenössischen Bericht wird wie im Falle Bedreddins die Verbindung von religiöser und politischer Revolte beschworen: »In wenigen Tagen würde er den Türken die Königsherrschaft nehmen, die dann zu tributpflichtigen Knechten würden, und er sagte noch mehr solche befremdliche Dinge, die sich dann niemals ereigneten. Aber der Pöbel lauschte seinen Worten, als sei es Gott selbst, der zu ihnen sprechen würde.« (Ebd.)
Heiterer Ausklang: Die Ägäis in der deutsch-türkischen Literatur: Feridun Zaimoglus Briefroman Liebesmale, scharlachrot Die Ägäis als Raum der Begegnungen verlor im späten 19. und im 20. Jahrhundert durch einen »Bevölkerungsaustausch«, durch die Emigration von Juden und anderen Minderheiten und durch die Betonung nationalstaatlicher Konzepte an Bedeutung. Doch es gab auch Gegenbewegungen: Die Arbeitsmigration führte viele Menschen aus dem ägäischen Raum nach Deutschland und sie kehrten als DeutschTürken und Deutsch-Griechen für immer oder als Urlauber an die Ägäis zurück. Und der sich seit den 1960er-Jahren bildende Massentourismus entdeckte die Ägäis als einen Sehnsuchtsraum der Mittel- und Nordeuropäer. In Feridun Zaimoglus Briefroman Liebesmale, scharlachrot (2000) wird mit ironischem Rückbezug auf Goethes Werther und insbesondere auf Hölderlins Hyperion (der seinerseits auch die Ägäis als Schauplatz hat) die Ägäis als Bewegungsraum (wieder-) entdeckt. Dabei
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werden binäre Oppositionen, die einen Bezug zu Edward Saids Konzept des Orientalismus erkennen lassen und auf Stereotype und Klischees anspielen, in ironischer Brechung exponiert: Hochverehrter Kumpel, mein lieber Hakan, Sammler der heiligen Vorhäute Christi, ich bin gesund und verspüre allerlei Munterkeiten, und ich bin heil und ohne Gram, ohne ein Gramm Verlust jener Transzendenz, die mein hoch körperliches Wesen in meiner kalten Heimat ausstrahlte, an der Westküste des türkischen Festlandssockels angekommen. Und nicht eine Zähre wischte ich vom trän’gen Auge, nicht einen Freudenstich versetzte mir meine Ankunft hier, nicht eine Sekunde beschleunigte mein Juwelenherz seinen Rhythmus, als ich hier eintraf. Du weißt, ich musste fliehen aus Kiel, weil mir die Frauen im Nacken saßen. Du hast ja mitbekommen, wie Anke sich in mich verkrallen wollte, und wie Dina mich nicht mehr gehen ließ. Ich hab das nicht mehr ausgehalten und ich bin […] zu meinen Eltern an die Ägäis geflogen, um mir mal darüber klar zu werden, was ich nun eigentlich will. (Zaimoglu 2000, 9) In der Begegnung mit den einheimischen Bewohnern der Ägäis erlebt Zaimoglus Protagonist Serdar den typischen Zwiespalt des (Re-)Migranten, der sich sowohl in der neuen wie in der alten Heimat fremd fühlt. Dennoch ist die Ägäis als Faszinationsraum ohne jeden Zweifel präsent: Ich meine, ich habe meinen Willen bekommen, jetzt im Augenblick sitze ich auf einer luftigen Veranda mit Blick auf das Meer, ein, zwei Telegraphenmasten blockieren etwas die Aussicht, dabei schlürfe ich einen Orientmokka, und keine Anke weit und breit, die über mich verfügte, mich mit bescheuerten Vorschlägen drangsalierte. […] Die Reflexe des gekräuselten seichten Wassers auf dem Meeresboden, das Geflüster der beiden arg pubertierenden Nymphen von nebenan, der Theatergringoflaum im Gesicht der hyperagilen Jungs, die lieb gewonnene Knabenspiele von heut auf morgen fallen lassen, weil sie sich nicht mit der eingebildeten Manneskraft vertragen. (Zaimoglu 2000, 34f.) Wenn sich Serdar schließlich in eine schöne Türkin verliebt und sich von den ihn verfolgenden deutschen Frauen distanziert, so verbindet sich seine persönliche Geschichte im Diskurs des Romans mit einer »Orientalisierung« des eigenen Erlebens, sodass die Ägäis die Hybridität seiner kulturellen Identität verdeutlicht. Dabei erkennen wir allerdings eine sehr klischeehafte Beschreibung, die sich in binären Oppositionen des Orientalismus gefällt, wobei wiederum durch das Stilmittel der Übertreibung auch eine ironische Brechung zu erkennen ist: […] wenn ich nach allen Regeln der Liebeskunst verschossen bin, gehen Schauer über meinen Brustpelz, jedes einzelne Haar richtet sich auf und wird zum hoch sensiblen Tentakel. […] es tut sich etwas in mir, die alte Gemütlichkeit ist dahin,
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und das alte Asien, das der Wüste und Wollüste, der Virtuosen im »aschk«-Metier, der Messermeuchler und Haschischordensherren regt sich nun in meinem Leib […] die wahre und wirkliche Zaubermacht hat mich durchdrungen, nicht ihre Talmiversion, nicht ihre Volksausgabe mitsamt den Schundauslagen, sondern die saubere orientalische Wertarbeit. Rena ist mein Licht aus dem Osten, sie hat sich mir versprochen unter der Palme und angesichts des mondgeleckten Wassers. Die Sippe vergeht, die Sitte vergeht, das Maß der Liebe aber ist immer voll. (Zaimoglu 2000, 253) Die deutsch-türkische Literatur kann in ihrer Beschwörung des historischen Begegnungsraums der Ägäis eine spezifisch literarische Form des kulturellen Gedächtnisses entwickeln, die daran erinnert, dass nationale Begrenzungen und vor allem die binäre Opposition zwischen Europa und Asien, zwischen Abend- und Morgenland im Diskurs der Ägäis immer wieder durchbrochen wurde. Und sie kann den gegenwärtigen Ägäis-Diskurs an diesen historischen anbinden und damit ein gegenwärtiges Konzept von Ägäis entwickeln, das wieder mehr vom Geist der Begegnung und der kulturellen Mischung geprägt ist. Wenn in diesem Sinne eine hoffnungsvolle Tendenz zu erkennen sein mag, so ist gleichzeitig darauf zu bestehen, dass die traurigen aktuellen Vorkommnisse, in denen die Ägäis zum nassen Grab wird und ihre Inseln als Gefängnisse für Geflüchtete erscheinen, unbedingt überwunden werden müssen. Dann kann im Geiste Hölderlins, des Johannes auf Patmos, des Scheichs Bedreddin, des Sabattai Zwi und Serdars eine ägäische Identität weiterentwickelt werden, die sich gegen Abgrenzungen und starre Identitäten wendet und für einen Geist des Zusammenlebens und der Kooperation steht, der eurozentrische und nationalistische Stereotype überwindet und den Anderen als Partner und nicht als Feind versteht.
Quellen Hölderlin, Friedrich (1992-1993): Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Michael Knaupp. 3 Bände. München, Wien: Carl Hanser Verlag. Hölderlin, Friedrich (2005): Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. Hikmet, Nâzım (2008): Hasletlerin Adi: Die Namen der Sehnsucht. Gedichte. Türkischdeutsch. Ausgewählt, nachgedichtet und mit einem Nachwort von Gisela Kraft. Zürich: Ammann Verlag. Zaimoglu, Feridun (2000): Liebesmale, scharlachrot. Hamburg: Rotbuch.
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Literatur Bay, Hansjörg (2006): »Die eigene Rede des anderen«. Hölderlins Poetik des Fremden. In: Hansjörg Bay und Kai Merten (Hg.): Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750-1850. Würzburg: Königshausen & Neumann, 333-356. Ette, Ottmar (2017): WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: Metzler. Frank, Manfred (1982): Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frischmuth, Barbara (2002): Das Epos von Scheich Bedreddin. In: Monika Carbe, Wolfgang Riemann (Hg.): Hundert Jahre Nâzım Hikmet 1902-1963. Hildesheim: Georg Olms, 58-66. Kastein, Josef (2017): Sabbatai Zewi. Der Messias von Ismir. Berlin: Rowohlt 1930. Nachdruck Treuchtlingen. Keskin, Mesut (2001): Die Toleranzidee in der anatolischen Heterodoxie am Beispiel Scheich Bedreddin Mahmud Isra’ils mit Bezügen zur interkulturellen Erziehung. Dissertation FU Berlin. Kißling, Hans-Joachim: Das Menāqybnāme Scheich Bedr ed-Dīn’s, des Sohnes des Richters von Samāvnā. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 100 (1950), 112-176. Kocziszky, Eva (2009): Hölderlins Orient. Würzburg: Königshausen & Neumann. Kontje, Todd (2004): German Orientalisms. Ann Arbor: University of Michigan Press. Kreutzer, Johann (Hg.) (2002): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler. Scholem, Gershom (2014): Sabbatai Zwi – der mystische Messias. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag. Said, Edward W. (1995): Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a New Afterword. London: Penguin. Witte, Bernd (2018): Moses und Homer. Griechen, Juden, Deutsche: eine andere Geschichte der deutschen Kultur. München: De Gruyter. Wertheimer, Jürgen (2014): Achtung Grenze! Vom Nutzen und Risiko von Grenzüberschreitungen. In: Heinz-Dieter Assmann, Frank Baasner und Jürgen Wertheimer (Hg.): Grenzen. Baden-Baden: Nomos, 15-25.
Das stille Nennen der Götter Anmerkungen zu Heideggers Zwiesprache mit der Dichtung. Mit einem Seitenblick auf Hölderlins Hymne Patmos Georgios Xiropaidis
Einleitendes Richard Rorty hat an Martin Heidegger kritisiert, dass er die Philosophie als die einzige Stätte betrachtet, in der sich die Enthüllung des Seins ereignet. Seines Erachtens gibt es kein Anzeichen dafür, dass Heidegger eine Geschichte der Dichtung wie die des Denkens kenne: »It is not Athens, Rome, Renaissance Florence, the Paris of the Revolution, and the Germany of Hitler that form the history of Being. Nor it is Sophocles, Horace, Dante, Goethe, Proust, and Nabokow. It is the sequence from Plato and Nietzsche. […] Only poetry is of the same order, but there is no indication that Heidegger thinks that poetry has a history.« (Rorty 1976, 295) Unter der Macht des Geschicks des Seins steht jedoch zweifellos auch die Dichtung. Deshalb nennt Heidegger die denkende Auseinandersetzung mit der Dichtung »eine seinsgeschichtliche Zwiesprache« (GA 5, 274).1 Diese vollzieht sich aber im Zeichen der Not der Seinsvergessenheit. Solange dies nicht begriffen wird, wird Heideggers Zwiesprache mit den Dichtern »der literarhistorischen Forschung unvermeidlich als ein unwissenschaftliches Vergewaltigen dessen, was jene für die Tatsachen hält« (GA 5, 274) und »der Philosophie als ein Abweg der Ratlosigkeit in die Schwärmerei« (GA 5, 274) gelten. Mit der völligen Verfestigung der Seinsvergessenheit in der Seinsverlassenheit gerät aber das Denken in eine fundamentale Krise. Es kann nicht mehr in der Weise der tradierten Metaphysik denken. Deshalb kann es auch sein Verhältnis zu der Dichtung nicht mehr mit Hilfe der geläufigen Unterscheidungen zwischen Vernunft und Einbildungskraft, Intelligiblem und Sinnlichem oder Begrifflichem /
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Heideggers Schriften werden nach der Gesamtausgabe (im Folgenden GA), erschienen bei Klostermann, Frankfurt a.M., zitiert.
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Spekulativem und Bildlichem / Metaphorischem bestimmen. Am Ende der Metaphysik sucht das Denken das Gespräch mit der Dichtung nicht in der Absicht einer bloßen Wiederbelebung des spekulativen Diskurses durch die Herausarbeitung der »semantischen Virtualitäten« (Ricœur 1986, 253) des dichterischen, metaphorischen Aussageaktes, sondern eher in der Absicht zu lernen, seiner eigensten Not schicklicher zu entsprechen und so die künftige Bestimmung der Sache des Denkens zu erahnen. Deshalb wendet sich Heidegger einem Dichter wie Hölderlin zu, dessen Sagen ebenfalls der Not eines Fehls entspringt. So ist »die Not des Fehls ›heiliger Nahmen‹« (GA 13, 234), die Hölderlin in sein Sagen nötigt. Dies besagt, dass radikale Erschütterungen den Dichter in eine grundsätzliche Besinnung auf das Wesen der Dichtung und den Sinn seines Dichterberufs zwingen und ihn damit auch empfindlicher für das Sagen des Denkens werden lassen. Dabei zeigt Heidegger, dass Hölderlins Grunderfahrung in die verborgenere Not der Seinsvergessenheit weist. Es ist also unnötig, nach der Voraussetzung zu suchen, die das Gespräch Heideggers mit Hölderlin leitet; sie wird ausdrücklich in seinem Text selbst genannt: »Erst ein Denken, das in sich Wegcharakter hat, könnte die Erfahrung des Fehls vorbereiten. So könnte es dem Dichter, der die Not des Fehls zu sagen hat, ›verstehen helfen‹. Hierbei meint verstehen nicht: verständlich machen, sondern: ausstehen die Not, nämlich jene anfängliche, aus der erst die Not des Fehls ›heiliger Nahmen‹ entspringt: die Seinsvergessenheit, d.h. das Sichverbergen (Λήθη) der Eigentümlichkeit des Seins als Anwesen.« (GA 13, 234) Erfährt man aber die Not der Seinsvergessenheit als das verborgene Wesen der dürftigen Zeit, dann gibt es keine Gelegenheit, das Gedicht Hölderlins als eine Fundgrube von kostbaren Metaphern für die Entfaltung einer neuen Philosophie zu missbrauchen, sofern nun die einzige Not ist, »nüchtern denkend im Gesagten seiner Dichtung das Ungesprochene zu erfahren« (GA 5, 273). Dies ist aber »die Bahn der Geschichte des Seins« (GA 5, 273). Indem Heidegger sich auf das Ungesprochene der Dichtung einlässt, lernt er zugleich, dass die ungesprochene Grunderfahrung der Seinsvergessenheit eine Erfahrung mit der Sprache selbst ist: die Erfahrung des Fehls des Wortes für das Sein. In meinem Beitrag soll nun der Nachweis geführt werden, dass durch die Erfahrung einer Sprachnot das Dichten und das Denken nichts Neues über die Sprache selbst lernen. Sie lernen eher aus der Sprache selbst zu sprechen und gelangen so in ein andersartiges Verhältnis zur Sprache. Das Dichten und das Denken werden in den Wirbel eines gewandelten Sagens hineingeworfen, in dessen Namen die Stille des Ausbleibens des Sprachwesens läutet und das durch die Aufwertung des Winkes gegenüber der feststellenden Aussage und der wesenhaften Zweideutigkeit gegenüber aller Exaktheit des bloß eindeutigen Begriffs gekennzeichnet ist. So soll mit einem Seitenblick auf Hölderlins Hymne Patmos gezeigt werden, dass Hölder-
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lins »deutscher Gesang« (StA 2.1, 172, V. 226)2 als ein stilles Nennen der Götter zu fassen ist.
Ein deutscher Gesang Hölderlins späte Hymne Patmos, vermutlich 1801 konzipiert, verdankt seine Ausgestaltung dem Adressaten der Widmung, dem Landgrafen von Homburg. Dieser tiefgläubige Mann hatte im Frühjahr 1802 Klopstock um eine geistliche Ode gebeten, worin er gegen die aufklärerische Vernunfttheologie der Zeit noch einmal die biblische Verkündigung mit der ganzen Stärke seiner dichterischen Sprache zum Ausdruck bringen möge. Klopstock versagte sich diesem Wunsch aus vielen Gründen. Hölderlin trat also für Klopstock ein, der ihm früh unabdingbares Vorbild gewesen war und dessen Art er sich in der Zeit der späten Gesänge wieder näherte. Auf diese Weise entsteht »eines der gewaltigsten Gedichte der deutschen Literatur« (Binder 1967/68, 93). Dieses an sich eigenartige Gedicht ist nach der kleinen griechischen Insel Patmos benannt, die in der Südägäis – also in der Nähe Kleinasiens – liegt und als Schöpfungsort der Offenbarung des Johannes gilt.3 Sie ist dem verfolgten Christen ein Zufluchtsort, sie kennzeichnet die apokalyptische Krisensituation und ist zugleich der Ort, von dem aus ein deutscher Gesang ertönt. Bereits der Titel verweist so auf den eschatologischen Horizont des Textes, der reich an verschlüsselten Anspielungen auf synthetisch ineinander verwobene biblische, christliche, griechische und lateinische Motive und Mythen ist. Allerdings habe ich nicht die Absicht, eine neue vollständige Interpretation des Gedichts zu liefern. Ohnehin würde der mir zur Verfügung stehende Raum für ein solches Unternehmen nicht ausreichen. Die Literatur zu dieser Hymne ist zahlreich. Genannt seien besonders die aufschlussreichen Interpretationen von Wolfgang Binder (1967/68), Karlheinz Stierle (1980/81), Jochen Schmidt (1990), Johann Kreuzer (1997) und Cyrus Hamlin (1994). Bezeichnenderweise gelangen sie zu sich widersprechenden Ergebnissen. So betrachtet Binder (1967/68) das Gedicht als ein Zeugnis für eine endgültige Destruktion des sich autonom fühlenden neuzeitlichen Subjekts. Dagegen wendet Stierle (1980/81) ein, dass in Hölderlins Gesang das Prinzip der Subjektivität unantastbar bleibe, dass also die idealistisch gedachte Subjektivität der unerlässliche Ausgangspunkt für Hölderlins Dichten bleibe.4 2 3 4
Hölderlins Werke werden nach der Großen Stuttgarter Ausgabe (im Folgenden StA) der Sämtlichen Werke Friedrich Hölderlins zitiert. Gemäß der traditionellen Deutung ist der Urheber der Apokalypse mit dem Evangelisten und Apostel Johannes identisch. Ihr folgt auch Hölderlin in seinem Gesang. Wenn Rousseaus Werk den Horizont des modernen Bewusstseins bezeichnet, »das den unwiderruflichen Weg zur Subjektivität gegangen ist« (Stierle 1980/81, 68), so ist Hölderlins Werk der dichterische Ausdruck dieses Bewusstseins. Binders These, Hölderlin habe »die Epoche
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Somit verzichte ich auf den Versuch einer Gesamtinterpretation des Gedichts Patmos. Ich beschränke mich vielmehr auf einige Anmerkungen, die sich die hermeneutische Aufgabe stellen, aus dem Gedicht selbst zu erfahren, wie wir Hölderlins späte Gedichte lesen sollen, wie wir mithin der Komplexität seiner späten Dichtung gerecht werden und ihr entsprechen können. Mir geht es nicht darum, über das Gedicht zu sprechen, d.h. von oben her und somit von außen darüber zu befinden, was das Gedicht eigentlich meint. Wir lassen uns eher vom Gedicht her sagen, worin sein Eigentümliches bestehe, worauf dieses beruhe. Die Eigentümlichkeit der Patmos-Hymne liegt eben darin, dass sie selbst Anweisungen gibt, was unter einer guten Deutung zu begreifen sei. So lesen wir in den Schlusszeilen der 15. Strophe, die auch die letzte Strophe ist, Folgendes: »Wir haben gedienet der Mutter Erd’ | Und haben jüngst dem Sonnelichte gedient, | Unwissend, der Vater aber liebt, | Der über allen waltet, | Am meisten, daß gepfleget werde | Der veste Buchstab, und bestehendes gut | Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.« (StA 2.1, 172, V. 220-226) Die Hymne Patmos wird oft als Zeugnis einer religiösen Haltung oder als Ausdruck einer bestimmten geschichtsphilosophischen Vision gelesen. Die Möglichkeit solcher Interpretationen ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Der Schlussstrophe entnehmen wir jedoch den deutlichen Hinweis, dass die philosophischen, religiösen, geschichtlichen Fragestellungen in enger Verbindung mit poetischen, ästhetischen, hermeneutischen, rhetorischen Fragestellungen stehen. Die Hymne stellt sich als ein deutscher Gesang vor, der einem bestimmten hermeneutischen Verfahren folgt. Der Gesang ist das Erzeugnis einer komplexen hermeneutischen Tätigkeit, die aus zwei Akten besteht. Diese Akte, die sich gleichzeitig vollziehen und sich gegenseitig ergänzen, sind der Akt der Pflege des festen Buchstabens (in diesem Falle der Heiligen Schrift) und derjenige der guten Deutung des Bestehenden. Die Pflege des Buchstabens legt eine Tätigkeit nahe, die ähnlich dem Dienst an der Mutter Erde ist, der Gehorsam, Selbstverzicht und Selbstdezentrierung voraussetzt. Dagegen verlangt die gute Deutung einen Willen zur Selbstbehauptung. Hölderlins deutscher Gesang folgt demnach gleichzeitig der dienlichen Pflege und dem entschlossenen Deuten. Daraus ergibt sich aber eine doppelte Gefahr. Folgen wir dem Buchstaben knechtisch, dann missdeuten wir den Geist. So lesen wir im Wörterbuch der Gebrüder Grimm: »nach dem buchstaben nehmen, fassen geht auf strenge, wörtliche den rechten Sinn versäumende Erklärung« (Grimm 1999, 1038). Pochen wir hingegen einseitig auf die Deutung, so ergibt sich die Gefahr einer willkürlichen Setzung des Sinnes. Deutung bedeutet in dieser Hinsicht Verdrängung des Buchstabens,
des autonomen Subjekts […] für seine Person überwunden« (Binder 1967/68, 127), wird man, begreift man mit Stierle Hölderlin in der Konsequenz Rousseaus und zugleich vor dem Horizont der modernen Dichtung, die die Dichtung Hölderlins inauguriert, nicht zustimmen können.
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Abschaffung der Eigenständigkeit des Buchstabens, sie bedeutet Aufhebung des Buchstabens in den selbstgenügsamen Geist. Die Rettung findet sich demnach in der ausgeglichenen Beachtung der Pflege des Buchstabens und der freien Deutung des Bestehenden, in der Erhaltung des Buchstabens gegenüber dem Geist. Dass der feste Buchstabe trotz seines Widerstands gegen eine eindeutige Entzifferung zu pflegen und zu deuten ist, ist also die wichtigste hermeneutische Einsicht von Patmos: »If to interpret ›bestehendes‹ is also to make it understandable to Germans, the task of ›deutscher Gesang‹ is translation: the suppression of the letter and its preservation in spirit. But in order for translation to be possible, the ›veste Buchstab‹ cannot be regarded as too solid – that is, inseparable from its meaning – or disregarded as accidental: the translation must be simultaneously secondary and original.« (Warminski 1987, 75)
Der Dichter des Dichters Nun sind diese meine an dem immanent hermeneutischen Charakter der Hymne Hölderlins orientierten Anmerkungen von Heidegger inspiriert. Gleichzeitig sind sie gegen ihn gerichtet. Die genialen Einsichten, die er aus seiner denkerischen Zwiesprache mit Hölderlins Dichtung gewinnt, sind oft von einer unaufhebbaren Blindheit gezeichnet, die sich in der tendenziösen und verfälschenden Selektivität zeigt. Seine Deutung läuft bisweilen auf eine Instrumentalisierung der Gedichte Hölderlins für philosophische, quasi-religiöse oder gar politische Zwecke hinaus. Das dichterische Werk droht auf außerdichterische Impulse reduziert zu werden. Im Zentrum schon der ersten öffentlichen Rede Heideggers über Hölderlin steht die Frage nach dem Wesen des Dichterischen und nach dem Sprachcharakter der Dichtung. Dieser Dichter zeichnet sich vor anderen dadurch aus, dass er »der Dichter des Dichters« (GA 65, 34) sei. Der Dichter stehe zwischen den Winken der Götter und den Sagen, in denen das Volk immer schon seiner Zugehörigkeit zum Seienden im Ganzen eingedenk ist. Der Dichter ist in dieses Zwischen hinausgeworfen, um stellvertretend seinem Volk die Wahrheit zu erringen. Heideggers Hölderlin-Analysen sind eine absichtliche Herausforderung der Philosophie an die Literaturwissenschaft und gehören in den Horizont seiner Auseinandersetzung mit dem Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft. Heideggers Buch Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung enthält Texte, die ausdrücklich keine Beiträge zur literarhistorischen Forschung und zur Ästhetik sein wollen, sondern sich als seinsgeschichtliche Zwiesprache mit dem Dichten verstehen. Noch im »Spiegel«-Gespräch räumt Heidegger ein: »Ich halte Hölderlin nicht für irgend einen Dichter, dessen Werk die Literaturhistoriker neben vielen anderen auch zum Thema machen. Hölderlin ist für mich der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet und der somit nicht nur ein Gegenstand der Hölderlin-Forschung in den literaturhisto-
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rischen Vorstellungen bleiben darf.« (Zit. nach Jamme 1984, 199) Für die literaturwissenschaftliche Forschung, die Heidegger stets in Analogie zur positivistischen Naturwissenschaft sieht, gehe es nur um Feststellung von Fakten, um Hölderlin als einen Forschungsgegenstand unter vielen anderen; Heideggers Fragestellung und Methode ist insofern bewusst parteilich, als er Hölderlins Dichtung nicht in einen toten Gegenstand historischen Fragens verwandelt, sondern ihre zukunftsweisende Lebendigkeit zur Aufweisung bringt. Es geht ihm primär um Denkorientierung als Handlungsorientierung. Denkend drehen sich Heideggers Aufsätze und Vorträge seit 1949 um die dringlicher gewordene Frage, welche Rolle die Kunst als Dichtung zur Rettung der Welt durch Aufweisen der Fragwürdigkeit des bloß rechnenden Denkens bzw. der instrumentellen Vernunft überhaupt noch spielen könne. Die Beschäftigung mit Hölderlin betrifft in diesen Jahren vor allem das dichterische Wohnen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Rede vom Geviert als Signum einer Zeit- und Geschichtsauffassung, die jegliche Teleologisierung abwehrt. Die Welt als Geviert von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen, und das Geviert als Geschehen der Wahrheit – das ist nichts anderes als Hölderlins Umformung der griechischen Mythologie. Hölderlins Gedichte sind für Heidegger »ein tempelloser Schrein, worin das Gedichtete aufbewahrt ist« (GA 65, 7). Dichtung wird gleichsam als Religionsersatz gedacht. Dem Christentum wird aber die geschichtsbildende Kraft abgesprochen. Heidegger liest Hölderlin mit den Augen Nietzsches, der bekanntlich das Christentum als einen Platonismus für das Volk deutet. Es überrascht also nicht, dass Heidegger einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Patmos-Hymne, die zusammen mit den Gedichten Der Einzige und Friedensfeier zu den sogenannten Christus-Hymnen gehört, aus dem Wege geht. Der Grund kann darin liegen, dass sich gerade hier die wesentlichen Differenzen in ihren Zugängen zum Christentum und zur abendländischen Geschichte überhaupt erkennen lassen. Heidegger äußert sich lediglich zu den bekannten Versen »Wo aber Gefahr ist, wächst | Das Rettende auch« (StA 2.1, 165, V. 3-4), die er zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Verhältnis zur Technik macht. Dichtung kann deshalb als Rettung apostrophiert werden, weil sie als Negation von Technik und Wissenschaft die Möglichkeit einer bewohnbaren menschlichen Welt verbürgt. Heideggers Kunstdenken ist im Kern praxisorientiert. Es geht in ihr stets darum, eine Entwicklung aufzuhalten, die mit der Pervertierung des Denkens zur theoretischen Vergewaltigung des Objekts begonnen hat und dann zur Herrschaft des Menschen über die Natur und schließlich auch zur Herrschaft des Menschen über den Menschen geführt hat. Aber gerade diese einseitige politisch-praktische Orientierung seines Kunstdenkens macht Heidegger zuweilen blind für bestimmte Aspekte der Dichtung Hölderlins. So geht etwa die Interpretation der FeiertagsHymne in die Irre. Bei Heidegger endet die Hymne mit der Zuversicht, dass der Dichter dem göttlichen Feuer begegnen könne, dass also der Dichter den Auftrag
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der göttlichen Vermittlung erfüllen könne. Doch wird dieser höchste Auftrag schon von Hölderlin selbst als illegitime Überschreitung ausgelegt: »Und sag ich gleich, | Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen, | Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden | Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich | Das warnende Lied den Gelehrigen singe.« (StA 2.1, 120, V. 69-73) Heidegger lässt nun die Schlussverse fort, die die Empedokles-Problematik des »falschen Priesters« behandeln. Er folgt hier Norbert von Hellingrath, der 1916 das Gedicht in derselben Gestalt veröffentlicht hatte: »mit der Unterdrückung der fragmentarischen Schlussverse unterliegt er also schlicht einer Verfälschung der George-Schule, die ihr Bild vom Dichter als vermittelnden Priester durch nichts gefährden lassen wollte, und so den Einbruch der Verzweiflung bei Hölderlin einfach negierte« (Jamme 1984, 213). Trotz aller gerechtfertigten Kritik darf man aber nicht darüber hinwegsehen, dass Heidegger die Notwendigkeit einer Zurückweisung dichterischer Unmittelbarkeit eigens thematisiert. Er meint, dass diese Versuchung nur so zu vermeiden sei, dass man das dichterische Sagen Hölderlins als ein stilles Nennen der Götter auffasse. Er entfaltet dabei die Konzeption des stillen Nennens vornehmlich in Anlehnung an eine gründliche Erörterung der vier ersten Verszeilen der PatmosHymne. Zugleich weist er darauf hin, dass diese Konzeption nur dann angemessen zu verstehen ist, wenn wir einsehen, dass dieses Sagen der Grunderfahrung des Fehls heiliger Namen entspringe, die mit der Not der Seinsvergessenheit eng verflochten sei. Dies soll im Folgenden ausführlicher gezeigt werden.
Einkehr in die Stille In seinem 1959 in Berlin gehaltenen Vortrag »Der Weg zur Sprache« zitiert Heidegger folgende Textstelle aus der Friedensfeier, um den durch die Grunderfahrung der Seinsvergessenheit in Gang gesetzten Sprachwandel zu erläutern: »Viel hat von Morgen an, | Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, | Erfahren der Mensch; bald sind aber Gesang (wir).« (GA 12, 255) Schon in seinem 1936 in Rom gehaltenen Vortrag »Hölderlin und das Wesen der Dichtung« hat er gezeigt, dass das Gespräch nicht nur eine Vollzugsweise der Sprache ist, sondern ihr eigentliches Geschehen, in dem das Sein des Menschen gründet. Hölderlin redet aber bezeichnenderweise nicht von dem Gespräch, sondern von einem Gespräch. Die Sprache geschieht als Gespräch nur, wenn sie Einheit erwirkt, wenn jeweils im wesentlichen Wort das Eine und Selbe offenbar ist, worauf wir uns einigen. Der Bezug auf das Eine und Selbe ist die Wesensbedingung des Gesprächs. Das Eine und Selbe kommt jedoch dann zum Vorschein, wenn der Mensch sich in die Gegenwart eines Bleibenden und Ständigen stellt. Nur wenn das Sein als beständige Anwesenheit (οὐσία) erfahren wird, kann die Sprache als Gespräch, als einigend-sammelnder λόγος geschehen. Οὐσία, ursprünglicher gedacht, meint das Hervorgehen aus der
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Abwesenheit in die Anwesenheit, meint die φύσις. Die φύσις, nicht als ein gesonderter Bereich des Seienden, sondern als Aufgehen, als Sichöffnen erfahren, ist das Allgegenwärtige. Als das Allgegenwärtige ist φύσις das Einigend-Sammelnde, ist λόγος. Die Erfahrung der Sprache als λόγος ist wesenhaft an die erstanfängliche, d.i. griechische Erfahrung des Seins als φύσις und παρουσία. Φύσις und λόγος sind aber die Grundworte des vorsokratischen Denkens, die bald zugunsten der ἰδέα und des διαλέγεσθαι, der Durchsprache aller Hinsichten, welche die ἰδέα bietet, und schließlich der οὐσία und der κατηγορίαι zurücktreten mussten. Das Gespräch ist demnach keine zeitlose Wesensbestimmung der Sprache. Diese gehört in eine bestimmte Zeit; sie stiftet eine Zeit. Darum sagt auch Hölderlin nicht einfach: wir sind ein Gespräch, sondern: »Seit ein Gespräch wir sind…«. Was geschieht aber, seitdem wir ein Gespräch sind? Nichts Geringeres als dies: Die Götter werden genannt, und die Welt wird zu Wort. Das heißt aber nicht: die Anwesenheit der Götter und das Erscheinen der Welt sind eine bloße Folge des Geschehnisses der Sprache, sondern sie sind damit gleichzeitig: »Und das sosehr, daß im Nennen der Götter und im Wort-Werden der Welt gerade das eigentliche Gespräch besteht, das wir selbst sind.« (GA 4, 40) Die Götter sind hier keine bloß übersinnlichen Wesenheiten, sondern diejenigen Seinsmächte, welche das Geschehen des Gesprächs ermöglichen und seinen Fortlauf verbürgen. Ihre Benennung kann also nicht darin bestehen, dass ein vordem schon Bekanntes nur mit einem Namen versehen wird, sondern in einer durch den Dichter vollzogenen Stiftung: »Der Dichter nennt die Götter und nennt alle Dinge in dem, was sie sind. […] Dichtung ist die worthafte Stiftung des Seins.« (GA 4, 41) Weil das Sein niemals aus dem Seienden abgeleitet werden kann, muss es frei geschaffen und geschenkt werden: »Solche freie Schenkung ist Stiftung.« (GA 4, 41) Diese schenkende Stiftung ist dennoch niemals bloße Willkür. Der Dichter vermag die Götter nur zu nennen, wenn sie selbst uns ansprechen und unter ihren Anspruch stellen: »Das Wort, das die Götter nennt, ist immer Antwort auf solchen Anspruch.« (GA 4, 40) Wie aber, wenn die Götter uns nicht mehr ansprechen, wenn wir der Götter nicht mehr bedürfen? Dann beginnt die »dürftige Zeit«, die Zeit, die Hölderlins Gedicht stiftet. Der Dichter vermag nicht mehr die Götter und die Dinge in ihrem Was- und Wie-Sein zu nennen. Das Anwesen des Göttlichen bleibt aus. Denn: »Göttliches trifft untheilnehmende nicht.« (GA 13, 232) Die »Untheilnehmenden« nennt Hölderlin die »Titanen«. Diese sind die in die Machenschaften der Technik Verstrickten, die vom Wesen der Technik in Anspruch Genommenen. Im Zeitalter der Technik sieht sich die Dichtung um ihre Aufgabe bedroht: »es fehlen heilige Nahmen.« (GA 13, 232) Der Dichter wird in die Sprachlosigkeit zurückgeworfen. Die Sprache kehrt in die Stille zurück, sie kommt zu ihrem Ende. Hält aber der Dichter im Nichts dieser Stille stand, dann ereignet sich ein Wandel. Die Sprache west nicht mehr ausschließlich als Gespräch an: »bald sind aber Gesang (wir)«. Gesang ist nicht die nachträgliche Vertonung des Gesprochenen und Geschriebe-
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nen. Es handelt sich vielmehr um ein gegenüber dem Gespräch gewandeltes Sagen, dem jegliche Selbstreflexivität abgeht, ein Sprechen, dem jegliche transzendentale Bürgschaft fehlt, ob die Sprechenden sich jeweils auf das Eine und Selbe beziehen oder nicht, ein Sagen also, dem sein eigenster Ort, von dem aus es spricht, verborgen bleibt. Gesang ist das Sagen, das die Erfahrung des Endes der Sprache einbezogen hat, ist mithin ein endliches Sagen. Die dürftige Zeit ist die Zeit des Übergangs vom Gespräch zum Gesang, die Zeit, in der sich das Wesen der Sprache wandelt. Dieser geschickhafte Wesenswandel vollzieht sich aber nicht bruchartig. Denn der Gesang ist »nicht der Gegensatz zum Gespräch, sondern die innigste Verwandtschaft mit ihm; denn auch der Gesang ist Sprache« (GA 12, 172) und insofern auch Gespräch; aber ein Gespräch, das aus der Stille des Fehls heiliger Namen entspringt. So gesehen bedeutet der Gesang nicht das Ende des Gesprächs, sondern im Gegenteil seine ständige Geburt aus dem Ereignis der Stille: »Schicksaalgesetz ist diß, daß Alle sich erfahren, | Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei.« (GA 12, 172) Mit dem Wandel der Sprache geht ein Wandel des Wesens der Dichtung einher. Heidegger lässt sich auf diese Frage in seiner Erläuterung des hölderlinschen Gedichts Wie wenn am Feiertage ein. Aufgabe des Dichters in der dürftigen Zeit ist nicht mehr die stiftende Nennung der Götter, sondern das Nennen des Heiligen: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, | Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.« (Zit. nach GA 4, 57) Das, was im benannten Gedicht geschieht, ist nach Heidegger die Überwindung eines anderen Grundwortes Hölderlins: der Natur. In der dürftigen Zeit verwandelt sich die Natur in das Heilige: »Das Heilige ist das Wesen der Natur.« (GA 4, 59) In diese Verwandlung wird der Dichter vom Heiligen selbst genötigt: »So genötigt nennt Hölderlin die Natur ›das Heilige‹.« (GA 4, 58) Die Natur verschenkt allem Seienden die Lichtung, in deren Offenes hinein erst alles Seiende als Seiendes erscheinen kann. Sogar das Erscheinen der Götter setzt das Scheinen der Natur voraus. Darum nennt Hölderlin sie das Heilige. Dieses ist aber das Offene selbst und als solches das schlechthin Unmittelbare, welches, wie Hölderlin in seinem mit Das Höchste überschriebenen Bruchstück zeigt, »für die Sterblichen unmöglich« (GA 4, 62) ist, »wie für die Unsterblichen« (GA 4, 62). Das Heilige ist also weder für die Götter noch für den Menschen erkennbar bzw. sagbar. Es ist selbst die Dimension des Unsagbaren. Als Unsagbares ist das Heilige das Chaos. Im Blick aber auf das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen, die in die Dimension des unsagbaren Heiligen immer schon mit einbezogen sind, ist das Heilige die »strenge Mittelbarkeit« (GA 4, 62) und mithin »das Gesez« (GA 4, 62). Das Heilige ist also beides: das unsagbare, unmittelbare Chaos und zugleich die alles vermittelnde Mittelbarkeit, das Gesetz, dem sogar das Sagen der Götter entspringt. Die Dichter, welche die Götter genannt haben, haben auch, wenngleich mittelbar, das Heilige genannt, sofern das Erscheinen der Götter immer schon
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durch das Scheinen des Heiligen vermittelt war. Das Heilige ist als das Unsagbare zugleich der Ursprungsquell, aus dem jedes Sagen seine Sagbarkeit empfängt. Als das Unmittelbare ist das Heilige für die Sterblichen unzugänglich. Es ist »die Schrecknis der Allerschütterung« (GA 4, 72), das »Un-nahbare« (GA 4, 63), das jeden unmittelbaren Zudrang des Mittelbaren aus seinem Vorhaben ins Vergebliche wirft und allem Erfahren seinen Standort entzieht. Das Heilige ist das Entsetzliche selbst: »Daher bedürfen die Erdensöhne der Vermittlung des Heiligen in der Gabe des gefahrenlosen Gesanges.« (GA 4, 72) Indem aber das Heilige ins singende Wort geborgen wird, kommt sein innerstes Wesen, das Unmittelbare schlechthin zu sein, ins Wanken. Das menschliche Wort droht es seiner Unmittelbarkeit zu entreißen und »durch die Versetzung in das Mittelbare der Wesensvernichtung preiszugeben« (GA 4, 73f.). Das Unmittelbare (bzw. Unsagbare) erhält sich in der Vermittlung (bzw. im Sagen) als Unmittelbares (bzw. Unsagbares), d.h. ohne auf ein Mittelbares (bzw. Sagbares) reduziert zu werden, wenn das Heilige sich selbst ins dichtende Wort bringt. Das Nennen des Heiligen ist keine eigenmächtige Leistung des Dichters,5 sondern es ist vom Heiligen selbst genötigt. Das dichterische Sagen ist eine Gabe des Heiligen, die der Dichter »in der Stille seines Schweigens« (GA 4, 67) verwahrt. Kommt aber das Heilige selbst in das von ihm genötigte Sagen als die Stille des Unsagbaren, dann verwandelt sich das dichterische Wort in ein preisendes, rühmendes Sagen; es wird Hymne: »Das Wort dieses Gesanges ist nicht mehr eine ›Hymne an‹ etwas, weder die ›Hymne an die Dichter‹, noch aber auch die Hymne ›an‹ die Natur, sondern die Hymne ›des‹ Heiligen.« (GA 4, 76) Der Dichter, vom Strahl des Heiligen selbst getroffen, kehrt in seinen Wesensbereich zurück. Es erbebt in der Erinnerung an das Geschick Semeles’, der Mutter von Dionysos, welche den Gott nach menschlicher Art zu sehen suchte; ihre Gier riss sie fort »in die einzige Glut des losgebundenen Blitzes« (GA 4, 70). Der Dichter singt aber, sein Geschick möge dies sein, das Heilige in seinem Sagen als Unsagbares zu sagen, und nicht wie Semeles zu leiden, weil sie das Heilige vergaß und sein Wesen ins Mittelbare verkehrte. Weshalb kann aber der Dichter gerade ›jezt‹ das Heilige nennen? Was heißt ›jezt‹? Das Wort meint freilich nicht die Zeit der Entstehung des Gedichts, sondern die ›dürftige Zeit‹, also »das Weltalter, dem wir selbst noch angehören« (GA 5, 269). Das ›jezt‹ nennt die Zeit der Weltnacht, in der die Götter entflohen sind. Diese 5
Dem denkenden Gespräch mit dem Dichter liegt ein anderes Textverständnis zugrunde. Das Werk des Dichters gilt hier nicht als die Leistung eines ausgezeichneten Subjekts, das über seine eigenen Intentionen verfügt und sie, selbstbewusst, zur Sprache bringt. Eine solche Auffassung bricht zusammen, sobald man eingesehen hat, dass die Sprache kein bloßes Ausdrucksmittel ist und sein kann, weil sie unendlich mächtiger als irgendwelche privaten Absichten ist. Im denkenden Gespräch wird der Dichter nicht als Autor oder Schriftsteller gefasst. Der ›Text‹ ist hier primär die Stätte eines subjektlosen Geschehens. Das was hier geschieht, ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit.
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ist bereits »so dürftig geworden, dass sie nicht mehr vermag, den Fehl Gottes als Fehl zu merken« (GA 5, 269). Damit ist aber auch »der Glanz der Gottheit« (GA 5, 269) in der Weltgeschichte erloschen. Die Aufgabe des Dichters wandelt sich radikal: »Dichter sein in dürftiger Zeit heißt: singend auf die Spur der entflohenen Götter achten. Darum sagt der Dichter zur Zeit der Weltnacht das Heilige.« (GA 5, 272) Es kann also das Heilige nennen, weil Gott fehlt, weil die heiligen Namen fehlen. Im trauernden Austragen der Stille dieses Fehls kündigt sich das Heilige selbst an. Die Erfahrung des Fehls heiliger Namen ist gleichsam die Bedingung der Möglichkeit für die Benennung des Heiligen. Die Weltnacht der entflohenen Götter ist somit der Tag (»Jezt aber tagts!«), an dem das Heilige an den Hymnen zur Sprache kommt: »Deshalb ist die Weltnacht in der Sprache Hölderlins die heilige Nacht.« (GA 5, 272) Der Fehl Gottes als Fehl erfahren, ist kein bloßer Fehler, kein Mangel. Er ist Fehl Gottes, also ein Fehl, der von Gott selbst kommt, d.h. Gott selbst schickt den Dichter in diese Erfahrung, um so den Glanz seiner unverfügbaren Göttlichkeit ans Licht zu bringen. Deshalb ist für den Dichter der Fehl Gottes sogar das Helfende, sofern es ihm hilft, in die Dimension des Heiligen, aus der Gott seine Göttlichkeit empfängt, einzukehren. Wie kündigt sich aber das Heilige in der Zeit der Weltnacht an? Als »die Spur der entflohenen Götter« (GA 5, 272) und mithin als »die Spur zur Gottheit« (GA 5, 272). Das Heilige west nicht als ein beständig Anwesendes, das im Nennen des Dichters vollständig enthüllbar wäre. Das Heilige west als Spur, als Wink: »Der Wink ist das zögernde Sichversagen« (GA 65, 383), das Ineinanderspielen von Verbergung und Entbergung, von Geheimnis und Eröffnung. Deshalb ist auch das dichterische Nennen des Heiligen kein ausschließlich enthüllendes Sagen, was in einer Wesensvernichtung des Heiligen enden würde, sondern selbst ein Winken: »Das ursprüngliche Sagen macht weder nur unmittelbar offenbar, noch verhüllt es einfach nur schlechthin, sondern dieses Sagen ist beides in einem und als dieses Eine ein Winken, wo das Gesagte auf Ungesagtes, das Ungesagte auf Gesagtes und zu Sagendes weist.« (GA 39, 127f.) Das dichterische Nennen beschreibt nicht, drückt nicht aus, enthüllt nicht, sondern lässt die verbergende Macht des Geheimnisses des Heiligen in seinem Sagen unberührt: »Das dichterische Sagen vom Geheimnis ist die Verleugnung.« (GA 39, 119) Heidegger meint damit allerdings nicht, dass der Dichter das Geheimnis verleugnet, verneint oder gar vernichtet; gerade das Umgekehrte ist der Fall. Der Dichter bewahrt das Geheimnis, indem er dessen Verwandlung in ein Sagbares verleugnet. Das eigentlich zu Sagende ist ein Unsagbares, das nur in der Verleugnung, im »Wegrücken« (GA 39, 120) gesagt werden darf. Deshalb ist der Gesang »mehr ein verhüllendes Sagen als ein enthüllendes« (GA 39, 203) und insofern »alles andere denn eine fortlaufende Erzählung und Beschreibung« (GA 39, 203).
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Die Rettung des Buchstabens Hölderlin erfährt in der Zeit der Weltnacht, dass er nicht mehr, wie die früheren Dichter, die Götter nennen kann. Er gewinnt somit einen Einblick in die Berufung des Dichters, die Götter zu nennen, gerade in einer Zeit, in der er nicht mehr seine Berufung erfüllen kann. Darum muss er schweigsam auf die Ankunft der Götter warten. Von der Ankunft, die Hölderlin dichterisch erfährt, sagt eine späte Variante zu seinem großen Gesang Der Archipelagus. Es sind sieben Verszeilen, die zum ersten Mal von Friedrich Beissner 1951 veröffentlicht wurden. Der Text lautet: »Aber weil so nahe sie sind die gegenwärtigen Götter | Muß ich seyn, als wären sie fern, und dunkel in Wolken | Muß ihr Nahme mir seyn, nur ehe der Morgen | Aufglänzt, ehe das Leben im Mittag glühet | Nenn’ ich stille sie mir, damit der Dichter das seine | Habe, wenn aber hinab das himmlische Licht geht | Denk’ ich des vergangenen gern, und sage – blühet indeß.« (StA 2.2, 646, V. 261-268) Man möchte aber meinen, wenn die gegenwärtigen Götter dem Dichter so nahe sind, dann ergäbe sich das Nennen ihrer Namen von selbst. Allein das ›so nahe‹ bedeutet ›zu nahe‹. In seinem 1968 gehaltenen Vortrag mit dem Titel »Das Gedicht« verweist Heidegger auf die schon erwähnten ersten Verszeilen der Hymne Patmos: »Nah ist | Und schwer zu fassen der Gott. | Wo aber Gefahr ist, wächst | Das Rettende auch.« (StA 2.1, 165, V. 1-4) Der Gott ist zu nahe, als dass er leicht zu fassen wäre. Heidegger weist darauf hin, dass dasselbe Wort wie ›nahe‹ im Wort ›genau‹ spricht. Denn das alte ›genau‹ bedeutet: nahegehend. Zu nahgehend sind, so Heidegger, die in der Richtung auf den Dichter ankommenden Götter. Darum ist dieses Ankommen noch schwerer zu sagen als die vollendete Anwesenheit. Denn auch diese vermag der Mensch nicht geradehin unmittelbar zu vernehmen. Bis das nennende Wort gefunden ist, gilt es, Schweres auszutragen. Dieses Schwere bringt das dichterische Sagen in die Not, die aus der Sphäre des Heiligen kommt: »›heiliggenöthigt‹ wird der Dichter in ein Sagen, das ›nur‹ ein stilles Nennen ist.« (GA 4, 187) Der Name, in dem das stille Nennen spricht, muss also dunkel sein, weil er das zu hüten hat, dessen Grundzug das Sichverbergen ist. Das besagt, dass dieses Nennen nicht bloß enthüllend ist. Zwar ist jedes Nennen ein erfahren-lassendes Zeigen. Wenn dieses jedoch so geschehen muss, dass es sich aus der Nähe des zu Nennenden entfernt, dann wird solches Sagen des Fernen als Sagen in die Ferne zum Rufen. »Wenn aber das zu Rufende zu nahe ist, muss, damit das Gerufene in seine Ferne gewahrt bleibt, als Genanntes seines Namens ›dunkel‹ sein. Der Name muss verhüllen. Das Nennen ist als entbergendes Rufen zugleich ein Verbergen.« (GA 4, 188) Damit wird die an sich metaphysische Hoffnung auf dasjenige Wort, das die endgültige Vereinigung von Sprechen und Sein verspricht, preisgegeben. Darum muss Freys Kritik, dass »in Heideggers Text der Unterschied zwischen nennen und sein verwischt« (Frey 2003, 44) werde, als Missverständnis zurückgewiesen werden.
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Hölderlins Gedicht erweist sich somit als ein stilles Nennen. Dies soll aber nicht heißen, dass der Dichter das zu Nennende bloß für sich behält und nichts davon den anderen Menschen mitteilen will. Dass der Dichter sich die Götter stille nennt, bedeutet, dass er in seinem Sagen und einzig durch dieses das Ungesagte erscheinen lässt – und zwar als ein Ungesagtes. Im stillen Nennen liegt die für Hölderlin ungemein charakteristische Geste des Zurücktretens, damit sich ein Raum öffne, in welchem der Dichter erst sprechen und den Göttern hinsprechen kann. Im Sagen dieses Gesangs wird die repräsentierende Darstellung der Götter zurückgehalten. Wird aber Hölderlins dichterisches Sagen als stilles Nennen gefasst, so stellt sich die Frage, wie wir ihm schicklich entsprechen können. Freilich, nicht in der Weise, dass wir das Ungesagte in etwas Sagbares verwandeln. Hölderlins Gedicht zeichnet sich durch seine Verweigerung verstehender Aneignung aus. Die ihm zugrundeliegende Hermeneutik hat demnach den Charakter einer gelassenen Anerkennung des unaufhebbaren Geheimnisses des Heiligen selbst. Wir sahen schon, dass Hölderlin in Patmos seine Hymne als einen deutschen Gesang bezeichnet, der sich aus einer komplexen hermeneutischen Tätigkeit ergibt, sofern er der dienlichen Pflege des festen Buchstabens und gleichzeitig der guten Deutung des Bestehenden folgt. Damit ist angedeutet, dass sein Gedicht sich in seiner erratischen Buchstäblichkeit gegen die Übersetzung in seinen Geist, in seinem freien Signifikantenspiel gegen die Reduktion auf seine Bedeutung, in seiner undurchdringlichen Oberfläche gegen die Überschreitung in ein tieferes Wesen sperrt. Hölderlins »deutscher Gesang« (StA 2.1, 172, V. 226) ist eine Weise der Darstellung, die die Hierarchien von Geist und Buchstabe, Allgemeinem und Besonderem, Verstand und Sinnlichkeit überwindet. Der negative Bezug des Gedichts von Hölderlin auf diese Hierarchien kann jedoch auf doppelte Weise verstanden werden: Er gilt entweder allein der traditionellen Hermeneutik, die Geist und Bedeutung von ihrer Darstellung in Buchstaben und Signifikanten losreißt; oder aber er richtet sich auch gegen solche hermeneutische Positionen, die Geist und Bedeutung dichterischer Darstellungen in ihren Buchstaben und Signifikanten verkörpert sehen. Das erste Verständnis ist gegen begrifflich einholbaren Sinn gerichtet, das zweite gegen verstehbaren Sinn überhaupt. Hölderlins implizite Poetik weist nicht erst die Übersetzbarkeit des Sinns von Gedichten in begrifflicher Rede, sie weist bereits die Einholbarkeit des Buchstabens von Gedichten im Verstehen ihres Sinns zurück. Sie vermeidet aber zugleich die sich daraus ergebende Gefahr, die freigesetzte Buchstäblichkeit des Gedichts, die sich jedem verstehenden Erfassen verweigert, von kruder Positivität und bloßer Vorhandenheit ununterscheidbar zu werden. In Anlehnung an Adorno können wir Hölderlins Gedicht als Ding »zweiter
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Stufe« (Adorno 1970, 152) bezeichnen6 und es mit Derrida darin doppelt abgrenzen: »Es ist noch nicht ganz Zeichen, in dem Sinne, wie wir es verstehen, es ist aber auch kein Ding mehr, das wir nur im Gegensatz zum Zeichen denken können.« (Derrida 1972, 292)
Quellen Grimm, Jakob und Wilhelm (1999): Deutsches Wörterbuch, Bd. 2: Biermörder – D. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (= Bd. II, Leipzig 1860). Heidegger, Martin (1975ff.): Gesamtausgabe (GA). Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. GA 4 Bd. 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt a.M.: Klostermann 1981. GA 5 Bd. 5: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 1978. GA 12 Bd. 12: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a.M.: Klostermann 1985. GA 13 Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens. Frankfurt a.M.: Klostermann 1983. GA 39 Bd. 39: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. Frankfurt a.M.: Klostermann 1980. GA 65 Bd. 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a.M.: Klostermann 1989. Hölderlin, Friedrich (1946-1977): Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe (StA), Bde. 1-7/4. Hg. von Friedrich Beißner [Band 6-7 von Adolf Beck]. Stuttgart: Kohlhammer. StA 2/1 Bd. 2: Gedichte nach 1800, Teil 1: Text. Hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart: Kohlhammer 1951. StA 2/2 Bd. 2: Gedichte nach 1800, Teil 2: Lesarten und Erläuterungen. Hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart: Kohlhammer 1951.
Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Binder, Wolfgang (1967/68): Hölderlins Patmos-Hymne. In: Hölderlin-Jahrbuch, Bd. 15, 92-127. Derrida, Jacques (1972): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Adornos Begriff des Dinges zweiter Stufe bestimmt also das Gedicht Hölderlins in zwei Hinsichten: als sich nur im Verstehensgeschehen zeigendes Unverstehbares und als ästhetische Rettung des freigesetzten Buchstabens.
Das stille Nennen der Götter
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Eleusis und Athen bei Hegel und Hölderlin Martin Vöhler Im August 1796 entwirft Hegel sein Gedicht Eleusis,1 das er dem Studienfreund Friedrich Hölderlin widmet. Beide hatten zwischen 1788 und 1793, zur Zeit der Französischen Revolution, Theologie in Tübingen studiert. Nach dem Studienabschluss entscheiden sie sich, die vorgesehene Laufbahn als protestantische Pfarrer nicht einzuschlagen, sondern ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Sie möchten als Schriftsteller politisch wirksam werden. Zu diesem Zweck nehmen sie die Bedingungen einer »höheren Dienerstellung« (Dilthey 1925, 16) in Kauf und arbeiten als Hauslehrer. Hegel geht nach Bern zur Familie des Hauptmanns von Steiger; Hölderlin hingegen findet nach Zwischenstationen in Waltershausen und Jena eine Anstellung bei der Familie des Bankiers Gontard in Frankfurt am Main. Als er von einer vakanten Stelle in Frankfurt hört, wendet er sich an Hegel. Der intensive intellektuelle Austausch, der sie einst in Tübingen verbunden hatte, soll in Frankfurt fortgesetzt werden (vgl. Jamme 1983, 141-225). Hölderlin schreibt Hegel im Frühsommer 1796 erstmals von der vakanten Stelle im Hause Gogel.2 Dieser antwortet auf die Einladung mit dem Entwurf des Gedichts Eleusis, das vermutlich als Briefbeilage gedacht war. Ob der Gedichtentwurf an Hölderlin abgeschickt wurde, ist nicht gewiss, da Hölderlin in der Korrespondenz nirgends auf Hegels Gedicht eingeht. Dennoch erscheint es mir als wahrscheinlich, dass Hölderlin Hegels Entwurf kennengelernt hat, denn er bezieht sich in Brod und Wein (StA 2/1, 90-95), wie im Ausblick gezeigt werden soll, auf Motive daraus und schreibt sie fort. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf zwei Gesichtspunkte: (1) auf die lyrische Form von Hegels Gedicht, die von der Forschung vernachlässigt wurde; wie auch (2) auf Hegels Bezugnahme zu Hölderlins Tübinger Dichtung (StA
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Hegels Gedicht Eleusis wird nach der Großen Stuttgarter Ausgabe (im Folgenden StA) von Hölderlins Sämtlichen Werken zitiert: StA 7/1, 233-236. Die Angaben zur Entstehungsgeschichte richten sich nach den Erläuterungen zu Hegels Gedicht, vgl. StA 7/1, 236-241, hier 236. Eine Abbildung der Handschrift des Gedichts Eleusis findet sich auf den unpaginierten Eingangsseiten von Haering 1929, vgl. auch das Digitalisat der Handschrift in der Sammlung der Universitätsbibliothek der Eberhard Karls Universität Tübingen: http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/MiVIII34_3#p=1 (zuletzt besucht: 14.7.2020).
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1/1, 67-180). Indem er Eleusis zum Ort seines Gedichts wählt, stellt Hegel einen markanten Gegensatz zu Hölderlins Athen-Verehrung her.
Zur Konzeption von Eleusis In seinem Gedichtentwurf spannt Hegel einen weiten Bogen vom Bieler See nach Griechenland. Die schweizerische Wahlheimat, von der das Gedicht ausgeht, wird in den Eingangsversen als ambivalent beschrieben: Um mich, in mir wohnt Ruhe, – der geschäftgen Menschen nie müde Sorge schläft, sie geben Freiheit und Musse mir – Dank dir, du meine Befreierin o Nacht! – mit weissem Nebelflor umzieht der Mond die ungewissen Gränzen der fernen Hügel; freundl. Blinkt der helle Streif des Sees herüber – des Tags langweil’gen Lermen fernt Errinnerung, als lägen Jahre zwischen ihm und izt;
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Hegel geht, worauf die biografische Forschung hingewiesen hat (vgl. D’Hondt 1972, 193-237),3 von einem sehr konkreten Ort aus: dem Anwesen der Familie von Steiger am Fuße des Jolimont. Von hier aus reicht der Blick über eine Hügellandschaft bis zum Bieler See mit der Petersinsel, die von Hegels Zimmer aus zu einem kleinen Teil sichtbar war. Auf dieser Insel hatte Rousseau die berühmten ›Spaziergänge‹ unternommen und dieselben mit seinen Träumereien verbunden. Hegels Gedicht nennt die »fernen Hügel« (6) und den »See« (7); es ist vom Geiste Rousseaus erfüllt: Mit dem Einbruch der »Nacht« (4) entfernt sich der Sprecher von dem Leben »der geschäftgen Menschen« (1) und geht in »Ruhe« (1) und »Musse« (3) zur »Errinnerung« (8) über. In seinem Aufbau durchläuft das Gedicht verschiedene Stationen, die sprunghaft und scheinbar willkürlich miteinander verbunden werden. Hegel schreibt einen Gesang im Stile Klopstocks; dieser hatte in der Einleitung zu den Geistlichen Liedern (1758) zwischen Lied und Gesang als einander entgegengesetzten Grundformen der Lyrik unterschieden. Beide behandeln ihren Gegenstand so, dass sie dem Publikum das Herz zu bewegen vermögen. Ihr spezifischer Unterschied aber liege im Grad der Gemütsbewegung. Das Lied solle sein Thema in leicht verständlicher Weise vorstellen, der Gesang hingegen in höchster Gespanntheit:
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Zur Kritik an D’Hondts These vom »Freimauerischen Anliegen« in Hegels Eleusis, vgl. Bondeli 1990, 67, 72-83, und Iber 2005, 205.
Eleusis und Athen bei Hegel und Hölderlin
Der Gesang ist fast immer kurz, feurig, stark, voll himmlischer Leidenschaften; oft kühn, heftig, bilderreich in Gedanken und im Ausdrucke; und nicht selten von denjenigen Gedanken beseelt, die allein, von dem Erstaunen über Gott, entstehen können. […] Er fliegt von Gebirge zu Gebirge, und läßt die Thäler, wie schön und blumenvoll sie auch seyn möchten, unberührt liegen. Denn wenn unsre Seele entweder durch die Hoheit der Gedanken, oder durch das Feuer der Empfindungen stark bewegt ist; so ist es ihrer Natur gemäß, so zu denken. Gewisse nähere Erklärungen, gewisse Ausbildungen will sie alsdann nicht. Sie eilt fort. Sie hatte das alles schon hinzugedacht. (Klopstock 1823, 55-56) Der Gesang zeichne sich somit durch Empfindungs- und Gedankenfülle aus: Kürze, Vehemenz, einprägsame Metaphorik und starke Emphasis kennzeichnen ihn. Er erfordert höchstes Pathos und einen »leidenschaftlich-heftigen« Vortrag. Das Publikum ist gefordert, die gedanklichen Lücken zu ergänzen; es soll die Verknüpfungen selbst herstellen und so die heterogenen Partien miteinander verbinden. Die gedanklichen Sprünge gelten als Ausdruck einer begeisterten Phantasie, sie werden nachgerade vom dithyrambischen Gesang erwartet. Hegel entwirft in dieser Weise ein Tableau von Bildern, deren erstes dem abwesenden Freund Hölderlin gewidmet ist. Hegel entwickelt es in den Versen 10-21: dein Bild, Geliebter, tritt vor mich, und der entfloh’nen Tage Lust; doch bald weicht sie des Wiedersehens süssern Hofnungen – Schon mahlt sich mir der langersehnten, feurigen Umarmung Scene, dan der Fragen, des geheimern des wechselseitigen Ausspähens Scene, was hier an Haltung, Ausdruk, Sinnesart am Freund sich seit der Zeit geändert, – der Gewisheit Wonne, des alten Bundes Treue, fester, reifer noch zu finden, des Bundes, den kein Eid besigelte, der freyen Wahrheit nur zu leben, Frieden mit der Sazung, die Meinung und Empfindung regelt, nie nie einzugehn.
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Die Erinnerung richtet sich auf die gemeinsam verbrachten »Tage« mit ihrer »Lust« (11) an der geistigen Auseinandersetzung, von der Hölderlin in einem Brief an Hegel im Juli 1794 geschrieben hatte: »Übrigens wünscht’ ich doch oft Dir nahe zu sein. Du warst so oft mein Genius. Ich danke Dir ser viel. Das fül ich erst seit unserer Trennung ganz. Ich möchte Dir wol noch manches ablernen, auch zuweilen etwas von dem meinigen mitteilen.« (StA 6/1, 127) In Hegels Gedicht wird das baldige Wiedersehen vorweggenommen. Die Erwartung steigert sich zur »Wonne« (17) angesichts der erneuten Zusammenkunft.
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Hatte sich der alte Freundschaftsbund auf die Maxime, »der freyen Wahrheit nur zu leben« (20) gegründet, so soll die Zusammenarbeit jetzt erneuert werden: Nun unterhandelt mit der trägern Wirklichkeit der Wunsch, der über Berge Flüße leicht mich zu dir trug, – doch ihren Zwist verkündet bald ein Seufzer, und mit ihm entflieh’t der süssen Phantasien Traum. Mein Aug erhebt sich zu des ew’gen Himmels Wölbung, zu dir, o glänzendes Gestirn der Nacht! und aller Wünsche, aller Hoffnungen Vergessen strömt aus deiner Ewigkeit herab; [der Sinn verliert sich in dem Anschaun, was mein ich nannte schwindet, ich gebe mich dem unermeslichen dahin, ich bin in ihm bin alles, bin nur es. Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet, ihm graut vor dem unendlichen, und staunend fast er dieses Anschauns Tiefe nicht. Dem Sinne nähert Phantasie das Ewige vermählt es mit Gestalt –] […]
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Der »Wunsch« (22) nach einer Wiedererlangung der Tübinger Nähe und Vertrautheit darf nicht zu stark vorgebracht werden. Das Sprecher-Ich will der »trägern Wirklichkeit« (22) Rechnung tragen. Geduld ist gefragt, und es folgt daher – wiederum in überraschender Wendung (saltus dithyrambicus) – ein Blick zum nächtlichen Sternenhimmel (26), dessen Glanz die Vorstellung »aller Wünsche, aller Hoffnungen« (28) zum Schweigen bringt. In den Versen 30-38 wird die Betrachtung des Sternenhimmels näher bestimmt. Der später von Hegel gestrichene (und daher von den Herausgebern der Stuttgarter Ausgabe in eckige Klammern gesetzte) Passus über die Tiefe des Anschauens bildet eine Brücke zum Zentrum des Gedichtes. Die Betrachtung des unermesslichen Himmels führt den Sprecher zu einer ekstatischen Entgrenzung, die sich nur noch im Stammeln, in der Sprachnot, zu artikulieren vermag (»ich bin in ihm bin alles, bin nur es«, 33). Die »Tiefe« (36) der Betrachtung wird mit Staunen konstatiert; sie lässt sich mit den »Gedanken« (34) des Bewusstseins nicht adäquat erfassen. Das hier im Gedicht vorgestellte Entgrenzungserlebnis wird von der Forschung als lyrische Umschreibung der ›intellektuellen Anschauung‹ (vgl. Hoffmeister 1931, 212-214) oder als pantheistisches Erlebnis (vgl. Dilthey 1925, 37; Bowman 2012) gefasst; es erfüllt im Gang des Gedichts die Funktionen einer Initiation, die den Sprecher ausweist und legitimiert. Das Sprecher-Ich verbindet sich mit dem All der Natur; es wird von der ›Tiefe des Anschauens‹ erfüllt und darf in der Folge von dem eleusinischen Fest berichten. Hegel setzt seine Darstellung der Mysterien in drei
Eleusis und Athen bei Hegel und Hölderlin
Teilen um. Im ersten Teil, der die Verse 38-50 umfasst, wird der feierliche Einzug in die alte Stadt vorgestellt: […] Willkommen, ihr erhabne Geister, hohe Schatten, von deren Stirne die Vollendung strahlt! er schrekket nicht, – ich fühl’ es ist auch meiner Heimath Aether, der Ernst, der Glanz, der euch umfliest. Ha! Sprängen, izt die Pforten deines Heiligthumes selbst, O Ceres, die du in Eleusis throntest! Von Begeistrung trunken fühlt’ ich izt, die Schauer deiner Nähe, verstünde deiner Offenbahrungen, ich deutete der Bilder hohen Sinn, vernähme die Hymnen bei der Götter Mahlen, die hohen Sprüche ihres Raths. –
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Mit dem »Willkommen« (38) werden imaginierte Gestalten aus der Antike begrüßt; zu ihnen gesellt sich der Sprecher der Verse. Die Antike, in deren Kreis (»Aether«, 41) er eintritt, ist ihm offenbar so vertraut, dass er sie als »Heimath« (41) bezeichnet. Sein Wunsch zielt darauf, am Kult der Demeter, lateinisch Ceres (44), teilzunehmen. Doch da dies unerfüllbar ist, wird die gesamte Partie der Verse 45-50 in den Irrealis gesetzt. In Eleusis hatte Ceres einst ihren Thron. Die Griechen haben sie dort als ›Mutter Erde‹ verehrt und ihr ein »Heiligthum« (43) geweiht; zu ihren Ehren wurden die Mysterien abgehalten. Einmal im Jahr fand das eleusinische Fest statt. Im Frühherbst führte eine große Prozession von Athen nach Eleusis. Der Zug versammelte sich auf der athenischen Agora und nahm den Weg über die ›heilige Straße‹.4 Hegel, der sich über die Mysterienkulte in der zeitgenössischen Literatur leicht informieren konnte,5 deutet den einstigen »Glanz« (42) und die hohe Bedeutung des Festes an. Die Einweihung in die Mysterien wurde hinter verschlossenen »Pforten« (43) abgehalten, weil sie nur für die Mysten bestimmt war. Zentral für den Kult sind, wie Hegel festhält, die »Offenbahrungen« (47) der Göttin: Sie umfassen »Bilder« (48), »Hymnen« (49) und »Sprüche« (50). Die Versammelten erhalten derart ein Wissen, das über die Grenzen ihres Lebens hinausweist. Dieses geheime Wissen wird mit »Ernst« (42) und »Begeistrung« (45) aufgenommen. In
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Vgl. Burkert 2011, 425-431; Grose 2002; ausführlich zum homerischen Demeterhymnus als der Hauptquelle zu den eleusinischen Mysterien, Foley 2013. Starck 1782, 95-169, gibt eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung des damaligen Wissensstandes, weitgehend ohne präzise Quellenangaben; zum zeitgenössischen Kontext vgl. Anton 1975-1977; Frank 1982, 245-284; Iber 2005.
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schroffem Gegensatz zur enthusiastischen Vergegenwärtigung des Kultes wird an den Abbruch desselben erinnert: Doch deine Hallen sind verstummt, o Göttin! Geflohen ist der Götter Krais zurük in den Olymp von den entheiligten Altären, Geflohn von der entweihten Menschheit Grab, der Unschuld Genius, der her sie zauberte! – 55 die Weisheit deiner Priester schweigt, kein Ton der heil’gen W hat sich zu uns gerettet – und vergebens sucht des Forschers Neugier – mehr, als Liebe zur Weisheit (sie besizen die Sucher, und verachten dich) – um sie zu meistern graben sie nach Worten, 60 in die dein hoher Sinn gepräget wär! Vergebens! etwa Staub und Asche nur erhaschten sie, worein dein Leben ihnen ewig nimmer wiederkehrt. Doch unter Moder und entseeltem auch gefielen sich die ewigtodten! – die genügsame! – umsonst – es blieb 65 kein Zeichen deiner Feste, keines Bildes Spur! Hegel stellt das Ende des Mysterienkultes (51) in die Mitte des Gedichts. Das Verstummen der Ceres besiegelt den Rückzug der paganen Götter. Der Übergang zur Moderne wird als Verlust gedeutet. Von den alten Göttern bleibt kein »Zeichen« (66) erhalten, keine »Spur« (66) ist mehr von ihnen sichtbar. Die Trennung der Sphären wird als ›Entheiligung‹, als ›Entweihung‹ und als ›Entzauberung‹ bewertet (vgl. 53-55). Antike und Moderne treten irreversibel auseinander. Für die Darstellung des Übergangs von der Antike zur entzauberten Natur der Moderne dienen Die Götter Griechenlandes (Schiller 1943, 190-95) als Modell. Hegel schließt sich Schillers geschichtsphilosophischer Konzeption grundsätzlich an (ausführlich hierzu Carbó 2017), doch setzt er in seinem Gedicht einen anderen Akzent. Es geht ihm nicht um die elegische Klage, sondern vielmehr um eine Kritik an dem Verhältnis zur Natur, das sich in der nachantiken Zeit etabliert hatte. Modernes und antikes Naturverhältnis werden von den Versen 67-90 kontrastiert, wobei der wissenschaftlich forschenden »Neugier« (58) die antike »Weisheit« (56) gegenübergestellt wird. Der Passus beginnt mit Vers 67: Dem Sohn der Weihe war der hohen Lehren Fülle des unaussprechlichen Gefühles Tiefe viel zu heilig, als daß er trokne Zeichen ihrer würdigte. Schon der Gedanke fast die Seele nicht, die ausser Zeit und Raum in Ahndung der Unendlkeit versunken sich vergist, und wieder zum Bewustseyn nun
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erwacht. Wer gar davon zu andern sprechen wollte, Spräch’ er mit Engelzungen, fühlt der Worte Armuth 75 ihm graut das heilige so klein gedacht, durch sie so klein gemacht zu haben, daß die Red’ ihm Sünde deucht, und daß er bebend sich den Mund verschliest. Was der geweihte sich so selbst verbot, verbot ein weises Gesez den ärmern Geistern, das nicht kund zu thun, 80 was er in heil’ger Nacht gesehn, gehört, gefühlt – daß nicht den bessern selbst, auch ihres Unfugs Lerm in seiner Andacht stört’, ihr hohler Wörterkram ihn auf das heil’ge selbst erzürnen machte, dieses nicht so in den Koth getretten würde, daß man dem 85 Gedächtnis gar es anvertraute, – daß es nicht Spielzeug und zur Waare des Sophisten die er obolenweiß verkaufte, zu des beredten Heuchlers Mantel, oder gar zur Ruthe schon des frohen Knaben, und so leer 90 am Ende würde, daß es nur im Widerhall von fremden Zungen seines Lebens Wurzel hätte. Hegels Polemik gilt nicht, wie diejenige Schillers, dem Christentum, sondern dem Versuch, das göttliche »Leben« (63, 96) der Natur mit »Worten« (60) zu erfassen und die Lebenszusammenhänge nur mehr wissenschaftlich zu beschreiben. Die Fülle des »unaussprechlichen Gefühles« (68) lasse sich nicht durch das »trokne Zeichen« (69) bzw. mit der »Armuth« (74) der Worte darstellen. Diejenigen, die dies versuchten, seien »die ewigtodten« (65). Sie werden auch als »genügsame« (65) ironisiert, die in ihrer Selbstgenügsamkeit keiner Götter bedürfen. Das Entgrenzungserlebnis, das die antiken Teilnehmer der Mysterien erfahren, wird mit demselben Vokabular beschrieben wie das Entgrenzungserlebnis des Dichter-Ich bei seinem Übergang vom Bielersee nach Eleusis (30-38): Hervorgehoben wird an beiden Stellen die »Tiefe« (36/68) des Gefühls, das Überschreiten der »Gedanken« (34/70), das Heraustreten aus den Grenzen von Raum und Zeit (33/71) und schließlich die Unfassbarkeit (35-36/70) des Erlebnisses für die Sprache. Während die Griechen in den göttlichen Zusammenhang der Natur initiiert werden und dieses Wissen als eine »Ahndung der Unendlkeit« (71) ehren und nicht preisgeben dürfen, erscheint die moderne Rede über die Natur als einseitig und banal. Die Natur werde »klein gedacht« (75) und »klein gemacht« (76), unsere »Red’« (76) sei ein »hohler Wörterkram« (82) bzw. des »Unfugs Lerm« (81). Zur Korrektur des unangemessenen Naturverhältnisses erinnert Hegel an den eleusinischen Kult. Ihm wendet sich das Finale des Gedichts (92-101) zu.
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Es trugen geizig deine Söhne, Göttin, nicht deine Ehr’ auf Gaß’ u. Markt, verwahrten sie im innern Heiligthum der Brust – drum lebtest du auf ihrem Munde nicht, ihr Leben ehrte dich, in ihren Thaten lebst du noch. Auch diese Nacht, vernahm ich, heilige Gottheit dich, dich offenbahrt oft mir auch deiner Kinder Leben, dich ahnd’ ich oft als Seele ihrer Thaten! Du bist der hohe Sinn, der treue Glauben der, eine Gottheit, wenn auch alles untergeht, nicht wankt.
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Das Gedicht endet in der Anerkennung und Bejahung der Nacht. Diese ermöglicht einen Zugang zu der Natur, wie ihn die Griechen kannten. Er ist von Begeisterung getragen. Die ekstatische Erfahrung der Entgrenzung, die dem poetischen Ich zukommt, wird in die alte ekstatische Tradition von Eleusis gestellt: Aus ihr leitet das Gedicht das überlegene Wissen der Mysten um die göttliche Natur ab wie auch die Praxis der heroischen »Thaten« (99), mit denen sich die Griechen ausgezeichnet haben.
Hegels Gedicht als Antwort auf Hölderlins Dichtung Mit seinem Gedicht kommt Hegel auf Hölderlin zu. Schon die Wahl der literarischen Form lässt dies erkennen. Hegel schreibt normalerweise keine Gedichte; im Blick auf Hölderlin aber ist er zu einer Ausnahme bereit. Er wählt die Form der Hymne mit dem hohen Ton, den Gedankensprüngen und der Anrede an die alte Göttin von Eleusis, der er seine Reverenz erweist. Das Gedicht wirkt wie in einem Zuge komponiert. Der Sprachfluss soll nicht durch die Bildung von Strophen unterbrochen werden. Die einzelnen Zeilen sind dabei in jambischem Rhythmus gehalten, doch von ungleicher Länge. Auch wird auf die Reimbindung verzichtet. Die Emphase der Erinnerungsbewegung erlaubt keine Pause, sie führt von der Gegenwart zurück in die Antike und von dort zu einem neuen Verständnis der Gegenwart. Mit der Wahl der hymnischen Form kommt Hegel dem Freund entgegen, doch wahrt er eine gewisse Distanz. Denn Hölderlin versteht sich in Tübingen ganz explizit als Hymnendichter. Dabei wählt er nicht die Form der freien Rhythmen,6 die Hegel eingesetzt hatte, sondern vielmehr die großen Reimstrophen Schillers. Auf dieser Grundlage entsteht das Projekt der Tübinger Hymnen (StA 1/1, 104-180), 6
Hölderlin hatte sie erstmals in der Hymne Am Tage der Freundschaftsfeier (1788, StA 1/1, 58-63) erprobt. Sie kehrt in den Bücher[n] der Zeiten (1788, StA 1/1, 69-74) und in der Hymne an den Genius Griechenlands (1790, StA 1/1, 125-127) wieder.
Eleusis und Athen bei Hegel und Hölderlin
die Hölderlin bis in die Frankfurter Zeit fortschreibt und deren Ziel es ist, einen revolutionären ›Bund‹ zu begründen. Dieser Bund richtet sich virtuell an die gesamte Menschheit. Mit der Reimstrophe verbindet Hölderlin die Möglichkeit des Gesangs. Dieser ist als Medium der Verbindung und Verbrüderung gedacht. Angestimmt von dem Dichter-Ich soll der Gesang übergreifen auf die versammelte Gemeinde. Als Modell dienen Hölderlin die protestantischen Lieder und Gesänge, wie er sie in seiner Jugend kennen gelernt hatte, aber auch die neuen Gesänge der Revolutionsfeste, die in Frankreich zur Verehrung des ›höchsten Wesens‹ eingesetzt wurden. Schillers Ode An die Freude (Schiller 1943, 169-172) wurde jedoch von Hölderlin besonders verehrt: Die Bedeutung Schillers für den jungen Hölderlin geht aus den Freundeserinnerungen von Rudolf Magenau hervor (StA 7/1, 394-397). Die Erinnerungen beschreiben den Freundschaftsbund zwischen Magenau, Neuffer und Hölderlin: Die drei Tübinger Studenten schließen sich 1790 in einem Dichterbund zusammen. Magenau beschreibt die Aufbruchsstimmung folgendermaßen: Wir sangen alle Lieder der Freude nach der Reihe durch. Auf die Bole Punsch hatten wir Schillers Lied an die Freude aufgespart. Ich gieng sie zu hohlen. Neuffer war eingeschlaffen, da ich zurükkahm, und Hölderlin stand in einer Ecke u[nd] rauchte. Dampfend stand die Bole auf dem Tische. U[nd] nun sollte das Lied beginnen, aber H[ölderlin] begehrte, daß wir erst an der kastalischen Quelle uns von allen unsern Sünden reinigen sollten. Nächst dem Garten flos der sogenannte Philosofen Brunnen, das war H[ölderlins] kastalischer Quell; Wir giengen hin durch den Garten, u[nd] wuschen das Gesicht u[nd] die Hände; Feierlich trat Neuffer einher, diß Lied von Schiller, sagte Hölderlin, darf kein Unreiner singen! Nun sangen wir; bei der Strofe »dieses Glas dem guten Geist« traten helle klare Thränen in H[ölderlins] Auge, voll Glut hob er den Becher zum Fenster hinaus gen Himmel, und brüllte »dises Glas dem gut[en] G[eist]« ins Freie, daß das ganze Nekkar Thal widerschol. (StA 7/1, 396-397) Schillers Lied bildet den Höhepunkt der Feier. Es wird »aufgespart« bis »alle Lieder der Freude« durchgegangen sind. Diese Abgrenzung und Hervorhebung ist durchaus konsequent, denn das Konzept kosmischer Liebe, das die »Freude« begründet, führt weit über die Grenzen der Freundschaftsdichtungen hinaus. Schillers Lied beeinflusst die Tübinger Hymnen im Blick auf ihre metrische Gestaltung. Hölderlin wählt für die Gruppe der Hymnen die Schiller’sche Reimstrophe. Die Tübinger Hymnen sollen, so wie Schillers Lyrik, gesungen werden können. Für die Entstehung der Tübinger Hymnik sind Klopstock und Schiller gleichermaßen bedeutsam: Hölderlin kommt also aus der Tradition der christlichen Hymnik, wie er sie bei Klopstock gefunden hatte. Im Kreis von Neuffer und Magenau aber wird das Lied An die Freude zum Initial der Bundeslieder, mit denen Hölderlin sich vom traditionellen christlichen Weltbild löst. Der christliche Geist der frühen Gedichte wird ersetzt durch den »guten Geist« der »Freude«. Vereint in diesem »guten
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Geist« soll sich die Menschheit zu einem Neuen Bund zusammenschließen. Auch Hegel, mit dem Hölderlin einen philosophisch ausgerichteten Freundschaftsbund eingeht, hat Schillers Ode an die Freude regelmäßig in seinem Freundeskreis gesungen (Bondeli 1990, 58). Gedanklich orientiert sich Hölderlin mit seiner Tübinger Dichtung an den Ideen und Werten der Französischen Revolution. Seine Gedichte behandeln Harmonie, Freiheit und Menschlichkeit, Schönheit, Freundschaft und Kühnheit. Sie sind so angelegt, dass sie über die Ansprache zum Preis des Göttlichen führen, anschließend erfolgt eine Aufforderung an die Freunde und Hörer, an dem gemeinsamen Bund mitzuwirken. Im Verlauf der Tübinger Hymnik wendet sich Hölderlin immer stärker der griechischen Antike zu. Athen wird für ihn zum Modell des politischen Lebens: Der platonische Dialog, die Schönheit der bildenden Kunst und schließlich die heroische Behauptung der Freiheit entfalten für ihn eine fesselnde Kraft. Das Idealbild der Athener wird im Hyperion und in der späteren lyrischen Dichtung der Oden, Elegien und Gesänge vertieft und ausgebaut. Im Archipelagus (StA 2/1, 103-112) wird schließlich die Geschichte Athens in epischer Form entfaltet. Der Ort Eleusis hingegen kommt in Hölderlins Dichtung nirgends vor. Indem er sich auf Eleusis bezieht, bewahrt Hegel Distanz zu Hölderlins Projekten. Für ihn liegt der Bezug auf die griechische Religion nahe, beschäftigt er sich doch seit der Tübinger Studienzeit intensiv mit der Geschichte der Religion, mit dem Christentum auf der Folie der griechischen und jüdischen Tradition. Aus dieser Perspektive verweist Hegel auf die gemeinschaftsbildende Funktion des eleusinischen Kultes. Die im Mysterienkult versammelten Griechen teilen ein göttliches Wissen, das sie in der mystischen Schau alljährlich erneuern. Sie verpflichten sich, dieses Geheimnis (arcanum) streng zu bewahren, indem sie das Schweigegebot befolgen.7 Auch wenn die eleusinischen Mysterien »verstummt« (51) sind, sieht Hegel Anknüpfungspunkte an die antike Tradition. Er erblickt in dem eleusinischen Fest einen historischen Bezugspunkt für Hölderlins Hymnenprojekt, den er dem Freund mitteilen will. Dabei werden Nähe und Distanz sorgfältig ausbalanciert: Hegel lässt Hölderlins Reimstrophe unberührt. Auch verzichtet er auf Athen als Bezugspunkt. Doch wissen beide nur zu gut, wie eng Athen und Eleusis miteinander verbunden sind. Zentrale Motive aus Hegels Gedicht greift Hölderlin später auf und vertieft sie. So beginnt die Elegie Brod und Wein wie Hegels Eleusis mit der einbrechenden Nacht, die das Gedächtnis freisetzt. Auch wird die Einkehr der Götter in Griechenland beschrieben und ihre Flucht beklagt. Diese steht im Zentrum des Gedichts, das elegisch zurückschaut und festhält: »Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter, | Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.« (StA 2/1, 93, V. 109-110) Anders aber als Hegel, der keine »Spur« (66) der alten Götter mehr zu 7
Zu Hegels Deutung des eleusinischen Schweigegebots vgl. Boldyrev 2016.
Eleusis und Athen bei Hegel und Hölderlin
erkennen vermag, sieht Hölderlin in Brot und Wein Zeichen, die auf den neuen Göttertag verweisen und Trost spenden für das Ausharren in der Nacht.8
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Zur Konzeption der Nacht in Brod und Wein wie auch in Patmos vgl. Vöhler 2020.
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Epiphanie der Wahrheit in der Ägäis Zu Martin Heideggers Griechenlandreisen Kosmas Raspitsos
Martin Heideggers Werk zeugt von einer lebenslangen und intensiven Auseinandersetzung mit der griechischen philosophischen und kulturellen Tradition. Die Griechen begleiten seinen Weg sowohl biografisch als auch philosophisch schon seit seinen frühen Gymnasialjahren bis spät in sein Leben und Werk. Sein unkonventioneller Blick auf die griechische Philosophie übte bekanntlich einen entscheidenden Einfluss auf fast jede philosophische – und nicht nur – Beschäftigung mit der griechischen Antike nach ihm aus. Der Philosoph aus dem Schwarzwald begegnete dem griechischen Land selbst erst spät in seinem Leben. Er reiste in den Jahren 1962 und 1967 zweimal mit seiner Frau Elfriede und Freunden nach Griechenland, d.h. er war schon dreiundsiebzig und das zweite Mal achtundsiebzig Jahre alt, als er das Land selbst besuchte. Aus diesen Reisen sind zwei Texte im Band 75 seiner Gesamtausgabe veröffentlicht worden. Der erste Text von 1962 trägt den Titel Aufenthalte und erschien zunächst als selbstständige Ausgabe im Jahr 1989. Die zweite Reise von 1967 betitelte er Zu den Inseln der Ägäis. Der diese beiden Texte enthaltene Band der Gesamtausgabe (GA 75) trägt den Titel Zu Hölderlin – Griechenlandreisen und enthält etliche Abhandlungen, Vorträge und Aufzeichnungen vor allem zu Hölderlins Poesie.1 Die Griechenlandreisen gehören wesentlich zu diesem Gedankenzusammenhang, denn Hölderlins Gedichte waren eigentlich – neben altgriechischen Dichtern – die dominierende »geistige« Begleitung Heideggers bei seiner Betrachtung der griechischen Landschaft und bei der philosophischen Einsicht in dieselbe. Die erste Fahrt wurde im Frühjahr 1962 unternommen, »nach Jahren vorbereitender Überlegungen«. Heidegger erzählt, er zögerte lange, eine solche Reise tatsächlich anzutreten, aus Angst vor einer möglichen Enttäuschung, dass das heutige Griechenland das alte verblenden würde, dass das alte nicht in seinen eigenen Zügen klar ans Licht treten könnte. Der Einblick in das Griechische sei nicht einfach und auch nicht durch die gewöhnlichen Mittel von Archäologie, klassischer Philologie 1
Martin Heidegger wird nach der seit 1975 im Vittorio Klostermann Verlag erschienenen Gesamtausgabe (im Folgenden GA) zitiert.
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und Altgeschichte zu erreichen, sondern ein »sinnender Rückblick« sei notwendig: »was uns jedoch durch alles, was wir zu wissen und zu besitzen meinen, verstellt bleibt« (GA 75, 216). Wir treffen hier auf ein zentrales Motiv von Heideggers Auseinandersetzung mit dem Griechischen, auf den Topos also, dass ein Zugang zu einem »echten« und »authentischen« Griechischen uns Heutigen eigentlich verstellt bleibt und dass unser eigenes Bild der Griechen im Grunde genommen eine entfremdete und unauthentische Verblendung sei. Zum Beispiel stellte Heidegger immer wieder die These auf, dass die Übersetzung der altgriechischen Philosophie ins Lateinische und dann in die neueren Sprachen eigentlich keine bloße Übertragung von äquivalenten Begriffen war, sondern vielmehr eine Entfremdung des ursprünglichen Inhalts der griechischen Philosophie mit weitreichenden Folgen für die abendländische philosophische Tradition und für die geistesgeschichtliche Entwicklung des Westens im Allgemeinen bis heute in Gang setzte: »und man endlich bedächte, welche folgenreiche Verwandlung das griechische Denken durch die Übersetzung ins Römisch-Lateinische erfahren hat, ein Geschehnis, das uns noch heute das zureichende Nachdenken der Grundworte des griechischen Denkens verwehrt« (GA 16, 680). Dem Übersetzen aus dem Griechischen schreibt Heidegger eine besondere Bedeutung zu, er ordnet ihm einen eigenen philosophischen Wert zu, denn Übersetzen ist keine bloße Übertragung, sondern die Über-setzung in eine andere Welt, in einen anderen Vorstellungszusammenhang, oder – in Heideggers eigener Terminologie – in eine andere »Seinserfahrung«.2 Wenn wir von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache übersetzen, befinden wir uns nicht in der gleichen Welt, sondern wir gehen hinüber, wir kommen in eine andere Situation mit ihren eigenen Gesetzen und Besonderheiten, und das gilt für Heidegger emphatisch von der Übersetzung und allgemeiner vom Verstehen der griechischen Welt (vgl. dazu Raspitsos 2013). Heidegger zögerte lange, nach Griechenland zu reisen, aber auch aus einem weiteren Grund, der mit seinem eigenen philosophischen Programm deutlich verbunden war. Er äußert wiederholt in diesen Aufzeichnungen den Zweifel, ob alles, was er über die Griechen gedacht und geschrieben hatte, nicht bloß etwas Erdachtes, eine Illusion sein könnte, ob sein Denkweg zu den Griechen nur ein Irrweg wäre und so sein ganzes »Griechenprojekt« eigentlich nur eine Fiktion darstelle. Was wäre dann also die tiefere, die philosophische Motivation einer solchen Reise? »Ob 2
Vgl. z.B. Heideggers Vorlesung Parmenides aus dem Wintersemester 1942/43, GA 54, 17f.: »Das sogenannte Übersetzen und Umschreiben folgt immer nur dem Übersetzen unseres ganzen Wesens in den Bereich einer gewandelten Wahrheit.« In Anlehnung an ein Sprachspiel von Jacob Grimm in Über das pedantische in der deutschen Sprache (Grimm, 1879, 331) spielt Heidegger mit der doppelten Bedeutung des Verbs übersetzen, je nach der Betonung der Vorsilbe über oder des Verbs setzen. Sein Begriff der Übersetzung konzentriert sich auf die Form übersetzen, d.h. etwas oder jemanden hinübersetzen, z.B. ans andere Ufer bringen. In diesem Sinne bringt uns die jeweilige Übersetzung auf einen unterschiedlichen Anschauungsboden.
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wir den Bereich finden, den wir suchen? Ob uns der Fund gewährt ist, wenn wir das noch bestehende Land der Griechen be-suchen, indem wir seine Erde, seinen Himmel, sein Meer und seine Inseln, die verlassenen Tempel und heiligen Theater begrüßen?« (GA 75, 216) Trotzdem trat er tatsächlich die Reise an. Von Venedig fuhren die Heideggers auf dem Schiff Jugoslavija zuerst die Inseln des Ionischen Meeres an, Korfu und Ithaka. Der erste Eindruck war für Heidegger eher enttäuschend, weil die Landschaft Heidegger zu italienisch oder zu morgenländisch bzw. byzantinisch, auf jeden Fall nicht echt griechisch zu sein schien. Die Sorge wurde stärker, ob der heutige hermeneutische Horizont, der jegliche Erfahrung vorbestimmt und begrenzt, dem Griechischen verwehrt, sein Eigenes zu sprechen und so – wie Heidegger charakteristisch formuliert – den modernen Menschen in Anspruch zu nehmen. Von Ithaka machten sich die Reisenden über den Hafen von Katakolon auf der Peloponnes auf den Weg nach Olympia. Bei »Nachtigallengesang« betrat Heidegger »am heiteren Morgen […] die befremdete Stille der Altis« (GA 75, 221). Man muss gestehen, dass Heidegger, der Meister der phänomenologischen Beschreibung, eine besondere Fähigkeit bei seinem Bericht des olympischen Ruinenfelds beweist. Er zielt nicht auf eine beschwerliche Anhäufung von historischen und archäologischen Einzelheiten, sondern führt den Leser durch sein eigenes Erlebnis in die Landschaft und vor allem in ihre Stimmung ein. Die »gemäße Art des Suchens«, wie er sagt, sei nicht unbedingt die der gelehrten historisch-archäologischen Forschung, obwohl diese notwendig und legitim ist. Wie sollte man denn »gemäß suchen«? Die Antwort für Heidegger liegt im Wort der Dichter. Das Gelände der Olympischen Spiele und die Nähe der Götter dort: »was wäre alles ohne das Lied, das sie feiert, ohne das Wort, das durch seinen schwingend-gefügten Klang erst enthüllt und verbirgt, was da gewesen? Was wäre dies alles, spräche nicht die Sprache des Dichters?« (GA 75, 222) Den rechten Weg zum Griechischen in Olympia tastet Heidegger eher in den Versen des ersten olympischen Siegeslieds von Pindar ab (ἄριστον μὲν ὕδωρ). Das Wort der Dichter feiert und transformiert die Landschaft, lässt sie in einem ihr angemessenen Licht und in einer ihr angemessenen Wahrheit erscheinen. Es ist das Wort der griechischen Dichter – nicht unbedingt das der Philosophen – und es ist das Wort Hölderlins, das Heidegger ermöglicht, einen Einblick in die altgriechische Welt jenseits des neuzeitlichen verstellten Horizontes zu eröffnen. Der spätere Besuch im Museum von Olympia erwies sich für den Philosophen als ambivalent. Einerseits »glückte es […] die Gestalten in den Giebelfeldern des Zeustempels mit dessen Trümmerresten in der Altis zusammenzudenken und damit zu vermeiden, daß wir das Geschaute wie gesonderte Werke einem Kunstgenuß überließen« (GA 75, 223). Andererseits ist der Weg des bloßen ästhetischen Genusses für Heidegger kein geeigneter Zugang zum Griechischen. Das Eigene der griechischen Welt lässt sich auf diese Art und Weise nicht zeigen, es besteht eine Kluft zwischen der antiken Welt und dem, was in einem Museum zur Schau gestellt wird. Die Giebelfelder des Zeustempels waren laut Heidegger eigentlich
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nicht für das betrachtende menschliche Subjekt gedacht und geschaffen, sie waren eben kein Gegenstand, der auf gleicher Höhe mit einem betrachtenden Subjekt stand, »sondern nur aus großer Höhe herab dem Auge sichtbar. Waren sie überhaupt auf den Betrachter, den menschlichen, zu gebildet? Galt ihr flutend-stilles Scheinen nicht als Weihegabe dem Blick des unsichtbaren Gottes?« (GA 75, 223) Der Besuch in Olympia erwies sich also nach Heideggers Maßstäben als ambivalent. Der gesuchte Einblick in die Eigenartigkeit der griechischen Welt wurde nur teilweise gewährt, vor allem, weil die Bildwerke im Museum standen. Immer noch blieb also das Griechische ein Erwartetes, das der Philosoph nur aus der »Dichtung der Alten« erahnen kann, oder durch Hölderlins Elegien und Hymnen oder auf seinen eigenen Denkwegen. Der Weg ging dann in den nächsten Tagen weiter nach Mykene, Nemea, Epidaurus, Nafplion und schließlich nach Kreta, wo die Ausgrabungsstätte von Knossos auf Heidegger einen eher ägyptisch-orientalischen Eindruck machte, keinen echt griechischen. Die spätere Ankunft auf der Insel von Rhodos und die Nähe zur kleinasiatischen Küste gab Heidegger Anlass zu kulturphilosophischen Überlegungen. Die Auseinandersetzung mit dem Asiatischen sei laut Heidegger von entscheidender Bedeutung für die Griechen gewesen, weil das Griechische »das Wilde verwandelte, die Leidenschaft in ein ›Größeres‹ versöhnte« (GA 75, 228). Man dürfte hier ohne große Schwierigkeit einen kulturphilosophischen Topos erkennen, wo in der als westlich konzipierten altgriechischen Kultur die Zähmung und mithin auch die Zivilisierung von östlich-asiatischen Elementen stattfanden. Heidegger ähnelt hier stark einem der prominentesten Vertreter dieses Topos, nämlich Friedrich Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) das ursprüngliche asiatisch-orgiastische Dionysische als »Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit« bezeichnet, das aber bei den Griechen durch die schützend-mildernde Intervention des Apollinischen, durch seine »versöhnende Entwaffnung« sich zu einem künstlerischen Phänomen transformierte, nämlich zu der dionysisch-apollinischen Kunst der attischen Tragödie (Nietzsche 1980, 32). Eine Auseinandersetzung zwischen Asiatischem und Europäischem sieht Heidegger auch in seiner Gegenwart, auf einer anderen Art und Weise, aber doch entscheidend für das »Schicksal Europas und dessen, was sich westliche Welt nennt«, und zwar vor dem Hintergrund seiner eigenen philosophischen Ausführungen zum Wesen der modernen Technik »und der von dieser entfesselten atomaren Wirkfelder« (GA 75, 228). Die Suche nach dem Wesen des Griechischen ging in der Ägäis und auf der Insel Patmos weiter und Heideggers Zweifel und Erwartung wuchsen. In der Nacht aber, mitten in der Ägäis, empfindet er das dunkle Wasser als ein Omen. Heideggers geschickte Inszenierung einer dramatischen und philosophisch-aporetischen Agonie erreicht ihren Höhepunkt am nächsten Vormittag auf der kleinen, mitten in der Ägäis liegenden Insel von Delos. Die »kleine und doch alles Wesen des Griechen-
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landes auf sich versammelnde Insel Delos« (GA 75, 273) wird jetzt für Heidegger der Ort einer Epiphanie der Wahrheit. Und tatsächlich, eine passendere Landschaft für eine inszenierte und in das Anschauliche dargestellte Bestätigung seiner eigenen Sicht der Griechen und seiner eigenen philosophischen Theorie der Wahrheit hätte Heidegger nicht wählen können, nicht nur als Landschaft, sondern auch als Wort: Δῆλος heißt die Insel: die Offenbare, die Scheinende, die alles in ihr Offenes versammelt, alles durch ihr Scheinen in eine Gegenwart birgt. Mit jedem der Schritte, die uns über verwachsenes Urgestein und über Trümmerreste hinweg in einem immer stärker wehenden Wind höher hinauf zum zerklüfteten Gipfel des Kynthos führten, […], wurde die Bedeutung des Namens der Insel deutender und das Be-deutete seiender. Δῆλος, die Offenbare, die unverborgen Entbergende, aber zugleich Verbergende und Bergende. (GA 75, 230) Die Insel und ihr Name bringen Heidegger jetzt in Berührung mit dem Kern seiner phänomenologischen Interpretation des griechischen Wortes für Wahrheit, ἀλήθεια: die Insel ist ein Hinweis, sie zeigt auf jenes, was für Heidegger als das anfängliche Wesen der Wahrheit von den Dichtern und den Denkern der Griechen erfahren und genannt wurde, sie zeigt auf »das Ineins von Unverborgenheit (Entbergen) und Verborgenheit (Bergen): die Ἀλήθεια« (GA 75, 232). Was ist aber eigentlich nach Heidegger der Stellenwert der Wahrheitsproblematik? In der Entwicklung derselben geht es eigentlich um nichts Geringeres als um die verborgene Geschichte der griechischen Philosophie überhaupt. Unterhalb der Oberfläche einer doxographischen Philosophiegeschichte (die im Geiste Heideggers auch Historie der Philosophie genannt werden könnte), fließt der Strom ihrer verborgenen Geschichte. Wesentlich sind dabei nicht Namen, Ideen und Gedankenansätze, sondern die Entfaltung eines Wahrheitswesens, das in der Art einer geschichtsphilosophischen Kraft die ganze nachkommende Philosophie gestaltet und sogar die »Wesensmöglichkeiten eines geschichtlichen Menschentums« (GA 9, 191) entfaltet und bestimmt. Diese »verborgene« Geschichte der griechischen Philosophie versteht Heidegger als einen Entfremdungsprozess, genauer als die Abwendung von einem anfänglichen Wesen der Wahrheit zu einem abgeleiteten. Der Ort dieses ursprünglichen Wesens sei das griechische Wort ἀλήθεια. Das Wesen also der Wahrheit im Sinne dieser anfänglichen ἀλήθεια leuchte zu Beginn der griechischen Philosophie bei den Vorsokratikern, halte sich aber bei Platon bedeckt und bleibe in der nachkommenden Philosophie eigentlich ungedacht (vgl. GA 5, 37f.). In Paragraph 44 von Sein und Zeit mit dem Titel »Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit« behandelt Heidegger diese Entfremdung als den Gang von einem ursprünglichen Phänomen der Wahrheit zu einem abkünftigen traditionellen Wahrheitsbegriff. Er geht vom traditionellen Wahrheitsbegriff aus und versucht dessen
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ontologische Fundamente freizulegen, in der Absicht im Anschluss daran zum echten Wahrheitsphänomen zu gelangen (vgl. im Folgenden GA 2, 282ff.). Diese traditionelle Wahrheitsauffassung lautet nach Heidegger: »1. Der ›Ort‹ der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der ›Übereinstimmung‹ des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als ›Übereinstimmung‹ in Gang gebracht.« (GA 2, 284) Bekanntlich handelt es sich dabei um die sogenannte Korrespondenztheorie von der Wahrheit, die adaequatio intellectus et rei. Vor dem Hintergrund einer Kritik an Husserl bemängelt Heidegger bei einer solchen Wahrheitskonzeption eine ontologisch ungeklärte Trennung zwischen Realem und Idealem, also zwischen dem idealen Urteilsgehalt einer Wahrheitsaussage und dem realen Ding, worüber geurteilt wird. Seine Kritik konzentriert er also auf die ontologischen Fundamente dieser traditionellen Wahrheitsauffassung. Einen Ausweg aus dieser Unklarheit sieht er in einer grundlegenden ontologischen Analyse des Phänomens »Wahrheit« überhaupt mit der Absicht, zum ursprünglichen Wahrheitsphänomen zu gelangen. Am Beispiel eines schiefen Bildes an der Wand versucht er seine These zu veranschaulichen, dass Wahrheit nicht in der Aussage bzw. im idealen Urteilsgehalt einer solchen liegt, sondern in der Sache selbst, im Seienden selbst, im realen Ding, worüber geurteilt wird. Heidegger fragt sich, worauf ein Urteilender sich bezieht, wenn er die wahre Aussage formuliert: »Das Bild an der Wand hängt schief.« In Übereinstimmung mit Husserl akzeptiert er nicht die Antwort, die besagt, man beziehe sich auf Vorstellungen anstatt auf psychische Vorgänge. Im Gegensatz zu Husserl verwirft Heidegger aber eine andere Interpretationsalternative von Vorstellung: »Er ist auch nicht auf Vorstellungen bezogen im Sinn des Vorgestellten, sofern damit gemeint wird ein ›Bild‹ von dem realen Ding an der Wand.« (GA 2, 288) Die Alternative zum Verständnis von Vorstellung, die übrig bleibt, ist die des realen Dings, also des realen Bildes, das an der Wand hängt. Tatsächlich sagt Heidegger: »Vielmehr ist das ›nur vorstellende‹ Aussagen seinem eigensten Sinne nach bezogen auf das reale Bild an der Wand. Dieses ist gemeint und nichts anderes. Jede Interpretation, die hier irgendetwas anderes einschiebt, das in nur vorstellenden Aussagen soll gemeint sein, verfälscht den phänomenalen Tatbestand dessen, worüber ausgesagt wird.« (GA 2, 288) Die Aussage bezieht sich auf das Ding selbst. Die selbstverständliche Folge dieses Ergebnisses ist eine Theorie der Wahrheit, die die Wahrheit nicht in der Aussage, sondern in den Sachen selbst findet. Die Wahrheit liegt also in den Sachen, nicht in der Aussage. Heideggers Herkunft aus der Phänomenologie Husserls scheint hier eine ihrer Grenzen zu erreichen. Heidegger akzeptiert nicht, dass Phänomene einfach aus der Art und Weise gelesen werden können, in der sie in Bewusstseinsakten gegeben werden. Sie werden eher ent-deckt, wie er selbst immer wieder betont, sie werden enthüllt. Die phänomenologische Methode erweist sich in einer solchen Wendung
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als eine quasi archäologische und das, was sie ans Licht bringt, ist nichts Geringeres als die Wahrheit selbst (vgl. dazu auch Frede 1993, 54f.). Des Weiteren analysiert Heidegger seine These zur Wahrheit. Die Aussage bezieht sich auf das reale Bild, auf das reale Ding, und nicht auf die Vorstellung. An diesem Punkt kommt Heideggers berühmter aletheiologischer Wortschatz ins Spiel: Die Aussage sei ein Aufzeigen des Seienden, sie entdeckt es: »Zur Bewährung kommt, daß das aussagende Sein zum Ausgesagten ein Aufzeigen des Seienden ist, daß es das Seiende, zu dem es ist, entdeckt. Ausgewiesen wird das Entdeckend-sein der Aussage.« (GA 2, 288) Dadurch erweist sich die Aussage ontologisch als ein entdeckendes Sein zum realen Seienden. Die Wahrheit als Entdeckend-sein wird nach Heidegger dann auf die Grundverfassung des Daseins zurückgeführt, auf das In-der-Welt-sein. Dies sei das Fundament der ursprünglichen Wahrheit, des ursprünglichen Entdeckend-seins. Am Anfang des nächsten Kapitels von § 44 von Sein und Zeit mit dem Titel »Das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und die Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes« zeigt sich Heidegger darum besorgt, ob sein Wahrheitsansatz vielleicht nicht zu willkürlich sei, oder ob seine Interpretation von Wahrheit die ältere »gute« Tradition der Wahrheit als adaequatio völlig vernichtet. Er kehrt einen solchen vermeintlichen Eindruck in das Gegenteil um: Nicht nur sei seine Interpretation von Wahrheit kein Neuland, und erst recht kein sonderbares Neuland, sondern vielmehr soll sie die Tradition in ihrem echten und ursprünglichen Inhalt wiederherstellen; Heidegger meint nichts Neues entdeckt zu haben, sondern nur das zur Sprache zu bringen, was in der Tradition schon verborgen da war, aber eigentlich nie richtig und angemessen gesehen wurde. Sein Ziel sei demnach kein Abschütteln der Tradition, sondern ihre authentische Aneignung. Der Eindruck der Willkürlichkeit bei seiner Interpretation sei ein bloßer Schein; diese Interpretation sei eher eine Notwendigkeit, es sei das, was die antike Tradition selbst ursprünglich als Wahrheit verstanden und gemeint habe (vgl. GA 2, 290). Als erste renommierte Zeugen dieser Tradition werden Aristoteles und Heraklit erwähnt, die jetzt durch die neue, aber eigentlich alte, »echte« Interpretation von Heidegger in neues Licht treten sollen, nämlich als Befürworter der Auffassung von Wahrheit als Entdecktheit. Wahrheit werde in ihrem Ursprung nicht als eine Erkenntnis- oder Urteilstheorie behandelt, sie sei kein bloßes Kapitel einer philosophischen Disziplin, sondern stehe eher in einem »ursprünglichen Zusammenhang mit Sein« (GA 2, 283). Im gleichen »griechischen« Kontext erscheint als authentisches Wort für Wahrheit das griechische »elementarste« Wort ἀλήθεια. Bei diesem Wort handelt es sich um ein ursprüngliches – obwohl vorphilosophisches und für die Griechen selbstverständliches – Verständnis von Wahrheit, dessen Sinn aber durch die »theoretischen Begriffsbestimmungen« des Wortes Wahrheit verdeckt wird. Besonders bedeutungsvoll ist hier eine Passage, die Heideggers Umgang mit den Grundworten und den Hauptbegriffen der Philosophie erhellt: »Die Beiziehung solcher Belege [Heidegger meint hier seine Hinweise auf Aristoteles und Heraklit, Anm. K. R.] muß sich
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vor hemmungsloser Wortmystik hüten; gleichwohl ist es am Ende das Geschäft der Philosophie, die Kraft der elementarsten Worte, in denen sich das Dasein ausspricht, davor zu bewahren, daß sie durch den gemeinen Verstand zur Unverständlichkeit nivelliert werden, die ihrerseits als Quelle für Scheinprobleme fungiert.« (GA 2, 291) Wahrheit als ἀλήθεια gehört für Heidegger selbstverständlich zu diesen elementarsten Worten, dessen authentische Bedeutung aber in der Geschichte der Philosophie verdeckt und entfremdet wurde. Der privative Ausdruck ἀ-λήθεια aus dem Griechischen ist für Heidegger kein Zufall, sondern zeigt ein zwar vorontologisches, aber auch ursprüngliches Verstehen dessen, was Wahrheit eigentlich bedeutet. Wahrheit als Entdecktheit muss immer dem Seienden abgerungen werden, sie soll der Verborgenheit wie ein Raub entrissen werden (vgl. GA 2, 294).3 Wahrheit ist demnach also ent-deckend, sie ist eigentlich die ursprüngliche ἀλήθεια, sie ist die Erscheinende, wie der Name von Delos sehr anschaulich bestätigt. Erst durch das Erleben von Delos, erst an diesem Tag möchte Heidegger seine Reise als philosophisch gerechtfertigt sehen, nur auf diese Weise wurde die Griechenlandreise zum »Aufenthalt« im philosophischen Sinne des Wortes. Seinen Besuch auf der Insel Delos ordnet Heidegger in seine philosophische Zielsetzung ein und er interpretiert bzw. inszeniert diesen Besuch als eine anschauliche Bestätigung dessen, was lange nur Vorgestelltes war und jetzt mit Anwesenheit erfüllt wurde, d.h. seiner langen Suche nach einer alternativen Denkweise und Wahrheitserfahrung in der Philosophie und in der Kultur der Griechen. Die Beschreibung der Erfahrung von Delos in diesen Ausführungen möchte Heidegger nicht als bloßes Tagebuch hinterlassen, sondern er verbindet diese Eindrücke mit wesentlichen Dimensionen seines eigenen philosophischen Programms, und auf diese Art und Weise sollten diese Ausführungen eigentlich gelesen und verstanden werden.4
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Dieses archäologische Vokabular wird auch in GA 9, 223 wiederholt: »Das Unverborgene muß einer Verborgenheit entrissen, dieser im gewissen Sinne geraubt werden. Weil für die Griechen anfänglich die Verborgenheit als ein Sichverbergen das Wesen des Seins durchwaltet und somit auch das Seiende in seiner Anwesenheit und Zugänglichkeit (›Wahrheit‹) bestimmt, deshalb ist das Wort der Griechen für das, was die Römer ›veritas‹ und wir ›Wahrheit‹ nennen, durch das α privativum (ἀ-λήθεια) ausgezeichnet. Wahrheit bedeutet anfänglich das einer Verborgenheit Abgerungene. Wahrheit ist also Entringung jeweils in der Weise der Entbergung.« Eine Übersetzung der »Aufenthalte« (erste Reise) ist auf Griechisch von Giorgos Faraklas erschienen: Heidegger, Martin: Διαμονές. Το ταξίδι στην Ελλάδα, übers. von G. Faraklas. 2. Aufl. Athen: Kritiki 2014.
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Eine Poetik der Ägäis Von der griechischen Moderne zu Erich Arendt Anastasia Antonopoulou Dem Andenken Klaus Betzens
Einführendes Der griechische Dichter, der die mediterrane Dimension des Griechentums in seinem poetischen und essayistischen Werk hervorgehoben, ja in den Mittelpunkt seines Œuvres gestellt hat, ist zweifellos Odysseas Elytis (1911-1996), Nobelpreisträger des Jahres 1977.1 Ihm wurde von einem Teil der Kritik die Charakterisierung ›Dichter der Ägäis‹ gegeben, eine Charakterisierung, die Elytis nicht gern akzeptierte, um nicht seinen Namen und seine Dichtung mit Stereotypen der Tourismusindustrie zu verbinden (Elytis 2002). Die Ägäis ist zweifellos kein bloßes Naturbild in seiner Dichtung, sie dient ihm, wie zu zeigen sein wird, zur Veranschaulichung von Kulturwerten. Diese Ägäis-Betrachtung teilt Elytis auch mit anderen Vertretern seiner Generation, der sogenannten »Generation der 30er-Jahre« – die dominante Ausdrucksform der griechischen Moderne – zu der bekannte Dichter wie Giannis Ritsos oder Giorgos Seferis gehören und Schriftsteller wie Giorgos Theotokas und Angelos Terzakis. Innerhalb dieser Kreise entsteht eine Ägäis-Mythologie, bei der der ägäische Raum neu wahrgenommen wird: er wird ästhetisiert, mythologisiert, idealisiert. Das griechische Konzept ist zugleich Teil eines breiteren mediterranen Ideals der Zeit, vertreten von europäischen Denkern und Künstlern wie Albert Camus und Le Corbusier (vgl. dazu Pourgouris 2011 sowie die Einleitung in diesem Band), die auf der Suche nach alternativen Kulturwerten angesichts der zunehmenden Technokratisierung der westlichen Zivilisation waren. Im Folgenden
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Elytis kennt das Meer und die ägäische Welt, da er in Iraklion auf Kreta in eine Familie geboren wurde, die von der nordöstlichen ägäischen Insel Lesbos stammte. Die Familie übersiedelte 1914 von Kreta nach Athen, wo der Dichter den größten Teil seines Lebens verbringt. Lesbos, Kreta und Athen bilden drei Punkte, die den »geographischen und geistigen Standort« (Coulmas 1983, 56) des Dichters umschließen: die Ägäis.
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fokussiere ich auf die Ägäis-Anschauung von zwei griechischen Dichtern, Odysseas Elytis und Giorgos Seferis. Der letzte Teil ist der Ägäis-Betrachtung des DDRLyrikers Erich Arendt gewidmet, die kurz vergleichend mit der der griechischen Dichter behandelt wird. Die ägäische Landschaft mit ihren archaischen Wurzeln gerät nach einem mehrmonatigen griechischen Aufenthalt Arendts ins Zentrum der literarischen Arbeit seiner Spätphase. Die Ägäis wird zum bestimmenden Denkraum (Vöhler 2015) oder zum poetologischen Raum (Kocziszky 2012; 2015) des Dichters, und das ist ein einzigartiges Phänomen innerhalb der deutschen Griechenlandliteratur des 20. Jhs.
Die ägäische Inselwelt als heterotopischer peripherer Raum Die griechische Zwischenkriegsgeneration steht zwar in produktivem Dialog mit Strömungen der internationalen Avantgarde, sie bewundert aber zugleich Dichter und Schriftsteller der griechischen Literatur des 19. Jhs. wie Kalvos und Papadiamantis oder entdeckt griechische Volksmaler wie Theophilos (vgl. dazu Kapsomenos 2002; 2012; Tziovas 2011).2 Vor allem aber war sie leidenschaftlich daran interessiert, das echte Griechenland jenseits der traditionellen Imaginationen der Europäer zu finden: »Ich und meine Generation – ich beziehe hier Seferis mit ein– haben uns bemüht, das wahre Gesicht Griechenlands zu entdecken. Das war notwendig, weil bis zu jenem Zeitpunkt als wahres Gesicht Griechenlands zu gelten schien, welches die Europäer als solches ansahen.« (Elytis 1979a, 187)3 Elytis zufolge sei die moderne Identität Griechenlands unerforscht und der Grund dafür war der ständige Vergleich Griechenlands mit der Antike. Seit dem 19. Jh. und nach der Entstehung des neugriechischen Staates (1830), wurde Griechenland immer wieder mit Bezügen auf die Antike imaginiert und definiert, sowohl von den Europäern als auch von den Griechen. Die griechischen Modernisten unternehmen nun den Versuch, alte Konzepte zu dekonstruieren, »tiefgefrorene Wahrheiten« über Griechenland (Elytis 2019a, 19) abzubauen und dabei spezielle Charakteristika der griechischen Kultur hervorzuheben. Neben der Antike sollten nun auch die neuere Geschichte, die Landschaft, die Volkskultur, die Orthodoxie oder die kykladische Architektur beachtet werden. Auch für Seferis wäre die Hauptfrage der Zeit nicht die Reproduktion eines europäischen Griechentums, sondern »eines griechischen Griechentums« (Seferis und Tsatsos 1975, 30). Dieser Versuch sollte keinen sterilen Ethnozentrismus bedeuten; vielmehr geht es dabei um die Erschaffung der Voraussetzungen für die Selbstbehauptung des modernen Griechenlands als eine 2 3
Die Literatur zur Generation der 1930-er Jahre ist sehr umfangreich. Eine detaillierte Behandlung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Bei den Verweisen auf griechische Ausgaben sind die Zitate von der Verfasserin übersetzt.
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kulturelle autonome Existenz jenseits einer epigonenhaften Definition. Beim kulturellen Dialog mit dem europäischen Modernismus sollte das moderne Griechenland etwas Authentisches zeigen. Seferis betont die Notwendigkeit eines fruchtbarnüchternen Blicks auf Europa, der von den eigenen Wurzeln und der eigenen Tradition Kraft schöpft (vgl. Seferis 1974, 28f.). Politisch-historisch geschieht all dies in Griechenland in einer Epoche, als das Ideologem der sogenannten Großen Idee, das sich auf die Erweiterung der nationalen Grenzen bezog, ein Ideologem, das die früheren Generationen genährt hatten, mit der kleinasiatischen Katastrophe im Jahr 1922 endgültig scheitert. Nach dem Ende der Großen Idee ist in Griechenland eine Akzentverschiebung zu bemerken, bei der das nationale Ideal der geografischen Erweiterung allmählich vom Ideal der Erweiterung der geistigen Horizonte und der kulturellen Wiedergeburt Griechenlands ersetzt wird. Dabei wird die Hervorhebung der griechischen kulturellen Besonderheiten und des griechischen Archetyps, der in seinen verschiedenen Aspekten und historischen Phasen griechische Kultur hervorgebracht hat, zur Hauptaufgabe der Generation (vgl. Tziovas 2011, 147-157). Die Dichter und die Intellektuellen der 1930er-Jahre sind die ersten, die verstehen, dass nun ein neuer Mythos, »ein neues nationales Märchen« (ebd., 152) erforderlich war. Die Ägäis-Mythologie, die in den 30er-Jahren im Rahmen dieser kritischen Suche entsteht, sollte ein zum westlichen Lebenskonzept alternatives Wertsystem darstellen. Der Surrealismus erwies sich als ein wichtiges Vehikel zur Erreichung dieses Zieles: […] Seitdem der Surrealismus, wie ein Gewitter, diesen Rationalismus zerstörte, wurde die Landschaft vor uns klarer, uns Dichtern wurde die Möglichkeit gegeben sich auf natürliche Weise mit unserer Heimat zu verbinden und der griechischen Wirklichkeit vorurteilsfrei ins Gesicht zu sehen […] er half uns eine Art Revolution zu machen. (Elytis 1979a, 187f.) Elytis bleibt allerdings kein dogmatischer Anhänger des Surrealismus, in seiner Poesie bemüht er sich vielmehr, die experimentelle Kühnheit der Strömung »dem griechischen Licht einzupassen« (ebd., 201). Die erste Sammlung von Elytis hat den Titel Orientierungen (1935-1940) und das erste Gedicht heißt programmatisch Ägäis. Vangelis Kalotychos meint, dass Odysseas Elytis, ein Grieche vom östlichen Teil der Ägäis stammend, einen Hellenismus vertritt, der ›östlicher‹, ›byzantinischer‹, zugleich aber ›surrealistischer‹ ist. Er bemerkt, dass im Titel seiner ersten Sammlung Orientierungen der Orient konnotiert wird (vgl. Kalotychos 2003, 167f.). Elytis’ Anschauung zufolge wird die griechische Idiosynkrasie im mediterranen Rahmen verortet, der als ein Bindeglied zwischen dem Westen und dem Osten verstanden wird. Charakteristisch heißt es in seinem Hauptwerk Axion esti. Gepriesen sei (1959):
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Berührt mein Land auch ein wenig Asien X lehnt mein Land auch leicht an Europa sieh, da steht es und ragt X allein zwischen Äther und Meer! (Elytis 1969, 53) Im Interview mit Ivar Ivask sagt Elytis: Ich bemerke, dass Sie immer staunen, wenn ich die Griechen den Europäern gegenüberstelle. Das ist nicht meine Schuld. Politisch gehören wir selbstverständlich Europa zu. Wir sind Teil von Europa, Teil des Westens, zugleich aber war Griechenland nie nur dies. Es gab immer die östliche Seite, die eine wichtige Stellung im griechischen Geist besaß. Die östlichen Werte verschmolzen mit den griechischen schon in der Antike. Im Griechen gibt es einen östlichen Teil, den man nicht ignorieren darf. (Elytis 1979a, 202) Elytis war für die Harmonierung der griechischen Tradition mit den lebendigen Elementen der europäischen Kultur. Auch in der Schwedischen Akademie betont er bei der Verleihung des Nobelpreises, dass sein Hauptanliegen die Hervorhebung des europäischen Griechen war. Ein späterer Vers von ihm lautet: »Ich bin alpha Jahre alt und Europäer bis zur Mitte« (Elytis 1996, 189). Im Rahmen der Suche nach alternativen Topoi für das Griechische vermeidet Elytis bewusst und konsequent die Verwendung des antiken Mythos, er hatte auch kein Interesse den alten Mythos zu modernisieren, sondern einen neuen Mythos zu schaffen, in dem die ägäische Kulturwelt im Mittelpunkt stehen würde. Anders als Elytis wird bei Seferis die ständige gründliche Arbeit am Mythos zu einer Konstante seines Werkes. Das Meer, vorherrschendes Motiv und Szenerie seiner Dichtung,4 wird als Bestandteil des »uralten Schauspiels« (Seferis 1996, 9) wahrgenommen, verwoben mit dem antiken Mythos und der Menschheitsgeschichte. Seferis wurde ebenso wie Elytis am Meer geboren, 1900 in Smyrna (Izmir). Bei der Vertreibung der Griechen aus Kleinasien musste die Familie 1914 das Geburtshaus verlassen und nach Athen umsiedeln. Smyrna, insbesondere der naheliegende Ferienort Skala Vourla an der kleinasiatischen Küste, wo der Dichter seine Sommer verbringt, werden in seinem Werk als verlorenes Paradies seiner Kindheit stilisiert (vgl. Seferis 1981, 118). Gespalten zwischen der kleinasiatischen Heimat, Griechenland und der Welt – Seferis wird einer diplomatischen Karriere folgen – deutet er die menschliche moderne Existenz als eine Seereise. Anders als die europäischen Modernisten, die das hektische und entfremdete Großstadtleben als »Chiffre der
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Es ist herausgestellt worden, dass das Meer das am häufigsten vorkommende Substantiv in seinem Gesamtwerk ist (vgl. Κokolis 1975, 51).
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modernen Orientierungslosigkeit« verwenden, repräsentiert das Meer bei Seferis das neuzeitliche schiffbrüchige Bewusstsein (vgl. Schmid 2000, 14) und die tragische Betroffenheit des Menschen durch die Geschichte (vgl. Coulmas 1983, 54). Seine Lehrzeit beim französischen Symbolismus und später beim Surrealismus sowie seine fruchtbare Vertrautheit mit dem Werk T.S. Eliots erwiesen sich als ausschlaggebend für die Formung seiner poetischen Orientierung. Seine erste Sammlung mit dem Titel Wende (1931) signalisiert die Wende der griechischen Dichtung in die Moderne. Seine Poetik kristallisiert sich jedoch in der zweiten Sammlung Mythischer Lebensbericht (1935), die zweifellos in der europäischen Moderne verortet ist, »beharrt jedoch auf der entscheidenden Dominanz der griechischen Tradition und Realität« (Dimiroulis 2001, 271).
Die Ägäis als Symbol für Kulturwerte bei Elytis Schon in den ersten Gedichtsammlungen von Elytis (Orientierungen [1935-40], Sonne die Erste [1943]), erscheint seine ägäische Mythologie klar geprägt mit Schlüsselbildern wie Meer, Felsen, Meereshöhlen, blendendes Licht der Sonne und Kargheit der ägäischen Landschaft, Bilder und Begriffe, die symbolhaft auf Kulturwerte verweisen und mit ethischen Werten wie Gerechtigkeit, Freiheit und Güte verbunden werden. Allmählich entwickelt sich Elytis’ Erfahrung mit der ägäischen Landschaft zur Herausbildung einer Theorie, die auf eine metaphysische Wahrnehmung der Landschaft fokussiert. Höhepunkt des ägäischen Raumes und der elytischen Poetik ist die Sonne, die die Welt im Zustand einer absoluten Durchsichtigkeit erscheinen lässt. Die Sonne wird zunächst als Quelle und Prinzip des Lebens wahrgenommen, als eine Macht, die den Tod besiegen kann: »O Jugend | Sold der Sonne | Blutiger Augenblick | Der den Tod entkräftet.« (Elytis 1980, 47) Die Welt unter der Sonne bedeutet die Freilegung der Kräfte der Landschaft und des Menschen, ein täglicher optimistischer Neubeginn: »Wir werden die Wolke packen, entrinnen | dem Verhängnis der Zeit | Und jenseits des Unheils | Beim Spiel mit der Sonne | In der Weite des offenen Herzens | Schauen die Wiedergeburt der Welt.« (ebd., 37) Die Sonne wird zugleich als Quelle eines neuen Ethos betrachtet. Sonne und Licht üben eine Reinigungsmacht auf die Landschaft und die Menschen aus: »Unvorstellbarer Glanz | Blauer Zeitraum | Reinigung der Seele.« (Elytis 1979b, 34) Die Sonne wird schon im Frühwerk mit der für das elytische Werk zentralen Idee der Gerechtigkeit verbunden, die im Axion esti ihre klarste Formulierung als »Sonne der Gerechtigkeit« (Elytis 1969, 53) findet. »Ich glaube an die Wiederkehr der Gerechtigkeit und ich identifiziere sie mit dem Licht« (Elytis 1993, 206), sagt der Dichter. Die Erforschung des Symbols der Sonne geht in der Dichtung von Elytis auf die Philosophie von Heraklit und Plotin zurück (dazu Tempridou 2016, 227-392), wo das göttliche Licht als Quelle des Ethos behandelt wird. Die elytische Poetik beruht auf
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der grundlegenden Idee der Analogie: »Die Naturphänomene sind auch Phänomene des Geistes«, betont der Dichter (Elytis 1987, 407), sodass er von der sinnlichen Erfahrung ausgehend zur Erfassung von geistigen Werten gelangt, »vom Vertrauen in die Materie« zum »Vertrauen in das ›Göttliche‹«5 (Elytis 2019a, 34). So betrachtet wird das ägäische Licht identisch mit dem Begriff der Transparenz im Sinne der Offenbarung des Anderen der Dinge, des geheimen Inhalts der Welt, das Elytis als Hauptziel seiner Dichtung versteht. Elytis spricht vom Mysterium des Lichts, das erlaubt, die Präsenz des Göttlichen in der Natur als intime und selbstverständliche Erfahrung zu betrachten, »sodass das Kleine und Alltägliche eine göttliche Größe erreicht« (Elytis 1993, 20). Neben der Sonne dient der blendende weiße Kalk der kykladischen Häuser und Innenhöfe als Symbol der Reinheit: »Ins Kalkweiß jetzt verschließe ich meine GESETZE | die WAHREN, ihnen vertrau ich […].« (Elytis 1969, 81) Eine solche Betrachtung der Ägäis korrespondiert mit dem mediterranen Konzept Albert Camus’, der mit Rekurs auf vorsokratische und platonische Ideen die algerische Meereslandschaft mit ethischen Werten verwebt. Beide, Elytis und Camus, versuchen trotz der unterschiedlichen Annäherung einen imaginativ modernistischen Rahmen mit mediterranen Zügen zu kreieren und ihn dem europäischen Rationalismus gegenüberzustellen.6 Die Nacktheit und Kargheit der Felsenlandschaft der ägäischen Inseln umgeben vom Meer und unter einer unerbittlichen Sonne, eine Ordnung »von Stein und Äther« (Elytis 1980, 107), ist für den Dichter ein ästhetisches Ideal, das die Fülle in der Kargheit verwirklicht. Elytis spricht von einer »Wenigkeit« (Elytis 1985, 19), indem er die materielle Armut in einen inneren ethisch-geistigen Reichtum verwandelt. Die Kargheit der ägäischen Landschaft wird im Axion Esti wie folgt dargestellt: […] aber nur wenig Wasser damit du es achtest wie Gott […] spärlich das Erdreich zu deinen Füßen daß du nicht Wurzel schlägst und ständig Wurzel aus Tiefen emporziehst und breit der Himmel oben daß du für dich begreifst die Unendlichkeit. (Elytis 1969, 16)
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Im selben Text schreibt der Dichter: »Vom königlichen Weg der Sinne (den ich nahm, nachdem ich von mir alle tradierten Normen abwarf) wurde ich zum Punkt geführt, wo meine ›Metaphysik‹ sich als ›Physik‹ bewies.« (Elytis 2019a, 34) Zum Verhältnis Elytis-Camus vgl. Boskovic 2016; Pourgouris 2011, 42-63.
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So konzentriert sich der Geist auf das Essenzielle,7 wodurch Autarkie und Fülle gesichert werden. Ähnliche Werte hatte in der Ägäischen Welt auch der Schweizer Architekt Le Corbusier bei seinem zweiten Griechenland-Besuch im Sommer 1933 entdeckt. Le Corbusier zeigt starkes Interesse für die kykladische Baukultur der gekalkten Häuser mit ihren strikt geometrischen Kuben und bewundert dabei die Balance zwischen extremer Einfachheit und Funktionalismus, die er als eine Ästhetik des Wenigen, im Sinne des Notwendigen und Substanziellen wahrnimmt, bei der jedes überflüssig Dekorative vollkommen fehlt. Zugleich entdeckt er eine Kulturtradition, die unberührt von der Sünden des industrialisierten Nordens stand, eine Architektur des Humanen und der menschlichen Klimax: »Nach der Rückkehr von der griechischen Reise und dem Besuch der Inseln kann der Architekt sein Tun und Denken nicht vom Archetyp dieser humanen Werte trennen.« (Le Corbusier 2009, 162) Elytis, der stark an Architektur interessiert war, hatte 1933 den Vortrag, den Le Corbusier in Athen gehalten hatte, gehört und beschreibt wie folgt seinen Eindruck: Als ich hörte, wie er von den Volkskünstlern und von Volkshandwerkern und Maurern sprach, die die kykladischen Häuser gebaut hatten, und wie er ihre weisen architektonischen Lösungen erklärte, bei denen Funktionalität und Ästhetik koexistierten, war ich stark beeindruckt. Sofort wurde in mir ein Widerspruch gelöst. Ich konnte Aspekte der Tradition und des Modernismus gleich bewundern. Der Gegensatz war nur scheinbar, er existierte in Wirklichkeit nicht. (Elytis 2000, 11f.) Die ägäische Landschaft gründet nicht nur eine neue humane Ethik, sondern sie bestimmt Elytis zufolge auch die poetische Sprache. So besteht eine Analogie zwischen Natur und Sprache, Sprache und Kultur: […] Ich bin geneigt dazu zu glauben […], dass die jahrtausende alte Präsenz des Hellenismus auf diesen oder jenen Böden der Ägäis eine Orthographie begründet hat, in der jedes Omega, jedes Ypsilon, jeder Akut, jedes Jota Subskriptum weiter nichts ist als eine Bucht, ein Hang, eine Felsschlucht über der Heckrundung eines Schiffes, sich wellende Weinberge, Kirchenportale, Sprenkel weiß oder rot, da oder dort von Taubenschlägen und Geranientöpfen. (Elytis 2019b, 73f.) Dieses Prinzip der Analogie bildet ein Geflecht von Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Gebieten, sodass ein Mechanismus der Sinngebung entsteht, in dem die Naturelemente das Alphabet einer lesbaren Schrift konstruieren: »Weil auch Sonne und Wellen eine Silbenschrift sind.« (Elytis 1980, 135) Diese Idee kommt 7
Die Ägäis, schreibt der Dichter, »besteht aus Materie oder Geist (das spielt keine Rolle) geführt zum Essenziellen« (Elytis 1993, 23). Zum Begriff des Essenziellen in Bezug auf die Ägäis, vgl. den Beitrag von Sergio Corrado in diesem Band.
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immer wieder in der elytischen Dichtung vor: »[…] im Meer | daheim lernte ich schreiben und lesen« (ebd. 145), oder: »Höhere Mathematik habe ich in der Schule des Meeres studiert.« (Elytis 1985, 57) Natur, Sprache, Ethik und Ästhetik befinden sich in seinem poetischen Denksystem in einem ständigen Wechselverhältnis. Ein Verhältnis des Ich als Betrachter-Schauenden zum Natur-Vorbild erlaubt die Verwandlung der Naturwerte zu ethischen und ästhetischen Werten. Die ägäischen Motive, die in der ersten und mittleren Schaffensperiode des Dichters vorherrschen, treten im Spätwerk zurück. Doch Meer, Sonne und Licht erscheinen in den letzten Sammlungen des Dichters wieder, diesmal aber um das Mysterium des Todes wiederzugeben. Im Jahr 1991 erscheint die Sammlung Elegien der Oxopetra, die als der Höhepunkt des elytischen Schaffens gilt. Oxopetra ist ein Kap der ägäischen Insel Astipalea, für den Dichter aber »der äußerste Punkt, wo mein Leben in den Tod eindringt« (vgl. Antonopoulou 2001, 304). Der Tod wird nun völlig mit der Unendlichkeit und Ewigkeit identifiziert und wieder mit ägäischen Symbolen als »offene See | blau und grenzenlos« wiedergegeben, als absolutes Licht: »Sonne ohne Untergang« (Elytis 2001, 63).
Giorgos Seferis: Das Meer … so bitter geschmeckt Anders als bei Elytis wird das Meer im seferischen Werk eher mit Verfall, Tod und Scheitern assoziiert, mit einer ziellosen oder erfolglosen Reise, mit der vergeblichen Suche nach dem Verlorenen, nach einer authentischen und sinnvollen Existenz (vgl. Papasoglou 2004, 166). Schon in der Sammlung Mythischer Lebensbericht findet man alle Elemente der poetischen Mythologie von Seferis: das Meer, die Seereise, die antiken Steine und die Auseinandersetzung mit dem Mythos. Drei von seinen späteren Sammlungen tragen Titel, die mit der Seereise zu tun haben (Logbuch A, B und C), während eine von den poetischen Masken des Dichters, sein lyrisches alter ego, Stratis Thalassinos heißt, d.h. Stratis der Seemann. Das Meer, verkoppelt mit dem Verlust der Heimat (in einem Brief erwähnt der Dichter 1944, dass er sich seit seinem 13. Lebensjahr wie ein Flüchtling fühlt [vgl. Seferis und Malanos 1990, 238]), hat bei Seferis einen bitteren Geschmack: »Das Meer das zu Zeiten deiner Seele so bitter geschmeckt« (Seferis 1996, 37) oder »Das Meer das uns verbittert hat ist tief und nicht | zu ergründen | und es breitet um sich eine grenzenlose Stille« (ebd., 35). Lina Lychnara (vgl. 1986, 30) zufolge sind die seferischen Grundsituationen in Bezug auf das Meer zwei: die Seereise selbst und das Warten am Meeresufer oder am Hafen. Gefragt wird nach dem Sinn der Reise: »Was denn suchen unsere Seelen auf dieser Fahrt | auf diesem verfaulten Stück Treibholz | von Hafen zu Hafen?« (Seferis 1996, 27) Die Auseinandersetzung mit dem Meer führt zu einem langsamen innerlichen Zerbrechen. Das Bild des zerbroche-
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nen Ruders, des Masts oder Segels des Seemanns ist ein häufig wiederkehrendes Motiv: »Mit unseren abgebrochenen Rudern stachen wir wieder in See« (ebd., 35). Selbst die Rückkehr wird nicht positiv besetzt, sondern sie signalisiert das Verabschieden von jeglicher Hoffnung: »Wir sind in unsere Häuser zurückgekehrt Zerbrochene | mit kraftlosen Gliedern, mit Mündern wüst | von Salzwasser- und von Rostgeschmack.« (Ebd., 9) Das Bild eines Wracks, eines halbversunkenen Schiffs namens Kichli (Drossel), gibt einer seiner letzten Sammlungen den Titel. Es wird wie folgt dargestellt: […] ein kleines Wrack; die Masten waren gebrochen und schwankten schräg in der Tiefe, wie Flechten oder Erinnerung an Träume, sein Kiel war sichtbar das erschrockene Maul eines toten Seeungeheuers im Wasser erloschen. Ringsum große Stille. (Ebd., 85) Die Stille wird zum wesentlichen und sich wiederholenden Zug der Meereslandschaft, die als »große Stille« oder »grenzenlose Stille« (ebd. 85, 35) charakterisiert unverkennbar auf den Tod verweist. Der Hafen auf der anderen Seite signalisiert oft das vergebliche Warten: »Der Hafen ist alt, länger kann ich nicht warten« (ebd., 29), oder den Ort, wo das Scheitern der Reise endgültig bestätigt wird: »Wenn wir am Sonntag | zu den Häfen hinabgehen um Luft zu holen | sehen wir im Abendrot leuchten | Holzstücke in Splittern von einer Fahrt die sie nicht vollendeten.« (Ebd., 31) Die Reise ist absurd, endet nie (»Doch die Fahrten nahmen kein Ende«, [ebd., 1996, 17]), sie ist oft ohne Ziel und Ankunft. In anderen Gedichten wird die Seereise selbst, die reine Bewegung ist, mit Bildern der Versteinerung und des Stillstands verbunden. So spricht er von einem »versteinerten Schiff« (Seferis 1972, 85), das in des Meeres Grund treibt, oder von Schiffen, die vom Hafen nicht abfahren können: »Es pfeifen die Schiffe jetzt wo es dunkelt am Piräus | pfeifen, stets pfeifen sie, doch kein Schiffsjunge rührt sich | keine Kette blinkt naß im letzten Licht das untergeht | der Kapitän bleibt marmorn im weißen und goldenen Licht« (Seferis 2013, 78). Die Mythen, mit denen er sich auseinandersetzt, haben auch mit dem Meer zu tun. Die Atriden, Odysseus und die Argonauten stehen im Mittelpunkt, mythische Figuren, deren aller Schicksal sich in ihrem Kampf mit dem Meer widerspiegelt. Dass Seferis die ›mythische Methode‹ T.S. Eliots verwendet im Sinne einer ständigen Bezugnahme auf die Antike zur Deutung der eigenen existenziellen und historischen Gegenwart, ist mehrmals betont worden. Dimitris Maronitis zufolge »mythisiert er gegenwärtige historische Erfahrungen, während er den mythischen Archetypen historische Dimensionen verleiht« (Maronitis 1986, 40). Der antike griechische Mythos und die Geschichte des 20. Jhs. verschmelzen in seinem Werk, insbesondere in der Sammlung Mythischer Lebensbericht, zu einem zeitlosen
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poetisch-mythischen Narrativ. Im Gedicht Argonauten z.B. erscheint die antike Sage kunstvoll mit der kleinasiatischen Katastrophe verflochten: […] Viele Kaps ließen wir hinter uns, viele Inseln, das Meer das zum anderen Meer führt, Möwen und Robben. Manchmal beweinten Weiber im Elend jammernd ihre verlorenen Kinder und andere rasten und suchten nach Alexander und nach versunkenem Ruhm in der Tiefe von Asien. […] (Seferis 1996, 15). Griechenland selbst wird im Gedicht In der Art von G.S. (Seferis 2013, 77-79) mit einem Schiff identifiziert, das bereit ist abzufahren, aber unbewegt liegen bleibt. Die Notiz am Ende des Gedichts »M/S Aulis, beim Warten auf die Abfahrt. Sommer 1936« verweist unverkennbar auf die mythische Hafenstadt Aulis, wo die Windstille die Abfahrt der griechischen Flotte nach Troja verhinderte, der Ortsanagabe jedoch folgt das Datum Sommer 1936. Es ist ein weiteres charakteristisches Beispiel für die seferische mythische Methode, für die Verschmelzung von Antike und Gegenwart, mittels der die krisenhafte politische Situation von 1936 – Griechenland stand damals kurz vor der Metaxas-Diktatur und zugleich wie ganz Europa im Vorfeld eines Krieges – gedeutet wird. Die zu unternehmende Reise Griechenlands wird durch die antiken Bezüge als eine schmerzvolle, leidvolle Reise vorweggenommen. Sie wird nur durch ein blutiges Opfer (Iphigenie) ermöglicht und ist darüber hinaus mit unzähligen blutigen Konsequenzen verbunden, die im Gedicht mit einem gewichtigen intertextuellen Bezug auf den Vers 659 aus Äschylus’ Agamemnon bestätigt wird: »oρώμεν ανθούν πέλαγος Αιγαίον νεκροίς« (»sehen wir blühn die ägäische See mit Leichen«, der im Gedicht in altgriechischer Sprache integriert wird: »Unterdessen ist Griechenland auf Reise ist stets auf der Reise | und »sehen wir blühen die Ägäische See mit Leichen« | so werden ’s jene sein die das große Schiff im Schwimmen erreichen wollten | jede die ’s müde warn auf die Schiffe zu warten die sich nicht | rühren können.« (Seferis 2013, 78) Der Name des Schiffes, das auf der Reise ist, ist AG ONIA 937 (ebd.). Die politische Dimension des Gedichts wie überhaupt der Dichtung Seferis’ ist mehrmals hervorgehoben worden (vgl. z.B. Vitti 1978, 143-145), dem Dichter gelingt es jedoch, poetisch mit der Sprache der Kunst über historische Erfahrungen zu sprechen, und das gehört zu seinen »ästhetischen Errungenschaften« (Dimiroulis 2001, 266).
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Die Ägäis Erich Arendts 1960 unternimmt der DDR-Lyriker Erich Arendt (1903-1984)8 mit seiner Frau Katja Hayek eine Studienreise nach Griechenland, die fast vier Monate dauerte, um einen Band über die griechische Inselwelt vorzubereiten. Produkte seiner Begegnung mit dem ägäischen Raum sind drei Essaybände9 sowie die Gedichte der Sammlung Ägäis (1967). Alle Essaybände bestehen aus zwei Teilen, einer Einführung Arends und einem umfangreiches Abbildungsteil. Sie dokumentieren eine tiefe subjektive Wahrnehmung des ägäischen Kulturraumes abseits der Touristenattraktionen, bei der Arendt »das Optische erkenntnisvertiefend zu erweitern« versucht (Schlösser 2012, 30). Die ägäische Landschaft wird zum wesentlichen intellektuellen Erlebnis Arendts, sein Besuch markiert – das wird immer wieder festgestellt – eine deutliche Wende in seinem poetischen Schaffen, die der Band Ägäis einleitet (vgl. Kocziszky 2015, 145; Peschken 2012, 178). Antike Motive kommen zwar schon in den früheren Sammlungen Arendts vor, im Gedichtzyklus Ägäis jedoch gelingt es dem Dichter, »die Urenergien des elementar Geschauten mit der Kraft des Totalwortes, mit kühnen Metaphern, die Natur und Geschichte zusammenzwingen«, zu vermitteln (Kocziszky 2015, 144). Die Sehnsucht Arendts nach der Antike und nach dem Süden verbindet ihn mit der großen deutschen dichterischen Tradition. Anders aber als die Klassiker und Romantiker des 19. Jhs., anders auch als die Reisenden zu Beginn des 20. Jhs., die Athen und die klassischen Stätten Delphi oder Olympia ins Zentrum ihrer Betrachtung rücken, wendet sich Arendt den griechischen Inseln zu (vgl. Wolf 1980, 5). Er macht also wie Elytis und die griechischen Modernisten die Wende vom klassischen Athen zur archaischen Ägäis. Diese Akzentverschiebung von Athen auf die Inseln sowie die vertiefende Arbeit am Mythos bestimmen ihn als einen modernen Dichter, der die deutsche Griechenlandrezeption entscheidend erneuert. Die tragischen Aspekte seiner
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Arendt war ein DDR-Lyriker der älteren Generation. Seine Gedichte der1920er-Jahre, in der Zeitschrift Der Sturm erschienen, haben expressionistische Züge und zeigen Affinität zur Dichtung August Stramms, seine spätere Dichtung zu Paul Celans. Arendt hielt bis zum Ende den Dialog zur klassischen europäischen Moderne aufrecht. In der offiziellen Literaturgeschichtsschreibung der DDR fand sein Werk als ›spätbürgerlich-modernistischen Einflüssen unterliegend‹ wenig Akzeptanz (vgl. Böthig 1997, 48). Griechische Inselwelt (1962), Säule, Kubus, Gesicht. Bauen und Gestalten auf Mittelmeerinseln (1966) und Griechische Tempel (1970). Der erste Band entsteht unter der Mitwirkung von seiner Frau Katja, die beiden letzten Bände werden von Arendt allein herausgegeben, denn das Paar trennt sich in den 60er-Jahren. Arendt hatte sich immer sorgfältig auf seine Reisen vorbereitet und großen Wert auf eine gute Kamera gelegt, um den hochqualifizierten künstlerischen Charakter der Bände zu sichern (vgl. Riedel 2009, 361).
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Dichtung – denn hier dominieren das schmerzhafte Gefühl und die bittere Erkenntnis – verbinden ihn mit Hölderlin, aber auch mit der Dichtung von Giorgos Seferis. Arendt fokussiert zwar auf die elementare ägäische Welt von Licht, Fels, Stein, Öde, Salz und Meer, eine Welt voller »Härte und Schönheit« (Arendt 1967a, 5), es handelt sich jedoch dabei – wie auch bei Elytis und Seferis – um keine Naturlyrik. Der Dichter selbst erklärt dies bei einem Gespräch wie folgt: »Hier und über diesen Raum schreibt man keine Naturlyrik.« (Laschen 1991, 7) Die ägäische Natur in ihrer nackten Verknappung wird für Arendt zum Signum »elementaren Verhaltens in Tragik, Leid und Freude in eins, sinnlich, stolz, weiterwirkend in unsere Zeit, eine Einfachheit, die Transparenz menschlicher Psyche schaffend, wie vor zweitausend Jahren und mehr« (ebd. 6f.). In einem weiteren Gespräch mit Achim Roscher verdeutlicht der Dichter, dass »falls scheinbar nur Landschaftliches im Gedicht ist, in manchen ›Ägäis‹-Gedichten vielleicht, so stellt diese Landschaft – die völlig vom Meer beherrscht wird und nur noch aus Fels besteht und ein hartes Einsamkeitsgefühl bewirkt […] bei jenen Menschen, die seit Jahrhunderten dort existieren müssen unter […] kargen Bedingungen – in den Gedichten diese reale Vision menschlichen Daseins stets mit dar« (Roscher 1973, 121f.). In der Ägäis-Sammlung überwiegt die harte und unerbittliche Dimension der Natur als Chiffre für das menschliche Dasein: »Wilde Ägäis! Nackter als Fels« (ZH, 65)10 heißt es im Gedicht Die Ferne. Schmerzhaft, bitter, tödlich – wie bei Seferis – ist die Meereslandschaft. Von einer »unlösliche[n] | Öde« ist die Rede, von einem »Felsmeer. | Zerbrochen am | pelasgischen Himmel« und von einer Stille, die als »Schreckensstille« oder als Totenstille empfunden wird: »Glanz. Totenstille | Der Ägäis. Alle Nähe | Entgrenzt« (ZH, 35, 43, 51, 63). Alles Erlebte, Gesehene wird zum Identifikationsbild der eigenen existenziellen Befindlichkeit, es kommt ja zu einer Verschmelzung zwischen dem poetischen wahrnehmenden Ich und der wahrgenommenen Landschaft: »dein Herz, | nackt | wie Felswind!« und an anderer Stelle: »Muschelleere des | Himmels: Herz, mein | Narbenbau!« oder »Treibender Fels ich, im | starrenden Umkreis, gram- | offen die Leere des | Himmels, alternd« (ZH, 66, 61) und am charakteristischsten vielleicht: 10
Erich Arendt: Starrend von Zeit und Helle. Gedichte der Ägäis. Hg. von Gerhard Wolf. Leipzig: Reclam 1980. Im Folgenden mit der Sigle ZH, anschließend die Ziffer der Seitenzahl. Mit der Sigle Ä wird die ursprüngliche Ausgabe Erich Arendt Ägäis. Gedichte [der Jahre 1960/61]. Leipzig: Insel (1967) markiert.
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was du siehst: Stein, Zittern des Halmes, Flut, starrend von Zeit und Helle. Freund, Stein und Flut bist du selber. (Ebd., 54) In Bezug auf die Ägäis-Gedichte zeigt sich, dass der mittelmeerische Raum »nicht Gegenstand, sondern Anlaß des Gedichts ist. Der Anlaß, das Ich in die Sprachlandschaft einzubringen und in Insel und Meer aufzulösen« (Naaijkens 1993, 156). Die Sammlung Ägäis reflektiert freilich die Griechenlanderfahrung in einer neuen Sprache, die von »einer Versenkung und Experimentierfreudigkeit im Umgang mit dem sprachlichen Material« zeugt, »die im Œuvre des Autors beispiellos sind« (Peschken 2012, 178). Der visuelle Aspekt dominiert, die Verse nehmen immer offenere Formen an und das einzelne Wort gewinnt an Intensivität und Gewicht. Das Totalwort, das schon seit seinen Anfängen zu seiner Poetik gehört (vgl. Laschen 1971), wird hier intensiviert und gewinnt an Materialität. Eva Kocziszky (2015) hat gezeigt, dass diese neue Materialität der poetischen Wortsprache Arendts der archäologischen Anschauung bei der Betrachtung von Ruinen, die der Dichter während seines griechischen Aufenthalts gewonnen hatte, vieles verdankt. Den Zusammenhang zwischen der ägäischen Landschaft und der Wortsprache Arendts, beschreibt Ton Naaijkens wie folgt: »Die ägäische Erfahrung hat offenbar eine Sprechweise mit sich gebracht, die buchstäblich, vorsichtig und genau ist […]. Sie ist konkret fasziniert von der intensiven Stille der Felsen und der Wellen.« (Naaijkens 1978, 135) Diese Feststellung über die Poetik Arendts verweist auf die Poetologie Odysseas Elytis’, der immer wieder, wie gezeigt wurde, die Analogien zwischen der formenden Kraft der ägäischen Meereslandschaft und der Sprache betont.11 Ein wichtiger Unterschied zu Elytis ist, dass der griechische Dichter seine Verwurzelung in dieser Landschaft und in der sprachlichen Tradition von Homer
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Ob Arendt Anregungen aus der neugriechischen Lyrik erhalten hatte, wie Eva Kocziszky (2012, 91) zu Recht fragt, sollte freilich noch erforscht werden. Es sei hier nur erwähnt, dass griechische Dichter der Moderne wie Elytis, Seferis oder Ritsos erst nach der Entstehung der arendtschen Ägäis-Dichtung (1960/61) ins Deutsche übersetzt werden (vgl. Biza 2017). Es sei auch gesagt, dass Arendt sich kaum über die kulturelle und politische Situation in Griechenland der Zeit seiner Reise äußert. Fest steht, dass Arendt Kontakt zu exilierten griechischen Schriftstellern in der DDR hielt (eine Frage, die ich zurzeit erforsche).
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bis heute bekundet,12 während Arendt sich eher fremd in dieser Kulturlandschaft fühlt.13 Die Ägäis bietet dem Dichter nicht nur gewaltige Naturbilder zur Formung seiner Sprache, sondern – als Ort, an dem uralte Mythen entstanden sind – die Möglichkeit einer vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Mythos, der »zum zentralen Bestandteil« (Wichner 1984, 90) seiner Poetik der Spätphase wird. Ähnlich wie bei Seferis ist in der Dichtung Arendts das mythologische Gewebe mit der historischen Spur verwoben, ihm wird der Mythos zum Vehikel seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte. Nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 und besonders nach dem Mauerbau 1961 entwickelt Arendt ein pessimistisches Geschichtsdenken, das seine Spätlyrik von seinen früheren Phasen unterscheidet. Die Enttäuschung der politischen Erwartungen, das Scheitern der Hoffnungen sind in den Ägäis-Gedichten »codiert aufzufinden« (Böthig 1997, 49). Das Landschaftliche dieser Dichtung drückt neben dem Existenziellen auch Politisches aus (vgl. Kaszynski 1978, 36). Die eher optimistischen Meeresmetaphern der früheren Sammlungen aus der Zeit des Exils verdunkeln sich nun und werden ins Negative gewendet, Tod und Scheitern assoziierend: »Schierlingsmeer«, »kalttönende Muschel«, »tödliche Bläue«, »Todhelle der | Wasser«, »Bluthagel«, »schwarzwehende Windsaat« (ZH 51, 39, 46, 51, 80; Ä 45). Dabei treten auch klar negative Geschichtsmetaphern auf wie »Wolfhunger Geschichte«, »Mordlust Geschichte« (ZH 79, 122) oder »Blutreigen Geschichte« (Laschen 1991, 7). Arendt verschmilzt in Gedichten wie Troja, Spruch, Nach dem Prozeß Sokrates und Elegie die »Archetypen mythischer Geschehnisse mit Erfahrungen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung« (Böthig 1997, 48) und überhaupt aus der Geschichte des 20. Jhs.: »Blutwimper, schwarz | das Jahrhundert« (Ä 87) heißt es im Gedicht Nach dem Prozeß Sokrates mit Bezügen auf den Faschismus, aber auch auf die stalinistischen Schauprozesse (vgl. Riedel 2009, 370). Die mythische Figur des Odysseus, der zu Beginn der 50er-Jahre im Sonett Ulysses’ weite Fahrt (1950) als positive Identifikationsfigur menschlichen Tuns thematisiert wurde, wird nun im Gedicht Odysseus’ Heimkehr als Figur des Scheiterns wahrgenommen (dazu Wichner 1984, 98-104): »Hier, | unterm Αusgeträumt | des Himmels, der | die Masten schweigend dir | zerbricht, dein Segel, | Scheiternder, | setz | schwarz.« (ZH 69) Der Rekurs auf Odysseus, die Bildlichkeit der zerbrochenen Masten sowie die Schiffsreise als Scheitern erinnern stark an die seferische Dichtung. Charakteristisch ist, dass beide Dichter sich auf ähnliche Weise mit dem trojanischen Krieg auseinandersetzen, um ihre Resignation angesichts der Sinnlosigkeit des Krieges,
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Vgl. z.B. den bekannten Vers von Elytis: »GRIECHISCH war die Sprache, die man mir gab; | die Hütte an den Küsten Homers. | Meine einzige Sorge die Sprache an den Küsten Homers.« (Elytis 1969, 28) Arendt bleibt »der fremde Besucher des Archipelagus, der nicht zu dessen Urlandschaft gehört, sondern sie nur nüchtern beobachtet« (Kocziszky 2012, 91).
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jedes Krieges, auszudrücken: »jedes Troja umsonst« (ZH 67) schreibt Arendt, und Seferis: »soviel Schmerz und Leben | im tiefen Schlund verschwanden | für ein leeres Hemd, für eine Helena« (Seferis 2017, 113). Der Blutreigen Geschichte wird bei beiden analog wiedergegeben. Die arendtschen Verse »Sturmhaube Nacht | über der See der Toten« (ZH 70) aus dem Gedicht Troja oder »Fluchsee | ohn Ende | von Toden gerillt« (Ä 45) aus dem Gedicht Schatten Meere kommunizieren mit dem seferischen Vers »sehen wir blühen die Ägäische See mit Leichen«, der wiederum, wie wir im vorigen Kapitel gezeigt haben, intertextuell durch Äschylus auf den trojanischen Krieg verweist, der als Archetyp des Krieges schlechthin gilt. Die Mythen werden bei Arendt nicht als positive Antwort zu Geschichte behandelt, vielmehr veranschaulichen sie die geschichtlichen Vorgänge, die seit jeher eine unendliche Wiederholung von Gewalt, Blut und Macht sind: »hebt, wie eh | das Meerhaupt | hebt das alte Entsetzen, und | Erinnern geht | durch die Hohlader Zeit – « (ZH 78). Die Ägäis-Sammlung signalisiert die Desillusionierung in Bezug auf den Gang der Geschichte, das Ende der Utopie. Arendt entwirft zwar in den ÄgäisFotobänden, die eine andere Wahrnehmung des Griechischen dokumentieren als die Sammlung Ägäis,14 als politisch kulturelle Utopie die kretisch-minoische Zeit, die er als eine Hochkultur »währenden Friedens« ohne die geringsten Spuren von Herrschaft, Unterdrückung und Gewalttätigkeit beschreibt: […] Nirgends war hier eine Schaustellung der Macht, nirgends eine erdrückende gebieterische Monumentalität, das Zeichen von Despotie oder des inneren Zerfalls. Alles diente dem Leben, war seine Funktion, alles ein Bemühen, die Schönheit der Welt einzufangen und einzubeziehen in den gepriesenen, gelebten Augenblick. So wie Knossos uns entgegentritt, war sein Dasein ein paradiesisch unbekümmerter, ganz heller Tag. (Arendt 1966, 14) Arendt positioniert aber dieses frühe kretische Reich als »goldenes Zeitalter« außerhalb der Geschichte. Es ist »einmalig, unwiederholbar und unerreichbar« (vgl. Vöhler 2015, 490). Die Unwiederholbarkeit des minoischen Ideals »zeugt von der Skepsis, die der vom Marxismus enttäuschte Arendt gegenüber der Geschichte inzwischen behauptet« (ebd.). Mit ganz ähnlichen Schwerpunkten, Frieden, Gleichheit, Absenz von Machtausübung, idealisiert auch Elytis in seinen Essays das minoische Kreta. Im Gegensatz zu Arendt findet er Fäden, die es mit der heutigen Ägäiswelt verbinden: »Nieselregen setzt ein. Zurückgezogen hinter einer Vitrine beobachte ich den greisen
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In den Essays wird ein anderes Griechenlandbild entworfen, das vielmehr auf winckelmannsche Aspekte wie Harmonie und Maß verweist, die wiederum auf die gemäßigten klimatischen Voraussetzungen zurückzuführen seien. Die Kargheit der Natur wird als Sieg des menschlichen Überlebenswillens zelebriert und die Präsenz von antiken Relikten als das KoExistieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart (vgl. Riedel 1990).
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Lemonis […]. Ackermann und Seemann zugleich. Einer der letzten zeitlosen Griechen […] er könnte aus dem Μinoischen Kreta stammen. Ein Knecht vielleicht, jedoch in Atemnähe zu seinem Herrn. Auch das ist wichtig. Denn seit damals ist das offenbar in keiner uns bekannten Kultur bemerkt worden.« (Elytis 2019b, 75) Zum Schluss behandeln wir eine weitere Dimension der ägäischen Lyrik Arendts, die große Affinität mit der seferischen Dichtung aufweist. Es handelt sich um die modernistische Thematik der Leere, die bei beiden – etwa in den Gedichten Der König von Asine von Seferis und Delos von Arendt – durch die Mythologisierung von Ruinenlandschaften zu Orte einer ausgesprochener Leere zum Ausdruck gebracht wird. In Seferis’ Gedicht wird das Gefühl der Leere, das der Dichter beim Besuch der Ruinen der alten Stadt Asine empfindet, wie er zwischen den Steinen herumirrt, »zwischen jenen verwitterten Linien, den Ecken und Kanten, den Bögen und Höhlen« (Seferis 2017, 55) zum herrschenden Gefühl. Der unbekannte homerische König von Asine, der nur mit einer Phrase in der Ilias erwähnt wird, wird zum Kern des Gedichts. Ihn sucht der Dichter »mit so viel Bedacht auf dieser Akropolis« (ebd.), er erweist sich aber als nichts andres als »eine Leere unter der Maske« (Seferis 2013, 84).15 Diese Leere, die die Ruinenlandschaft evoziert, verbreitet sich in der Gegenwart, wird zur Allegorie der Gegenwart (vgl. Plantzos 2016, 353): »ein dunkler Punkt der reist wie der Fisch | in der Morgenstille des Meeres und du siehst ihn: | Leere überall bei uns« (Seferis 2013, 85). Selbst der Dichter identifiziert sich mit dieser Leere: »Bild einer Form die Stein wurde mit dem Urteil einer ewigen Bitternis. | Der Dichter Leere« (ebd., 86). Ähnlich im arendtschen Gedicht Delos wird die einst heilige Insel als Ort »extremer Leere«16 wahrgenommen, als öde, lichtversteinerte und traumleere Realität: Blickhelle, lichtversteint. […] Ach, Fußbreit um Fußbreit traumleer, bis an den bröckelnden Rand […] (ZH 46) Das Ruinenfeld wird mit Verfall, Gebrochenheit und Tod assoziiert, jeder Versuch irgendeiner lebendigen Kommunikation mit der Vergangenheit bleibt in der »tödliche[n] Bläue« (ZH 48) der delischen Landschaft völlig ausgeschlossen:
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Hier und bei den zwei folgenden Zitaten beziehe ich mich auf eine ältere deutsche Übersetzung des Gedichts. Kocziszky 2012, 98. Dort auch eine detaillierte Analyse des Gedichts, 96-108.
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Geh, schöpf den Brunnen, trink Mondgrau, spurloser Himmel ein Wimpervergehen, du wirst den Schlüssel hinab in die Stunde nicht finden. (ZH 48) Der Dichter kann den Schlüssel dazu nicht finden. Der Ort bleibt, wie es bei Seferis lautet, eine Welt »mit den Denkmälern von damals und der Schwermut von heute« (Seferis 2017, 55). Bei beiden Dichtern sind die archäologischen Räume sowie die materiellen Überbleibsel der Antike, die verstümmelten Statuen, die gebrochenen Marmorstücke und die Steine, Bestandteile ihrer poetischen Mythologie. Sie signalisieren Absenz und Präsenz in einem, als pure Materie versinnbildlichen sie die unerbittliche Präsenz von Zeit, sie sind »geschaute Zeit« (Kocziszky 2012, 108), die Kraft, mittels der die Gegenwart in die Vergangenheit, in die unbestimmbare und anonyme Zeit der Geschichte versinken kann (vgl. Dimiroulis 1997, 231). Der griechische Dichter wird am Ende, im Gegensatz zu Arendt, einen Schlüssel finden. Durch den Tastsinn, durch das Berühren der Steine entsteht schließlich eine vage und ferne Kommunikation mit dem vergessenen König: »[…] der König von Asine, […] | dessen Spur an den Steinen wir manchmal mit den Fingern ertasten« (Seferis 2017, 55). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ägäis zu einem Ort für die Entwicklung einer besonderen Poetologie der Moderne wird. Sie signalisiert ein von ihren wichtigsten Charakteristika in Bezug auf die Antikerezeption, die Wende von der Klassik zur Archaik, vom zentralen Athen zur Peripherie der Ägäis. Für die griechischen Dichter bedeutet die Hinwendung zur Ägäis zudem die Gründung eines griechischen Griechentums, befreit von den europäischen Imaginationen. Auch Arendts Lyrik stellt ein Novum innerhalb der deutschen Griechenlandrezeption dar, befreit von den klassisch-romantischen, aber auch von den frühmodernistischen Betrachtungen des Griechischen. Die drei behandelten Dichter thematisieren verschiedene Konzeptionen der Ägäis. Elytis entwarf mit ägäischen Symbolen eine humane Welt voller Gerechtigkeit und Güte als poetische Antwort auf die zunehmend entfremdete harte Realität seiner Zeit. Das Humane ist auch das Hauptanliegen bei Seferis und Arendt, sie bieten aber in ihrer Dichtung keine positive Gegenwelt. Mittels der mythisch-ägäischen Symbolik veranschaulichen sie die Spaltungen und die Ausweglosigkeit des poetischen Ichs, die moderne Leere, das zeitlos schmerzhaft existenzielle Gefühl.
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Ägäische Essentialität Poetiken der Reduktion vom Neoklassizismus bis zur Aussteigerkultur Sergio Corrado το πρώτο Εγώ το Αιγαίο1 Λίνα Νικολακοπούλου, Αιγαίο
Hypothese für eine Kulturgeschichte der Ägäis »Wir sollten uns vor allem anderen fragen, warum unsere Fragen immer wieder auf Odysseus zurückkommen« (Kittler 2013, 360) – so eröffnet Kittler seinen Essay Im Kielwasser der Odyssee. Von diesem »immer wieder«, von Kittlers Feststellung dieser Kontinuität ausgehend habe ich mich gefragt: Was verbindet die Idealisierung der Antike, und insbesondere der klassischen griechischen Kultur, in der deutschen Literatur und Philosophie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mindestens bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mit der Leidenschaft für das moderne Griechenland, die in den 70er- und 80er-Jahren viele junge Menschen – meist aus Nordeuropa stammend – dazu bewegte, sich auf einer der griechischen Inseln in der Ägäis als Aussteigerinnen und Aussteiger niederzulassen?2 Der überwiegende Teil dieser jungen Leute, die auf der Suche nach alternativen Lebensmodellen ihre hochentwickelten, stark industrialisierten Länder wie Deutschland, Frankreich oder Österreich verließen, waren keine Philologen, keine Kenner der altgriechischen Kultur und Sprache; und nur mit Mühe haben sie Neugriechisch gelernt, das vielen von ihnen lange fremd bleiben sollte. Und dennoch: War ihr existenzieller, ›sentimentalischer‹, ästhetischer Traum nicht eine Art
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Ägäis (»das erste Ich die Ägäis«; ÜdA), aus der CD: Σαν ηφαίστειο που ξυπνά (Wie ein Vulkan, der erwacht) von Άλκηστις Πρωτοψάλτη (Álkistis Protopsálti). Text: Λίνα Νικολακοπούλου (Lína Nikolakopoúlou); Musik: Νίκος Αντύπας (Níkos Antýpas); 1997, Mercury PolyGram Records S.A. (Greece). Zur Funktion der (vor allem griechischen) Inseln im Mittelmeer als Orte der Selbstfindung sowie der Verbannung siehe Corrado 2020, insbes. 189ff., wo u.a. die Rede von Ritsos und dessen Deportation nach Makrónissos ist (vgl. ebd., 194).
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moderne Variante der Gräkophilie Winckelmanns oder Goethes?3 Meine Hypothese ist, dass solch disparaten Erfahrungen und Diskursen aus ganz verschiedenen epochalen Kontexten ein gemeinsamer Aspekt eigen ist: die Suche nach Essentialität. Ziel dieses Beitrages ist, diesen Aspekt zu ermitteln, der sowohl für die Idealisierung der griechischen Antike prägsam ist4 als auch für die Wahl der ägäischen Inseln als Fluchtraum für die jungen Leute, die zu den europäischen (mithin auch griechischen) Hippie- und Alternativkulturen gehörten, und herauszuarbeiten, welche Spuren er in literarischen Texten hinterlassen hat. Der nächste Abschnitt ist dem Versuch gewidmet, die für die deutsche Kultur ersten Konfigurationen des Diskurses der »Essentialität« in Bezug auf die griechische Antike bei Winckelmann und Goethe aufzuspüren, um diesen Begriff so zu definieren und zu operationalisieren, dass er für die Rekonstruktion des ÄgäisKomplexes auch in seinen späteren Varianten und für die Überprüfung dessen supponierter Kontinuität in verschiedenen Epochen produktiv sein kann. Im dritten Abschnitt wird es darum gehen, anhand einiger literarischer Zeugnisse aus mehreren Sprachen Reflexionen über ästhetische und anthropologische Komponenten des ägäischen Lebensraums anzustellen. Im vierten und letzten Abschnitt werde ich schließlich anhand völlig verschiedenartiger literarischer Texte (ein schwedischer Roman des Jahres 2015 und zwei um 1970 verfasste griechische Gedichte) zwei – zugegebenermaßen extreme, da im Schatten der Deportation bzw. der Verbannung auf einer Insel konzipierte – doch vergleichbare Poetiken des Essentiellen im ägäischen Kontext veranschaulichen.
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Siehe die sehr interessanten Bemerkungen Albrechts über diese jahrhundertlange, nicht abbrechende Faszination, die »Griechenlands relative Exotik als Land im südöstlichen Europa und seine klassische Vergangenheit« auf »das europäische Denken« ausübten (Albrecht 2020, 18). Dass »beides bei weitem nicht mehr so gefragt ist wie noch vor einigen Jahrzehnten«, also das »Schwinden des (nicht nur exotistischen) Interesses an Griechenland« (ebd.) hängt nach Albrecht zum Teil mit dem Aufmarsch des postkolonialen Diskurses in der Kulturwissenschaft zusammen – eine suggestive und sicherlich noch zu vertiefende Hypothese, mit der die Autorin zweifelsohne schon jetzt einen neuen Akzent in der theoretischen Debatte über Griechenland und die Rezeption der griechischen Kultur gesetzt hat. Es wäre natürlich ein aussichtsloses Unterfangen, hier die Entwicklungen des Antikediskurses in der deutschsprachigen Kultur der letzten 250 Jahre auch nur ansatzweise rekonstruieren zu wollen.
Ägäische Essentialität
Ein Ehering namens »Egeo« und die ägäische Essentialität (Winckelmann, Goethe) Die Konstruktion des Paradigmas »Klassik«, diese Art Meta-Mythologisierung, die seit der Renaissance in ihren unzähligen Artikulationen unzählige Male rekonstruiert, interpretiert und remythologisiert worden ist, entzieht sich selbst einer nur schematisch angelegten Behandlung. Fragen wie: Gibt es eine ägäische Klassik? Verwendet man die Adjektive »ägäisch« und »griechisch« meist nicht als Synonyme? Welche semantischen Beziehungen bestehen zwischen diesen zwei Marken des Antikediskurses? werden im Hintergrund bleiben müssen. Was ich indes versuchen werde, ist, das spezifisch Ägäische anhand des Begriffs der Essentialität zu fokussieren – ein Begriff, der schon in Winckelmanns theoretischen Betrachtungen über die griechische Antike und Goethes Darstellung derselben eine zentrale Rolle spielte. Bevor ich diese zwei Klassiker des Klassikdiskurses auf deutschsprachigem Gebiet näher betrachte, werde ich meine Ausführungen auf eine sicherlich etwas exzentrische Weise beginnen, und zwar mit dem Bild eines Eherings, das man auf der Website einer italienischen Schmuckfirma, Efrem Guidi, in Mailand ansässig, finden kann. Es handelt sich um das raffinierte Modell »Egeo« (Ägäis auf Italienisch). Unter den verschiedenen Modellen dieser Firma besticht der Ehering »Egeo« ob seiner schlichten Eleganz; ein Ring, der sich – so der Werbetext – am klassischen Schönheitskanon inspiriert, den wir von der altgriechischen Kultur geerbt haben. Die im Werbetext präsentierten ästhetischen Merkmale dieses Ringes rufen tatsächlich das Winckelmann’sche Paradigma der Proportioniertheit, Einfachheit, Reinheit der Linien auf. Hier der Originaltext: »Egeo il mare degli Dei. L’antica cultura Greca dalla quale abbiamo ereditato i canoni della bellezza classica ai quali queste fedi nuziali si ispirano per proporzioni, semplicità e purezza delle linee. Le fedi modello Egeo risultano un’elegante striscia d’oro che avvolge il dito, quasi fossero sospese sopra di esso senza toccarlo.«5 Ich möchte kurz beim letzten Satz verweilen, in dem ein Ehering beschrieben wird, »der sich gewissermaßen freischwebend um den Finger legt, als wäre er zugleich um ihn und über ihm, ohne Berührung«. Ein in der Tat genialer Satz, weil er der Wunschvorstellung wohl vieler Menschen in Sachen Ehe sprachliche Form gibt: Die Ehe, eine Institution, die schützen und eine existenzielle Stabilität sichern,
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»Ägäis, das Meer der Götter. Die altgriechische Kultur, von der wir die Kanons der klassischen Schönheit geerbt haben, an denen sich diese Eheringe inspirieren, mit ihren Proportionen, ihrer Schlichtheit und Reinheit der Linien. Die Eheringe Modell ›Egeo‹ sind ein eleganter, goldener Streifen, der sich gewissermaßen freischwebend um den Finger legt, als wäre er zugleich um ihn und über ihm, ohne Berührung.« (https://efremguidi.com/fedi/oro-rosa-ege o/ > Ispirazione; ÜdA)
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dem Leben eines Menschen eine feste und klar definierte, jedoch so unmerkliche Kontur verleihen soll, dass man sich von ihr nicht bedrückt fühlt. Es ist klar: Nur ein göttlicher Goldschmied wüsste ein solches Kleinod zu fertigen! Im eidetischen Charakter und zugleich in seiner ästhetischen Raffiniertheit ist also das Motiv zu suchen, weshalb dieser Ehering den Namen »Egeo« erhält – so lichtleicht wie er ist, kommt in ihm die Quintessenz der perfekten Ehe zum Ausdruck. Hier wird deutlich, dass nicht nur die Ägäis, sondern auch die Essentialität einen Marktwert hat. Das kann nicht verwundern: Gibt man das Wort »Essenzialità« bei Google ein, so fallen die von der Suchmaschine ausgeworfenen Items hauptsächlich dem Bereich Ästhetik zu,6 in dem die Essentialität eine Kunstobjekten bzw. Designprodukten (wie Kücheneinrichtungen, Modekleidung, Juwelen, Innenarchitektur usw.) zugesprochene Eigenschaft ist. Eine Eigenschaft, die zur Kommerzialisierung der Marke »Ägäis« seitens der griechischen Tourismus- und Immobilienbranche werbemäßig nicht anders verwendet wird als von der italienischen Schmuckfirma für den Ehering »Egeo«. Denn schüchterne Eleganz, minimales Design, exquisit schlichte Details findet man heutzutage in nahezu jeglichem Reisekatalog für den europäischen Mittelstand, der die Resorts auf Mykonos oder Santorini besucht und dort sein zweiwöchiges Paradies findet – wobei Instagram das weltweit größte Bildarchiv der dazugehörenden Partyekstasen darstellt, mit obligatorischen Cocktailgläsern auf weißgetünchten Terrassen vor azurblauem Hintergrund. Auch das ist Ägäis, natürlich, und ohne diese Reisekataloge und die von Instagram bewirkte Propaganda wären einige ihrer Inseln heute wahrscheinlich von den meisten Bewohnern verlassen. Solche kommerziellen Bilder, mit den dazugehörenden poetisierenden Texten, stellen die nicht unbedingt falsche qua konsumorientierte, auf jeden Fall aber teils elitär anmutende teils schablonenhafte Variante eines Ägäisdiskurses dar, der sich seit dem Neoklassizismus um den Schlüsselbegriff des Essentiellen entwickelt hat. Dieses ägäische Essentielle ist im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich codiert worden; stellt man aber die verschiedenen Codierungen in eine kulturhistorische
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Oder auch dem religiösen (vor allem katholischen) Bereich, im Rahmen eines ethischen, moralischen und zum Teil ökologischen Diskurses über tugendhaft sparsame Lebensweisen. In Italien hat der Soziologe Giovanni Pieretti in den 90er-Jahren von einer Kultur der Essentialität als besonderer Form der Verarmung gesprochen. Damit meinte er die nicht konsumorientierten Lebensformen der urbanen wie auch suburbanen subalternen Schichten ruralen Ursprungs in Italien, die »die erfolgreiche Kultur des Surplus nicht zu metabolisieren wissen« (Pieretti 2000, 78; ÜdA); diese Schichten leisten Widerstand, indem sie auf eine minimale, aber würdige Existenz abzielen, die aber immer weniger von einem aktiven Netz gemeinschaftlicher und kollektiver Beziehungen geschützt ist (vgl. ebd., 255). Wenn »[d]ie Komplexität der ›Überfluss des Möglichen‹« (ebd., 67; ÜdA) ist, so kann man in dieser Kultur der Essentialität eine – allerdings schon vor 25 Jahren in Pierettis Forschungsfeld vom Verschwinden bedrohte – Strategie zur Reduzierung der Komplexität sehen.
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Perspektive, so tritt auch ihre Konstante hervor: Die Ägäis ist als idealer Raum konstruiert worden, in dem die westlichen Kulturen geglaubt haben, zu einem besseren Selbst gelangen zu können – genauer: zum Eigentlichen als Ergebnis eines Essentialisierungsprozesses. Durch die Ausmerzung des Überflüssigen schien es möglich, Gegenstände, Lebensformen und Institutionen, aber auch ästhetische Erlebnisse, kulturelle Erfahrungen und psychologische Zustände in ihrer Essentialität zu erleben und somit zu einem höheren Grad von Eigentlichkeit zu gelangen. Wenn man in der Essentialität eines der entscheidenden Merkmale der altgriechischen Kultur gesehen und daher diese Kultur zum Paradigma der Klassik gemacht hat, und wenn sich gerade aufgrund des Bedürfnisses nach Essentialität viele zivilisationsmüde Europäer (als Aussteiger oder auch nur als philoägäische Touristen7 ) zum – insbesondere insularen – ägäischen Lebensraum hingezogen fühlten (gemäß meiner anfangs vorgestellten Hypothese), so wegen einiger spezifisch ägäischer Charakteristiken topografischer, geografischer, anthropologischer und ästhetischer Art.8 Aufgrund ihrer Beschaffenheit konnte die Ägäis im Laufe der Jahrhunderte und womöglich bis heute ununterbrochen als Reduzierungslabor funktionieren – sie hat sich nicht einfach als mythologisierbarer, sondern vor allem als mythopoietischer Lebensraum erwiesen.9 Die neoklassizistischen Projektionen 7
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Westens Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit, in der kleinen andalusischen Bucht seiner Fallstudie zwischen Aussteigern und hinzureisenden, alternativen Touristen eine klare Grenzlinie ziehen zu können, scheinen mir begründet; dies gilt auch für die ägäischen Inseln, da vielmehr von einer Osmose verschiedener Gruppen gesprochen werden kann: »Vielmehr bilden viele der Touristen den Nachwuchs für die Aussteiger-Kolonie, die durch ihren Besuch […] erstmals Einblick in die Kultur der Aussteiger bekommen und sich somit […] mit dem Gedanken des eigenen Ausstiegs auseinandersetzen.« (Westen 2013, 18) So charakterisiert diese Suche nach Essentialität, auch was die Ägäis betrifft, nicht nur die Aussteiger stricto sensu, sondern ebenso die alternativen Langzeitreisenden, die sich in abgelegenen, unkomfortablen, weniger oder gar nicht touristischen Orten (insbesondere auf Inseln) für eine längere Zeit niederlassen. Schon für die nordeuropäischen Reisenden des 18. und 19. Jhs. stellte gerade die Einfachheit der Lebensformen vor allem auf den kykladischen Inseln das so ersehnte Verbindungsglied zwischen dem alten Hellas und dem modernen griechischen Staat dar: »Furthermore, because they were leaving the stresses of the industrialized age behind, travelers to the Cyclades believed they were getting in touch with an idyllic past world, characterized by a simplicity of life and a oneness with nature.« (Berg 2012, 76) Nach Berg besteht vor allem im Reichtum an mythologischen Geschichten (viel mehr als in den eher spärlichen archäologischen Zeugnissen) der spezifisch kykladische Beitrag zur Konstruktion einer kulturellen Kontinuität durch die Jahrtausende: »It is through the myths, as well as the statues and ancient buildings, that the Cyclades were able to facilitate access to the past and consequently allow self-discovery through awareness of the ›other‹.« (Ebd., 8081) Bergs Ausführungen legen nahe, dass das narrative Potential der Kykladen als Orte, in denen die Verwandlung der eigenen Existenz für viele Aussteiger möglich war, sich mithin auf dieser diskursiven Ressource gründete.
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nicht weniger als der alternative Ökotrip sind komplexe Operationen einer Vereinfachung zur Erlangung des Essentiellen. In einem gewissen Sinne hat die für alternative Kulturen typische zivilisationskritische Suche nach dem Authentischen etwas von einer archäologischen Forschung, insofern sie einen wertvollen, unter mehreren Schichten oberflächlichen und unbedeutenden Materials verborgenen Wahrheitskern vermutet, den es nun auszugraben gilt; und genau darin bestand auch der theoretische Ansatz der neoklassizistischen Poetiken. Der ägäische Raum bot all diesen Praxen die Chance, zum jeweils gesuchten Objekt zu gelangen: Marmorstücke oder Tonscherben, essentielle Lebensformen in den Insel- und Festlandgemeinschaften, von Essentialität geprägte Kunstformen. Diese existentielle und poetologische Essentialität war das Ergebnis einer Reduktion der Komplexität, durch Entsagung, Verzicht auf Ornamentik und jegliches Nebensächliche ans Licht befördert – dieses einzigartige ägäische Licht, auf dessen zentrale Bedeutung für die Essentialität wir noch zu sprechen kommen. Interessanterweise spielt dieses performative Moment nach Winckelmann selbst in der griechischen Welt eine Rolle, denn Natur und Klima, Meer und Landschaft reichen nicht aus, um eine perfekte, und d.h. für ihn: essentielle Schönheit zu erzeugen. So eröffnet er zwar seine Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst mit der bekannten Reflexion über den »griechischen Himmel« und die »gemäßigten Jahreszeiten« (Winckelmann 2013, 5) als Vorbedingungen zur Bildung des guten Geschmacks, der »unter einem nordischen Himmel« nicht gedeihen kann; wenig später unterstreicht er jedoch die Arbeit und die Mühe, die nötig sind, um die wunderschönen Körper zu gestalten, die als Modell für die bildenden Künstler dienten. Es handelte sich um ein Training zur Beseitigung des Überflüssigen, damit sich die Schönheit und Eleganz des menschlichen (hauptsächlich: männlichen) Körpers in ihrer Essentialität manifestieren konnte: Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser Bildung die edle Form. […] Die Körper erhielten durch diese Übungen den großen und männlichen Kontur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüssigen Ansatz. Die jungen Spartaner mußten sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfingen fett zu werden, eine strengere Diät auflegten. Ja, es war eins unter den Gesetzen des Pythagoras, sich vor allem überflüssigen Ansatz des Körpers zu hüten. (Ebd., 6-7) Weniger als zwanzig Jahre später, in Goethes Werther, verändert sich die Perspektive stark. Das hypertrophe Ego des Protagonisten mit der Wut seiner Introspektionen entwickelt ein sehr modernes Bewusstsein der nötigen subjektiven Operationen, um zu einer essentiellen – nicht mehr empfindsam-tugendhaften, sondern dramatisch sinnvollen – Lebensform zu gelangen. Im stark veränderten Kon-
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text der Sturm-und-Drang-Poetik definiert sich die Essentialisierung nun als individualistischer performativer Akt: Sie wird nicht zurückversetzt in die Antike, sondern es ist nun das moderne Subjekt, das sie in seinen Übungen zur Selbstgestaltung in die Praxis umsetzt – allerdings immer noch in Anlehnung an die Antike. Wie schon bei Winckelmanns Rekonstruktionen spielt die Diätetik auch in Werthers Arbeit an sich selbst eine Hauptrolle: er stilisiert sich nämlich in dem idyllischen Ort Wahlheim, dem Ziel seiner Wanderungen, selbst als Altgriechen, der sich mit ganz einfachen Speisen begnügt. Medium dieser Selbstprojektion ist Homers Odyssee, die Werther auf solchen ruralen Eskapaden immer bei sich trägt und die nicht nur zur Zerstreuung und zum Erleben kontemplativer Momente dient, sondern sich als funktionell für Werthers Exerzitien zur Essentialisierung seiner Existenz erweist: Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln: da fühl’ ich so lebhaft, wie die übermütigen Freier der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist nichts, das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfüllte als die Züge patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann. (Goethe 1982, 29) Die paradigmatische Funktion der Antike tritt auf sehr prägnante Weise im letzten Satz hervor: Werther verleibt sich quasi eine Szene aus dem XX. Gesang der Odyssee in Form einer Speise ein (aber in verschiedenen Episoden des Epos wiederholen sich Schlacht- und Grillaktionen an ägäischen Ufern). Durch die Aufnahme sehr einfacher Speisen (Erbsen, und wenig später »ein Krauthaupt«) vertextet Werther Homer wortwörtlich (»verweben kann«) in das eigene Leben hinein.10
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Auch Ungelenk (2018, 238f.), weist auf diese Textmetapher hin in der Essen und Lesen als Formen jener Inkorporation in Beziehung zueinander gesetzt werden, die Werther in dem »idyllic moment« in Wahlheim erlebt. Stockhammer (1991, 151-156), behandelt auch die diätetischen Homerlektüre Werthers und unterstreicht dabei sein Lesemissverständnis: »Eßbar werden die Zuckererbsen auf Kosten der ›richtigen‹ Lesart des Homer« (ebd., 154). Nach Witte (1999, 29f.) ist die hier zitierte Szene »unübersehbar mit Ironiesignalen gespickt«, denn die »kulinarische Lektüre Werthers […] kann lediglich zu einer sentimentalischen, ganz und gar unangemessenen Identifikation mit der patriarchalischen Welt führen«; auch an anderen Romanstellen, wo Homer auftaucht, sieht Witte eher »die Verniedlichung des Heldenepos durch eine falsche Idyllik«. Goethe parodiere also hier die Atmosphäre der Odyssee, indem er sie in eine quasi »›urdeutsche Gemütlichkeit‹« verwandle. Werthers »inadäquates, weil idyllisches Homerverständnis« Goethe zuzuschreiben, habe »in der deutschen Rezeption eine fatale Verengung […] des Bildes der Antike […] zur Folge gehabt« (ebd.).
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Die Zubereitung der Erbsen in Wahlheim kommt einer Liturgie der Essentialisierung (»ohne Affektation«) gleich, zelebriert nach der ›heiligen Schrift‹ des Griechentums; einer Liturgie, die dem in einem schon modernen Sinne neurotischen Leben Werthers das Authentische der Einfachheit (»mit einer stillen, wahren Empfindung«) verleihen soll: Wie wohl ist mir’s, daß mein Herz die simple, harmlose Wonne des Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die guten Tage, den schönen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen Abende, da er ihn begoß, und da er an dem fortschreitenden Wachstum seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mitgenießt. (Ebd., 29f. )11 In dieser Sakralisierung des Alltäglichen, der Freude für die »simple, harmlose Wonne«, ausgelöst durch die Zubereitung eines Produkts aus dem eigenen Gemüsegarten, lässt sich – so meine ich – eine gewisse Ähnlichkeit mit den minimalistischen, auf Autarkie bedachten Idealen der Aussteiger auf den ägäischen Inseln entdecken. Für sich betrachtet, könnten solche Ideale in auch beliebigen anderen ruralen Kommunen – also nicht nur in den ägäischen – auszumachen sein; entscheidend ist aber, dass Werther, dieser so berühmte Aussteiger, der eine essentiellere, selbstgenügsame Lebenspraxis anstrebt, sein Ideal mit einem Hinweis auf die griechische Antike auf den Punkt bringt und sich somit in ein postuliertes, durch die Essentialisierung der eigenen Existenz wiederherzustellendes Kulturkontinuum setzt. Nach diesem Exkurs in die deutsche Kunsttheorie und Literatur des 18. Jhs. kann also die anfängliche Hypothese etwas präzisiert werden: Im Labor der Ägäis konnten zunächst Generationen von Gelehrten und Humanisten, dann aber Architekten, Ökologisten, Biobauern, bis hin zu neoromantischen Aussteigern, Künstlern und Intellektuellen mit Strategien der Reduzierung experimentieren. Die Ägäis stellte einen Fluchtpunkt oder eine Investitionschance dar, eine exotische Projektionsfläche für privatistische Befreiungsträume oder einen reellen Ort zur Realisierung kollektiver Lebensprojekte – auf jeden Fall diente sie als Antidoton zu den Entfremdungsdramen der Modernität und deren Komplikationen. Von den mythologischen Narrationen bis zu den handwerklichen Produktionsweisen, von der Zentralität der Natur in einem nichturbanen Lebensraum bis zu den inklusiven Kommunikationsmodalitäten innerhalb klar konturierter Gemeinschaften,
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Die Wahlheim-Szene ist natürlich auch die Inszenierung einer heilenden Langsamkeit. In diesem Kontext kann die Intuition Sloterdijks interessant sein, der die Langsamkeit »als funktionales Äquivalent von Transzendenz« in der Modernität sieht – jener Transzendenz, die Werther abhanden gekommen ist. Auch für Werther, der sich vom Stadtleben entfernt hat, »impliziert das neue Go Slow einen Ersatz für die verlorene Askese« (Sloterdijk 1993, 108).
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von der geometrischen Schlichtheit der kykladischen Baukunst bis zu den fantasieerregenden topografischen Beziehungen zwischen den Inseln untereinander und dem Festland – die Ägäis wurde (mindestens innerhalb Europas) in verschiedenen Epochen als die Weltgegend wahrgenommen, in der die Lebensformen und das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt durch maximale Essentialität und Sichtbarkeit charakterisiert sind.
Essentialität und Sichtbarkeit: das Medium Licht (Yourcenar, Seferis, DeLillo) Den Begriff der Sichtbarkeit möchte ich nun besser fokussieren. Der eben formulierten Hypothese folgend stellt also die Ägäis einen Lebensraum dar, in dem sich Lebens-, Arbeits-, Kommunikationsformen, aber auch Gegenstände und Wohnräume in ihrer Essentialität zeigen und somit in ihrer Eigenheit unmittelbar sichtbar sind. Ihnen ist etwas Paradigmatisches eingeschrieben, denn aus ihnen liest man die Funktion des Wohnens, des Zusammenseins, des Sitzens oder etwa des Essens schlechthin heraus. Man denke an die kykladische Chora, an das Kafenion und dessen Stühle, vor allem: an ihre Disposition an den zwei Tischseiten, die Rückenlehnen an die äußere Wand gerichtet – eine Disposition, in der sich das Wesen der beobachtenden Teilnahme am öffentlichen Raum und am sozialen Austausch manifestiert. Das könnte der Grund sein, warum ägäische Inseln, Strände, Dörfer diese ausgesprochene Bilderbuchqualität besitzen; aber auch warum sie – überraschenderweise – der Verkitschung widerstehen, im Unterschied etwa zu italienischen Orten, die den ägäischen nur oberflächlich betrachtet ähneln und wo jene Essentialität durch das Bedürfnis nach einer medienkonformen Selbstrepräsentation getrübt ist, die Traditionen, Landschaften, Bräuchen und Objekten ihre Sichtbarkeit nimmt, indem sie sie in locations für Werbespots verwandelt oder gar als brands vermarktet. Ich werde auf den Begriff der Sichtbarkeit weiter unten noch einmal zurückkommen. Vorher möchte ich aber noch eine Stelle aus Marguerite Yourcenars Meisterwerk Mémoires d’Hadrien (1951) zitieren, wo die Autorin diese zwei mittelmeerischen Kulturen am Beispiel der unterschiedlichen Funktion des Essens in Rom und in Griechenland gegeneinander ausspielt. Dem gastronomischen Luxus, der exhibitionistischen Kompliziertheit der exquisiten, exotischen römischen Festmähler stellt der Athenschwärmer Hadrian die Einfachheit der griechischen Küche entgegen; es geht nicht um Asketismus, sondern um die Bewunderung der strukturellen Einfachheit der Gerichte, die er an den ägäischen Ufern genossen hatte: Die Griechen verstanden sich noch ungleich besser auf dergleichen! Ihr geharzter Wein, ihr mit Sesam versetztes Brot, ihre am Strande auf schlichtem Rost schwarz
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gebratenen Fische, in denen beim Kauen hier und da ein Sandkorn knirschte, stillten so wundervoll den Hunger, ohne die einfachste unserer Freuden unnötig zu erschweren. Ich habe in den Kneipen des Phaleron und auf Ägina so frische Speisen genossen, daß sie mir, ungeachtet der schmutzigen Finger des Kellners, göttlich rein vorkamen, so bescheiden und doch so ausreichend, daß sie in der denkbar gedrängtesten Form ein Lebenselixier spendeten. (Yourcenar 2006, 13-14) Einerseits die »Wichtigtuerei der großen Weinkenner« (ebd., 14) in Rom, andererseits »[e]in Becher Samos, in der Mittagsglut unter der Sonne getrunken« (ebd.); einerseits die rhetorische Selbstgefälligkeit der Weinexperten, andererseits die Echtheit, ja die Essentialität der Geschmäcker – ich denke, dass die Gegensätzlichkeit zwischen griechischer und italienischer Wesensart, die Yourcenar so messerscharf herausgearbeitet hat, bis heute, also bis in die Epoche der (natürlich globalisierten) Masterchef -Sendungen fortbesteht und die Analyse der Autorin daher nichts an Aktualität eingebüßt hat. Ist die Zusammensetzung der römischen Gerichte nicht mehr entzifferbar, weil sie mit Zutaten und Gewürzen überfrachtet sind, so sind die Gerichte in den ägäischen Tavernen in ihrem Wesen erkennbar, also unmittelbar sichtbar. Das Urmedium dieser – so wie jeder – Sichtbarkeit ist das Licht. Das Licht der Ägäis ist aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit seit jeher als eines der entscheidenden Merkmale dieses geografischen Raums – und synekdochisch des gesamten Griechenlands – zelebriert worden; in der Literatur finden wir zahlreiche Zeugnisse dieser Lichtbewunderung (man denke auch nur an Hölderlins Äther oder an Elytis), in verschiedenen Varianten. Hier aber möchte ich einen anderen griechischen Schriftsteller zitieren, Giorgos Seferis, der in seinem Delischen Tagebuch angesichts des im Licht flimmernden Berges Delos’, des Kynthos, eine gewagte Hypothese formuliert: »Wie sehr sind diese Götter doch mit dem Licht verbunden. Solch ein Licht muß ihr Ursprung gewesen sein.« (Seferis 1989, 201) Licht als göttliche Substanz also – denn beide sind überall, wie der Titel eines seiner letzten Texte suggeriert: Alles voller Götter, in dem Seferis die Unzulänglichkeit einer ausschließlich philologischen Annäherung an die Antike unterstreicht, die die Wahrnehmungserfahrung, das körperliche und emotive Erlebnis von Ruinen und anderen Zeugnissen der Vergangenheit nicht ersetzen könne. Hinter dieser Lichtmetaphysik tritt allerdings die Funktion des Lichts als Medium hervor – eines Lichts, das von der griechischen, besonders aber ägäischen Landschaft noch potenziert wird: »Zum Glück ist unsere Erde hart, ihr Grün erdrückt dich nicht, ihre Kennzeichen sind Felsen, Berge und Meere. Und dieses einzigartige Licht.« (Ebd., 246) So lässt auf Delos die karge Linearität der ägäischen Landschaft, die Essentialität ihrer geologischen Beschaffenheit dieses – wie Seferis sagt – »einzigartige Licht« den ganzen Raum erfüllen, das Marmorstatuen und Ruinen scharfe Konturen und eine extreme Sichtbarkeit verleiht, aber auch anderen Manufakten aus
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dem alltäglichen Leben der Menschen – wie die Stelle an einer Zisterne, wo noch die Kerben zu sehen sind, »die das Seil des Eimers gescheuert hatte« (ebd., 203). Seferis findet diese »Spuren menschlichen Tuns« berührend – warum? Weil dieser moderne Ägäisreisende in dem gleißenden Licht die Kontinuität der Zeit wahrnimmt: Nicht dank seiner philologischen Kenntnisse, sondern dank dieses Mediums empfindet er die Fortdauer der ägäischen Kultur. Sonne, Vogelrufe – »Durch diese alltäglichen Dinge verändern sich jene Altertümer, und nur so, meine ich, kann man sie sich gegenwärtig halten« (ebd., 201). Das ist, so schreibt Seferis, »die Teilhabe der Gegenwart« an unserem Verständnis der Antike; deswegen ist der Fischer Panajis als Reisegefährte für ihn nicht weniger wichtig als Kallimachos. Letztendlich hat uns Seferis keine anbetende Beschreibung von Delos, also der mythologischen ägäischen Insellandschaft schlechthin, hinterlassen, sondern vielmehr eine interessante Reflexion über unsere Beziehung zur Antike, insbesondere zur klassischen Kunst, zur Mythologie, aber auch zum Tourismus – interessant gerade deshalb, weil er von den Grenzen einer ausschließlich philologischen Einstellung spricht. Die extreme lichtbedingte Sichtbarkeit auf Delos hat ihn die Dinge in ihrer Essentialität wahrnehmen lassen, sodass ihm die archäologischen Zeugnisse der mythologischen Erzählung nicht mehr imponiert haben als die alltäglichen Dinge. Wie zum Beispiel die Dattelpalme, die ihn an den wunderschönen »jungen Palmschößling« (ebd., 205) erinnert, den Odysseus auf Delos gesehen hatte und mit dem er dann Nausikaa vergleicht. Nur auf diese Weise kann man der Gefahr entkommen, »daß man von diesen Ruinen überwältigt wird« (ebd., 205); dann aber »gewähren sie so etwas wie einen Zeitraffer« (ebd.). So erweist sich das Medium der Sichtbarkeit, das Licht, auch als Medium jener Essentialität, die die Geschichte dieser ägäischen Insel in dem Blick desjenigen zusammenhält, der sich von den abstrakten Schematisierungen der Erudition zu befreien und die Ruinen der Antike oder die klassische Poesie mit dem Bewusstsein der eigenen Gegenwart wahrzunehmen weiß – denn dann »spielen die Zeiten, die seitdem verflossen sind, keine Rolle« (ebd.). Diese für die Ägäis so maßgebende Beziehung zwischen Licht und Essentialität ist auch Don DeLillo nicht entgangen, dem weltbekannten US-amerikanischen Schriftsteller, der Anfang der 80er-Jahre drei Jahre lang in Athen gelebt und uns den Roman The Names (1982) hinterlassen hat, der mit geschärftem Blick das Leben und die Kommunikationsformen in der Hauptstadt schildert, die Handlung aber auf vielen bestechenden Seiten auf eine kleine kykladische Insel verlegt, der der Autor den fiktiven Namen »Koros« gibt. Dort wohnt die geschiedene Frau des Protagonisten, eine Hobbyarchäologin, die sich zusammen mit ihrem gemeinsamen Kind auf der Suche nach einem authentischeren Leben auf Koros niedergelassen hatte. In DeLillos Beschreibung der Chora, also des Kerns des alten Inseldorfes mit seinen typischen weißen Häusern, findet man Einsicht in die elementaren Qualitäten der dortigen Räumlichkeiten. Die Chora fungiert als eine Art Vergrößerungsglas
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für die Sichtbarkeit der Dinge, die sich im ägäischen Licht bei 40 Grad dem Beobachter in einer Art diaphaner Gegebenheit, in ihrer Essentialität darstellen: In den ummauerten Gärten hing Wäsche, immer dieses Gefühl von verwirklichtem Platz, Alltagsgegenständen, häuslichem Leben, das sich in dieser modellierten Stille vollzieht. […] Es war eine zu Tage, ins scharf konturierende Licht beförderte Meeresgrotte, ein strukturierter Farbklecks an den Hängen. Der Ort strahlte etwas Schlichtes und Vertrauenerweckendes aus, […] eine Bereitschaft, die Restposten irgendeiner Auflösung untereinander zu teilen. (DeLillo 2006, 17-18) Wie man dem letzten Satz entnehmen kann, sind es nicht nur Häuser und Dinge, die im ägäischen Raum ihre maximale Sichtbarkeit erreichen, sondern auch anthropologische Konstanten wie das Gemeinschaftsleben; und dem gemeinschaftlichen Moment des Essens und Trinkens in Griechenland widmet sich DeLillo im nächsten Zitat. Nachdem er die Einrichtung einer typischen Taverna (diesmal in Athen) beschrieben hat, mit ihren einfachen Tischen, unterstreicht er wie selbst die griechische Gewohnheit, bei einem regen Kommunikationsaustausch aus gemeinsamen Tellern die Speisen zu nehmen, schon an und für sich das Zugehören einer Gemeinschaft realisiert: »Das Essen selbst war eine ernste Angelegenheit, so frugal es auch oft war, ebenso die Art, wie man es zu sich nahm, mit Zwergenbesteck von gemeinsamen Tellern, die Anstrengung unseres vereinten Willens, dort zu sein, wo wir waren.« (Ebd., 311) Diese Stelle erinnert stark an das obige Zitat aus Yourcenar – sie läuft auf eine ähnliche Reflexion hinaus: In dieser Welt, z.B. bei einer ›Kokorétsi-Soirée‹, also beim Abendessen in einer auf Innereien spezialisierten Taverna spürt man nicht die Notwendigkeit, den Sinn dieses Erlebnisses mithilfe anstrengender Strategien der Selbstrepräsentation, etwa der Evaluierung der Gerichte und ihrer Zubereitung diskursiv zu konstruieren – denn hier ist der Sinn schon gegeben: »Das Gefühl eines besonderen Anlasses mußten wir nicht erst mühsam erzeugen. Es war immerzu in und um uns herum vorhanden.« (Ebd.) DeLillo weiß auch seine Reflexion in eine Art Maxime festzulegen, wenn er schreibt: »Es zählt zu den Geheimnissen der Ägäis, daß dort alles bedeutsamer, gewichtiger, in sich vollständiger zu sein scheint als anderswo« (ebd.); aber wenn Dinge und andere anthropologischen Dimensionen in der Ägäis in einer solchen Essentialität erlebbar sind, dann dank einer besonderen Lichtqualität, die deren Sichtbarkeit potenziert – wie einer der Romanfiguren auf der Insel Koros sagt: »›Das Licht hier erzeugt Detailgenauigkeit. Suche deine Wahrheit und deine Freude in kleinen Dingen. Das macht das Griechische aus.‹« (Ebd., 41)
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Deportation und Verbannung in der Ägäis – eine tragische Variante der Essentialität (Fioretos, Ritsos) Wie im einleitenden Abschnitt vorweggenommen, werden wir uns in diesem abschließenden mit einer tragischen Variante der ägäischen Essentialität beschäftigen. Hier werden nämlich zwei literarische Zeugnisse extremer Lebensverhältnisse auf Inseln der Ägäis herangezogen, die zwischen den 60er- und 70er-Jahren (wie auch schon früher) als Deportations- bzw. Verbannungsorte dienten. Wenn ich einen schwedischen Roman des Jahres 2015 und die Gedichte, die ein weltweit berühmter griechischer Dichter Ende der 60er-Jahre schrieb, miteinander in Beziehung setze, dann deshalb, weil sie bei allen Unterschieden ähnliche oder mindestens vergleichbare Poetiken der Essentialität entwerfen. In Mary, einem Roman von Aris Fioretos, endet die Protagonistin Maria nach den harten Repressalien, die auf die Revolte am Athener Polytechnikum 1973 folgten, in einem der schlimmsten Deportationslager der militärischen Junta: die damals wie heute unbewohnte Insel Járos. Zusammen mit Makrónissos (einem anderen, ebenfalls unbewohnten Eiland) zählt Járos unter den von verschiedenen Regimen als Deportations- und Verbannungsorten verwendeten ägäischen Inseln wohl zu den krassesten Beispielen für die Verletzung der Menschenrechte, denn dort wurden zahlreiche politische Dissidentinnen und Dissidenten unter extrem harten Lebensbedingungen zur Zwangsarbeit verurteilt, gefoltert und getötet. Im Unterschied zu Makrónissos liegt Járos, auch die Teufelsinsel genannt, sehr weit vom Festland entfernt, und zwar – wie übrigens auch Delos – im Zentrum der Kykladen. Betrachtet man Fotos von Járos, so verblüfft der unglaubliche Kontrast zwischen der Schönheit der Strände und dem düsteren Anblick der Riesenkaserne, die als Internierungslager diente und heute noch aus den kargen Felsen herausragt. Die Geschichte der Studentin Maria wird in Form von Flashbacks in der ersten Person rekonstruiert, während sie noch auf der Insel ist. Die Erzählung des Alltags auf der Insel wird ständig von ihrer Liebes- und Familiengeschichte unterbrochen, wobei gerade dieser Teil ihrer privaten Geschichte meiner Meinung nach der schwächere und schablonenhaftere ist, was leider die literarische Güte des gesamten Romans beeinträchtigt. Nichtsdestoweniger ist Mary ein gewagter, ehrgeiziger Entwurf, und überzeugend gerade da, wo man sich die meisten Schwierigkeiten erwartet hätte: bei der Beschreibung der Folterszenen und des dürftigen Lebens auf der Insel. Es ist dieser letzte Aspekt, auf den ich mich im Weiteren konzentrieren werde. Die Textstellen, in denen die Rede von Wasch- und Spülhandlungen ist, von schwierigen Koch- und Heizmanövern mit einer weniger als minimalen Ausstattung an Instrumenten, die meist mühsam handwerklich hergestellt werden müssen, gehören zu den besten des Romans. Nicht nur Gegenstände, Stoffe und Werk-
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zeuge in ihrer Funktion und Beschaffenheit, sondern auch Gesten, Gesichtsausdrücke, Gewohnheiten und alltägliche Rituale erscheinen in ihrer dramatischen Essentialität, indem sie sich im ägäischen, doch diesmal winterlichen Licht abzeichnen. All dies gewinnt noch spektralere Konturen, als die Protagonistin zur Bestrafung in die verlassene Kapelle einer fernen Inselbucht geschickt wird, wo sie wochenlang in totaler Einsamkeit leben muss. In dieser entfremdenden Situation zeigen sich Dinge und Gesten in einer so radikalen Nacktheit, dass sie etwas schier Halluzinatorisches annehmen: Manchmal entdecke ich Dinge, die ich verwenden kann – am ersten Tag zwei Rollen Mullbinde, verkeilt in einer Felsspalte. Das Zellophan war aufgerissen, ansonsten waren sie intakt. Am nächsten Tag fand ich eine alte Zahnbürste und einen pornographischen Comic, dessen Seiten so verblichen waren, dass ich nur mit Mühe erkennen konnte, was die Gestalten trieben. Die Mullbinden hängte ich zum Trocknen auf, das Heft landete unter einem der Ziegelsteine. Die Zahnbürste habe ich abgekocht und benutze sie nun, um die Ablagerungen im Destillator wegzuschrubben. Ich bemühe mich, an nichts anderes als das zu denken, was die Hände tun. Es macht das Leben einfacher. (Fioretos 2019, 261) Zwei Drittel des Romans spielen auf Járos und – um mit der Protagonistin zu sprechen – konzentrieren sich, wenn auch verflochten mit Erinnerungen an das Leben in Athen vor der Festnahme, auf das, was die Hände tun: Putzen, Kochen, Nähen, Meereswasser destillieren, Müll absondern. Vor allem der handwerklichen Fertigkeit wird besonderer Wert verliehen, Objekte und kleine Mechanismen mit erfindungsreichen Griffen zu reparieren – in dieser Kargheit kann jedes Fetzchen Papier, jedes Stückchen Holz eine Überlebenschance in sich bergen.12 Fioretos entwickelt also eine Beschreibungsstrategie, die darin besteht, seine Prosa diesen lebensentscheidenden, sehr schlichten Handhabungen, Gegenständen und Stoffen anzupassen. Er rekonstruiert den monotonen Alltag Marias in der isolierten Kapelle, indem er einzelne Details unter die Lupe nimmt – in dieser Einöde, in der Nacktheit der menschlichen Bedürfnisse werden die Dinge zu einer unabdingbaren, obsessiven Präsenz, sie manifestieren sich in ihrer essentiellen Funktion: Als ich das Bett gemacht und gefegt habe, inspiziere ich die Außenseite der Kapelle. Der Kamin ist schlicht, sollte aber funktionieren. […] Im Moment sehe ich dort nur ein paar dürre Zweige sowie zwei Konservendosen, die jemand mit Stahldraht 12
»Es ist schwierig, Papier aufzutreiben, daher schreibe ich auf allem, was mir in die Finger kommt: ein Comicheft, so verblichen, dass die Zeichnungen kaum noch zu erkennen sind, ein paar Konservenetiketten, Zeitungsseiten, die nach Fisch riechen, umgestülpte Zigarettenschachteln … Das Datum habe ich vorhin auf der Verpackung einer Tafel Schokolade notiert.« (Fioretos 2019, 10)
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und einem Blechrohr zusammengefügt hat. Sie ähneln dem plumpen Apparat zur Entsalzung, den wir im Schlafsaal benutzen, wenngleich mehrere Nummern kleiner. In der großen Dose wird das Meerwasser erhitzt; sobald es kocht, wandert der Dampf durch das Blechrohr und tropft in die kleinere. Ich kratze mit dem Nagel über das Salz am Boden der großen. Die Ablagerungen erinnern an eine Mondlandschaft. (Ebd., 255) Wie der letzte Satz ahnen lässt, hat die erzwungene Essentialisierung des Lebens hohe Kosten, unter anderem in Form von Halluzinationen, die die Deportierten immer wieder heimsuchen. Aber nicht seltener geben das Zeitvakuum und die schroffe Kargheit der Insel Anlass zu Landschaftsbildern, die eine alles andere als schablonenhafte ägäische Szenografie wiedergeben – einer der ästhetischen Höhepunkte des Romans: Nachdem ich mich gewaschen habe, sitze ich halbnackt auf der Vorderseite der Kapelle, in eine Decke gehüllt, barfuß. […] Weit draußen sehe ich Wellenkämme, in der Ferne erkenne ich vage die Silhouette der nächstgelegenen Insel. Möglicherweise glitzern Fischerboote im Dunst; es ist schwer zu sagen, da das Meer in Sonnenflirren übergeht. Die erste Bucht liegt still wie Teer. Nur ein paar Meter von der Mauer um die Begräbnisstätte entfernt fallen die Felsen steil ab. (Ebd., 263) Vor allem als sie aus der Gruppe der Inhaftierten entfernt wird, erlebt die Protagonistin eine neue Zeitdimension: Sie hat kaum Pflichten und verbringt ihre Tage zwischen der Kapelle, der Begräbnisstätte, der Mülldeponie und dem felsigen Zugang zum Meer, sodass in dieser extrem reduzierten Topografie auch kontemplative Momente nicht fehlen: So kann ich Stunden damit verbringen, das Heidekraut zu betrachten, das unterhalb der letzten Ruhestätte wächst, und schauen, ob ich dazwischen Kräuter entdecke. Oder dem Plätschern vom Ufer lauschen. Es hat eine Weile gedauert, aber wenn ich auf dem Bett liege, kann ich mittlerweile heraushören, wie weit draußen die Wellen sich brechen und wie hoch sie sind. Anhand des Klangs ihrer Rufe kann ich sogar feststellen, wo sich die Vögel aufhalten. (Ebd., 268) In einer genau beschreibenden, schnörkellosen, der Trostlosigkeit dieser Szenen in der Einöde adäquaten Sprache, doch ohne jeglichen selbstgefälligen Pathos entwirft Fioretos eine Art ägäischer Ästhetik, mit einer verlassenen Kapelle auf einer steilen Bucht, schroffen Klippen, steinigem Boden, spärlichen Phryganabüschen und weißgetünchten Mauern.13 Dass die Hauptfigur zu einem solchen Essentia13
So wird die innere Ausstattung der Kapelle in ihrer desolaten Einfachheit minutiös beschrieben: »Es gibt ein schmales Bett, einen Stuhl und eine Öllampe auf ein paar Ziegelsteinen. Ansonsten keine Möbel. Ein Besen mit halbem Stiel, ein Blecheimer. Ein paar Teller, etwas Besteck, eine Tasse. Fünf oder sechs Konservendosen in unterschiedlichen Größen, ein Topf.
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lisierungsprozess ihrer Existenz gegen den eigenen Willen verurteilt ist, macht Marias Geschichte zur extremen, zur Zwangsvariante eines ägäischen Einsiedlertums, das nicht wenige Menschen auf der Suche nach sparsamen Lebensmodalitäten auf die disparatesten Buchten, Inseln und Stränden der Ägäis verschlagen hat, wo sie hauptsächlich mit handwerklicher Arbeit, selbstanalytischen Experimenten und ästhetisch-kontemplativen Erlebnissen inmitten einer steinigen, essentiellen Landschaft die Zeit verbracht haben. Diese minimale Beweglichkeit, das auf das Essentielle reduzierte Schema der alltäglichen Gesten findet sich – gewissermaßen vorweggenommen – bereits in einer Gedichtsammlung, die Jannis Ritsos 1970 abschließt: Χειρονομίες (Gesten). Ritsos verfasst diese Gedichte während seines Zwangsaufenthalts in totaler Isolierung auf der Insel Samos, oder genauer: im Dorf Karlóvasi, wo er das Haus seiner Frau nur kurz und unter strenger Kontrolle des Militärs verlassen darf. Es handelte sich um eine Strafmilderung aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands, denn zuerst war der kommunistische, engagierte Dichter nach Járos deportiert worden, wo er lange in Haft geblieben war. Auf Samos schreibt er diese Gedichte, die dem Halluzinatorischen Form geben, das in solchen extremen Lebensbedingungen ans Licht tritt. In einem minimalistischen Stil beschreibt Ritsos alltägliche Gesten und Situationen, die in einigen Fällen auf die Deportation nach Járos zurückgehen, aber sich meistens auf den Lebensalltag von Samos und auf handwerkliche Tätigkeiten konzentrieren: Szenen auf Feldern, Straßen, in Schlafzimmern, Küchen, in denen sich um jede Geste, in ihrer Essentialität dargestellt, das schlicht Menschliche sammelt14 – wie im Gedicht Αυτοσυμπάθεια (Selbstmitleid): Κάθεται στὴν καρέκλα. Θέλει νἆναι ἥσυχος. Εἶναι. Αὐτό ’ναι πόρτα. Αὐτό, παράθυρο. Τὰ ξεχωρίζει. Ὡραῖα. Ὑπάρχουν σπίτια, δρόμοι, ἕνας κῆπος· στὰ κάγκελα γιὰ μιὰ στιγμὴ ταλαντεύεται ἕνα κόκκινο φύλλο. Τὴ νύχτα δὲ φαίνεται τίποτα. Ὑπάρχουν ὡστόσο. Σηκώνεται. Ἀνάβει τὴ λάμπα. Πλένει τὸ φλιτζανάκι· ἀλλάζει νερὸ στὸ καναρίνι. Ἅγιες, καρτερικές κινήσεις τῶν ἀνθρώπων. Ἡ μικρὴ σαύρα ἐκεῖ, στὸν τοῖχο, σιμὰ στὸ ταβάνι, παρατηρεῖ, κατανεύει. 15
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Ein einzelner Plastikpantoffel. Es scheint ein linker zu sein; jemand hat ihn mit einem A markiert.« (Ebd., 254) Wie Petropoulou bemerkt: »Diese Art der Einfachheit […] bedeutet keinesfalls Banalität oder Vereinfachung und Eindimensionalität« (Petropoulou 2001, 329; über Ritsos: 315-349). Ritsos 1978, 28: »Er sitzt auf dem Stuhl. Will ruhig bleiben. Er ist es. | Das ist eine Tür. Das da ein Fenster. Er unterscheidet sie. Gut. | Es gibt Häuser, Straßen, einen Garten; auf dem
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Sicherlich noch relevanter für den vorliegenden Versuch, zwischen zeitlich so distanzierten Kulturen im ägäischen Raum eine Verbindungslinie zu ziehen, ist ein anderes Gedicht Ritsos’: Μιὰ λέξη (Ein Wort), das er in derselben Zeit und ebenfalls auf Samos während der Verbannung schreibt, das aber in der Sammlung Κιγκλίδωμα (Gitter) steht: Ὅταν τὰ πάντα πιὰ ἐξαντλοῦσε γύρο του καὶ μέσα του κ’ εἶταν σὰ νὰ βυθίζονταν, – θυμόταν τότε νὰ προφέρει μιὰ λέξη μόνον: ἄγαλμα (καί, φυσικά, ἐννοοῦσε ἄγαλμα ἑλληνικό, γυμνό). Κ’ εὐθύς, ὁλόγυρά του ἀνοίγονταν ὀνόματα-νησιά· ἕνα γόνατο ἔλαμπε ἀντίκρυ στὴ θάλασσα· ἡ φαρέτρα τοῦ μικροῦ τοξότη διακρίνονταν θαμμένη κάτω ἀπὸ λοφίσκο λεπτῆς ἄμμου. Ντυνόταν, ἔβγαινε στὴν Ἀγορά. »Καλημέρα σας«, ἔλεγε. Κρεοπωλεῖα, σταμνάδικα, ὀπωροπωλεῖα. Ἀγόραζε σταφύλια ἐλευθερώνοντας ἐκείνη τὴ βαθειά, γαλήνια κι ἀνεξάντλητη χειρονομία ἑνὸς κομμένου μαρμάρινου βραχίονα.16 Es handelt sich um einen vielschichtigen Text, in dem sich verschiedene bildhafte und diskursive Ebenen verflechten. Was wir in dem vorausgehenden Gedicht hervorgehoben haben, die Essentialisierung, realisiert Ritsos hier durch eine Reduktion der Welt auf das Material der Lyrik schlechthin: die Sprache – genauer: auf das wesentlichste und bedeutendste ihrer Elemente: das Wort. Aber nicht irgendein, sondern ein besonderes Wort, das einen der prägnantesten Gegenstände der altgriechischen Kultur bezeichnet: »ἄγαλμα« (Statue). In der Verbannung auf der ägäischen Insel, während der Diktatur, als alle Dinge um das Subjekt verschwinden, sodass sich dieses in einer Situation der Kargheit, der Leere befindet,17 bleibt das Gedächtnis als letzte Ressource, aus der ein einziges Wort hervortaucht – ein in seiner Einfachheit und marmornen Nacktheit
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Gitter | schwankt für einen Augenblick ein rotes Blatt. Nachts | sieht man nichts. Sie gibt es trotzdem. Er steht auf. Zündet die Lampe an. | Spült das Tässchen; tauscht das Wasser für den Kanarienvogel aus. || Heilige, resignierte Gesten der Menschen. Die kleine Eidechse | dort auf der Mauer, nah an der Decke, beobachtet, stimmt zu.« (ÜdA) Ritsos 1982, 149: »Und nun, als er um sich, in sich alles aufbrauchte, und es war, | als ob alles versänke, – dann erinnerte er sich, ein Wort auszusprechen, | ein einziges: Statue (und meinte, natürlich, griechische, | nackte Statue). Und auf einmal rund um ihn herum | tauchten Namen-Inseln auf: Ein Knie funkelte | am Meeresufer; den Köcher erahnte man des kleinen | Bogenschützen, begraben unter einem Hügelchen feinen Sandes. | Er zog sich an, ging aus, zur Agora. ›Guten Tag‹, sagte er. | Marktstände: Fleisch, Tongeschirr, Gemüse. Er kaufte Trauben, | jene tiefe, gelassene Geste eines Armes aus Marmor | befreiend – abgebrochen, unerschöpflich.« (ÜdA) Diese Leere, die in verschiedenen Variationen in vielen Texten Ritsos’ rekurriert, ist nicht nur eine poetische Metapher, denn sie findet ihr tragisches Korrelat in der vom Autor persönlich
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wesentlich griechisches Wort. Kein tröstender, kulturstolzer, erbaulicher Diskurs irgendeiner mythologischen nationalen Integrität, sondern ein Satz-, ein Marmorfragment, dem aber ein starkes Kondensationspotential innewohnt, denn um ihn sammeln sich Namen wie Inseln – um das Subjekt füllt sich wieder der entleerte Raum. Ein paar archäologische Funde, begraben im Sand am Ufer in einer ägäischen Landschaft, fungieren hier als Zeitmedien, dank derer das entleerte Subjekt zur Gemeinschaft der Polis wiederfindet, und zwar in ihrer essentiellsten Form: die Agora. Unter den Marktständen mit handwerklichen Produkten und Lebensmitteln aus dem Land bemächtigt es sich der einfachen Kommunikationswörter (»›Καλημέρα σας‹«) (Guten Tag). Erst dadurch (und durch den Kauf der Trauben) kann die suspendierte Geste des Armes einer Statue reaktiviert, zum Ende, ja zur Vervollkommnung gebracht werden – das abgebrochene Marmorstück findet inmitten der Alltagsgeschäfte auf einem Markt seinen nicht archäologischen, sondern anthropologischen Sinn wieder. Diese kontinuitätsstiftende Fleischwerdung des Marmors kommt in jenem historischen Moment der Diktatur einer Befreiung gleich, einer imaginierten – für den Verbannten auf einer ägäischen Insel wohl die einzig denkbare.18 Doch interessant ist vor allem, dass erst ihre metamorphische Einfügung in die gegenwärtige Gestualität, ihre Verwendung im Alltagsleben die Marmorfragmente wirklich befreit; erst dann kann vermieden werden, dass die archäologischen Funde zu Museumsexponaten, also verewigt werden (eine solche Rhetorik ist dem Werk Ritsos’ völlig fremd) – erst dann können sie »ἀνεξάντλητη« (unerschöpflich) bleiben. Dass das glatte, künstlerisch gemeißelte Marmor wieder lebendig wird, war der kulturelle Traum des europäischen Neoklassizismus, der in der Literatur des 20. Jhs. weiter gesponnen wurde – man denke nur an die Verwendung narrativer Fragmente aus dem griechischen kulturellen Gedächtnis im Werk Kavafis’. Doch in Ritsos’ Gedicht gelingt diese Wiederbelebung in einer ägäischen Szenografie, die
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erlebten Situation der Lager, wo die Betten der Inhaftierten nach deren Tod leer blieben (vgl. Petropoulou 2001, 328). Die politische Valenz dieser Stilisierung der klassischen Vergangenheit zum Modell für das moderne Griechenland war alles andere als unproblematisch, denn das Militärregime belegte dieselbe Vergangenheit mit einer genau entgegengesetzten, reaktionären Bedeutung. In einem sehr interessanten Beitrag hat Hamilakis die Verwendung des klassischen Erbes als Paradigma des ›wahren‹ (und d.h.: nationalistischen, antikommunistischen) Hellenismus gerade auf Makrónissos rekonstruiert (wo auch Ritsos inhaftiert war), wo die Gefangenen im Arbeitslager Kopien des Parthenons und anderer klassischen Gebäude aufrichten mussten, damit sie mit dem ›echten Geist‹ der griechischen Antike indoktriniert und ›umerzogen‹ werden konnten: »The regime also tried to convince the inmates that with their own hands they were ›re-creating‹ ancient Greece in the present, they were fulfilling their destined mission.« (Hamilakis 2002, 318) Dass Makrónissos »Neu-Parthenon« genannt wurde, ist eine paradoxe, degradierte Variante der kontinuierlichen Präsenz des Antikediskurses im modernen Griechenland.
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unzweifelhafte Zeichen des Essentiellen trägt: einen polierten Stein, Sand, Meer, Tonkrüge, Gemüse, Fleisch, ein einfaches Gespräch auf dem Markt – und das wohl essentiellste aller Stoffe: ein Wort. In Ritsos’ Gedicht codiert das Wort »ἄγαλμα« die ununterbrochene Identität der griechischen Kultur von der Antike bis zur Gegenwart, indem es deren diskursive Komplexität auf eins seiner wesentlichsten, sinntragenden Elemente reduziert und sie dadurch reaktiviert. Aber alle Texte der Gedichtsammlungen Χειρονομίες und Κιγκλίδωμα (und insgesamt seine Lyrik) sind ein kleines Meisterwerk der Reduzierung des Menschlichen auf das Essentielle, ohne jeglichen Exhibitionismus des Minimalen, ohne die Selbstgefälligkeit des Rigorosen – darin kann man nicht wenige Ähnlichkeiten mit vielen der Inselszenen im Roman Mary finden. Die den Gefangenen des Regimes auferlegten Maßnahmen auf Járos und den anderen Inseln der Ägäis – ein fiktiver Sachverhalt für Fioretos, ein dramatisch autobiografischer für Ritsos – stellen eine selbstverständlich extreme Variante der ägäischen Lebensmodalitäten dar, eine Variante, deren politische, moralische und humane Tragik ich hier nicht thematisieren muss, denn Deportation und Verbannung bleiben unter diesem Aspekt nur mit ähnlichen Grenzsituationen kommensurabel. Nichtsdestoweniger sind der Roman Mary und Ritsos’ Gedichte, gerade weil sie Ausnahmesituationen inszenieren, ein eklatantes Beispiel jener Essentialität von Lebensformen, Gebräuchen, Bedürfnissen, Werkzeugen, Gegenständen und Räumlichkeiten, in der ich anfangs ein Identitätsmerkmal des ägäischen Lebens- und Kulturraums erkannt habe und die auch den Lebensstil der Aussteiger auf ägäischen Inseln sowie das klassizistische Paradigma charakterisierte. Wenn auch in verschiedenen Genres, Sprachen und Zeiten realisieren Fioretos und Ritsos mit ihren in der Ägäis spielenden Geschichten bzw. lyrischen Szenen zwei miteinander vergleichbare, den Ägäisdiskurs bereichernde Poetiken der Reduktion auf das Essentielle.
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Sehnsuchtsort Ägäis »Archaische Verzauberung« und politische Erfahrungen in Erasmus Schöfers Sonnenflucht Jürgen Pelzer
Zeitroman und Montagestruktur Im Jahre 1986 erschien Erasmus Schöfers Tod in Athen. Ein Gegenwartsroman, der aktuelle Ereignisse im Griechenland um 1980 mit der spezifisch westdeutschen Aussteigerthematik verarbeitet, die in der alten Bundesrepublik Deutschland seit dem Auslaufen der Studentenbewegung en vogue war. Es war der erste Roman des 1931 geborenen Autors, der sich Anfang der siebziger Jahre einen Namen als einer der Initiatoren des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt gemacht hatte, einer Schriftstellervereinigung, die sich der realistischen, für weite Kreise zugänglichen Beschreibung der modernen Arbeitswelt verschrieben hatte.1 Unter dem Titel Sonnenflucht sollte der Roman 2005 in einer überarbeiteten Fassung erneut erscheinen, dieses Mal als Teil einer großangelegten Geschichte der politischen Linken in ihren verschiedenen Spielarten und Aktionsformen. Diese Darstellung reicht zeitlich vom Frühjahr 1968 bis zum Herbst 1989.2 Zentrale Figuren in Sonnenflucht (wie in der Tetralogie insgesamt) sind Viktor (»Vic«) Bliss und dessen Freund Manfred Anklam, ein ungleiches Paar: Beide werden zwar 1968 politisiert und engagieren sich im Kampf gegen die rechtspopulistische Springerpresse, doch der aus der Arbeiterklasse stammende Werkzeugmacher Anklam, der hauptamtlich Gewerkschafter
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Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt bildete sich als Schriftstellervereinigung im März 1970 und bestand aus einer Reihe von lokalen Werkstätten. Das Ziel bestand in einer realistischen und dabei Partei ergreifenden Darstellung der Arbeitsverhältnisse in verschiedenen Berufen. Der Werkkreis entfaltete eine reiche Produktivität und erreichte insbesondere in den Siebzigern dank preisgünstiger Taschenbuchausgaben eine breite Publizität. Die unter dem Titel Die Kinder des Sisyphos konzipierte Tetralogie, die im Dittrich Verlag erschienen ist, besteht aus den Bänden: Ein Frühling irrer Hoffnung (2001), Zwielicht (2004), Sonnenflucht (2005) sowie Winterdämmerung (2008). Die ursprüngliche Version von Sonnenflucht ist 1986 unter dem Titel Tod in Athen beim Weltkreis Verlag erschienen.
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und Betriebrat ist, vertritt eine linkspragmatische Linie, während Bliss als Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) dem Berufsverbot unterliegt und keine Aussicht auf eine Anstellung als Lehrer hat.3 Sonnenflucht erinnert zwar in mancher Hinsicht an die literarische Darstellung der Nachwehen der Studentenbewegung, das Abdriften in destruktive Vereinzelung und politische Abstinenz – vor allem in Peter Schneiders Lenz (1973) und Uwe Timms Kerbels Flucht (1980) –, doch bei Schöfer ist es die Enttäuschung eines politisch Engagierten über die mangelnde Unterstützung durch die DKP und den Verlust seiner Partnerin Lena, die ihre eigene Karriere verfolgt und eine Liaison mit einem Regisseur eingeht. Bliss flieht auf die Ägäisinsel Leros, um ein Buch über 1968 zu schreiben. Anklam holt ihn nach mehreren Monaten ab, um ihn zurück in die politische Arbeit zu führen. Doch auf dem Rückweg lernen beide in Athen Frauen und Männer kennen, die im politischen Kampf stehen. Als eine der Aktivistinnen ermordet wird – der Fall ist authentisch –, will Bliss alle Einzelheiten wissen. Am Schluss wird Bliss, noch bevor er seine Rückkehr fortsetzen kann, bei einer Rettungsaktion lebensgefährlich verletzt. Der Roman entfaltet ein außerordentlich dichtes Panorama. Er beschreibt sowohl die »archaische Verzauberung« der ägäischen Inselwelt als auch das Chaos (bei Schöfer: »Kaos«) der expandierenden Metropole Athen, Formen nicht entfremdeter Arbeit in lokalen Enklaven wie auch die nackte Ausbeutung in modernen Industriebetrieben in den Randbezirken der Stadt. Hinzu kommen die stets gegenwärtige Geschichte und die höchst prekären Zukunftsaussichten eines Landes, das gerade mehrere Jahre Militärdiktatur hinter sich hat und nun (1981) der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten ist. Das Augenmerk gilt den Aktivistinnen und Aktivisten, die eine Rückkehr zur Diktatur verhindern und demokratische oder gar sozialistische Verhältnisse schaffen wollen. Bliss und Anklam knüpfen viele Kontakte und sammeln – trotz aller Unterschiede zur damaligen Bundesrepublik – wichtige Erfahrungen für ihren politischen Kampf zu Hause. Vor allem für Bliss haben die griechischen Erfahrungen eine geradezu existenzielle Dimension. Schöfer präsentiert das Erzählgeschehen in Form einer Montage. Die einzelnen Kapitel sind Erzählblöcke, die jeweils der Sicht einer der Hauptpersonen gewidmet sind. Dabei wird die Chronologie – der gesamte Zeitraum umfasst lediglich eine Woche – aufgebrochen. So beginnt der Roman mit einer der vielen Tonbandund Videonachrichten, die Katina an den schwerverletzt auf der Intensivstation eines Krankenhauses liegenden Bliss richtet, um ihn in seinem Genesungsprozeß
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Es handelt sich um den sogenannten Radikalenerlass (oft auch unter der Bezeichnung Extremistenbeschluss) vom Februar 1972. Er sollte die Beschäftigung links- oder rechtsradikaler Personen im öffentlichen Dienst unterbinden. Zur Dauer und zum Umfang der »Regelanfragen« vgl. Braunthal (1992) und Fülberth (2019).
Sehnsuchtsort Ägäis
zu unterstützen und ihm Details über das Leben Sotirias, der jungen brutal zu Tode gekommenen Aktivistin, mitzuteilen. Der erste Bericht am Anfang des Romans setzt also voraus, was erst im allerletzten Kapitel, dieses Mal aus der Sicht von Bliss, beschrieben wird: nämlich den Großbrand in der Umgebung Athens und die Rettungsaktion, bei der er sich seine schwere Verletzung zuzieht. Vorausgesetzt ist hier auch die subtil-erotische Beziehung Katinas zu Bliss, deren Anbahnung ebenfalls erst gegen Ende des Romans beschrieben wird. Die Leser erfahren zudem sehr bald, dass Bliss, der in den ersten Kapiteln als vereinsamter, isolierter, ja verwahrloster Aussteiger beschrieben wird, in Athen binnen weniger Tage Teil des solidarischen Geschehens um einen der vielen, zumeist aus ökonomischen oder politischen Gründen gelegten Brände wurde. Umgekehrt werden die Gründe für die Sonnenflucht von Bliss erst nach und nach im Gespräch mit dem angereisten Anklam ersichtlich. Die Montageform mag so zunächst verwirrend oder unübersichtlich wirken, doch sie leistet zumindest zweierlei: Sie betont die persönliche Sichtweise der Hauptprotagonisten, läßt sie zu ihrem Recht kommen und ermöglicht den Einbau von Reflexionen und Erinnerungen. Zudem verhindert die Montage eine allzu leichte Identifizierung oder Lenkung der Leserschaft. Das Zwangsläufige einer Chronologie oder gar eine zwingende Logik der Entwicklung wird so unterbunden. Vielmehr müssen oder sollen die Leserinnen und Leser den Gang der Handlung in ihren Facetten selbst konstruieren. Katina, die sonst vermutlich zu einer Nebenperson geworden wäre, kann deshalb eine zentrale Rolle spielen. Durch sie gewinnt auch Sotiria, die geheime, aber bei Ankunft der Freunde in Athen schon nicht mehr lebende Heldin, an Profil. Aber auch Katinas eigene Herkunft und Familiengeschichte, ihr Kampf gegen das patriarchalische Denken in ihrem Umfeld und ihr Nachdenken über eine »produktive Liebe« geraten in den Blick.
Den westdeutschen Zuständen entronnen Dass Bliss nach Leros, einer Insel in der Ostägäis geflohen ist, ist dem zufälligen Tipp eines Freundes zu verdanken. Vielleicht spielt auch der Wunsch eine Rolle, jenes Land so weit wie möglich zurückzulassen, in dem es ihm einfach »zu eng« wurde. Jahrelang hatte er mit den Folgen des Berufsverbotes zu kämpfen, das ihn als DKP-Mitglied betraf. 1972 war es zu einem unseligen Gesetz zur Bekämpfung des »Extremismus« gekommen, mit dem sich die regierende SPD gegenüber der CDU als Sicherheitsgarantin profilieren wollte. Ein gravierender taktischer Fehler, der dem Klima und der intellektuellen Atmosphäre des Landes einen irreparablen Schaden zufügte. Bliss spricht später von einer »Art Selbstverstümmelung unsrer schwindsüchtigen Demokratie« (Schöfer 2005, 111). Er selbst hatte mit seinem Geschichtsstudium zur demokratischen Aufklärung beitragen wollen, nun wirft man ihm süffisant vor, nur »im alten Dreck herumrühren« zu wollen. Also wird er
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kaltgestellt und hat keinerlei berufliche Perspektive, weder als Professor noch als Gymnasiallehrer. Gleichwohl kämpft er wie viele Tausend andere, die vom »Extremistenerlass« betroffen sind, absolviert eine »Springprozession durch die Gerichte« und spricht auf Tagungen im In- und Ausland, ohne freilich Erfolg zu haben. Gerade diese kritische Publizität wird ihm obendrein als »Nestbeschmutzung«, als weiterer Beweis seiner politischen Unzuverlässigkeit, entgegengehalten. »Besserwisserische« Kritik wird von den beamteten »Schützern der Jugend« nicht geduldet, nicht einmal im angeblich »roten Hessen«. Demokratische Prinzipien sind damit außer Kraft gesetzt. Die DKP, der Bliss angehört, hatte freilich immer deutlich gemacht, dass man nicht in die Partei eintreten solle, wenn man den Staatsdienst anstrebe. Da selbst nur halbwegs toleriert, sei sie zu schwach, um wirksam helfen zu können. Bliss wird diese fehlende politische Unterstützung allerdings immer wieder als Zeichen mangelnder Solidarität beklagen. Da auch die moralische Unterstützung seiner Frau ausbleibt, die die Erfolgsaussichten seiner diversen Revisionsanträge skeptisch beurteilt und, ihre eigene Karriere im Auge, eine andere Beziehung beginnt, stürzt Bliss in eine existenzielle Krise, eine Krise, die sowohl seine eigene Identität, sein Selbstverständnis und Selbstwertgefühl als auch die Erfolgschancen politischer Arbeit im Allgemeinen betrifft. Das Berufsverbot hat für ihn (wie für große Teile der Intellektuellen in den letzten beiden Jahrzehnten der alten Bundesrepublik) eine weitreichende Dimension: Es ist einerseits Ausdruck einer staatlichen »Einschüchterungsarchitektur« und damit der autoritären Traditionen in der deutschen Geschichte, andererseits stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Sinn und den Chancen politischer Arbeit, auch nach deren persönlichen Kosten. Doch die Flucht nach Leros ist zunächst einmal nur dies: eine Flucht weg von den traumatisierenden Zuständen in der Bundesrepublik. Er will in Leros ein Buch über die 68er-Bewegung schreiben. Als Aussteiger, als Protestler gegen die »mitteleuropäische Leistungswut« (ebd. 23) oder gar als Hippietourist oder Inselfreak sieht er sich nicht. Dafür pflegt er einen nahezu familiären Kontakt mit den Griechen des Ortes, deren Sprache er lernt. Er öffnet sich der »archaischen Verzauberung«, die von der Natur, dem Licht, dem Meer, dem Lebensstil und der nichtentfremdeten Arbeit der Menschen auf der Insel ausgeht. Eine solche Verzauberung war das »abenteuerliche Ägäiswasser«, das ihn für Stunden alles vergessen läßt, wenn er auf der »Oberfläche der Tiefe« dahingleiten und sich über den »gläsernen Räumen« vogelgleich fühlen kann (vgl. ebd., 26). In urgeschichtliche Zeiten eintauchend, fühlt er sich gleichsam als einsamer Jäger in menschenloser Wildbahn, der Fische erlegt. Als er unter Wasser auf eine Gruppe von Delfinen stößt, die ihn schwimmend umringen und einer Art Tanzchoreografie folgen, löst dies Glücksgefühle bei ihm aus. An Land versucht er sich als Handwerksgehilfe eines Bootsbauers. Die Griechen, mit denen er zu tun hat, lassen ihm den Freiraum, den er braucht. Doch Bliss verwahrlost zusehends. Eine Lösung für seine zutiefst
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traumatisierenden Probleme findet er auf diese Weise nicht. Für den herbeigerufenen Freund Anklam ist die verzauberte Inselwelt der Ägäis dagegen nur eine Postkartenidylle, eine Touristenattraktion, deren soziale Wirklichkeit sehr wenig mit der deutschen zu tun hat. Die Flucht seines Freundes ist für ihn eine Art Verrat, eine Absage an die politische Arbeit, auf die nicht verzichtet werden kann. Bliss verbringt seiner Meinung nach ein »Weltschmerzjahr an der Sonne« (ebd., 39) und ähnelt damit jenen angeblich Linken, die sich mehr für ihre »Seelchen« interessierten als für den Fortschritt der Gesellschaft. Die ins Existenzielle reichenden Probleme seines Freundes kann Anklam, der Pragmatiker, der erfolgreiche Betriebsrat, kaum nachvollziehen. Auch für das Nicht-Entfremdete des griechischen Lebensstils hat dieser zunächst keinen Blick, da er nur das Exotisch-Randständige und zugleich Veraltete wahrnimmt, das für ihn keine aktuelle Bedeutung haben kann. Bliss will es dagegen festhalten, ohne etwa Nostalgiker zu sein. Auch er weiß, dass das Anziehende dieses Lebens- und Arbeitsstils – das gemeinsame Essen, das (stets von Frauen besorgte) Brotbacken zu Hause, die spürbare Solidarität der Menschen usw. – nur in einer Enklave überleben konnte. Doch für Bliss handelt es sich dabei um Qualitäten, die er für eine wahrhaft humane Gesellschaft der Zukunft gewahrt sehen möchte. Abgesehen von dieser utopischen Dimension, die nichts mit einer Verklärung oder gar Mythisierung zu tun hat, spielt die geschichtliche Dimension eine Rolle. Zunächst kommt die Zeitgeschichte – also die höchst turbulenten, verlustreichen Jahrzehnte seit 1941, dem Beginn der brutalen deutschen Besatzungsherrschaft – nicht in den Blick. Bliss steht zunächst immer noch unter dem Eindruck der archaischen Verzauberung, die ihn aller gegenwärtigen Fragen entrückt. Und Anklam sucht ihn dagegen an die politischen Aufgaben zu erinnern, die ihn in der Bundesrepublik, dem »ranzige[n] Vaterland« (ebd. 111), das ihn ausgestoßen und in eine tiefe Sinnkrise gestürzt hat, erwarten. Bliss versteht zwar die Argumentation des Freundes, bleibt jedoch skeptisch, zumal er ja keine echten Berufschancen in seiner alten Heimat hat. Dass die griechische Realität nicht nur aus scheinbar zeitabgewandten Naturidyllen besteht, wird deutlich, als sich die beiden Freunde Attika nähern. Während die Touristen den Poseidontempel am Kap Sounion bewundern, weist Bliss auf das gegenüberliegende Makronissos hin, das »Buchenwald, das Dachau der Griechen«, (ebd. 58) also jenes Lager, in dem Zehntausende Linke, nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg, interniert waren. Eine Insel ohne Wasser, das eigens herbeigeschafft werden musste. Die Unterkünfte in Zelten. Der tägliche Terror, die Mißhandlungen – mit Fäusten, Gewehrkolben und Worten. Bliss kennt die Tagebücher der Verbannung, die der dort (und anderswo) inhaftierte Jannis Ritsos (1909-1990) verfasst hat, in einfacher Sprache, auf den Knien geschrieben,
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zwischen Schuhsohlen versteckt oder in Flaschen vergraben (vgl. ebd., 59).4 Die Gedichte Ritsos’ sind Symbol und Ausdruck des Widerstands, der Verteidigung der Menschen gegen die Unmenschlichkeit. Für Bliss zeigt sich hier, welche nahezu unvorstellbaren Opfer der politische Kampf kosten kann. Der Band der später zusammengestellten Gedichte wurde buchstäblich »mit Blut geschrieben«. Ein Aufgeben, ein Verrat an der Sache, für die man im Krieg gegen die Deutschen und dann gegen die mit den Engländern verbündeten Rechten und Monarchisten gekämpft hatte, kam nicht infrage. Entsprechende Erklärungen lehnte man ab, stattdessen nahm man die jahrelange Haft in Kauf. Hintergrund war der Zusammenhalt einer starken kommunistischen Partei, für die es derzeit kein deutsches Gegenstück gibt, wie die Freunde feststellen. Doch für Anklam sind die Erfahrungen in Griechenland und der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht vergleichbar. Zur Lyrik eines Ritsos findet er keinen Zugang: »Das sind nicht unsere Texte!« (Ebd., 65) Für ihn sind die Erfahrungen des griechischen Bürgerkriegs, über den er fast nichts weiß, nicht vergleichbar mit den Arbeitskämpfen der Gegenwart. Bliss nimmt dagegen eine weit dialektischere Haltung ein. Er kann und will zum einen nicht seine eigene Isolation, seine negativen Erfahrungen vergessen. Es gibt für ihn eine »Wand vor der Heimat«, die ihn abgewiesen hat, einer Heimat, die kaum eine ist, da sie sich als »Land der unheilen Erinnerung, der vergessnen Verbrechen, der herrschenden Demark« (ebd., 74) erwiesen hat. Und andererseits sind es gerade die besonderen Erfahrungen in Griechenland, namentlich die Orientierung am Geschichtlichen, am Widerständigen, die ihn tief »anrühren«, wie er sagt, und ihn an den »Revolutionär« Prometheus erinnern: Kein Weg wird hier beschritten, ohne einzusinken in Erinnerungen, Gewusstes, von andern Entdecktes, was aber Eigentum ist, sein zu erwerbendes Eigentum, weil es menschliches Eigentum ist. Dieser mürbe Boden Griechenlands, gelockert, durchwachsen von den Wurzeln der Freiheit und Schönheit, Prometheus, überall die Denkmäler des Revolutionärs, begraben im Schutt flacher Jahrhunderte, aber er sieht die Hand mit der Fackel oft herausragen aus dem Geröll […]. Eine solche Vertrautheit im Fremden – das war ihm noch nirgends begegnet. (Ebd., 74 und 111)
Perspektiven des politischen Kampfes In Athen und Umgebung treffen die beiden Freunde nach ihrer Schiffsreise auf die getriebige, geradezu hektische Realität der Gegenwart. Sie ist ein Gegenstück 4
Siehe Ritsos (1996) sowie Ritsos (1984). Vgl. darin auch das Nachwort des Übersetzers Erasmus Schöfer (1984). Die Originaltexte wurden zwischen 1949 und 1951 verfasst und erschienen 1957 als Buch.
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zur Archaik der Inselwelt, zu deren Naturschönheit und beschaulichem, zeitlos wirkendem Lebensstil. Schöfer beschreibt diese Gegenwart mit einem Vokabular, das an den Haß der deutschen Expressionisten auf den Moloch Großstadt (womit vormals Berlin gemeint ist) denken läßt. Dies ist spürbar bereits in Piräus, bei der Ausschiffung, bei der geräuschvollen Ausladung der Laster und Tausender Autos, die damals schon die Ausfallstraßen und Hauptverkehrswege verstopfen. Die Vorstadtlandschaft zwischen Piräus und Athen erscheint zumeist als heruntergekommener Slum, Athen selbst als Dschungel, als »Kaos«, als »steinerner Koloß«, als wimmelnde Betonwüste – womit freilich nur die leidige Realität der meisten heutigen Großstädte bezeichnet ist. Hinzu kommen die Auswirkungen des Tourismus, bei dem Griechen selbst oftmals wie Statisten wirken. Verbreitet ist die Ausrichtung auf den üblichen Nepp, dem man, ist man ortskundig, entgehen kann, dabei auf Menschen, Läden und Phänomene stoßend, die die geschichtliche Wirklichkeit erkennen lassen. Bliss erklärt dem Freund, der die griechische Geschichte kaum kennt und selbst die Militärdiktatur der Jahre 1967 bis 1974 nur als exotisches, randständiges Ereignis wahrgenommen hat, ohne Bezug zum Rest Europas, dass die Zustände – die zahllosen Betonbauten, die nur für den immer stärker werdenden Autoverkehr ausgebauten Straßen, der über der Stadt lastende Hitze- und Abgassmog – Ergebnis einer rasanten Entwicklung sind. Griechenland hat seinen Modernisierungsprozeß innerhalb von gerade einmal zwei Jahrzehnten absolviert. Doch in Athen, wo sich Bliss und Anklam ein paar Tage aufhalten, auf den Weiterflug nach Frankfurt wartend, stoßen sie auf die Politik des Widerstands. Zu Ehren der ermordeten Studentin und Aktivistin Sotiria Wassilakopoulou findet eine massive Demonstration statt, an der sechzigtausend Menschen teilnehmen (vgl. ebd., 140, 150).5 In ihrer mitreißenden Wucht übertrifft sie selbst die großen Demonstrationen, die in den 60er-Jahren auch in Westdeutschland stattgefunden hatten. Dort ist mittlerweile der Wille zur Konfrontation (und zur eigenen Selbstgewisserung) erlahmt, die Linke ist in viele Gruppen und Grüppchen zersplittert, und der Mainstream wird von Aktivistinnen und Aktivisten repräsentiert, die sich alternativen (so das Zauberwort) Lebensentwürfen verschrieben haben. Der Kampf gegen Ausbeutung oder Staatsgewalt fällt unter diesen Umständen schwerer. Bliss beginnt sich in diesem Zusammenhang für die junge Studentin zu interessieren, die bei einer Protestaktion, beim Verteilen von Flugblättern, absichtlich von einem Busfahrer angefahren und überrollt wurde. Ihr Bild in der Parteizeitung studierend, fragt er sich, woher die junge Frau die Kraft zum vollen Einsatz nahm. Hat sie gewusst, dass ihre Aktion tödlich enden könnte? Dass ihr kaum angefangenes Leben abrupt enden könnte? Diese Fragen lassen ihn nicht los. Er wird sie bald mit Katina besprechen, die auch in ihren Tonbandmitteilungen darauf eingeht. Bliss 5
Vgl. auch das Foto, das sich nur in der ersten Fassung des Romans findet (Schöfer 1986, 130f.). Schöfer beschreibt hier wahre Begebenheiten.
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trifft außerdem seinen Studienfreund Takis Vamvakis, der ihn seinerseits mit dem Bürgermeister von Kessariani, bekannt macht. Die Gespräche mit beiden zur Philosophie der Geschichte wie zur politischen Praxis gehören zum Höhepunkt des Romans. Damit nicht genug: In diesen Tagen sind, bereits vom Schiff sichtbar, Brände auf dem Parnitha ausgebrochen. Der Brandgeruch hängt über der Stadt. Die Brände selbst verweisen auf ökonomische wie politische Hintergründe und damit auf das Prekäre der allgemeinen Lage, die nur kurz nach den Jahren der Diktatur alles andere als stabil ist. Die Situation könnte also in diesen Tagen nicht dramatischer sein. Bliss selbst hat zwar immer noch die Inselbilder im Kopf, dabei jedoch zunehmend das Gefühl, dass sein »Ausbruch«, seine Flucht aus der Bundesrepublik, zu einem neuen »Aufbruch« führen wird (ebd., 143). Die Freunde treffen sich auf der Platia von Kessariani, einem Vorort Athens, in dem viele der 1924 aus Kleinasien vertriebenen Griechen unter höchst schwierigen Umständen Fuß zu fassen versuchten. Er ist ein Zentrum des organisierten Industriepoletariats. Das Gewerkschaftsgebäude, in dem sie Takis antreffen, ist, ganz im Gegensatz zu den Palästen etwa der IG-Metall in Frankfurt, armselig. Die Gewerkschafter leben nicht anders als die Arbeiterinnen und Arbeiter, die sie vertreten. Anklam und Bliss wird bewusst, wie staatstragend die Gewerkschaften und namentlich die Dachorganisation des DGB in der Bundesrepublik geworden sind. »Wilde Streiks« sind verpönt, dies musste auch der erfolgreiche Betriebsrat Anklam am eigenen Leib erfahren. Streikaktionen – Lohnauseinandersetzungen – folgen einer eingespielten Choreografie, die für beide Seiten kalkulierbar und letztlich risikolos ist. Der »Druck von unten« findet nur statt, wenn er »von oben erlaubt« (ebd., 170) ist. Überraschend für die beiden Deutschen ist auch die Nähe des Bürgermeisters zu den Menschen, für die er zuständig ist. Er trifft sie nicht im Büro, sondern auf dem Marktplatz oder in der Taverne. Auf einer Tour durch Kessariani und das angrenzende Nea Smyrni erklärt er die Probleme der Stadtplanung: Die Gegend sei gewachsen »wie ein Müllplatz«. In Kessariani verlief 1944 die Front zwischen den Kommunisten und den Engländern, die das Land nicht den Kommunisten überlassen wollten und damit den Bürgerkrieg auslösten. Zuvor, am 1.5.1944, hatten die Deutschen, die das Land drei Jahre ausgeraubt und eine blutige Besatzungsherrschaft errichtet hatten, 200 griechische Arbeiter in Kessariani hinrichten lassen – freilich nur eines von nachgerade unvorstellbaren Massakern, die den Widerstand der Griechen brechen sollten. Nach der Tour durch die Probleme der Gegenwart (und der Vergangenheit) folgt das Gastmahl in einer Taverne, einem recht armseligen, aber Ruhe und Freundlichkeit ausstrahlenden Ort: für Anklam ein »gelebtes Gemälde«. Der Wirt ist auch der Koch, eine beherrschende Erscheinung, die auch auf einem Plakat auftaucht, umgeben von Helden der Revolution und des Widerstands wie Che Guevara und Ho Chi Minh. Der politische Kampf ist, wie sich an den Plakaten und Aushängen ablesen läßt, offener, kritischer, humorvoller als der ihrer Gegenstücke in Ost- oder Westdeutschland. Das
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Image der Partei ist volksnäher. Es ist verankert in der populären Kultur – etwa der Musik. Diese Volksnähe macht gleichzeitig immun gegen den Personenkult, der in vielen Ländern destruktive Auswirkungen hatte. Das Kapitel trägt übrigens den Titel: »Lenins Gastmahl«. Die untergründige Anspielung verweist auf Platons berühmtes Symposion und erinnert an eine jahrtausendealte Tradition der Geselligkeit, des Austauschs, des gemeinsamen Essens und Gesprächs. Doch anders als bei Platon, bei dem die Freunde bei ihrem Gastmahl Formen der Liebe diskutieren, geht es hier um Geschichte und die Probleme des politischen Kampfes. Freilich handelt es sich auch bei Platon nicht nur um eine aufs Körperlich-Seelische gerichtete Erotik, vielmehr könne, ja solle sich – so die Position des Sokrates – eine hoch kultivierte erotische Energie auch auf höhere Ziele richten. Das Thema ›Liebe‹ ist also weit gefasst. Im Gespräch mit Takis und Vic kritisiert Anklam den Triumphalismus, den eisernen, auf den Sieg im Endkampf gerichteten Fortschrittsglauben, der sich oft in der Linken, auch in der griechischen, »trotz alledem« breit zu machen scheint. Siege werden hervorgehoben, ja mythisiert, die zahlreichen Niederlagen – etwa der griechischen Linken im Bürgerkrieg – werden verdrängt oder im Namen des internationalen Klassenkampfs bagatellisiert. Takis akzeptiert diese Kritik. Man spreche nicht gern von den Niederlagen, da sie schmerzten. Das Problem liege darin, dass revolutionäre Politik zu viel Einsicht der Menschen in geschichtliche Prozesse erwarte, zu viel Entschlossenheit und Elan. Doch zum politischen Kampf seien Hoffnung und Optimismus unerlässlich (vgl. ebd., 184). Die Geschichte sei ferner ein Buch, das »mit Blut geschrieben sei«. Der Kampf gegen den übermächtigen, alle Machtmittel einsetzenden Gegner erlaube keine »reine Moral«. Auch der Sozialismus sei da, wo er an der Macht sei, »noch nicht sauber. Aber er ist nicht mehr blutig« (ebd., 188). Der Kritik an Lenin, er habe mit der Betonung von Kontrolle autoritäre, undemokratische Trends gefördert, hält Takis entgegen, dass sich auch die politischen Aktivistinnen und Aktivisten nur allzu leicht einem blinden Vertrauen ergeben hätten. Takis – übrigens Schüler des Marburger »Partisanenprofessors«6 Wolfgang Abendroth – vertritt seine Positionen ohne jegliche Sentimentalität. In der politischen Praxis stehend – er ist für die Bildung in Kessariani zuständig und in einer Historikerkommission, die die Probleme der Linken aufarbeitet, sieht er die Dinge realistischer als der Freund, der allzu leicht ins Defätistische abrutscht. Das Schlusswort bei diesem Gastmahl hat der Bürgermeister. Auf die deutschen Zustände angesprochen, macht er auf das Versagen der SPD aufmerksam, die niemals einen Sozialismus vertreten habe und 1914, 1933 und nach 1945 die fatale Spaltung der Arbeiterbewegung verursacht oder in Kauf genommen habe. Könne Sozialismus eine treibende Kraft sein, anstatt immer nur (unzureichend) zu reagieren? Darauf antwortet Panajotis Mavros nicht. Die Geschichte werde die Antwort 6
So tituliert von Jürgen Habermas (1966), der bei Abendroth in Marburg habilitierte.
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liefern. Doch Kritik gehöre zu diesem Prozess. Sein abschließender, zunächst etwas enigmatischer Satz lautet: »Wer nichts infrage stellt, trägt nichts bei zur Entwicklung des Lebens.« (Ebd., 192) Mit anderen Worten: Kritik, auch Selbstkritik ist notwendig. Am Telos des politischen Kampfes ändere sich dadurch nichts. Niederlagen bedeuteten nicht Scheitern, vielmehr sei aus ihnen zu lernen. Der politische Kampf sei so vielfältig und widersprüchlich wie das Leben selbst. Eine Einsicht, aus der sowohl der »sentimentale«, zutiefst verunsicherte Bliss als auch der pragmatische, hohle Slogans oder allzu optimistische Sichtweisen verabscheuende Anklam lernen können. Es wird verständlich, wie die Ereignisse und Gespräche Bliss allmählich an einen »Aufbruch« denken lassen. In Kessariani erfährt Bliss wiederum das Prometheische, das Kampfbereite, das Widerständige, das er in Griechenland so anrührend findet. Es ist Teil der aktuellen Wirklichkeit. Für Anklam wird sich jedoch bald zeigen, dass sein erfolgsverwöhnter Pragmatismus eine schwere Niederlage erleidet.
Wie schaffen wir produktive menschliche Beziehungen? Schöfer hat noch eine weitere Perspektive in diesen komplexen Roman eingebaut, die Perspektive Katinas, einer jungen, 21-jährigen Studentin, einer fiktiven engen Freundin und Mitstreiterin von Sotiria Wassilakopoulou. Dem Autor ist hier eine äußerst anziehende, einfühlsam gestaltete Frauenfigur gelungen. Im Erzählgefüge erfüllt sie eine Reihe wichtiger Funktionen. Wie bereits erwähnt, beginnt der Roman mit ihrer Tonbandnachricht an Bliss. Nachrichten dieser Art durchziehen den ganzen Roman, liefern eine Art Kontrapunkt zum Geschehen um die männlichen Protagonisten. Katina hat Vic bald nach dem Gespräch in Kessariani kennengelernt, da er über die Umstände der Ermordung Sotirias detailliert Bescheid wissen wollte. Sie selbst kennt Sotiria seit langem, sie haben die Ferien zusammen verbracht und arbeiten in der gleichen Studentengruppe, einer Jugendorganisation der Partei. Sie kann also Auskunft geben über das Leben ihrer Freundin, der abwesenden Heldin dieses Romans, sie kann deren Gedanken zur politischen Arbeit wiedergeben. Katina zeigt durchaus Interesse an Vic, gleichwohl ist es primär die solidarische Fürsorge für einen Genossen, der nicht nur viel über ihre Freundin und deren Leben wissen möchte, sondern der sich – als »Fremder« – bei einer Rettungsaktion schwer verletzt hat und nun Zuspruch braucht. Er hat seine Solidarität mit den griechischen Aktivistinnen und Aktivisten bewiesen, nun handeln diese im Sinne derselben Solidarität. Katinas Nachrichten sollen ihm beim schwierigen Genesungsprozess helfen. Gleichzeitig enthüllt sie ihre eigene Gefühls- und Gedankenwelt. Man kann vielleicht von einer subtil-erotischen Beziehung sprechen, einer Beziehung, die geschlechts-, alters- und nationenübergreifend ist. Sie reicht ins Persönliche, ja Intime, das vielleicht nicht »das« Politische ist (wie in den
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Siebzigern des letzten Jahrhunderts gern proklamiert), aber unstreitig Ausdruck und Konsequenz des Politischen ist. Für Bliss jedenfalls gehört auch diese Erfahrung zu den griechischen Erfahrungen, die ihm helfen, seine existenzielle Krise zu überwinden und seinen Glauben an sich und die politische Arbeit wiederzugewinnen. Man mag kritisch anmerken, dass es ausgerechnet eine weibliche (und keine männliche) Perspektive ist, die hier, bei einem physischen und psychologischen Heilungsprozeß, eine entscheidende Rolle spielt, während bei den politischen Gesprächen in der Taverne nur Männer und keine Frauen anwesend waren. Doch Schöfers Darstellung hält sich von »mütterlich« oder »schwesterlich« wirkenden Stereotypen frei. Im Gegenteil reflektiert gerade Katina die Hemmnisse des patriarchalischen Denkens und ist entschlossen, sie zu überwinden. Für sie ist dies Teil des politischen Kampfes. Katina liefert mehr als einen Bericht über den Mord an Sissu, wie der vertraute Name Sotirias lautet. Sie zeichnet, gestützt auf ihre Kenntnis der Freundin und die letzten gemeinsam verbrachten Ferientage, ein Porträt ihrer Freundin. Der politisch-kämpferischen Seite entsprach die Liebe zur Natur, zur Inselwelt »unserer blauen Ägäis«, zu den »rosenfingrigen« Sonnenaufgängen, dem Schwimmen im Meer. Man fühlt sich an die Erlebnisse erinnert, die Bliss in Leros hatte. Sie scheut eigentlich den Kampf, sie will leben. Im Sinn des Verses von Ritsos sind die Menschen nicht »auf die Welt gekommen, nur um zu sterben« (ebd., 16). Der Kampf ist die Pflicht, die den Aktivisten auferlegt ist, um ein menschenwürdiges Leben herbeizuführen. Und Katina zitiert weiter aus Ritsos, der in Nachbarschaften der Welt davon spricht, dass »am Abend nach der Arbeit, die Sonne in die Augen lächelt und verspricht: ich komme wieder« (ebd.).7 Politischer Kampf unterliegt also einem Auf und Ab, die Sonne, als Symbol der Hoffnung, kehrt wieder oder bleibt eine verlässliche Konstante. Katina kann Bliss mitteilen, dass die Brände gelöscht und die Menschen des Altenheims, das er schützen wollte, gerettet sind. Auf diese Verse von Ritsos kommt Katina auch bei der Beschreibung des Begräbnisses Sotirias zurück, das sie als eindrucksvolle Demonstration beschreibt. Es erinnert an jenen Text, mit dem Ritsos 1936 den Ermordeten eines Tabakarbeiterstreiks in Saloniki ein Denkmal gesetzt hatte (ebd., 108).8 Die Morde sind furchtbar, doch sie stärken auch den politischen Widerstand, den Kampf gegen Zustände, in denen solche Morde möglich sind. Auch das Begräbnis Sissus wird in diesem Sinne zu einer Machtdemonstration, an der Tausende teilnehmen, u.a. auch die Arbeiter der bestreikten Fabrik, von denen viele für die Gewerkschaftsbewegung gewonnen werden können. Ausdrücklich wendet sich Katina in diesem Zusammenhang gegen eine Rollenverteilung, derzufolge Männer für den Kampf, Frauen für die 7 8
Auch später kommt Katina auf diesen Text zurück (ebd. 101f.) Der zitierte Text findet sich in Ritsos (1984, 12). Vgl. Ritsos (1980).
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Trauer zuständig seien. Ausgehend von Alltagserfahrungen teilt Katina auch ihre Gedanken hinsichtlich der Liebe mit. »Wie schaffen wir die Liebe?«, fragt sie und meint damit: Wie erreichen wir Leute, die uns mit Vorurteilen begegnen oder verständnislos gegenüberstehen? Wie erreichen wir, als intellektuelle, als gleichberechtigte Frauen, z.B. patriarchalisch oder sexistisch eingestellte Arbeiter, deren Interessen wir doch vertreten? Und in diesem Zusammenhang berichtet sie von einem weiteren »Erbe«, das ihr die Freundin hinterlassen hat, nämlich von einem Satz von Karl Marx, demzufolge »nur die Liebe, die Gegenliebe erweckt«, »produktiv« ist (ebd., 201).9 Beide Frauen verstehen die Tragweite dieses Satzes, der aus den »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« von Karl Marx stammt, und fragen sich, ob dieser Satz für die Gegenwart oder eine Gesellschaft der Zukunft gemeint ist. Gilt er auch für Alltagssituationen? Meint er eine bestimmte Haltung, die man gegenüber den Mitmenschen einnimmt? Katina kommt auf diesen Satz, dessen genauen Wortlaut sie nachliest, zurück, und zwar bevor sie den Mord an Sissu in allen grausamen Einzelheiten beschreibt. Liebe ist demzufolge kein unerklärliches oder blindes Gefühl, sondern eine Art »gemeinsames Gebäude« (ebd., 249).10 Die Gegenseitigkeit der Liebe ist ein Gegenstück zu der durch die Warengesellschaft erzeugten Entfremdung, wie Marx sie 1844 beschrieben hat, einer Entfremdung, die gerade diese Gegenseitigkeit verhindert. So betrachtet, ist Liebe – im engeren wie im weiteren Sinn – Teil des gesamtgesellschaftlichen Befreiungsprozesses, für den Katina und ihre Genossinnen und Genossen eintreten. Das Persönliche ist also mit dem Politischen verbunden. Gerade diese grundsätzliche Verknüpfung verbindet – unausgesprochen – auch Bliss und Katina. Der Tod Sissus hat auch noch zur Folge, dass sich Katinas Vater ihr gegenüber öffnet und erstmals davon spricht, welches Opfer er im Befreiungskampf gegen die deutsche Besatzung auf Kreta bringen musste, nämlich seine große Liebe zu töten. Katina wird sich also der historischen und politischen, oftmals tragischen Bedingungen des Patriarchalismus bewusst, der im Übrigen auch im Alltag schwer auszurotten ist. So spricht sie mehrfach davon, wie die Männer (die Brüder, die Väter) auch im sich modernisierenden Griechenland Frauen benachteiligen, sie als Partnerinnen nicht ernstnehmen und junge Frauen stattdessen in die altbekannten Rollen zwängen wollen. Bliss scheint nicht in dieses Muster zu passen.
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Umgekehrt gelte: »Die Liebe, die keine Gegenliebe weckt, ist unproduktiv.« (Ebd.) Vgl. Karl Marx (1985, 567). Marx diskutiert in diesem Segment der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« die »verkehrte Welt«, die durch das Geld bewirkt wird. Setze man dagegen »den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen […]. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein« (ebd. Herv. im Original).
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Die Rettungsaktion Bliss hat vor seiner Rettungsaktion Katina getroffen und sich spontan entschieden, mit in die Umgebung von Athen zu fahren, um dort bei einer Rettungsaktion, der Evakuierung eines Altenheims, zu helfen. Dabei ist er lebensgefährlich verletzt worden. Am Anfang der Romans erhält er die erste Botschaft Katinas, die ihm – trotz trennender Glasscheibe – Gesellschaft leisten und Zuspruch geben will. Tatsächlich kommt es hier zu einem sowohl physischen wie vor allem psychologischen Heilungsprozess. So gesehen erlaubt die erzählerische Montage eine Art Gegenläufigkeit: Der Heilungsprozess beginnt bereits mit der ersten sehr persönlichen Botschaft, und Teil dieses Prozesses sind dementsprechend die Erinnerungen von Bliss, die weitgehend der tatsächlichen Chronologie folgen, beginnend mit der Flucht nach Leros bis zur Ankunft in Athen. Das Schicksal Sissus hat Bliss nicht losgelassen. Es handelt sich um ein Opfer, das Fragen nach dem politischen Kampf aufwirft. Nur ein sinnvoller Kampf oder ein erreichbares Ziel scheinen solche Opfer rechtfertigen zu können.11 Gleichzeitig ist Anklam, der Pragmatiker und auf erreichbare Ziele fixierte Freund, gekündigt worden. Obwohl eigentlich als Betriebsrat unkündbar, hat man ihm vorgeworfen, für die Ziele einer Bürgerinitiative eingetreten zu sein und damit die Arbeitsplätze in seinem Betrieb aufs Spiel gesetzt zu haben. Auch Anklam muss also wieder von vorne anfangen. Seine scheinbar unerschütterliche Position, sein von der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterschaft getragenes Engagement, ist verpufft. Damit erscheinen auch die Arbeitskämpfe in Griechenland in einem anderen Licht. Dort hat Bliss nicht nur die harten Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, sondern auch die Spuren vergangener Kämpfe kennengelernt. Doch gerade aus der Geschichte lässt sich lernen, dass ein langer Atem nötig ist, um erfolgreich zu sein, oder wie Katina formuliert: Man braucht eine »hartnäckige Ungeduld«. Es bleibt in Sonnenflucht offen, ob Bliss zurückkehrt oder zurückkehren will. Denn in Westdeutschland erwarten ihn ja keineswegs günstigere Umstände. Im Gegenteil! Sonnenflucht ist, wie erwähnt, Teil einer Tetralogie geworden, die die Entwicklungen der Linken seit 1968 beschreiben wollte. Bezeichnenderweise zitiert Schöfer nicht den revolutionären Prometheus herbei, dessen Spuren er überall in Griechenland fand, sondern »Sisyfos«, der als Symbol für eine endlose, meist frustrierende, scheinbar absurde, aber doch nötige Arbeit steht. Der Untertitel des Ganzen lautet jetzt: »Die Kinder des Sisyfos«. Dabei scheint sich jedoch die Hoffnung verflüchtigt zu haben, dass der Felsen, den Sisyfos den Berg heraufschleppt, sich im Laufe der Zeit zu einem »Staubkorn« verflüchtigt. Denn beiden Ausgaben, derjenigen von 1986 und der von 2005, hat Schöfer jeweils eigene Gedichte vorangestellt: In der Ausgabe von 1986, mit dem Titel Tod in Athen, besteht noch eine gewisse Hoffnung, ja Zuversicht: »Bei klarer 11
Zur religiösen und politischen Tradition des Opfers vgl. zuletzt Eagleton (2018).
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Sicht Ausblick in das Jahrtausend, | Da ich den Stein zum Gipfel trage und er, | Vom Wind erfaßt, als Staubkorn davonfliegt.« In der nahezu zwanzig Jahre später veröffentlichten Fassung heißt es dagegen, diesmal aus distanzierender Er-Perspektive »Hinter der Stirn | Etwas Licht | Unsichtbar lächelnd | Träumt er Befreiung. Aus dem Berg flattern | Schrecklich vertraut | Die Mahre. Die Nacht verschlingt seinen Schrei.« Der Traum ist zwar geblieben, aber auch die Befürchtung, die alptraumartige Angst, dass es keinen Fortschritt geben und die Arbeit umsonst sein könnte. Dass der Tenor der ersten Fassung von 1986 positiver ausfallen konnte, hat dabei mit den geschilderten griechischen Erfahrungen zu tun, die vor allem ein Gefühl mitmenschlicher, alters- und nationenübergreifender Solidarität vermitteln, einer Solidarität, ohne die man im politischen Kampf kaum bestehen kann.12
Quellen Marx, Karl (1985): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 40. Berlin: Dietz Verlag, 465-588. Ritsos, Jannis (1980): Epitaphios. In: Gedichte. Griechisch/Deutsch. Basel: Stroemfeld/Roter Stern, 6-47. Ritsos, Jannis (1984): Die Nachbarschaften der Welt. Übertragen von Erasmus Schöfer. Köln: Romiosini. Ritsos, Jannis (1996): Tagebücher der Verbannung. In: Deformationen. Eine innere Biographie. Köln: Romiosini, 31-35. Schneider, Peter (1973): Lenz. Eine Erzählung. Berlin: Rotbuch. Schöfer, Erasmus (1986): Tod in Athen. Ein Gegenwartsroman. Dortmund: Weltkreis Verlag. Schöfer, Erasmus (2005): Sonnenflucht. Zeitroman. Berlin: Dittrich. Timm, Uwe (1980): Kerbels Flucht. Gütersloh: Bertelsmann.
Literatur Braunthal, Gerard (1992): Politische Loyalität und öffentlicher Dienst. Marburg: Schüren. Eagleton, Terry (2018): Radical Sacrifice. New Haven, London: Yale University Press.
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Siehe auch den Sammelband von Thomas Wagner (2012). Hier findet sich u.a. eine Interpretation der Griechenlandbilder in Sonnenflucht von Kirki Kefalea (2012). Eine frühere Besprechung stammt von Rüdiger Scholz (2006).
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Fülberth, Georg (2019): Chronologie und geschichtliche Einordnung der Berufsverbote. Drei Deutungsmuster. In: Heinz-Jung-Stiftung (Hg.): Wer ist denn hier der Verfassungsfeind? Köln: Papyrossa, 28-34. Habermas, Jürgen (1966): Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. In: Die Zeit, Nr. 18, 29.4.1966. Kefalea, Kirki (2012): Literarische (Anti-)Griechenlandbilder in Erasmus Schöfers Roman Sonnenflucht. In: Thomas Wagner (Hg.): Im Rücken die steinerne Last. Unternehmen Sisyphos. Die Romantetralogie von Erasmus Schöfer. Berlin: Dittrich, 109-123. Schöfer, Erasmus (1984): Nachwort. In: Jannis Ritsos: Die Nachbarschaften der Welt. Übertragen von Erasmus Schöfer. Köln: Romiosini, 135-141. Scholz, Rüdiger (2006): Griechenland heilt nicht mehr. Erasmus Schöfers dritter Sisyfos-Roman Sonnenflucht. Zwischen Realistik und Symbolik. In: Peter-WeissJahrbuch 15 (2006), 153-170. Wagner, Thomas (Hg.) (2012): Im Rücken die steinerne Last. Unternehmen Sisyphos. Die Romantetralogie von Erasmus Schöfer. Berlin: Dittrich.
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Christa Wolfs Griechenlandreise Kritik der abendländischen Zivilisation Monika Albrecht
Die »Literatur des Abendlandes«, so Christa Wolf im Mai 1982 in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung, »[beginnt] mit der Verherrlichung eines Raubkrieges«.1 Dieser lakonischen Feststellung folgt ohne Umschweife sogleich die ebenso lapidare Frage: »Wer aber wollte sich Homer weg- oder in einen realitätsgetreuen Historiographen umwünschen?« (Wolf 1983, 19) Die Einsicht in das potentiell Destruktive der westlichen Zivilisation bei gleichzeitigem Wissen um die eigene Verstrickung darin spielt in dem Kassandra-Projekt eine wesentliche Rolle. In diesem Spannungsfeld entfaltet Wolf in den Vorlesungen Voraussetzungen einer Erzählung, in der Erzählung selbst und in weiteren Texten der frühen und mittleren 1980er-Jahre ihre Kritik an der abendländischen Zivilisation.2 1
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Die Forschung sieht dies allerdings meist anders; vgl. etwa: »Was Christa Wolf aus dem Stoff des Trojanischen Krieges macht, ist ihre Sache. Es ist dichterische Freiheit, die niemand verwehrt werden kann. Von Homer allerdings ist diese Umgestaltung des Stoffs so weit entfernt, wie man von ihm nur entfernt sein kann. Die Ilias ist kein simples Loblied des Krieges. Achill ist kein bloßer Krieger. Alle Helden Homers sind nicht nur große Krieger, sondern auch große Menschen, zu vielem fähig – das wohl –, Odysseus zu List und Hinterlist, ja sogar zum Mord, Achill zu Grausamkeit, Erbarmungslosigkeit, Schamlosigkeit. Aber man muß verstehen, daß der Dichter weit davon entfernt ist, dies alles schlichtweg zu loben. Seine Helden sind nicht Helden einer manichäischen Welt von gut und böse, von schwarz und weiß. Es sind Menschen, die sich hinreißen lassen zu Untaten und die sich doch überwinden und Großes tun können. Beides zugleich.« (Ottmann 2001, 26) Christa Wolfs Kritik an den Mängeln und Fehlentwicklungen der abendländischen Zivilisation war bekanntlich Bestandteil ihrer Patriarchatskritik und fand in seiner Entstehungszeit und darüber hinaus vor allem deshalb großen Anklang, weil sie als »kulturgeschichtliche[r] Ansatz an der Schnittstelle zwischen Matriarchat und Patriarchat« (Opitz-Wiemers 2016a, 172) gelesen werden konnte (vgl. u.v.a. Püschel 1984; Kuhn 1985; Weigel 1985; Hilzinger 1989). Während dieser Fokus auf der Zeit vor der Eroberung Trojas mit ihrer »Umwertung der Werte bei der Herausbildung unserer Zivilisation aus vorzivilisierten Gesellschaften« (Wolf 2001a, 272) – an anderer Stelle »patriarchalische Umwertung der Werte« (Wolf 1983, 134) genannt – ihr gelegentlich den Vorwurf eingetragen hat, dass sie einen vermeintlichen Nebenwiderspruch »als den Hauptwiderspruch« dargestellt habe (Wolf 2000a, 355), begrüßte nicht nur im Westen eine Mehrheit enthusiastisch Wolfs Suche nach literarischen Alternativen jenseits
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Im Januar 2017 hat ein Rezensent im Deutschlandfunk anlässlich der neuen Briefedition (Wolf 2016) einmal mehr darauf hingewiesen, »wie unverändert aktuell das Werk dieser Autorin auch heute« noch ist (Pfohlmann 2017). Als Beispiel nennt er unter anderem ihre Darstellungen der »Ausgrenzung des Fremden« und der »Konstruktion von Sündenböcken« auch und gerade in den Texten, die bei der griechischen Antike anknüpfen. Zudem könnten viele ihrer Kommentare zu politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen seiner Ansicht nach »aus unserer heutigen Zeit stammen« – so etwa 2005 »noch vor der Finanz- und Eurokrise« ihre Warnung, »das Primat der Ökonomie könnte im Zeitalter der Globalisierung unsere Demokratie unterhöhlen«,3 oder noch früher »1990« ihre Prophezeiung, dass eines Tages »von Osten und auch Süden« ein »Sturm auf das reiche Europa angehen« werde (Pfohlmann 2017). Man muss jedoch meines Erachtens nicht immer wieder neu Christa Wolf »und ihre Mahnerin Kassandra […] in eins« setzen (Schödel 2016, 344). Die Metapher von der »Festung Europa« beispielsweise und die Warnung vor dem »Ansturm auf [diese] Wohlstandsfeste« (N.N. 1991) waren ja bereits in der Flüchtlingskrise der 1990er-Jahre im Umlauf (Stötzel, Wengeler, und Böke 1995, 112). Und wenn Wolfs politische Kommentare beim Wiederlesen oft so wirken, als würden sie »aus unserer heutigen Zeit stammen« (Pfohlmann 2017), dann liegt das nicht zuletzt daran, dass zur Lösung jener Probleme, die sie immer wieder ansprach, seitdem meist wenig getan wurde, sodass diese fast naturgemäß weiterhin unsere heutigen sind. Das ernüchternde Fazit, dass eben diese Probleme jahrzehntelang nicht angegangen, sondern ausgesessen wurden, zieht sich ja nicht zufällig wie ein roter Faden durch gegenwärtige Debatten – und nicht nur der zum Klimawandel. Die Aktualität von Christa Wolfs Werk verdankt sich also nicht zuletzt ungelöster Fragen der jüngsten Vergangenheit. Zwar sind die Kassandra-Vorlesungen und andere Texte aus ihrem Umfeld in der Zeit des Kalten Krieges entstanden – in seiner letzten Phase, genauer gesagt, als mit der Stationierung von neuen Raketen in beiden deutschen Staaten die Gefahr der Vernichtung Europas, wenn nicht der gesamten Menschheit in den Horizont des konkret Möglichen rückte (Vilar 2016, 194) –, ihre zentrale Denkfigur jedoch, angesichts eines vorstellbaren Endes
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einer bloßen ›weiblichen Ergänzung‹ des Kanons (vgl. dazu: »Die Literatur des Abendlandes, lese ich, sei eine Reflexion des weißen Mannes auf sich selbst. Soll nun die Reflexion der weißen Frau auf sich selbst dazukommen? Und weiter nichts?«, Wolf 1983, 84). Aufgrund des beschränkten Umfangs bleibt dieser nach wie vor wichtige, jedoch bereits sehr gut aufgearbeitete Aspekt der Kulturkritik Christa Wolfs in diesem Essay außen vor (vgl. zusammenfassend Kuhn 2018). Zur Aktualität vgl. etwa einen Bericht in der Wochenzeitung Die Zeit über das Treffen des »Forum New Economy« in Berlin Ende Oktober 2019; dieses ist »ein Netz aus nationalen und internationalen Experten, die das ›marktliberale Denken‹ der vergangenen Jahre für die Glaubwürdigkeitskrise der westlichen Demokratien verantwortlich machen« (Schieritz 2019).
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der Menschheit nach den Verfehlungen der westlichen Zivilisation als ganzer zu fragen, ist uns heute ebenfalls vertraut. Einmal wurde die Bedrohung durch einen Atomkrieg nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ja nur scheinbar für eine Weile obsolet und schiebt sich derzeit, wo die Nachfolger der damaligen Kalten Krieger erneut auf atomare Aufrüstung setzen, wieder an den Rand des Sichtfeldes. In dessen Zentrum, also in dem politischer, öffentlicher und akademischer Diskurse steht momentan jedoch ein anderes Endzeit-Szenario, eines, bei dem die Spezies Mensch als Akteur im planetarischen Maßstab und geophysikalische Kraft sich durch Klimawandel und Umweltzerstörung selbst auslöschen kann. So ist es weniger das Prophetische von Christa Wolfs Texten, das eine Neulektüre lohnend erscheinend lässt – hier also des Werks im Umfeld ihrer Griechenlandreise –, sondern im Brückenschlag über mehr als drei Jahrzehnte der vergleichende Blick auf Veränderungen und Verschiebungen in jenen Diskursen, die ihrer kritischen Einschätzung der abendländischen Zivilisation zugrunde lagen. Die Wiederlektüre der Frankfurter Vorlesungen und der Kassandra-Erzählung mit ihrer Suche nach den Wurzeln von Destruktivität oder Selbstdestruktivität der westlichen Zivilisation hat allemal das Potenzial, entsprechende Assoziationen zu aktivieren und zu Vergleichen mit gegenwärtigen Situationen und Diskursformationen anzuregen. Welche Normalisierungsprozesse haben seitdem stattgefunden? Mit welchen Annahmen, reflektierten und unreflektierten, und mit welchen normativen Vorgaben wurde einmal mehr scheinbar Selbstverständliches kreiert und in der wiederholenden und zitierenden Praxis als ›das Normale‹ verfestigt? Und welche neuen Diskurse haben wieder einmal bereits Gewusstes in den Hintergrund geschoben, überschrieben oder vergessen lassen? Vor der Folie von Wolfs Kassandra-Projekt fällt zunächst einmal auf, dass es heute nicht mehr notwendig die griechische Antike ist, die bei der Konstruktion einer westlichen oder abendländischen Kultur oder Zivilisation im Vordergrund steht. Gegenwärtig scheint ein neuer Verschiebungsprozess angestoßen zu werden, wobei allerdings von einer erfolgreichen Normalisierung keine Rede sein kann und es auch eher unwahrscheinlich ist, dass es dazu kommt. Immerhin findet sich das Phänomen nicht nur in öffentlichen Debatten: der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Onfray beispielsweise bezieht sich in seiner vor kurzem erschienenen Studie über den Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur (Onfray 2018) auf eine angenommene jüdisch-christliche Tradition, und er lässt die griechische Antike dabei außen vor. Vor allem aber ist in politischen Statements der vergangenen Jahre immer wieder und auf fragwürdige Weise die Rede von einer solchen »jüdisch-christlichen Tradition«4 – fragwürdig zum einen, weil dieser Begriff spä4
Auch Christa Wolf unterscheidet gelegentlich zwischen antiken und neueren Traditionen, da allerdings eine ältere Antike von einer neueren »christlich-abendländischen Zivilisation« (Wolf 1983, 40).
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testens »seit Pegida« als »Waffe im neuen Kulturkampf« fungiert (Joffe 2015; vgl. auch Soboczynski 2010), und zum anderen, weil diese Vereinnahmung auch eine »Anmaßung […] gegenüber den Juden« (Seidl 2018) darstellt, da es, anders als in den USA, in Deutschland und Europa eine solche Tradition ja nicht gab, dafür aber bekanntlich eine »Geschichte der Ausgrenzung« (Joffe 2015), in der die christliche für die jüdische Kultur fatale Konsequenzen hatte (Schneider 2019).5 Der zeitpolitische Versuch einer Neubestimmung der abendländischen Zivilisation aus dem Konstrukt einer »jüdisch-christlichen Tradition« ist jedoch auch deshalb problematisch, weil er nebenbei auch andere Traditionslinien wie »Aufklärung und Atheismus« ausschließt, und nicht zuletzt, wie eben erwähnt etwa bei Michel Onfray, die Antike, und, wie ein Redakteur im Feuilleton der FAZ es vor kurzem ausdrückte, den »gerade in der deutschen Literaturgeschichte« so wichtigen »heitereren Himmel, in welchem die menschlicheren Götter der Griechen wohnen« (Seidl 2018). Wenn man Christa Wolfs Kritik der westlichen oder abendländischen Zivilisation vor diesen Hintergrund eines aktuellen Gegenwartsdiskurses stellt, fällt vor allem das Fraglose und Selbstverständliche auf, mit dem sie noch zu Homer und den Anfängen der schriftlichen Überlieferung aus der griechischen Antike zurückgeht – wie die meisten ihrer Generation und der Generationen vor ihr, die noch mit eben diesen Vorstellungen aufgewachsen sind. Gesellschaftliche Übereinkünfte machten es für eine Autorin des Jahrgangs 1929 fraglos und selbstverständlich, an der Idee einer Wiege der abendländischen Zivilisation anzuknüpfen – und sich natürlich auch kritisch damit auseinanderzusetzen. Welche neuen Übereinkünfte – oder zumindest, welche Versuche, solche Übereinkünfte herzustellen – entstehen in der Gegenwart? Wie haben sich ökonomische, politische und soziale Formationen und Mentalitäten verändert, sodass wir heute in einer Situation sind, wo dies nicht mehr ganz so fraglos und selbstverständlich zu sein scheint? Die Griechenlandreise der Wolfs fand im März und April 1980 statt,6 ein Dreivierteljahr vor dem griechischen EU-Beitritt und zwei Jahrzehnte bevor der Euro als Zahlungsmittel in Griechenland gültig wurde. So hat Christa Wolf Griechenland auf ihrer Reise zwar als den »patriarchalische[n] Süden« wahrgenommen (Wolf 5
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Nach dem Anschlag in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019 brachte der ARD-Korrespondent und Dokumentarfilmer Richard C. Schneider dies folgendermaßen auf den Punkt: »wie kann Deutschland meine Heimat sein, wenn es ›seine Juden‹ plötzlich als Minderheit gegen eine andere Minderheit missbraucht? Wenn selbst seriöse Politiker von einer ›judäo-christlichen‹ Kultur schwafeln, die es so nie gegeben hat? Es gab eine christliche Kultur, die uns Juden Tausende von Jahren verfolgt, verbrannt, ermordet, vergast hat. Sonst nichts. ›Judäo-christlich‹, das bedeutet nicht, dass Juden nun dazugehören, es heißt vielmehr: Der Islam gehört nicht zu Deutschland.« (Schneider 2019) Die Biografie auf der Website der Christa-Wolf-Gesellschaft nennt zudem noch eine weitere »Reise nach Griechenland, Insel Paros und Delphi« im Juni 1986 (http://christa-wolf-gesellsc haft.de/biographie/, zuletzt besucht: 17.3.2020).
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1983, 53) und immer wieder auch auf das Wohlstandsgefälle zwischen dem europäischen Norden und diesem Süden hingewiesen (ebd., 50 u.ö.); seitdem ist Griechenland jedoch zum Mitspieler in einer Union geworden, die spätestens seit dem Vertrag von Maastricht den »neoliberalen Aufbau Europas« vorantreibt (Balibar, Mezzadara, und Wolf 2017, 368). Und im Zuge der Finanzkrise fand sich Griechenland schon bald in der Rolle einer »Schuldenkolonie« (Höhler 2015) der wohlhabenderen Staaten des EU-Imperiums und unter dem Diktat ihrer Austeritätspolitik wieder. Wenn man nach Normalisierungsprozessen fragt und danach, wie sich gesellschaftliche Übereinkünfte verändern, drängt sich die Frage auf, ob es Zufall ist, wenn der neue Diskurs von einer »jüdisch-christlichen Kultur« genau zeitgleich mit dieser sogenannten griechischen Staatsschuldenkrise einsetzte. Auf den ersten Blick hat das eine mit dem anderen natürlich nichts zu tun – geht es doch auf der einen Seite um europäische Wirtschaftspolitik, während auf der anderen deutsche Innenpolitik auf erhoffte Mentalitätsverschiebungen abzielt. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass diese neue Konstruktion »jüdisch-christliche Tradition«, mit der die griechische Antike gleichsam stillschweigend zu einer zu vernachlässigenden Größe herabgestuft wird, ausschließlich aus derselben Parteienlandschaft kommt, deren »nationale[r] Wirtschaftsegoismus« – wie Jürgen Habermas es in einem Artikel in der Zeit ausdrückte – im Sommer 2015 nahe daran war, Griechenland »aus der europäischen Währungsgemeinschaft herauszuekeln« (Habermas 2018). Wo es um wirtschaftliche Interessen geht, wird aus der im Vertrag von Lissabon festgeschriebenen »Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten«7 in der Realität ein Rettungsschirm für Großbanken und die Umleitung von Steuergeldern in die Kassen von Gläubigern verschuldeter EU-Staaten. Aus demselben Geist heraus – aus einem, der Eigeninteresse heißt und gerade nicht »Solidarität« – kann zusammen mit der im Vordergrund stehenden Abgrenzung gegenüber der nicht jüdisch-christlichen Bevölkerung in Deutschland auch billigend in Kauf genommen werden, wenn das kulturelle Kapital Griechenlands als Erbe der Antike als eine Art Kollateralschaden von Wertverlust betroffen ist (vgl. auch Albrecht 2020a; 2020b). Mit dieser Überlegung sollen natürlich keine unhaltbaren Kausalitäten konstruiert werden; womöglich war es beispielsweise Horst Seehofer nicht einmal bewusst, dass er neben der Ausgrenzung des Islam noch andere Ausgrenzungen vornahm, »als er sagte, Deutschland sei ›kulturell und geschichtlich christlich-jüdisch geprägt‹« (Seidl 2018). Dennoch gehen mit solchen Veränderungen und Verschiebungen von Diskursformationen auch Umwertungen einher – und die Wiederlek-
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Vgl. etwa: »In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.« (Vertrag von Lissabon: http://www.europarl.europa.eu/germ any/de/europa-und-europawahlen/vertrag-von-lissabon, zuletzt besucht: 16.11.2019)
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türe von Christa Wolfs Texten im Umfeld der Griechenlandreise8 erinnert einmal mehr daran, dass und inwiefern sich der Stellenwert der klassischen Vergangenheit, die für Jahrhunderte zentral für das europäische Denken war, im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert verändert hat (Jusdanis 1997, 167). Damit lädt Christa Wolfs Kassandra-Projekt in seiner Gleichzeitigkeit von selbstverständlicher Verwurzelung in der abendländischen Tradition auf der einen Seite und detaillierter und kritischer Auseinandersetzung damit auf der anderen aus heutiger Sicht dazu ein, genauer auf eben dieses Spannungsverhältnis und seine Bedingungen zu schauen – so wie es die Autorin ja auch getan hat – und konkrete Aspekte in den Blick zu nehmen, die sich seitdem verändert haben. Nach der Wende im Kontext des versuchten Denkmalsturzes – damals deutschdeutscher Literaturstreit genannt – wurde der Autorin noch vorgeworfen, sie habe »mit ihren diffus zivilisationskritischen, letztlich harmlosen Werken« nur »die Untaten des SED-Regimes« gestützt (Pfohlmann 2017). Aus heutiger Sicht stellt sich Wolfs Zivilisationskritik etwas anders dar; ihre zentrale Idee, mit der sie das vorstellbar gewordene Ende der Menschheit mit dem zusammendenkt, was in der abendländischen Zivilisation möglicherweise von Anfang an falsch gelaufen ist, lässt eher daran denken, dass die Autorin sehr nahe bei jenem Generalverdacht ist, mit dem heute die gesamte westliche Zivilisation von vielen gewissermaßen als Quelle allen Übels in der Welt betrachtet wird (Shohat und Stam 1994, 3).9 Drei miteinander verbundene Aspekte unterscheiden Wolfs Zivilisationskritik jedoch von einer solchen pauschalen Verurteilung der westlichen Welt als einer in den Grundfesten verdorbenen: einmal die von der Suche nach oder der Hoffnung auf vorstellbare Alternativen getriebene Denkbewegung, zweitens das Wissen um das eigene Verstricktsein in diese potentiell destruktive oder selbstdestruktive Zivilisation, und drittens der Blick auf das, was fehlen würde, wenn man sich sozusagen 8
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In dieser Zeit wurde Wolf auch im Westen nicht mehr allein als DDR-Schriftstellerin wahrgenommen: »Ende der 1970er Jahre wurde eine Sicht auf Christa Wolf als Autorin, die Themen von allgemeiner Relevanz anspricht, in der westdeutschen Betrachtung ihrer Werke gegenüber dem früheren Interesse an ihren Texten als Auskunft über die Lage in der DDR zunehmend wichtiger. Die Frage nach einer kritischen Haltung der Autorin zu ihrem Staat wurde nun ebenfalls nicht mehr so drängend gestellt, obwohl ihre Mitgliedschaft in der SED weiterhin öfter negativ Erwähnung fand.« (Schödel 2016, 342; vgl. auch Papenfuß 1998, 115f.) Wolf »deutete« jedoch »die letzten dreitausend Jahre als verhängnisvolle Entwicklung, die ausdrücklich die sozialistischen Staaten einschloss« (Preußer 2019, 184), und entsprechend »beförderte[]« ihr »Fokus auf eine Kritik an technologischer Entwicklung und instrumenteller Vernunft, die als generelle Zivilisationskritik verstanden werden kann, […] eine Rezeption jenseits des politischen Kontexts der DDR« (Schödel 2016, 342). Shohat und Stam wiesen bereits vor einem Vierteljahrhundert darauf hin, dass eine solche Haltung nicht nur im Kern selbst eurozentrisch ist, sondern »merely turns colonialist claims upside down« und »exempts Third World patriarchal elites from all responsibility« (Shohat und Stam 1994, 3).
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Homer und den Rest der abendländischen Zivilisation tatsächlich erfolgreich wegwünschen könnte (Wolf 1983, 122f.). Auch bei Wolf steht eine westliche Logik im Zentrum der Kritik, die von Homer und seiner »Verherrlichung eines Raubkrieges« (Wolf 1983, 19) geradewegs zur »Barbarei« der Gegenwart führt. Diesen Begriff gebraucht sie schon früh in der ersten Frankfurter Vorlesung bei der Beschreibung der Koren vom Erechtheion, und seit sie deren vom sauren Regen und der Luftverschmutzung zerfressene steinerne Gesichter sah, denen »unser Jahrhundert […] seinen Ausdruck aufgenötigt hat«, »erscheinen« sie ihr »immer wieder als Sinnbilder vor« dem »inneren Auge«: »Soll ich versuchen, den ›Sinn‹ zu benennen, für den sie stehen, der aber ein Unsinn ist?« Diesen Un-Sinn nennt Wolf im Mai 1982: »Die Barbarei der Neuzeit«, und dann folgt ihre Frage: »Gab es, gibt es eine Alternative zu dieser Barbarei?« (Wolf 1983, 23) In diesem Sinne gilt Wolfs Interesse sowohl in der Kassandra-Erzählung als auch in den Frankfurter Vorlesungen nicht zuletzt den Funktionsweisen von Kultur und Zivilisation, und entsprechend werden zahlreiche Aspekte davon durchgespielt. So begannen die Menschen ihrer Ansicht nach bereits in »der Frühgeschichte« der minoischen Kultur und in Jahrhunderten davor gleichzeitig »mit dem Grundnetz menschlicher Beziehungen […] auch jenes Netz zu knüpfen […], dessen Kettfäden noch heute das Muster unseres Denkens bestimmen« (Wolf 1983, 58).10 Schon ganz am Anfang der ersten Vorlesung (Wolf 1983, 10) fällt das Stichwort von den unausgesprochenen »Übereinkünfte[n]«, die solchen Denkmustern folgen, Verständigung erst möglich machen und Zugehörigkeit signalisieren, und eine Szene am Hafen von Nauplia in der zweiten Vorlesung lässt eine Ahnung davon aufkommen, was der »Verlust« solcher »Koordinaten«, »in die wir uns einbetten«, bedeuten würde, nämlich ein »Gefühl von Verlorenheit« und Orientierungslosigkeit (Wolf 1983, 75). Dabei nimmt Wolf ein weites Spektrum solcher »Übereinkünfte« in Kultur und Zivilisation in den Blick und gibt nicht zuletzt auch Beispiele für den Leerlauf, den sie ja auch erzeugen können – etwa anhand einer Szene im Flugzeug, als sie sich, übermüdet vom langen Warten, angesichts des Geredes von anderen Passagieren »aus Sprachfertigteilen« fragt, was sie »eigentlich hindert, laut loszuschreien« und damit dieses »ewige, ermüdende, zu nichts führende Geplätscher unserer Zivilisation« zu beenden (ebd., 17). Die eigene Verstrickung in dieses Gerede aus »Sprachfertigteilen« hingegen wird in einer Szene auf Kreta anlässlich einer Rast am Rand einer Wiese vorgeführt, als sie vermerkt, dass »ja die Bänder in uns weiter ablaufen, auch wenn wir den Ort gewechselt haben« und sie
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Und darüber hinaus »auch die Richtung unserer Sehnsüchte« – dieselbe »Sehnsucht«, die »die Hand der minoischen Maler geführt haben [muß], als sie ein derart lebenssprühendes, in leuchtende Farben getauchtes Bild ihres Lebensgefühls entwarfen« (Wolf 1983, 58).
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und ihre Reisegefährten sich »die Namen zu[werfen], die heutzutage alle Europäer und Amerikaner kennen« (Wolf 1983, 49). Zur westlichen Zivilisation gehört es allerdings nicht zuletzt auch, über solche und andere ihrer Begleiterscheinungen zu reflektieren und mit vertrauten Bildern aus dem Vorrat eben dieser Kultur gegensteuern zu können: »Unser Blick geht über das Dorf, das wir eben durchquert haben, über Chersónissos, die Hauptstraße, den Sandstreifen, auf das Meer, die Ägäis, die den größten Teil des riesigen Panoramas einnimmt, die tiefblau und ruhig atmend daliegt und alles, was wir gewohnheitsmäßig weiter reden, unwesentlich macht […].« (Wolf 1983, 49) Zu den tendenziell positiven Aspekten der Funktionsweise von Kultur und Zivilisation gehören auch jene »Übereinkünfte«, die das erzeugen, was sie den »Zauber« dieser Zivilisation nennt. Das Motiv des »Zaubers« wird gleich am Anfang, im zweiten Abschnitt, der ersten Vorlesung eingeführt, noch vor Beginn der Reise bei der Schilderung des »geschenkten Tag[s]« in Berlin wegen der verpassten »Maschine nach Athen« »durch ein Versehen der Fluggesellschaft«. Die Wolfs besorgen Karten für den Abend und sehen später Mozarts Die Entführung aus dem Serail – »befremdet« allerdings und »sich mühsam der Übereinkünfte entsinnend, an die man sich halten muß, wenn der Zauber wirken soll« (Wolf 1983, 10). Anders dagegen »am nächsten Vormittag in der leeren Wohnung«, als sich bei der Lektüre der Orestie des Aischýlos unmittelbar der erwünschte Effekt einstellt: »Kassandra, ich sah sie gleich. […] Später würde ich danach fragen, wann, wo und von wem die nötigen Übereinkünfte getroffen waren: Der Zauber wirkte sofort. […]. Dreitausend Jahre – weggeschmolzen.« (Wolf 1983, 10)11 Dies sind nur einige der Beispiele dafür, wie Christa Wolf in den 1980er-Jahren in den Texten im Umfeld der Griechenlandreise die eigene Verstrickung in die abendländische Zivilisation immer wieder mitreflektiert, auch und gerade, um der ebenfalls zentral thematisierten »Barbarei« dieser Zivilisation etwas entgegenzustellen (Wolf 1983, 23; vgl. auch ebd., 109). In der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts hingegen wird angesichts der tatsächlichen (und zum Teil auch vermeintlichen) Barbareien nicht selten mit dem Vorschlag reagiert, diese westliche Zivilisation nach Möglichkeit mit Stumpf und Stiel auszureißen – so etwa in der Einleitung zu einem Band mit dem Titel Deconstructing Europe (Ponzanesi und Blaagaard 2011, 9).12 Konkret wird dort, wie auch Frank Schulze-Engler an anderer Stelle kri11
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Dass Wolf hier natürlich nicht verallgemeinert, sondern durchaus von persönlichen Präferenzen ausgeht, zeigt eine Passage später im Text, wo sie den Zauber der minoischen Kultur erneut beschreibt und angibt, dass »kein späteres Denkmal« auf der Griechenlandreise »ihn für uns übertroffen [hat] – nicht das Minarett in Rethymnon aus der Zeit der Besetzung Kretas durch die Türken, das wir bestiegen, nicht die venezianischen Anlagen und die pittoreske Altstadt von Chaniá« (Wolf 1983, 65). Wörtlich hieß es da, »this issue is an attempt to map some of the possible routes for unthinking Europe in a global era« (Ponzanesi und Blaagaard 2011, 9).
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tisiert, um einer radikalen Kritik am Westen sowohl Ausdruck als auch Ziel zu verleihen, die »altehrwürdige postkoloniale Denkfigur des ›unthinking Europe‹« (Schulze-Engler 2013, 685) bemüht.13 Was Christa Wolf als rhetorische Frage formulierte – wer aber wollte sich Homer wegwünschen (Wolf 1983, 19) –, ist heute keineswegs mehr so abwegig, wie sie 1982 offenbar noch glaubte. Die Verschiebungen und Umwertungen in den Diskursformationen zeigen sich nicht zuletzt darin, dass eine Idee wie »unthinking Homer« als Titel für eine Studie heute durchaus vorstellbar wäre. Eine logische Folge jenes oben erwähnten Generalverdachts, der heute nicht selten die gesamte abendländische Zivilisation betrifft, ist seine Ausweitung auf westliche künstlerische Produktion und nicht zuletzt auf die Literatur. Für eine so grundierte Literaturwissenschaft bedeutet dies auch, dass von einer grundsätzlichen Komplizenschaft der Kulturschaffenden etwa mit (neo)kolonialen Herrschaftsdiskursen auszugehen ist (vgl. dazu ausführlich Albrecht 2012; 2013; 2014).14 Der Nachweis der Komplizenschaft der kanonischen Literatur mit der vermeintlichen westlich-imperialistischen Ideologie macht tatsächlich das Hauptarbeitsfeld einer solchen Literaturwissenschaft aus (Sorensen 2010, 4-5).15 Auf den ersten Blick könnten Vertreter dieser neueren Literaturkritik sich auf Christa Wolf berufen. Zwar würde die Autorin nicht wie diese von kolonialistischen oder rassistischen Mentalitäten ausgehen, die diese Komplizenschaft hervorbringen, doch ließe sich beispielsweise bei den unausgesprochenen »Übereinkünften« in Kultur und Zivilisation anschließen, die eben unter anderem Vorzeichen diskutiert wurden. So heißt es in der Rede zur Verleihung des Büchner-Preises: »Vielleicht, weil Übereinkünfte in ihr [der Literatur, Anm. M.A.] festgeschrieben sind, die – mühselig genug, gefährdet genug und immer wieder verletzt – doch über die Jahrhunderte hin jenes Gewebe schufen, das wir ›Gesittung‹ nennen. Unser Befremden vor diesem überholten Wort mag uns bewußt machen, wie bedroht der Bestand dessen ist, wofür es steht.« (Wolf 2000b, 199) Dieses schon im Alltagsgebrauch der 1980er-Jahre ungebräuchliche Wort verweist auf ein mentales Gewebe, das allein aufgrund seiner jahrhundertelangen Entstehungsgeschichte in der westlichen Zivilisation zumindest Strukturanalogien mit dem aufweist, was Befürworter dieser neueren Literaturkritik als stabiles und unveränderbares Merkmal des Westens betrachten, das dessen 13
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Dobrota Pucherová und Robert Gáfrik halten »the current postcolonial trends of ›deconstructing‹ or ›unthinking‹ Europe« ebenfalls für wenig produktiv (Pucherová und Gáfrik 2015, 22). Der Historiker Jürgen Osterhammel bezeichnet solche Denkmuster als »totale[n] Ideologieverdacht« (Osterhammel 1997, 601) und attestiert diesen Verdacht zahlreichen einschlägigen Studien wie beispielweise Edward Saids Orientalism (1978). Eli Park Sorensen gehört zu denen, die darauf hinweisen, dass »interrogation of canonical literature’s complicity with imperialist ideology forms an important perspective« in den Postkolonialen Studien (Sorensen 2010, 4-5; vgl. auch Albrecht 2016, 402).
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Untaten gleichsam aus sich selbst heraus immer wieder neu hervorbringt. In der Büchner-Preisrede hat Wolf sich auch selbst explizit Gedanken über eine mögliche Komplizenschaft der Literatur gemacht: »Eine Literatur, deren Sprache, deren Formen die Denk- und Verhaltensmuster des Abendlandes ausdrückt […]: Muß sie nun nicht, wie immer sie sich drehn und wenden, sich quälen und zermartern mag, Komplize des Entfremdungs- und Entwicklungsprozesses sein und bleiben?« (Wolf 2000b, 188f.) Auch hier findet sich jedoch ein zentraler Unterschied zu heute verbreiteten Positionen: Christa Wolf stellt sich zwar immer wieder die selbstkritische Frage nach Komplizenschaft, bei ihr ist sie jedoch weder unausweichlich noch verdankt sie sich einem unterstellten essenziellen, inneren Zusammenhang zwischen der abendländischen Zivilisation und ihren Untaten. Sonst könnte Wolf nicht darüber reflektieren und »zusammentragen, was mich, was uns zu Komplizen der Selbstzerstörung macht; was mich, uns befähigt, ihr zu widerstehen« (Wolf 1983, 109). In diesem Kontext ist noch ein weiterer Unterschied zwischen Wolfs Position und der eben skizzierten zu sehen, denn wer sich heute »Homer wegwünschen« würde, ist in der Regel auch davon überzeugt, dass die Verbindungslinie von den frühen Anfängen im Denken der westlichen Welt nicht nur mit einer gewissen Logik, sondern notwendig zu den heutigen Zerstörungen führt. Es wird also von einem essenziellen, inneren Zusammenhang zwischen der abendländischen Zivilisation und ihren Untaten ausgegangen, der in Formulierungen wie »untrennbar verknüpft« oder »verbunden« zum Ausdruck kommt, oder im anglofonen akademischen Raum inextricably oder intrinsically linked.16 Christa Wolf hingegen geht nicht von einer tatsächlich unlöslichen Verbindung aus, auch wenn in den Texten aus dem Umfeld der Griechenlandreise – zumal wenn man sie mit heutiger Brille liest – der ständige Brückenschlag von den antiken Quellen zur Gegenwart dies nahezulegen scheint. »Eine Zivilisation, die imstande ist, ihren eigenen Untergang zu planen und sich unter ungeheuren Opfern die Mittel dafür zu beschaffen, erscheint mir wie krank«, heißt es im Dezember 1981 in einem Rundfunkbeitrag für den Südwestfunk Baden-Baden. Von hier aus ließe sich bequem auf jenem heute gut ausgetretenen Weltanschauungspfad weitergehen, auf dem etwa die Zerstörung anderer Völker und letztlich die Selbstzerstörung seit der griechischen Antike als integraler Bestandteil der westlichen Zivilisation gilt – einer Zivilisation also,
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Zwei Beispiele von vielen, hier für den angeblich untrennbaren Zusammenhang von Wissensansammlung/Forschung und der Unterdrückung fremder Völker: »Ein Blick in die Geschichte europäischer Expansion macht deutlich, dass die Akkumulation von Wissen integraler Bestandteil der kolonialen Projekte war.« (Kaltmeier 2012, 18) »[T]he term ›research‹ is inextricably linked to European imperialism and colonialism.« (Smith 2017, 1)
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in Richard Rortys Formulierung, die als bis ins Mark verdorben imaginiert wird, als »rotten to the core« (Rorty 1999, 129).17 An dieser Weggabelung biegt Christa Wolf jedoch ab und legt gerade damit die Basis für eine produktive Zivilisationskritik: Denn zwar sind auch ihrer Ansicht nach die »Rakete« und »die Bombe« »keine Zufallsprodukte dieser Kultur«, sondern »folgerichtige Hervorbringungen expansionistischen Verhaltens über Jahrtausende«. Doch sie fährt fort: »sie sind vermeidbare Verkörperungen des Entfremdungssyndroms der Industriegesellschaften, die sich mit ihrem Mehr! Schneller! Genauer! Effektiver! alle anderen Werte unterordnet« (Wolf 2000c, 228f. [Herv. M.A.]; vgl. auch Wolf 2000d, 222). Statt den Weg der postkolonial-dystopischen Zivilisationskritik einzuschlagen, der sich ja auch in den frühen 1980er-Jahren bereits angeboten hat, wählt sie den eher traditionellen, nämlich marxistisch getönten sozial- und wirtschaftskritischen Blick auf die Entwicklung der westlichen Welt und umgeht damit auch einen zentralen Widerspruch, der den oben skizzierten Positionen innewohnt. Denn diese begreifen sich einerseits als emanzipatorische, andererseits impliziert das Postulat eines inneren und untrennbaren Zusammenhangs des westlichen Denksystems und seiner Untaten im Grunde, dass es keine Möglichkeit gibt, eben dieses sich selbst reproduzierende System jemals zu überwinden (Albrecht 2016, 401; vgl. auch Albrecht 2012, 103). Bei Wolf dagegen lässt die Kombination aus folgerichtig und doch vermeidbar, in der sie ihre durchaus fundamentale Kritik einbettet, genau diese Tür für Veränderung offen – als Denkmodell ohnehin und in der Realität, indem sie, noch mit einem Restglauben an die Wirkungsmöglichkeiten der Literatur,18 in dieser Zeit immer wieder darauf dringt, dass Schriftsteller die Aufgabe haben, sich den zerstörerischen Auswirkungen der abendländischen Zivilisation entgegenzustellen. »Literatur heute muß Friedensforschung sein« (Wolf 2000b, 199) – dieses bekannte Zitat aus der Rede zur Verleihung des Büchner-Preises im Oktober 1980,19 ein halbes Jahr nach
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Im Übrigen ist auch kaum zu übersehen, dass diese von Rorty kritisierte Sichtweise im Grunde eine Strukturanalogie mit jenem kolonialen Blick aufweist, der Kulturen der Kolonisierten als ganze für indiskutabel erklärt. In einem der letzten der in der Ausgabe von 2016 gedruckten Briefe Christa Wolfs heißt es dagegen: »Die Rolle der Literatur ist ja in der Bundesrepublik eine andere, als sie es in der DDR war: Damals waren die Autoren fast die einzigen, die kritisch über die Verhältnisse schrieben, daher wurden sie wichtig genommen, hatten von Seiten der Behörden Schwierigkeiten, von Seiten der Leser oft enorme Unterstützung. Heute spielen gesellschaftliche Probleme in der Literatur fast keine Rolle mehr, was immer man sagen will, sagt man halt, aber es hat keine Wirkung.« (Wolf 2016, 929) Dieses Statement gilt als »Kerngedanke« von Christa Wolfs Darmstädter Rede (OpitzWiemers 2016b, 166); Wolf führt dort unter anderem aus, dass die Literatur »jener Todeskarte«, auf der in der Zeit der atomaren Aufrüstung »wohl schon […] die Phasen dieser Auslöschung aufgezeichnet« waren, ihre »eigne Karte« entgegenhalten müsse (Wolf 2000b, 199f.).
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der Griechenlandreise, bringt den erwünschten neuen Rahmen auf den Begriff. Wie sie sich Friedensforschung konkret vorstellte und welche Arbeit die Literaten leisten könnten, das hat sie vor allem in ihrem Beitrag bei der »Berliner Begegnung« formuliert, einer »auf Initiative von Stephan Hermlin« im Dezember 1981 »in Berlin/DDR« stattfindenden (Wolf 2016, 491) »Zusammenkunft von Schriftstellern und Wissenschaftlern aus beiden deutschen Staaten und einigen Ländern Europas« (Wolf 2000c, 234). Denn in diesem Beitrag stellte sie eine auch heute noch hochaktuelle Frage: »was eigentlich hat diese Kultur gegeben, daß sie zu überleben verdient« (Wolf 2000d, 221).20 Die Antwort war offenbar nicht so schwer, wie heute gelegentlich suggeriert wird, auch vor dem Hintergrund der offiziellen DDR-Position einer anti-imperialistischen Kritik und Solidarität, in deren Rahmen Wolf bis dahin gedacht hat: »Es ist mir einiges eingefallen. Ich war über mich selbst ein wenig erstaunt: Bisher hatte ich eher dazu geneigt, die mörderischen, expansionistischen, andere Völker und Erdteile unterdrückenden und ausraubenden Züge in der Geschichte des Abendlandes zu betonen.« Ohne diese negative Seite zu leugnen, kam sie nunmehr jedoch zu der Ansicht, dass Selbstvergewisserung und Rückbesinnung auf das Positive dieser Kultur Teil der »Friedensvorbereitung« und »Kriegsverhinderung« sein muss. Und in eigener Sache fügte sie hinzu: »Ich glaube, diese neue Durcharbeitung unserer Kultur gehört zu unseren Aufgaben als Schriftsteller.« (Wolf 2000d, 221) Wer sich heute »Homer wegwünschen« würde – und entsprechend auch alle nach ihm kommenden Errungenschaften der westlichen Zivilisation –, wird auf die Frage, was »diese Kultur gegeben [hat], daß sie zu überleben verdient« (Wolf 2000d, 221), keine Antwort wissen. Christa Wolf hat diese Notwendigkeit einer neuen »Durcharbeitung unserer Kultur« jedoch noch lange nach dem »Berliner Treffen« beschäftigt – nicht zuletzt wohl, weil ihr bewusst war: »So viele historische Chancen werden wir doch nicht mehr haben, dass wir es uns leisten könnten, eine auszuschlagen.« (Wolf 2001b, 108f.) So schlug sie 1987 in ihrer Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis vor, dass ein »neue[s] Denken« damit beginnen müsste, »den Zielen und Werten dieser Kultur noch einmal gründlich nachzufragen« und »diesem Abendland noch eine Chance zu geben« (Wolf 2001b, 109). Man könnte von solchen Aussagen, wenn man böswillig ist, Verbindungslinien zu der seit zwei 20
In der dritten Frankfurter Vorlesung stellt Wolf die Frage: »Was fehlte der Menschheit, wenn ihr der ›europäische Mensch‹ genommen würde […]? Was können wir zu unsern Gunsten vorbringen?« (Wolf 1983, 122f.). Bei dem sogenannten Haager Treffen, das »als Fortsetzung der Berliner Begegnung« im Mai 1982 in Den Haag stattfand (Wolf 2016, 492), hat sie dieses Programm noch einmal anders formuliert und betont, dass es ihr »an der Zeit [scheint], deutlicher und genauer zu sagen, was wir wollen« (Wolf 2000e, 258; Herv. im Original), und von der Notwendigkeit gesprochen, den »Vernichtungsphantasien, die heute so viele Kräfte binden, […] konkrete Utopien« entgegenzusetzen (Wolf 2000e, 259).
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Jahrzehnten immer wieder aufflackernden Leitkultur-Debatte ziehen. Ich würde das jedoch nicht tun,21 denn meines Erachtens steht Wolf näher bei heutigen Denkern wie etwa dem an der ETH Zürich lehrenden Philosophen Michael Hampe und seinem Konzept einer »dritten Aufklärung«, die – »nach der ersten Sokratischen […] und der zweiten vom 16. bis 18. Jahrhundert« – »das bloß beobachtende postmoderne Denken« und seine neuen Geschichtsmythen« als solche »entlarven« soll (Hampe 2019, 69f.). Oder auch bei dem Soziologen Harald Welzer, der beispielsweise in seiner Gesellschaftsutopie für freie Menschen (Alles könnte anders sein) ein »Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt der Moderne« vorschlägt (Welzer 2019, 132 u.ö.), auch wenn dieses Projekt von Anfang an »systemische Fehler« enthielt (ebd., 141 u.ö.). Auch diese beiden Zivilisationskritiker unserer Gegenwart wollen – wie Christa Wolf in den 1980er-Jahren – »noch einmal gründlich« nach »den Zielen und Werten dieser Kultur« fragen und damit ganz offenkundig ebenfalls »diesem Abendland noch eine Chance« geben (Wolf 2001b, 109).
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Denn wenn überhaupt, dann wäre Wolf sicher näher bei dem Politologen Bassam Tibi, der den Begriff einer »europäischen Leitkultur« Mitte der 1990er-Jahre geprägt hat (Tibi 1996), woraus dann jedoch, wie Tibi selbst einige Zeit später kritisierte, jene »missglückte deutsche Debatte« entstand (Tibi 2001), bei der den immer gleichen Argumenten von konservativer Seite die immer gleichen von ihren Kritikern entgegengehalten wurden.
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»Starrend von Zeit und Helle« Die kosmogonische Tiefe der Ägäis in Gedichten Erich Arendts Heinz-Peter Preußer
Der DDR-Lyriker Erich Arendt hatte die Ägäis zum Titel zweier Werke bestimmt – und damit die (griechische) Meeresregion und deren Inselwelt in die Rolle eines Protagonisten gerückt. Die erste Kompilation von 1967 hieß schlicht Ägäis, der 1980 erschienene Sammelband dann Starrend von Zeit und Helle. Gedichte der Ägäis. Der Aufsatz zeigt, wie die Landschaft im zweiten Titel organisch und beseelt erscheint – zugleich aber, wie im Moment der fotografischen Belichtung, eingefroren. So kann sie starrend sein von Zeit und Helle: Im Partizip Präsens wird die Zeitlichkeit des Verbs gleichsam aufgehoben und zum feststellenden Adjektiv hin verändert, stillgestellt. Das Unmaß von geologischer Zeit und lichter Helle aus Himmel, Meer und Landschaft, welche die Spezifik der Ägäis ausmacht, gerät damit förmlich in die Zeitlosigkeit, die aber nur für das organische Leben mit seiner kurzen Dauer gilt. Der Planet hat mehr Zeit; aber auch seine Steine vergehen, verwittern. Der ›Wimpernschlag‹ eines spiegelnden Meeresstücks, das wie dessen Auge der Ferne des Weltalls gegenüber geöffnet sein könnte, braucht Zeit, kosmische Tiefe, die bis an den Uranfang zurückreichen mag, in die Kosmogonie. Mit diesem ›Subjekt‹ – der innen heißen, außen erkalteten Gesteinskugel, die von einer dünnen Schimmelschicht (Biosphäre) überzogen ist, wie Schopenhauer unseren Planeten charakterisiert (vgl. Schopenhauer 1986, Bd. 2, 11) – tritt das lyrische Selbst in eine Zwiesprache, lauscht ihm sein Wesen ab und gestaltet es neu in hermetischkryptischen Bildern: mit allem Pathos der Vergänglichkeit und des Älterwerdens.
Die pathische Schau Für die Romantiker ist es ein Topos, den kindlichen Animismus zu reaktivieren. Mit Bezug auf eine pantheistisch gedachte Allnatur werden die Parameter von aktiv und passiv auch hier vertauscht. Bei Joseph von Eichendorff »[s]chläft« bekanntlich »ein Lied in allen Dingen | Die da träumen fort und fort«. Die scheinbar unbeseel-
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te Natur, ja »die Welt« als ganze, »hebt an zu singen«, verspricht der Dichter, träfe man »nur das Zauberwort« (Eichendorff 2007, 103). Das romantische Programm verheißt deshalb, der Entzauberung in einer säkularen Gegenwart die gewollte, und gegen die eigene Vernunft behauptete, erneute Verzauberung entgegenzusetzen. Es komme nur auf den Blickpunkt an, um der Natur ihre Seele zurückzugeben. Für Ludwig Klages existieren noch Planeten- und Landschaftsseelen (Klages 1981, 1113f.). Man müsse sich, meint der Lebensphilosoph, der »Wirklichkeit der Bilder« überlassen: um sie aufzunehmen, mit ihnen zu kommunizieren. Wirklichkeit wird hier verstanden als Wirksamkeit, als Einwirkung eines Bildeindrucks auf das rezipierende Subjekt – das dann wörtlich verstanden ein Unterworfenes wäre. Der Eindruck wiederum soll, wie bei Eichendorff, vom Ich ›getroffen werden‹. Aber für Klages wird dafür das Selbst in einen passiven Zustand der Aufnahme versetzt, in die »pathische Schau« (vgl. Preußer 2015, 157). Die Natur ist in beiden Fällen Agent; sie handelt, teilt mit, lenkt, verwandelt. »[S]tarrend von Zeit und Helle« (Arendt 1980, 54)1 kann allerdings nur eine Landschaft sein, die den Subjektstatus radikal okkupiert hat. Für Erich Arendt bedeutet die Ägäis eine solche Erfahrung. Das Selbst wird zurückgeworfen auf das Objekt, überlässt sich willenlos der Ansprache beseelter Natur. Dafür wird es entlohnt mit aufgeladen emotiven Regungen, die es bis in kosmogonische Tiefen zurückführt. Die Zwiesprache mit den Steinen, mit dem Licht, greift um Jahrmilliarden zurück. Konterkariert ist damit ein Ich, welches als gestaltendes ausgreifen wollte in die Geschichte. Für Arendt selbst stand dafür sein Kampf für den Kommunismus, den er in der Weimarer Republik und als Exilierter auf der Flucht vor dem NS-Deutschland zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte (vgl. Emmerich 1984, 34). In der DDR angekommen, trennt er sich von der Vorstellung, Teil des historischen Subjekts zu sein, als Angehöriger der Arbeiterklasse Anspruch zu haben auf Geschichtsmächtigkeit. Über die Arbeit am griechischen Mythos (Blumenberg 1990), dem Arendt in den Landschaften der Ägäis förmlich und wirklich begegnet, wird aber nicht allein die Ichbehauptung untergraben, sondern zudem eine Mitschuld thematisiert am katastrophischen Gang der sozialistischen Geschichte. Grundiert sind Arendts späte Gedichte von Nihilismus und Pessimismus; aber sie artikulieren auch eine schicksalhafte Verstrickung mit den Opfern kommunistischer Regime. Alle drei Momente verfügen zudem über ein kulturkonservatives Ressentiment, das Arendt gleichsam zum Propheten erhebt, der den Lauf der Dinge durchschaut und dennoch, wie Benjamins Engel der Geschichte (vgl. Benjamin 1977, 255), nicht mehr eingreifen kann. Diese eigenwillige Melange macht aus dem Spätwerk ein Unikat deutscher 1
Erich Arendt: Starrend von Zeit und Helle. Gedichte der Ägäis. Mit Reproduktionen nach Radierungen von Paul Eliasberg. Hg. von Gerhard Wolf. Leipzig: Reclam 1980. Im folgenden Text als Sigle ZH, anschließend die Ziffer der Seitenzahl, hier also ZH 54.
»Starrend von Zeit und Helle«
Dichtung: hermetisch wie bei Celan (vgl. Wichner 1984, 101, 104; Emmerich 1984, 42) oder Meister; aber in der Chiffre verbirgt sich das Eingeständnis, die eigene Biografie dem falschen Ideal geopfert zu haben (Meid 1998, 659): »Stein, Staub, Starre; Wüste, Grab, Tod; verlorene Jahre, das Entsterben im Wort, grenzenloser Pessimismus.« (Schlösser 1984, 24)
Die kulturgeschichtliche Konstruktion Abb. 1: »Zwischen zwei polare Erdsphären gespannt, dieses Meer«.
Erich Arendt und Katja Hayek-Arendt: ›Griechische Inselwelt‹. Im Kanal von Korinth.
Doch diese Einsicht ist erst für die letzte Phase zu konstatieren. Groß ausholend sind die Betrachtungen Arendts zur Ägäis allerdings durchgängig seit 1960. Alles Gesehene wird bei Erich Arendt nachträglich zum Gegenstand einer Kon-
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struktion.2 So sind auch seine Essays gebaut. »Zwischen zwei polare Erdsphären gespannt, dieses Meer« (Abb. 1), lautet schon der Einstieg in den Fotobildband Säule Kubus Gesicht. Bauen und Gestalten auf Mittelmeerinseln. Der Verfasser meint hier bereits einen erdgeschichtlichen Zeithorizont, der die Helle Afrikas gegen die Gletscher der Nordhalbkugel profiliert – das Mittelmeer als Schnittpunkt und Schmelztiegel der Gegensätze –, bevor er dann ausgreift auf das Neolithikum, die ersten Hochkulturen, »im Niltal, an den Schwemmufern des Euphrat, des Tigris«, wenn er »zwanzigtausendjährigem matriarchalischem Ackerbau« die »Aufspaltung der Menschheit in Herrentum und Sklaventum« kontrastiert. Wer allein die erste Seite liest, erkennt gleich den weiten tour d’horizon (Arendt 1966, 5). Sprunghaft und assoziativ werden die ersten Kunstzeugnisse der Jungsteinzeit auf ihre magischen Praktiken hin befragt, wie das die Anthropologie seit Gehlen (1986, 232-240) unternimmt, oder das symbolische Denken dahinter analysiert, wie dies Cassirer (1994, 67-90) tut. Naturgemäß wird hier auch die Anbetung der Erdmutter verhandelt, der Fruchtbarkeitskult reflektiert, der sich dann in den Idolen der Kykladenkultur manifestiert (Arendt 1966, 9). Die Summe dieser ersten Bewegungen zur Kunst hin ist auch für Arendt Knossos, die minoische Kultur (Abb. 2).
Abb. 2 (links): Fresken nach dem Schönheitsempfinden des Jugendstils. Abb. 3 (rechts): »Die ersten Bildnisse Europas […] sind einzig Lebensverherrlichung, […] Ausdruck intensiver Daseinslust …«.
Links: Erich Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹ – Thron des Minos. Rechts: Arendt: ›Griechische Inselwelt‹ – Knossos, Stierspringer.
Hier gerät der Autor ins Schwärmen, erliegt ganz den Projektionen, denen Sir Arthur Evans schon nachgab, als er die Fresken in den Palästen nach dem Schönheitsempfinden des Jugendstils rekonstruieren ließ (vgl. Gallas 1987, 184f.). »Ein 2
Vgl. dazu, mit teils gleichlautenden Formulierungen, die Passage in Preußer 2020, 250-255; siehe auch Preußer 2016.
»Starrend von Zeit und Helle«
Gefallen, eine Lust am Leben, eine Freude an Pflanze und Tier, ein fast pantheistisches Hinneigen und Einssein mit den Geschöpfen, mit der Natur, in selbstverständlicher Übereinstimmung und Harmonie. Unschuld und Friedlichkeit einer paradiesischen Verwobenheit von Pflanze, Mensch und Tier« (Arendt 1966, 11f.). Arendt profiliert sein »goldenes Zeitalter«, sein »Zwischenreich« antithetisch, ja selbst polar gegen die »Unfreiheit ägyptischen Sklavendaseins« (ebd., 12). »Die ersten Bildnisse Europas […] sind einzig Lebensverherrlichung, […] Ausdruck intensiver Daseinslust und eines Lebensgenusses in reiner Kraft, einer Schwerelosigkeit ohne Schwäche, ohne Überfeinerung.« (Ebd., 12f.; Abb. 3) »Alles diente dem Leben, war seine Funktion, alles ein Bemühen, die Schönheit der Welt einzufangen und einzubeziehen in den gepriesenen, gelebten Augenblick. So wie Knossos uns entgegentritt, war sein Dasein ein paradiesisch unbekümmerter, ganz heller Tag.« (Ebd., 14) Kein Lebensphilosoph hätte hymnischer sein können in dieser Idealisierung der Méditerranée (vgl. Peschken 2009, 179; Kocziszky 2012; Laschen 1976, 91f.). Geradezu lustvoll überlässt sich Arendt dem Schwelgen. So wundert es nicht, dass Fotografien aus dem Grabungsgelände und von Funden aus dem Palast von Knossos (Abb. 4) den Auftakt darstellen für den Bildteil, dessen Aufnahmen allesamt von Erich Arendt selbst stammen.
Abb. 4 (links): »So wie Knossos uns entgegentritt, war sein Dasein ein paradiesisch unbekümmerter, ganz heller Tag«. Abb. 5 (rechts): Diese »Leiblichkeit, das Leben der streng kannelierten Säulen«.
Links: Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹. Säulenloggia im Palast. Rechts: Arendt: ›Griechische Inselwelt‹. Sizilien: Agrigent, Westgiebel des Dioskurentempels.
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Gegen diesen Süden muss nun, polar, also strikt dichotom und antithetisch gedacht, der Norden gesetzt werden. Der Autor adaptiert hier offenbar Johann Joachim Winckelmanns Klimatheorie der Kulturentwicklung (vgl. Winckelmann 1993, 39f.; zudem Müller 2005, 27f.; Fink 1987, 169f.). Denn aus dem Norden kommen die Achaier, »ein Reitervolk«, später die Dorer, die in den Mittelmeerraum einbrechen, »Zerstörer[] und Unterdrücker[] der pelasgischen Urbevölkerung«. Arendt rätselt noch, wie aus dieser brutalen Okkupation »die ureigenste Menschenkultur aufging« (Arendt 1966, 14f.). Christa Wolf (1983) ist da, mit Klages, deutlich weiter gegangen und sieht nur noch die Verdrängung und den Niedergang matriarchal geprägter Reiche. Arendt will hingegen auch die Kultur der klassischen Epoche würdigen, lobt etwa die »Leiblichkeit, das Leben der streng kannelierten Säulen«, zum Beispiel auf Sizilien (Abb. 5), das ordnende Maß des kubischen Hauses mit dem Vorhof, das Halt gibt gegen die »dunkle[] Raserei des Blutes«, von dem die Bakchen des Dionysos-Kultus Zeugnis geben. Doch dann fällt die Argumentation immer wieder zurück in die Feier des Archaischen, etwa wenn Arendt den Kouros zum Vorbild erklärt und die Achaier »skrupellos, begehrlich, selbstsüchtig« schimpft »in ihrer unstillbaren Habgier«, wegen der auch bei ihm – wie später bei Wolf – Troia fallen muss (Arendt 1966, 16, 19; vgl. 17f., 22).
Der Rausch So schlägt das Pendel immer wieder zum Urförmigen aus, zum Astarte- und Kybelekult, zur »archaischen Sappho« (ebd., 20, 22) – ohne doch die »organische Schönheit des griechischen Tempels« oder der Nike von Samothrake gänzlich zu leugnen (ebd., 25; vgl. 21, 24). Deutlich wird das Übergewicht des Tellurischen allerdings in einem Passus über die Wirkung des Gottes Dionysos und seines Ritus, der im Hellenismus freilich nur ›feminin verzärtelt‹ fortwirke (Abb. 6): Der rauschhafte Gott, der aus Asien den Weinstock nach Griechenland gebracht, symbolisierte Tod und Wiedergeburt; er läßt den Menschen in der Ekstasis, im Außersichsein, die untergründigen Mächte des Blutes und der Erde erfahren. In seinem Außersichsein wird der Mensch des Gottes voll, wird das Ich aufgesprengt, und er tritt in den Kreislauf der Natur ein. Nie hat Hellas die Ekstasis verleugnet oder aus seinen religiösen Bezirken verbannt. Sie war dem griechischen Menschen Ausweitung des Gefühls, ein Mittel, um in tiefere Bezirke des Daseins zu dringen, in die Urgründe des Seins, wozu Bewußtheit und Vernunft nicht ausreichen. Aus dem Dionysos-Kult ging die griechische Tragödie hervor, der tragische Widerstreit der Mächte des Blutes, des Schicksals und des Verstandes und Wollens […] (ebd., 26).
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Ludwig Klages hat das im Kosmogonischen Eros kaum anders beschrieben. »Der Weg zum Leben geht durch den Tod des Ichs« – und »alles Lebende lebt« im »Augenblick« (Klages 1974, 393f.). »Es ist aber die chaotische Seelenunterwelt, die dem ekstatischen Rausch den orgiastischen Zug verleiht«, so Klages (ebd., 398; Abb. 7).
Abb. 6 & 7: »Der rauschhafte Gott, der aus Asien den Weinstock nach Griechenland gebracht, symbolisierte Tod und Wiedergeburt; er läßt den Menschen in der Ekstasis«.
Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹: Hellenistischer Dionysos, 2. Jh. u.Z., Museum von Kos – Dionysisches Phallusmonument auf Delos.
Lebensfülle erlangt der Mensch nur, wenn er sich vom ›Wollen‹ trennt (Arendt 1966, 38) und vom »Wahngedanken[] einer Weltherrschaft des vergotteten Ichs« (Klages 1974, 393f.). Aber nicht durch Askese, wie bei Schopenhauer (vgl. 1986, Bd. 1, 516532), solle dies geschehen, sondern durch den »gliederlösende[n] Eros«, den Arendt mit Sappho aufruft (Sappho 1963, 94 gr., 95 dt.). Er folgt hier allerdings nicht einer lebensphilosophischen Lektüre der Dichterin in ihrer zivilisationskritischen Verwerfungsgeste. Erich Arendt kehrt stattdessen immer wieder zu Nietzsche zurück, der in der Geburt der Tragödie das Opfer am Altar des Lichtgottes Apollon wie des chthonischen Dionysos verlangte (Nietzsche 1988, 156; vgl. 140). So wird ihm die Klassik integrierbar in sein strikt verstanden doch tellurisches, wenigstens archaisches Konzept: »Im Menschen das Göttliche, im Gott das menschlich Hohe. Ethos formte die Gestalt, ein Lebensgefühl, das in der Spannung von Mensch und Dämon, von heller Vernunft und dunklem Daseinsgrund die Welt erfuhr und sich für das Helle entschied.« (Arendt 1966, 28)
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Von dieser Helle bleibt in den späteren Gedichten bestenfalls das Blendende des griechischen Meeres und des Himmels, wenn nicht auch dies Leuchtende verworfen wird. Graurollend: Salz, rundum, die unlösliche Öde. – »Ich, mein Leib fühlt es starren, das aufgerissene Auge Meer.« (ZH 35) Die Landschaft wird allegorischer Bezugsrahmen, personifiziert wie beseelt geht von ihr der Blick aus: Starrend von Zeit und Helle fungiert das eine Auge des Planeten, dem der Betrachter passiv unterworfen scheint. Mit dieser radikalen Vertauschung der Aktiva erhält die »Augenmetapher« in der Tat »etwas Feindlich-Bedrohendes«, wie Czechowski schreibt (1968, 459).3 Und weiter: »Die Abwesenheit alles Lebendigen in der Fels- und Meeresszenerie […] bewirkt ein Gefühl der Todesnähe, des Unabänderlichen, des Aufsichnehmens der Realität, wie es uns in den Figuren der sophokleischen Tragödie begegnet.« (ebd.)
Reduktion auf das Total-Wort Alle zwischenmenschliche Begegnung, die in den Fotografien der opulenten Bildbände noch einen einfühlsamen Blick für die einfache Bevölkerung übrig hatte, wird nun reduziert auf das Emblem, die Kargheit des Wortes: Kryptik der asyndetischen Reihung (Abb. 8): Einmal, ausgeweidet vom Ölbaum das Schaf hängt. Lachen Weinduft. Ein Tanz – aus dem dann in Wechselrede mit dem toten, geologischen Raum die Konstruktion von Geschichte resultiert.
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Hier allerdings mit Bezug auf das Ägäis-Gedicht Vor Tag; vgl. ZH 39f.; vgl. zum »negativ konnotierten« Augenmotiv auch Laschen und Wessels 1984, 118, und 111-113; Wichner 1984, 101; siehe zudem Lethen 1978, 40f., der von der »Promiskuität der Sinneswahrnehmungen in den Gedichten« spricht.
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Im Mittag, flugzeugdurchblinkt, lauschen die Steine: Vor Jahren, tausend, einer ging hier, vorüber, kannte den Schmerz, einen Staub, Wort, tief im Wort … ging singend, der Stab sang, seine suchende Hand, […]. (ZH 35f.)
Abb. 8: »Einmal, ausgeweidet | vom Ölbaum das Schaf«.
Arendt: ›Griechische Inselwelt‹. Kreta: Schlachten unter dem Ölbaum.
»Die eigenartige Zerlegung des Satzgefüges scheint eine konkrete Bestimmung dessen, was in dieser Welt vorgeht, zu erschweren.« (Czechowski 1968, 457). Inversion und Enjambement unterstützen dieses verfremdende Formprinzip. Doch
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das Bild, ja das einzelne Wort, das ›Total-Wort‹ (Laschen 1971), geht zunächst von den Konkreta aus, die sich wieder zuordnen lassen, wenn man die »hermetische[] Abgeschlossenheit« (Czechowski 1968, 454) aufbrechen kann. Arendts »Poesie ist sensuell vital und zugleich intellektuell distanziert, sie ist surrealistisch phantasievoll in ihren Gedankengängen und gleichzeitig zutiefst klassisch in ihrer Gestaltung; schließlich wirkt sie politisch engagiert und bleibt dennoch privat in der Intimsphäre verankert«, schreibt Kaszynski (1978, 23). Diese strukturelle Ambivalenz schafft Distanz und ermöglicht zugleich einen überaus persönlichen Zugang, der den Rezipienten zurückbindet in tiefste Fernen der Vergangenheit – bis in geologische Formationen des Planeten oder den Beginn der geschichtlichen Zeit. Auch der neuere Dichter fühlt sich nämlich als ein Rhapsode, der »aus dem Stein | das Wort schlägt …«; seine »späte Schrift« (ZH 35) ist blind wie der hier nicht genannte Homer (vgl. Wichner 1984, 91f.; 1994). Der »kennt das Irren« – im Gedicht Steine von Chios, mit dem der Zyklus eröffnet wird. Der Poeta doctus setzt hier voraus, dass sein impliziter Leser um Chios als den möglichen Geburtsort des ersten tradierten Sängers der Literaturgeschichte weiß: »steinglanzzerweht | sein Lächeln« (ZH 35f.; vgl. 77-79). Bildung ist hier also ein exkludierendes Moment. Aber wenn der Zugang gefunden wurde, ist man dem Bildmaterial seltsam nahe, spürt die sinnliche Erfahrung, die ihm amalgamiert wurde. Chiffrenhaft, doch nicht hermetisch im strengen Sinne, ist die folgende Verdichtung einer Kykladennacht aufgebaut. Arendt wendet auch hier seine ureigene Poetik des »bildnerischen Schreibens« an, wie Peschken (2009, 16f.; vgl. 82f., 89f.) treffend die Schreibhaltung seines Autors charakterisiert. Urzeitgeboren, in dunkler Krümmung, Mondatem, leis der Gezeit, silberschwarz, gipfelnd im Nacktesten: Stein. Nachther, unheilbar ein Glanz (ZH 36).
Kosmische Korrespondenz: Ur- und Früh-Geschichtstiefe Das sind andere Bilder, als sie die Romantik oder der empfindsame Matthias Claudius (2004, 437f.) in seinem berühmten Abendlied über den Mond dichteten. Und dennoch wird auch hier die Wesenhaftigkeit verschoben auf den Trabanten:
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»urzeitgeboren« leuchtet er auf, reflektiert das Sonnenlicht schwach »in dunkler Krümmung«. Das lyrische Subjekt spürt dessen Atem, der seit Jahrmilliarden Einfluss hat auf ›den‹ Gezeit, Ebbe und Flut hervorrufend. Die Sichel ist silbern, dahinter nur schwarz, nackter Stein, gesteigert zum impraktikablen Superlativ. Das lyrische Ich schildert dann, wie es, der Kleidung entledigt, »in die Flut« steigt: wie das lotende Schweigen sich rings in Tote senkt, in die Flut Tönerne Rippe, am Fels hintreibend offen die Brust dem Gestern dem Immer, zwischen den Brauen, genarbt, die Stirnenzeichen kykladischer Nacht. (ZH 37)
Abb. 9 (links): »offen | die Brust | dem Gestern dem Immer« Abb. 10 (rechts): »Zeitschattenblind, | ein Felsmeer«.
Links: Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹ – Kouros von Melos. Rechts: Arendt: ›Griechische Inselwelt‹. »Stein, immer wieder Stein«.
Das ist in der Tat ganz bildnerisch entworfen wie auf die mitschaffende Ergänzungsleistung der Imagination beim Rezipienten vertrauend. Ein Rest verbleibt
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dennoch, der nicht auflösbar sein soll. Ist das ein antiker Torso, Fragment womöglich eines Kouros (Abb. 9)? Glaubt der Betrachter nur, im Tonmaterial eine Skulptur aus der Vorzeit ausmachen zu können? Meint die Stelle die Bibel, in der aus Adams Rippe Eva entsteht? Zielt sie auf die Beisetzungsformel, die den Menschen mit seiner »Vergänglichkeit« (Schlösser 1978, 124) konfrontiert und ihn erinnert, er sei aus Staub und werde zu Staub (vgl. Gen 3,19; Gen 18,27)? Oder sieht sich unser Ich gar selbst treibend, übertragen dann die offene Brust als Signum des Mediums, das zwischen ›Gestern‹ und ›Immer‹ vermittelt, das Stirnenzeichen – Sternzeichen oder Kainsmal (vgl. Gen 4,15) – zwischen den Brauen? Das Bild entstammt einer magischen Ähnlichkeitsfigur, in der das lyrische Ich mit dem Kosmos amalgamiert. In Griechische Inselwelt (Arendt und Hayek-Arendt 1967) deutet sich das Verfahren bereits an: »nirgends sonst haben in dieser ältesten Mittelmeerlandschaft Gegenwart und Vergangenheit solch befruchtende Einheit vollzogen; alle Phasen der Geschichte sind in ihrem Raum gleichzeitig da, in einem lebendigen Nebeneinander, und machen ihr Gesetz aus.« (Ebd. 9; vgl. Riedel 1991, 609; Kaszynski 1978, 34f.) Und zuvor schon heißt es: »Der alte Gegensatz Natur-Kultur, hier ist er aufgehoben, hier wurde er zu einem einmaligen, unerhörten Zusammenklang gebracht« (Arendt und HayekArendt 1967, 8). Aber jetzt wird die empfundene Harmonie in kosmische, zuweilen sogar kosmogonische Tiefen erweitert. Im Gedicht »Schwimmend vor delischer Küste« scheint es eine direkte Anspielung darauf zu geben: Treibender Fels ich, im starrenden Umkreis, gramoffen die Leere des Himmels, alternd. (ZH 61) Kouros ist eine Elegie überschrieben, die zum einen die idealisierte Projektion in die minoische Frühzeit, zum anderen aber auch die Trennung vom Sehnsuchtsort durch die geschichtliche Ferne markiert: Über uns schwebend, im stierhäuptgen Dunkel, die Doppelaxt Mond, eisiger Zeitgang, […]. (ZH 43) Wiederum in einer Ästhetik des Ähnlichen operierend, die auf hart gefügter Metaphorik gründet, werden die rituellen Stierhörner aus Knossos evoziert, die, mit der Doppelaxt überblendet, zugleich den Mond bezeichnen. Das ist magische Bildauffassung in nuce – das Eine steht für das Andere über die ausgedeutete Formen-
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gleichheit. Aber die Distanz ist dem Ich dennoch emphatisch eingeschrieben, die Eröffnung macht es deutlich: Distelwind, schlängelnd, und die gleitende Antwort Sand. Chiffrelos, schräg, die wandernden Stelen des Lichts. Zeitschattenblind, ein Felsmeer. Zerbrochen am pelasgischen Himmel. (ZH 43; Abb. 10) Ähnlich im Gedicht Delos: Blickhelle, lichtversteint. Wehend ein Schattenstrich, schmal. Ach, Fußbreit um Fußbreit traumleer, bis an den bröckelnden Rand, wo, anfangslos, Zeit ist: Meer Meer! und am Himmel kein Finger, der schreckt der verheißt. (ZH 46) Die Entfernung ist naturgemäß eine der Säkularisation. Die Deutung gereicht nicht mehr zur Sinnfülle. Der Himmel, mit dem die Bilder der Erfahrung in Korrespondenz stehen sollten, hat keine Zeichen anzubieten, er »verheißt« nicht mehr – aber er »schreckt« auch nicht. Der Planet ist ›bewohnbarer‹ geworden, wie Blumenberg (vgl. 1971, 13) sagen würde; aber ihm fehlt nun die utopische Signatur, die Verheißung kommenden Glücks. Dennoch: Wenn späterhin die Figur der Nike (Abb. 11) geschildert wird, Alkmene und Sappho angerufen werden (ZH 67, 48f.), oder Orest, oder Klytaimnestra (Arendt 1968, 355 [nicht in ZH aufgenommen]; ZH 73f.), oder Artemis – »Ähre Goldhaar entrolltes« (ZH 58) –, dann ist es eine »Ferne, die dich | bejaht« (ZH 66).
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Abb. 11: »Ferne, die dich | bejaht«.
Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹. Nike von Delos.
Archaik und geologischer Horizont Erich Arendt siedle »seine Subjektivität im mythischen Raum an«, schreibt Raddatz (1978, 17), das gebe ihr »etwas zugleich Entblößtes wie Unentrinnbares. Jede Lebensanstrengung zeitigt ihr ›Umsonst‹«. »Arendts Kosmos ist geschichtslos, ja geschichtspessimistisch. Der statische Duktus seiner Gedichte ist nicht preziöse Galanterie, sondern tief ernst gemeinte Resignation.« (Ebd.) Doch überwiegend findet man, meine ich – im Unterschied zu Raddatz – bei Arendt eine kosmologische Aufladung, wenn er den Zeithorizont des Planeten markiert: Glanz. Totenstille der Ägäis. Alle Nähe entgrenzt. An den alternden Stein schlägt der Schatten Huf, hohl. Und die Silberhände
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des Ölbaums spreiten die Todesgewißheit der Wurzeln. Die uns durchdrang, dunkler als Meer als Vergessen, die Wunde: zu schließen, leg die Stirn an den Fels, seine Wurzel reicht tiefer […] (ZH 63, vgl. 66). Während also einerseits die verstrichene Zeit den modernen Menschen von der Archaik trennt (Abb. 12), kommt das lyrische Selbst andererseits in der Zwiesprache mit dem Felsen doch in einen Einklang mit dem anorganischen Stein. Ist das wirklich Nihilismus, weil das Lebendige, Humane negiert wird – oder gar eine Warnung vor dem Ende alles Belebten, vor dem ›großen Atomblitz‹, wie Domdey (vgl. 1984, 88) schreibt? »Das Zeitschlächtge Umsonst schließt die Vorstellung vom Gattungstod mit ein.« (Ebd.) Aber das lyrische Ich sucht förmlich danach, einzugehen in die lange Dauer des geologischen Horizonts. »Fliehen? Wohin!« heißt es in Odysseus’ Heimkehr: […] – Sei wie das Wasser – sterblos. Oder ein Stein auf Lemnos zu sein (ZH 68). Hier ist zugleich Philoktet gemeint, den der Ithaker ausgesetzt hat auf dem toten Eiland. Heiner Müller (vgl. 1988, 38f.) hat ihm ein Drama gewidmet. Der griechische Held ist Teil der Natur geworden, eingepasst in den Zyklus von Werden und Vergehen – ohne eigenen Willen: selbst fast wie der Fels, den er bewohnt. Philoktet erschöpft sich in der Lebenserhaltung. Bei Müller erlegt er mit Pfeil und Bogen die Geier, nährt sich von ihnen, die schon auf seinen Kadaver warten: »erdgerecht, der hinab | sinkt, unmerklich, | und taub« (ZH 68). Dem organologischen Kreislauf kann er sich nicht entziehen – er reproduziert ihn. Übermaß Zeit! Welcher Himmel nicht ward begraben! Und das Rauschen der Schilde? – schwarz, wie Todnacht, jedes Troja umsonst. […] (ZH 67; vgl. 69f., 78f.)
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Abb. 12: »leg | die Stirn an den Fels, | seine Wurzel reicht | tiefer«.
Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹ – auf Sizilien. Höhle aus dem Neolithikum.
Verrat und Sühne Was hilft es da, ein Heros zu sein, gestaltend mitzuwirken an der großen Vergeblichkeit, die zudem unsägliches Leid produziert. Unter dem pessimistischen Motto des Thukydides: »Alles war Feindschaft nur und Treulosigkeit; kein Sühnwort mehr sicher … « kommt Arendts Elegie zu folgender, bildgewaltiger Einschätzung – mit finaler Aufforderung. Ich zitiere das gesamte Gedicht: Elegie Aus den nachblinden Spiegeln tasten die Finger, die nicht vergessen können, das wilde Wespennest suchend. Weiter fallen Würfel Ziffern nagelnd, leer,
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auf Tische und Auge. Nur der Regen des Todes findet sein Haus, auch in dir. »Dunkel, Gefährten, ist der Weltraum, sehr dunkel« sich krümmend – und für einen Blick wächst, was ihn auslöscht. Uns die unwiederbringliche Erde! Doch die verdinglichte Asche, graue Lawine rollt, die abgeleistete Stunde. Und im alten Gewölb und die alte Verwesung staut: Schattengeburt, Lippe des rufleisen Mords, Neidnessel blüht, Maskentanz, stumm, der Denkenden, willfährig die Hand sauber gebrochen. Galgen um Galgen der Freundschaft, gespalten die Zunge, Draht, Maßlosigkeit, Draht. Die Felder ohne Glanz und Spur! Leg
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die Stirn unters lautlose Fallbeil Zeit: Erglimmt, greifbar, ein Flugkorn, noch der Tag? (ZH 75f.) »Dunkel, Gefährten, ist der Weltraum, sehr dunkel«, sagte Gagarin (vgl. Müller 1996, 81), der als erster Mensch die Erde umrundete und auf ihre Erscheinung im All blicken konnte. Der Garant für die kommende Zeit, der Held des Fortschritts, negiert bereits im Moment des Triumphs, wofür er propagandistisch eingesetzt wurde (und als Person genau daran scheiterte). Der Mensch ist noch nicht reif für die Erkenntnisse, die aus dem Schritt in den Weltraum, nach Einstein »sich krümmend«, folgen: Der Moment seiner Existenz, die von Auslöschung bedroht ist, wirkt fragil – wie die »unwiederbringliche Erde«. Doch statt sich der existenziellen Herausforderung zu stellen, »rollt« »die verdinglichte Asche | graue Lawine« ihre »abgeleistete Stunde« in gewohnter Manier. Geschichte meint Verrat (»Lippe des | rufleisen Mords, Neidnessel | blüht), sie gründet auf Folter (»will- | fährig die Hand, | sauber gebrochen«) und mündet in Auslöschung (»Felder ohne Glanz | und Spur«). Das finale Bild mit dem Imperativ: »Leg | die Stirn | unters lautlose | Fallbeil Zeit«, wird in der letzten Wendung fragend ins kaum noch Mögliche, ins Zukünftige gewendet. In Nach dem Prozeß Sokrates addiert Arendt nochmals den Ertrag des Geschichtsgangs: »Blutwimper, schwarz: | das Jahrhundert« (Arendt 1968, 383 [nicht in ZH aufgenommen!]). Das ist so spekulativ wie düster; nichts bleibt vom Lob der kretischen Frühe. Deutlich wird die Intention des lyrischen Ichs zudem artikuliert im Gedicht Sireneninsel (auch wenn, vordergründig, die Atomtests der USA angesprochen werden – »Meerüber, fern | aufschoß, atollnah | der Wahn«): Ich steh im offenen Schrei der Särge, ein Lebender, die sich füllen, blind, mit Angst und Tod. (ZH 104)
Die Bildwirkung – angesichts der Zerrüttung des Planeten Wie ein Kommentar der eigenen Fotobände, die in den Ägäis-Gedichten selbst schon recht offensichtlich revidiert werden, liest sich der späte Text fischleere see: das vorletzte Gedicht (ZH 137 f.) in der Kompilation Starrend von Zeit und Helle (Abb. 13).
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Abb. 13 (links): Die Landschaft in ihrer unermesslichen Zeit, in ihrer unbegreiflichen Helle. Abb. 14 (rechts): Der Dichter lässt sich im Prozess des Schreibens ein auf die Bildwirkung.
Links: Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹ – Byzantinische Kapelle auf Kreta. Rechts: Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹ – kubistisches Raumarrangement?
Hinzu kommt ein ökologisches Moment, das die Zerrüttung des Planeten durch den Menschen reflektiert. Die Landschaft sei in dem Kompendium, so sagten wir eingangs, aktiv starrend in ihrer unermesslichen Zeit, in ihrer unbegreiflichen Helle. In dem Gedichtband Memento und Bild (Arendt 1976), auf Korsika oder das spanische Mittelmeer bezogen, wird der Gedanke aufgegriffen – Blick der Basalte – und die »Bilder geologischer Zeit«, gegen den historischen Zeithorizont, beschworen (Domdey 1984, 82). Das bietet Entlastung von der Mitschuld – aber auch von der großen Geste des Weltdeuters, die Arendt in den Essays der Bildbände pflegte. Das lyrische Ich erinnert hier das Bild, rettet es damit vor dem eigenen Wollen – und dem Willen der vielen. Es tritt dem Bildverlust (Handke 2002) entgegen. Der Dichter hat genau das gelernt in seiner lyrischen Verarbeitung der eigenen Erfahrung. Er ist ein Pathiker geworden (vgl. Preußer 2015, 9, 147f.). Er will nicht mehr sehen, was die eigene Projektion, sein Weltbild ihm vorgibt, sondern lässt sich im Prozess des Schreibens ein auf die Bildwirkung (Abb. 14). In der Textur der Wortwerdung erst entsteht dann das andere Bild, das dauert. So kann man das lyrische Spätwerk insgesamt verstehen. Zur Tiefe des Angeschauten waren weder der geschichtsphilosophische Essay noch die Fotografien in der Lage. Sie wissen zu viel, glauben zu verstehen. Das Bild hingegen reicht durch die Schichtungen der Geschichte in der Ägäis, die der kulturphilosophische Archäologe nur gewaltsam frei-
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legt wie mit einem Spaten – und es wirkt bis in die Kosmogonie einerseits und das eigene Selbst andererseits. Beide Pole korrespondieren, wie nur je ein magischer Weltbezug, über die tief empfundene Ähnlichkeit des Geschauten. Das ist zugleich eine strikt medienkonservative Auffassung. Die anderen, die ›haben wollen‹, sind Unwissende, sollen wir mit Arendt denken, die im Bildband schon, deutlicher allerdings im Gedicht, abgestraft werden: »aber das klicken der apparate | das aufblättern aber: blicke | sekundengeil« (ZH 137; Abb. 15). »Touristen … Touristen!« – kommentieren Erich Arendt und seine Frau, Katja Hayek-Arendt (1967 o. P. [104]), amüsiert und leicht angeekelt.
Abb. 15: »aber das klicken der apparate | das aufblättern aber: blicke | sekundengeil«.
Arendt: ›Säule Kubus Gesicht‹. »Touristen, Touristen« – kommentiert der Poeta doctus.
Statt die Bildwirkung im Selbst zuzulassen, wird das Foto aufgenommen – »das klicken« im Gedicht; statt des eigenen Erlebens vertraut sich der Fremde dem Reiseführer an – »das aufblättern« ebendort. Diese Haltung wird in beiden Fällen diskreditiert: »blicke | sekundengeil«. Arendt fordert auf, sich hinzugeben an das Bild, an die Welt: wenngleich der Pathisch-Empfangende die Zeichen der Zeit nicht revidieren wird. Auch sein Blick ist starr geworden; er sieht die Ägäis, wie diese selbst blickt im Gedicht: Erwachend.
»Starrend von Zeit und Helle«
Wachsein des Schlafs, Waage und Atem, ruhend, ein Hauch, weit wie das Innen der Dinge. Blick, du stetes Erwachen, und was du siehst: Stein, Zittern des Halmes, Flut, starrend von Zeit und Helle. (ZH 54)
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Produktive Missverständnisse: Aegeus und Ikarus Alexandra Rassidakis Denn es genügt ja nicht zu sein und gewesen zu sein: man muß ein Vermächtnis hinterlassen, damit man nicht mit sich selber aufhört A. Gide, Thésée1
Folgender Beitrag geht der Namensgebung der Mittelmeer-Gewässer, der Ägäis und des Ikarischen Meeres nach, behandelt also Aegeus’ und Ikarus’ folgenreiche mythologischen Stürze ins Meer. Im ersten Teil sollen diese beiden Figuren aus der griechischen Mythologie kontrastiv beleuchten werden, um dabei den Facettenreichtum des mythologischen Stoffes und die oftmals konkurrierenden Deutungen aufzuzeigen. Insbesondere soll hierbei auf den Aspekt des »Versehens« bzw. »Missverständnisses« eingegangen werden, der zu dem jeweiligen Tod führt. Die zahlreichen Neuinszenierungen der Schicksale von Aegeus und Ikarus in Text und Bild sind ein weiterer Grund, weshalb, neben der Benennung der Meere nach ihnen, diese »Missverständnisse« als folgenreich bezeichnet werden können. Daher widmet sich der zweite Teil dem Nachleben der beiden Figuren in Literatur und Kunst, wobei über die Tatsache reflektiert wird, dass in beiden Fällen gerade das Moment des Scheiterns zum postumen Ruhm beigetragen hat.
Missverständnisse und Randfiguren Aegeus und Ikarus sind periphere Figuren des sogenannten kretischen Zyklus – ihre Schicksale sind mit der Geschichte des Minotaurus im kretischen Labyrinth und dem Athener Tribut der vierzehn Jugendlichen an König Minos verwoben. Die eigentlichen Hauptakteure des Zyklus sind neben König Minos, Theseus und Minotaurus die beiden Frauen Pasiphae und Ariadne, die als Manifestationen der mi-
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Zitiert nach der deutschen Ausgabe Gide 1962, 81.
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noischen Mondgöttin als reife und junge Frau interpretiert werden können.2 Zum kretischen Zyklus gehört außerdem der geniale Baumeister Dädalus, dessen kluge Erfindungen zwar immer die ersehnte Lösung herbeiführen, ihm doch letztlich zum Verhängnis werden. Doch kehren wir zu den Nebenfiguren zurück. Aegeus ist der stolze König von Athen, der nur ungern seinen Sohn Theseus nach Kreta schickt, um dem blutigen Tribut ein Ende zu setzen; Ikarus ist der Sohn des Erfinders Dädalus; mit seinem Vater wird er von König Minos im Labyrinth gefangen gehalten. Sie entfliehen gemeinsam mithilfe wächserner Flügel dem Gefängnis. Sowohl Aegeus als auch Ikarus werden im Meer ertrinken: Aegeus stürzt sich in das Meer vor der Küste von Attika, als er fälschlicherweise aus den schwarzen Segeln schließt, dass sein Sohn auf Kreta ums Leben gekommen ist (Apollod. Epit. I, 9-10). Es handelt sich um ein tragisches Missverständnis, denn Theseus, der seine Mission, Athen von dem Tribut zu befreien, erfüllt hat und als Sieger zurückkehrt, versäumte ob seiner Freude, wie vereinbart die weißen Segel zu hissen. Ikarus, hingerissen von dem Erlebnis des Fliegens, missachtete (vergaß?) die Ratschläge seines Vaters, der ihn zur Mäßigung ermahnte, flog immer höher, das Wachs seiner Flügel schmolz im Licht der Sonne und er stürzte ins Meer (Ov. Met. VIII, 182-235). Betrachtet man die mythologischen Figuren von Aegeus und Ikarus separat, so lassen sie sich einer jeweils anderen Mythenkonstellation zuordnen: Der Mythos von Aegeus, mit dem Tod von Androgeus und dem Tribut an Minos, bezeugt die Expansion des minoischen Einflusses auf das Festland (Kakridis 1986, III, 275). Zugleich lässt sich die Figur von Aegeus aufgrund seines Todes in die Reihe jener mythologischen Väterfiguren einordnen, die, von Uranos und Kronos bis hin zu Laius, dem Vater von Ödipus, und Telegonos, dem Sohn von Odysseus, von ihren Söhnen entmachtet werden. Was Ikarus betrifft, so kann man hier, wie auch bei den Figuren von Phaethon und Eosphoros, Verweise auf einen älteren Sonnenkult erkennen (Kerenyi 1983, 153). Der Mythos wird allerdings aus der Perspektive des neuen Status quo erzählt: der Flug misslingt und der Fall wird als Bestrafung des Ungehorsams gedeutet (Kakridis 1986, III, 278). Auf diese Weise bleibt die Verbindung zur Sonne und dem Licht zwar bestehen, erweist sich aber als fatal. Wenn man jedoch die Figuren von Ikarus und Aegeus einander gegenüberstellt, dann kommen andere Aspekte des jeweiligen Mythos zum Vorschein. Es wird so 2
Ranke-Graves, aber auch Kakridis zufolge weisen bereits die Namen auf den Kult der Mondgöttin hin: Pasiphaë bedeutet »die alles Erhellende« und Ariadne »die überaus Reine« (Kakridis 1986, III, 270 und 280; Ranke-Graves, Seinfeld, und Borresholm 1986, 265). Zusammen mit dem Beinamen von Minotaurus Asterion (»der sternenreiche« oder »den Sternen gehörende«) und der rituellen Doppelaxt Labrys, welche den ab- und zunehmenden Mond darstellt, bilden sie Verweise auf den Kult der Großen Göttin, wie man ihn für ein Frühstadium der minoischen Kultur annimmt. Zur minoischen Religion siehe die Darstellungen bei Papachatzis (1982) und Alexiou (1970).
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eine spiegelbildliche Entsprechung deutlich: Beide stürzen ins Meer und ertrinken – man würde meinen, dass der Sturz von oben die Bedrohlichkeit des Meeres zusätzlich potenziert.3 Der Sturz bedeutet auch das Ende einer besonderen sozialen Position, er markiert die »Rückkehr in die Welt des Profanen« (Behringer 1991, 96): Aegeus hört auf, König zu sein, und Ikarus beendet seine einzige außerordentliche Tat – das Fliegen. Aegeus und Ikarus haben außer dem Sturz in den Fluten noch weitere Gemeinsamkeiten. So besiegelt ihr Tod das Vergebliche ihrer Hoffnungen: im Fall Ikarus’ den Traum von Eigenständigkeit und Freiheit, im Fall Aegeus’ die Behauptung seiner Macht gegenüber Minos. Auch hängt in beiden Fällen das eigene Schicksal mit einer weiteren Figur zusammen: zu Aegeus gehört Theseus, zu Ikarus Dädalus. Bei beiden Figuren-Paaren gibt es einen Überlebenden, vielmehr, das Ertrinken des Einen erleichtert das Leben des Anderen: Dädalus gelingt die Flucht, er schafft es bis nach Sizilien. Theseus wird König von Athen. In beiden Fällen kann man von einem Missverständnis sprechen, wobei beim misstrauischen Interpreten durchaus Zweifel ob der Zufälligkeit aufkommen können: Dädalus hat guten Grund, alleine fortzureisen, da er sich so besser verstecken kann, ein ungehorsamer Sohn wäre da ein Risiko – außerdem berichtet der Mythos von seiner Skrupellosigkeit: er hat zuvor seinen Neffen Perdix von der Akropolis gestoßen, als dieser eine Gefahr für ihn darstellte.4 Theseus sichert sich den Thron von Athen, indem er »versäumt« die Segel zu wechseln – hinreichende Motivation für einen Helden, der sich schon zuvor durch Betrug und Verrat zu behaupten wusste, man denke nur an Ariadne.5 So gesehen, lassen sich beide Fälle als mythologische Inszenierungen von Generationenkonflikten lesen: Im Fall von Aegeus glückt es seinem Sohn, ihn zu stürzen und an seiner Stelle König von Athen zu werden. Das Hissen der falschen Segel erscheint – so gelesen – als eine weitere, notwendige Etappe in der glorreichen Karriere des skrupellosen attischen Helden. Sourvinou-Inwood zufolge handelt es sich hier um ein Muster: ganz gleich ob willentlich, wie in den Fällen von Uranus und Kronos, Kronos und Zeus, oder versehentlich wie bei Laios/Ödipus und 3
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Blumenberg (2000, 10) erinnert in seiner Studie zur Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch daran, dass das Meer als naturgegebene Grenze menschlicher Unternehmungen bereits in der Antike als die Sphäre der Unberechenbarkeit per se gilt. Ovid verknüpft in seiner Wiedergabe des Mythos vom Sturz des Ikarus beide Mythologeme, als er ein Rebhuhn (Perdix) erwähnt, das den trauernden Dädalus auslacht und erklärt, es handele sich um einen neuen Vogel, von den Göttern dem Dädalus zum dauernden Vorwurf geschaffen (Ov. Met. VIII, 152-259). Das verlorene Epos Cypria hat die Verbindung zwischen dem Verlassen von Ariadne und dem indirekten Vatermord hergestellt und so ein unvorteilhaftes Bild von Theseus skizziert, das im krassen Widerspruch zum späteren image des altruistischen Helden Athens steht (vgl. Mills 1997, 16ff.).
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Odysseus/Telegonos, der Vatermord folgt einer mythischen Logik, aufgrund derer der Vater, der nicht für sein Kind sorgt bzw. es aussetzt, früher oder später dafür bestraft wird. Die Aggression geht also vorerst vom Vater aus (Sourvinou-Inwood 1979, 17 ff.). Im Fall von Aegeus und Theseus ist der Tod des Vaters die Folge des Verlassens des ungeborenen Sohnes: Aegeus lässt Mutter und Kind in Troizina zurück und heiratet Medea in Athen (Sourvinou-Inwood spricht von »hostility by omission«, ebd., 19). Hinzu kommt der unwillentliche Mordversuch an Theseus, als Medea Aegeus überzeugt, den Fremden zu vergiften – dies kann in letzter Minute vereitelt werden, als Aegeus die Waffen des Theseus als seine eigenen erkennt und dem Sohn den vergiftenden Trunk aus der Hand schlägt (Apollod. Epit. I, 1-5). Ikarus glückt ebenfalls die Rebellion gegen seinen Vater, allerdings zu einem hohen Preis. Er schlägt die weisen Ratschläge Dädalus’ buchstäblich in den Wind und erkauft sich so seine Freiheit von der väterlichen Autorität. Auch in Bezug auf die gesellschaftliche Position erweisen sich die beiden Figuren als spiegelbildlich: dem berühmten, mächtigen König Aegeus steht der unbekannte Ikarus gegenüber, der eine hat ein erfülltes Leben hinter sich, dem anderen steht es noch bevor. Der Tod des Königs hat nichts heroisches, er beruht auf einem Missverständnis, wohingegen im Falle von Ikarus es der Flug bzw. der Tod ist, der ihn erst berühmt macht. In beiden Fällen führt der Ungehorsam (oder sollte man von Versehen sprechen?) des Sohnes zum Tod – im einen Fall zum Tod des Vaters, im anderen zum Tod des Sohnes.
Aegeus und Ikarus in Literatur und Kunst Man kann im Falle von Aegeus und Ikarus insofern von produktiven Missverständnissen bzw. Versehen sprechen, weil beide, vor allem aber Ikarus, seit der Antike eine Inspirationsquelle für Kunst und Literatur darstellen.
Aegeus Aegeus’ Tod findet in der bildenden Kunst keinen Anklang, es sind andere Stationen seines Lebens, welche Reliefs und Vasen dekorieren. Es gibt Abbildungen der Befragung des Orakels sowie der Erkennungsszene mit dem jungen Theseus, wie etwa auf dem rotfigurigen Krater aus Apulien, bei dem Medea hinter Aegeus steht (ca. 410-400 v. Chr.), oder bei der Abbildung auf einer rotfigurigen Amphore, bei der Poseidon hinter Theseus steht, der von seinen sterblichen Eltern begrüßt wird (ca. 410-400 v. Chr.). Vor allem die dramatische Szene des beinahe gelungenen Kindsmordes, ausführlich beschrieben bei Ovid im siebten Buch der Metamorphosen (Met. VII, 404-424), war wegen ihrer emotionalen Geladenheit besonders beliebt bei den Römern (Korti-Konti 2004, 17). In einem Τonrelief aus dem 1. Jahrhundert
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n. Chr. (Abb. 1) wird der dramatische Höhepunkt abgebildet, als der ahnungslose Aegeus sich vorbeugt, um seinem Sohn den vergifteten Trunk an die Lippen zu halten, unter dem Blick Medeas, die dicht hinter ihm steht.
Abb. 1: Römisches Τonrelief: Aegeus und Theseus, ca. 1./2. Jh. n. Chr.
London: British Museum.
In einem Krater aus Apulien findet sich die direkt darauffolgende Erkennungsszene als synchrone Abbildung dreier Sequenzen: Rechts untersucht Aegeus die Waffen und erkennt seinen Sohn, in der Mitte schüttet Theseus den vergifteten Wein aus und links wendet sich Medea erschrocken ab, wobei sie das Gefäß mit dem Gift auf den Boden fallen lässt (Abb. 2). Der vereitelte Mord ist eine beliebte Szene noch weit über die Antike hinaus, wie etwa das Gemälde von Antoine-Placide Gibert, Thésée reconnu par son père (1832) bezeugt, in dem der entsetzte Aegeus Theseus das Gift Medeas aus der Hand schlägt. Das Fehlen der Abbildung von Aegeus’ Tod ist kaum ein Zufall, da dieses »Versehen« eher einen Schatten auf das Bild des strahlenden Helden Theseus wirft, das gezielt in der attischen Kunst seit dem 6. Jahrhundert konstruiert wird.6 Im 6
Zur Konzeption von Theseus als des modelhaften attischen Heros vgl. die Studien von Flashar 2003 sowie Connor 1970. Hoff macht auf die unterschiedlichen Facetten der Abbildung des Polis-Heros aufmerksam, deren Funktion je nach Kontext und Rezipienten (Vasen, Reliefs,
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Folgenden soll die literarische Bearbeitung des Todes von Aegeus in drei Texten vorgestellt werden, die gerade auf diese Episode eingehen, entweder um den Makel des willentlichen Vatermordes von der Figur des attischen Helden zu entfernen, wie es bei Plutarch und Kazantzakis der Fall ist, oder ihn auf diese Art und Weise bloßzustellen, wie es Gide unternimmt.
Abb. 2: Krater aus Apulien: Aegeus und Theseus, 400-375 v. Chr.
London: British Museum.
Plutarch wählt Theseus als ein Beispiel für seine Parallelen Biografien (ca. 96 n. Chr.) und setzt ihm Romylos, den Gründer Roms, entgegen.7 Er ist dabei sehr bedacht, die »dunklen« Episoden der Lebensgeschichte von Theseus unter einem freundlichen Licht zu präsentieren. Bezeichnend ist etwa die Weise, in der davon
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Amphoren etc.) variieren können, jedoch immer Theseus als »Superhero« darstellen (Hoff 2010, 178). Graf beschreibt den Wandel am Ende des 6. Jahrhunderts, als das Theseus-Bild gezielt als Beispiel für die Athener Jugend modelliert wird (Graf 2001, 132). In der Plutarch-Forschung wird betont, wie wichtig es ist, die Biografien nicht isoliert voneinander zu untersuchen, sondern als Paare, wie sie auch konzipiert wurden (Alexiou 2007, 16). Dies würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, daher sei lediglich angemerkt, dass sich Plutarch gezwungen sah, den mythologischen Stoff zu Theseus zu rationalisieren, um ihn mit der weitaus historischeren Figur des Romylos vergleichen zu können (Brenk 2017, 121). So wird etwa die göttliche Abstammung von Theseus ausgelassen und Minotaurus als General von Minos vorgestellt (ebd., 122).
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berichtet, wie Theseus Ariadne verlässt. Während er äußerst knapp verschiedene Varianten wiedergibt, erklärt er, dass diese Geschichten hinlänglich bekannt seien, und schildert daraufhin ausgiebig eine abweichende Variante dieser Geschichte, der zufolge Theseus Ariadne nicht absichtlich verließ, da sein Schiff, auf dem er sich gerade befand, um es zu reparieren, von den Wellen hinausgetrieben wurde und er Ariadne somit versehentlich allein auf Zypern zurücklies. Als er später zurückkehrte, fand er sie tot vor, was ihn sehr betrübte (Plut. Vit. Thes. 20). Der Leser ist daher nicht erstaunt, wenn der Biograf Theseus auch bei der Schilderung des Todes von Aegeus ebenfalls von jeglicher Schuld freispricht: Plutarch scheint sehr darauf bedacht zu sein, das Vergessen (er spricht von »übersehen«, εκλασθέσθαι) zu betonen. Es ist ein doppeltes Über- oder eher Versehen: Als sie sich Attika näherten, »übersah Theseus und übersah der Kapitän, die Segel zu wechseln«, aufgrund der übergroßen Freude beim Anblick der Heimat, so heißt es, woraufhin sich Aegeus vom Felsen stürzte (Plut. Vit. Thes. 22). Plutarch betont ausführlich die Ambivalenz der darauffolgenden Empfangsszene: als Theseus an Land ging, mischten sich die Klagen wegen des Todes des Königs mit der Freude über die heile Rückkehr des neuen Königs aus Kreta (ebd.). Kazantzakis, der in seinem Theaterstück Kouros von 1955 Theseus durchaus als positive Gestalt, als Apollos alter ego, darstellt, löst das Problem dieser »Schattenseite«, indem er den Vatermord als Ariadnes Einfall präsentiert, den Theseus zuerst entsetzt von sich weist. Ariadne, die in diesem Stück als Repräsentantin einer ehemals glorreichen, jetzt jedoch moralisch und militärisch verfallenen Kultur auftritt, stellt den Vatermord als den natürlichen Lauf der Dinge dar: Ariadne: »Was errötest du, unbarmherziges Einzelkind; ja, ja ich kenne das frevelhafte Geheimnis, verborgen im hintersten Winkel deines Verstandes; lasse uns die schwarzen Segel hissen. Bei deren Anblick wird dein alter Vater sich ins Meer stürzen und ertrinken, damit wir, die Jugend, den Thron besteigen. Wir haben große Werke zu vollenden, können nicht warten, hisse die schwarzen Segel, Kapitän. Der neue Gott hat es eilig!« Theseus: »Schwarze Segel?« Ariadne: »Barbarischer, geliebter Königssohn, erschrick nicht, dies ist die Pflicht des Einzelsohnes; wir sind jung, die Alten stellen sich uns in den Weg, wir versäumen Zeit, bemitleide sie nicht! Sieh, ich verlasse meinen Vater, hisse du die schwarzen Segel, vergiß deinen Vater, lass uns ziehen!« (Kazantzakis 1964, 302, Übers. A.R.) Interessant ist dabei, dass dieses Argument Ariadnes im Kontext der Verführung des unschuldigen, unbedarften »barbarischen« Athener Jünglings hervorgebracht wird, nachdem ihre Schönheit, ihre Liebesbeteuerung und sogar ihr nackter Leib sich als unzureichend erwiesen haben. Der Thron Attikas jedoch, zusammen mit dem Versprechen eines männlichen Nachfolgers, überzeugen schließlich Theseus.
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Aegeus’ Tod ist besonders geeignet, möchte man die Figur des attischen Helden unter anderem Vorzeichen präsentieren, wie es André Gide in seiner Novelle Thésée von 1946 unternimmt. In einem seiner letzten Werke, entstanden 1946 direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, stellt Gide Theseus als skrupellosen, machtgierigen, äußerst maskulinen Helden da. Theseus liefert in erster Person eine Retrospektive seiner Werke und Taten, seine Schilderung wird so zur Erfolgsgeschichte einer »persönlichen Selbstvollendung«. Sein »Versehen« bei der Rückkehr aus Kreta nimmt hierbei eine Schlüsselposition ein, da diese Episode den Übergang von seiner »Formationszeit« zu seiner »Reifeperiode« markiert. Er selbst berichtet von diesem »Vergessen« folgendermaßen: Es tut mir leid, daß ich an seinem Tode schuld bin infolge einer verhängnisvollen Vergeßlichkeit. […] Man kann eben nicht an alles denken. Wenn ich mich allerdings befrage, was ich niemals gern tue, kann ich nicht beschwören, daß es wirklich Vergeßlichkeit war. (Gide 1962, 78) Im gesamten Monolog, doch gerade dann, wenn er über Aegeus’ Tod spricht, wird Theseus’ Denkweise überdeutlich. Der Erzählgestus ist jener eines Menschen, der zurückblickend Rechenschaft über seine Taten ablegt, allerdings scheint Theseus nichts zu bereuen und keine Einsichten hinzugewonnen zu haben: Am Ende seines Lebens ist er keinen Deut reifer oder weiser, sondern bleibt selbstherrlich, misogyn, xenophob und homophob. So erklärt er gegen Ende: »Aber es war mir nicht gegeben, mich durch Skrupel hemmen zu lassen. […] Jeder Hieb muß sitzen. Was sein muß, muß sein.« (ebd., 120) Die Rezeption des Romans als ein Spätwerk, in dem Gide »Rechenschaft über sein Leben« gibt (Bründl 1996, 310) bzw. die Auffassung, dass Theseus eine Identifikationsfigur für Gide darstellt,8 erscheint wenig überzeugend. Vielmehr wird hier deutlich, dass Gide seinen Helden unterminiert, gerade indem er ihm den Freiraum lässt, ohne jede Widerrede seine Denkweise zu entwickeln; präsentiert wird so ein selbstherrlicher, verblendeter Tatenmensch,9 der seine Mitmenschen manipuliert, alles Fremde und Andere verachtet, skrupellos seine Ziele verfolgt und bereit ist, über Leichen zu gehen.10 Aegeus ist hierbei nur eines der vielen Opfer, die Theseus’ Werdegang flankieren, wobei es kaum ein 8
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So etwa Genova, die zu dem Schluss kommt: »Theseus embodies for Gide the final answer, the ultimate incarnation of human potential, intellectually, spiritually and sexually.« (Genova 2000, 275) Woodhull sieht eine Parallele zu Nietzsches Übermenschen. Für ihn wird hier das »autonome menschliche Subjekt« gefeiert. Allerdings scheint Gide nach der Erfahrung von zwei Weltkriegen dem Konzept des Übermenschen kritisch entgegenzustehen (Woodhull 1988, 5). Möllendorf gibt außerdem zu bedenken, dass der in der Mythologie kundige Leser darüber unterrichtet ist, dass Theseus ein demütigendes Ende im Exil erwartet, was die hier zur Schau gestellte Gewissheit eines erfüllten Lebens infrage stellt (Möllendorf 2017, 192).
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Zufall ist, dass der Bericht über den Vatermord –denn als solcher wird er hier dargestellt – relativ am Anfang seines Rückblicks zu finden ist. Dadurch wird von Anfang an einerseits die Ehrlichkeit des Erzählers bekundet, andererseits jedoch das Fehlen jeder Reue deutlich (Möllendorf 2017, 183). Bei der kritischen Distanz zur mythischen Vorlage befolgt Gide offensichtlich die gleiche Zielsetzung, die er in seinem essayistischen Werk beschrieben hat; ihm geht es nicht um Pathos, sein Ziel ist es, seine Leser zum Nachdenken zu bringen, wie er am Beispiel des Ödipus-Stoffes deutlich macht: You have Sophocles’ play and I am not posing as a rival; I am leaving him the pathos; but here is what Sophocles could not have seen and understood, though it lay in his subject, and what I understand – not because I am more intelligent but because I belong to another epoch and I propose to let you see the other side of the scenery, were it to be an obstacle to your emotion, for it is not your emotion that matters to me and that I am trying to evoke: it is to your intelligence that I am addressing myself. I intend, not to make you shudder or weep, but to make you reflect. (Gide 2000, 254)
Ikarus Ikarus ging unter. Ikarus ging unter Hoch über den anderen. E. Jandl, Ikarus (1954) Der bis zu seinem Tod unbekannte Ikarus ist, was die Rezeption in Literatur und Kunst betrifft, der bei weitem berühmtere der beiden hier behandelten mythischen Figuren: dies bezeugen zahlreiche Texte und der Reichtum an Abbildungen, seit der Antike und über die Jahrhunderte hinweg. Bei den zahlreichen textuellen Neuerzählungen seines Schicksals ist interessant, dass nicht nur der Schwerpunkt, sondern auch die Evaluation stark variiert: Bereits in der Antike dient Ikarus als Identifikationsfigur für den inspirierten (beflügelten) Dichter, der nach Höherem strebt bzw. durch seine Kunst Nachruhm zu erreichen hofft.11 Die entsprechende Ode (Carmina II, 20) von Horaz beginnt folgendermaßen: Mit wunderbaren, mächtigem Fittich werd’ ich, der Dichter, umwandelt den reinen Äther durchfliegen, werde nicht länger auf der Erde verweilen; 11
Sollte-Gresser geht in ihrem Aufsatz der selbstreferenziellen Struktur des Ikarus-Mythos nach und untersucht dessen Rezeption als Erzählung von den Wagnissen des künstlerischen Schaffens (Sollte-Gresser 2013).
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über den Neid erhaben, werd’ ich die Städte verlassen. […] Bald werd’ ich, bekannter als Dädals Sohn Ikarus Den Strand des seufzenden Bosporus [sehen] (Horaz 1981, 180) Bei Ovid, in einem seiner »Trübsal-Gedichten« (Tristia I.87-90), fungiert Ikarus eher als abschreckendes Beispiel: Sei deshalb auf der Hut, mein Buch, und schau dich ängstlich um; dir sei es genug vom einfachen Volk gelesen zu werden. Als Ikaros mit seinen schwachen Schwingen zu hoch hinaus wollte, gab er einem Meer den Namen. (Ovid 1967, 33) Im Zuge der mittelalterlichen Ovid-Moralisierung wird der ungehorsame Ikarus zum warnenden Beispiel jugendlicher Unbändigkeit, wenn nicht gar als Beispiel des Hochmuts stilisiert: Er ist der Sohn, der in seiner Begeisterung seine Kräfte maßlos überschätzt und die väterlichen Ratschläge missachtet (Aurnhammer 2005, 140). Es handelt sich um eine Interpretationslinie, die in Renaissance und Barock fortgeführt wird. So wird in Sebastian Brands Narrenschiff (1494) Ikarus neben Phaethon als närrischer Sohn angeführt, da beide »irs vatter rot« (ihres Vaters Rat) missachteten, was sie mit dem Tod bezahlen mussten (Brand 1986, 100, XL 21-24). Seit der frühen Neuzeit lässt sich allerdings eine Erweiterung des Interpretationsspektrums konstatieren, wobei Ikarus zunehmend als positive Figur gehandelt wird (Aurnhammer und Martin 1998, 252). Er wird als der ewige Rebell gefeiert, der, vom Wissensdrang getrieben, die Grenzen des Möglichen und Erlaubten auslotet und sich von Ängsten und Vernunft nicht bändigen lässt (Aurnhammer 2005, 151). Bezeichnendes Beispiel dieser Umdeutung ist das Sonett von Jacopo Sannazaro, Icaro cadde qui (1530), in dem das Los von Ikarus als beneidenswert gepriesen wird: Hier stürzte Ikarus: das wissen diese Wellen, die in ihrem Schoß Jene kühnen Federn empfingen; hier endete der Lauf, und hier ereignete sich der große Sturz, der die andern mit Neid erfüllen wird, die noch kommen werden. Seine Mühe wurde reich belohnt, im Tod erwarb er ewigen Ruhm! Glücklich, wem solcher Tod beschieden und solch schöner Lohn den Schaden ersetzt!
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Wohl kann der mit seinem Untergang zufrieden sein, der einer Taube gleich in den Himmel flog und wegen zu großer Glut entkräftet starb. Und nun hallt weit von seinem Namen ein so weites Meer wider, eine Naturgewalt: Wer hatte in der Welt jemals ein so großes Grab? (Sannazaro 1998) Die Figur von Ikarus als Sinnbild des Fluges an sich fasziniert Künstler und Mythenforscher gleichermaßen: Eliade erklärt, dass der mythische Flug einen Einschnitt in den Alltag darstellt, da Fliegen für den Menschen der Inbegriff von Transgression und Freiheit sei, weshalb auch Flügel als Symbol der Überwindung der eingeschränkten menschlichen Natur fungiert (Eliade 1999, 115). Für Lacarrière ist die Popularität der Figur von Ikarus damit zu erklären, dass er vom menschlichen Traum zu fliegen erzählt, einem Traum, dem auch das Risiko des Sturzes nichts anhaben kann (Lacarrière 1995, 40).12 Besonders prominent ist in diesem Mythos allerdings auch die Dimension der Hybris: Zusammen mit Dädalus steht Ikarus für die Macht der Technik, die dem Menschen erlaubt, sich buchstäblich über seine natürlichen Grenzen hinwegzuheben – sein tragisches Schicksal mahnt daher an die Hybris-Dimension des Unterfangens (der Himmel ist den Göttern vorbehalten!), sei es, dass er selbst oder aber sein Vater durch ihn bestraft wird.13 Wir sehen, dass – je nachdem, welcher Aspekt betont werden soll – Ikarus’ Flug oder eher sein Sturz in den Vordergrund gerückt werden. Während die literarischen Bearbeitungen der Ikarus-Figur eine enorme semantische Bannbreite aufweisen, scheinen bildliche Darstellungen in erster Linie den Sturz zu fokussieren: Ikarus wird nicht im Flug dargestellt, in der Stunde seines Triumphes, sondern als der Stürzende, Ertrinkende, Verschwindende. Doch auch hier lassen sich unschwer unterschiedliche Schwerpunkte erkennen. In einigen Abbildungen wird das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in Szene gesetzt: Etwa in den barocken Abbildungen von Crispijn van de Passe, De val van Icarus (1602-1607), und Antonio Tempesta, Der Fall des Icarus (1606), oder, extrem, in der Zeichnung von Francisco Goya, Dédalo viendo caer a su hijo Ícaro (1825-1828), der Dädalus mit schmerzverzehrtem Gesicht in den Vordergrund setzt (Abb. 3).
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Dies wäre auch eine Erklärung für die Tatsache, dass die Pilotenausbildung der Griechischen Luftwaffe »Schule der Ikaren« (Scholi Ikaron) genannt wird. Bereits bei Ovid (Met. VIII, 152-198) wird der Sturz von Ikarus als Sühne Dädalus’ interpretiert, vgl. Aurnhammer 2005, 138; Lacarrière 1995, 62.
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Abb. 3 (links): Francisco Goya: Dédalo viendo caer a su hijo Ícaro (1825-1828), Bleistiftzeichnung. Abb. 4: Honore Daumier: The Fall of Icarus (1842), Lithographie.
Links: Madrid: Prado. Rechts: Athen: National Gallery.
Der Beschreibung Ovids folgend (Met. VIII, 217-220) betonen viele Künstler die Zuschauer: Von dem Fresko aus Pompei bis zum Gemälde von Marc Chagall, The Fall of Icarus (1975), verfolgen staunend Menschen dem himmlischen Spektakel. Fast schon parodistisch verzehrt wird die Zuschauerlust zum Thema bei Honoré Daumier, The Fall of Icarus (1842) (Abb. 4), und Wolfgang Mattheuer, Seltsamer Zwischenfall (1984). Eine der berühmtesten Lesarten verändert gerade in diesem Punkt die ovidische Vorlage:14 In Pieter Brueghels bekanntem Bild, Landschaft mit dem Fall von Icarus (1555), diesem »Vexierbild des humanistischen Pessimismus«,15 bleibt Ikarus’ Tod unbeachtet: niemand der potentiellen Zuschauer verfolgt mit Staunen den Flug, niemand bemerkt den Ertrinkenden. Auch uns würden die strampelnden Beine und die gekräuselte Wasseroberfläche kaum auffallen, wenn uns nicht der Titel des Werkes darauf aufmerksam machen würde. Es handelt sich um eine besonders »unbarmherzige« Abbildung, da sie die Wirkung des Sturzes auf die Welt, 14 15
So gesehen kann man hier von einer Mythenkorrektur sprechen, wie sie Vöhler und Seidenstricker (2005, 3) verstehen. Dies der Untertitel der spannenden Studie des Kunsthistorikers Beat Wyss (1990).
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also gerade das Folgenreiche daran, infrage stellt. Dieses Nicht-beachtet-werden ist dann auch der Aspekt von Brueghels Interpretation, der wiederum zum eigentlichen Reflexions-Gegenstand späterer Werke wurde und den Ausgangspunkt einer separaten Referenzkette bildet.16 So bezieht sich etwa W.H. Auden explizit auf Brueghels Gemälde: Er eröffnet sein Gedicht Musée des Beaux Arts (1938) mit den Zeilen: About suffering they were never wrong, The old Masters Die letzte Strophe ist Brueghels Ikarus gewidmet: In Breughel’s Icarus, for instance: how everything turns away Quite leisurely from the disaster; the ploughman may Have heard the splash, the forsaken cry, But for him it was not an important failure; the sun shone As it had to on the white legs disappearing into the green Water, and the expensive delicate ship that must have seen Something amazing, a boy falling out of the sky, Had somewhere to get to and sailed calmly on. (Auden 1945) Einen Weltkrieg später lässt W.C. Williams sein Gedicht Landscape with the Fall of Icarus (1960) wie folgt enden: Insignificantly off the coast there was A splash quite unnoticed this was Icarus drowning. (Williams 1962) Ikarus’ Sturz mag unbeachtet verlaufen sein, doch zugleich, so könnte man diese Texte lesen, erfüllt die Kunst – die Dichtung in diesem Fall – vorbildlich ihre Funktion, auf das von der Mehrheit Übersehene hinzuweisen. Nicht zuletzt finden wir Künstler, die sich auf den in den Tod stürzenden Ikarus konzentrieren: Hendrick Goltzius mit der Druckgraphik Ikarus (1588), Henri Matisse mit seinen leuchtend blauen Ikarus-Lithografien, The Fall of Icarus (1944) und Icarus (1947), August Rodin unter anderem mit seinen Bleistiftzeichnungen Icare
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Schmitz-Emans spricht von der »Intertextualität von Bildern« und bringt das Gemälde von Brueghel als Beispiel für eine solche »Kette von Texten, die sich auf Bilder beziehen, die sich ihrerseits auf Texte beziehen« (Schmitz-Emans 2002, 203ff.).
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(1900) und Arc-en-ciel (1900-1905), der deutsche Künstler Bernhard Heisig mit seinen Ikarus-Gemälden, wie etwa Der Tod des Ikarus (1979).17 In diesen Darstellungen finden sich keine Zuschauer und somit haben wir, die Rezipienten, keine Identifikationsfigur: wir werden mit dem Fakt des Sturzes an sich konfrontiert. Bei der Betrachtung der verdrehten Glieder der Skulptur von Rodin, L’illusion, sœur d’Icare (1895), spürt man förmlich den Aufprall (Abb. 5).
Abb. 5 (links): Auguste Rodin: L՚ illusion soeur d՚ Icare (1895). Marmorskulptur. Abb. 6 (rechts): Evangelos Moustakas: Dem gefallenen Piloten (2000).
Links: Paris: Musée Rodin. Rechts: Eisenskulptur. Athen: Karaiskaki Platz. Quelle: https://glypto.wordpress.com/2007/01/ 08/moustakas-pesonres-aeroporoi/
Eine extrem drastische Darstellung findet sich in Athen. Es handelt sich um das Monument auf dem Karaiskaki-Platz, zu Ehren der gefallenen Piloten. Der Bildhauer Evangelos Moustakas lässt den jungen beflügelten Ikarus mit dem Kopf auf eine Steinplatte prallen (Abb. 6) – die Tatsache, dass der Sockel wasserumspült sein sollte (was zwar installiert, aber niemals in Funktion gesetzt wurde), mildert den Eindruck kaum.
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Bernd Heisig hat eine Reihe von Ikarus-Gemälden angefertigt. Überhaupt scheint der IkarusMythos, in dem das Verhältnis zwischen Utopie und Wirklichkeit verhandelt wird, symptomatisch für die DDR zu sein, vgl. Greiner und Harst 2008, 197ff. In einer entsprechenden Ausstellung in Weimar wurden ca. 260 Arbeiten aus der DDR präsentiert. Siehe https://prom etheus-bildarchiv.de/de/series/2012/43/index (zuletzt besucht: 17.8.2020).
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Schluss: Aegeus, Ikarus und die Folgen Doch die Geschichte behält Gestalten des Scheiterns im Sinn Günter Kunert, Ikarus Charles Baudelaire lässt in dem Gedicht Les Plaintes d’un Icare (1857) (einen) Ikarus klagen, dass nicht einmal sein Name überleben wird, hier in der Übertragung von Stefan George von 1901: Klagen eines Ikarus Die dirnen mit ihren buben Sind aufgelegt glücklich und satt .. Und ich – meine arme sind matt Die sie in wolken sich gruben. Die unvergleichlichen sterne Die glänzend am himmelsgrund stehn Lassen die augen nur ferne Sonnen-erinnrungen sehn. Ich wollte des ungeheuern Mitte finden und schluss· Ich fühle wie unter feuern Mein flügel zerfallen muss. Und den liebe zum Schönen verbrennt – Es wird nicht einmal ihm die ehre Dass die ihn begrabende leere Mit seinem namen man nennt. (Baudelaire 1930, 121-122) Hier ist Ikarus nicht mehr die einsame Figur des sich über das irdische Maß Erhebenden, das Künstlerideal, das den Tod in Kauf nimmt, um Unsterblichkeit zu erlangen. Bei Baudelaire wird seine Einmaligkeit im Kollektiv der Verlierer aufgehoben: es sind ja die Klagen eines und nicht des Ikarus. Man könnte behaupten, hier wird die Umkehrung, welche Brueghel eingeführt hat, das Nicht-beachtet-werden, durch eine indifferente Welt auf die Spitze getrieben, indem ihm sogar sein Nachruhm verweigert wird. Zugleich ist dieses Gedicht als solches ein weiterer Beweis für das Nachleben der mythischen Figur von Ikarus.
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Man kann im Fall von Aegeus und Ikarus von produktiven Missverständnissen sprechen, da die zwei Stürze ins Meer zur Namensgebung der entsprechenden Gewässer geführt haben. Zugleich – und dies ist vielleicht der eigentliche Ruhm – bilden die zahlreichen Neu-Inszenierungen in Bild und Text bleibende Spuren bis heute. Die Namen der Ägäis und des Ikarischen Meeres erinnern an den Sturz der mythischen Figuren, an Niederlagen also, die, so scheinen Aegeus und Ikarus zu beweisen, einen längeren Schatten werfen als vermeintliche Siege. In den Worten des ewig trübsinnigen Günter Kunerts: Ikarus Es sind ein paar Federn geblieben nach seinem tiefen Sturz. Höhenflüge dauern eben kurz und werden zur Warnung beschrieben gegen Übermütigkeiten. Doch die Geschichte behält Gestalten des Scheiterns im Sinn. In Clios Hauptbuch verzeichnet Gewinn die dürftigsten Berichte. Der Untergang als letzter Akt ist dem Vergessen entzogen. Und steigt aus des Alltags Katarakt wie ein seltsamer Regenbogen. (Kunert 2005, 38)
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Poseidon: Kafka und Borges Katerina Karakassi
Mythos und Literatur »Am Anfang der Literatur ist der Mythos, und ebenso am Ende« (Borges 1982, 27), lautet der Abschlusssatz der »Parabel von Cervantes und Don Quijote« von Jorge Luis Borges. Borges verweist somit nicht nur auf den Mythos als das Rohmaterial, aus dem sich diverse literarische Gattungen speisen, sondern auch und vor allem auf die enge Verschränkung von Literatur und Mythos. So eng ist aber die Literatur mit dem Mythos verwoben, dass man behaupten könnte, dass am Anfang des Mythos die Literatur war und ebenso an dessen Ende, oder wie es Hans Blumenberg ausgedrückt hat, schon »die Stufe [der] ersten […] Formation« eines Mythos sei literarisch. Der Mythos ist nämlich, so Blumenberg, »[…] nur ein Muster […], auf dem und mit dem man kühn umgehen kann« (Blumenberg 1971, 18). Von solchen Mustern ist sowohl die Mythologie als auch die Literatur durch und durch besetzt, sie kreuzen sich, sie verändern sich, sie verflechten sich und bilden immer neue Gefüge, neue narrative Gebilde. Kann man also in dieser Hinsicht behaupten, wie auch Borges impliziert, dass die Literatur den Fundus von Mythen erweitert, so geht Blumenberg zudem auch von der Unmöglichkeit aus, den Ursprung bzw. die Ursprünge eines Mythos ausfindig zu machen, denn schon am Anfang – so Blumenberg – liegt uns jeder Mythos »nur in Gestalten seiner Rezeption« vor (Blumenberg 2006, 299). Der Mythos, der in dieser Hinsicht stets ein Produkt der Arbeit am Mythos ist, unterliegt einer permanenten Aktualisierung, wird demontiert bzw. destruiert und immer wieder neu arrangiert. Zu diesen Transformationen des Mythischen, die bis über seine Entmythologisierung hinausreichen, kommen im Laufe der Zeit immer wieder neue Mythen hinzu, wie z.B. Don Quijote, und bereichern ihrerseits das Arsenal von Mythen und Mythologemen, also von Erzählsegmenten, von Motiven, Stoffen und Figuren, die selbst im Nachhinein variiert werden können. Auch wegen dieser Elastizität und des ihm innenwohnenden Potenzials sich zu generieren bzw. sich zu regenerieren, hat sich der Mythos jeder Kanonisierung bzw. jeder poetologischen Reglementierung entzogen, er hat sich sogar »einer einheitlichen Definition« widersetzt (Jamme 1999, 515). Es würde den Rahmen dieses
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Beitrags sprengen, auch nur annäherungsweise die verschiedenen Positionen bzw. Definitionsversuche, die den Mythos betreffen, zu rekapitulieren. Da im Folgenden auf den Poseidon-Stoff, seine literarischen Transformationen bzw. Transgressionen fokussiert wird, sollte man zum einen festhalten, dass der Mythos stets zwischen Konstanz und Variation oszilliert und als eine Sprache gedacht werden soll, »aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag« (Lévi-Strauss 1972, 231). Zum anderen sollte man, wenn man sich mit dem Mythos befasst, stets in Betracht ziehen, dass unsere Kultur trotz der vom Mythos ausgehenden, andauernden Faszination ihm gegenüber eine im Grunde genommen höchst ambivalente Haltung einnimmt. So wird einerseits der Mythos in der westlichen Tradition oft als die »Chiffre des radikal Anderen« (Bürger 1982, 41), als Gegenpol zum Logos bzw. zur Ratio markiert. Mythos ist in diesem Rahmen ein Relikt aus einer zeitlich vergangenen und räumlich entfernten, uns fremden Welt, ein Zeichen einer »unreifen oder fehlerhaften Weltsicht« (Koschorke 2010, 90). Andererseits wird Mythos aber auch als ein Korrektiv und Komplement des Logos angesehen, »als zeitloses Pendant zum technisch-wissenschaftlichen Diskurs oder auch als Teilbereich oder Tiefenschicht der eigenen Kultur« (Engehrn 1996, 13) und als »eine in der Moderne ungebrochen fortgesetzte soziale Aktivität« (Koschorke 2010, 90). Ist die Literatur an diesem heute mehr oder weniger überholten Streit um die Differenz zwischen Logos und Mythos tief verwickelt, so ist es vor allem das generative Potential des Mythos, das sie explizit oder implizit hervorhebt. Wie die Literatur der Moderne und der Postmoderne die vermeintliche Opposition zwischen Mythos und Logos inszeniert bzw. wie sie die Schwelle zwischen Mythos und Logos imaginiert, wird im Rahmen dieses Beitrags am Beispiel von Franz Kafka und Jorges Louis Borges und deren Rückgriff auf den Mythos Poseidon nur ansatzweise skizziert. Im Zentrum des Interesses steht nämlich die jeweilige textuelle Maschinerie, die in Gang gesetzt wird, und die dafür sorgt, dass ein antiker Mythos in modernem Gewand erscheint, das »bei aller zeitbedingten Verschiedenheit einen gleichbleibenden Kern« voraussetzt (Fuhrmann 1971, 130) und dabei mit neuen Konnotaten versehen wird.
Poseidon zwischen Mythos und Literatur Die Aussagen über Poseidon, den Gott des Meeres und aller Gewässer, wie er uns schon bei Homer vorgestellt wird, zeichnen sich eher durch ihre Ambiguität aus. In der Ilias wird Poseidon, Sohn des Kronos und der Rhea, Bruder des Zeus und des Hades, mit denen er die Herrschaft über die Welt teilt, zum Gott der Meere gekrönt. Obwohl er im Meer lebt, bezeichnet man ihn auch als Erdhalter und Erd-
Poseidon: Kafka und Borges
erschütterer. Ein Charakteristikum, das auch Hesiod in seiner Theogonie hervorhebt; Poseidon ist, so Hesiod, derjenige, »der die Erde umschließt und zum Beben bringt« (Hesiod 2014, 9). Mit seinem Dreizack kann er also Erdbeben und Stürme erregen, während Pferde seine prächtige Kutsche tragen. Seine Beziehung zu den Pferden macht ihn somit auch zum Gott der Reitkunst. Es ist bezeichnend dafür, dass er beim Streit mit der Göttin Athena um die Schutzherrschaft von Athen in einer Version des Mythos Kekrops ein Pferd anbietet. Doch wie Burkert bemerkt: »Poseidon zeugt das Pferd, beherrscht das Meer, doch es ist Athena, die das Zaumzeug und Zügel erfindet, die das erste Schiff baut« und sie triumphiert über ihn auch in Athen (Burkert 1977, 219). Doch es ist nicht nur seine Beziehung zu dem Erdinneren und zu den Pferden, die ihn mit dem Festland verbindet, es ist auch die Tatsache, dass er Mauern errichten kann. So ist er bei Hesiod derjenige, der die ehernen Pforten vor dem Tartarus baut und diese durch eine Mauer einkreist (Kraus 1998, 36). In der Ilias hilft er beim Bau der Mauer um Troja, die ja bekanntlich überaus schwer zu stürmen war, doch er zürnt den Troern, weil Laomedon, der Vater von Priamos, ihm seinen Lohn nicht aushändigte und er sie deshalb büßen lassen möchte. Sind dabei »seine Äußerungen […] sowie sein Verhalten gegenüber den beiden Kriegsparteien […] nicht ganz widerspruchsfrei« (Hirschberger 2008, 13), so dominiert auch in diesem Rahmen sein Zorn. Als ein Gott, »der sich beleidigt und gekränkt fühlt und der aus dieser Empfindung heraus handelt« (Usener 1990, 73), wird er zum ersten Mal in der Ilias schriftlich herauskristallisiert. Poseidon scheint dabei sozusagen zwischen den Stühlen zu sitzen: im Gegensatz zu Zeus, der auf dem Olymp saß und über die Erde herrschte, und Hades, der die Allmacht über das Todesreich genoss. Seine prekäre Stellung erklärt u.a. auch, weshalb seine Macht eher begrenzt ist. In der Ilias findet sie ihren Höhepunkt im Zuge eines gewaltigen Erbebens, das sogar Hades bis ins Mark erschütterte und ihn aufschreien ließ. Aber auch in der Odyssee, die als eine Fortsetzung bzw. Variante des Streites zwischen der Göttin Athena bzw. Zeus und Poseidon gelesen werden kann, scheint sein Groll letztendlich sein Ziel zu verfehlen, Odysseus überlebt trotz aller Widrigkeiten und kommt heil in Ithaka an. Die Archäologen gehen davon aus, dass im Kult dieser Zeit Zeus und Poseidon miteinander konkurrierten, denn sowohl die Ilias, die ihn als einen eher launischen und gekränkten Gott darstellt, als auch die Odyssee, die ihn als zornig und besonders nachtragend präsentiert, legen davon Zeugnis ab. Sie zeigen ihn in seiner Rivalität mit Zeus, u.a. als einen Rebellen, der aber angesichts der Macht seines jüngeren Bruders doch kompromissbereit ist, und als einen rachsüchtigen Gott, der wie besessen Odysseus verfolgt, ihn aber letztendlich nach diversen Interventionen von Athena bzw. von Zeus heil heimkehren lässt. Und wie Joannis Mylonopoulos, bemerkt:
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Selbst in den Szenen, in denen Poseidon nicht als das personifizierte Böse erscheint, macht er einen eher humorlosen Eindruck: Als beispielsweise alle Götter sich köstlich über die zwei in die Falle geratenen Liebestäubchen Ares und Aphrodite auf dem Ehebett des betrogenen Hephaistos amüsieren, ist Poseidon als Einziger nicht in der Lage, auch das Komische an der Situation zu erkennen. (Mylonopoulos 2003)
Kafka: Poseidon im Büro Kafka setzt sich in seiner gleichnamigen Kurzerzählung humorvoll mit Poseidon auseinander und radikalisiert dabei die dem Poseidon-Mythos immanente Ambiguität. Der Text, den Kafka 1920 geschrieben hat und der 1936 von Max Brod publiziert wurde, ist eine typisch kafkaeske, also recht paradoxale Geschichte: Poseidon, der Meeresgott, wird als hochrangiger Beamter stilisiert, der »in der Tiefe des Weltmeeres« seiner Arbeit nachgeht, ununterbrochen rechnet und dabei die Meere kaum gesehen und folglich auch »niemals wirklich durchgefahren« (Kafka 2002a, 302) hat. Diese ihm auferlegte, für ihn recht öde Aufgabe, betrübte ihn zutiefst: »Am meisten ärgerte er sich – und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt – wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere.« (Kafka 2002a, 301f.) Die Eintönigkeit seines Lebens wird gelegentlich von einer Reise zu Jupiter unterbrochen – »eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte« (Kafka 2002a, 302). Das kleine, Fragment gebliebene Prosastück wird gemeinhin als Parabel gelesen. Es gibt Deutungen, die von einem biografisch-psychologischen, einem gesellschaftskritischen, philosophischen oder religiösen Hintergrund ausgehen (vgl. u.a. Allemann 1975; Born 1970; Diller 1980; Goebel 1986; Hoffmann 1984; Wagner 2012; Markotic 2018). Die meisten Autoren lesen den Text auch als eine Kritik an die Moderne und ihre bürokratische Kultur. Auf die etlichen Deutungen, die der Text initiiert hat, kann hier nicht eingegangen werden. Exemplarisch möchte ich kurz zwei grundverschiedene Ansätze präsentieren, die die generative Potenz des Mythos bzw. der Literatur in ihrem Umgang mit dem Mythos veranschaulichen und dabei einen tieferen Einblick in die kleine Erzählung Kafkas gewähren. ›Poseidon‹ wird von Vivian Liska in ihrem 1996 erschienenen Aufsatz mit dem Titel »Stellungen. Zu Franz Kafkas ›Poseidon‹« als das »groteske Zusammenspiel zwischen dem mythischen Bereich des griechischen Gottes und der modernen Beamtenwelt« und als ein »parodistisches Bild eines grimmigen, misstrauischen, ewig unzufriedenen, in eine undurchsichtige Hierarchie verstrickten Verwalters« (Liska 1996, 226f.) gedeutet. Am wichtigsten ist nach Liska jedoch, dass Poseidon dabei mehr mit seiner eigenen Stellung, die ihn nicht zufriedenstellt, beschäftigt
Poseidon: Kafka und Borges
ist als mit dem Rechnen. Er hat sich des Öfteren um eine andere Stellung bemüht, aber keine sagte ihm zu, oder, wie es im Text weiter expliziert wird: Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen […]. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; […] an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben. (Kafka 2002a, 301) Wünscht sich also Poseidon eine andere Stellung, eine »fröhlichere Arbeit« (Kafka 2002a, 301), wie es im Text steht, so entpuppt sich dies im Laufe des Textes als aussichtlos. Ähnlich ergeht es aber, nach Liska, auch dem Leser, der vom Text herausgefordert wird, seine eigene Stellung zu bedenken, indem er schließlich zu dem Schluss kommt, dass jeglicher Versuch, die Erzählung zu erschließen, verurteilt ist, an den Widersprüchen, an den Paradoxa des Textes zu scheitern. Aus dieser Perspektive ist der Text eine hermeneutische Falle: »Solange der Leser wie Poseidon auf die Stellung der Verwaltung, der Beherrschung des Textes durch einen absoluten, objektivierbaren, verallgemeinernden Sinn fixiert bleibt, ist auch seine Arbeit unendlich und letztlich aussichtlos.« (Liska 1996, 237) Hebt somit Liska in ihrer immanenten Lektüre von »Poseidon« die Stellung des Helden und des Lesers hervor, von einer Isotopie ausgehend und darauf hinweisend, dass der Text die unendliche Lesbarkeit bzw. die grundlegende Unlesbarkeit der Literatur demonstriert, so fokussiert Burkhardt Wolf in seinem 2016 erschienenen Aufsatz mit Titel »Kafka in Habsburg. Mythen und Effekte der Bürokratie« auf das Rechnen und den historischen Kontext, in dem die Erzählung entstand. Er geht auf die Verwaltungsapparatur der Habsburgischen Monarchie ein, indem er Kafkas Erzählung als Gegenstück zu Thomas Hobbes Leviathan liest. Dient Leviathan, das altbiblische Seeungeheuer, Hobbes dazu, den Mythos des Souveräns ins Bild zu setzen, so dient Poseidon Kafka, einen neuen Herrschaftsmythos zu illustrieren. Es handelt sich um einen Herrscher, dessen Reich (ganz wie dem habsburgischen) offenbar ein fester Grund [fehlt], wie der der Volksgemeinschaft, in dem sich ein Nationalstaat verwurzeln könnte; andererseits wird dieser Mangel durch bürokratische Gründlichkeit kompensiert. Poseidon waltet über sein unergründliches Reich nur, indem er es bis ins Letzte verwaltet. (Wolf 2016, 200) Dabei hat er trotz des unendlichen Arbeitspensums keine Macht: es ist nicht nur, dass er »an seinen Schreibtisch gekettet ist« (Wolf 2016, 200), sondern auch, dass die Macht eigentlich in den Händen einer Persiflage liegt, nämlich in den Händen
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von Jupiter, den Wolf eher als eine römische Karikatur des griechischen Gottes Zeus ansieht. Was diese beiden Deutungsansätze, die aus verschiedenen theoretischen Perspektiven den Text potenzieren und hier notwendigerweise in aller Kürze präsentiert wurden, in ihrer Divergenz zeigen, ist nicht nur, dass Kafkas Text eine zutiefst aporetische Struktur hat, die etliche Interpretationen auslösen kann, sondern auch, dass diese aporetische Struktur eng mit der Figur des Poseidon verknüpft ist. Dabei ist er die sinnstiftende Instanz im Text (der Text hätte einen ganz anderen Sinn, wenn anstatt Poseidons z.B. Joseph K. die Hauptfigur wäre) und zugleich ist das Einsetzen von Poseidon in diesem Kontext genau das, was die Vieldeutigkeit der Erzählung ausmacht, denn er ist eine Figur, die mit diversen Konnotaten aufgeladen ist und mehrere Vorgeschichten hat, die ebenso widersprüchlich sind, wie die neue Mythosvariante, die Kafka liefert. So hat Kafkas Poseidon von der Ambiguität seiner antiken Vorbilder die feste Stellung als Gott der Meere, die tiefe Unzufriedenheit, die begrenzte Macht, die Rivalität mit Zeus bzw. mit Jupiter, den Zorn, aber auch die Besessenheit geerbt. Sogar all die Attribute einer humorlosen Figur zeichnen ihn aus. Der Text transportiert und transformiert zugleich Aspekte der antiken Poseidon-Figur in die Moderne, um sie dabei in neuen Syntagmen einzubetten und sie somit mit neuen Paradigmen zu verbinden. Und in dieser Hinsicht scheint diese kafkaeske Mythos-Kontrafaktur eine entmythologisierende Geste zu sein, die auf eine radikale Umdeutung des Mythos hinausläuft, weil sie Poseidon in einer profanen Welt situiert und ihn zudem in einer Welt vorsieht, über die er nicht mehr waltet, sie dafür aber verwalten soll. Jedoch schon der Name »Poseidon« zusammen mit einem Bestandteil der Elemente, die von der Vorgeschichte der Figur herrühren, ist genug, um ins Mythologeme einzutauchen, was der Text entweder bestätigt (z.B. ist er der Gott der Meere), negiert (z.B. ist er immerfort mit dem Dreizack in den Fluten unterwegs), impliziert (Poseidon hat viele Gehilfen, was auf sein Gefolge hinweist) oder verschweigt (z.B. hat er eine besondere Beziehung zu Pferden). Schweben dabei auch diejenigen Mythologeme mit, die nicht zur Sprache kommen, so gibt es eine entscheidende Differenz zu allen Prätexten, mit denen Kafkas Text ein intertextuelles Verhältnis pflegt, und die als die notwendige Prämisse fungiert, damit sich das Narrativ, das dem modernen Poseidon ein Denkmal setzt, entfaltet. Diese Voraussetzung befindet sich – quasi als programmatische Aussage – am Anfang des Textes, denn Kafkas Texte, wie Gerhard Neumann zurecht bemerkt hat, »proben Anfänge« (Neumann 1992, 122) und das ist der Satz: »Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete« (Kafka 2002a, 300). Während Kafkas Poseidon in seinem Büro sitzt und rechnet, ist der aus den Überlieferungen bekannte Poseidon wesentlich beweglicher. Er herrscht über das Meer und er kann es natürlich auch befahren: Er reitet auf den Wellen, während
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er bei den meisten seiner Abenteuer, in denen er als Handlungsträger auftritt, sich auf offenem Meer befindet. Durch diesen ersten Substitutionsvorgang, der als Urszene funktioniert und bei dem »sich bewegen« und »agieren« durch »sitzen« und »rechnen« ersetzt werden, bzw. das offene Meer, die Beweglichkeit sich in ein tristes Dasein in einem Büro verwandelt, eröffnet sich erst der narrative Raum, in dem Kafkas Poseidon residieren wird, um dort seine öde Arbeit zu verrichten. Dekoriert wird der Raum von Konnotaten, die dem Leser allzu bekannt sind und ihm trotzdem, da so de-kontextualisiert, grotesk vorkommen, weil sie sich u.a. auch mit anderen »Mythologien« und diskursiven Formationen verweben: nicht nur mit der römischen Mythologie, deren Exponent Jupiter ist, sondern auch mit der protestantischen Ethik und ihrem Arbeitsethos – Kafkas Poseidon ist ein Exemplum eines solchen –, aber auch mit der christlichen Lehre der Apokalypse, auf die die Schlusspointe des Textes hinweist: »Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.« (Kafka 2002a, 302) All dies zeigt, dass neben der Substitutionsmechanik, die das geheime Relais des Textes zu sein scheint, mehrere semiotische Systeme im Spiel sind, um den alten Mythos variierend und modifizierend zu regenerieren und somit zu aktualisieren. Doch in der Literatur in ihrer Verknüpfung mit dem Mythos finden sich nicht nur Ersatzmechanismen und Strategien, die auf die Verflechtung von diversen Kodierungen abzielen. Deshalb wird im Folgenden an einem anderen Text Kafkas, der sich ebenso auf Poseidon bezieht, demonstriert, dass auch ohne einen Substitutionsvorgang eine neue Variante des Poseidon-Mythos kreiert werden kann.
Kafka: Poseidon im Zirkus Das Fragment, das direkt vor »Poseidon« in Konvolut 1920 steht, ist nicht so bekannt wie »Poseidon« und wird deshalb hier in voller Länge zitiert: Im Zirkus wird heute eine große Pantomime, eine Wasserpantomime gespielt, die ganze Manege wird unter Wasser gesetzt werden, Poseidon wird mit seinem Gefolge durch das Wasser jagen, das Schiff des Odysseus wird erscheinen und die Sirenen werden singen, dann wird Venus nackt aus den Fluten steigen womit der Übergang zur Darstellung des Lebens in einem modernen Familienbad gegeben wird. Der Direktor, ein weißhaariger alter Herr, aber noch immer der straffe Zirkusreiter, verspricht sich vom Erfolg dieser Pantomime sehr viel. Ein Erfolg ist auch höchst notwendig, das letzte Jahr war sehr schlecht, einige verfehlte Reisen haben große Verluste gebracht. Nun ist man hier im Städtchen. (Kafka 2002b, 300)
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Wie man schon beim Überfliegen des Textes erkennen kann, funktioniert das narrative Verfahren in diesem Fragment additiv, denn es bündelt verschiedene mythologische Figuren zusammen, quasi als eine Reihe von Paradigmen, deren gemeinsamer Nenner die Beziehung zum Meer ist. Interessanterweise geht es aber auch hier um Rechnen und Berechnen. Diese Bricolage von Kafka, wie Karlheinz Stierle sie nennen würde, die als »umformender Umgang mit dem Überlieferten« (Stierle 1971, 470) Poseidon, Odysseus, die Sirenen sowie Venus in einer Pantomime vereint und sie als ein Spektakulum inszeniert, stellt sie in ihrer unterhaltenden bzw. medialen Funktion als Objekte dar, die die Schaulust der Zuschauer befriedigen sollen. Auf die Bedeutung von Gestik und Gestikulation, die mit der Pantomime eng verbunden sind, sowie von Zirkus und Zirkusartisten für Kafkas poetisches Universum kann hier nicht näher eingegangen werden (vgl. u.a. Bauer-Wabnegg 1986; Schiffermüller 2011; Jürgens 2016). Wichtig ist jedoch für unseren Zusammenhang zu erwähnen, dass Zirkus und Zirkusartisten in Kafkas Œuvre immer wieder auftauchen – Kafka selbst war ein passionierter Zirkusgänger – u.a. als Signum der Körperlichkeit und des Körpers (vgl. Neumann 2002; Karakassi 2005), daher war in diesem Rahmen höchstwahrscheinlich auch die nackte Venus notwendig. Mit den Zirkusartisten korreliert zudem bei Kafka fast immer eine ästhetische Verschwendung, die mit wirtschaftlichen Problemen einhergeht und die sich auch bei diesem Zirkus als ökonomischer Engpass bemerkbar macht: die Show mit dem mythischen Ensemble soll ja »einige verfehlte Reisen« und die daraus resultierenden »Verluste« kompensieren. Die große Wasserpantomime scheint dabei spektakuläre Phantasmagorien anzubieten und ist deshalb umso überraschender, da Venus nackt aus dem Wasser steigt und dies als »Übergang zur Darstellung des Lebens in einem modernen Familienbad gegeben wird« (Kafka 2002b, 300). Wie ist dies aber überhaupt zu verstehen? Die Manege befindet sich vollkommen unter Wasser und stellt am Anfang eine Miniatur des Meeres dar. Das mythische Personal macht genau das, was von ihm erwartet wird. Poseidon mit seinem Gefolge ist auf der Jagd, Odysseus ist mit dem Schiff unterwegs, die Sirenen lassen ihren Gesang erklingen und Venus entsteigt dem Wasser. In der darauffolgenden Szene verwandelt sich die Manege vom Meer in eine gewöhnliche Badeanstalt. Was in diesem wohlbemerkt »modernen Familienbad«, das allerdings in völligem Kontrast zum »antiken« Meer der vorherigen Szene steht, vor sich geht, wird nicht näher erläutert. Hervorzuheben ist jedoch, dass es sich um die Darstellung des Lebens in einem modernen Familienbad handelt. In dieser Hinsicht haben wir es hier zunächst mit einer Isotopie zu tun, das Meer en miniature, das selbst nichts mehr als eine Kulisse ist, transformiert in ein Familienbad. Signalisiert dabei der Übergang vom Meer zur Badeanstalt den abrupten Übergang von der Antike zur Moderne, so bleibt unklar, ob dieselben Figuren der ersten Szene die Badenden in der zweiten Szene darstellen werden. Es lässt sich nur ver-
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muten, dass sie es sind, denn die Badenden im Familienbad sind eher anonym – auf alle Fälle bleiben sie im Rahmen der Fiktion namenlos –, im Gegensatz zu den mythischen Figuren zu Beginn. Deshalb ist es auch von Bedeutung, dass diese mythischen Figuren als stumme Gestalten, als dressierte Pantomimenkünstler in Erscheinung treten. Diese Relikte einer antiken Mythologie, die in einem künstlichen Arrangement präsentiert werden, wie nur ein Narrativ es erst ermöglichen kann, brauchen nicht zu sprechen, denn ihre Namen, ihre Handlungen, ihre Gesten, ihre Kostüme sprechen für sich. Und deshalb kann man m.E. dieses Fragment von Kafka auch als einen metaliterarischen Kommentar, nicht nur über den Wiedererkennungswert der mythologischen Figuren, sondern auch über die Verformbarkeit des Mythos lesen. Übrigens ist es kein Zufall, dass von Poseidons enger Beziehung zu Pferden offenbar nur der Direktor, der straffe Zirkusreiter, etwas geerbt hat. Er ist ja auch derjenige, der letztendlich offene Rechnungen hat, die er begleichen muss. Doch es gibt auch andere Wege, andere Zugänge zum Mythos als die, die Kafka in seinen Texten beschritten hat, und ein solcher wird im Folgenden an einem Text von Borges, einem leidenschaftlichen Kafka-Leser, gezeigt.
Borges: Poseidon im Tempel In seinem Essay »Kafka und seine Vorläufer«, der zuerst 1951 publiziert wurde, stellt Borges fest: »Tatsache ist, dass jeder Schriftsteller seine Vorläufer erschafft« (Borges 1981, 116) und erklärt, dass das Werk Kafkas unsere Sicht auf die Vergangenheit verändert hat, indem er entscheidend die Art und Weise, wie wir etwas lesen, verändert hat. Und genauso wird er auch die Zukunft verändern. Dasselbe gilt nicht nur für Kafka, sondern auch für Borges, einen Vorreiter der Postmoderne, der in seinem kleinen Prosatext – man könnte es auch ein Gedicht nennen – mit dem Titel »Der Poseidon-Tempel« aus einer ganz anderen Perspektive Poseidon ein Denkmal setzt und somit uns u.a. zum Überdenken der Differenz zwischen Logos und Mythos auffordert, ein Problemfeld, das, wie im Folgenden gezeigt wird, auch Kafka beschäftigt und eine bedeutende Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Mythos spielt. Der Anlass für die Niederschrift des Textes war ein Besuch des Poseidon-Tempels auf Kap Sounion, den Borges 1984 unternommen hat; er ist in einem Sammelband zu finden, der den Titel Atlas trägt und in dem Borges Texte, die er während seiner Reisen um den Globus geschrieben hatte, vereint hat. Der Poseidon-Tempel Ich hege den Verdacht, daß es weder einen Meeresgott noch einen Sonnengott gab. Beide Vorstellungen sind dem urzeitlichen Denken fremd. Es gab das Meer und es gab Poseidon, der auch das Meer war. Viel später würden die Theogonien
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und Homer kommen, der nach Samuel Butler die komischen Interludien der Ilias mit weiteren Fabeln verwob. Die Zeit und der Krieg haben das Bild des Gottes weggefegt, aber das Meer bleibt seine andere Emanation. Meine Schwester sagt oft, daß die Kinder dem Christentum vorausgegangen sind. Trotz der Kuppeln und der Ikonen gilt dasselbe auch für die Griechen. Ohnehin war ihre Religion weniger eine Disziplin als vielmehr eine Menge Träume, deren Gottheiten weniger vermochten als Ker. Der Tempel stammt aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, das heißt, aus einer Ära, in der die Philosophen alles anzweifelten. Es gibt nichts auf dieser Welt, das nicht mystisch wäre, aber dieses Mysterium ist bei bestimmten Dingen offensichtlicher als bei anderen. So beim Meer, bei der Farbe Gelb, bei den Augen der Alten und bei der Musik. (Borges 1989, 414)1 Um das narrative Gerüst des Textes näher zu untersuchen, sollte man zunächst auf Samuel Butler eingehen, dessen Name im Text vorkommt, und der den Zugang zu diesem von Leerstellen übersäten Text erleichtern wird: Den Namen Samuel Butler tragen zwei Autoren und beide sind aus England. Der erste Samuel Butler, 1612 geboren und 1680 gestorben, ist berühmt für ein komisches Epos, das er geschrieben hat (Hager 2004, 57–60); der zweite Samuel Butler ist ebenfalls Schriftsteller. Er lebte zwischen 1835 und 1902, ist für seine lustigen Aphorismen bekannt und hat Homer ins Englische übersetzt.2 Welcher Butler hier gemeint ist, ist eigentlich unwichtig, denn mit dem Einsatz des Namens Samuel Butler verbindet der Text das Epos mit der Komik und subsumiert zugleich, was für die Interludien der Ilias behauptet wird. Ähnlich, aber nicht gleich, verfährt der Text mit den Göttern der Griechen, die in keiner Weise an
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»Sospecho ue no hubo un Dios del Mar, como tampoco un Dios del Sol; ambos conceptos son ajenos a mentes primitivas. Hubo el mar y hubo Poseidón, que era también el mar. Mucho despues vendrían las teogonías y Homero, que según Samuel Butler urdió con fábulas ulteriores los interludios cómicos de la Ilíada. El tiempo y sus guerras se han llevado la apariencia del Dios, pero queda el mar, su otra efigie. Mi hermana suele decir que los niños son anteriores al cristianismo. A pesar de las cúpulas y de los iconos también lo son los griegos. Su religión, por lo demás, fue menos una disciplina que un conjunto de sueños, cuyas divinidades pueden menos que el Ker. El templo data del siglo quinto antes de nuestra era, es decir, de aquella fecha en que los filósofos ponían todo en duda. No hay una sola cosa en el mundo que no sea misteriosa, pero ese misterio es más evidente en determinadas cosas que en otras. En el mar, en el color amarillo, en los ojos de los ancianos y en la música.« (Borges 1989, 414) Für die Übersetzung ins Deutsche möchte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Elke Sturm-Trigonakis meinen herzlichen Dank aussprechen. Samuel Buttler hat nicht nur die Ilias und die Odyssee um 1900 ins Englische übersetzt, sondern 1892 auch einen Essay mit dem Titel »The Humour of Homer« publiziert (Raby 1991, 238-248).
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den Wert von Ker, Dämon und Göttin des gewaltsamen Todes heranreichen können. Dabei ist zu bemerken, dass Ker, die insbesondere mit dem Sterben im Krieg und im Kampfgeschehen verbunden ist, als mythische Figur sowohl in der Ilias als auch bei Hesiod vorkommt.3 Weist somit Ker auf den Krieg und den Tod hin und intensiviert diese zugleich, wird dadurch auch ein Bezug zu Homer und Hesiod hergestellt, während Ker und der Krieg den Göttern der Griechen und den Träumen gegenübergestellt werden. Man sollte aber auch Poseidon nicht unerwähnt lassen, dessen Bild zwar durch den Krieg verblasste, durch das Meer aber – seine Emanation – stets omnipräsent bleibt. Somit gelangt man zu einem zentralen semantischen Knotenpunkt des Textes, in dem sich das Lustige und die Träume mit dem Krieg und dem Tod verflechten und auf Poseidon hindeuten, der aber, obschon längst abwesend, trotzdem in einer anderen bzw. in einer immer schon da gewesenen Gestalt noch anwesend ist. Erinnert aus dieser Hinsicht Poseidon an Schrödingers Katze, die gleichzeitig lebendig und tot ist, so zeugen die Oppositionen, die sich um Poseidon ranken, von der prekären Zeitproblematik, die den Text durchzieht und die typisch für Borges ist (vgl. u.a. Donnelly 2012). Vom urzeitlichen Denken zur Macht der Zeit und bis zu unserer Zeitrechnung bewegt sich der Text, indem er dem Leser von der anfänglichen Unmittelbarkeit und Unvermittelbarkeit der menschlichen Erfahrung, von der mythischen Deutung der Welt, von der Entstehung der Philosophie und dem Auftauchen der christlichen Religion erzählt. Dabei wird eine Vorzeit imaginiert, in der Mensch und Natur eins waren und das vom Logos gebändigte Zeichenbewusstsein noch nicht geprägt war, und in diesem Rahmen sind auch die Kinder zu verstehen, die dem Christentum vorausgegangen sind, die mit den Griechen, die ebenso dem Christentum vorausgegangen sind, auf derselben paradigmatischen Reihe stehen. So gesehen besteht die Weltgeschichte, wie sie im Text inszeniert wird, aus lustigen Pausen – das sind die Interludien –, die gegenüber dem Tod und dem Vergehen der Zeit eigentlich keinen Bestand haben können; sie durchläuft zudem einen Weg von der Unmittelbarkeit der menschlichen Erfahrung zum Sakralen und von dort zum Profanen, um wieder einer Metaphysik, wie der des Christentums, zu verfallen. Der Text scheint dabei, obwohl er sich mit der Zeit, ihrem Verlauf und ihrer Macht befasst, selbst außerhalb der Zeit zu stehen: es ist nämlich unklar, von welchem Zeitpunkt aus alles erzählt wird. Aber es gibt noch etwas, was außerhalb des Machtbereiches der Zeit zu sein scheint, etwas, das genauso mystisch ist wie es immer war, und das ist das Meer, die Emanation Poseidons. Es ist übrigens der einzige Name, der im Text zwei Mal vorkommt, am Anfang und am Ende, während das Meer dabei drei Mal erwähnt wird. Dies bestätigt so3
Bei Homer ist Ker »ein dunkles dämonisches Wesen, das verderbenschaffend auf dem Schlachtfeld wütet« (Otto 1983, 50).
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mit nicht nur die vertrackte Struktur und die Wiederholungstaktik des Textes und enthüllt dabei das Meer als die Hauptachse der narrativen Konstruktion, sondern weist auch darauf hin, dass ein Tempel für Poseidon nicht unbedingt aus Säulen bestehen muss, man kann ihn durchaus auch mit Worten anfertigen, die wie Musik klingen. Und das ist genauso mystisch wie alles andere auf dieser Welt.
Borges und Kafka: Poseidon zwischen Literatur und Mythos Wenn man nun Kafkas Poseidon-Figurationen mit dem Text von Borges vergleichen möchte, sollte man vor allem den Rekurs auf das Christentum und seine Kodierungen beachten, der ohne jegliche metaphysische Wehmut artikuliert wird, sowie die den Texten immanente Zeitkonstruktion, die damit verwoben ist, berücksichtigen. Im Fall von Borges sind wir am Ende des Textes wieder am Anfang, bei Poseidon und dem Meer, das zyklische Erleben der Zeit steht somit im Vordergrund und suggeriert die ewige Wiederkunft des Gleichen. Bei Kafka demonstriert sich bei Poseidon als Buchhalter ebenso die unendliche Wiederholung des Gleichen, während am Ende der Erzählung das Anhalten des zeitlichen Verlaufs, der Augenblick vor dem Weltuntergang als Wunschdenken desavouiert wird, etwas, was die ewige Fortsetzung des selbigen suggeriert und Poseidon auf dieselbe paradigmatische Reihe mit Sisyphos stellt (vgl. Born 1970). Im Gegensatz dazu weist die irritierende Sprungraffung zwischen der antiken und der modernen Welt bei Poseidon im Zirkus auf die kinematographischen Darstellungstechniken und ihren Einfluss auf Kafkas Schreiben hin und lässt das Fragment in seiner extrem kompensierten Zeitstruktur ein Monument des Transitorischen erscheinen. Führt Poseidon bei Kafka ein armseliges Leben als Verwalter bzw. tritt als stumme Figur in einem Zirkus auf, so spiegelt sich darin die für Kafka typische Ästhetik des Absurden. Dabei deutet Poseidon als Inschrift der Logistik, wie wir es heute nennen würden, auf die Unterwerfung des Mythos unter den Logos im Zeitalter des Fordismus hin4 , während Poseidon, der Pantomimenkünstler, der als ein gestikulierendes Artefakt, als eine Karikatur seines mythischen Vorläufers inszeniert wird, ein Signum des Flüchtigen zu sein scheint, das die Diskontinuität als Grunderfahrung der Moderne demonstriert.
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Seinen Eindruck, dass in der szientifisch-technischen Ära der Moderne der Logos den Mythos völlig entmachten könnte, wenn nicht schon entmachtet hat, hält Kafka in einem weiteren Fragment fest, das Poseidon gewidmet ist und das im Oktavheft H (Ende Januar 1918 bis ca. Anfang Mai 1918) zu finden ist: »Poseidon war überdrüssig seiner Meere. Der Dreizack entfiel ihm. Still saß er an felsiger Küste, und eine von seiner Gegenwart betäubte Möwe zog schwankende Kreise um sein Haupt.« (Kafka 2002c, 109) Eine ähnliche Abneigung gegen das ständige Rechnen hegt auch der etwas später entstandene Poseidon.
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Löst sich somit Kafka vom mythischen Urgrund ab, aus dem die Poseidon-Figur entsprang, indem er sie ironisch und distanziert in die Moderne situiert, so scheint Borges von einer »unio mystica« zwischen Mythos, mit dem die Literatur eng verschränkt ist, und Kosmos auszugehen (Rössner 1985, 432). In dieser Hinsicht klingt in seinem Text die Animismus-Vorstellung, der »Glaube an die Beseeltheit der Natur« (Schlatter 2005) nach, so wie sie etwa Edward B. Tylor geprägt hat, aber auch das »prälogische oder mystische Denken« (Gess 2013, 15), das Lucien Lévy-Bruhl den frühen Menschen und den Kindern attestiert hat. Grenzt sich mit den Denkfiguren des Animismus und des Primitiven »die Moderne konstitutiv gegen ihr Anderes ab« (Albers und Francke 2016, 9), so scheint Borges diese Grenzziehung, die Jack Goody »Grand Dichotomy« (Goody 1995, 146f.) genannt hat, literarisch zu überwinden. Indem er nämlich den Mythos als Matrix inszeniert, die die Weltgeschichte durchzieht – der wiederholte Rekurs auf das Meer und auf Poseidon, die den Text strukturieren, weist ja auf seine stets gegenwärtige Präsenz hin –, destruiert er das hierarchische Verhältnis zwischen Logos und Mythos: Wenn es nichts »auf dieser Welt« gibt, »das nicht mystisch wäre«, dann ist auch der Logos, den die »Philosophen, die alles anzweifelten« (Borges 1989, 414), dem Mythos gegenüberstellten, mystisch und somit mit dem Mythos eng verwoben. In dieser Hinsicht versteht Borges Poseidon sowie die Welt in ihrer palimpsestartigen Fraktur als ein Produkt der Literatur, an dessen Anfang und Ende der Mythos steht. Als solches ist er eng mit seiner Poetik verbunden, in der sich Logos und Mythos verflechten und sich die Divergenz zwischen ihnen als Trug entpuppt. Auch aus diesem Grund ist Poseidon bei Borges der Gewalt der Zeit nicht ausgeliefert: als Manifestation der Macht der Literatur ist er veränderbar und zugleich unvergänglich. Und dieses ständige Oszillieren zwischen Beständigkeit und Wandelbarkeit ist das, was den Mythos auszeichnet: Sei es als Emanation des Meeres, als ZirkusArtist oder als Verwaltungsbeamter, der uns von Überlieferungen bekannte Poseidon bekommt bei Borges und Kafka neue Konturen, ohne sich seines alten Gewandes völlig zu entledigen. In dieser Hinsicht ist der Mythos der Inbegriff der ewigen Wiederkunft des Gleichen, das allerdings jedes Mal in anderem Kostüm, in anderer Maskierung, mit anderer Ausstattung erscheint und den Anspruch erhebt, als ein Novum gelesen und interpretiert zu werden, oder wie Borges es in einem seiner letzten Gedichte mit dem Titel »Das Glück« formuliert hat: Es gibt nichts Altes unter der Sonne. Alles geschieht zum ersten Mal, aber auf ewige Weise. Wer meine Wörter liest, erfindet sie dabei. (Borges 2008, 291) Und dasselbe gilt für den Mythos, der in jeder seiner Variationen seine Nachfolger in sich trägt und seine Vorläufer erschafft, indem er sie erdichtet.
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Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten Julian Happes und Julian Zimmermann
»Am beliebten Reiseziel Ägäis werden Sie aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Neben bedeutenden historischen Stätten wie Troja, Pergamon oder Ephesus sind es die hinreißenden Naturlandschaften rund um das nordöstliche Mittelmeer, die Urlauber vom ersten Augenblick an in ihren Bann ziehen. Ein prachtvoller Sandstrand jagt hier den nächsten, geheimnisvolle und einsame Lagunen können hinter jeder Ecke unvermittelt auftauchen.«1 Mit diesen verheißungsvollen Worten bewirbt ein Reiseveranstalter im Jahr 2020 seine Ägäiskreuzfahrt. Auch Mittelmeerreisende des 15. Jahrhunderts wissen die kulturellen und natürlichen Kostbarkeiten des östlichen Mittelmeers zu schätzen. Gleichzeitig ist das Meer für sie aber auch Gefahrenraum: Es drohen windt unnd schrickh, der Soldan unnd die Türckhen. Statt sich an einem überladenen Buffet gütlich zu tun, darben die Schiffsreisenden bei wasser unnd broth. Es ist diese Divergenz der Raumwahrnehmungen in der ersten großen Phase privater, fast pauschalreisen-ähnlicher Mobilität im europäischen Mittelalter, die den geschichtswissenschaftlichen Blick auf den geografischen Raum des östlichen Mittelmeers und somit auch auf die Ägäis lenkt. Zugang zu diesen Raumwahrnehmungen und deren literarischer Konstruktion gewähren Jerusalempilgerberichte, die zu den beredtsten Zeugnissen vormoderner Mobilität gehören. Das gilt auch für die Aufzeichnungen des Basler Ritters Hans Bernhard von Eptingen von seiner Reise ins Heilige Land im Jahre 1460. Kontextualisiert wird der Text durch den Blick auf weitere literarische Zeugnisse der spätmittelalterlichen Pilgerreise, hier exemplarisch das Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem des Ulmer Dominikaners Felix Fabri, der 1480 und 1483 ins Heilige Land reiste, sowie die Aufzeichnungen des Konstanzer Bürgers Konrad Grünemberg, der 1486 Jerusalem besuchte.2 Der Blick in diesen
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https://www.phoenixreisen.com/aegaeis-kreuzfahrt-mit-phoenix-reisen-durchs-oestliche-mi ttelmeer.html (zuletzt abgerufen am 27.02.2020). Konrad Grünembergs und Felix Fabris Aufzeichnungen zählen zu den besterforschtesten Pilgerberichten des 15. Jahrhunderts. Vgl. zu Person, Werk und Überlieferung hier nur Denke
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Quellenbestand soll dabei helfen, die Wahrnehmung, vielmehr aber noch die literarische Verarbeitung der Ägäis durch die Reisenden nachzuzeichnen. Die Ausführungen schließen somit an die sogenannten cultural turns an.3 Gerade der als Ausbildung eines wissenschaftlich-kritischen Raumverständnisses verstehbare spatial turn schuf ein differenziertes Verständnis des Raumbegriffes für historische Fragestellungen (Bachmann-Medick 2006, 290f.). In dieser Neuausrichtung der Geisteswissenschaft liegt großes Potenzial für die Einbindung des Raums als historische Bezugsgröße, sei es durch den Blick auf begrenztere (z.B. städtische) Mikroräume, sei es durch neue Denkanstöße zur Erforschung von Makroräumen wie dem Mittelmeer oder in diesem Fall der Ägäis. Lange Zeit prägte den Blick der Geschichtswissenschaft auf das Mittelmeer die wirkmächtige Forschung von Fernand Braudel, der in seinem dreibändigen und im Sinne einer histoire totale verfassten Werk (Braudel 1987) raumanalytisch von einem gemäßigten Determinismus ausgeht, um das Mittelmeer für eine Geschichtsschreibung der longue durée fruchtbar zu machen (Günzel 2019, 25f.).4 Raum zeigt sich als vielschichtige historische Bezugsgröße, als zugleich determinierendes wie ermöglichendes Element, das nicht zuletzt auch bei den mittelalterlichen Zeitgenossen zu konkreten Wahrnehmungsmustern und literarischen Raumkonstruktionen geführt hat. Diesem Phänomen soll durch die Brille des spätmittelalterlichen Pilgerberichts nachgegangen und dabei die Verarbeitung spezifischer Raumentwürfe analysiert werden.
Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Raum Spätestens seit den 1980er-Jahren gewann der Raum, verstanden als soziales Konstrukt, als wichtige Bezugsgröße historischer Forschung sukzessive an Bedeutung.5 Es ist die Erkenntnis der sozialen Konstruiertheit von Raum, die seit der Forschung Henri Lefebvres bis heute die geisteswissenschaftliche Raumtheorie
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2011 und Schröder 2009. Die Berichte werden zitiert nach Hassler 1843-1849 (im Folgenden Fabri) und Denke 2011 (im Folgenden Grünemberg). Vgl. zum Raum als Analysekategorie (historischer) Forschung Bachmann-Medick 2006, 288f. und zur Konjunktur des Raums als Forschungsobjekt Tiller 2011a, 9-15. Der spatial turn scheint, analog zu anderen geisteswissenschaftlichen turns der vergangenen Dekaden, mehr eine Renaissance von bereits Gedachtem bzw. dessen Anpassung an die zeitgenössischen Forschungsbedürfnisse darzustellen (vgl. Gerok-Reiter und Hammer 2015, 485). Vgl. zur forschungsgeschichtlichen Ambivalenz des Raumbegriffes zwischen deterministischen Ansätzen (Raum als Bedingung) und Possibilismus (Raum als Möglichkeit) Günzel 2019, 24-27. Auch die aktuelle Konjunktur der ocean studies knüpft an Braudels wirkmächtiges Grundlagenwerk an (Conrad 2013, 207f.). Vgl. grundlegend zur Entwicklung der Raumtheorie und -philosophie im 19. und 20. Jahrhundert Günzel 2019, 23f. und zur sozialen Konstruiertheit von Raum Oberste und Ehrich 2009, 9f.; Bachmann-Medick 2006, 285f. Vgl. zudem für einen Überblick über die Entwicklung der
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
prägt.6 Die daran anknüpfende geschichtswissenschaftliche Forschung brach sich zunächst in der Erforschung urbaner Kontexte bahn.7 Doch das Potenzial des Raums als Analysekategorie geht nicht alleine im Städtischen auf, sondern lässt sich auf mannigfaltige historische Phänomene anwenden. Der Blick richtet sich dabei grundsätzlich auf die […] soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeutet. (Bachmann-Medick 2006, 290) Es ist der Blick auf menschliche Handlungen, die Raum konstituieren und durch kulturelle Codes lesbar machen,8 der nicht zuletzt das Forschungsinteresse auch auf die Erfahrung, Wahrnehmung und Beschreibung von Raum in spätmittelalterlichen Reiseberichten lenkt. Raum versteht sich dabei nicht nur als menschlich produziert, sondern vorrangig als mit sozialer Praxis verknüpft, wodurch er folgerichtig auch Element der Herstellung sozialer Beziehungen ist (Bachmann-Medick 2006, 292). Der in diesem Beitrag nachzugehenden und mit dem Raum auf das Engste verbundenen sozialen Praxis ist die der Reise und somit eine Handlung, die per se Element der Herstellung sozialer Beziehungen ist, wie Folker Reichert betont: »[…] Jedes Reisen bringt Besucher und Besuchte zusammen und stellt Formen des Kulturkontakts her, in denen sich die politischen, kulturellen und ökonomischen Verhältnisse spiegeln.« (Reichert 2007, 65) Der Raum ist dann auf der einen Seite ebenso Element sozialer Beziehungen, wie auf der anderen soziale Praxis stets mit dem Raum verbunden ist. Soziale Praxis und Raum bedingen und formen sich daher reziprok.9 Soziale Produktion von Raum meint darüber hinaus aber auch die Konstruktion von Raum durch topografische Kulturtechniken, wie Kartierung, Verortung und Raumbeschreibung (vgl. Bachmann-Medick 2006, 311f.). So entstehen erst ›kulturelle Codes‹, die Raum als soziales Produkt lesbar und auf Basis dieser Wahrnehmung Neukonfigurationen
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Raumtheorien in der Geschichtswissenschaft ebd. 313-318 und für andere Disziplinen (wie die Geografie) ebd. 307-312. Vgl. grundlegend Lefebvre 2001; Tiller 2011a, 18f.; Tiller 2011b, 64f. Vgl. für einen ersten Einblick Oberste und Ehrich 2009; Classen 2009; Bachmann-Medick 2006; Pauly und Scheutz 2014. Vgl. hierzu grundsätzlich Löw 2001. Siehe auch Tiller 2011b, 87, die explizit auf »[d]as Vermögen des sprachlichen Codes, durch fiktionalisierende Sinngenerierung beliebige Räume nicht nur zu beschreiben, sondern narrativ auszugestalten […]« hinweist. Vgl. Böhme 2005, XV: »Raum und Räumlichkeit muß, um überhaupt gedacht werden zu können, erfahren werden. Dies bedeutet: Die Bewegungen, die wir mit unserem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was wir historisch, kulturell, individuell als Raum verstehen.«
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von Raum möglich machen. Das europäische Spätmittelalter bietet sich als Zeit steigender Reisemöglichkeit und Mobilität als Untersuchungsfenster geradezu an, um den Blick auf diese Prozesse zu richten.10
Raumwahrnehmung und Raumbegriff Raum ist in seiner Wahrnehmung stets verknüpft mit lokalen Spezifika, Aktivitäten, Sozialbeziehungen und Einschreibungen, die in Form von mental maps, Emotionen, Gedächtnis bzw. Erinnerungskulturen oder auch Bedeutungskämpfen vorkommen können. Raum wird hier nicht als ein statischer Behälter begriffen, sondern die Bewegung von und im Raum, also seine Dynamik, berücksichtigt (vgl. Günzel 2019, 24). Der durchquerte Raum ist also nicht als feststehende, objektiv gegebene Entität im Sinne eines mathematisch und vermessungstechnisch erfassbaren Raums zu verstehen.11 Der beschriebene Raum und dessen Strukturierung durch den Pilger ist weniger von abstrakten Raumvorstellungen beeinflusst, als »[…] durch die Phänomene, die sich in ihm befinden und durch die Bewertung, die er erfährt« (Scior 2002, 22).12 Der Raum wird als diskursives Konstrukt im Sinne einer sich den Erwartungshaltungen des Pilgers anpassenden Größe verstanden (Baumgärtner, Klumbies und Sick 2009, 9). Das Ziel der Forschung bleibt dabei zumeist die Untersuchung der raumbildenden Praktiken (Bachmann-Medick 2006, 308).13 Zu diesen zählt auch die Wahrnehmung der Ägäis auf der spätmittelalterlichen Reise sowie deren anschließende literarische Verarbeitung und damit einhergehende Konstruktion des Raums.14 Diese können verstanden werden als Ausprägungen einer imaginative geography.15 Konzepte der imaginative geography (Said 1978), des third space (Soja 2005; Bhabha 1990) oder der Heterotopien (Foucault 10
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Diese Beobachtung gilt insbesondere für das 15. Jahrhundert, in welchem neue Formen der Raumproduktion den typisch mittelalterlichen Diesseits-Jenseits-Dualismus ablösten und somit erst neue Raumbegriffe- und Produktionen durch (beispielsweise literarische) Kulturtechniken ermöglichten (Tiller 2011b, 56f.). Besonders in der älteren Pilgerforschung wurde dieser Ansatz verwendet, so in: Khattab 1982 und Feilke 1976; vgl. Jahn 1993, 26-28. Vgl. zum mittelalterlichen Raumverständnis die Sammelbände Moraw 2002 und Vavra 2007. Vgl. Löw 2001, 158f. und Tiller 2011a, 16f. Zur kulturellen Produktion von Raum vgl. Tiller 2011a, 11. Siehe auch Günzel 2019, 31: »Ein individuell erfahrener Raum und dadurch reproduzierter Raum ist zugleich auch ein in der Planung produzierter und ein gesellschaftlich bedeutsamer Raum.« Eine verwandte Form der semantischen und narrativen Identifikation von mediterranen Räumen zeigt sich bei antiken Beschreibungen von Inseln (vgl. Bendemann et al. 2016, 15) und der grundsätzlichen sozialen Produktion insularer Räume (vgl. ebd. 33). Said 1978. Vgl. zu Edward Saids imaginative geography v.a. Gregory 1993 und siehe auch Bachmann-Medick 2006, 295.
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
1990, 38)16 sind Raumkonzepte, in denen Vorstellungen zum geografisch begrenzten Raum und symbolisch-sozial konstituierte Raumvorstellungen verschmelzen (Günzel 2019, 26f.). Es sind diese beiden Pole, geografisch bzw. politisch begrenzter sowie symbolisch-kulturell aufgeladener Raum,17 die uns in Pilgerberichten – so die Annahme – entgegentreten. Diesem Ansatz folgend soll die Analyse des Textes drei spezifische Raumentwürfe offenlegen: (1) Der geografische Raum als Hindernis auf dem Weg zum religiösen Pilgerziel. (2) Der politische Raum als Konfliktzone zwischen Serenissima und dem Osmanischen Reich. (3) Zuletzt der mythische Raum Ägäis, der sich zwischen antike Mythen aufgreifender curiositas der Pilger und der Wahrnehmung christlicher Heilsgeschichte als Teil einer imaginative geography äußert. Diese drei Raumentwürfe sind in Schichten übereinandergelegt und bedingen sich gegenseitig.
Zwischen Venedig und Konstantinopel – die Ägäis als Raum des Spätmittelalters Die in der Folge zu behandelnden Reiseberichte fallen zeitlich in eine für das östliche Mittelmeer und die Ägäis wichtige historische Umbruchphase. Der mittelalterliche Pilger trat mit gleich mehreren geopolitischen Konstellationen in Kontakt. Zunächst war dies die gerade aus westlicher Sicht omnipräsente Macht (und zugleich Reiseausgangspunkt) Venedig, das seit der Wende zum Hochmittelalter sich zunächst als Großmacht in der Adria etablieren konnte und in der Folge intensiver Expansionsbemühungen im Spätmittelalter zur Drehscheibe zwischen Ost und West wurde.18 Gerade die Ägäis erwies sich dabei für Venedig als zentraler Raum der Beherrschung maritimer Handelsrouten zwischen dem östlichen Mittelmeer und der Apenninenhalbinsel. Als die Serenissima 1258 als Sieger aus der Schlacht mit Genua bei Akkon hervorging, war die Vorherrschaft der Markusrepublik in der Levante besiegelt (Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 94). Bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts stieß man im Raum der Ägäis auf die Kykladen vor und die Inseln Naxos, Anafi, Santorini, Kos, Mykonos, Tinos und Andros wurden, wenn auch teilweise nur für kurze Zeit, dem Gebiet der Seerepublik einverleibt.19 Die venezianischen 16 17 18
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Siehe für eine detailliertere vergleichende Beschreibung der Begriffe Günzel 2019, 29f. Symbolische Räume verstehen sich dabei auch als Ausdruck eines gesellschaftlichen Gefüges (Günzel 2019, 31f. und vgl. auch Bachmann-Medick 2006, 298f.). Siehe für einen konzisen Überblick zum inneritalienischen Aufstieg Venedigs sowie den Konflikten mit den anderen italienischen Stadtstaaten Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 43-65 und für einen Überblick zu den venezianischen Gebieten im östlichen Mittelmeer, mit einem Fokus auf den zentralen Inseln Kreta und Zypern, ebd., 94-114. Die Kykladen erwiesen sich als schwer kontrollierbar, da die venezianische Strategie, die einzelnen Inseln Mitgliedern der venezianischen Nobilität zu unterstellen, nicht zu einer ein-
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Expansionsbestrebungen des späten 12. und v.a. 13. Jahrhunderts zielten jedoch nicht auf die Eroberung möglichst großer Landmassen, sondern vorrangig auf die Beherrschung des östlichen Mittelmeers und der Handelsrouten. Stützpunkte oder Kolonien, allen voran die zentralen Glieder des venezianischen Kolonialimperiums Kreta und Konstantinopel, dienten dabei der Sicherung der Ostmittelmeerrouten durch die Ägäis, die über Stützpunkte auf der Peloponnes hin zum adriatischen Heimathafen führten (Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 96f.).20 Mit dem Fall von Byzanz und der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmed II. (vgl. Howard 2018, 91-94) fand der schon seit der Wende zum 15. Jahrhundert andauernde Aufschwung des Osmanischen Reichs als neue Macht im Ostmittelmeer seinen symbolischen Höhepunkt.21 Dies bedeutete keinesfalls einen raschen und unaufhaltsamen Abstieg Venedigs als Großmacht in dieser Region, ebenso wie aus dieser Situation nicht eine grundsätzliche Konfliktlage abgeleitet werden sollte. Auch wenn es beispielsweise 1416 und 1430 zu militärischen Konflikten zwischen den beiden Mächten kam, blieb die venezianische Haltung gegenüber dem Osmanischen Reich zunächst von einer pragmatischen Politik der Annäherung geprägt, obwohl die venezianische Vorherrschaft im Ostmittelmeer durch den neuen Kontrahenten eingeschränkt wurde.22 Dies führte zu einer relativ friedlichen Koexistenz zwischen Osmanischem Reich und Serenissima in der Ägäis und der Levante, die erst zwischen 1463-70 aus Streit um erhöhte Abgaben für venezianische Kaufleute und die Hoheit über maritime Handelsrouten endete (Howard 2018, 106f.; Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 195). Die Reise unserer Hauptquelle fällt somit mit dem Jahr 1460 noch in diese relativ friedliche Phase. Diese sukzessive Verschiebung der politischen Herrschaftsräume und die Konflikte zwischen den dadurch tangierten Akteuren führten nicht nur zu einer neuen geopolitischen Lage im spätmittelalterlichem Mediterraneum, v.a. der Levante,
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heitlichen Linie, sondern zu einer chaotischen und durch persönliche Vorteilsnahme, Scharmützel und Konflikte geprägten Politik führte, die zahlreiche Kykladeninseln nach kurzer Zeit wieder (und ohne große venezianische Gegenwehr) zurück in griechische oder osmanische Hand führte (vgl. Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 96-98). Den Blick auf die Kykladen richtet zudem exemplarisch die jüngere Forschung der Insularitäten bzw. island studies. Siehe für einen Forschungsüberblick hierzu Bendemann et al. 2016, 7-11 und ebd. 27-33 mit einem Schwerpunkt auf das Mittelmeer und die Geschichtswissenschaft. Vgl. zur herausgehobenen strategischen Bedeutung von Inseln für Handels- und Reisewege sowie militärische Interessen Bendemann et al. 2016, 19f. Vgl. hierzu Howard 2018, 57-65 und zum Aufstieg des Osmanischen Reiches als Kontrahent der Serenissima im Ostmittelmeer Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 194. Dies verdeutlicht auch die nur halbherzige Unterstützung Venedigs für Konstantinopel gegen den osmanischen Angriff 1453 sowie der noch im selben Jahr besiegelte Ausgleich Venedigs mit dem Sultan, der v.a. die Aufrechterhaltung venezianischer Handelsaktivitäten absicherte, an denen wiederum auch der Sultan aus pragmatischen Gründen weiterhin interessiert war. Siehe hierzu Feldbauer, Lidl und Morrissey 2010, 194-196.
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
sondern prägte auch die Raumwahrnehmung des östlichen Mittelmeers durch die nach Jerusalem pilgernden Zeitgenossen, also auch die des Basler Ritters Hans Bernhard von Eptingen.
Ein Basler im Heiligen Land – Spätmittelalterliche Pilgerreisen nach Jerusalem Ich Hanns Bernhart von Eptingen Ritter bin Inn solcher Schiffung wie diese Form gestalt ist, gefahren, unnd geweßen über Mehr bey dem heylligen Grabe, unnd sechtzigsten Jahre geschehen. Inn halt Nachgemelten geschrifften, Inn deren ich auch alle erfarne unnd geschehne, worlichen, unnd Aygentlichen auffgeschryben, denen zu leßen zue underrichtung, so auch dahin wöllen.23 Mit diesen Worten beginnen die Aufzeichnungen des Basler Ritters Hans Bernhard von Eptingen über seine Fahrt ins Heilige Land im Jahr 1460. Er bestreitet seine Reise damit zu Beginn der ›Boomphase‹ der spätmittelalterlichen Jerusalempilgerfahrt und wie viele seiner pilgernden Zeitgenossen zeichnet er das erfarne und geschehne auf.24 Erfreute sich die Heilig-Land-Reise bereits seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zunehmender Beliebtheit unter christlichen Fernpilgern, so folgt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine starke Zunahme von Pilgerreisen nach Jerusalem. Mit der beginnenden Reformation stagnieren die Pilgerzahlen wieder, bis mit der Eroberung von Rhodos durch die Osmanen 1522/23 die Hochphase der Jerusalemfahrt endgültig endet (Ganz-Blättler 1990, 41). In den Jahrzehnten nach 1460 steigt die Zahl der überlieferten Palästina-Pilgerberichte signifikant: 53 % der erhaltenen Berichte stammen aus der Zeit nach 1460, darunter allein 65 deutschsprachige Texte (Wolf 1989, 86). Neben grundsätzlichen strukturellen Veränderungen wie einer allgemein gesteigerten Mobilität, besserer Verbreitung von Textzeugnissen durch den Buchdruck, neuer christlicher Heilströmungen und der Aufwertung der Volkssprache (Beloschnitschenko 2004, 13), sorgt vor allem die Institutionalisierung und die damit einhergehende Vereinfachung der Jerusalemfahrt für eine Zunahme der Pilgerzahlen und der überlieferten Berichte.25 Die Besichtigung der heiligen Stätten und die Überfahrt von Venedig nach Jaffa folgt einem streng organisierten Ablauf: Die Reise führt von Venedig aus entlang der dalmatischen 23 24 25
Die Seitenangaben folgen der Edition des Pilgerberichts von Christ 1992, hier 200, fol. 55v, im Folgenden Eptingen. Zwischen 1300 und 1520 sind 262 Aufzeichnungen über Jerusalempilgerfahrten belegt, vgl. Ganz-Blättler 1990, 40 und Huschenbett 2000, 122f. Zur Organisation des Pilgerwesens im Spätmittelalter vgl. Schmugge 1984, besonders 54-83; zur Institutionalisierung der Pilgerfahrt und deren Auswirkung auf die Struktur der Berichte vgl. auch Hippler 1987, 138-173.
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Küste und des kretischen Inselbogens über Rhodos und Zypern nach Jaffa, dem heutigen Tel Aviv, die Rückreise über Santorini und Cambrusa. Die Pilger bewegen sich entlang der venezianischen Handelsrouten.26 Aufgrund der hohen Zahl an Pilgern, der organisatorischen Durchdringung sowie der identischen Reisezeit und der vergleichbaren Reiseroute spricht die Forschung von einer Vorform des Pauschaltourismus.27 Interessant ist der Vergleich mit der Reiseroute der eingangs angesprochenen Kreuzfahrt durch die Ägäis. Die beiden Routen ähneln sich stark. Im Gegensatz zu heute waren im Spätmittelalter Fernreisen über das Mittelmeer aber wohlhabenden städtischen Eliten, Adligen oder Geistlichen mit hohen Pfründen vorbehalten (vgl. Pinto 1982). Damals wie heute sorgen jedoch die vorgegebenen Routen und der hohe Organisationsgrad für einen ähnlichen, ›pauschalen‹ Erfahrungsrahmen der Reisenden und damit für vergleichbare Berichte. Daraus leiten sich drei Grundannahmen für die Analyse von Raumwahrnehmung und ihrer literarischen Konstruktion in spätmittelalterlichen Pilgerberichten ab: (1) Der Pilger ist vorgeprägt durch seine soziale Herkunft, seinen Bildungsstand, seine Erwartungshaltung und nicht zuletzt durch den Adressatenkreis seiner Aufzeichnungen. Bei der Untersuchung des Dargestellten kann also weniger eine Aussage über die tatsächliche Erfahrung des Pilgers getroffen werden – im Sinne einer Sicht durch die Augen der erfahrenden und beschreibenden Person –, der mögliche Erkenntnisgewinn liegt vielmehr in den autor- und zeitspezifischen Wahrnehmungen und Deutungen sowie den darin zugrunde liegenden Vorstellungen (vgl. Goetz 2003, 31f.). Dabei steht die ›Darstellung‹ […] am Ende dieses Prozesses von Wahrnehmung, Bewusstmachung, Deutung und Weitervermittlung. Sie resultiert aus dem bisher Beschriebenen: dem dargestellten, wahrgenommenen ›Faktum‹ und der von der – sowohl individuellen wie zeittypischen – Vorstellungswelt abhängigen Bewusstmachung und Deutung des wahrnehmenden Menschen. (Ebd.) Die Strukturen des Textes, also die Auswahl, Beschreibung und Wertungen des Autors, lassen Rückschlüsse auf die von persönlichen Faktoren beeinflussten Wahrnehmungen und Deutungen zu, wobei immer zu bedenken ist, dass der Reisende nur im Verständnis seines sozialen Rahmens zu begreifen ist (Moos 2004, 4-8). Die Wahrnehmung und Deutung der Erfahrungen des Pilgers wird dabei von weiteren äußeren Faktoren beeinflusst, die sich aus den Gattungsspezifika des Jerusalempilgerberichts, dem zeitlichen und räumlichen Rahmen sowie den strukturellen Besonderheiten der Reise ergeben. 26 27
Zur Rolle Venedigs bei der Organisation und Durchführung der Pilgerreisen siehe Denke 2001, 29-122; Hartmann 2008 und Reichert 2008. Vgl. hier nur Nolte 1997, 66 und Schmugge 1988, 266.
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
(2) Die Texte sind sich daher in ihrer äußeren Form und inhaltlichen Struktur ähnlich.28 Der Rückbezug auf gemeinsame literarische Vorbilder29 oder mündliche und schriftliche Berichte von Zeitgenossen bzw. Reisebegleitern und die durch die Reiseroute und die umfassende Betreuung der Pilger im Heiligen Land vorgegebene Erzählstruktur bedingen dies. Die literarischen Vorbilder genießen dabei eine hohe Autorität. Weniger die eigene ›empirische Erfahrung‹ dient als Maßstab, als vielmehr die tradierte ›Wahrheit‹ (Lehmann-Brauns 2010, 40). Die Textzeugnisse basieren also auf zwei grundsätzlichen Wissensformen, die in den Berichten rekurrierbar sind: das Topos- und Beobachtungswissen.30 Dabei ging man in der bisherigen Forschung von einer Übermacht an tradiertem Wissen aus, mit der die ›persönliche‹ Erfahrung – mit wenig Erfolg – konkurrieren musste (Münkler 2000, 230). (3) Die Pilgerfahrt diente vordergründig dem Nachvollzug der Heilsgeschichte, dem Sündenerlass und dem sozialen Prestige, allerdings lässt sich in den Berichten des 15. Jahrhunderts eine vierte Komponente ausmachen: die Neugier auf Unbekanntes und Fremdes. Auch wenn das Reisen aus Interesse und Erfahrungswillen nach christlicher Wertvorstellung verpönt war, zeigt die Analyse der Berichte eine zunehmende Verlagerung auf die Beschreibung von nicht-religiösen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Zwar wurde curiositas nicht als expliziter Grund für die Reise genannt, stellte aber dennoch eine wichtige Motivation besonders für die weltlichen Pilger dar.31 Durch den hohen Grad an Stilisierung können wir uns einer möglicherweise kollektiven Konstruktion von Raum nähern, Fragen nach dessen bewusster Inszenierung bzw. Wiedergabe stellen. Geklärt werden muss auch, ob die soziale Herkunft des Pilgers, mithin sein Bildungsstand, sich in der literarischen Konstruktion des Raums niederschlägt.
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Ein Umstand, der sie für eine vergleichende Analyse geradezu prädestiniert: Wegweisend: Esch 1982 und 1994. Vgl. zuletzt Schröder 2009. Lange Zeit ging die Forschung von einem sogenannten Pilger-,Baedeker‘ aus, der in großen Auflagen in Venedig an die Pilger verkauft wurde: Sommerfeld 1924, 829f.; die neuere Forschung lehnt dies größtenteils ab. Vgl. Huschenbett 2000, 143-145; Wolf 1989, 86f.; GanzBlättler 1990, 99-110; Hippler 1987, 102-130. »Jenes Wissen, das sich heutigen Exaktheitsanforderungen sperrt, ist Toposwissen – schriftlich überliefertes ›geographisches‹ Wissen, vor allem aus der Antike und der Bibel, dessen Glaubhaftigkeit sich der Autorität der Tradition verdankt. Von diesem Wissen vom Hörensagen, aus zweiter Hand, hebt sich aus heutiger Sicht ein zweiter Wissensbestand ab, der aus der direkten Beobachtung von Phänomenen durch Augenzeugen legitimiert ist.« (Hassauer 1986, 269) Nach Augustinus versagt die Frevelhaftigkeit der concupiscentia und die voluptas oculorum dem Christen die unbeschwerte curiositas (Borgolte 2010, 598f.). Zur Negativkonnotation der curiositas im Mittelalter und in der Pilgerliteratur vgl. hier nur Zacher 1976, 3-59 und Krüger 2002, 7-18.
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Hans Bernhard von Eptingen entstammt dem adligen Geschlecht Gotefrieds von Eptingen, das seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar ist.32 Seine Pilgerreise, die er im Alter von 28 Jahren antritt, bestreitet er als Begleitung und im Dienste Herzog Ottos von Bayern. Er stirbt am 6. Dezember 1484 im Alter von 52 Jahren. Zeit seines Lebens heiratete er mindestens dreimal; biografische Quellen weisen auf seine tiefe Frömmigkeit hin (Beloschnitschenko 2004, 89-91). Hans Bernhard von Eptingen hatte einen hohen Bildungsstand. Neben Lese- und Schreibfähigkeit besaß er gute Kenntnisse der Heiligen Schrift und – in Ansätzen – über antikes Wissensgut. Er beherrschte das Lateinische und welsche (Bärmann 2001, 15). Der Pilgerbericht Hans Bernhards von Eptingen war für das Familienbuch der Herren von Eptingen vorgesehen.33 Neben der Beschreibung der Herkunft der Familie Eptingen sowie der Auflistung der Kriege und Turniere, an denen sie teilnahm, nimmt der Pilgerbericht den größten Teil des Buches ein. Das Familienbuch ist heute in einer Kopie von 1621 erhalten sowie in drei weiteren Manuskripten, die auf dieser Kopie basieren (Christ 1992, 27-37).34 Auch wenn Eingriffe der Kopisten in den Bericht nicht ausgeschlossen werden können, ist er »im wesentlichen ein Produkt des 15. Jahrhunderts« (ebd., 85). Der Abfassungszeitraum kann nicht klar bestimmt werden, der Terminus ante quem ist der Tod Hans Bernhards von Eptingen im Jahre 1484. Die Struktur des Textes und die Wiedergabe der Reise verweisen sowohl auf die Verwendung von während der Fahrt angefertigten Notizen, als auch auf eine zeitnah nach der Heimkehr erfolgte Niederschrift (ebd., 88f.). Welche literarischen Vorlagen er für seinen Pilgerbericht möglicherweise nutzte, ist nicht sicher. Wahrscheinlich gebrauchte er wie viele Jerusalempilger des späten Mittelalters den Bericht des Franziskanerbruders Burchard von Monte Sion von 1283 und die Reisebeschreibung Jean de Mandevilles.35 Kommen wir zur Analyse seiner Raumwahrnehmung und deren literarischen Produktion: Drei Gründe machen die Beschreibung des bewältigten Weges zu einem integralen Bestandteil der Pilgerberichte: Sie bieten dem Leser wertvolle Hinweise für eine mögliche eigene Reise ins Heilige Land; detaillierte und nachvollziehbare Informationen über den bereisten Raum dienen als Beglaubigungsmittel. Die Betonung der Gefahren des Weges und deren Überwindung gelten als wichtiges Motiv der Pilgerreise (Schröder 2009, 313f.). Zwei Räume bestimmen die Rei32 33 34 35
Zur Familie der Eptinger: Baumann 1966/1969 und Schmitt 1962. Die Einbindung von Pilgerberichten in Familienchroniken – besonders vor 1500 – war eine übliche Praxis, vgl. Beloschnitschenko 2004, 86. Michael Bärmann kritisiert die Angaben Dorothea A. Christs zu den überlieferten Kopien und ergänzt diese durch eigene Untersuchungen: Bärmann 2001, 6f., mit Anm. 9. Die Aufzeichnungen des Franziskaners dienten häufig als Vorlage der Pilgerberichte (GanzBlättler 1990, 104). Vgl. Schröder 2009, 77f. und Lehmann-Brauns 2010, 191-242. Vgl. zur Rezeption des Mandeville-Textes in mittelalterlichen Pilgerberichten: Tzanaki 2003, 39-82.
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
se und gliedern den Bericht: Das Heilige Land mit einer vergleichsweise kurzen Stippvisite von knapp zehn Tagen sowie das hier im Zentrum stehende Mittelmeer, auf dem der Pilger fünf Wochen auf der Hin- und acht Wochen auf der Rückfahrt verbringt. Hans Bernhard von Eptingen orientiert sich bei seiner Wiedergabe der Überfahrt an der chronologischen Abfolge der angelaufenen Zwischenstationen, die dazwischen liegenden Passagen werden mit genauen Längenangaben wiedergegeben. Neben zurückgelegten Stunden werden Entfernungen in meylen oder bei kürzeren Distanzen, zum Beispiel bei der Beschreibung einer nahe liegenden Küste, in Armbrustschuetz (ca. 180-240 Meter) wiedergegeben. Hans Bernhard von Eptingen widmet damit der Hin- und Rückfahrt einen nicht geringen Teil seines Pilgerberichts; andere Berichte des späten Mittelalters übergehen die Mittelmeerüberfahrt komplett, geben sie nur itinerarisch wieder oder beschränken sich auf die Hinfahrt und den Jerusalemaufenthalt als entscheidende Teile der Pilgerfahrt (Schröder 2009, 316f.). Der Basler Ritter gibt den durchquerten Raum als Kontinuitätsraum wieder, in Abgrenzung zum Stationenraum, der nur eine schlichte Auflistung und Beschreibung der angelaufenen Orte bietet.36 Das Mittelmeer wird also als geografischer Kontinuitätsraum wahrgenommen, den es mit seinen vielfältigen Gefahren zu überwinden gilt. Die Unwägbarkeiten des Windes während der Überfahrt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Beschreibungen Hans Bernhards von Eptingen. Starker Wind kann das Schiff kentern lassen, beschädigen oder vom Kurs abbringen. Zwischen Castua und Parenzo werden die Böen so stark, dass der Hauptmast bricht und in Parenzo ersetzt werden muss.37 Auch in Felix Fabris Evagatorium wird ein solches Vorkommnis beschrieben, wobei hier ein Seemann durch den herunterfallenden Mast erschlagen wird. Felix Fabri dramatisiert das Ereignis, indem er angibt, direkt neben dem Seemann gestanden zu haben.38 Auch Konrad Grünemberg gibt Ähnliches wieder.39 Immer
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Die Darstellung des Mittelmeeres als Stationsraum beschränkt sich auf die Nennung und Beschreibung der angelaufenen Inseln und Häfen, die dabei beziehungslos und ungeordnet im Raum ›schweben‹. Die Beschreibung als Kontinuitätsraum hingegen verbindet die angelaufenen Stationen durch eine Benennung und Beschreibung der dazwischen liegenden Strecken und konstruiert damit ein Kontinuum; vgl. Jahn 1993, 57-60. Vgl. auch die Unterscheidung in Mikro- und Makroraum bei Harrison 2003 und Schröder 2009, 312-316. […] do waß der schröckhwindt so starckh, daß er warff den hiner Mast, unnd den segelbaum mit dem segell uß den schiff Im wechßlen, deß großen segels, unnd behieng an den seylen biß der wechßel beschach mit dem großen segell, unnd do brach die gert des großen segels, daß wir Ihn müesten herab loßen, unnd machten zue Berentz einen anderen (Eptingen 209, fol. 60v). Fabri, I, 80. Vgl. Schröder 2009, 320. Item zu nach tumb zechne do kam gar ain groser sturm wind und erilt den grosen segel und wolt inn niemanß laussen, also lang bis die galleigen an ain sitten kam. Do waß ain gros geschraig und arbait, e man den segeln wider in maisterschafft brächt (Grünemberg, 319, fol. 14r). Die Ähnlichkeit der Passagen lässt eine Abhängigkeit vermuten, die allerdings nicht belegt werden kann.
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wieder bringt der starke Wind das Pilgerschiff in Gefahr: Auf der Rückfahrt kommen sie beim Auslaufen aus einem Hafen nördlich von Athen fast ums Leben, ein schwerer Sturm zwischen Rhodos und Morea versetzt die Reisenden in Angst und Schrecken.40 Auch wenn Hans Bernhard von Eptingen die Dramatik des Sturmes durch den bildlichen Vergleich des aufsteigenden schwarzen Rauches betont – im Gegensatz zu vielen anderen Pilgern ist dies ein Stilmittel, das er selten gebraucht –, werden beide Passagen weder ausgeschmückt noch mit einer höheren göttlichen Macht in Verbindung gebracht. Felix Fabri hingegen stilisiert den Sturm als göttliche Strafe für das Fehlverhalten der Pilger und gibt ihn durch anschauliche Bilder dramatisiert wieder.41 Deutlich bedrohlicher für die Besatzung und die Pilger war jedoch das Ausbleiben von Wind, das dem Schiff vor allem auf der Rückfahrt Schwierigkeiten machte und das Leben besonders der bereits kranken Pilger gefährdete. Windstille konnte zu vollkommener Orientierungslosigkeit führen und einen Mangel an Wasser und Nahrungsmittel auslösen. Hans Bernhard von Eptingen gibt diesen besonders während der Rückfahrt anschaulich wieder: Er nennt explizit die aus dem Wassermangel entstehende Lebensgefahr. Der Hunger ist so groß, dass sogar mit Maden befallenes Brot verspeist werden muss.42 Die Gefahren durch Wind und Wetter werden durch Felix Fabri in einem gesonderten vorangestellten Kapitel beschrieben und allegorisch gedeutet. Die überstandenen Gefahren deutet er als Prüfungen Gottes bzw. göttliche Strafen für das Fehlverhalten der Pilger.43 Konrad Grünemberg geht weniger ausführlich, wenn auch nicht weniger eindringlich auf die Gefahren des Meeres ein. Werden auf der Hinfahrt Sturm und Flaute, Hunger und Durst kaum thematisiert, so werden die Pilger auf der Heimfahrt sowohl von Stürmen als auch von Flauten und der damit einhergehenden Not konfrontiert. Ohne eine vergleichbare Stilisierung als Prüfung Gottes wie Felix Fabri vorzunehmen, berichtet er, dass die Stürme und Flauten nur mit Hilfe Gottes und durch intensives Gebet überstanden werden konnten.44 40
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Unnd wir sahen schrockh Wasser aufziehen, gleich allß ob ein schwartzer rauch auffgieng. Unnd eß zog so starckh wasser auff, ob ein schiff darzue kähme, es brechte es Inn groß Angst, und noth (Eptingen, 294, fol. 104r). Fabri, I, 51-53. Vgl. Schröder 2009, 321f. Es waren schoff Ochßen, hüener, und ander Vihe die großen durst hatten, das Wasser das wir hatten stanckh so ubell, das es kaum zuenießen was. Unnd was vormahls niemandt guet was, das war angenem. Unnd das stinckhen müest man übersehen wem es nun werden möchte, dann den Wein an den enden niemandt vor stärckhen trinckhen mag (Eptingen, 291, fol. 102r). Dann daß broth das wir assen gieng so voll maden, daß wir sye darauß leßen müesten, auch brockhen kleiner alls bonen, wollten wir sein genießen, unnd nit Wärm darin essen, dann sye gar groß, unnd unrein waren (Eptingen, 297, fol. 106v). Fabri, I, 114-117. Vgl. Schröder 2009, 323f. Die bilgern hatend kertzli angezunt und bettotend und ruftend zu Got und siner lieben muter, etlich ruftend an sante Katerina uf dem munti Sinay, sant Niclas in Baruta, sant Maria Magtollenam zu
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
Bei der Analyse des Textes in Hinblick auf die natürlichen Gefahren der Mittelmeerüberquerung wird eines besonders deutlich: Hans Bernhard von Eptingen verzichtet bei nahezu allen lebensbedrohlichen Situationen auf eine Wertung des Geschehenen, weder unter religiösen noch unter praktischen Gesichtspunkten. Der göttliche Wille bei Entstehung und der folgenden Bestehung der heiklen Situationen spielt im Pilgerbericht des Ritters kaum eine Rolle. Nur zweimal verweist er auf Gott: Der gute und nötige Wind entsteht in Gottes Namen und eine Zwangspause wird mit höherer Macht begründet.45 Im Vergleich dazu deutet vornehmlich Felix Fabri die überstandenen Gefahren als göttliche Prüfung, die es auf dem Weg zum Ziel des Pilgers zu bestehen gilt. Hans Bernhard von Eptingen beschreibt das Mittelmeer als Kontinuitätsraum, als in seiner Gesamtheit zu überwindenden Gefahrenraum. Der zu durchquerende geografische Raum, genauer die Distanz zwischen Start- und Endpunkt, verändert sich durch die Wahrnehmung und spätere literarische Verarbeitung des Pilgers. Interessant ist in diesem Zusammenhang die konkrete Nennung der passierten Landstriche, Inseln und Küstenregionen. Hierbei kann es sich jedoch kaum um Vorwissen handeln, die Informationen muss sich der Pilger über Mitreisende, Besatzungsmitglieder oder die Lektüre anderer Pilgerberichte angeeignet haben. Diese genauen geografischen Angaben dienen der Beglaubigung des Aufgezeichneten und konstruieren gleichzeitig eine räumliche Kontinuität. Auch der politische Raum ist gefahrenreich: Neben den beschriebenen Naturgewalten war es vor allem die angespannte politische Lage im östlichen Mittelmeer, die den Pilger auf seiner Reise bedrohte. Besonders die permanente Spannung zwischen dem Osmanischen Reich und der Serenissima führte dazu, dass die venezianischen Pilgerschiffe zu leichten Zielen für türkische Galeeren wurden. Gleichzeitig sorgte eine bis dato ungekannte Flut an anti-türkischer Propaganda für eine hohe Sensibilisierung der europäischen Christenheit für die Gefahr, die von dem islamischen ›Antichristen‹ ausging (Levin 2007, 225-231). Die Eroberung Konstantinopels als Hauptstadt des letzten römischen Kaiserreiches traumatisierte die Christenheit. Das neue Medium des Buchdrucks und die humanistischen Strömungen begünstigten die Verbreitung anti-türkischer Propaganda (Höfert 2003, 58f.). Dies lässt erwarten, dass ein Reisender wie Hans Bernhard von Eptingen, der
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Marsillyen und sant Jacob inn Galiczia. Etlich verhiesen och zu denen und anderschwo fert. Das schiff wand sich undklallet on underlas, das wier uns al ogenblik versachent, es wurd ze trumern gon. Und fieng das schiff vast an rinnen an vil orten. Also do uns Got erhort und das unsinnig wild mer ab ließ, tet man die borten wider uff und giengent do wider ann luft und tag (Grünemberg, 466, fol. 95v). […], do zugen die Märner den Anckher unnd theten die segell auff, unnd nament Windt Inn dem Nammen Gottes, unnd fuoren von Statt mit Freüden (Eptingen, 282, fol. 97r). Item am Zinstag nach unser lieben Frauwen tag do lagen wir still Inn der Statt, dann es was herbstmonat, und mann laß uber macht, unnd es regnet vast (Eptingen, 298, 107v).
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über einen standesspezifisch betrachtet hohen Bildungsstand verfügte und aus einer Region stammte, die als Zentrum des entstehenden Humanismus gelten kann, sich in differenzierter und gleichzeitig vorbelasteter Weise mit der ›osmanischen Gefahr‹ im Mittelmeer auseinandersetzt (vgl. Schwab 2002, 95f.). Tatsächlich berichtet der Pilger in mehreren Passagen meist indirekt über die osmanische Politik, Truppenbewegungen auf der Route des Pilgerschiffes und den Zeichen vergangener Kämpfe. Im Gegensatz zu Hans Bernhard von Eptingen belässt es Felix Fabri nicht bei einer Nennung der politischen Umstände, sondern bewertet vor allem das Verhalten Venedigs gegenüber den Osmanen. Dabei zeigt er sich erstaunlich aufgeschlossen gegenüber friedlichen Wegen der Einigung. So verteidigt er den 1479 zwischen Venedig und den Osmanen geschlossenen Friedensvertrag.46 Dass die osmanische Präsenz im östlichen Mittelmeerraum für das Pilgerschiff eine konkrete Gefahr darstellt und als solche wahrgenommen wird, zeigt sich an zwei wiederkehrenden Erzählmustern: Hans Bernhard von Eptingen ist ausgezeichnet informiert über die türkischen Gebiete. Die Besatzung des Pilgerschiffes ist versucht, nicht in türkisches Hoheitsgebiet einzudringen oder an türkisch besetzten Küstenabschnitten zu landen. Der geografische Raum des östlichen Mittelmeers wird hier mit geopolitischen Informationen überschrieben. Noch stärker lässt sich die konkret empfundene Gefahr an der Furcht vor fremden Schiffen belegen. Dabei ängstigen sich die Pilger weniger vor osmanischen Truppen, sondern vor Korsaren in osmanischem Dienst.47 Mehrmals wappnet sich die Pilgergaleere in Aussicht eines bevorstehenden Angriffs, mit Glück können Konfrontationen vermieden werden. Hans Bernhard von Eptingen hat offensichtlich eine Vorstellung von der konkreten Gefahr durch die türkischen Bewegungen auf der Route des Pilgerschiffes, er verzichtet jedoch auf jegliche weitergehende Wertung der politischen Gegebenheiten.48 Der politische Raum wird der zentralen Funktion der Mittelmeerüber-
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Fabri, III, 409. Vgl. Schröder 2009, 225. So endet die Begegnung mit drei fremden Schiffen vor Zypern, dessen verlassene Häfen bei Piraten beliebt waren, beinahe mit einem Seegefecht: Alls wir auch Inn die habe fueren, do styg ein Märner uff den baum Inn den korb, der sach Inn die habe, unnd sach dorinnen halten drey Naffen, unnd zwo Bollnigen und ein kattelansche Gallehen, dann Jedermann gerecht kompt die Ingeschgmidet Galligotten handt. Uff solches rüsteten wir unns zue nacht zue der Wehr, und faßten Windt hin und her hinein zuefahren. […]. Aber do sye sahen, daß es der Bilger Gallehen was, unnd wir uns mit Büchßen zuweg rüsten, do erzeygten sye sich alls freündt, deß glychen theten wir gegen ihnen auch, […] (Eptingen, 283, 97v). Die literarische Beschreibung eines solchen politisch intendierten Gefahrenraums ist für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts jedoch nicht neu. Bereits 1415, somit weit vor dem Fall von Byzanz, aber schon unter dem Eindruck des expandierenden Osmanischen Reiches, beschreibt Cristoforo Buondelmonti die sowohl wegen Riffen als auch türkischen Piraten gefährliche Segelroute um das venezianische Kreta (vgl. Reichert 2007, 64).
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
querung in den Pilgerberichten literarisch untergeordnet: Er wird als politischer Gefahrenraum konstruiert, unterteilt in bedrohliche und weniger bedrohliche politische Einflusssphären und Machtbereiche. Sozusagen über den geografischen und politischen Raum gelegt, wird die Ägäis als mythischer Raum erzählt. Damit fassen wir im Folgenden sowohl die räumliche Verortung christlicher Heilsgeschichte in der Ägäis als auch die literarische Konstruktion von mit antiken und humanistisch tradierten Mythen verbundenen Räumen, also die Verortung antiker ›Historie‹. Das östliche Mittelmeer wird dabei durch den Pilger in seinem Bericht als historischer Raum konstruiert, indem über die unmittelbare Vergangenheit, die christliche Heilsgeschichte, hin zum antiken Mythos zurückreichendes Bildungswissen des Pilgers verortet wird. Die Ägäis als Raum der Begegnung mit beispielsweise klassisch griechisch-römischer Bildungstradition ist dabei kein neues Phänomen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts wurde die Ägäis Ziel von Bildungsreisenden, die dort humanistisch intendiert die griechische Antike zu finden hofften. Exemplarisch hierfür stehen die beiden berühmten und dem Florentiner Humanistenkreis zuzuordnenden Cristoforo Buondelmonti und Ciriaco d’Ancona, die in der Ägäis und darüber hinaus nach antiken Stätten und Ruinen, nach antiken Inschriften aber auch der aktuellen kulturellen Begegnung suchten (vgl. Reichert 2007, 5761 und 64f.).49 Cristoforo Buondelmonti und Ciriaco d’Ancona haben Griechenland und die griechischen Inseln als europäischen Erinnerungsraum wiederentdeckt, beschrieben, erschlossen und im gelehrten Bewußtsein ihrer Epoche dauerhaft verankert. (Reichert 2007, 70) Dabei ging es den beiden, sozusagen mit der Ilias in der Hand, auch um eine kartografische Verortung antiker Mythen und Geschichte (Reichert 2007, 67).50 Eine solche Detailtiefe und humanistische Antikenhinwendung ist von den hier behandelten Pilgerreisenden des 15. Jahrhunderts jedoch schon aufgrund der unterschiedlichen Reiseintention nicht zu erwarten. Für diese Gruppe lagen die Überreste antiker Kultur und die zahlreichen Relikte des Byzantinischen Reiches in einem zu passierenden, nicht einem zu erkundenden Raum (Reichert 2007, 70). Die Beschreibung der Ägäis, z.B. ihrer Inseln, gerät daher in den meisten Pilgerberichten auch 49
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Gerade diese Begegnung mit anderen Kulturen verlief dabei nicht immer reibungslos, sondern konnte auch zur Reflexion über Identität und Alterität sowie zu sozial-religiös-kulturellen Konflikten zwischen ›Griechen‹ und ›Venezianern‹ führen (siehe hierzu Reichert 2007, 66). Das Interesse an der Insellandschaft der Ägäis, das v.a. in Buondelmontis Liber Insularum Archipelagi zu greifen ist, führte dann auch zu einer eigenen literarischen Gattung, den frühneuzeitlichen Isolari (vgl. Bendemann et al. 2016, 16). Zur antiken Verbindung von Mythos und Inseln als (Handlungs-)Ort des Mythos vgl. Frenschowski 2016.
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eher kurz und liest sich als sequenzartige Abfolge verschiedener Reisepassagen (Bendemann et al. 2016, 16). Das schließt jedoch nicht aus, dass auf der Überfahrt die Ägäis nicht auch als ein Raum sich verdichtender Mythen wahrgenommen und konstruiert wurde. Auch dies stellt keine Neuheit des 15. Jahrhunderts noch des Mittelalters dar, finden sich doch bereits in antiken Quellen mannigfaltige Verbindungen von Mythos – ganz im antiken Sinne verstanden als ›reale‹ Historie – und Inseln. Mit Blick auf die Antike hält Marco Frenschowski hierzu für diese Studie anschlussfähig fest: »Reale Inseln nehmen mythologische Konnotationen an, und, vielleicht noch erstaunlicher, mythische Orte rücken der erfahrbaren Welt nahe, indem sie mit realen Inseln identifiziert werden.« (Frenschowski 2016, 44) Dieses Phänomen zeigt sich im Bericht unseres Pilgers: In der Nähe der Insel Milos wird auf die Stelle verwiesen, an der Helena von Paris entführt wurde. Hans Bernhard von Eptingen bedauert, dass ein Besuch von Troja wegen der Türken nicht möglich sei. Auf der Rückfahrt passieren sie die Stelle wieder und diesmal nennt der Autor den Namen der Insel: Zirigg.51 Oberflächlich zeichnet diese Passage das Bild eines Pilgers, der sich mit der antiken Mythologie und dem Werk Homers auskennt. Die Verwendung der korrekten Kasus könnte auf ein vorhandenes lateinisches Sprachverständnis hindeuten. Tatsächlich waren besonders in adligen Kreisen des Spätmittelalters volkssprachliche Übersetzungen der Ilias und der Odyssee im Umlauf, Troja galt als Wiege der christlichen Ritterschaft (Reichert 2007, 69-71). Adlige, die sich die Pilgerfahrt ins Heilige Land leisten konnten, verfügten häufig über Grundkenntnisse der höfischen Literatur und antiker Themen und Stoffe (ebd., 75).52 Eine andere Passage des eptingschen Familienbuches deutet darauf hin, dass Hans Bernhard von Eptingen über diese Grundkenntnisse verfügte. Er erklärt in der Ursprungsgeschichte der Eptinger das Wappenzeichen des Sterns mit einem Verweis auf die Alexandersage.53 Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit einer antiken Grundbildung des Pilgers ist die Anführung der Trojasage 51
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Unnd hinder der selben Innsell do leyt die Innsell, do Paris Priami sohn die schöne Helenam den Griechen nam, Unnd dem König Anttinor sye hinwegg füeret, gehen Troy (Eptingen, 221, fol. 68r). […], doch so wahren wir Inn der richte gegen Troy do die schöne Helena hingefüert wart, unnd hetten wir dem Türckhen nit müeßen entsitzen, so weren wir nach darbey am Landt gefahren (Eptingen, 221, fol. 68r). […], unnd zue nacht khommen wir zue einer Innsell Zirigg, do Paris die schöne Helenam nam dem König Antinor (Eptingen, 294, fol. 104v). Nach Dares Phrygius, ein im hohen Mittelalter literarisch konstruierter ›Teilnehmer‹ des Trojafeldzuges, war Kythera die Insel, auf der Helena geraubt wurde. Die Insel heißt mittlerweile Cerigo (=Zyrigg) und stand zur Zeit der Pilgerreise Hans Bernhards von Eptingen unter venezianischer Kontrolle (Reichert 2006, 77). Vgl. Esch 2005. etliche die ein sternen füeren gethon haben, ist der ursach daß der selb von Eptingen so weyt geweßen, sunder daß er zue den sternen kam, die der groß Alexander fand, da stern, unnd sohnn, unnd Mon beyeinander warendt, unnd ihme red, unnd antwort gaben, alls in seiner legent stath, auch herr Hann? Von Mantevilla auch da geweßen ist, alß er daß auch schreibet (Eptingen, 186, fol. 41v-42r; vgl. Bärmann 2001, 15). Vgl. zur Rezeption der Alexandersage im Mittelalter Kragl 2005.
Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
nicht unbedingt von dieser abhängig. In nahezu allen anderen spätmittelalterlichen Pilgerberichten, die die Mittelmeerpassage wiedergeben, findet sich ein solcher Verweis. Dies gilt auch für die Passagen, die christliche Heiligenlegenden und Wunder wiedergeben. Auf der Hinfahrt wird auf eine Insel hingewiesen, auf der der Apostel Johannes die Apokalypse schrieb.54 Der Pilger meint die Insel Patmos, die allerdings mehrere hundert Kilometer nördlich des von ihm benannten Eilands liegt. Im weiteren Verlauf verweist er auf das Kreuz der Heiligen Helena auf dem Meeresgrund vor Rhodos55 und die Legende des St. Nikolaus, der die Hungernot seiner Heimatstadt Myra durch ein Wunder beendete.56 Wie nicht anders zu erwarten, stellt Hans Bernhard von Eptingen die Wahrhaftigkeit der beschriebenen heilsgeschichtlichen Legenden nicht in Frage.57 Gleiches gilt aber auch für die mythologischen Verweise. So werden die Wunder des St. Nikolaus und die Entführung Helenas gleichermaßen als wahrhaftige Erlebnisse wahrgenommen und vermittelt. Die bei der Durchreise durch die Ägäis passierten Inseln werden in einem sekundären Interpretationsakt mit dem Weltwissen des Reisenden verknüpft (vgl. Frenschowski 2016, 46). Eine Insel ist dabei ganz grundsätzlich nicht mit Begriffen wie ›real‹ oder ›mythisch‹ zu greifen, sondern der subjektiven Wahrnehmung und Verarbeitung liegen komplexe Traditionen, Vorwissen, vorhandene Informationen und Interpretationsvorgänge zugrunde (vgl. Frenschowski 2016, 46f.). Am Beispiel des einzelnen Eilands zeigt sich die miteinander verwobene Schichtung der Räume: Geografisch Verortbares wird politisch überlagert und mythisch besetzt. Die grundlegendste Ebene dieser Schichtung stellt in der literarischen Raumkonstruktion die geografische dar. Hans Bernhard von Eptingen konstruiert dabei den geografischen als zu überwindenden Kontinuitätsraum, ohne diesen wie z.B. der Dominikaner Felix Fabri allegorisch als göttliche Prüfung oder Strafe auszudeuten. Soziale Herkunft, Bildungshintergrund und abrufbares Vorwissen nuanciert einen gängigen, der literarischen ›Gattung‹ immanenten Erzähltopos. Überlagert wird dieser geografische Raum dann durch einen politischen Raum. Hier werden die tatsächlichen geopolitischen Konstellationen in der Ägäis, die der Pilger während der Überfahrt wahrnimmt, mit Vorwissen ergänzt und so dem zentralen Narrativ des Gefahrenraums untergeordnet. 54
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Unnd darhinder leyt die Innsell do Sanct Johannes Evangelista die Evangelien und Epistolen machte (Eptingen, 227, fol. 70r). Die Ägäis-Insel durchläuft dabei offensichtlich einen Historisierungsprozess, analog zur Historisierung beispielsweise antiker Heroen im griechischen Mythos (Frenschowski 2016, 44f.). Vgl. Eptingen, 229, fol. 71v. Vgl. Eptingen, 229, fol. 71v und 291f., fol. 102v. Z.B. durch eine Soll-Konstruktion oder der üblichen häufig verwendeten Phrase: do sacht man. Vgl. Ganz-Blättler 1990, 110.
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Zuletzt schließt sich diesem Raumkonglomerat eine dritte Ebene an: die mythische. Wie der Blick auf die Florentiner Humanisten zeigt, ist die Ägäis im 15. Jahrhundert als verortbarer Raum klassischer Bildung präsent. Ähnliches gilt für die Konstruktion des mythischen Raums in den Pilgerberichten. Antike Mythen, ebenso als reale Ereignisse verstanden wie die christliche Heilsgeschichte, werden auf Inseln und Küstenstrichen verortet. Auch dies gilt nicht nur für den Bericht Hans Bernhards von Eptingen, sondern für die meisten Zeugnisse der mittelalterlichen Jerusalempilgerfahrt. Die analysierten Raumentwürfe sind nur in Nuancen eine individuelle Konstruktion des einzelnen Verfassers. Wirkmächtiger sind die zugrunde liegenden kollektiven Raumkonstruktionen. Die Ägäis, verstanden als spezifische Region im östlichen Mittelmeer, wird dabei nicht als eigener Raum vom Pilger konstruiert. Zwar erkennt der Leser des Berichts an der Beschreibung der Küstenregionen und Inseln die standardisierte Reiseroute, welche auch durch die heute ›südliche Ägäis‹ genannte Meeresregion führt, im Bericht selber jedoch wird nur ein Raumentwurf für die gesamte Überfahrt konstruiert, der unabhängig von einzelnen Meeresregionen funktioniert. Wir können folglich feststellen, wie die geografische Region (südliche) Ägäis im Pilgerbericht in der Beschreibung von Inseln, Mythen und Gefahren durchscheint, ohne dass diese dabei als spezifischer eigener Raum abgegrenzt vom Rest des zu überwindenden Meeres konstruiert wird.
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Die Ägäis als konstruierter Raum in spätmittelalterlichen Pilgerberichten
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In der Ägäis unterwegs mit Seiner Majestät Ludwig Ross als »sprach- und landeskundige[r] Begleiter« König Ludwigs I. von Bayern Stefan Lindinger
Am Abend des 8. Februar 1836 verließ die Medusa den Hafen von Piräus. Das »schöne Englische Kriegsdampfboot« hatte einen prominenten Passagier an Bord, König Ludwig I. von Bayern: ihm stand es »während der ganzen Dauer [seines] Aufenthaltes in Griechenland zur Verfügung« (Ross 1848, 120). Schon am 7. Dezember 1835 war der glühende Philhellene und Vater des jungen griechischen Königs Otto im Lande eingetroffen, nicht nur im Bestreben, diesen Sehnsuchtsort endlich mit eigenen Augen anschauen zu können – »Erlebnishunger und Reiselust« des fast fünfzigjährigen Monarchen »waren noch immer nicht verflogen« –, sondern auch in der Absicht, angesichts der Vielfalt der Probleme, auf die die bayerische Regentschaft und König Otto in Griechenland schnell gestoßen waren, »am kleinen Hofe seines Sohnes nach dem Rechten zu sehen« und »eine stabilisierende Wirkung auf den griechischen Thron« auszuüben (Gollwitzer 1986, 484).1 Der neu gegründete
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In seiner nach wie vor maßgeblichen ›politischen Biographie‹ Ludwigs I. beschreibt Heinz Gollwitzer ausführlich dessen Engagement für Griechenland vor und während des Unabhängigkeitskrieges sowie die Einrichtung der Wittelsbacher Sekundogenitur im Lande und auch die Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben. Bayern musste demnach nicht nur für den Aufbau eines modernen Verwaltungsapparates sorgen, sondern dem jungen Staatswesen auch in großem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Hinzu kamen der sich schnell verschärfende Konflikt zwischen den Bayern im Lande und Teilen der griechischen Bevölkerung (abfällig war in diesem Zusammenhang von einer ›Xenokratie‹ bzw. ›Bavarokratie‹ die Rede), aber auch die Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der Führung der bayerischen Regentschaft sowie nicht zuletzt die Tatsache, dass König Otto aufgrund seiner Jugend und seiner Persönlichkeitsstruktur mit der ihm zugewiesenen Rolle schlichtweg überfordert war (vgl. Gollwitzer 1986, 472-493; 852-859 [Großkapitel XI, ›Hellas‹, nebst Anmerkungen]). Im Übrigen verweist bereits die Tatsache, dass Ludwig I. an Bord eines englischen (und nicht etwa eines griechischen) Kriegsschiffes reiste, auf die beschränkten Mittel des jungen Staates sowie auf seine Abhängigkeit von den europäischen Großmächten England, Frankreich und Russland.
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Nationalstaat Griechenland befand sich damals in einer Umbruchszeit. Sein designierter König Otto, Ludwigs zweitgeborener Sohn, war 1833 in Nauplia eingetroffen, zu diesem Zeitpunkt noch Hauptstadt des Landes. Da Otto die Volljährigkeit noch nicht erreicht hatte, oblagen die Regierungsgeschäfte seit 1832 einem dreiköpfigen und bisweilen untereinander uneinigen Regentschaftsrat, bestehend aus Joseph Ludwig Graf von Armansperg, Georg Ludwig von Maurer und Generalmajor Karl Wilhelm von Heydeck (Heydenreuter 2003, 99). Am 1. Juni 1835 schließlich übernahm Otto selbst die Herrschaft, nachdem bereits am 1. Januar desselben Jahres die Hauptstadt nach Athen verlegt worden war: ein junger, unerfahrener Herrscher also in einer neuen Hauptstadt, in der es noch kaum eine diesem Zweck angemessene Infrastruktur gab. Ludwig tat also gut daran, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. So drängte er etwa seinen Sohn dazu, sich auf die Suche nach einer geeigneten Gemahlin zu machen, um den Fortbestand der Wittelsbacherdynastie in Griechenland sicherzustellen (vgl. Heydenreuter 2003, 98-101). Außerdem trieb er die ins Stocken geratene Errichtung eines königlichen Palastes für Otto aktiv voran (vgl. Glaser 2007, 499f.). Im Rahmen dieser mehrmonatigen, insgesamt bis zum 24. März 1836 dauernden Reise nach Griechenland unternahm Ludwig im Januar eine Schifffahrt nach Kleinasien, mit den Zielen Troja und Smyrna (ebd., 637), und schließlich im Februar 1836 jenen zehn Tage währenden Ausflug auf einige Inseln der Ägäis, zu dem er sich von einem »Gefolge« von Personen aus dem Umkreis des Münchner, aber auch des Athener Hofes begleiten ließ. Aus der ersten Gruppe sticht der Architekt Friedrich von Gärtner hervor, der soeben mit dem Bau des Königlichen Palastes in Athen betraut worden war, aus der zweiten Ludwig Ross, der »Verfasser dieser Erinnerungen«, von denen im Folgenden genauer die Rede sein soll: Er stand dem bayerischen König für den Abstecher in die Ägäis als »sprach- und landeskundige[r] Begleiter« zur Verfügung (Ross 1848, 120). Der 26-jährige Altphilologe Ross war im Sommer 1832, also kurz nach der Gründung des neuen Nationalstaates, in Griechenland eingetroffen, ursprünglich nur in der Absicht, eine mehrmonatige Studienreise zu unternehmen. Da seine Ankunft in eine Zeit fiel, in der die bayerische Regentschaft damit begann, die Verwaltung des Landes unter Hinzuziehung von Fachkräften insbesondere (aber nicht ausschließlich) aus Bayern auf- und auszubauen,2 standen dem gebürtigen Holsteiner und somit dänischen Staatsbürger Ross aufgrund seines einschlägigen Studiums alle Möglichkeiten offen. Nachdem er binnen kürzester Zeit das Neugriechische erlernt hatte – und zwar in derart beeindruckender Weise, dass er in Athen als derjenige Ausländer galt, der diese Sprache am besten beherrschte (Minner 2006, 116) –, wurde er bereits 1833 Unterkonservator (Ephoros) der Altertümer der Peloponnes, Ende 1834 schließlich Oberkonservator (General-Ephoros) der Altertümer von ganz 2
Zum Auf- und Ausbau der Institutionen in Griechenland in den Jahren der bayerischen Regentschaft vgl. etwa Turczynski 2003, 208-229.
In der Ägäis unterwegs mit Seiner Majestät
Griechenland. Als oberster Verantwortlicher für Archäologie und Denkmalpflege war er auch mit der Ausgrabung bzw. Rekonstruktion der Akropolis beauftragt, in direkter oder mittelbarer Zusammenarbeit mit namhaften Architekten wie Eduard Schaubert, Christian Hansen und Leo von Klenze. Danach, ab Mai 1837, hatte er die erste Professur für Archäologie an der soeben gegründeten Universität Athen inne. Zahlreiche Reisen führten ihn zu antiken Stätten in ganz Griechenland, sowohl auf dem Festland, insbesondere in Attika und auf der Peloponnes, als auch auf den Inseln, vor allem den Kykladen und den Sporaden, sowie in Gegenden des griechischen Kulturkreises, die damals noch zum Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches zählten, wie die Inseln der östlichen Ägäis und des Dodekanes. Man kann also festhalten, dass sich Ross in Griechenland fest etabliert hatte und auch heimisch geworden war. 1843 aber wurde er wie die meisten ›nicht-einheimischen‹ Staatsangestellten in Griechenland entlassen, eine Folge der sogenannten ›Revolution vom 3. September 1843‹.3 So kehrte Ross notgedrungen nach Deutschland zurück und trat 1845, unterstützt übrigens durch Alexander von Humboldt, eine Professur für Archäologie an der Universität Halle an. Dort intensivierte er seine schriftstellerische Tätigkeit: neben zahlreichen archäologisch-altertumswissenschaftlichen Schriften entstand eine Reihe von Büchern über die oben erwähnten Reisen aufs griechische Festland und die Inseln. Trotz der Ereignisse von 1843 blieb er ein treuer Apologet des griechischen Staates, dessen Fortschritte beim Aufbruch in die Zukunft er zu preisen nicht müde wurde. Dies brachte ihn in Gegensatz etwa zu dem Anti-Philhellenen Jakob Philipp Fallmerayer, mit dem er noch bis in die fünfziger Jahre publizistische Fehden ausfocht. Ross’ Gesundheitszustand aber ließ damals bereits sehr zu wünschen übrig: Er litt an einer chronischen, äußerst schmerzhaften Rückenmarkserkrankung, die sich schließlich so sehr verschlimmerte, dass er 1859 seinem Leben selbst ein Ende setzte.4 Ludwig Ross hat eine beachtliche Anzahl an altertumswissenschaftlichen und archäologischen Schriften verfasst. Mit Fug und Recht kann er daher als ein ›Weg-
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Artikel 3 der als Folge dieser Revolution neu eingeführten Verfassung lautete: »Nur hellenische Bürger sind zu Staatsämtern zuzulassen.« Allerdings hatten, wie Seidl festhält, die meisten nichtgriechischen zivilen und militärischen Funktionäre zu diesem Zeitpunkt das Land, aus Frustration angesichts der nach wie vor problematischen Verhältnisse, bereits wieder verlassen: »Das Kapitel Xenokratie war im wesentlichen bereits abgeschlossen; die Septemberrevolution setzte nur noch den Schlußpunkt dahinter. Unter den wenigen Bayern, die 1843 einigermaßen wichtige Posten verloren, befanden sich allerdings einige der fähigsten und uneigennützigsten, vor allem die für Griechenland so wichtigen Gelehrten und Architekten, wie Ro[ss], Schaubert, Hansen, Feder und andere.« (Seidl 1981, 226f.) Zur Biografie von Ludwig Ross vgl. Baumeister 1889; Lindinger 2017; Lindinger 2018, 96-100; Minner 2005; Minner 2006. Zur Auseinandersetzung mit Fallmerayer in Robert Prutz’ ›Deutschem Merkur‹ von 1854 vgl. Lindinger 2019, 84.
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bereiter der Altertumswissenschaft im neuen Griechenland‹ bezeichnet werden.5 An ein breiteres Publikum richteten sich seine Reiseberichte, in denen er die Beschreibung archäologischer Fundstätten mit Beobachtungen zu Land und Leuten verbindet. Ross veröffentlichte sie in den meisten Fällen zunächst in der seriellen Form von Zeitungsartikeln, und darauf basierend erschienen dann später, in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, mehrere Bände über die Reisen auf dem Festland sowie über die Inselreisen. In diesen Büchern finden sich neben archäologischen und volkskundlichen Informationen auch Einschätzungen der gesellschaftlichen Situation im neuen griechischen Staat im ersten Jahrzehnt der Herrschaft König Ottos. Ross verhehlt dabei die Probleme nicht, mit denen er im Alltag ja selbst immer wieder konfrontiert wird. Er führt sie in der Regel auf die mehr als zwei Jahrhunderte währende Zeit der osmanischen Herrschaft zurück. Aufgrund der Maßnahmen der reformfreudigen Regierung König Ottos werde sich über kurz oder lang – dies ist seine feste Überzeugung – die Lage grundlegend bessern. Ross hebt also die europäische Perspektive Griechenlands in dem Sinne hervor, dass als Ziel ›westliche‹ Lebensverhältnisse angestrebt werden, ein Ziel, an dessen Erreichbarkeit er nicht zweifelt.6 Insgesamt hütet sich Ross einerseits vor der übermäßigen Idealisierung des Landes, wie sie manche in der Wolle gefärbte Philhellenen (in der Regel, ohne das Land selbst bereist zu haben) noch bis vor kurzem betrieben hatten, andererseits aber auch vor einer übertrieben harten Kritik nach Art eines Jakob Philipp Fallmerayer, der den neugriechischen Staat quasi unumkehrbar einer ›orientalischen‹ oder auch ›balkanischen‹ Sphäre zuordnete.7 Ludwig Ross’ Reisen auf den griechischen Inseln des ägäischen Meeres erschienen zwischen 1840 und 1852 in vier Bänden.8 Entsprechend dem Titel werden darin 5
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So der Titel der im Sammelband Ludwig Ross und Griechenland erschienenen Würdigung von Wolf-Dietrich Niemeier (Niemeier 2005, 1). Für eine Bibliografie der einschlägigen Primärund Sekundärliteratur vgl. u.a. Lindinger 2017. Vgl. dazu etwa das Vorwort zum ersten Band der ›Königsreisen‹ (siehe weiter unten), in dem Ross programmatisch festhält, anekdotenhafte Passagen im Text fungierten oft »als Beiträge zur Sittengeschichte des Landes«. Er versteht das, was er beschreibt, als Momentaufnahmen auf dem Weg hin zur unweigerlichen ›Europäisierung‹ des Landes und nimmt in diesem Zusammenhang geradezu einen zukünftigen nostalgischen Blick auf die derzeit noch gegebenen einfachen Verhältnisse vorweg: »wie es denn auch für die Zeitgenossen, und wenn Griechenland einst ganz der Europäischen Gesittung mit ihren Bequemlichkeiten und ihrem Luxus anheimgefallen seyn wird, selbst für spätere Leser nicht ohne Interesse seyn mag zu erfahren, mit welcher ursprünglichen Einfachheit und Schlichtheit« das Reisen damals vonstattenging (Ross 1848, XIII). Zu Ross’ Einschätzung der Lage in Griechenland vgl. etwa Lindinger 2017, zu Fallmerayer vgl. Lindinger 2019, 77-79; 83-86. Zu den ›Inselreisen‹ vgl. Lindinger 2018, sowie, aus archäologischer Sicht, Sporn 2005. Zu Aspekten von Ludwig Ross’ Reisetätigkeit insgesamt vgl. auch den Abschnitt ›Reisen als praktizierte Landeskunde‹ in Minner 2006, 110-138.
In der Ägäis unterwegs mit Seiner Majestät
die Reisen beschrieben, die er ab 1835 auf nahezu sämtliche Inseln der Ägäis unternommen hatte. Zunächst besuchte er, zum Teil mehrmals, die meisten der näher an Athen gelegenen und zum griechischen Staatsgebiet gehörigen Kykladen, später dann weiter entfernt gelegene Ziele, etwa das damals noch osmanische Rhodos. Wenn man so will, nimmt Ross auf diese Weise eine systematische »Aneignung von Raum« vor, »verstanden sowohl als Naturbezug einerseits als auch« hinsichtlich der Alltagskultur des Landes und seiner Bevölkerung andererseits (Minner 2006, 110). Ross näherte sich den Menschen »mit Offenheit und Bereitschaft«, es »handelte sich nicht um passives Beobachten der Landesbewohner, sondern um eine aktive Auseinandersetzung, die [er] in zahlreichen Gesprächen praktizierte«, und voller »Wissbegierde« unterhielt er sich mit den Leuten über alles, was bezüglich der besuchten Insel von Bedeutung sein mochte (ebd., 126). Im Vorwort zum ersten Band der ›Inselreisen‹ hält Ross voller Genugtuung fest: »Ich darf […] glauben, im ägäischen Meere einigermaßen heimisch zu seyn« (Ross 1840, X). In diesem Zusammenhang erwähnt er auch einige seiner illustren Reisebegleiter bzw. Personen, denen er auf der einen oder anderen Insel begegnet war, etwa den »Herrn Oberarchitekten Schaubert« und den »Architekten Herrn Hansen«, die beide das Stadtbild Athens nachhaltig geprägt haben, den »Herrn Professor Karl Ritter aus Berlin«, Geograph und Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften, sowie den »Hrn. Minister von Prokesch«, Diplomat, Militär, Orientalist und selbst Reiseschriftsteller; den beiden Letzteren ist dieser erste Band auch gewidmet (ebd., IXf.). Die Nennung dieser Persönlichkeiten zeigt, wie gut vernetzt Ludwig Ross war.9 Der prominenteste Name aber fällt im folgenden Satz des Vorwortes: »Wenige Monate später hatte ich die Ehre S. M. den König Ludwig von Bayern auf einer Fahrt durch die griechischen Inseln zu begleiten, und bekam so Gelegenheit, die meisten der bereits früher besuchten Punkte nochmals zu sehen.« (Ebd.) Was diese Episode besonders interessant macht, ist die gleichsam janusköpfige Position, die Ross als – wie eingangs erwähnt – »sprach- und landeskundige[r] Begleiter« König Ludwigs I. von Bayern in ihrem Zusammenhang einnimmt (Ross 1848, 120). Wie bereits zuvor angedeutet, hatte er aus dem »persönlichen Austausch« mit den »Landesbewohnern« Informationen erhalten, die »ihn der griechischen Natur näher« brachten, und die er in der Folge »gewissenhaft seinen Lesern vermittelte« (Minner 2006, 126). Das ›Nochmals-Sehen‹ im obigen Zitat aus dem Vorwort zum ersten Band der ›Inselreisen‹ impliziert also, dass er sich das vorher ›Fremde‹, die Inselwelt der Ägäis, zumindest bis zu einem gewissen Grade angeeignet hat, diese Kenntnisse nun bewusst vertieft und letztlich als ›Eigenes‹,
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Der dritte Band ist Alexander von Humboldt gewidmet, der es Ross durch Vermittlung eines Reisestipendiums ermöglicht hatte, auch nach seiner Entlassung noch einige Zeit in Griechenland bleiben zu können, und, wie erwähnt, auch bei dessen anschließender Berufung an die Universität Halle behilflich war (Ross 1845, [V]).
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als ›Insiderwissen‹, an den bayerischen König weitergibt, eine Position, die somit das Verhältnis des kundigen deutschen Wahlgriechen und Autors Ross zu seiner neugierigen Leserschaft in Deutschland repliziert. Eine weitere Doppelung besteht darin, dass bezüglich der Reise Ludwigs I. nicht nur ein, sondern zwei Texte von Ross zu beachten sind: zunächst sind dies die unmittelbar den Ägäisaufenthalt des bayerischen Monarchen betreffenden Abschnitte im ersten Band der 1848 erschienenen sogenannten ›Königsreisen‹, der Hypertext, und dann die den zuvor von Ross bereits selbst besuchten Inseln gewidmeten Kapitel in den ersten drei Bänden der Reisen auf den griechischen Inseln, auf die er immer wieder explizit verweist und die in diesem Sinne den Hypotext darstellen.10 Um es prägnant zu formulieren: Der Leser oder die Leserin muss die entsprechenden Passagen in den Reisen auf den griechischen Inseln hinzuziehen, um ein volles Bild vom Aufenthalt des Königs zu gewinnen, um zu erfahren, was dieser gesehen hat bzw. zumindest hätte sehen können. Die zweibändigen ›Königsreisen‹ tragen den vollen Titel Reisen des Königs Otto und der Königin Amalie in Griechenland, denn Ross fungierte eigentlich als habitueller Reisebegleiter des griechischen Königspaares. Chronologisch eingefügt in diesen Kontext wird dort im ersten von zwei Kapiteln des Abschnitts ›1836. Reise Seiner Majestät des Königs Ludwig von Bayern durch die Kykladen nach Argos und Korinth‹ auf gut zehn Seiten von der Seefahrt in der Ägäis berichtet, von deren Umständen bereits zu Anfang die Rede war. Als Auftakt des Kapitels dient, wie es in Ross’ in Form von datierten Briefen bzw. Zeitungsberichten gegliederter Reiseprosa häufig der Fall ist, eine geeignete Textstelle aus der antiken Literatur.11 In diesem Fall handelt es sich um ein Zitat des lateinischen Autors Statius aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., eine atmosphärische Annäherung an den geographischen Raum Ägäis bzw. Kykladen: »Jamque per Aegaeos ibat Laertia fluctus / Puppis, et innumerae mutabant Cycladas aurae.«12 Unmittelbar darauf folgt das Datum, »8.-15. Februar 1836« (Ross 1848, 119).
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Die Beschreibungen der ›Inselreisen‹ sind zwar allesamt vor den ›Königsreisen‹ entstanden und veröffentlicht worden, bezüglich des Zeitpunkts der Reisen selbst ist aber anzumerken, dass Ross im Falle von Milos auf eine eigene Reise vom Sommer 1843 (also nach der Reise mit Ludwig I.) verweist. Alle anderen mit dem bayerischen König besuchten Inseln hatte sich Ross bereits im Sommer 1835 erschlossen und einige davon bereiste er auch nach 1836 erneut allein. Zu den strukturellen und stilistischen Eigenschaften von Ross’ Reiseprosa, die z.T. dadurch bestimmt werden, dass die Texte erst als Abfolge von Zeitungsartikeln und dann erst in Buchform erschienen (dies gilt allerdings nicht für den in den ›Königsreisen‹ erstmals veröffentlichten Bericht über die Reise mit König Ludwig), vgl. Lindinger 2018, 101-105. Das Zitat stammt aus der Achilleis des Statius (I, 675f.) und beschreibt die Durchquerung der Ägäis durch Odysseus.
In der Ägäis unterwegs mit Seiner Majestät
Als Anlass für die Kurzreise nennt Ross die Tatsache, dass Ludwig, »begeisterter Freund und gründlicher Kenner des classischen Altertums und seiner Kunst« (ebd.), bereits vor Jahren – schon 1820, also zu Zeiten der osmanischen Herrschaft – die Ruinen des Theaters von Milos erworben hatte und sein Eigentum jetzt einem näheren Augenschein unterziehen sowie archäologische Ausgrabungen durchführen lassen wollte. Ross knüpft an einen frühen touristischen Blick seines Publikums auf die Inselwelt der Ägäis an, wenn er im Zusammenhang mit dem Reiseziel »Melos« ausdrücklich darauf verweist, dass »durch den Fund der unvergleichlichen Venus die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde auf diese Insel gelenkt worden war« (ebd., 120). Darüber hinaus sollen die »interessanteren« Inseln der Ägäis besucht werden (ebd.).13 Dies sind dann im Folgenden – in der Schreibweise von Ross – Thera, Anaphe, Ios, Naxos, Syros, Tenos, Delos, Rheneia, Paros, und zum Abschluss nochmals Melos. Danach fährt die Medusa über Hydra und Spetsä – die beiden in Festlandsnähe im Argosaronischen Golf gelegenen Inseln werden am Anfang des zweiten Kapitels nur kurz erwähnt – weiter nach Nauplia, wo man am Abend des 16. Februar, eine Woche nach Beginn der Seereise, von Bord geht und zunächst auf dem Landweg über Tiryns, Argos, Mykenä, Nemea sowie Korinth und dann vom Hafen Kalamaki aus wieder per Schiff über Megara und Salamis nach Athen zurückkehrt, mit Ankunft am Abend des 20. Februar. Ein Hauptpunkt der Ausführungen von Ludwig Ross besteht in der Schilderung der Art und Weise, wie der König auf den Inseln jeweils empfangen wird. Knapp zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Inselbewohner erstens durchweg begeistert vom Besuch Ludwigs I. sind, es zweitens aufgrund der Abgelegenheit und zumindest unterstellten Zivilisationsferne der Inseln beim Empfang zu interkulturellen Missverständnissen kommt,14 und sich drittens bei dieser Gelegenheit auf einigen Inseln auch die für die Kykladen charakteristischen Spannungen zwischen den katholischen und den orthodoxen Bevölkerungsgruppen manifestieren.
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Die Einschätzung einer mehr oder weniger großen ›Sehenswürdigkeit‹ von Reisezielen passt in die Zeit, wenn man bedenkt, dass in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland die ersten ›Baedecker‹ publiziert wurden, wenngleich natürlich noch nicht über Griechenland. Die ersten drei Bände von Ludwig Ross’ ›Inselreisen‹ sind bei Cotta übrigens als 20., 25. und 31. Lieferung einer Reihe mit dem Titel ›Reisen und Länderbeschreibung der alten und neuesten Zeit‹ erschienen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die Inseln der Ägäis gerade im 18. Jahrhundert »von ungemein vielen Fremden« – »Händlern, Seeleuten, Diplomaten, katholischen Missionaren, Pilgern zu den Heiligen Stätten und anderen Europäern« – auf der Durchreise besucht werden. »Allerdings werden die Berichte über die Ägäis und ihre Bewohner zu Beginn des 19. Jhdts. und vor allem während des griechischen Befreiungskampfes immer spärlicher« (Vakalopoulos 2005, 311). Ross beschreibt die Inseln also zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich von der Krisenzeit der Kriegswirren gerade wieder erholen.
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Diese Eigenheiten des Reiseberichtes sollen nun in einer genaueren Betrachtung der jeweiligen Inseln durch einzelne Textstellen belegt werden. Nach dem Aufbruch von Piräus am Abend des 8. Februar kommt die Medusa bereits am Morgen des 9. Februar in der Hafenbucht von Melos an. Die Beschreibung des eigentlichen Landgangs beginnt mit den folgenden Worten: »Vom Landungsplatze ist es fast eine Stunde zum alten Städtchen hinauf […].« (Ebd., 121) Nun, bereits nach dem ersten Satz, fügt Ross eine Fußnote ein, in der er den hier relevanten Hypotext anführt, in diesem Falle den Melos betreffenden Abschnitt aus dem dritten Band der ›Inselreisen‹ (der vor den ›Königsreisen‹ erschienen war), in dem er eine zweite Reise beschreibt, die er – ohne Ludwig I. – im Jahr 1843 dorthin unternommen hatte. Dort heißt es bei der Darstellung des neuerlichen Aufstieges zum Hauptort: »Ich erinnerte mich des Eindruckes, den mir derselbe Anblick machte, als ich vor sieben Jahren zum ersten Male an einem frühen kalten Februarmorgen bei trübem bewölktem Himmel diesen Weg ging. Das Meer war damals grau wie der Himmel, die Hügel und Felsen schwarz, an den Gipfeln der Berge hingen zerrissene Wolken; es war ein Anblick, wie man sich die Wasser der Unterwelt vorstellen möchte: Per me si va nella città dolente!« (Ross 1845, 5) In den ›Königsreisen‹ dagegen ist von Wetter oder atmosphärischer Stimmung – die in den ›Inselreisen‹‘ mit dem Höllentor-Zitat vom Beginn des dritten Gesangs der Divina Commedia bildhaft ausgeschmückt wird – überhaupt nicht die Rede; statt auf dem eigenen Erleben von Ludwig Ross liegt der Fokus ganz auf Ludwig I. von Bayern. Dementsprechend heißt es im Hypertext: »Da hier nur schlechtgesattelte Maulthiere zu haben waren, zog der König als rüstiger Fußgänger es vor, den Weg zu Fuße zu machen. Seine Ankunft war so unerwartet, daß die verwunderten Einwohner es kaum glaubten, als man ihnen sagte, der schlichte Mann in dem einfachen grauen Rocke sey der König von Bayern, der Vater ihres Königs.« (Ross 1848, 121) Dies ist das erste einer Reihe harmloser und humorvoller – wenngleich bisweilen aus einem zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl heraus geschilderter – interkultureller Missverständnisse, die im Verlauf der unterschiedlichen Inselbesuche im Text in angedeuteter oder explizierter Weise inszeniert werden. Die Pointe dieser hier dargestellten kleinen Szene besteht darin, dass der geradezu ›bürgerliche‹ Auftritt des – allerdings auch in München für seine Sparsamkeit in persönlichen Dingen bekannten – bayerischen Königs der Erwartungshaltung der Inselbevölkerung, gewohnt an den Pomp der osmanischen Würdenträger, zuwiderläuft und daher für einige Überraschung sorgt. Nach einem kleinen Empfang beim französischen Vizekonsul, »dem angesehensten Manne des Eilands«, »gingen wir voll Spannung hinunter an den Ort der Ausgrabung in das Theater. Man hoffte nichts Geringeres als ein oder mehrere Seitenstücke zu der Venus von Melos zu finden« (ebd., 121). Das bereits zuvor entsandte Grabungsteam aber hat noch keine Fortschritte gemacht hat. Aus diesem Grunde wird der Beschluss gefasst, nach Ablauf einer Woche zurückzukehren und in der Zwischenzeit nach Thera weiter-
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zufahren, wo das Schiff noch am selben Abend Anker wirft. Auch in diesem Falle verliert Ross kein Wort über den ja durchaus spektakulären Anblick, der sich darbietet, wenn man sich zum ersten Mal dieser Insel nähert. Vielmehr setzt er hier ebenfalls gleich nach dem ersten Satz eine Fußnote, die auf frühere in den ›Inselreisen‹ erschienene Reiseberichte verweist, denen in der Tat eine Fülle von erdund naturgeschichtlichen, geographischen, volkskundlichen und archäologischen Informationen zu entnehmen ist. Dort schreibt er etwa über seine eigene erste Begegnung mit dem »Bassin« von Santorin im Sommer 1835 in aller Ausführlichkeit: »Die gegen das Bassin gerichteten Wände von Thera und Therasia sind […] schroff und steil, als wären sie mit dem Messer geschnitten; gleich vielfarbigen Bändern ziehen sich die rothen, grauen, grünen, schwarzen, gelben, blauen und weißen Schichten horizontal über einander hin.« (Ross 1840, 55f.) Auch hier setzt er, wie schon im Falle von Melos, seinen Eindruck von der sich bietenden Atmosphäre mit der Vorstellung einer schreckenerregenden Unterwelt in Verbindung: »Kaum eine Spur von Vegetation zeigt sich an diesen ausgeglühten Lava- und Aschenmassen; man glaubt, wenn der Sturm […] das Meer aufwühlt, in einen Höllenkessel zu blicken, aus dessen Mitte die schwarzen, seltsam geformten Basalteilande […] wie ein Hexenbrei hervorragen.« (Ebd., 56) Von all dem ist nicht die Rede – aber dieses Panorama wird beim Leser vorausgesetzt –, wenn Ross beschreibt, wie König Ludwig I. am nächsten Morgen am Fuße eben derselben vulkanischen Steilwand an Land geht. Es erwartet ihn eine Ansammlung von Würdenträgern: neben den Konsuln der europäischen Mächte sind dies vor allem die geistlichen Würdenträger von Santorin. An dieser Stelle verweist Ludwig Ross darauf, dass einige Kykladeninseln aufgrund der zeitweiligen Herrschaft der Venezianer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit konfessionell heterogen sind: es gibt dort sowohl orthodoxe als auch katholische Christen. Dies stellt den Hintergrund der folgenden Szene dar: Dazu kamen die zwei Bischöfe: der Griechische mit seiner großen, der Byzantinischen Kaiserkrone nachgebildeten Tiara auf dem Haupte, mit dem schweren silberbeschlagenen Evangelienbuche und seiner in bunte Meßgewänder gekleideten langbärtigen Geistlichkeit, und der katholische mit seinen eben so sorgfältig glatt rasirten Canonicis, welche beide um die Ehre stritten, Seine Majestät in die Stadt hinaufzugeleiten, der eine als eigentlicher Landesbischof, der andere auf den Grund der gemeinsamen Confession. […] Jeder kirchliche Conflict wurde dadurch vermieden, daß der König sich zunächst von [weltlichen Würdenträgern] umgeben ließ; und nun ging es so raschen Schrittes den Pfad hinauf, daß die Geistlichkeit in ihren schweren Gewändern Mühe hatte zu folgen. (Ross 1848, 123) Diese durchaus mit Gusto erzählte Anekdote von der abgehängten Geistlichkeit verweist im Übrigen auch darauf, dass Ross – norddeutsch-protestantischer Herkunft und latent antiklerikaler Gesinnung – weder mit der katholischen noch mit der orthodoxen Konfession viel anzufangen vermochte und die starke Rolle der
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institutionalisierten Religion als Hindernis für den Weg Griechenlands in die Moderne ansah. Danach besucht Ludwig I. Phira, den Hauptort der Insel, wo er die katholische Hauptkirche, eine private Antikensammlung und einige Herrenhäuser besichtigt. Und bereits am Abend des 10. Februar trifft die Medusa vor Anaphe ein, dem nächsten Reiseziel, dessen archäologische Fundstätten am nächsten Tage aufgesucht werden, ein »Mikrokosmus des antiken Lebens« (ebd., 124). Hier verweist Ross zwar ebenfalls auf einen früheren Reisebericht sowie auf eine separate, in den Schriften der Münchner Akademie der Wissenschaften erschienene Abhandlung, lässt sich aber auch im Hypertext selbst Zeit für eine Beschreibung des archäologischen Spaziergangs, den er mit dem König unternimmt, einen Spaziergang, den Ross, der sachkundige Begleiter, dem Monarchen ausdrücklich als lohnend nahegelegt hatte. Am Abend geht das Schiff in einer Bucht vor Ios vor Anker. Auf dem menschenleeren Teil der Insel gibt es nichts zu sehen, und Ross nutzt die Episode – diesmal ohne Verweis auf die ausführliche Beschreibung der Insel, die er an anderer Stelle gegeben hatte – für eine idyllisch wirkende Ruhepause im Text: »Es war ein wunderherrlicher Abend, der Himmel rein und tiefblau, das Meer glatt wie ein Spiegel, der Abendstern warf wie ein zweiter Mond seinen silbernen Streifen weithin über die blanke Fläche.« (Ebd., 127) Am Vormittag des 12. Februar ist Naxos erreicht, die »Königinn des Aegäischen Meeres« (ebd., 128). Hier werden erst eine Tempelruine und dann der Hauptort besichtigt. Zunächst »wiederholte sich der Streit zwischen dem Griechischen und Lateinischen Erzbischofe, wurde aber von S[einer] M[ajestät] durch eine herzliche Ermahnung zur Eintracht beseitigt« (ebd., 127). Danach machen der König und sein Gefolge »einen Gang durch die engen und krummen Straßen der Stadt […]. Der Jubel und das Gedränge war auch hier sehr groß; Alles rief: ›Sehet da den Vater unsers Königs, unsers Otto! möge er viele Jahre leben!‹« (ebd.) Diese affirmative Art und Weise der Darstellung zeugt neuerlich von Ross’ oft vertretener Auffassung, Griechenlands Weg in eine (›westliche‹) Moderne, verkörpert durch das Wittelsbacher Herrscherhaus, werde von der Bevölkerung begeistert mitgetragen. Als guter Philologe fügt er hier, gleichsam als Quellenbeleg und Authentizitätsbeweis, den entsprechenden Satz in Klammern auch noch im originalen Griechisch an: »(ἰδέτε τὸν πατέρα τοῦ βασιλέως μας, τοῦ Ὂθωνός μας! νὰ ζήσῃ χρόνους πολλούς), und Jeder beeiferte sich einen der freundlichen Grüße des Königs zu erhaschen.« (Ebd., 127f.) An der folgenden Szene zeigt sich wohl am deutlichsten, was die gesamte Beschreibung der Reise von Ludwig I. in die Ägäis prägt, nämlich dass die Reste der ›orientalischen‹ Mentalität – die Herrschaft des osmanischen Reiches ist schließlich erst vor wenigen Jahren zu Ende gegangen – bei den Bewohnern der abgelegenen Inseln in der Darstellung von Ross noch weitaus stärker verwurzelt ist als im neuen, im Entstehen begriffenen urbanen Zentrum Athen. »Dabei flossen die unsern Lesern bereits bekannten morgenländischen Ehrenbezeugungen, die aus
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den Fenstern gesprengten wohlriechenden Wasser, so reichlich daß nicht nur der König sondern auch seine Umgebung manchen Tropfen auf Haupt und Kleider erhielten.« (Ebd., 128) Auf den alten orientalischen Pomp und Schlendrian folgt – das ist nicht nur hier Ross’ Narrativ – die neue, bayerisch-europäische Austerität und Effizienz. Am Nachmittag geht es weiter nach Syros, wo im Rahmen eines festlichen Balles ein Treffen mit König Otto geplant ist. Aufgrund eines schweren Sturmes aber können die Passagiere dort nicht an Land gehen. Der Besuch dieser Insel muss gänzlich ausfallen. Wie aus anderweitigen Beschreibungen von Syros durch Ross hervorgeht, etwa aus seinem Bericht über einen Aufenthalt im Sommer 1835, hätte das aufstrebende Hermoupolis nicht nur aufgrund des Balles einen städtischen Kontrapunkt zu den bisherigen, provinziell anmutenden Ereignissen der Reise darstellen können: »Hermupolis«, so Ross, sei »jetzt die zweite, oder vielmehr, wenn man auf das eigene, innere Leben und die selbstständige [sic] Kraft sieht, die erste Stadt Griechenlands« (Ross 1840, 5), und auch 1840 freut er sich, dort »nach vierwöchentlicher Abwesenheit auf jenen einsamen Eilanden, wohin selten eine sichere Kunde aus der übrigen Welt dringt, wieder etwas Neues zu erfahren«. Das Treiben im dortigen Hafen charakterisiert Ross dementsprechend als »sehr rege« und kosmopolitisch, kein Wunder, denn »zwölf neue Schiffe lagen auf den Werften, um bald in See gelassen zu werden, und nicht weniger als vier französische Dampfschiffe gingen Nachmittags nach Athen, Konstantinopel, Alexandrien und Malta ab« (Ross 1843, 170). All das aber kann Ludwig I. nicht näher in Augenschein nehmen, denn aufgrund des Wetters muss die Fahrt am Morgen des 14. Februar auf direktem Wege weiter nach Tenos gehen, wo kurz die »in den Landen Griechischen Glaubens berühmt[e] Wallfahrtskirche« besichtigt wird (Ross 1848, 129). In der Beschreibung eines früheren Besuchs der ›Evangelistria‹ im Sommer 1835, auf die wieder eine Fußnote verweist, schildert Ross die Entstehung der Wallfahrt aufgrund eines Wunders und den Reichtum, welchen dieses zur Folge hatte, wobei auch hier sein unterschwelliger Antiklerikalismus spürbar wird: »Im Jahr 1824 träumte einer Nonne, daß auf dieser Stelle ein Bild der Mutter Gottes vergraben sey; man grub nach, und wie begreiflich fand man das Bild. Dieß ist ein in Griechenland oft geübtes Wunderwerk, wenn die Priester irgendwo eine Kirche oder ein Kloster zu bauen wünschen.« (Ross 1840, 16f.) Süffisant fährt Ross fort: »Indeß hat das Unternehmen nicht immer so erstaunliche und wahrhaft wunderbare Erfolge« wie hier, denn »[t]ausende von frommen Pilgern […] strömten fortan herbei.« (Ebd., 17) »Die Nonne und der Priester, welche sie zu dem segensreichen Träume angestiftet, verdienen, daß das dankbare Tenos ihnen für die neueröffnete Gewerbsquelle Statuen errichte.« (Ebd.) Auf Delos und Rheneia zeigt Ross dem Monarchen dann die dortigen antiken Stätten. In einem einzigen langen Satz wird festgehalten: »Auf Delos nahm der König Alles in Augenschein, was von den grauenvoll zerstörten Denkmä-
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lern dieser einst so reich geschmückten Götterinsel noch übrig ist: die Trümmer vom Tempel des Apollon und von der Stoa des Königs Philipp, den heiligen See mit seiner ovalen Einfassung, das große Theater und andere Ruinen, und Nachmittags machten wir auch einen Gang durch die Gräberstadt von Rheneia.« (Ross 1848, 129) Für alles Weitergehende verweist Ross wieder auf seine weitaus umfassenderen Ausführungen an anderer Stelle. Die Medusa ankert dann erneut vor Syros und am Abend kommt König Otto, der mit einem anderen englischen Kriegsschiff angereist war, wenigstens zu einem kurzen Besuch an Bord, um seinen Vater zu begrüßen. Am Morgen des 15. Februar ist schnell Paros erreicht, besichtigt werden die Stadt, die Hauptkirche, die Marmorbrüche, »und was es hier sonst Sehenswerthes gab« (Ross 1848, 131). Für die Beschreibung all dessen wird nach dem gewohnten Schema auf den Aufenthalt von 1835 verwiesen. Ausführlich geschildert wird stattdessen eine Szene, die den Übergang vom alten zum neuen Herrschaftsstil – und das damit verbundene Potenzial für kulturelle Missverständnisse – neuerlich explizit macht: Bei der Ausschiffung trug sich ein Mißverständnis zu, das später nicht wenig Stoff zur Heiterkeit gab. Auf der Insel lebten damals zwei Gebrüder Mavrogenis, Neffen eines ehemaligen Hospodars der Moldau und Wallachei, die ihre Begriffe von fürstlicher Würde und Hofsitte von jenem morgenländischen Satrapenhofe ihres Oheims entlehnt hatten. Ein Hospodar aber, bevor die Griechische Revolution und ihre Nachwirkungen auch dort die alten Verhältnisse umgestaltet und neue Verhältnisse eingeführt, pflegte sich entweder nie zu Fuße zu zeigen oder doch nur gestützt auf zwei Beamten, die ihm unter die Arme faßten und ihn mehr trugen als gehen ließen. Kaum hatte nun der König von Bayern die Barke verlassen und den Fuß ans Land gesetzt, als auf Veranlassung jener hofkundigen Brüder zwei der angesehensten Bürger, um ein gekröntes Haupt würdig zu empfangen, Seiner Majestät herzhaft unter die Arme griffen; und nur mit Mühe konnten [wir], nachdem wir herbeigeeilt waren, den Pariern begreiflich machen, daß die Europäische Sitte den Königen nicht verbiete, auf eignen Füßen zu gehen. Nach Beseitigung dieses Mißgriffes, dessen wohlgemeintes Ungeschick den König sehr ergötzte, besuchten wir die Stadt. (Ebd., 130f.) Kurze Zeit später erfolgt bereits die Abreise nach Melos. Dort wird erneut das antike Theater besucht, wo die Ausgrabungen im Verlaufe der vergangenen Woche zügig vorangeschritten waren. Doch es kommt zu einer Enttäuschung: »Allein die Ergebnisse entsprachen nicht den gehegten Erwartungen. Das Theater erwies sich […] als ein Werk Römischer Zeit; und von Sculpturen hatten sich, statt der gehofften Seitenstücke zu der Melischen Venus, nur geringe Fragmente und ein Kopf im nachgeahmten Aegyptischen Style gefunden.« (Ebd., 131f.) Damit endet das den Kykladen gewidmete Kapitel im Reisebericht, dessen Struktur – in Übereinstimmung mit dem Aufbau vieler anderer Texte von Ross – durch den Spannungsbogen
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der Suche nach einer zweiten Venus von Milo klammerartig zusammengehalten wird. Das nächste Kapitel beginnt mit der Feststellung: »Die Umreise des Aegäischen Meeres war beendet.« (Ebd., 133) Noch in der Nacht war die Abreise aus Melos erfolgt, am 16. Februar werden dann »die beiden berühmten Schifferinseln Hydra und Spetzä, deren heldenmüthige Bevölkerung […] fast allein die Last des Seekrieges gegen die Türkischen Flotten getragen hatte« (ebd.), kurz besucht, bevor König Ludwig in Nauplia von Bord geht und auf der oben beschriebenen Route nach Athen zurückkehrt. Insgesamt lässt sich der Eindruck, der sich aus der Beschreibung der Ägäisfahrt mit Ludwig I. sowie den ergänzenden Textstellen aus den ›Inselreisen‹ ergibt, wie folgt zusammenfassen: Ross geht einerseits auf die Besonderheiten der einzelnen Inseln ein, wie etwa die zwei Konfessionen, setzt das, was er dort sieht und erlebt, aber immer in einen Zusammenhang mit den jeweils aktuellen Verhältnissen im jungen Staatswesen Griechenland, einem Staat, mit dem er sich identifiziert und den er als Heimat empfindet. Wenn er – und dies zugegebenermaßen aus der Perspektive eines westeuropäischen Sendungsbewusstseins heraus manchmal leicht ironisierend und von oben herab – orientalisch anmutende Szenen in Griechenland und im Speziellen auf den eher abgelegenen Ägäisinseln beschreibt, so geschieht dies in der Regel mit dem Hinweis darauf, dass das aufgrund der jahrelangen Herrschaft durch das Osmanische Reich zwar noch so ist, dass aber die Bevölkerung rasch hinzulernt und sich dem Neuen öffnet. Dies ist eine ganz andere Herangehensweise als etwa die von Fallmerayer, der in den Griechenland gewidmeten Passagen seiner Fragmente aus dem Orient (1845) immer dann, wenn er, in äußerst kaustischem Ton übrigens, Orientalisches schildert, darauf verweist, dass Griechenland essentiell dem Orient angehört und immer angehören wird (Lindinger 2019, 85f.). Und so hat sich Ludwig Ross, ähnlich wie der 1862 abgesetzte König Otto in seinem Bamberger Exil, auch nach der erzwungenen Rückkehr nach Deutschland bis an sein Lebensende publizistisch eingesetzt für, und zurückgesehnt nach, Griechenland und seiner Inselwelt.
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In der Ägäis unterwegs mit Seiner Majestät
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Die »unsichtbare Hand« Gottes im Paradies Zu Fallmerayers literarischem Reisebericht Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos Aglaia Blioumi
Die andere Reiseliteratur Der Name Jakob Philipp Fallmerayer ruft in der griechischen Gesellschaft auch heute noch Unbehagen hervor, war es doch jener Historiker, der dem modernen Griechenland jeden Bezug zur Antike absprach, die Vermischung und Kreuzung mit »slawischem Blut«, wie es in der Einleitung seiner zweibändigen Studie Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters (1830/1836) heißt, postulierte und aufgrund der angeblich slawischen und albanischen Einwanderungswellen in der Region zur Idee der Balkanisierung Griechenlands beitrug (vgl. Lindinger 2019). Zahlreiche Historiker und Linguisten, wie z.B. Paparrigopoulos (Zelepos 2013), Kopitar und Vasmer (Schreiner 2013, 51f.), antworteten mit Gegenargumenten. Seinen Reisebüchern als literarischer Gattung ist jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Trotzdem wird gelegentlich der hohe Wert seiner literarischen Sprache unterstrichen, nach Lauer sei er gar ein hervorragender Stilist, ein Meister der deutschen Sprache gewesen (vgl. Lauer 2013, 31). Die literarische Sichtung seiner Reiseliteratur ist Ziel des vorliegenden Beitrags, in dem, ungeachtet der historischen Thesen, Alteritätsformationen in den Athos-Kapiteln des Reiseberichts Fragmente aus dem Orient (1845) untersucht werden. Das Augenmerk gilt den Athos-Kapiteln, weil aufgrund der Thematik Erkenntnisse über die Distanzierung Fallmerayers von seinen historischen Thesen und die daraus folgende Akzentsetzung auf die literarische Gattung der Reisebeschreibung erhofft werden. Deutschsprachige Reiseberichte über den Athos stellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts die andere Reiseliteratur dar, fern von der Griechenlandsehnsucht und -verklärung des klassisch gebildeten Bürgertums, deren Suche einem alternativen Lebensmodell gilt (vgl. Rassidakis 2019, 119f.). Nach Julia Patrut ist die kollektive Imagination des europäischen Südostens in jener Zeit ein in Bezug zum Okzident asymmetrisches Diskursfeld (Patrut 2014, 226). Diesbezüglich werde ich mich bei der Präsentation von Alteritätsformatio-
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nen den Konstruktionen und Funktionen der Darstellungen widmen; das Interesse wird den eventuell vorhandenen Asymmetrien gelten, wobei die Sprachkraft der Reisebeschreibungen im Rahmen einer textnahen Lektüre nicht unerwähnt bleiben wird.
Kurze Darstellung von Fallmerayers Leben und Werk Der Historiker, Publizist und Politiker Jakob Philipp Fallmerayer wurde 1790 in Brixen, in Tirol geboren und stammt aus einfachen Verhältnissen (vgl. Lindinger 2019, 79). Fallmerayer studierte in Salzburg (1809-1812) und Landshut (1812/13) Theologie, Philosophie und Literatur, danach Sprachwissenschaft, Geschichte, klassische und orientalische Philologie, ebenso Jura. In diesen Jahren kam er dem Gedankengut der Aufklärung nahe und entfaltete eine dezidiert antiklerikale Grundhaltung (vgl. ebd.). Nach seinem Militärdienst – er nahm 1813 als Unterleutnant des Königreichs Bayern an der Schlacht von Hanau teil – arbeitete er als Lehrer in der Universitätsstadt Landshut. 1824 griff er als einziger Bewerber eine Preisfrage der Dänischen Akademie der Wissenschaften auf und erntete positive Kritik (vgl. Schreiner 2013, 36). 1830 wurde er korrespondierendes und 1835 ordentliches Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (vgl. Märtl 2013, 16). Großes Aufsehen erregte Fallmerayers bereits erwähnte zweibändige Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters (1830/1836). Weitere Schriften, die die Geschichte Griechenlands bzw. des Balkans behandeln, sind Welchen Einfluß hatte die Besetzung Griechenlands durch die Slaven auf das Schicksal der Stadt Athen und der Landschaft Attika? (1835) sowie Das albanesische Element in Griechenland (1857/1860). Als wichtigstes Werk gilt seine zuerst erschienene Schrift Geschichte des Kaisertums von Trapezunt (1827). Als Begleiter des russischen Grafen Alexander Iwanowitsch Ostermann-Tolstoi – er begleitete ihn insgesamt auf zwei Reisen (1831-1834 und 1840-1842) – kam er ab 1831 nach Ägypten, Jerusalem, Konstantinopel und Griechenland. Diese erste Reise dauerte bis 1834, zwei weitere folgten in den Jahren 1840 bis 1842 sowie 1846/1847. Ostermann-Tolstoi förderte Fallmerayer auch finanziell (vgl. Lauer 2013, 25). Fallmerayer unternahm seine Orientreisen nicht zwingend aus purem wissenschaftlichen Interesse bzw. im Sinne des Betretens von Neuland um des Erkenntnisgewinns willen, sondern sie sollten seine vorab aufgestellten Thesen mit vor Ort gewonnenen Belegen untermauern und lassen infolgedessen auf eine voreingenommene Sichtweise schließen. »Seine Reisen in den östlichen Mittelmeerraum trat Fallmerayer erst an, als er seine Griechenlandthese bereits aufgestellt hatte, und zwar nicht zuletzt mit dem Vorsatz, letztere zu bestätigen.« (Lindinger 2019, 80; vgl. Märtl 2013, 16; Seidler 1947, 45)
Die »unsichtbare Hand« Gottes im Paradies
Fallmerayer erhielt den Beinamen des »Fragmentisten«, den er sich wohlgemerkt eher missmutig zu eigen machte (vgl. Märtl 2013, 17), da er zwischen 1842 und 1843 in Fortsetzungen 15 Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichte, in denen er seine zweite Orientreise dokumentierte (vgl. Brenner 1990, 357). Die Grundlage für die Druckfassung bildete ein Reisetagebuch, das Fallmerayer bereits auf seiner ersten Orientreise 1831 zu führen begann. Die Buchform erschien schließlich 1845 bei dem renommierten Stuttgarter Verleger J.G. Cotta, was nach Brenner (1990, 357) nicht nur ein Indiz für das große Ansehen Fallmerayers ist, sondern insgesamt des Reiseberichts als literarische Gattung in der Restaurationszeit. Seit seinen Reisen erschienen zunächst der zweite Teil der Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters (1836), Fragmente aus dem Orient (1845), die Neuen Fragmente aus dem Orient (1861) sowie die Gesammelten Werke (1861) (vgl. Märtl und Schreiner 2013; Riedl 1978). Fallmerayers kontrovers diskutierte These stützt sich auf den Gedanken, dass für große Teile Griechenlands eine von Byzanz und den größeren Städten ausgehende griechische Wiederbesiedelung der durch slawische Einwanderer besiedelten ländlichen Gebiete erfolgte, um so die Verwendung der neugriechischen Sprache durch die dortigen Bewohner zu erklären. Um dies zu belegen, stützte er sich methodisch auf Quellen aus byzantinischer und osmanischer Zeit, etwa Mönchschroniken, andererseits interpretierte er Orts- und Eigennamen, indem er sie auf ihre slawischen Wurzeln zurückführte (vgl. Lindinger 2019, 84) bzw. auf existierende slawische Ortsnamen in anderen Gebieten des Balkans verwies. Fallmerayer ist ein modernes, aber nicht unproblematisches Verständnis nationaler Zugehörigkeit zu attestieren, zumal er auch bei den Neugriechen einen albanesischen Körperbau und Gesichtszüge zu erkennen behauptete (vgl. Kilian 2013, 34). Der Eintritt in die Politik hatte für den »Fragmentisten« fatale Folgen. Als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung verlor er nach Auflösung des Rumpfparlaments 1849 seine Professur an der Münchner Universität und flüchtete in die Schweiz. Fallmerayer kehrte 1850 nach München zurück und führte seine schriftstellerische Arbeit in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, im Gelehrten Anzeiger und in den Abhandlungen der Bayrischen Akademie der Wissenschaften fort. Fallmerayer starb 1861 kurz vor Erscheinen der von ihm besorgten Ausgabe seiner Gesammelten Werke (vgl. Riedl 1978, 126).
Verziertes Palimpsest im Dienste der Thesentilgung Für die folgenden Betrachtungen benutzte ich die von G.M. Thomas herausgegebene und ebenfalls bei Cotta verlegte zweite Auflage der Fragmente aus dem Orient (1877) mit der Sigle AthosF, die von F.H. Riedl unter dem Titel Hagion Oros oder Der Heilige Berg Athos besorgte Ausgabe (Bozen 1978) mit der Sigle AthosR und den zwei-
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ten Band des von Ludwig Rohner edierten Sammelwerks Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten (Berlin 1968) mit der Sigle AthosRo.1 Die vergleichende Sichtung dieser Ausgaben ist notwendig, weil eine aufmerksame Lektüre von Riedls kompakter Ausgabe ergab, dass der Herausgeber Stellen, die Fallmerayers historiografische, physiognomische und linguistische Thesen unterstützten, kommentarlos ausgespart hat. Dadurch erscheint der Text als ein schöner, in einer plastischen Sprache verfasster Reisebericht. Allerdings ist anzumerken, dass diese Tilgungen nicht in den Athos-Kapiteln selbst, sondern in dem darauffolgenden Kapitel »Fünf Wochen in Thessalonika« festzustellen sind, das aber Bezüge zum Athos aufweist. Im vorliegenden Beitrag werden gelegentlich auch Stellen aus diesem Kapitel herangezogen, um einen größeren Interpretationskontext herzustellen. Es muss auch erwähnt werden, dass in Riedls Ausgabe sogar größere Textstellen fehlen, wie z.B. die Seiten AthosF 341-345, auf denen u.a. die Standpunkte anderer Reiseliteraten wie Cousinéry, Leake, Urquhart, Grisebach widerlegt werden, die den zeitgenössischen Griechen im Raum »Thracien« und »Macedonien« anhand ihrer Physiognomie eine Abstammung von den antiken Griechen attestieren. Fallmerayer schlussfolgert, dass es sich hierbei um eine »byzantinisch[e] Colonisation nach der Wiedereroberung der Provinz […] im 7ten und 8ten Jahrhundert« (AthosF 341) handelt, was als ein Eckpfeiler in seinem Theoriegebäude gelten kann. Ebenso fehlen die Seiten AthosF 346-364, die den kompletten letzten Teil des Kapitels »XI. Fünf Wochen in Thessalonika« (AthosF 327-364) ausmachen. Darin ist u.a. die Rede von der desolaten Finanzlage des griechischen Klerus, woraus die angebliche Scheu gegenüber dem europäischen Geist entspringe und »im byzantinischen Clerus alle Sympathie für Deutschland, seine Weisheit und seine Regierungskunst [ersticke]« (AthosF 347), den byzantinischen Christen bliebe nichts anderes übrig »›[…] als in Demuth und Geduld zu warten, bis die Russen kommen und der türkischen Ökonomie in Stanbul ein Ende machen‹« (AthosF 348). Dieses Zitat, das Fallmerayer als solches in Anführungszeichen, aber ohne Angabe der Quelle, in seinen Text aufnimmt, unterstützt offensichtlich die von der Forschung formulierte These, dass Fallmerayer, wie im Weiteren noch gezeigt werden wird, eine europäische Machtverschiebung befürchtete. Über die Gründe der Auslassungen in Riedls Ausgabe kann vermutet werden, dass der Herausgeber vermeiden wollte, dass dem Text Fallmerayers eine Vorreiterrolle in Richtung Rassentheorien zugesprochen wird. Nicht zufällig konstatiert Seidler in seiner im Jahre 1947 verfassten Studie, dass Fallmerayer »wohl zum erstenmal eine Art rassenwissenschaftlichen Standpunkt – natürlich noch ohne die Erkenntnisse moderner Rassenforschung – zur entscheidenden Grundlage geschichtlicher Betrachtung gemacht [hat]. Zweifellos hat Fallmerayer die letzten 1
Die folgenden Fallmerayer-Zitate folgen in Orthografie und Interpunktion der zweiten Ausgabe von 1877.
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und sicher nicht unbedeutenden Umschichtungen des Rassengefüges in Griechenland als erster erkannt und dargestellt« (Seidler 1947, 44), obgleich gegenwärtige Untersuchungen diese Option abstreiten (vgl. Kilian 2013, 37). Die Gründe der Auslassungen können gewissermaßen auch aus dem Original entnommen werden. Riedls nicht so ganz exakte Editionsarbeit2 gipfelt darin, dass das zweite Athos-Kapitel fälschlicherweise nicht mit dem ursprünglichen Absatz endet, sondern mit dem ersten Absatz des ursprünglich übernächsten Kapitels »Reise von Thessalonika nach Larissa. Zweimonatlicher Aufenthalt in Thessalien«, wo geäußert wird: »Der Leser fühlt so gut, wie ich selbst, dass der romantische Teil der Reise eigentlich in Saloniki geschlossen ist. Wir nähern uns der Sorge und dem Kampf.« (AthosF 365) Es ist augenscheinlich, dass mit den Auslassungen ein Entpolitisierungsakt unternommen wird und die Athos-Kapitel tatsächlich zur anderen Reiseliteratur gehören, die im fallmerayerschen Kontext nicht nur Abkehr von der Antikenverklärung bedeuten, sondern vielmehr die Gattung des literarischen Reiseberichts unterstützen, da hauptsächlich auf die Reiseerfahrungen fokussiert wird. Selbstverständlich verspricht die Sichtung gerade der Auslassungen einen großen Erkenntnisgewinn insbesondere im Hinblick auf Fallmerayers Thesen, die aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde.
Zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Literatur. Lob der Dualismen Der Reisebericht Fallmerayers kann als wissenschaftlich verstanden werden, da er die Reise unternahm, um in Bibliotheken Quellen-Fragmente bzw. historische Dokumente zu suchen, die seine historiografischen Thesen unterstützen sollten, wobei Reisen mit dem Zweck der Untermauerung der eigenen Thesen, wie bereits erwähnt, in der Reiseliteratur der Restaurationszeit keine Seltenheit waren (vgl. Kilian 2013, 32). Die seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts entstehende deutsche Reiseliteratur über Griechenland war dabei keine Ausnahme (vgl. Schober 2015, 2ff.). Den Grund seiner Reise formulierte Fallmerayer in seiner Schrift wie folgt: »Sacristei und Handelscomptoir sind hier die einzigen Archive der Weltgeschichte. Dieser Gedanke hat mich auf den Hagion-Oros geführt und durch die gewonnenen Resultate Eigenliebe und wissenschaftliches Bestreben zu gleicher Zeit befriedigt.« (AthosF 326; AthosR 102-103) Das wissenschaftliche Bestreben wird explizit betont. In Verbindung mit der Veröffentlichung der Fragmente in der Augsburger Allgemeinen Zeitung lässt sich auf einen popularisierenden Wissenschaftsstil schließen. Das 2
Auf die mehr oder weniger vorsichtige Angleichung an den modernen Sprachgebrauch kann an dieser Stelle trotz ihrer Wichtigkeit nicht weiter eingegangen werden.
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im Text häufige Anführen von Quellen und Anmerkungen dient dem wissenschaftlichen Bestreben, während die direkte Anrede an den Leser an verschiedenen Stellen vielmehr den populären Charakter der Darstellung unterstreicht. Folglich fügt sich Fallmerayer in die gängige Praxis der Reiseliteratur der Restaurationszeit ein, zumal die Berichterstattung aus dem Imaginativ des exotischen Orients mit wissenschaftlichem Eifer und einem allgemein verständlichen Schreibstil einhergeht (vgl. Rapp 2016, 98; Blioumi 2020, 248). Ich zitiere exemplarisch eine der vielen Stellen: Vergessen Sie ja nicht, was ich früher von der Riesenfülle und Lebenskraft des Pflanzenwuchses dieser Gegend schrieb. Denken Sie noch den sonnenwarmen Mittag, die herbstlichen Tinten der Luft und das schwärzlich blaue Wasserpanorama mit Olymp und Halbinsel Sithonia auf der einen, mit Thasos, Samothrake und dem thracischen Pangäus auf der andern Seite, und Sie werden begreifen, was man auf dreistündigem Ritt über eine solche Scene empfunden hat. (AthosF 293; AthosR 72) Es handelt sich um einen stark individualisierten Schreibstil, der »gezielt und reflektiert zur Herstellung einer Autor-Leser-Beziehung und zur Steigerung der Überzeugungskraft« (Brenner 1990, 357) eingesetzt wird. In seiner holistischen Sichtung zum Werk Fallmerayers konstatiert Leeb, dass der Autor in der publizistischen Arbeit idealiter die Möglichkeit einer Kopplung von fundierten Kenntnissen historischer Prozesse mit den eigenen Interessen für aktuell politische Entwicklungen in Deutschland und Europa zu verbinden vermochte, als auch zugleich die deutsche öffentliche Meinung und Politik zu beeinflussen versuchte (vgl. Leeb 1996, 219). In Bezug auf die inhaltliche Struktur äußert Fallmerayer selbst, dass die verschiedenen Klosterbesuche auf dem Athos nicht chronologisch aufgeführt werden, was untypisch für die Gattung des Reiseberichts sei, das wichtigste wäre schließlich ein Originalfragment aus Trapezunt: »[…] eine Commission brachte feierlich den heiligen Schrein mit der kostbaren Reliquie des Imperators von Trapezunt.« (AthosF 295; AthosR 74) Im gesamten Buch werden die Erzählabschnitte mit einer Überschrift der Reisestationen, wie bei anderen Griechenlandreisenden, dargeboten (vgl. Löschburg 1998, 194). Die Reisebeschreibungen zum Athos bestehen aus den Kapiteln »IX. Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos 1« (AthosF 233-266) und »X. Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos 2« (AthosF 267-326), in denen die Geschichte der Mönchsrepublik und ihre Systematisierung je nach den Gepflogenheiten der jeweiligen Klosterverwaltung beschrieben werden, doch eine Beschränkung auf die Darstellung des Lebens der Mönche ist es keinesfalls. Der Darstellungsstil wird zusätzlich an den Kunstcharakter des Schreibens angeschlossen:
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Nicht allein der Glaube ist es, der die Welt besiegen lehrt, Wisst, dass auch die Kunst in Flammen das Vergängliche verzehrt. (AthosF 326; AthosR 103)3 Nach Brenner (1990, 357) kennzeichnet die Umarbeitung des Reisetagebuchs zu publizistischen Texten »sprachliche und stilistische Änderungen in künstlerischer Absicht, […] wo er mit Landschafts- und Reiseschilderungen emotionale Wirkungen erzielen will; bei der Darstellung wissenschaftlicher Aussagen hingegen beläßt er die Tagebuchaufzeichnungen weitgehend in ihrer ursprünglichen Gestalt«. Das Zitat August von Platens bestätigt diesen Ansatz insofern, als es sich zweifelsohne um eine rhetorische Gestaltung handelt, die die Nähe zum Leser sucht und ihm gegenüber vor dem Enthüllen der emotionsreichen Annäherung an das Fremde nicht haltmacht. So schreibt er im Kapitel »Fünf Wochen in Thessalonika«: »Empfinden will ich, Gefühle wechseln, entbehren, schweigen, fürchten, hoffen, was man bei der Glätte und gleichförmigen Geschwindbewegung des öffentlichen Lebens in Europa bald nicht mehr kann.« (AthosF 329-330; AthosR 105) Kurz: Der publizistische Stil hat eine rezeptionssteuernde Funktion, die über die Herstellung einer Autor-Leser-Beziehung das Ziel verfolgt, die eigenen Thesen einem breiteren Lesepublikum bekannt zu machen. Die Darstellung der Facetten von Fallmerayers Thesen wirken im Rahmen des Reiseberichts, wie z.B. im Kapitel »Fünf Wochen in Thessalonika«, wie längere Exkurse, die linguistische, geografische oder historische Analysen vornehmen. Daraus kann gefolgert werden, dass seine Annäherung an das Fremde von vornherein eine voreingenommene, zielgesteuerte Herangehensweise ist, denn seine Perspektive dient der Bestätigung der eigenen Thesen und ist keine Perspektive des Kulturkontakts, die sich zumindest von der Intention her ein unvoreingenommenes Kennenlernen des Fremden zum Ziel setzt. Dieses Ziel wird m.E. strikt verfolgt und darüber hinaus durch literarische Eingriffe, ergo durch die Poetisierung der Sprache, insbesondere in den Athos-Kapiteln, unterstützt, wovon er sich wiederum die Verbreitung seiner Thesen in den deutschsprachigen Ländern verspricht. Zur Erläuterung: Auch so viel ist einzugestehen, dass nach den historisch begründeten Metzeleien und Verheerungen auf Kassandria und in ganz Chalkidike während des 6ten und 7en Jahrhunderts n.Ch., im besagten Chersonese sowie am ganzen Küstenstriche, hinauf bis Saloniki einerseits und bis Polyhiero im immergrünen Walde anderseits, sich keine slavische Niederlassungen gebildet haben und somit der westliche Distrikt mit dem grössern Theil der 15 Freidörfer und der Halbinsel Kassandra dem byzantinischen Griechenblute zu vindiciren sei. Der Ostdistrikt dage-
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Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus August von Platens Komödie Die verhängnisvolle Gabel (1826). Für diesen Hinweis danke ich ganz herzlich Michael Stork.
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gen, das eigentliche Erzgebirge mit den Gold- und Silbergruben, ward vollständig slavinisirt. (AthosF 341-342)
Die Technik der Autopsie In Kontext der Wechselwirkung zwischen historiografischem Anliegen und Literatur ist ebenso die Methode der Autopsie zu beachten: Um seine Thesen zu verifizieren, muss er vor Ort gewissermaßen Feldforschung betreiben. Indem aber Fallmerayer eine damals wenig bereiste Region journalistisch und literarisch beschreibt, stillt er das Fernweh seines Lesepublikums, bietet ihm Exotik und Unmittelbarkeit bzw. die Unmittelbarkeit der Exotik an, was wiederum die Autor-Leser-Beziehung stärkt und folglich der Verbreitung seiner Thesen dient. Hierbei ist anzumerken, dass in Reiseberichten der Restaurationszeit die Beschreibung der fremden Erfahrungswelt häufig durch Anekdoten angereichert wurde. Das Einflechten von Anekdoten hat selbstverständlich eine verifizierende Funktion, weil dadurch das Erzählte beglaubigt wird und dem Publikum die Informationen anschaulich vermittelt werden. Es handelt sich dabei um eine in jener Zeit übliche Schreibpraxis, die ebenfalls in der Reiseliteratur anderer Regionen ausgemacht werden kann (vgl. Dürbeck 2007, 105). So heißt es in Bezug auf soziale Gleichheit: In gleicher Weise habe ich ein ehrwürdiges und beredtes Mitglied der Junta von Karyäs nach der Sitzung mitten unter seinen Dienern – das Messer in der einen und den riesigen Kohl in der andern Hand, in der Küche angetroffen. Welche Scene hätte dies in Europa gegeben! […] Krautschneiden und Regieren, scheint es, kann man auf Hagion-Oros zu gleicher Zeit. (AthosF 311; AthosR 88) Unverkennbar wird hier die Unbedarftheit und das Fehlen des Höherwertigkeitsgefühls von Seiten eines wohlgemerkt »ehrwürdigenden Mitglieds« des Athos verherrlicht und dem unterstellten europäischen Standesdünkel gegenübergestellt. Ansätze eines Rousseaunismus sowie eines Freiheitsstrebens lassen sich erkennen, wobei anzumerken ist, dass nach Sklavounos Fallmerayer generell den Optimismus Rousseaus und den revolutionären Geist seiner Zeitgenossen teilte, um sich für den mittleren Weg der Immanenz und der Institutionalisierungen auszusprechen (vgl. Sklavounos 2008, 610). Der häufige Verweis griechischer Forschungsarbeiten auf gefälschte Fakten und Anekdoten im Werk Fallmerayers kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur kurz angeschnitten werden. So heißt es im Athos-Kapitel über einen Archimandriten aus dem Kloster Vatopädi: Der Mann war Albanese von Geburt und durch mehr als zwanzig Jahre Seelenhirt der griechischen Gemeinde zu Bitolia (Monastir) [Herv. im Original] im Pindus.
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[…][Er] kehrte müde des Tagwerkes mit den Früchten seiner Frömmigkeit und seiner Sorgen in die Stille von Vatopädi zurück. (AthosF 273; AthosR 46) Nach Mavridis und Mavridou-Primavera (2005, 128) ist die Distanz zwischen der Stadt Bitola (Monastir) im Süden des heutigen Nordmazedonien (vormals FYROM) und dem Bergmassiv Pindus zu groß, sodass diese Angaben nicht zusammenpassen. Auch Sklavounos (2008, 632) behauptet an anderer Stelle, dass Fallmerayer den Text eines Pfarrers der Region Diokleia (Montenegro) verfälscht habe. Die zahlreichen Bemühungen der griechischen Forschung, solche Stellen ausfindig zu machen und zu dokumentieren, markiert einen auffallenden Gegensatz zur deutschsprachigen Forschung, wo u.a. die saubere und originelle Forschungsarbeit Fallmerayers hervorgehoben wird. So behauptet z.B. Schreiner, dass »mit den Original-Fragmenten ein ›Quellenband‹ entstanden [ist], wie er im 19. Jahrhundert in anderen Bereichen noch lange auf sich warten ließ« (Schreiner 2013, 47). Abgesehen von der inhaltlichen Stichhaltigkeit der jeweiligen Argumente bleibt hervorzuheben, dass in diversen historischen Forschungsarbeiten beider Seiten eine etwas einseitige Perspektive den Ton angibt; während griechische Forscher den Akzent auf die defizitäre Forschungspraxis Fallmerayers legen, betonen deutsche Forschungsarbeiten seine wissenschaftliche Methodik. Dieses macht die Notwendigkeit zukünftiger gemeinsamer Forschungsprojekte deutlich. Aus germanistischer Perspektive jedenfalls darf an dieser Stelle konstatiert werden, dass in den Texten Fallmerayers gemäß der Tradition der Reiseliteratur der Restaurationszeit Anekdoten aus der Reiseerfahrung verflochten werden, um den Stoff für ein breiteres Lesepublikum aufzulockern und lesefreundlicher zu gestalten.
Bericht über den Athos: Verklären statt erklären? In Bezug auf die Darstellungstechnik werden, wie bereits angeführt, direkte Vergleiche mit Europa benutzt. Die Vergleichsbasis ist dabei eine kontrastierende, wobei der Athos angeblich die positive Projektion Europas ist, zumal der Mönchsstaat in den meisten Fällen idealisiert wird. Thier und Wanderer genossen der Mittagsruhe, und im Gefühl der Waldunabhängigkeit lachte ich beinahe laut beim Gedanken, wie oft der Mensch im Occzident aus Unkunde wahren Glücks nach Phantomen hascht und wie oft er feige um kindischen Flitter, um thörichten Lohn Ehre, Gut und Zufriedenheit verkauft. (AthosF 276; AthosR 58) Fallmerayer erstellt binäre Oppositionen, sobald es um kulturelle Vergleiche geht, z.B. Europa vs. Anatolien, byzantinische Gleichheit vs. europäische Ungleichheit u.a., wobei Ausgangspunkt aller Detailbeobachtungen die weitgefasste Opposition
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Okzident vs. Orient ist. Bezeichnenderweise spricht er häufig von Byzanz oder vom Orient. Andere Reisebuchautoren jener Zeit bieten dagegen mehrere Varianten an, wie z.B. die Levante oder die Levantiner (z.B. Zachariä von Lingenthal in seiner Reise in den Orient [1840]), wodurch eine vornehmlich geografische Abgrenzung unternommen wird. Bei Fallmerayer ist die Kontrastfolie permanent der Okzident und der Orient, die imaginäre kulturelle Größen ausmachen, der Begriff Levante wird dagegen nur selten benutzt. Nichtsdestoweniger ist zugleich auf die Tradition der Philhellenenliteratur zu verweisen, die stark auf dualistische Konstellationen (Berg 2013, 170; Antonopoulou 2013, 206) der Alterität zugeschnitten war. Folglich stellt Fallmerayers ästhetisches Programm keinesfalls ein Unikum dar, vielmehr kann es als Weiterführung der binären Narrativik gelten. Anklänge an den in anderen Texten Fallmerayers herausgestellten Rousseaunismus können ebenso, wie bereits kurz erwähnt, in den Athos-Kapiteln vernommen werden. So heißt es: »Welche unsichtbare Hand schirmt etwa dieses Laubparadies vor der Zerstörungshand der Industrie?« (AthosF 275; AthosR 57) Voß unterstreicht für Fallmerayers Gesamtwerk, dass bei genauerer Lektüre gar »auch Anleihen bei der Rousseauschen Verklärung von Nichteuropäern als ›Edle Wilde‹« (Voß 2013, 125) festzustellen sind. Offensichtlich gibt es Anklänge an Rousseau, die sich im Athos-Bericht durchgehend durch eine Zivilisationskritik ausdrücken. Fallmerayers Reisebericht verfolge schließlich »in letzter Instanz politische Ziele« (Brenner 1990, 359). Auf welchen deutschen Verhältnissen der Reisebericht rekurriert, wird aus den Kapiteln zum Athos nicht deutlich. Deutlich wird, dass kontrastierende Kulturvergleiche angestellt werden, die den Gleichheitsgedanken und die Statik der Mönchsrepublik glorifizieren. Die Forschungsliteratur hat herausgestellt, dass es Fallmerayer schließlich um die Bestätigung seiner Annahme einer bevorstehenden geopolitischen Machtverschiebung ging, die wiederum seine Griechenlandthesen stark beeinflusste (vgl. Lindinger 2019, 78; Skopetea 1999, 110). Er stelle einen Kampf der Kulturen fest, wobei der Konflikt zwischen Westeuropa und dem Osten unter der Führung der Großmacht Russland unausweichlich sei (ebd., 85), »er sah in Russland fortan eine Macht, die mit allen Mitteln versuchte, die Vorherrschaft in Europa zu gewinnen« (Lauer 2013, 25), wobei erläutert werden muss, dass eine Zäsur in der Einschätzung Russlands, die sich vom Positivem zum Negativem wandte, erst ab Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen ist. Fallmerayer warnte nicht nur vor dem Panslawismus im Nahen Osten, sondern auch vor einem möglichen Ausgriff auf die slawischen Länder Habsburgs und Preußens, wobei einige Maximen seines geschichtsphilosophischen Denkens bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihre Gültigkeit behaupteten (vgl. Lauer 1993, 156f.). Das Russentum als Wesenseinheit stellte im Denken Fallmerayers einen immensen Machtfaktor innerhalb der europäischen Geschichte dar, »verkörpert im zarischen Selbstherrscher und die militärische Kraft des russischen Volkes mit dem
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byzantinischen Herrschaftsgedanken und dem Geist der Orthodoxie in sich verschmelzend« (ebd., 157). Sowohl die Befangenheit Fallmerayers im dualistischen Denken als auch seine Bezugnahmen zur Politik waren dermaßen konstant, dass er auch nach dem Nachlassen der Griechenland-Euphorie des europäischen Philhellenismus weiterhin Schwerpunkte für die Politik der europäischen Mächte forderte und den Konflikt zwischen Ost und West formulierte (vgl. Kilian 2013, 36). Im zweiten Athos-Kapitel steht an einer Stelle: »Warum sollte man […] den communistischen Zorn bedrängter Volksklassen entzünden?« (AthosF 312; AthosR 89) Der Sozialismus und die russischen Bauerngemeinden als dem Holismus verpflichtete Denkrichtung gepaart mit seiner Präferenz für den »totalen Staat« (Seidler 1947, 121) bilden eine markante Zäsur (ebd., 117) im fallmerayerischen Reflexionsgebäude, die jedoch noch keinen Eingang in die Athos-Kapitel fand, da über die obige Formulierung hinaus nichts diesbezügliches ausgeführt wird. Gleichzeitig ist die Idealisierung des Eigenen zu konstatieren, wenn z.B. die Landschaft mit der heimatlichen Landschaft in Tirol verglichen wird. Nach einem Lebenscyklus voll Gram und wechselvoller Geschicke begegne ich dir unerwartet wieder in unbesuchter Stille byzantinischer Wälder und grüsse dich mit leidenschaftlicher Gluth, Sinnbild der Selbstüberwindung, Labarum, das die Cäsaren vom goldenen Sitz gestossen und den stolzen Dünkel der Philosophen erniedrigt hat! (AthosF 281; AthosR 63). Unübersehbar handelt es sich hierbei um die Wiedererkennung des Eigenen im Fremden, zumal Auslöser dieser Gemütsregungen der Anblick christlicher Kreuze im Wald gewesen ist. Der griechische Wald ist im Grunde genommen die Kulisse für das Wiedererkennen des Eigenen, »an euch dachte ich, Schaldersthal, rauschender Forellenbach, tiefe Waldöde, sommerliche Lüfte und ziehendes Gewölke« (AthosF 281; AthosR 62-63) Schließlich tragen solche Beschreibungen einer Assimilationstaktik Rechnung, da die fremde Landschaft vollkommen von den Erinnerungen des Eigenen überdeckt wird. Der Schritt zur Erweiterung des Kontrastbildes ist dabei nicht weit: »Eben weil ich so lange und so vielfach Zeuge war, wie der Islam in seiner Unmacht noch stolz die Kreuzesfahne verhöhnt und ihre Bekenner verachtet, ergriff es mich […] weit lebendiger […].« (AthosF 281; AthosR 63) Der gemeinsame Glaube betont den Gegensatz Christentum vs. Islam, wobei zum Wir des Christentums auch Griechenland, also der Orient gehört. Dies ist ein eklatantes Beispiel dafür, wie Feindbilder konstruiert werden und wie labil solche Konstruktionen sind. Griechenland als Orient scheint als kulturelle, aber nicht als religiöse Dimension wahrgenommen zu werden, was wiederum bedeuten müsste, dass Fallmerayers Kulturbegriff die Religion nicht miteinschließt.
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Narrativierung der Natur Nach Brenner (1990, 358) entspringt Fallmerayers landschaftsbezogenes Schönheitsideal der Antike. Bezüge zur Antike sind aber in diesem Text äußerst rar.4 Im Zuge der Landschaftsbeschreibungen heißt es an einer Stelle: Verwitterte, abgenutzte Seelen des Occzidents, nach Kolchis, nach Athos eilet, den Duft ewiggrüner Laubholzwälder athmet ein, wenn ihr noch der Erhebung fähig seid! Hier nahm Medea den Zaubertrank, der Jolkos und Korinth zu frischer Energie erweckte. Ohne Wald ist für Menschen keine Lust, und selbst die Götter schlugen ihren liebsten Sitz in dunklen Wäldern auf […]. (AthosF 276; AthosR 57) Obgleich die Rede von Göttern ist, handelt es sich nicht um eine pantheistische »Landschaftswahrheitsoffenbarung« (vgl. Schulz-Nieswandt 2017, 109). Zwar ist seine Einstellung gemäß seiner liberalen Prinzipien (vgl. Lauer 2013, 26; Schmitt 2013, 95) insgesamt christlich bestimmt, er weist aber jegliche Form der Mystifizierung oder christlichen Offenbarung zurück. Fallmerayer glorifiziert die Natur des Athos ohne Weltabkehr: Die Klausner-Atmosphäre des heiligen Berges und der enggezogene Ideenkreis der Selbstpeiniger mit ihrem kindischen Gerede täglicher Mirakel und himmlischer Erscheinungen hatten in kurzer Frist so vertrocknend und lähmend auf Geist- und Redefluss gewirkt, als wäre ich nicht Wochen, sondern Jahrelang dem Verkehr europäisch civilisirter Menschen entrückt gewesen. (AthosF 332; AthosR 106) Wie in der Forschungsliteratur bereits angemerkt, sind die Fragmente aus dem Orient vielmehr ein Buch über Europa, daher sei auch die Flucht vor der Zivilisation nur eine vorübergehende (vgl. Bernard 1993, 45). Die detailgenauen Beschreibungen der Landschaft des Athos, in denen die Fülle der Vegetation penibel beschrieben wird, hat die Funktion einer dominierenden Fülle, die an einigen Stellen Bekenntnischarakter annimmt (»Wie verschieden ist das alles bei uns!« [AthosF 309; AthosR 87], »Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!« [AthosF 310; AthosR 88]). In den Athos-Kapiteln wird bestätigt, dass die Flucht vor der Zivilisation temporär verstanden werden sollte, zumal permanent die Intention der Zivilisationskritik festzustellen ist. Es fällt auf, dass die Ägäis viel weniger als die Wälder auf dem Athos beschrieben wird. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass Fallmerayer seinem Publikum vertraute Bilder anbieten wollte, um dessen emotionale Anbindung
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In krassem Gegensatz dazu siehe Gerhard Hauptmanns visionäre Aneignung der Antike (vgl. Blioumi 2018, 174).
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zu gewährleisten. In diesem Rahmen ist m.E. der expositionslose Anfang des ersten Athos-Kapitels keine zufällige Schreibtaktik: »›Verlass die Welt und komm zu uns‹, sagten die Mönche, ›bei uns findest du dein Glück. Sieh nur dort die schön gemauerte Klause, die Einsiedelei am Berg, eben blitzt die Sonne abendlich in die Fensterscheiben!‹ […].« (AthosF 233; AthosR 11) Die überwältigende Natur des Waldes und das Fehlen eines roten Fadens am Anfang der Erzählung, sind nach meinem Dafürhalten rhetorische Darstellungsstrategien, um die emotionale Verstrickung des Lesers zu bewirken. An dieser Stelle muss Bezug auf die Edition Deutsche Essays (1968) von Ludwig Rohner genommen werden, der in seinem Sammelwerk Auszüge aus den Landschaftsbeschreibungen der Athos-Kapitel bringt. Um die Aufnahme der Textpassagen Fallmerayers in seine Auswahl der deutschen Literatur aus zwei Jahrhunderten zu rechtfertigen, argumentiert Rohner, dass Fallmerayer »einer der ersten und größten deutschsprachigen Reiseschriftsteller [sei]. Seine ›Fragmente aus dem Orient‹ besitzen klassischen Rang« (Kommentar L. Rohners in AthosRo 113). Die Abschnitte mit der Beschreibung der Urvegetation aus dem ersten AthosKapitel, die in das Sammelwerk aufgenommen wurden, fallen des Öfteren durch plastische Sprachbilder in Form von Komposita auf, wie »Hügel- und Felsengewirre«, »Sommerlust«, »Windsbraut«, die nicht selten innerhalb von Metaphern erscheinen: Athos ist Hochwarte des ägäischen Meeres und Leuchtthurm aller Orthodoxen in Byzanz. (AthosF 236; AthosRo 103) Wie ein langer Silberfaden läuft über Sattelkamm und Bergschneide durch hellgrünes Gebüsch und dichtverwachsenes epheuumranktes Baumgewühl der Hochpfad mitten durch die Halbinsel bis zum hohen Athoskegel. (AthosF 237; AthosRo 104) Nicht zu übersehen ist die Intention, eine Überflutung der Natursemiotik zu evozieren, die in pittoresker Manier (»Nur ist alles Reden und Malen umsonst« [AthosF 240; AthosRo 106]) die Imagination des Lesers (»Man denke sich eine Augustnacht in Purpurflor« [AthosF 236; AthosRo 105]) anzustacheln versucht. Die detailgenauen Beschreibungen der Naturfülle – »Laubwald von Platanen, Buchen, Grüneichen, Öl-, Feigen-, Nuss- und Kastanienbäumen, von Cypressen, Weinreben, Lorbeerund Haselstauden, von Mastixstrauch, von immergrünen ›Arbutuskirschen‹, Maulbeer- und Obststämmen aller Art – hellgrünes, luftdurchfächeltes Berggewand […]« (AthosF 238; AthosRo 104) – paaren sich zusätzlich mit dem Schauspiel der Naturelemente, die im Zuge von Fallmerayers Sprachstil nicht nur verlebendigt werden (»Vom Festlande in das Meer hinausspringende Chersonese sind vorzugsweise eine Eigenthümlichkeit der griechischen Welt« [AthosF 236; AthosRo 105]), sondern auch die Mensch-Natur-Interaktion provozieren (»die Sonne blitzt
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auf den Wasserspiegel und lockt, durch die laubigen Bäume fallend, eine Thräne wehmuthsvoller Erinnerung aus dem Auge des fremden Wanderers« [AthosF 237; AthosRo 104]). Offensichtlich schwankt Fallmerayers Naturnarrativik zwischen Empfindsamkeit und Sachlichkeit, und auch an dieser Stelle ist die publizistisch-persuasive Funktion des Textes unverkennbar. Es scheint, als ob der Autor einen auf sprachlicher, ästhetischer und kommunikativer Ebene unübertrefflichen Text darzubieten anstrebt, zumal er selbst bekundet, dass die Mönchsrepublik »zum Theil auch in Europa nicht mehr unbekannt [ist]« (AthosF 241; AthosRo 107). Deutlicher ist die Akzentsetzung auf das eigene Befinden, wenn es heißt, dass man wegen »Empfindsamkeit und romantischen Schwärmens für prachtvolle Naturscenen und Waldeinsamkeit die Deutschen von jeher ausgelacht« habe (AthosF 240; AthosRo 106), was an die Tradition des deutschen Michel anknüpft und ein defizitäres Selbstverständnis enthüllt. Infolgedessen sind die Naturbeschreibungen in einem spannungsreichen Kontext eingegliedert, nämlich zwischen einem defizitären Eigenen und wiederum einem doch überlegenen eigenen Zivilisationsstand. Fallmerayer instrumentalisiert erneut Naturbeschreibungen, wenn er schreibt, dass der Athos »sogar frostige Seelen aus den britischen Inseln« (AthosF 240; AthosRo 106) zu beeindrucken vermöge, zumal die Inszenierung der Natur in ein Nord-Süd-Gefälle und aus heutiger Sicht dubiose Klimatheorien eingebettet wird. Bei der Beschreibung der Mönchsrepublik thematisiert Fallmerayer die intellektuelle Leere der Mönche, womit er sich der Tradition der Geringschätzung des Klerus in der Griechenlandliteratur jener Zeit anschließt (vgl. Weithmann 1994, 132). Direkt formulierte rhetorische Fragen, wie »Aber warum macht ihr euch nicht ans Werk? habt ihr nicht Goldbullen, Papiere, Zeit und Ruhe genug?« (AthosF 241; AthosRo 107), um seine Überraschung über das Fehlen einer Geschichte des Athos zum Ausdruck zu bringen, zeugen von latenter Ironie.5 Die Tatsache, dass die Schilderungen des Klerus quasi im Naturszenario eingegliedert sind, vergegenwärtigt die Diskrepanz zwischen Urnatur und fortgeschrittener Zivilisation, was in diesem Denkgebäude nicht nur die Instrumentalisierung der Naturbeschreibungen akzentuiert, sondern insgesamt den unterstellten höheren Entwicklungsstand des zivilisierten Europas. Ob dies alles jedoch »Inszenierungsstrategien des europäischen Machtregimes« sind, das durch Naturnarrative »zur weiteren Ausdehnung drängt«, wie es für andere Reiseberichte des 19. Jahrhunderts festgestellt wird (Wilke 2014, 181), ist eine weiterführende zukünftige Erkenntnisfrage, die auf der Basis des hier Dargestellten vorgenommen werden könnte.6
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Ausführlicher zur milden Ironie gegenüber orthodoxen Kirchenfürsten siehe Lauer (2013, 29). Diese Erkenntnisfrage kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.
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Zusammenfassend kann vermerkt werden, dass die Narrativierung des Athos und die Konstruktion des Fremden bei Fallmerayer zwischen dem populärwissenschaftlichen Anspruch und der Instrumentalisierung und Medialisierung der fremden Umgebung, die für zivilisationskritische Zwecke vereinnahmt wird, schwankt. Auf der Basis der literarischen Handhabung des Materials wird dem Leser durch die zahlreichen Landschaftsbeschreibungen der Verfasser als ein objektiver und aufmerksamer Beobachter suggeriert, der die Kontrolle aber nur dann verliert, wenn es um das Wiedererkennen des Eigenen im Fremden geht. Insgesamt werden relativistische Auffassungen vollends vermieden. Zu konstatieren ist aber ebenso, dass Fallmerayers Vermächtnis für die Germanistik nicht von geringer Bedeutung ist, da seine Schriften den großen ästhetischen Reiz der Reiseliteratur unter Beweis stellen.
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Die »unsichtbare Hand« Gottes im Paradies
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»Und zwischen unsern Herzen lag das Meer« Emanuel Geibels und Ernst Curtius’ gemeinsame Ägäis-Reise Konstantina Tsonaka
Gemeinsame Lehr- und Wanderjahre Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Poetisierung der Ägäis durch die beiden jungen Philhellenen Emanuel Geibel und Ernst Curtius, basierend auf ihrer fünfwöchigen Ägäis-Reise im Sommer 1839. Hinzugezogen werden die schon während der Reise unter blauem Himmel entstandenen Gedichte, die »den Reiz unmittelbarer Empfindung haben« sowie weitere, »von höherem dichterischem Wert« (Nietzki 1914, 15), die später, im Nachklang der unvergesslichen Jugendfahrt, entstanden. Ihre vielseitigen Jugendbriefe in die Heimat, ihre Tagebücher und weitere Schriften ergänzen das Bild der Ägäis und bezeugen das Spektrum der sich daraus ergebenden Inspiration für die spätere Entwicklung beider in Bezug auf das Griechentum. Untersucht werden soll u.a. die unbekannte lyrische Seite des berühmten Historikers, Topographen, Archäologen und Führers der Ausgrabungen zu Olympia Curtius, während zugleich zum ersten Mal in der Forschung auf das gemeinsame Wirken von Curtius und seinem Jugendfreund, dem Lyriker Emanuel Geibel, in der Ägäis fokussiert wird. Das grüne Korn ist schon hochaufgeschossen, Blumen aller Farben und Gattungen stehen im Felde, die Bäche springen voll und frisch von den Höhen, um den Segen der Berge den Thälern zuzutragen, und die Luft ist so lau, so durchsichtig klar – die deutsche Sprache hat kein Wort für diesen ewig blauen Glanz, weil uns die Sache fehlt. (Geibel 1909, 183) So schreibt1 der 24-jährige Emanuel Geibel am 26. Februar 1839 aus Athen an seine Mutter und gibt somit in das von ihm idealisierte Bild Griechenlands Einblick, ein 1
Es handelt sich dabei um den achten (fünfseitigen) erhaltenen Brief, den der junge Emanuel während seines zweijährigen Aufenthaltes 1838-1840 in Griechenland an seine Mutter schrieb (Geibel 1909, 183-188). Geibels Jugendbriefe wurden von dem Ehemann seiner Tochter Ada, dem Lübecker Bürgermeister Emil Ferdinand Fehling, herausgegeben.
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Bild, das durch seine in den nächsten Monaten stattfindende Ägäis-Reise weiter gefestigt werden wird. In heiterster Formulierung holt der junge Emanuel in einer poetischen Epistel an seinen Freund Ernst mit dem Titel Auf dem Anstand die schönen Tage jener Inselreise in ihr Bewusstsein zurück und fasst ihre Erlebnisse zusammen (vgl. Nietzki 1914, 16): […] Zwei Jahre sind’s! Ei, wie so anders schaute, Wie froh der Herbst mir damals ins Gesicht! Lau war die Luft, der tiefe Himmel blaute, Die Feige schwoll, die Traub’ im Sonnenlicht. Da ließen, matt noch von des Sommers Gluten, Mein Ernst, den Ernst wir in Athen zu Haus Und zogen durch des Inselmeeres Fluten, Zwei sel’ge Schwärmer, abenteuernd aus. Gedenkst du, wie bei Paros durch die Brandung Das Boot wir zwängten? – dämmernd stieg der Mond – Und wie so schön uns dann die kühne Landung Die rebumkränzte Marmorstadt belohnt? Denkst du der Zithern, die die Nacht durchklangen, Der Brunnen, die uns in den Schlaf gerauscht, Und jenes Mädchens, das mit glühnden Wangen Für leichten Schmuck Orangen uns vertauscht? Denkst du an Naxos noch? Ich seh’ sie liegen, Die Klöster und das Schloß auf hohem Stein, Den Säulenhof, wo sich die Palmen wiegen, Die Felswand übergrünt von eitel Wein, Das reiche Tal, in dessen bucht’ge Weiten Ein buntgezäumtes Saumtier leicht uns trug – Da blinkten Becher rings, da klangen Saiten; Fürwahr, es war ein neuer Bakchuszug! Und als wir sonnverbrannt mit staub’gen Ballen Zur Ruh’ verlangten nach der heißen Fahrt, Da nahm uns in die kühlen Klosterhallen Der wackre Pater mit dem langen Bart. Hoch überm Meer auf seinem Laubensitze, Wie schollen unsre Lieder da so frisch!
»Und zwischen unsern Herzen lag das Meer«
Wie floß der Quell des Nektars und der Witze So unerschöpft am saubern Abendtisch! Dort saß der Bischof, dort der Kapuziner, Wir zwei Poeten lustig mittendrin: […] So kam gestirnt die duftge Nacht daher; Wir lebten, schwärmten – zwischen unsern Sorgen Und zwischen unsern Herzen lag das Meer. […] (Geibel 1888, 272f.) »Einer lieben Stadt entsprossen«, so Curtius in seinem Gedicht Mit Geibels Gedichten, das er in einem im März 1865 an Frau Ewald in Göttingen verfassten Brief erwähnt (Curtius 1903, 574; Stemplinger 1933, 164f.2 ), »Nachbarkinder, früh gepaart, | Haben [sie] nach Knabenart | [ihre] Jugend frisch genossen«, während sie später »eine Barke fern vom Haus | In das Mittelmeer hinaus | Zu Homeros’ Felsgestaden« getragen hat. Dort sind sie unter prächtigen Säulen in die Zeiten Altgriechenlands eingetaucht und haben sich von den Eindrücken treiben lassen (vgl. ebd.). In diesem Gedicht bezieht sich Curtius u.a. auf die gemeinsame Ägäis-Reise mit Geibel, dem Predigersohn, der in derselben Straße wie er in Lübeck gewohnt hatte. Beide kannten sich schon seit ihrer Primanerzeit auf dem Humanistischen Lübecker Katharineum, wo sie die Liebe zur Poesie verband (vgl. Kern 1903, 582), während das spätere Studium in Berlin, wohin es Geibel im Herbst 1835 von Bonn und Curtius von Göttingen verschlug, die beiden wieder zusammenbrachte, wie Curtius in seinen Erinnerungen an Emanuel Geibel3 berichtet (vgl. Curtius 1915, 9). Über die Fortsetzung jener Freundschaft konstatiert Curtius in einem Brief aus Berlin vom 15. Mai 1836 an seine Cousine Victorine Boissonnet: »Emanuels Ankunft hat für mich Epoche gemacht. Wir sind viel zusammen und leben uns gut in einander ein« (Curtius 1903, 72), während ihr gemeinsames Wirken und Tun die Zeitlosigkeit jener Freundschaft bestätigt. 2
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Eduard Stemplinger thematisiert die beiden aus der Sicht des Münchner Dichterkreises, der vorwiegend klassizistische Formkunst pflegte. Dabei geht er auf Die Bürgschaft der Zukunft, eine Rede von Curtius gehalten am 27.1.1889, und auf Die Freundschaft im Altertum ein, einen Abschnitt, der seinen Jugendfreunden Emanuel Geibel und Heinrich Kruse gewidmet ist, und ergänzt das Bild von Curtius durch eine kleine Biografie, Briefe und vier Gedichte. Bei Geibel bezieht er sich neben der einführenden Biografie auf Briefe und Gedichte, konkreter auf Stimmungslyrik und politische Lyrik, auf Didaktisches, Episches und Dramatisches (vgl. Stemplinger 1933). Curtius schrieb 1884, im Todesjahr seines Freundes, die Erinnerungen an Emanuel Geibel nieder und er ließ sie 1889 im dritten Band seines Buches Altertum und Gegenwart erscheinen. Anlässlich des hundertjährigen Geburtstages Geibels gibt Cotta 1915 diese Erinnerungen als Einzeldruck heraus (vgl. Curtius 1915, erste nicht paginierte Seite).
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Curtius’ Bonner Philosophieprofessor Christian August Brandis forderte Ende 1836 seinen ehemaligen Studenten auf, ihm als Hauslehrer seiner Kinder nach Griechenland zu folgen, da Brandis auf Schellings Veranlassung dem jungen König Otto von Griechenland als wissenschaftlicher Führer und Berater in Angelegenheiten der Universität zur Seite stand. Am 4. März 1837 betrat Curtius in Patras mit der Familie Brandis den Boden Griechenlands und empfand es als ein großes Glück, als sein Freund Emanuel aus der Lübecker Fischstraße als Hauslehrer der Söhne des russischen Gesandten im Frühjahr 1838 auch nach Athen kam (vgl. Kern 1903, 586f.). »[Α]ls das Posthorn [in dem großen Postgebäude der Königstraße in Berlin] klang und die schwerfällige Kutsche aus dem Posthofe herausrollte, hörte ich durch die stille Nachtluft [Emanuels] kräftige Stimme: Ernst, ich komme dir nach«, schreibt Curtius in seinen Erinnerungen an Emanuel Geibel (Curtius 1915, 9). Geibel war schon während des Studiums der Philologie gründlich mit der Literatur der Griechen vertraut geworden, als ihn dieser Umstand nach Griechenland4 führte (vgl. Nietzki 1890, XX), während in Curtius das Interesse an den klassischen Studien bereits als Gymnasiast im Lübecker Katharineum erwachte, wie dies aus seinem Brief vom 7. Januar 1830 an seinen älteren Bruder Theodor, der damals als Student in Göttingen lebte, deutlich wird: Was sagst Du zu meinem Plan, mich ganz der alten Litteratur und ihrem Verständnisse zu widmen? Welch ein Quell des reinsten, herrlichsten, göttlichsten Lebensgenusses ist die klassische Litteratur, wie erfreulich und belehrend ist ein scharfes Eindringen in das hehre Alterthum und das Auffassen des wahrhaft Schönen in seinen edelsten Denkmälern! Und wie anziehend, wie geisteslabend sind ihre beiden Haupthülfswissenschaften, die Alterthumskunde im engeren Sinne und die Geschichte der Völker, Wissenschaft und Kunst! Wahrlich alles vereinigt sich, dies Studium so verlockend als möglich zu machen für jeden die Wissenschaft Liebenden. […] Was mir besonders fehlt, ist ein guter Freund, der auf ungefähr gleichem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung stehend in freundschaftlichem Gedankenaustausche auf mich wirkte. (Curtius 1903, 2f.) Ein solcher guter Freund fand sich bald in dem ein Jahr jüngeren Emanuel, den die Umstände und die Liebe für die Antike5 auch nach Griechenland schickten, was sich u.a. aus dem Gedicht mit dem Titel Alte Poeten aus dem Kapitel Sonette und Distichen aus Griechenland als Intermezzo 1839-1840 ergibt: »Jetzt erst erkenn’ ich euren
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Siehe dazu auch das Unterkapitel »3.3.3 Griechenlandaufenthalt« in Volkmann 2018, 99-105. Max Nietzki thematisiert als Erster das Verhältnis Geibels zum Griechentum (vgl. Nietzki 1914, 5), doch die Forschung hat seither den Einfluss der Antike auf Geibels ganzes Geistesleben nicht aufzeigen können. Es wurde zu diesem spezifischen Thema nur dieses 50-seitige, über einhundert Jahre alte Werk gefunden.
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Wert, ihr Alten, | Seit ich auf eurem heil’gen Boden schreite; | Lebendig wandelt ihr mir nur zur Seite, | Ein hoher Chor befreundeter Gestalten.« (Geibel 1888, 164) Curtius hatte bereits 1838 mit der Familie Brandis eine Fahrt zu den Kykladen unternommen. Er berichtet seinen Eltern in einem Brief vom 19. August 1838 aus Hermupolis auf Syra, dass sich die kleine Gesellschaft wegen starker Nordwinde auf die nördlichen Kykladen beschränkt hat (vgl. Curtius 1903, 161). Er reiste auch zum Parnass, er durchstreifte die Peloponnes und wurde auf Olympia aufmerksam. Diese Reisen ließen einen weiteren Plan aufkeimen, von dem er erstmals im April 1839 sprach, er wollte nämlich die Reiseberichte des Engländers William Martin Leake, The Topography of Athens (1821), das dreibändige Werk Travels to the Morea (1830) und das vierbändige Werk Travels in Northern Greece (1835), neu herausgeben. Doch diesen Plan konnte er nicht verwirklichen (vgl. Heres 1974, 133). Abgesehen davon aber haben ihn diese Reisen in seinem ganzen Leben und Schaffen stark beeinflusst. Reisen im Sinne Bachofens oder Burckhardts hat Curtius in seinem Leben kaum unternommen, obwohl er viel gereist ist. Seine Fahrten ins Gebirge oder an die See während seines Aufenthaltes in den Mittelmeerländern trugen eher die Züge einer Expedition und nicht die einer Bildungsreise (vgl. ebd., 140).
Auf den Marmor- und Traubeninseln – Zwischen antiker Kultur und venezianischer Vergangenheit In seinem 19-seitigen auf Naxos verfassten Brief an seine Eltern, datiert am 6. September 1839, schreibt Curtius: Am Donnerstag, dem 15. August packten wir unsere kleinen Reisebedürfnisse zusammen; Mittags fuhren wir zum Piräus […] [und fanden] das Schiff schon ganz gefüllt und zur Abfahrt bereit. Es ist das kleinere der zwei griechischen Dampfschiffe, der »Maximilianos«; seine Maschine gehörte einst dem »Hermes« an, der im Kriege gedient hat. Sie ist für ihren jetzigen Schiffskörper etwas zu klein und befördert nicht sehr schnell. Dafür ist es desto wohlfeiler, für vier Drachmen gelangt man nach Syra. (Curtius 1903, 195) Ein kleiner Postdampfer brachte die beiden Freunde in einer Nacht nach Hermupolis auf Syra, dort wartete schon eine segelfertige Barke nach Paros. Bei günstigem Fahrwind steuerten sie auf die Marmorinsel zu. In den nächsten Tagen durchstreiften sie die Insel in alle Richtungen, bewunderten Bodenschätze und Früchte, betrachteten genauestens die antiken Überreste und das Volksleben. Auf der Insel Naxos, die sie »auch trunken vom Jubel und Sonnenschein« durchwanderten, wurden sie im Kloster von den Kapuzinern gastfreundlich aufgenommen. Außer den antiken Denkmälern, die zur Beschreibung lockten, führten die eigentümlichen sozialen Verhältnisse zwischen den Griechen und den Nachkommen der italienischen
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Nobili die zwei Reisenden zurück ins Mittelalter, wobei in Chroniken düstere Familiengeschichten entdeckt wurden (vgl. Stammler 1918, 26). Die Ägäis-Reise und diese Geschichten inspirierten den Poeten u.a. zu dem kleinen Epos Die Blutrache (Geibel 1883, 13-22), einer versöhnlich ausklingenden, sehr lebendig dargestellten Verserzählung (vgl. Mendheim 1921, 31f.), die auf Paros spielt. Die Ankunft im Hafen von Paros, schreibt Curtius in dem Brief vom 6. September 1839, verzögerte sich bis 11 Uhr. Im Städtchen schlief schon Alles. Durch das Rufen der Schiffsleute wurde es lebendig, und nun rief man uns allerlei Fragen zu, woher wir kämen und was es Neues gäbe. Die Eine rief, ob ihr Jannaki, die Andere, ob ihre Marie mitgekommen wäre – endlich kam auch der Hygionom mit einer Laterne ans Ufer; der Kapitän rief ihm zu, daß er Milordi – »königliche Menschen« – an Bord hätte, und wir erhielten noch die Erlaubnis, ans Land zu steigen. (Curtius 1903, 196f.) Aber wohin um Mitternacht? Ohne sich darüber große Gedanken machen zu müssen, wurden für sie in einem hohen Gemach ihres Schiffsbegleiters zwei Kanapees gedeckt und Brot, Wein und Fisch gebracht. Geibel erwartete einen nächtlichen Überfall, umso erstaunter war er über diese für ihn so unerwartete Behandlung, denn die »Insulaner« erwiesen sich als die friedlichsten und unschuldigsten Menschen der ganzen Welt (vgl. ebd., 197). Auf fünf Seiten wird die Pracht der Insel geschildert, wobei u.a. ein kleines »Marmorstädtchen« (ebd., 199) mit engen Gassen und herrlichen Palmengruppen an einem unbedeutenden Hügel und der überall vorhandene Marmor beeindrucken: Häuser aus purem Marmor, Fensterbrüstungen aus Marmor, Schwellen und Pfosten der Türen aus Marmor, breite Marmortreppen bei den besseren Häusern, sogar Straßen waren mit Marmor gepflastert (vgl. ebd., 197 u. 199) – »und trotz der vielen Schweine, welche auf allen Kykladen die Wege füllen, reinlich und sauber. Alle diese Marmorsteine sind natürlich nur Reste des alten Paros, denn seit der alten Zeit ist kein Stein mehr aus den Brüchen gewonnen worden« (ebd., 197f.). Das Wunderbarste an der Marmorfülle ist aber das venezianische Kastell, das mit seinen Türmen und Mauern trotz des Bombardements der russischen Flotte unter Orlow noch auf der Höhe eines Hügels steht. Alles dies bestand aus hellenischen Tempelfragmenten, Marmorbalken, Säulenstücken, unkannelierten Säulen, Stierreliefs, Inschriftensteinen und einem schön gearbeiteten Löwenkopf, für den Bau des Kastells benutzte man alles, was anhand von zerschlagenen Marmorstücken sichtbar war (vgl. ebd., 198). Die Trümmer der Antike, verbunden mit der großen Panagiakirche mit den schönen schattigen Zypressen und einigen Prachtstücken parischen Marmors sowie der goldrote Sonnenuntergang hinter den pittoresken Felsen des Hafens einerseits und das größtenteils mit Wein bepflanzte Ge-
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birge Marpessa andererseits, beeindruckten die Paros-Reisenden sehr (vgl. ebd., 199). Elf weitere dichtbeschriebene Seiten des Briefes widmet Curtius seinem Naxos-Besuch, wobei er nicht vergisst, die Geister der venezianischen Vergangenheit zu beschwören und den Verfall ihrer Pracht, an die die Wappen über den Toren des Kastro erinnern, zu schildern. Still und tot ist es in den Häusern, in denen heute die Enkel der alten Venezianer wohnen, die Mauern sind gestützt, die Kleidung und die Kinder sind schmutzig, die großen Räume zeugen von der alten Pracht, »aber das schöne Getäfel ist zerfallen« (vgl. ebd., 202). Curtius resümiert seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der ehemaligen Herrscher der Insel: [Die Lateiner] verachten die Griechen und sind doch mit sich und ihrer Geistlichkeit immer im Streit, jeder dritte Mann, dem man begegnet, ist ein duca oder conte, doch haben sie vom alten Adel Nichts als den Stammbaum und die Abneigung gegen Arbeit. Sie verkaufen nach und nach ihre Besitzungen, und die Nachkommen der Herzöge des Archipelagos betteln jetzt bei uns um ein paar Drachmen. (Ebd., 203) Während seines Aufenthaltes auf Naxos schreibt Curtius seinen Eltern: Nichts kommt an Anmuth einer Segelfahrt auf dem Archipelagos gleich bei günstigem Winde. Das himmelblaue Meer, die schönen Inseln zu allen Seiten, die muntere Schiffsgesellschaft und dieser poetische Hauch, der auf dem ägäischen Meer und seinen Kindern, den Inseln, ruht – Alles dies verleiht diesen Fahrten einen unbeschreiblichen Zauber […]. (Ebd., 196) Jener auf Naxos verfasste Brief widmet der Ankunft der Reisenden mit dem Schiff Maximilianos in Syra und der wider Erwarten möglichen Weiterfahrt nach Paros als Einführung zum Hauptreiseziel Paronaxia eine knappe Seite und schließt mit drei schon damals auf Naxos entstandenen Gedichten von Curtius, Der Knabe von Naxos, Sonntagmorgen auf dem Kastro von Naxos und Abschied von Naxos (ebd., 209-211, 211-212 u. 212), der »Perle der Cykladen« (Curtius 1846, 20), wie er sie nennt. Es ist bedeutsam, dass Curtius gerade auf Naxos zum Dichter wird. Mit den Worten »Leb wohl, mein Naxos!« verabschiedet er sich von Naxos im gleichnamigen Sonett Abschied von Naxos (Curtius 1903, 212). Interessant ist auch, seine Briefe in Verbindung mit den entsprechenden Vorträgen zu lesen, die in seinem Buch Alterthum und Gegenwart vorliegen (vgl. Hashagen 1904, 61), da alltägliche Vorkommnisse und humoristische Mitteilungen über kleine Dinge, vor allem aber seine Gedichte – wie sein Sohn Friedrich in der Einleitung zum Lebensbild seines Vaters bekennt – das ganz Eigenartige der Individualität Ernst Curtius’ erkennen lassen (vgl. F. Curtius 1903, IV).
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In der Vermählung von Literatur und düsterer Geschichte des Feudalstaates von Naxos bringt Curtius mit seinem Knaben von Naxos dem Leser ein Stück Geschichte der Ägäis näher. Curtius rühmt am Beispiel des letzten Sprösslings der Herzöge, der voll Geist und Schönheit auf Naxos im Elend zu verderben droht, die verlorene adlige Pracht der Nobili und beschreibt die Blüte der adligen Geschlechter auf Naxos, doch auch deren Untergang (vgl. Curtius 1903, 209-211). Dem Vater des Knaben, »dem ganz verarmten Coronello, dem Vertreter der höchsten Aristokratie der Insel, dessen Frau aus dem Hause Crispo stammte, und deren einziger Sohn Francesco als nachgeborener Herzogsenkel die lebhafteste Sympathie [der jungen Reisenden] erweckte« (Gaedertz 1897, 1576 ), widmete Curtius eine neunstrophige Ode, ein Loblied auf die griechische Gastfreundschaft (vgl. ebd., 157f.). In Curtius herrschte ein steter »Kampf zwischen dem Dichter und dem Gelehrten« (Hashagen 1904, 64). Einer Sammlung von Gedichten, die Kaiserin Augusta von Preußen für Curtius arrangierte, so Otto Kern in seinem Beitrag, entstamme folgende Strophe seines Gedichtes Doppelberuf. Klage und Trost: »Ach, betrübter und verkehrter | Giebt es nichts auf dieser Erden | Als ein Zwitterwesen werden, | Halb Poet und halb Gelehrter.« (Kern 1903, 586) Trotz der Leichtigkeit, Verse zu schreiben, verzichtet er oft auf das Poetische, das sein Freund Emanuel übernimmt, wie sich dies aus dem schon oben erwähnten Gedicht Curtius’ Mit Geibels Gedichten (Curtius 1903, 574; Stemplinger 1933, 164f.), ergibt, in dem Curtius Geibel das in seinem Innersten schlummernde Poetische übergibt: »So laß ich den Poeten, | Der seit früher Kinderzeit | Mir zu jedem Dienst bereit, | Heute mich bei dir vertreten«, dichtet er (ebd.).
Curtius’ Vortrag Naxos als »kleines Denkmal« für die Insel Der Aufenthalt der Freunde auf Paros und Naxos inspirierte beide zu zahlreichen Gedichten und Curtius zu seinem Vortrag Naxos. Ein Vortrag im wissenschaftlichen Verein zu Berlin am 21. Februar 1846 zu Berlin gehalten (Curtius 1846), der 1889 unter dem längeren Titel Νάξος. Ομιλία απαγγελθείσα μεν εν τῳ εν Βερολίνῳ επιστημονικῲ συλλόγῳ την 21 Φεβρουαρίου 1846 υπό Ερνέστου Κουρτίου. Μεταφρασθείσα δε εκ του
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Karl Theodor Gaedertz bemüht sich in seiner ausführlichen Monografie über Geibels Leben, die persönlichen und poetischen Beziehungen Geibels zum preußischen Herrscherhaus nicht außer Acht lassend, durch Briefe und Gedichte aus dem Nachlass des Prinzen Friedrich Wilhelm, durch ungedruckte Briefe und zahlreiche nicht publizierte Gelegenheitspoesien den zwei Hauptrichtungen Geibels, der lyrischen und der politischen, gerecht zu werden. Ausführlicher zu Geibels Griechenlandbild die Kapitel »Von Berlin nach Athen« und »In Griechenland« in Gaedertz 1897, 141-152 u. 152-164.
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Γερμανικού υπό Θεοδώρου Δαμαλά τῃ προσθήκῃ ανασκευαστικού επιλόγου ins Griechische übersetzt wurde (Curtios 1889).7 In diesem Vortrag hat Curtius mit seiner bilderreichen poetischen Sprache der Insel Naxos »ein kleines Denkmal« (Kern 1903, 588) gesetzt. Mit dem Satz »Jede Insel hat einen eigenthümlichen Reiz für das menschliche Gemüth« (Curtius 1846, 3), entführt Curtius seine Zuhörer im wissenschaftlichen Verein zu Berlin in den »ringsum begränzten Erdraume« (ebd.) einer Insel. »[Ι]n der Stille einer abgeschlossenen Welt scheinen alle reineren Freuden des Gemüthes sicherer zu gedeihen« (ebd.), fährt er fort und beschreibt den Kontrast zwischen der südlichen Magie der griechischen Inselwelt und dem Norden: Vorzugsweise ruht ein solcher Zauber auf den Inseln des Südens, wo die See mehr als an den nordischen Dünen und Felsufern einen milden und menschenfreundlichen Charakter hat. Darum dichteten die Griechen von den Inseln der Seligen, […] und in der Tat, wenn man von dem heißen Felsboden Attikas von Sommergluth erschöpft, die Inselwelt überschaut, […] so blickt man sehnsüchtig nach den duftigen Eilanden hinüber, als müßten dort drüben glücklichere Menschen wohnen in ungestörtem Frieden und reineren Genüssen. (Ebd.) Formenreich öffnet sich in der Einleitung des Vortrags die Morphologie der Inseln der Ägäis. Die Gebirgsketten des Festlandes setzen sich in gleicher Richtung im Meer fort, während die überfluteten Täler zu voneinander getrennten Meeresstraßen werden (vgl. ebd., 4). Homer werde, so Curtius, lebendig und der heutige Insel-Reisende vernimmt »des Odysseus Abentheuer […] mit feuriger Seele, wenn die Woge desselben Meeres, das er [Odysseus, Anm. Verf.] durchirrte, um den Kiel [s]eines Schiffes aufrauscht« (ebd., 5). Es sind keine grünen Inseln, keine Hochwälder, die malerisch von kleinen Dörfern unterbrochen werden, sondern seit undenklicher Zeit entwaldete Höhen, deren fruchtbares Land vom nie müde werdenden Wellenschlag fortgerissen wurde (vgl. ebd.). Und er fährt fort: Doch diese starre Außenseite schreckt den nicht zurück, welcher im Süden gelernt hat eine höhere Naturschönheit anzuerkennen, als jenen idyllischen Reiz des frischen Grünes und wogender Saatfelder; um so reiner tritt ihm der klare und hohe Ernst der Form entgegen und das Zauberspiel des Sonnenlichtes. (Ebd.) Hinter den Steinmauern der Inseln verbirgt sich ein reiches, blühendes Naturleben, wohlhabende Dörfer auf zypressenreichen Terrassen liegen an den vor Mee-
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Der griechische Übersetzer des Vortrags Theodoros Damalas steht den historischen Kenntnissen Ernst Curtius’ kritisch gegenüber und äußert sich eher polemisch über den Autor, was anhand seiner scharfen Kommentare bereits auf der ersten Seite deutlich wird. Er nennt sein Nachwort »ανασκευαστικό« und verweist auf alles, was seiner Meinung nach im Vortrag Naxos nicht der Wahrheit entspricht, indem er Curtius’ Aussagen widerlegt (vgl. Damalas 1889).
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resstürmen geschützten Abhängen, überall gedeihen Wein und Oliven, an jeder Quelle wachsen hochstämmige Lorbeerbäume, Myrtenbüsche und Oleanderlauben, in der südlichen Sonne reifen die Hesperidenfrüchte, doch auch Datteln und Feigen in unzähligen Gattungen (vgl. ebd.). Mithilfe der Mythologie erklärt er die Entstehung der Inseln: Sie seien durch den Dreizack des erderschütternden Meergottes in zahllose Klippen und Felsenriffe zersplittert worden, weitere von Götterhänden geformt, andere im Titanenkampf von Göttern gegen Götter zerrissen oder »aus dem kreisenden Schooße des Meeres« geboren, bis jene lange Regennacht einst alles Inselland in Wasser begraben hat, bis die Fluten sanken und die Töchter des Meeres emporstiegen (vgl. ebd., 6). Und mit folgenden Worten schließt er die Entstehung der Inseln ab, indem er sie bei ihren Namen nennt: Delos als die erstgeborene, die nach altem Dichterworte lange zitternd vor Bangigkeit unter den Wellen verborgen lag; dann hoben die andern Schwestern nach einander die Häupter empor und begrüßten sich im neuen Sonnenlichte; da wurde auch die schönste Gruppe frei, das Inselpaar Naxos und Paros, beide so eng unter sich verbunden, daß man sie mit einem Namen Paronaxia umfaßt. (Ebd.) Nach einem ausführlichen Loblied auf Naxos – der natürlichen Führerin und Gebieterin, zu deren Füßen 22 Inseln liegen, von den Alten aufgrund der Fülle an Korn, Wein und Öl auch Klein-Sicilien genannt (vgl. ebd., 7) – beschreibt Curtius die Geschichte des Staates der Naxier, indem er eingangs anhand der Ναξίων πολιτεία von Aristoteles, des »Staates der Naxier« (Aristotelis 1843, 1011), den ersten Ausbruch Naxischer Bürgerfehden erklärt (vgl. Curtius 1846, 13f.). In poetischen Beschreibungen (vgl. ebd., 8-30) schildert der junge Philhellene »das alte sagenreiche Naxos in seiner Verbindung mit Creta und Minos, Naxos als herrschendes Glied des blühenden Ionierstaates, der Asien und Europa vermittelt, [und] Naxos als Hauptinsel eines mittelalterlichen Feudalstaates, der rasch aufblüht und langsam in Trümmern zerfällt […].« (Ebd., 30f.) »[Μ]it gesteigertem Interesse betreten [sie] nun den Boden des heutigen Naxos.« (ebd., 31) Mit diesem schlichten Satz wechselt die Schilderung ohne jeglichen Übergang ins Narrative des Reiseberichts. Sein abschließendes eigenständiges Kapitel »Ueber das Ende des lateinischen Herzogthums und den Herzog Joseph Naci« (ebd., 40-46), dem letzten lateinischen Fürsten auf Naxos gewidmet, und ein semitabellarischer Bericht über die Herzöge von Naxos aus den Geschlechtern Sanudo und Crispo vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (ebd., 37f.) zeugen von seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Insel. Dies ergänzen eine von ihm dort entdeckte handschriftliche Chronik aus dem 16. Jahrhundert, eine auf Pergament geschriebene und unter den Papieren Coronellos auf Naxos entdeckte Urkunde sowie auch seine ein paar Jahrhunderte alten Quellen. Diese Quellen umfassen viele von den Mönchen in den naxischen Klöstern aufbewahrte handgeschriebene Ur-
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kunden der letzten Herzöge, Chroniken von Naxos, Geschlechtsregister der Herzöge des Archipelagus sowie auch Briefe des Marino Sanudo und Einzelheiten der Geschichte des Archipelagus aus den Memoiren der lateinischen und griechischen Adelsgeschlechter, die sich nach der osmanischen Invasion auf Naxos zusammenzogen (vgl. ebd., 39). In seinem Vortrag über Naxos klingen die Lieder und Epen der alten Zeit wieder an (vgl. Hashagen 1904, 63), während sich seine Griechenlandimpressionen in wissenschaftliche Überlegungen und Pläne verwandeln, die sein weiteres Leben und Schaffen prägen werden. Zusammengefasst markiert die Ägäis-Reise eine tiefe Zäsur im Leben des jungen Forschers Ernst Curtius ebenso wie im Leben seines Mitreisenden, des Lyrikers Emanuel Geibel.
Geibels Vorstellung vom Lande, »wo alle Steine reden« Lieber Litz! […] Der Süden hat mich, wie in einem Zaubernetze, gefangen, ich kann mich nicht losreißen von diesem durchsichtigen Himmel, diesem glänzenden Meere, noch nicht – ich muß den ganzen Becher erst in langen durstigen Zügen geleert haben, bevor ich zurückgehe, in das Land, wo es jede Woche siebenmal regnet, und wo es alle Tage Philister gibt. […] Hier ist das anders; die Freude liegt außer dir, wie ein Glas edlen Weines, das du nur zu trinken brauchst; Himmel und Erde sind ewig schön, und du mußt dich nur hingeben, um glücklich zu sein. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst; mir wäre es sonst unmöglich gewesen, so etwas zu begreifen; […] Aber jetzt, da ich ihn [diesen klassischen Lebensgenuß] einmal erfaßt habe, kann ich ihn nicht so gleich aufgeben; ich muß ihn erst ganz in mich einsaugen. (Litzmann 1887, 47f.) So schreibt Emanuel Geibel am 17. Februar 1839 aus Athen an seinen Freund Carl Litzmann, der 1887, drei Jahre nach dem Tod des Dichters, das Buch Emanuel Geibel aus Erinnerungen, Briefen und Tagebüchern veröffentlichte. In seinem 21-seitigen Brief aus Athen an seine Mutter, datiert auf den 25. September 1839, beschreibt Geibel eine an »vielfachen Genüssen« reiche Zeit während jener Inselreise, ohne Frage die schönste, die ihm bis jetzt in Griechenland beschieden war (vgl. Geibel 1909, 212) und legt ihr die in jenen Tagen entstandenen Gedichte Waldschlucht hinter Engares, Aperanthos und Villa Fronikopulo [sic] bei Melanes (ebd., 225f.) aus seinem Tagebuch bei, die Land und Leute auf Naxos lyrisch beschreiben. In der Forschung findet sich das zweite Gedicht mit der Schilderung eines Bacchuszuges unter dem ergänzten Titel Aperanthos auf Naxos, während das letzte nur in diesem Brief mit seinem vollen, oben erwähnten Titel erscheint. Es bezieht sich höchstwahrschein-
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lich auf eine alte Burg aus dem 14. Jahrhundert, die den Namen ihres späteren Besitzers, Frangopulos, trug, und es besteht die Möglichkeit, dass sich der Dichter bei diesem phanariotischen Namen verhört hat. Diese drei Gedichte halten in antikisierender Form Erlebnisse jener Jugendreise fest (vgl. Nietzki 1914, 15-17), während weitere Gedichte mit poetischen Bildern von der Inselwelt, den Leuten und der Natur das Bild Griechenlands ergänzen (vgl. ebd., 18f., 25-35 u. 41-49). »[D]er Winde leiser Zug | Sanft über die entschlafnen Wellen [trug den jungen Poeten an die] stille Küste« der Insel Paros, da trat er »ermüdet vom Gewühle, | Das draußen toset« ans Ufer, als »da vom Bergesgipfel | Ein leiser Hauch willkommener Ruh’ [wehte]!« (Geibel 1888, 234) Das Gedicht mit dem Titel Das Mädchen von Paros (ebd., 234f.) führt uns in ein Erlebnis des Dichters hinein, in die »süße Erinnerung an ein liebliches Mädchen von Paros […], das […] mit einem Abschiedskuss weinend in die Arme« des jungen Geibel sank. (Nietzki 1914, 16) Wer denkt hier nicht an Goethes Alexis und Dora! Was Goethe erdichtete, hat Geibel in Griechenland erlebt (vgl. ebd.). Geibels Lieder, Balladen, Sonette und Distichen besingen die griechische Liebeslust und das Leid und sie »geben fröhliches und sehnsuchtsvolles Gedenken an schöne Stunden und Gegenden« (Mendheim 1921, 12), an das Rauschen des Meeres, an stille, sanfte Nächte und an alte Sagen wieder. Sie enthalten Gedanken über das Handeln und den Charakter der Menschen unter griechischem Himmel, wobei hier Form und Sprache bereits außerordentlich gewandt und wohlklingend erscheinen, obwohl Ausdruck und Gedankengehalt noch nicht ausgereift sind und von dem bewussten Streben nach Schönheit der Form übertroffen werden (vgl. ebd.). Zu den griechischen Motiven gehören noch die Erscheinungsformen der Jahres- und Tageszeiten, der Zauber des Mittags und der Friede des Sommerabends, die Seefahrt und das Meer (vgl. Nietzki 1890, XIV) und vor allem die Reize und der Zauber der südländischen Natur, die »durch ihre heitere Harmonie und reine Schönheit den glücklichsten Einfluß auf das Gemüt des Dichters« ausübte (ebd., XX). »Daß mich bei alledem die immer neue und herrliche Natur, der stets heitere Himmel und das Land selbst, wo alle Steine reden, unendlich erfreuen, brauche ich wohl nicht zu wiederholen«, erzählt er leidenschaftlich seiner Mutter im Brief vom 8. August 1838 aus Athen (Geibel 1909, 138). Mit der herrlichen Landschaft verband der Poet den Begriff der klassischen Schönheit. Sein Gesamteindruck war der des beruhigenden idyllisch-arkadischen Zustandes, seine Beschreibungen oft der Naturauffassung des Goethe’schen Klassizismus nicht unähnlich (vgl. Bechtle 1959, 110f.). »Mit Eifer studiert er [auf klassischem Boden] die Überreste antiker Kunst und versenkt sich tiefer und tiefer in das Studium der unsterblichen griechischen Dichter. Von ihnen lernt er Maß, Schönheit und ›das Geheimnis der Form‹« (Nietzki 1890, XX), wie er, »der hier[zulande] im vollen Sinne ein Schüler der Alten wurde« (Leimbach 1894, 56), im vierten von seinen 13 Distichen aus Griechenland bekennt: »Was ich bin und weiß, dem verständigen Norden verdank’ ich’s, | Doch
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das Geheimnis der Form hat mich der Süden gelehrt.« (Geibel 1888, 184) Dabei wird er »nicht müde, in Vers und Prosa ihre Tempel, die vollendetsten Kunstdenkmäler des Altertums, zu preisen« (Nietzki 1914, 26). Die Inselreise, die wohl auch die Anregung zu der Sammlung Ritornelle von den griechischen Inseln war, blieb der schönste Höhepunkt der beiden Jahre Geibels in Griechenland (vgl. ebd., 17). Diese Sammlung umfasst 13 Gedichte, 13 in sich geschlossene Strophenformen dieser gehobenen Kunstform der Gedankenlyrik, Ritornell genannt, wobei der erste charakteristisch verkürzte und der dritte Vers sich reimen, während der mittlere reimlos bleibt (vgl. Frank 1980, 55f.). Diese Gedichte werden durch Inselnamen betitelt, nämlich Korfu, Ithaka, Lesbos, Paros, Naxos, Salamis, Thermia, Kreta, Delos, Chios, Hydra, Andros und Santorin, wobei der Poet elf von diesen den Ägäischen Inseln widmet (Geibel 1890, 32-35). Für Geibel wird in Griechenland der Gedanke zur Gewissheit, dass er zum Dichter geschaffen ist und dass die Poesie sein Lebensberuf werden muss. Das Griechentum begreift er nicht aus den Bauwerken und den Plastiken, sondern aus der griechischen Literatur heraus, die ihm zur Muse wird. Zusätzlich sammelt er neugriechische Volkslieder, die er später in meisterhafter Übersetzung herausgeben wird (vgl. Kohut 1915, 46f.). Von der Sammlung Erinnerungen aus Griechenland (Geibel 1918, 141-155) mit zwanzig Gedichten wird hier kurz auf das Gedicht Niemals werde ich dich vergessen (ebd., 144) eingegangen, in dem er mit »besonderer Liebe und wahrhaft griechischer Grazie« (Nietzki 1914, 15) vom reizenden Parichia (Parikia), von der schönen Hauptstadt von Paros dichtet, in deren »stille Bucht« derjenige »flüchtet […] | Wer die Sehnsucht, wer die Liebe, | Wer der Schönheit Urbild sucht!« (Geibel 1918, 144) Dieses auf Paros bezogene Gedicht – ein Lob auf Parichia, wie in der ersten Strophe deutlich wird, »Niemals werd’ ich dich vergessen, | Wie ich einst im Kranz dich sah | Deiner Palmen und Zypressen, | Reizendes Parichia« – und das Gedicht Wie webt so still der Sonnenschein, das Naxos besingt, wurden 1867 zusammen mit 12 anderen Gedichten des Lyrikers von dem deutschen klassischen Philologen August Dühr, der einen ausgedehnten Briefkontakt mit Geibel und Schliemann unterhielt, in die altgriechische Sprache übersetzt (Dühr 1867, 13-16).8 Paros und Naxos erwähnt der Lyriker u.a. auch in seinem 21-strophigen Gedicht Aus Griechenland (Geibel 1890, 27-31). Zusammengefasst schafft der Dichter in der Ägäis »poetische Bilder und Szenen aus dem Altertum, durch Landschaft, Mythus [und] antike Dichterstellen angeregt« (Νietzki 1914, 27).
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Es handelt sich dabei um die mit griechischen Buchstaben betitelten Gedichte ς΄ und ζ΄.
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Kunst und Altertumswissenschaften mit Leib und Seele suchend Goethes Vierzeiler aus dem West-östlichen Divan »Wer das Dichten will verstehen, | Muß in’s Land der Dichtung gehen« (Goethe 1819, 241) erlebt seine Wahrhaftigkeit auch in vollen Zügen bei Ernst Curtius und Emanuel Geibel in Bezug auf Griechenland, da sie aufgrund ihrer Forschungen und Dichtungen an Ort und Stelle eingehende und lyrische Bilder Griechenlands schufen (vgl. Hashagen 1904, 61), womit sie dem Leser erlauben, »außer der Sprache und Geschichte auch die Kunst jener Zeiten zu verstehen und sich von den Sitten, dem Volksglauben, dem Kultus eine deutliche und zutreffende Vorstellung zu machen« (ebd.). Darüber hinaus bearbeiteten die beiden Freunde für die Vorträge von Christian August Brandis, die dieser vor der Königin Amalie hielt, Prosastücke übersetzter griechischer Poesie, was sie zutiefst berührte (vgl. Leimbach 1894, 44), nämlich »in stiller Verborgenheit für die anmutige ›Königin der Griechen und der Frauen‹ thätig zu sein« (ebd.). Kurz nach ihrer Ägäis-Reise, als »Zeugnis dieses gemeinsamen Lebens und Erlebens« (Volkmann 2018, 102), wurden ihre Übertragungen aus den Werken griechischer Dichter unter dem Titel Klassische Studien9 1840 in Bonn veröffentlicht und mit einer von Geibel verfassten, schwungvollen Elegie Königin Amalie gewidmet (vgl. Gaedertz 1897, 162). »Das Büchlein ist eine Huldigung für die schöne Herrscherin, ein Gruß an das auferstandene Hellas, ein bleibendes Denkmal des treuesten Zusammenlebens zweier gleichgearteter deutscher Jünglinge auf klassischem Boden.« (Ebd., 163) Mit dieser fünfseitigen Elegie – »Ihrer Majestät, der Königin Amalie von Griechenland ehrfurchtsvoll gewidmet«, unterschrieben am 11. Oktober 1839 – führen die Verfasser den Leser in die Klassischen Studien ein. In leidenschaftlicher lyrischer Sprache wird die Befreiung Griechenlands schon am Anfang der Elegie gerühmt: »Aus schwerlastendem Traum ist Hellas freudig erstanden, | Ueber den Gräbern des Ruhms wandelt ein freies Geschlecht […].« (Curtius und Geibel 1840, 7) In ihrem Nachwort vermerken die Autoren, dass kaum ein einziges der übersetzten Stücke nur von Einem der beiden Verfasser herrührt. Wir haben uns vielmehr immer bemüht, mit vereinigter Kraft und Liebe das Werk zu fördern, und durch gemeinschaftliche Anstrengung das zu erreichen, was dem Einzelnen schwerlich gelungen wäre. (Ebd., 71) Diese Übersetzungen, die auf die griechische Antike fokussieren, beeinflussen das gesamte literarische Schaffen Geibels. Dazu zählt als besondere Auszeichnung sein
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Dieses gemeinsam geschaffene Werk (Curtius und Geibel 1840) mit dem Untertitel Übersetzungen aus griechischen Dichtern besteht aus 31 Übersetzungen griechischer Klassiker gefolgt von zahlreichen Bemerkungen und Scholien insbesondere zu den in einem weiteren Leserkreis weniger bekannten Dichtern.
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Griechenlandaufenthalt, wobei die Lektüre von Byron und Hugo, die seine Griechenlandimpressionen im Land der Dichtung begleitet, dem Poeten das Profil jener berühmten Geister in Bezug auf das philhellenische Gedankengut verleiht (vgl. Volkmann 2018, 103-105). Viel später, 1875, folgte Geibels Classisches Liederbuch. Griechen und Römer in deutscher Nachbildung (Geibel 1875), das in seinem griechischen Teil Gedichte, Bruchstücke und Fragmente von 16 Dichtern sowie auch die Sammlung Inschriften aus der Anthologie enthält. In seinem Buch Alterthum und Gegenwart schreibt Curtius im Kapitel »Die öffentliche Pflege von Wissenschaft und Kunst« – dabei handelt es sich um seine am 22. März 1872 gehaltene Rede –, »daß ein Athemzug des höheren Lebens auch unser tägliches Treiben durchdringe, daß auch jeder sinnliche Genuß verklärt und jedes Gastmahl ein Symposion werde« (Curtius 1875, 130). Sein Sohn Friedrich hat in der Einleitung des Buches Ein Lebensbild in Bildern u.a. darauf hingewiesen, dass das Streben nach formvollendetem Ausdruck für seinen Vater durch den Begriff der Kunst gegeben [war]. Daß eine rein naturalistische und möglichst krasse Verlautbarung von irgend welchen Anschauungen und Gefühlen als Poesie gelten könne, lag außerhalb des Bereichs dessen, was sein Denken erfaßte. Auch für das Verhältniß von Kunst und Natur, Kunst und Leben waren ihm die Griechen vorbildlich. Nicht das Leben sollte die Kunst überwältigen, sondern die Kunst das Leben verklären. Darum fühlte er sich so glücklich in seinem Antiquarium unter den Werken der antiken Kleinkunst. (F. Curtius 1903, IX) Friedrich Curtius ergänzt, dass »die allseitige und harmonische Ausbildung aller Kräfte des Körpers und des Geistes, die Vollendung des ganzen Menschen in Kunst, Wissenschaft und Leben ihm die centrale Idee des Hellenenthums« war (ebd., VI). Ulrich Köhler betont in seiner Gedächtnisrede auf Ernst Curtius, »das Hellenenthum war für ihn [Curtius, Anm. Verf.], was es für Herder, Goethe, Schiller gewesen war, der Inbegriff freier und edler Menschlichkeit« (Köhler 1897, 7), während Charlotte Broicher ihn in ihren Erinnerungen an Ernst Curtius »oft als Hellenen, ja als antiken Menschen schlechthin« bezeichnet (Broicher 1897, 4). Und in dem Telegramm vom 19. April 1895 aller in Olympia zur Aufstellung der Curtius-Büste Versammelten hat man ihn mit den Worten Wilhelm Dörpfelds als »letzten Olympioniken gekränzt« (Bericht 1895, 20). In seinen Erinnerungen an Ernst Curtius notiert Ludwig Gurlitt: [Curtius] hatte sich so eingelebt in die Ideenwelt und in die Formensprache der alten Griechen, daß sein Empfinden selbst echt griechisch wurde. Seine Begeisterung für das klassische Altertum war nichts Erlerntes, nichts Ergrübeltes, sie war wahr und innerlich wie seine ganze Natur. Sie war beschränkt auf Griechenland, für Rom scheint er kein Herz zu haben. […] Seine Begeisterung für Hellas war wurzelecht, von lodernder Kraft, hinreißend. (Gurlitt 1902, 10)
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Sein Leben und Träumen war vollkommen vom alten Hellas beherrscht (vgl. ebd., 9). Eine solche tiefe Begeisterung erfüllte auch Emanuel Geibel. Sein »Talent ist an Griechenlands Sonne genährt und gereift«, erwähnt Carl Leimbach in seinem ausführlichen Werk über das Leben und die Werke Geibels (Leimbach 1894, 56). Der Griechenlandaufenthalt Geibels trägt zur Bestätigung seiner angelesenen und bereits seit Jahren vorhandenen idealisierend-poetisierenden Perspektive auf Griechenland bei, während seine dort erworbenen Erfahrungen nachhaltigen Einfluss auf seine Persönlichkeitsbildung sowie auf die berufliche Orientierung ausüben und den dort geborenen Wunsch des jungen Philhellenen, Poet zu werden, fördern (vgl. Volkmann 2018, 101). Geibel verkündet in seiner achten, noch in Griechenland verfassten Elegie das ernste, poetische Gelübde, dem Maß und der Form der Griechen treu zu bleiben: Mutig im Dienste der Kunst nach dem einfach Schönen zu ringen, Wahr zu bleiben und klar, wie’s mich die Griechen gelehrt, Und, was immer verwirrend die Brust und die Sinne bestürme, Stets das geheiligte Maß fromm zu bewahren im Lied. (Nietzki 1890, XXI) Diesem Gelübde ist er treu geblieben, das Maß nennt er später das Göttliche oder auch das Höchste, da es ihm stets heilig blieb, denn seine Kunst trägt in Gehalt und Form den griechischen Stempel von Maß und Schönheit (vgl. ebd.). In Griechenland wuchs in ihm ein tiefes Verständnis für die antike Kunst, insbesondere für die Dichter, unter denen er Homer und Sophokles besonders verehrte. Sein Ideal war, das einfach Schöne in der Kunst darstellen zu können, Gesetz waren ihm Maß und Schönheit der Form, während die antiken Versmaße zuerst in Übersetzungen und anschließend in eigenen Dichtungen mit Erfolg angewendet wurden (vgl. ebd., XII). In dem Bruchstück seines Frühlingshymnus eruiert Geibel leidenschaftlich das Wesen des Griechentums: Mein Hellas, du bist unser, du bist mein! Jung und unsterblich schreitet deine Sage Mit blüh’nden Lippen noch durch unsre Tage; Allüberall, wo Großes soll erstehen, Geht von dir aus ein schöpferisches Wehen; Dem Künstler bist du, bist dem Sänger nah, Und wie dereinst aus goldnem Henkelkruge Die königliche Maid Nausikaa Den Dulder tränkt’ aus seinem Wanderzuge, So tränkst du, will’s in unsern Brunnen fehlen, Mit Schönheit und mit Freiheit unsre Seelen,
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Mit jener Freiheit, welche Plato zeugt, Für die geblutet Aristides’ Wunden Die groß und still sich vor den Göttern beugt, Weil sie das Göttlichste, das Maß, gefunden. (Geibel 1848, 72) Griechenland und die Sehnsucht danach haben das Werk des Lyrikers tief geprägt. Durch jene erste Ägäis-Reise ist er zum Poeten geworden. Diese Nostalgie findet sich in zahlreichen Gedichten Geibels wieder, u.a. in seinem aus drei Strophen bestehenden sechszeiligen Gedicht Sehnsucht: Ich blick’ in mein Herz, und ich blick’ in die Welt, Bis vom Auge die brennende Träne mir fällt; Wohl leuchtet die Ferne mit goldenem Licht, Doch hält mich der Nord, ich erreiche sie nicht. O die Schranken so eng, und die Welt so weit, Und so flüchtig die Zeit! Ich weiß ein Land, wo aus sonnigem Grün, Um versunkene Tempel die Trauben glühn, Wo die purpurne Woge das Ufer beschäumt, Und von kommenden Sängern der Lorbeer träumt. Fern lockt es und winkt dem verlangenden Sinn, Und ich kann nicht hin! O hätt’ ich Flügel, durchs Blau der Luft Wie wollt’ ich baden im Sonnenduft! Doch umsonst! Und Stund’ auf Stunde entflieht – Vertraure die Jugend, begrabe das Lied! – O die Schranken so eng, und die Welt so weit, Und so flüchtig die Zeit. (Geibel 1888, 159) Die heutigen Agäis-Reisenden könnten es also Ernst Curtius und Emanuel Geibel überlassen, sie durch die geschichtsreiche Inselwelt der Ägäis sowohl durch die Lyrik zu führen als auch anhand des im Buch Wanderungen auf Naxos (Ucke 1988, 183-225) integrierten lyrischen Vortrags von Curtius mit dem Titel Naxos – Geschichte einer Insel in die Inselwelt einzutauchen. Auch wenn heute, so Christian Ucke, einige Wanderungen, von Hand gezeichnete Karten und Auszüge aus alten Reisebeschreibungen nicht in jedem Detail stimmen, sind sie doch von ihm integriert worden, da sie reizvolle Beschreibungen aus früheren Zeiten darstellen (vgl. ebd., 6).
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Vergangenes und Gegenwärtiges lassen sich in der Ägäis miteinander verbinden und man kann »den ganzen Becher«, so Geibel, »in langen durstigen Zügen« (Litzmann 1887, 47) in dem – frei nach Goethe – »Land der Dichtung« leeren. »Ernst, ich komme dir nach!« (Curtius 1915, 9), rief der junge Emanuel in Berlin, als sich Curtius auf den Weg nach Griechenland machte und ihm dadurch das Tor zur Antike öffnete. So entstand auch ihrerseits eine neue Ära für Kunst und Wissenschaft. Denn ihre Werke folgen ihnen nach.
Quellen Aristotelis (1843): Opera omnia quae extant uno volumine comprehensa. Lipsiae: Carl Hermann Weise. Curtios, Ernestos (1889): Νάξος. Ομιλία απαγγελθείσα μεν εν τῳ εν Βερολίνῳ επιστημονικῲ συλλόγῳ την 21 Φεβρουαρίου 1846. Μεταφρασθείσα δε εκ του Γερμανικού υπό Θεοδώρου Δαμαλά τῃ προσθήκῃ ανασκευαστικού επιλόγου. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Theodor Damalas. Eν Αθήναις: Σπυρίδωνος Κουσουλίνου τυπογραφείον και βιβλιοπωλείον παρά τῳ ναῲ των Αγίων Θεοδώρων. Curtius, Ernst (1846): Naxos. Ein Vortrag im wissenschaftlichen Vereine zu Berlin. Mit einer Karte. Berlin: Wilhelm Besser. Curtius, Ernst (1875): Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin: Wilhelm Hertz. Curtius, Ernst (1903): Ein Lebensbild in Briefen. Mit einem Bildnis in Kupferätzung. Hg. von Friedrich Curtius. Berlin: Julius Springer. Curtius, Ernst (1915): Erinnerungen an Emanuel Geibel. Mit zwei Faksimiles. Berlin: Karl Curtius. Curtius, Ernst und Geibel, Emanuel (1840): Klassische Studien. Übersetzungen aus griechischen Dichtern. Bonn: Eduard Weber. Geibel, Emanuel (1848): Juniuslieder. Stuttgart, Tübingen: Cotta. Geibel, Emanuel (1875): Classisches Liederbuch. Griechen und Römer in deutscher Nachbildung. Berlin: Hertz. Geibel, Emanuel (1883): Gesammelte Werke. In acht Bänden. Bd. 5. Stuttgart: Cotta. Geibel, Emanuel (1888): Gedichte. Erste Periode. Hundertelfte Aufl. Stuttgart: Cotta. Geibel, Emanuel (1890): Neue Gedichte. Dritte Periode. Zweiundzwanzigste Aufl. Stuttgart: Cotta. Geibel, Emanuel (1909): Emanuel Geibels Jugendbriefe. Bonn – Berlin – Griechenland. Mit zwei Bildnissen. Hg. von Emil Ferdinand Fehling. Berlin: Karl Curtius. Geibel, Emanuel (1918): Werke. Bd. 2. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut. Goethe [Johann Wolfgang von] (1819): West-oestlicher Divan. Stuttgard: In der Cottaischen Buchhandlung.
»Und zwischen unsern Herzen lag das Meer«
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Konstantina Tsonaka
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Von den Seeräubern zu den Raubfischern Die Ägäis als literarischer Abenteuerraum Hans-Bernhard Schlumm
Im 18. Jahrhundert entsteht die moderne Gattung der Abenteuerliteratur. Eine wesentliche Voraussetzung für dieses neue Genre ist die Herausbildung eines neuen, breiteren Lesepublikums, das sich durch eine Reihe gesellschaftlicher Veränderungen herausgebildet hat, auf die wir hier in diesem Zusammenhang leider nicht näher eingehen können. Das Leseverhalten und die Lesebereitschaft dieses Publikums veränderten sich, es entwickelte neue Bedürfnisse, die zum Teil von der neuen Literaturform der Abenteuerliteratur befriedigt werden konnten. In dieser Abenteuerliteratur wurden überwiegend Helden geschaffen, die den normalen alltäglichen Lebensraum verließen und sich auf Abenteuer in neuen gefährlichen oder zum Teil noch kaum bekannten geografischen Räumen einließen. In der Regel bekämpften diese Helden das Böse, oder sie sind durch unglückliche Umstände zu sogenannten »edlen« Räubern oder Piraten geworden, und damit bildeten sie ideale Identifikationsfiguren für das breite Lesepublikum. »Ferner war für den erstaunlichen Erfolg des Abenteuerromans entscheidend, daß er, der Natur des Gegenstandes entsprechend, positive Helden darstellte. Mit ihnen konnten sich die Leser identifizieren und so die provinzielle Enge des Vaterlandes und des eigenen Lebens vergessen.« (Sichelschmidt 1969, 169-170) Die Ägäis ist ein klassischer Raum für Abenteuer, die – wenn auch unfreiwillig – schon Odysseus, der Urvater des Abenteurers, bestehen musste. In der Neuzeit entstanden mit der Piraterie im Mittelmeerraum neue Mythen mit neuen Helden, denn die Ägäis mit ihren zahlreichen Inseln stellt einen idealen Handlungsraum für die Piraterie dar. Nirgends war ein einzelnes Schiff in der Ägäis vollkommen sicher. In diesem unübersichtlichen Kampfgebiet hatte den Vorteil, wer den Boden des Archipels über und unter dem Wasser am besten kannte und nutzte. So lagen die griechischen Raubbarken verborgen hinter den Klippen und stießen erst dann hervor, wenn Entfernung, Strömung und Wind ein Entkommen des Opfers unmöglich machten. (Eickhoff 2008, 121-122)
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Die Seewege in der Ägäis waren in den Zeiten der Auseinandersetzung zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich ständig von Piraten bedroht. Eine Reihe von Piraten, Griechen und Nichtgriechen, wurden zu legendären, viel bewunderten Gestalten. Sie gingen häufig Bündnisse mit den einheimischen Küsten- oder Inselbewohnern ein, die zum Teil von dem Handel mit der Beute der Piraten lebten. Ein interessantes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang der berühmte spanische Abenteurer und Pirat Alonso de Contreras (Contreras 2012, 43ff.) dar, der mit den Inselbewohnern von Astypalea ein solches Bündnis einging. »Die Fracht seiner Prisen verkaufte er an griechische Händler, die Schiffe selbst aber wurden verschenkt. Seine Einkehr bei der Gemeinschaft von Stampalia [das heutige Astypalea, der Verf.] erinnert an das griechische Inselidyll in Byrons Don Juan.« (Eickhoff 2008, 124) Im Folgenden widmen wir uns zwei abenteuerlichen Erzählungen, denen gemeinsam ist, dass sie als Handlungsraum die Ägäis haben. Die erste wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von Lord Byron verfasst, die andere ist ein Roman von Werner Helwig (1905-1985), der erstmals 1939 veröffentlicht wurde. Beide Veröffentlichungen waren sehr erfolgreich. Lord Byron veröffentlichte im Jahr 1814 das dramatische Gedicht »The Corsair«, das sofort nach seinem Erscheinen ein großer Publikumserfolg wurde. In den ersten Zeilen des Ersten Gesangs des Gedichts wird mit viel Pathos der Lebensraum der Seeräuber, das Meer, besungen. In der ersten deutschen Übersetzung – einer Prosaübersetzung von Friedrich Ludwig von Tschirsky, die schon 1816 erschien – lautet das so: Über die heitern Gewässer der dunkelblauen See überschauen unsere grenzenlosen Gedanken und unsere freien Seelen, soweit der Wind braust, soweit die Wellen schäumen, unser Reich, und sehen überall ihre Heimat. Das alles sind unsere Besitzungen, ihr Umfang hat keine Grenzen, unsere Flagge ist der Zepter, dem alle gehorchen, die uns begegnen. Uns ist vergönnt, im wilden Leben daher zu toben, und von Arbeit zur Ruhe nach unserem Gefallen über zu taumeln, und in jedem Wechsel Freude zu finden. (Lord Byron 1816, 1-2) Das ›Glaubensbekenntnis der Raubfischer‹, das den erfolgreichsten Griechenlandroman der deutschen Literatur, Raubfischer in Hellas, von Werner Helwig, der erstmals 1939 erschien und bis heute zahlreiche Neuauflagen erlebte, einleitet, beschreibt mit einem vergleichsweise ähnlichen Pathos den Lebensraum der Raubfischer. Dieses Glaubensbekenntnis legt der Autor seinem Protagonisten, Clemens, der seinem Gefährten Alfons Hochhauser nachempfunden ist, in den Mund: Unser Meer ist frei und weit und hat viele Verstecke. Wo wir fahren, ist unser Weg. Und der Weg ist ohne Ende. Alles wurde uns Weg auf unseren Meeren. Wenn wir aber ein Ziel haben, sind wir auf der Flucht. Denn wir sind Raubfischer. Wir schlep-
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pen nicht Netze durch das Wasser, wir legen keine Grundangeln, wir sind nicht nachdenklich wie die Christenfischer vom See Genezareth: unser Teil ist die Jagd auf den Fisch, die verbotene Jagd, die Jagd mit Dynamit. (Helwig 2016a, 5) Die geografische Beschaffenheit der Ägäis mit ihren unzähligen Inseln ist ideal für die Seeräuber wie auch für die Raubfischer, denn sie bietet ihnen zahlreiche Möglichkeiten für Verstecke und Hinterhalte. Todesmutig und ohne Rücksicht auf ihr Leben üben die Seeräuber ihre Tätigkeit aus: »Keine Todesfurcht, wenn nur unsere Feinde mit uns sterben; so scheint uns der Tod doch selbst langweiliger als die Ruhe, mag er kommen, wann er will, wir ergreifen das innerste Leben – verlieren wir es, was kümmert es uns, ob durch Krankheit oder im Streite?« (Lord Byron 1816, 5) Wie die Seeräuber verachten auch die Raubfischer die Gefahren ihrer Tätigkeit: Aber wenn auch manch einer von uns in die Gefängnisse geworfen wird, wenn auch manchem das Boot beschlagnahmt wird, oder Geldstrafen fällig werden, die einer sein ganzes Leben lang nicht beibringen kann, wenn auch manchem von uns durch Fehlzündung einer Dynamitpatrone die Hand weggerissen wurde: – wir schmeißen doppelt so viel Bomben, um den Verlust wieder einzubringen. Wir rotten aus. Nach uns die Leere. (Helwig 2016a, 6) Byrons Erzählung streift kaum den Alltag des Seeräuberwesens, vielmehr romantisiert er ihr Leben und heroisiert ihren Anführer Conrad. Hinter Conrad liegt eine dunkle Vergangenheit, aus der er als Asket und Menschenverächter hervorgegangen ist. Aber zugleich ist er auch ein kühner und geachteter Anführer der Piratengemeinschaft, die die griechische Insel Chios bewohnt. Die Handlung dieser Erzählung ist einfach und ohne großen Realitätsgehalt. Conrad erfährt, dass der Pascha, der in Kolon, dem heutigen Kalamata, residiert, Chios stürmen und das dortige Piratenwesen beseitigen will. Conrad entschließt sich, dem Pascha zuvorzukommen. Er verabschiedet sich von seiner Lebensgefährtin Medora, die er innig liebt, und verspricht ihr, in drei Tagen wieder zurück zu sein. Nach der Ankunft in Kalamata schleicht er sich als Derwisch verkleidet in den Palast des Paschas, während zur gleichen Zeit seine Gefährten die feindliche Flotte in Brand setzen. Sie stürmen die Festung, und als das Haremsgebäude in Flammen aufgeht, sorgt Conrad ritterlich dafür, dass alle Haremsdamen gerettet werden. Er selbst rettet eigenhändig die Favoritin des Paschas, Gulnare, die sich in ihn verliebt. Durch diese Rettungsaktion wendet sich das Kampfgeschehen, Conrad wird gefangen genommen und soll hingerichtet werden. Aber Gulnare ersticht den Pascha und flieht mit Conrad nach Chios. Aber inzwischen ist seine geliebte Medora vor Gram gestorben, da er nicht, wie versprochen, innerhalb von drei Tagen zurückgekehrt ist. Daraufhin verschwindet Conrad, ohne eine Spur zu hinterlassen.
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In den Anmerkungen zu dieser Erzählung versucht Byron den Realitätsgehalt seiner Dichtung herauszustreichen und weist darauf hin, dass »Conrad kein unwahrscheinlicher Charakter sei, das gedenke ich durch etliche Zeugnisse darzutun, die mir beikamen, als ich den Corsar verfasste.« (Lord Byron 1839, 109) In weiteren Anmerkungen versucht er noch die Wahrscheinlichkeit seiner Geschichte mit historischen und literarischen Bezügen zu erhärten. In älteren Biografien wird darauf hingewiesen, dass eine wahre Begebenheit aus Byrons Leben ihn zu diesem dramatischen Gedicht inspiriert habe. Es heißt, er habe einen venezianischen Kapitän vor dem Pöbel in Konstantinopel gerettet und zur Flucht verholfen. Auf der gemeinsamen Reise zu griechischen Inseln erzählte der Kapitän – ein verkappter Pirat –, dass er wegen einer verbotenen Liebe mit seiner Geliebten aus Venedig habe fliehen müssen, sie seien dann unter die Piraten gefallen, aber wegen seiner militärischen Qualitäten hätten ihn die Piraten zu ihrem Anführer gewählt. (Ebd., XXXII ff.) Eine schöne Darstellung, die in romantischer Manier zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen oszilliert. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis auf Karl Moor und Schillers Räuber in den Anmerkungen von Byron zu begreifen. Manfred Schneider weist in einem Artikel über dieses dramatische Gedicht zu Recht darauf hin, dass diese Piraten und insbesondere ihr Anführer Conrad sich als Verkörperungen von Byrons eigenem Traum »einer Weltbürgerschaft und Träger des griechischen Freiheitswillens« (Schneider 2011) begreifen lassen. In diesem Sinne ist auch die letzte Zeile der 2. Strophe des Dritten Gesangs zu verstehen, in der es mit Blick auf Athen heißt: »O zöge doch die Freiheit wieder ein!« (Lord Byron 1839, 102) Und eben darin sieht Schneider einen wesentlichen modernen Aspekt dieses Werkes. Die Seeräuber Byrons und die Raubfischer Helwigs trennen nicht nur historisch, sondern auch thematisch Welten, aber sie eint ein gemeinsamer Raum, die Ägäis, denn dieses Meer ist der geografische Handlungsraum, in dem sich die räuberischen Aktivitäten dieser so vollkommen verschiedenen Akteure abspielen. Auch der Roman Raubfischer in Hellas – wenn wir denn Lord Byrons Begebenheit in Konstantinopel und deren Folgen Glauben schenken wollen – verbindet autobiografische Erlebnisse mit fiktiven Elementen. In diesem Roman reist ein männlicher Ich-Erzähler auf Einladung eines alten Schulfreundes nach Griechenland. Clemens, der alte Schulfreund, lebt dort seit über zehn Jahren. Schon in Athen hatte der Erzähler von Clemens gehört. »Seine Kraft und sein Mut wurden mir gerühmt. Sein Meistertum in allen Arten der christlichen, der pflegsamen Fischerei.« (Helwig 2016a, 12) Über weite Strecken des Romans erzählt Clemens – seine Erzählteile sind im Roman stets mit Anführungszeichen versehen – über sein bisheriges Leben in Griechenland. Seine Ankunft im Pilion, seine erste Begegnung mit den Raubfischern, deren Raub darin besteht, dass sie auf illegale Weise mit Dynamit fischen.
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Gleich zu Beginn wird der Unterschied zwischen den beiden Männern deutlich: Der Erzähler ist ein Mann der »deutschen Ordnungswelt«, während der »abenteuerliche Clemens« als Aussteiger diese Welt hinter sich gelassen hat. In seinen Erzählungen legt Clemens seinem Freund gegenüber eine Art Rechenschaft ab. Nach dem Abitur ist Clemens unzufrieden mit den Lebensverhältnissen in Deutschland bzw. Österreich und gegen den Willen seiner Eltern reist er nach Griechenland und kommt nach Volos, da ihn das klassische Griechenland nicht reizte. Auf unwegsamen und gefährlichen Wegen erwandert er den Pilion und gelangt zu dem verrufenen Küstenstrich, an dem die Raubfischer leben. Er bleibt nicht bei ihnen, sondern kehrt in das Hauptdorf des nördlichen Pilion, Zagora, zurück. Dort lernt er einen Geschäftsmann kennen, geht mit ihm nach Saloniki, und nach kurzer Zeit sind sie erfolgreich im Tabakgeschäft tätig. Aber schon nach kurzer Zeit verliert er das Interesse an dieser Tätigkeit und kehrt in den Pilion zu den Raubfischern zurück. Dort betreibt er eine kleine Taverne und übernimmt den Verkauf ihrer Fische in den benachbarten Dörfern und in Volos. Aber wie zuvor wird er auch dieser Tätigkeit wieder überdrüssig, denn die Sicherheit und ein gutes Auskommen befriedigen ihn nicht, er ist auf der Suche nach etwas Anderem, ohne genau zu wissen, was er eigentlich sucht. Er gerät in den Dienst des allseits gefürchteten Dynamitfischers Psarathannasis, dem ungekrönten König der Raubfischer. Neben der Dynamitfischerei ist der auch mit dem Schmuggel und Verkauf antiker Kunstschätze beschäftigt. Von Psarathannasis wird er in sklavischer Abhängigkeit gehalten. Mit der Zeit wächst deshalb in ihm der Widerstand und er ist ständig auf der Hut. Als es schließlich zu einer gefährlichen Auseinandersetzung kommt, bei der ihn Psarathannasis wegen der befürchteten Mitwisserschaft an seinen Schmuggelgeschäften mit einem Stein erschlagen will, kommt ihm Clemens zuvor und tötet ihn mit einem Faustschlag. Er findet im Boot eine Kiste voller Goldmünzen, die er an sich nimmt, und schleppt sie unter großen Strapazen hoch in das zerstörte Seeräubernest Mitzella, um sie dort sicher zu verstecken. Er nimmt eine Hand voll Münzen für sich, davon kauft er sich später ein Fischerboot und die notwendige Ausrüstung. Der Schatz bringt Clemens auf neue Gedanken, die Suche nach mehr Lebensintensität findet hier einen vorläufigen Abschluss. Er setzt sich nun als Ziel, die Dynamitfischerei abzuschaffen. »Die Dynamitfischer will ich gegen das Dynamit aufrufen. Das ist mein Plan. Da beginnt meine Aufgabe! Und dieser unfruchtbare, ewig hin und her geschleppte Schatz, der soll der Sache dienen.« (Ebd., 180) Conrad wurde von den Piraten wegen seiner Kühnheit und seines strategischen Geschicks anerkannt, er verschwindet spurlos, da er seinen menschlichen Schmerz über den Verlust seiner heißgeliebten Medora nicht mit seinen Gefährten teilen kann, denn die würden ihn nicht verstehen. Dagegen versucht Clemens, die Raubfischer zu ändern. Ist das überhaupt möglich? Denn mit einer Aufklärungskampagne und Gründung einer Fischerinnerung gegen die Dynamitfischerei vorzugehen,
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scheint naiv angesichts der Gründe für diese Tätigkeit, die Clemens selbst im Abschnitt über die Frevel der Fischerei anführt. Carsten Würmann fasst diese Gründe in seinem Aufsatz, »Fluchtversuche aus der Moderne«, überzeugend zusammen. Die Welt ist kompliziert, droht sie und ihre Existenz zu vernichten. Sie reagieren mit der Revolte, dem Dynamitfischen. Dem langsamen Verfall alter Ordnungsstrukturen begegnen sie mit der Rebellion gegen jede Ordnung. […] Sie sind ihrer Tätigkeit verfallen. Sie leben für den Rausch, den ultimativen ›Kick‹; um ihn herum haben sie sich eine Lebensweise zugelegt, die nicht auf die Bewahrung von Geld und Leben ausgelegt ist. Diese ist ihnen gleichgültig. (Würmann 1999, 64) Der gutgemeinte Versuch, die Raubfischer von ihrer Tätigkeit des Dynamitfischens abzubringen, scheitert. Der frühere Gehilfe des Psarathannasis hat den Schatz entwendet und Clemens muss notgedrungen sein Projekt aufgeben. Während die Episode Lord Byrons mit dem venezianischen Kapitän mehr als fragwürdig erscheint, und wohl kaum als autobiografisches Element seiner Erzählung herhalten kann, ist der Roman von Helwig voller autobiografischer Elemente. Die Vorlage für den Protagonisten im Roman ist der österreichische Aussteiger Alfons Hochhauser (19061981), den Helwig 1928 bei einem Treffen der ›Wandervögel‹ auf der Burg Waldeck im Hunsrück kennengelernt hatte (vgl. Traka 2016, 43). Die Wandervogelbewegung, darauf sei hier kurz verwiesen, war eine jugendliche Protestbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts von Schülern und Studenten in Berlin begründet wurde. Gegen die reglementierte militaristische Welt des wilhelminischen Deutschlands wurde ein davon befreites und ungebundenes Leben proklamiert, es wurden Fahrten in die Natur organisiert, um den Zwängen des alltäglichen Lebens zu entfliehen. Kurz gesagt: eine alternative Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Alfons Hochhauser praktizierte radikal die Ideen der Jugendbewegung, schon mit 16 Jahren kehrte er der bürgerlichen Gesellschaft seiner Heimatstadt Judenburg bei Graz den Rücken zu und tippelte vagabundierend um das gesamte Mittelmeer. Er schlägt sich mit allen möglichen Gelegenheitsarbeiten durch, um nach zwei entbehrungsreichen Jahren wieder in seine Heimat zurückzukehren. Aber es hält ihn nicht lange. Im Sommer 1926 lässt er sich in seiner neuen Wahlheimat, dem Pilion, nieder. Der zeitgenössische griechische Schriftsteller Kostas Akrivos (geb. 1958) hat über ihn einen Roman geschrieben, der 2010 in Griechenland erschien und zwei Jahre später von mir unter dem Titel Alfons Hochhauser – Der Barfußprophet von Pilion übersetzt wurde. Der griechische Autor begreift sein Werk nicht als eine biografische Studie, sondern als einen literarischen Text, der Fiktion und Dokumentation miteinander verschränkt. Im Roman recherchiert der Erzähler, ebenfalls ein Schriftsteller, über das Leben des Alfons Hochhauser, er interviewt Zeitzeugen, ehemalige Freunde und Bekannte, er verwendet authentische Dokumente, wie Tagebuchaufzeichnun-
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gen und Briefe, aber er erfindet auch fiktive Dokumente, ein Grenzgang zwischen historischer Realität und literarischer Fiktion. In einer solchen Collage glaubt der Autor, der für ihn rätselhaften Persönlichkeit besser auf die Spur kommen zu können als mittels einer Biografie. Hochhausers Ankunft in Volos beschreibt Akrivos folgendermaßen: Im Sommer 1926 schlenderte ein hochaufgeschossener, schlanker, junger Mann, kaum zwanzigjährig, mit einem Adlerblick, stolzen Schrittes mit einem Rucksack auf dem Rücken und einen Fotoapparat in der Hand durch die Gassen und über die Hafenpromenade von Volos. (Akrivos 2012, 19) Weiter unten heißt es: »Er hält sich ungefähr eine Woche in Volos auf, sieht sich in der Stadt um, und nimmt dann seinen Weg in den Pilion.« (Ebd., 20) Dort arbeitet er zunächst als Schweinehirt, dann kommt er zu den Raubfischern und eröffnet dort die berühmt gewordene Raubfischertaverne. Ab dem Sommer 1929 steht er in Diensten des jähzornigen und gewalttätigen Dynamitfischers Psarathannasis. Im Roman wird aus Alfons’ Tagebuch zitiert: »Seit jenem Tag war ich sein Gefangener. Er brauchte mich beim Fischen mit Dynamit […]. Ich arbeitete wie ein Sklave. Nach langer Zeit verließ er mich an der Küste von Aghiokampos. Aus dieser Geschichte entstand ein Buch und später ein Film.« (Ebd., 140) Die literarische Verarbeitung dieser Episode durch Werner Helwig haben wir weiter oben behandelt. Von 1935 bis 1938 unternahm der Autor Werner Helwig drei Griechenlandreisen, bei denen er jeweils seinen Freund Alfons Hochhauser besuchte. Diese Begegnungen und die Erzählungen seines Freundes lieferten dem Autor den Stoff für eine Griechenlandtrilogie. Der Roman Raubfischer in Hellas, erschienen 1939 in Leipzig, bildet den ersten Teil, gefolgt von dem 1941 ebenfalls in Leipzig erschienenen zweiten Teil Im Dickicht des Pelion. Sein Raubfischer-Tagebuch, das erstmals 1953 als abschließender dritter Teil unter dem Titel Reise ohne Heimkehr erschien, dokumentiert das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zwischen diesen beiden Männern (Helwig 2016a; 2016b; 2016c; vgl. Prause 2014, 232ff.). Im Jahre 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich, wird Hochhauser aus Griechenland als unerwünschter Ausländer ausgewiesen. Er wird eingezogen und kommt zu einer Dolmetschereinheit, da er ja sehr gut Griechisch spricht. Ein Glücksfall verhilft ihm, schon bald wieder in das geliebte Griechenland zu kommen. Der Wiener Unterwasserpionier Hans Hass bereitet eine Tauchexpedition in die Ägäis vor und er hat in Erfahrung gebracht, dass der Held in Werner Helwigs Roman Raubfischer in Hellas in der Person des Alfons Hochhauser, der die Ägäis in jener Region des Pilion wie seine Westentasche kennt, tatsächlich existiert. Er verpflichtet ihn für seine Expedition und beschreibt seinen ersten Eindruck von ihm in dem Buch Menschen und Haie:
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Der Mensch sah wie eine knorrige Eiche aus. Hier stand ich einem ganzen Menschen gegenüber. Einem Mann, der die Natur und das weite, große Abenteuer liebte und akkurat den Weg ging, der ihm gefiel. Kurzgeschoren und abgemagert, wie er war, sah er wie ein tuberkulöser Raubmörder aus; dabei hatte er die Allüren eines Parlamentspräsidenten. Jedes Wort, das er sprach, war von tiefem Gehalt. (Hass 1962, 65) Die Biografie dieses Mannes, der nach dem Krieg wieder in den Pilion zurückkehrte und dort die ersten Formen eines alternativen, sanften Tourismus begründete, faszinierte, wie gesagt, den zeitgenössischen griechischen Schriftsteller Kostas Akrivos so sehr, dass er sich intensiv mit dessen Leben beschäftigte und schließlich einen Roman über ihn schrieb. Ähnlich fasziniert war wohl auch der Schriftsteller Werner Helwig gut 70 Jahre früher, als er Hochhauser in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre mehrfach besuchte, und seine Begegnungen und Gespräche mit Hochhauser ihm den Stoff für seine Griechenlandtrilogie lieferten. Waren für die Seeräuber Byrons die Ägäis und ihre Inseln mehr ein fantastischer Handlungsraum, in dem sie agierten, obwohl Byron durch seine Reisen dieses Meer bestens kannte, so beschreibt dagegen Helwig den Teil der Ägäis um die Pilionhalbinsel herum sehr realistisch, da er sich sowohl an die Erzählungen Hochhausers als auch an seine eigenen Erfahrungen hält. Ein schönes Beispiel für die märchenhafte Handlung bildet in Byrons Text der Umstand, dass die Piratenflotte in einer Nacht von Chios nach Kalamata segelt. Byron bemerkt dazu in einer Anmerkung: Die Zeit dieser Erzählung dürfte für die Begebenheiten zu kurz erscheinen, doch kann man vom Festland aus zu den ganzen ägäischen Inseln auf einer Fahrt von wenig Stunden kommen, und der Leser mag so freundlich sein, sich einen Wind zu denken, wie ich ihn nicht selten gefunden. (Lord Byron 1839, 107) Dagegen werden in Helwigs Roman die Schwierigkeiten mit den Gegebenheiten des Meeres sehr realistisch beschrieben: »In wenigen Minuten wird der Landwind so stark geworden sein, dass wir das Boot nicht mehr an die Küste bringen können, selbst wenn wir uns blutig rudern würden. Das Beste ist, wir nutzen den scharfen Landwind aus und gehen ins offene Meer, wo wir am wenigsten gefährdet sind.« (Helwig 2016a, 86) So spricht natürlich der erfahrene Fischer Clemens alias Alfons Hochhauser. Hier endet die Fahrt durch die Ägäis, Byrons Piraten segeln auf den Flügeln der Fantasie durch die Meereswogen, während am Ende von Helwigs Roman der Held und sein Erzähler nach dem Misserfolg mit dem verschwundenen Schatz nicht in die Heimat, sondern »in die leere Helle des Ostens« (ebd., 190) segeln.
Von den Seeräubern zu den Raubfischern
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Figurationen des Meeres in Gerhard Roths Roman Der Berg Odyssee einer Zeugensuche Marieke Krajenbrink Diesen Beitrag möchte ich in langjähriger und dankbarer Verbundenheit meinem einstmaligen Doktorvater und verehrten Kollegen Prof. Dr. Ferdinand van Ingen widmen. M. K.
In Gerhard Roths Roman Der Berg (2000) spielt, auch wenn der Romantitel vielleicht anderes erwarten ließe, die Darstellung des Meeres eine besondere, strukturbildende Rolle. Während andere Aspekte des Romans, wie etwa die unkonventionell eingesetzten Elemente des Kriminalromans (Krajenbrink 2001a; Schmidt-Dengler 2011; Saur 2011), das Motiv der Reise (Dermutz 2017) und die Position innerhalb des Zyklus Orkus (Krajenbrink 2001b; Bartens 2003; 2011; Schütte 2013; McChesney 2014), bereits Gegenstand der Untersuchung waren, ist der Frage nach Figurationen des Raumes und speziell des Meeres bisher weniger Beachtung zuteilgeworden. Dennoch liegt hier meines Erachtens ein zentraler Aspekt des Romans, wie es die nach Art eines Abenteuerromans auf der Innenseite des Buchdeckels abgedruckte Landkarte mit den einzelnen Stationen der hier erzählten Reise nach Athos bereits signalisiert (vgl. Abb. 1). Angesichts der geografischen Bedingungen des »östlichste[n] der drei Finger der Halbinsel Chalkidiki« (Müller 2005, 7), herausragend in die Ägäis, von fast allen Seiten vom Wasser umspült, ist die Omnipräsenz des Meeres an diesem besonderen Schauplatz, dem »spirituellen Mittelpunkt der orthodoxen Christenheit« (ebd., 8), eine Gegebenheit, die auf einen Autor aus einer Alpenrepublik eine besondere Faszination ausüben dürfte.1 Aber das Meer ist bei Roth viel mehr als bloße Ku1
Vgl. Neva Šlibars Ausführungen zum Meer z.B. bei Ilse Aichinger, Christoph Ransmayr, Thomas Glavinic und Bettina Balàka sowie ihren Hinweis auf »die Faszination der Schweizerinnen und Schweizer […] für das Meer« (Šlibar 2015, 36), die für SchriftstellerInnen aus Österreich ähnlich gelten dürfte.
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Abb. 1: Chalkidiki_Karte.
Vor- und Nachsatz der Erstausgabe von ›Der Berg‹, S. Fischer 2000, Umschlaggestaltung Raphie Etgar.
lisse, und dem nachzugehen gewährt Einblicke in Verfahren der Intertextualität, in die selbstreflexive Erzählweise und die Thematisierung der Wahrnehmung, die für Roths Schreiben so wichtig sind. Im Folgenden soll daher analysiert werden, wie das Ägäische Meer hier in jeweils unterschiedlichen Figurationen erzählerisch konstruiert wird, welche Funktionen das Meer dabei übernimmt – etwa als Handlungsraum, Akteur oder auch Stimmungs- und Symbolträger (vgl. Mauer 2010, 11) – und welche gattungsbedingten und durch kulturgeschichtliche Einschreibungen erzeugten Lesererwartungen dabei ins Spiel geraten. Ebenso geht es darum, welche Rolle intertextuelle Verweise und Bildverkettungen spielen, wie in diesem Zusammenhang traditionsreiche Tropen, wie z.B. das Fenstermotiv und die Perspektivierung der Wahrnehmung, auf innovative Weise zum Tragen kommen – und zwar in der literarischen Auseinandersetzung mit einem zur Erscheinungszeit des Romans wie auch heute besonders brisanten und kontrovers diskutierten Thema vor dem konkreten Hintergrund der postjugoslawischen Kriege der 90erJahre. Die epistemologisch-ästhetische Frage nach der Darstellbarkeit von Wirklichkeit wird dabei zugespitzt zu der (auch) ethischen Frage nach der Darstellbarkeit von Kriegsgewalt, nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Repräsentation von Kriegsverbrechen – und damit zu Fragen nach Haftbarmachung, Rechenschaft, Verantwortung, Gerechtigkeit.
Figurationen des Meeres in Gerhard Roths Roman Der Berg
Der Kriminalroman, der Reiseroman und die Odyssee als Erzählvorlagen Der Berg handelt von einem Österreicher auf Reisen im Ägäischen Raum. Das Handlungsgerüst des Romans liefern Elemente des Kriminalromans bzw. des Politthrillers, die hier, wie so oft bei Gerhard Roth, mit solchen des Reiseromans und des Abenteuerromans verschränkt werden. Der nach einer geplatzten Enthüllungsstory, die sich als juristisch unhaltbar erwies, ins Reisejournal relegierte Untersuchungsjournalist Viktor Gartner bekommt den Auftrag, eine Reportage über die Reise zur Mönchsrepublik Athos zu schreiben, verwendet diese jedoch als Deckmantel für eine viel brisantere Mission: die Suche nach dem serbischen Dichter Goran R., einem Bekannten des Ministerpräsidenten K. und des Generals M., der, so das Gerücht, »im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war« (Roth 2000, 11), und sich nun auf dem Heiligen Berg Athos versteckt halten soll. Sofort nach Ankunft in Griechenland trifft Gartner seine Kontaktperson mit durchschnittener Kehle an. Es folgen lange Verhöre durch die Polizei, die Gartner des Mordes verdächtigt, der, wie so vieles in diesem Roman, letztlich ungelöst bleibt. Gartner setzt seine Nachforschungen fort, die sich mühsam gestalten: Termine mit Mittelsmännern platzen, alle modernen Hilfsmittel werden Gartner aus den Händen geschlagen, seine Notizbücher werden bei einem ersten vergeblichen Versuch, Athos mit einem Fischerboot zu erreichen, durchnässt und unlesbar. Während Krimi-Elemente als Motor der Handlung fungieren, in der sich der Ermittler Gartner selbst nachgestellt und bedroht fühlt, spielen auf anderer Ebene Reflexionen über Bilder und Ikonen eine wichtige Rolle. Das betrifft zum einen die Ikonen vom Berg Athos, in denen Schicht über Schicht gemalt wurde und sich das ursprüngliche, ›wahre‹ Bild zumeist nicht mehr rekonstruieren lässt, und zum anderen die visionären Gedichte Goran R.s in seinem Band Ikonen, die in ähnlicher Vielschichtigkeit die widersprüchlichen Mythen um den blinden oder Blindheit nur vortäuschenden Märtyrer-König Stephan III. Decansky erinnern. Nach vielen Verwicklungen kommt es in Istanbul gegen eine beträchtliche Summe Bargeld zu einem Treffen mit Goran R., aber das Gespräch bringt nichts von konkretem Neuigkeitswert: Der Dichter, der stets über die Ereignisse in S. geschwiegen hat, erzählt, dass er in jener Nacht viel getrunken hatte, halb verrückt vor Grauen war und sich nur an Bruchstücke erinnert, die er sich womöglich nur eingebildet hat. Journalisten, so meint Goran R., würden daraus ein Bild rekonstruieren, das es so nie gegeben hat. Der Preis des Gesprächs ist hoch: der Mittelsmann wird ermordet. Gartner wird aus der Türkei ausgewiesen, kehrt desillusioniert nach Wien zurück und erzählt seinem Chefredakteur in Ausschnitten von seiner Reise. Am nächsten Tag liest er auf der Titelseite der Zeitung einen Bericht voller Fehler zu dem, was Goran R. ihm erklärt hätte. Die Schlussszene deutet an, dass er der Enthüllungsjournalistik den Rücken kehrt und zu seinen journalistischen Anfängen in der Filmkritik zurückkehrt.
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Der Berg ist der dritte Roman in Roths Zyklus Orkus (1995-2011), dessen Titel auf die Unterwelt verweist und der mit dem vorangehenden Zyklus Die Archive des Schweigens (1980-1991) einen Doppelzyklus bildet. Die einzelnen Teile lassen sich selbstständig lesen, sind aber zugleich durch handlungsmäßige, thematische und motivische Querverweise und ein Netz an intertextuellen Verweisen aufeinander bezogen. Zum einen geht es hier um die Problematik des Schweigens angesichts von (Kriegs-)Verbrechen – das zentrale Thema der Archive des Schweigens wird in Orkus weit über den Kontext der österreichischen Anamnese bezüglich des Nationalsozialismus hinaus erörtert –, zum anderen dreht sich Roths Erzählen immer wieder um Fragen der Wahrnehmung und wird die Möglichkeit, die Wahrheit in allen Nuancen zu eruieren und wiederzugeben, aus erkenntniskritischer Position hinterfragt. Besonders interessant für unseren Zusammenhang ist die strukturelle Bezugnahme auf Homers Epen, auf die Roth wiederholt hingewiesen hat: »Die sieben Bände der ›Archive des Schweigens‹ haben die ›Illias‹ von Homer zum Vorbild. Der ›Orkus‹-Zyklus die ›Odyssee‹« (Roth 2011, 35)2 – das klassische Meeresepos schlechthin.3 In Der Berg mit seinem griechischen Schauplatz ist der Rekurs auf die homerische Vorlage besonders ausgeprägt, etwa in der Sturm-Passage im Kapitel »Die Irrfahrt«. In Roths 1993 entstandener Planskizze zum Orkus-Zyklus heißt es: »Die einzelnen Figuren erleben an odysseehaften Schauplätzen odysseische Episoden« (Roth 2003a, 16) und: »Es war nicht die Absicht, irgendeine Episode NACHZUDICHTEN, sondern die Episoden wurden als schöpferische Anregung betrachtet.« (Ebd., 18, Herv. im Original) So ein Unterfangen ist bei der enormen Vielfalt an illustren literarischen Vorgängern, die sich auf Homers Odyssee bezogen haben, notwendigerweise auch immer eine Reise durch die Weltliteratur. Insbesondere James Joyces Ulysses ist dabei wichtig. Wie Daniela Bartens darlegt, ist »Roths zeitgenössische ›Odyssee‹-Lektüre im ›Orkus‹-Zyklus […] ohne seine ›Ulysses‹-Rezeption nicht zu denken, und am ›Ulysses‹ richtet sich Roths ›Orkus‹ auch strukturell aus« (Bartens 2003, 52).4 Die intertextuellen Vernetzungen werden in den verschiedenen Romanen immer wieder selbstreferenziell und selbstreflexiv mitthematisiert, zum Beispiel in den so häufigen Darstellungen von labyrinthischen Bibliotheken, die an Borges, Canettis Blendung und Ecos Name der Rose erinnern.5 In Der Berg fin2 3 4
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Vgl. auch Bartens 2011, 279; Baron 2011. Böhme (1988, 26) rechnet Odysseus gar zu den »Wasser-Heroen«. Das betrifft, wie Bartens ausführt, unter anderem die Ausrichtung auf »enzyklopädische Wirklichkeitsdarstellung« (Bartens 2003, 53) und das »Farbspektrum« (ebd., 58), während die Irrfahrten der jeweiligen Protagonisten »sofort den Assoziationsraum ›Odyssee‹ eröffne[n]« und einen freieren Umgang mit der homerischen Folie erlauben, »sodass in jeden Roman mehrere unterschiedliche ›Odyssee‹-Episoden gleichzeitig […] hineinverwoben werden können« (ebd., 62). Friedmar Apel (2002) schreibt dazu: »Wie für Jorge Luis Borges ist das Universum für Gerhard Roth eine labyrinthische, unbegrenzte und zyklische Bibliothek, durch die er selbst als
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den sich zwei explizite Hinweise auf Homer bzw. auf die Odyssee, die beide auf sehr unterschiedliche Weise das Meer in den Blick nehmen. Daran lässt sich das Verfahren gut nachweisen und es wird erkennbar, wie vielschichtig das Netz von intertextuellen Bezügen hier ist. Zunächst soll aber anhand des Romananfangs gezeigt werden, wie sehr die Figurationen des Meeres in Der Berg mit den jeweiligen Erzählmodellen verbunden sind, wie unterschiedlich die Meeresbilder sind und wie stark sie mit ihren vielfältigen Bezügen die Stimmung prägen.
Das Meer im touristischen und kriminalistischen Blick Die Verbindung von Kriminalroman und Reiseroman treibt nicht nur die Handlung voran, sondern schlägt sich auch auf besondere Weise in der Konstruktion des erzählten Raumes nieder. Gleich zu Anfang des Romans, als Gartner in Thessaloniki im Taxi zum Treffen mit seinem Mittelsmann, dem im Paläontologischen Institut tätigen Serben Dr. Bosič, der ihn zum serbischen Kloster Chilander auf dem Berg Athos begleiten soll, fährt, erscheint die griechische Stadt alles andere als ein touristisches Idyll. Nicht einmal das Wetter entspricht an diesem ersten Mai den Erwartungen mediterranen Sonnenscheins: »Das von Betongebäuden umgebene Gelände lag verlassen da, und der kalte Regen und die Windstöße draußen ließen ihn schon jetzt frösteln.« (Roth 2000, 9) Die Szene zeigt eine menschenleere Peripherie, von der Außenwelt geht sofort eine Atmosphäre des Unheimlichen aus. Der Blick des Protagonisten, dem wir als Leser durch die personale Erzählform folgen, wird darüber hinaus selbst als ein vermittelter Blick, ein Blick aus zweiter Hand dargestellt: Gartner »musterte […] das Areal durch die Windschutzscheibe wie eine Kinoleinwand« (ebd., 9). Wir erleben das Geschehen von Anfang an durch den Filter einer Wahrnehmungsweise, in der nichts selbstverständlich erscheint; Wirklichkeit und Unwirklichkeit sind vermischt, Fiktion und Realität überlagern sich. Das Motiv der Wahrnehmung der Außenwelt als Film wird im Roman immer wieder eingesetzt und konstituiert eine narrative Klammer. Darauf sowie auf die Bedeutung des Films im Zusammenhang mit der Darstellung des Meeres wird noch zurückzukommen sein. Festzuhalten ist zunächst, dass die jeweilige Rahmung des Wahrgenommenen im Erleben des Protagonisten – seines Zeichens Journalist, Filmkritiker und obsessiver Fotograf – die Außenwelt zugleich als subjektiv erlebt und konstruiert erscheinen lässt, weit entfernt von einer naiven oder spontanen Wirklichkeitsaneignung. Die Topografie am Paläontologischen Institut
›Silberfischchen‹ gleitet, ›auf der Odyssee durch die Meere der Titel, Namen, Wörter und Sätze‹.« Zur Bedeutung von Canettis Blendung für Roth, vgl. z.B. Roth 2011, 28 und Bartens 2011, 288.
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in dieser Eingangsszene erhält mit den »Haufen Mörtelresten und verrosteten Eisengittern« (ebd. 9), den »vollkommen still[en] […] verschmutzten Gänge[n]» (ebd., 10) und den Gartner anstarrenden »leeren Augenhöhlen der Tierschädel« (ebd., 11) einen zunehmend beunruhigenden und bedrohlichen Charakter. Der Gang in das Archiv wird, wie so oft bei Roth, auch zu einem »Gang in die Unterwelt« (SchmidtDengler 2003, 32).6 Der Ort erhält immer mehr den Anschein eines Tatorts, eine Erwartung, die dann auch eintritt: »[H]astige Schritte« (Roth 2000, 12) entfernen sich, Gartner findet Dr. Bosič just ermordet vor. Zwischen den Vitrinen voller »Skelettabdrücken und Kieferknochen» (ebd., 17) verweist alles auf den Tod und es überlagern sich für Gartner (Vor)Geschichte und Gegenwart: Der hier ausgestellte »älteste […] erhaltene Schädel eines Europäers«7 ruft bei Gartner die Ermordeten von Srebenica in Erinnerung (ebd., 11), Dr. Bosic ähnelt dem zum Märtyrer gewordenen serbischen König Stephan III. Decansky (ebd., 17), an der Wand hängt ein Farbdruck mit Sauriern, auf dem »ein Rudel räuberischer Deinonychi gerade hinter einem Hügel zum Vorschein kam. Das Bild wirkte wie ein ironischer Kommentar zu dem Verbrechen, das in diesem Raum begangen worden war« (ebd., 15). Durch die Raumdarstellung verweist das Geschehen über sich hinaus auf Mord und Gewalt als überzeitliches Kontinuum. Ähnlich erinnert das Polizeirevier, wo »alles abstoßend schmierig« (ebd., 25) ist, Garnter »an einen Schlachthof oder eine Hinrichtungsstätte« (ebd., 28). Vor diesem Hintergrund nimmt sich die erste Szene, in der das Meer erwähnt wird, als ein immenser Kontrast aus. Nach einer kurzen Beschreibung von Gartners Hotel heißt es hier, nun deutlich auf die Perspektive wohlhabender Touristen hin orientiert: »Uniformierte Gepäckträger eilten auf die anhaltenden Taxis zu, rissen die Türen auf, und wenn der Gast sich umdrehte, erblickte er am Ende des Aristotelesplatzes das weit zum Horizont sich ausdehnende Meer.« (Εbd., 31f.) Dies 6
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In Der Berg wird die halbverbrannte, verlassene Bibliothek in der Skiti Agios Andreas, in die Gartner von seinem zwielichtigen Begleiter, dem ortskundigen Tübinger Ohrenarzt und Ikonenrestaurateur Dr. Siegle geführt wird, bemerkenswerterweise als eine verwunschene Unterwasserwelt dargestellt, und wird dem Meer so wieder eine ganz andere Dimension abgewonnen: Während draußen das dichte Laub »im Sturm und Regen« (Roth 2000, 150) schwankt, werden im bewegungslosen dunklen Innenraum »unter dem zuckenden Strahl der Taschenlampe, einmal ein Stück des Blumenmusters, drei Finger einer Hand, Schriftzeichen eines Buches, die grünen Falten eines Stoffes oder ein Heiligenschein sichtbar […], als träfen sie auf dem lichtlosen Grund des Meeres eine Prozession von Heiligen« (ebd., 151). Der Meeresgrund erscheint hier als eine versunkene Welt, in der die fragmentierten Überbleibsel früherer Zeiten still (und gespenstisch) weiterleben, kann aber auch eine bedrohlichere Seite haben: Als Gartner plötzlich stürzt, oder vom möglicherweise für einen Geheimdienst arbeitenden Dr. Siegle gestoßen wird, sieht er diesen über sich stehen »wie einen Taucher in einer Wolke kleiner Meereslebewesen« (ebd., 153). Vgl. zum Archäanthropus von Petralona den Artikel von Horst Seidler (2003), in dem er auch über seinen Besuch dort zusammen mit Roth berichtet.
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ist eine der ganz wenigen Passagen im Roman, in der ausdrücklich nicht Gartners Blick die Darstellung fokalisiert, sondern der irgendeines Gastes, allerdings mit einer konditionalen Komponente. Die hier evozierte weite Offenheit des Meeres, zu lesen als ein traditionsreiches Bild der Freiheit, Unbeschwertheit und unendlichen Möglichkeiten, zeigt sich eben nur demjenigen, der sich dem eiligen Treiben entzieht, die Laufrichtung wechselt und sich dem Meer zuwendet. Dem »erschöpft« in sein Hotelzimmer zurückkehrenden Gartner hingegen, der sich offensichtlich nicht umdreht, bleibt dies vorenthalten. Zu ihm heißt es vielmehr, er »sah, was er ohnedies erwartet hatte« (ebd., 32): Dass sein Zimmer durchsucht worden war, zeigt sich vorrangig als Bestätigung seiner Befürchtungen, ähnlich wie die Nachstellungen durch die Polizei, die serbischen oder andere Geheimdienste stets in Bezug zu Gartners zunehmend paranoider Wahrnehmungsweise gesetzt werden. Indes ist Gartner den Verlockungen eines touristischen Ausflugs ans griechische Meer keineswegs abgeneigt. Noch in derselben Nacht telefoniert er mit seiner Kontaktperson, dem Literaturprofessor und Übersetzer von Goran R.s Lyrik, Joannis Avramis, um ihn, wie für Notfälle vereinbart, kodiert ein Treffen in einem Badeort nahe von Thessaloniki vorzuschlagen. Bevor er sich auf den Weg macht, überlegt er in einem kurzen, retardierenden Moment, »die Angelegenheit fallenzulassen und die Reise am nächsten Morgen als gewöhnlicher Tourist fortzusetzen. Dieser Gedanke war noch dazu mit der verlockenden Aussicht auf ruhige Sommernachmittage am Meer verbunden, aber Gartner schob ihn zur Seite« (ebd., 36). Der kurz aufscheinende Gedanke des Ermittlers, die Recherche angesichts der Gefahren und Bedrohungen aufzugeben – der vom typischen Privatdetektiv nach dem Muster eines Philip Marlowe natürlich sofort wieder verworfen wird, und so ritterlichen Edelmut und Tapferkeit des Helden unterstreicht –, gehört zu den festen Topoi vor allem der amerikanischen ›hard-boiled‹ Kriminalromane von Dashiell Hammett und Raymond Chandler, die Gerhard Roth in seinen frühen Romanen so oft zitiert (vgl. Krajenbrink 2009; Saur 2011). Unverkennbar ist die Bezugnahme in der Szene, in der Gartner den ihm zuerst im Hotel, dann in einem alten Peugeot folgenden »Fremde[n] in Burberry-Mantel« abschüttelt, nachdem er sich »auf englisch« an den Taxifahrer wendet mit den Worten »›Streit in der Hotelbar […] fahren Sie, so schnell es geht‹« (Roth 2000, 36). Auch die nun folgende Fahrt Gartners zum geheimen Treffen erinnert in Atmosphäre und Metaphorik an die spannungsvollen nächtlichen Autofahrten des typischen Privatdetektives entlang der kalifornischen Küstenstraße, die auch in den vielen Verfilmungen geradezu ikonisch für das Genre geworden sind. Dabei zeigt sich das Ägäische Meer wieder von einer ganz anderen Seite: »schwarz und flach« (ebd., 38), so sieht Gartner es hier zuerst; in der Bucht erblickt er »Wracks von kleinen Fischkuttern, der Kaikis, Jachten und zerfallenen Ruderboote, die rundherum wie Scherenschnitte aus der Dunkelheit ragten« (ebd.): Der Treffpunkt ist ein »stockdunkle[r] Schiffsfriedhof« (ebd.), der in einer umfangreichen Beschreibung als faulig riechender locus horribi-
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lus bzw. als an Dante gemahnende Unterwelt erscheint, eben als Orkus, komplett mit einem Zerberus: »[E]ingeschlossen in die Nacht» und umgeben von »abgesägte[n] Rumpfe[n]« und »Schaluppen, die zu verfaulen schienen und deren Skelette nun zum Vorschein kamen« (ebd., 38f.) erblickt er in einem umgestürzten Kutter »erschrocken einen Hund, der ihm aus der Finsternis entgegenstarrte« (ebd., 39), wartet vergeblich und erkennt, »daß er sich keinen besseren Platz hätte aussuchen können, um niedergeschlagen oder ermordet zu werden« (ebd., 40). Gartners erste Begegnung mit der Ägäis an der nächtlichen Meeresküste zeichnet sich also durch Hadesfahrt-Assoziationen aus: Finsternis, Verfall, Schrecken und Tod. Das erinnert an Alain Corbins kulturgeschichtlichen Studien zur bis ins 19. Jahrhundert reichenden Einstellung zur Küste als Ort des Schreckens, den es zu vermeiden galt (vgl. Corbin 1990). Die Darstellung der Meeresküste bewegt sich hier sozusagen vom amerikanischen Krimi zurück zu dantesken Bildern und greift so eine für den Zyklus Orkus wichtige Motivkette auf.
Gartner im Kino: Theo Angelopoulos’ Film Der Blick des Odysseus Wie bereits erwähnt, spielt Gartners Hintergrund als Filmkritiker eine wichtige Rolle für seine Wahrnehmung. Seine von Jugend an empfundene »Liebe zum Film […], die Liebe zu Bildern« (Roth 2000, 51f.) motiviert das Erwähnen einer geradezu enzyklopädischen Fülle von Klassikern der Filmgeschichte, die ihn als Heranwachsenden im von der Mutter betriebenen Apollo-Kino in Wien beeindruckt hatten. Besonders interessant ist daher, dass Gartner in Thessaloniki ins Kino geht, sobald er erfährt, dass Theo Angelopoulos’ Film Der Blick des Odysseus »für die nächste Stunde« (ebd., 50) angesetzt ist.8 Signifikant ist hier natürlich zuallererst der Titelverweis auf Homers Odyssee. Es lassen sich aber noch weitere überraschende Parallelen und Berührungspunkte zwischen diesem Film und dem Roman Der Berg feststellen, die Gartners Irrfahrt im ägäischen Raum weiter konturieren. Dies betrifft die räumliche und historisch-politische Verortung dieser Odyssee, die Suche nach einem (vermeintlich) ersten unvermittelten, unschuldigen (Film-)Blick auf die Wirklichkeit sowie vor allem auch die besondere Darstellung des Meeres. Der Blick des Odysseus (1995) zeigt den griechisch-amerikanischen Filmregisseur A., der aus den Vereinigten Staaten in seine Heimat Griechenland zurückgekehrt ist und dort auf die Suche nach drei verschollenen und nie entwickelten Filmrollen der Manakis-Brüder, Pioniere des griechischen Films, geht. Mit Bildern aus deren
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Aus der ersten Inhaltsskizze zum Roman von 1998 geht hervor, dass ein Kinobesuch hier von Anfang an geplant war, aber hier noch mit einem Tarkovski-Titel mit Fragezeichen: »Geht ins Kino – Stalker?« (Roth 2003b), was die besondere Signifikanz der Szene sowie die spätere Entscheidung für Angelopoulos’ Blick des Odysseus weiter unterstreicht.
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angeblich erstem Filmdokument des Lebens in Griechenland aus dem Jahr 1905 öffnet der Film. Ziel von A.s Suche sind aber die vorangehenden allerersten Filmbilder der Brüder, den »ersten Blick« (»a lost glance, a lost innocence«).9 Der Film spielt zur Zeit der postjugoslawischen Kriege und A.s obsessive Suche, in der wiederholt auf Homers Odyssee angespielt wird, führt ihn durch die verschiedenen Länder des Balkans, um in den Kriegswirren des belagerten Sarajevos zu enden. Die besondere Zusammenführung von Odyssee und Jugoslawienkrieg findet sich ähnlich in Der Berg, und auch hier geht es um die Frage nach einem unverstellten, unverfälschten Wahrnehmen einer von Krieg und Gewalt geprägten südosteuropäischen Wirklichkeit. Allerdings könnte man argumentieren, dass Der Berg mehr oder weniger dort beginnt, wo Der Blick des Odysseus endet. Gartner war bereits als Kriegsberichterstatter in Sarajevo, wo er Goran R. und Joannis Avramis zum ersten Mal getroffen hat. Seine Suche betrifft die zur Erscheinungszeit des Romans – noch während des UNO-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, das im Roman den fiktiven Goran R. als Zeugen vorgeladen hat (ebd., 35), während »im realgeschichtlichen Kontext« Ratko Mladić und Radovan Karadžić, auf die im Roman mit Initialen offensichtlich verwiesen wird, noch flüchtig waren (Schütte 2013, 165; Dermutz 2017, 163) – überaus aktuelle Frage nach der Darstellung bzw. dem Verschweigen einer viel jüngeren Vergangenheit: des Genozids in Srebrenica. Frappant in Angelopoulos’ Film ist vor allem der innovative kinematografische Umgang mit der Zeit, die in der Eröffnungsszene mit einem besonderen Meeresbild paradigmatisch vorgeführt wird: Eine über drei Minuten lange Einstellung zeigt Meer und Himmel als Konstante.10 Vor dieser zeitlosen Kulisse erfolgen nun aber innerhalb derselben Einstellung große Zeitsprünge. Der schockierende Tod des das Meer filmenden Kameramanns unterstreicht den Einbruch von Historizität. Allmählich wird von Schwarz-Weiß zu Farbe gewechselt, und ein zunächst fast archaisch wirkendes Schiff im Hintergrund erweist sich am Ende der Einstellung, als die Kamera darauf einzoomt, als modernes. Das Ganze führt zu einer Art Verräumlichung der Zeit, die zugleich eine zyklische Kontinuität, eine variierende Wiederkehr im Wandel der Zeit suggeriert (die ja bereits im abwandelnden Rückgriff auf den Odysseus-Mythos enthalten ist). Das Verfahren wird später im Film zu einer Darstellung von Geschichte im Balkanraum weiterentwickelt, die, 9
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Später sagt A.: »they were trying to record a new age, a new century […] in the turmoil of the Balkans. They weren’t concerned with politics, racial questions, friends, or enemies. They were interested in people. They were always on the move all throughout the declining Ottoman Empire […]. All the ambiguities, contrasts, conflicts. These are all reflected in their work.« Zitiert nach Calotychos 2013, 73f. Entsprechend A.s Trinkspruch später im Film: »To the inexhaustible sea, the beginning and the end«. Dass die entscheidende Meeresszene gleich am Anfang erfolgt, ist auch relevant im Hinblick darauf, dass Gartner Minuten nach Filmanfang dem Kino schon wieder entflieht, da er von einem Polizisten verfolgt wird.
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wie Alain Chouinard argumentiert, ›balkanisierende‹ Diskurse zur vermeintlichen Unausweichlichkeit immer wiederkehrender Konflikte und Gewalttaten zu unterlaufen sucht (Chouinard 2016).11 Die Funktionalisierung des Meeresmotivs für eine erzählerische Erkundung geschichtsphilosophischer Fragen zwischen Kontinuität und Wandel, zyklischer Wiederkehr des Immergleichen und geschichtlichem Fortschritt lässt sich, wie wir sehen werden, auch in Roths Der Berg verfolgen, hier zugespitzt auf die Diskrepanz zwischen der rasanten Nachrichtenwelt des Reporters Gartner und der mythischen Zeitenthobenheit der Athosmönche wie auch des sich als visionären Unheilspropheten gerierenden Goran R. Erhellend ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Roman Mauer: [D]as »Gesicht« des Meeres (wenn es eines hat) sträubt sich […] gegen den Rahmen der Kamera. In seiner offenen Weite deutet es auf den Raum jenseits des Bildkaders, so wie seine gewellte Oberfläche auf den Raum darunter und wie der Horizont auf den Raum dahinter verweist – gerade dieses dreifach sichtbar Unsichtbare prädestiniert die See zum mentalen Projektionsfeld […]. Gänzlich verliert die See ihr Signum der Ewigkeit und Unveränderlichkeit im Film durch die Einwirkungen des Menschen. Die Historizität des Meeres wird an der Bauweise der Schiffe, den künstlichen Inseln sowie der Architektur der Küstendörfer und Hafenstädte ablesbar. (Mauer 2010, 10) Das lässt sich durchaus auf die gerade in diesem Roman so visuelle Erzählprosa von Roth übertragen, in der Gartners am Film geübter Blick auf das Meer zuweilen die Rolle einer Kamera übernimmt und darüber hinaus im Fenstermotiv das Wahrgenommene gerahmt wird. Vor allem aber ist der Einsatz von Farben, der sich auch bei Angelopoulos als signifikant erwies, hier von grundlegender Bedeutung, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll.
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Ein weiterer Berührungspunkt, allerdings ohne Bezug zum Meeresmotiv, liegt darin, dass der Film, wie Heinz-Peter Preußer ausführt, die Problematik einer Darstellbarkeit von Kriegsgewalt im Medium selbstreflektiv inszeniert. Die Suche nach dem unschuldigen Blick endet mit einem Hinweis auf das Sichentziehen der Bilder. Endlich gefunden erweisen sich die Filmrollen als überbelichtet: »A. sieht, was er zuvor gesehen und zugleich nicht gesehen hat: Die Gewalt der Zerstörung, das menschliche Leid, die Fassungslosigkeit – und ihr Verschwinden im Medium selbst. Er sieht die Verweigerung der Repräsentation in der Darstellung.« (Preußer 2005, 171) Die Parallele zu der Begegnung mit Goran R. in Der Berg, wo sich eine ungefälschte Darstellung der Kriegsgewalt ebenfalls als unmöglich erweist, ist offensichtlich.
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Homers und Joyces weinfarbenes Meer gegenüber Roths schillernder Farbenvielfalt Das Meer wird bei Roth nun interessanterweise eben nicht als zeitlos und immer gleich dargestellt, wie in dem zweiten expliziten Hinweis auf Homer deutlich wird. Hier wird auf dem Strand von Ierissos zunächst die Verbindung, die genaue Entsprechung in Wort und Bild zur jahrhundertealten Odyssee mit ihren berühmten und manchmal befremdlichen Epitheta angesprochen, wenn es heißt: »Er bemühte sich, nicht auf eines der Teerkügelchen zu treten, hörte die Wellen am Ufer auslaufen und stellte fest, daß das Meer, wie Homer schrieb, weinfarben war.« (Roth 2000, 82) Allerdings schrieb Homer natürlich nicht auf Deutsch. Roths »weinfarbenes Meer« lässt sich intertextuell denn auch auf noch eine andere Quelle beziehen: James Joyces Ulysses. Hier sagt Buck Mulligan in einer berühmten Passage gleich im ersten Kapitel, das homerische Epitethon sarkastisch aufgreifend: »The snotgreen sea. The scrotumtightening sea. Epi oinopa ponton. Ah, Dedalus, the Greeks! I must teach you. You must read them in the original. Thalatta! Thalatta! […] Come and look.« (Joyce 1992, 3) Katharina Hagena weist in ihrer Studie Was die wilden Wellen sagen. Der Seeweg durch den Ulysses darauf hin, dass bei Joyce »[d]ieses Zitat […] neben dem Romantitel der offensichtlichste Bezug zur Odyssee [ist]« (Hagena 2009, 24) und es später von Stephen Dedalus selbst verwendet wird, nun mit Übersetzung: »Tides, myriadislanded, within her, blood not mine, oinopa ponton, a winedark sea.« (Joyce 1992, 60) Bei Joyce wird das ›weinfarben‹ einerseits provokativ mit ›rotzgrün‹ kontrastiert und eröffnet andererseits zugleich eine Motivkette um Wein, Wasser und Blut. Bei Roth, der die Ulysses-Passage natürlich kennt, stehen dem homerischen Farbton ebenfalls, wenngleich auf andere Weise, sofort weniger attraktive und sehr heutige Meeresattribute gegenüber. Gartner muss sich ja noch im selben Satz bemühen, »nicht auf eines der Teerkügelchen zu treten«: Ölreste, die vorbeifahrende Schiffe an den Strand angeschwemmt haben und sich in der Sonne zu »klebrigen, schwarzen Kugeln« (Roth 2000, 86) ausdehnen. Auch in diesem Sinne ist das Meer nicht idealisiert-zeitenthobenes Element einer bildungsbeflissenen nostalgischen Griechenlandsehnsucht, sondern zeigt die Spuren zerstörerischer menschlicher Einwirkung im Gestus einer ökokritischen Anklage, wie so oft bei Roth.12 Darüber hinaus hat die Stelle aber noch eine wichtigere Kontrastfunktion: Homers Verwendung des Epithetons – darunter »das weinfarbene Meer« – hat bekanntermaßen ihre besondere Eigenheit und Funktion eben in der Wiederholung.13 Gerade darin
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Sogar auf dem entlegenen Athos, wo »verträumte Buchten […] von oben den Eindruck vermittelten, daß kein Mensch sie je betreten hätte« (Roth 2000, 219), zeigen sich auf dem zweiten Blick oft genug Ansammlungen von Müll und Unrat (vgl. ebd. 210). Vgl. dazu die hochinteressanten Überlegungen von Adeline Grand-Clément (2017).
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liegt aber der fundamentale Unterschied zu Roths Roman: Während bei Homer das Meer zwar auch mit anderen Epitetha wie »fischreich« und »veilchenfarben« verbunden wird, aber dennoch nicht weniger als achtmal »weinfarben« ist, erscheint es in Der Berg jedes einzelne Mal in betont unterschiedlichen Farben, je nach Lichtfall, Kontext und subjektiver Perspektive des Betrachters: Es ist schwarz in der an den amerikanischen Kriminalroman und den Film Noir erinnernden Passage zu Anfang. Unterwegs von Thessaloniki nach Ierissos aber »lag das Meer tief unter ihnen, still, rosa in der grauen Luft« (ebd., 75). Besonders nach dem Hinweis auf Homers »weinfarbenes Meer« zeigt sich das Meer in einer außerordentlich breitgefächerten Farbenpalette, korrespondierend mit der jeweiligen Stimmung. Bei Ankunft nach einer langen Busreise in Ouranopolis ist da »endlich das türkisgrüne, glatte Wasser« (ebd., 103), genau passend zu den dort zu erblickenden Luxushotels, »Tennisplätze[n]« und »bunte[n], aufgespannte[n] Sonnenschirme[n]«: Die touristische Seite tritt hier wieder in den Vordergrund. Als Gartner sich später in die zauberhaft-mysteriöse Reiseverkehrskauffrau Tamara verliebt,14 findet auch das seine Entsprechung in der maritimen Kolorierung und das Meer »schillert[] violett, rosa und gelb, wie von einem Zuckerbäcker gefärbt, unter den Abendwolken« (ebd., 114). Als ihm die Unruhe zum Strand treibt, ist das Wasser im Gegenzug einfach nur »ruhig, glasklar« (ebd., 119) und »spiegelt[] sich der Himmel mit den weißen Wolken auf der Wasseroberfläche« (ebd., 120) – ein Effekt, auf den ich noch zurückkommen werde. Auf der Fähre nach der Hauptstadt vom Athos wiederum ist das »Meer […] kalkgrün, als spiegelte es die dichten Pflanzen wider, die die unscheinbaren Häuser von Landarbeitern und Hirten nahezu verschluckten« (ebd., 139). Die hier personifizierte üppige Pflanzendichte und »die überwältigende Schönheit der Landschaft« (Rassidakis 2019, 120) werden auch in älteren Athos-Beschreibungen, etwa in dem von Roth komplett mit Fußnote zitierten enthusiastischen Bericht des Volkskundlers Jakob Philipp Fallmerayer (Roth 2000, 129) besonders hervorgehoben und können als charakteristisch für die Halbinsel gelten.15 Die besondere Farbenvielfalt 14
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Parallelen zu der Circe-Figur aus der Odyssee, die Roth in seiner Entwurfsskizze auch andeutet, bieten sich insofern an, als Tamara Gartner verführt und fähig scheint, die Zeit stillzusetzen: Die leidenschaftliche Liebesnacht mit ihr führt dazu, dass Gartner die Fähre in die Männerdomäne Athos versäumt. Nach Gartners polizeilicher Ausweisung vom Athos erscheint sie unerwartet, quasi als rettende dea ex machina, und verhilft ihm souverän, wenn auch auf nicht ganz legale Weise, zur Flucht nach Istanbul, wo sie als sprachkundige Reiseführerin die weiteren Ermittlungen begleitet oder gar lenkt. Insofern lädt sie mit ihren betont grünen Augen auch zu Vergleichen mit der »eulenaugigen« Athena ein. Alexandra Rassidakis betont die Aspekte von Weltflucht bzw. Zivilisationskritik in den älteren Athos-Reiseberichten und stellt fest: »Fallmerayer vergleicht zwei gleichwertige Paradigmen: Er stellt den Wissensdrang des Abendlandes der bewusst gewählten Ignoranz der Athos-Mönche gegenüber, wobei seine Darstellung von Einfühlsamkeit und Akzeptanz zeugt« (Rassidakis 2019, 121), eine Gegenüberstellung die in Roths Roman ähnlich wiederkehrt. Roths Kapitelüberschrift »Der Mohnpalast des Schlafes« (Roth 2000, 129) zitiert fol-
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bei der Darstellung des Meeres durchzieht den ganzen Roman und verbindet sich in einigen Szenen mit der Vorstellung der Wirklichkeit als Film bzw. mit einer bemerkenswerten Verwendung des traditionsreichen Fenstermotivs. Dies findet sich insbesondere in den Kapiteln, in denen Gartner die verschiedenen Klöster auf dem Athos besucht, und geht passenderweise mit einer Spiegelung des Himmels in das Meer einher. So bereits in der ›Himmelsstadt‹16 Oranoupolis, in der sich das Meer für Gartner mit Kindheitserinnerungen der nicht ganz gelungenen Konservierung glücklicher Meereseindrücke verbindet: »Aus seiner Kindheit erinnerte er sich noch an den fauligen Geruch von Seesternen und Muscheln, die er vom Urlaub nach Hause mitgebracht und auf dem Fensterbrett getrocknet hatte.« (Ebd., 119) Fasziniert versucht er die ständigen Veränderungen, die er im Meer erblickt, im Bild festzuhalten, ganz ähnlich, wie auch der Schriftsteller Gerhard Roth auf seiner eigenen Reise zum Athos immer wieder die Reflexionen der Meeresoberfläche fotografiert hat (vgl. Abb. 2):17 Gartner fotografierte das durchsichtige Wasserbild mit den fleckigen Figuren der Algeninseln am Grund, die als versteckte, winzige Landschaft heraufschimmerten, den dunklen Schatten, den die Mauer der Anlegestelle warf und in dem die kleinen Fische plötzlich als hellere Striche erschienen. Dann setzte er sich eine Weile hin, beobachtete den Schwarm und machte Notizen. Die Wolke mit den Hunderten mikroskopischer Tiere zuckte wie auf Befehl in eine Richtung, stob auseinander, verursachte kleine Kreise, als sei ein Gegenstand in das Meer gefallen, und sammelte sich wieder. Gleichzeitig spiegelte sich der Himmel mit den weißen Wolken auf der Wasseroberfläche. (Roth 2000, 120)18 Das Meer selbst wird zum Inbegriff der steten Bewegung, der Versuch, diese fotografisch zu erfassen, wird nun aber aufgegeben: »Unentschlossen, was er tun sollte,
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gende Passage zum Gemütszustand der Mönche aus Fallmerayers übrigens oft extrem orientalisierenden Bericht: »alles ohne Geräusch, ohne Zank, ohne Leidenschaft; in Karyäs ist Niemand zornig, redet Niemand laut, es ist wie im Mohnpalast des Schlafes, man sieht, daß sie Hände und Lippen bewegen, hört aber ihre Stimme nicht, gebannte Geister, Schattenbilder ohne Nerv und Blut.« (Fallmerayer 1845, 88) Roth verweist mit diesem Zitat aber auch auf den Drogenkonsum von Dr. Siegle und Gartner, eine Anspielung auf das Lotophagen-Motiv aus der Odyssee. So der Titel des Kapitels (vgl. Roth 2000, 103), eben nach dem Ortsnamen Ouranopolis, ›Himmelsstadt‹. Daniela Bartens und dem Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Graz, danke ich herzlich für ihre freundliche Hilfe und die Publikationsgenehmigung der Fotos. Vgl. schon vorher das Beobachten und Fotografieren der Meeresspiegelungen: »Die Lichtreflexe auf dem Meer hatten die Form von schwebenden, ineinander übergehenden Gebilden.« (Roth 2000, 82f.) Vgl. zur Bedeutung und Entwicklung der Fotografie in Roths frühem Schaffen den Artikel von Simon Ryan (2018).
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starrte er auf das in Millionen Bewegungen zerfallende und sich zusammenfügende Meer.« (Ebd., 120)
Abb. 2: »Am Meer, Ouranopolis«.
Gerhard Roth, 1996, Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Graz, ›Berg 1 XI 18A‹.
Nach Ankunft auf dem Athos rückt das Meer zunächst etwas in den Hintergrund, zeigt sich dann aber wieder »in der Ferne« (ebd., 202) bis auf dem Weg zum Kloster Pantokratoros »[t]ief unter ihnen […] das Meer den Himmel [spiegelte]« (ebd., 206), der Himmel sich hier also sozusagen in der Reflexion vor das Meer schiebt. Dann heißt es: »vor dem einzigen Fenster dehnten sich das Meer und der Himmel so weit aus, daß Gartner unwillkürlich stehenblieb. Er dachte zuerst an eine Cinemascopeleinwand und eine lange Kameraeinstellung. Nichts bewegte sich auf diesem blauen Bild außer den Wellen.« (Ebd., 207) Hier wird das Motiv der Wahrnehmung von Wirklichkeit als Film aus der Eingangsszene des Romans weitergeführt,19 wiederum als Fenstermotiv, allerdings unter anderem Vorzeichen. An die Stelle der Taxiwindschutzscheibe tritt hier das archaische Steinfenster eines Kellions, es umrahmt das zeitenthobene Bild von Himmel und Meer, das den Betrachter unerwartet innehalten lässt. Durch den Hinweis auf die lange Kameraeinstellung lässt sich das als ein Bildzitat der Eingangsszene aus Angelopoulos’ Der Blick des Odysseus lesen und unterstreicht noch 19
Vgl. auch »Gartner schüttelte wieder den Kopf und blickte weiter durch die Windschutzscheibe auf die nächtliche Stadt, die vor ihm lag wie die Großaufnahme eines Filmes« (Roth 2000, 31), sowie »er sah den wütenden Regenschirmverkäufer vor sich wie in einem hektisch geschnittenen Film« (ebd., 280).
Figurationen des Meeres in Gerhard Roths Roman Der Berg
einmal die Andersartigkeit und die Stillsetzung der Zeit auf dem Heiligen Berg. Paradoxerweise setzt sich der Bezug zum Film aber auch im nächsten Satz fort, der uns aus dem Bereich des schönen Ewiggleichen geradewegs in die gewaltsamen Niederungen der historisch-politischen Gegenwartswirklichkeit katapultiert: »Gartner erfuhr, daß ein Flüchtling aus Albanien die Gegend unsicher machte und einen Novizen mit einer Hacke bedroht hatte, weshalb sich einzelne der einsam lebenden Mönche bewaffnet hatten.« (Ebd., 207f.) Nicht nur spielen auch bei Angelopoulos albanische Flüchtlinge in einem traumhaft schön gefilmten Ambiente eine wichtige Rolle, eine Parallele ist vor allem zu erkennen im Gestus der Zusammenführung von poetisch-mystischen zeitlosen Bildern mit den Schrecken des Krieges im ehemaligen Jugoslawien und der Eskalation von Gewalt, wie sie in dieser kleinen Vignette inszeniert wird – die einzige Stelle im Roman, in der der Krieg bzw. dessen Folgen nicht diskursiv als Erinnerung verhandelt, sondern als wildes Gefuchtel eines Mönches mit einer Schusswaffe direkt in der Erzählgegenwart erfahrbar wird und in die schöne Eintracht von Himmel und Meer einbricht. Das Meer bleibt von alledem naturgemäß unberührt, und nach Ankunft im Gästezimmer des labyrinthischen Klosters Pantokratoros gibt der ermüdete Gartner sich »[r]egungslos […] dem Rauschen hin« (ebd., 209), bis Glockenläuten ihn weckt und eine weitere Fensterschau erfolgt: Er erhob sich und ging schwankend auf die Fenster zu. Als erstes bemerkte er, daß auf dem Fensterbrett spitze Glasscherben lagen, tief unter ihm das wilde, bewegte Meer, das mit weißer Gischt gegen einen Felsen brandete. Zuerst konnte Gartner seinen Blick nicht von der Wasserfläche lösen, zumal vom Rauschen etwas Hypnotisches ausging. Das Wasser war klar, dunkelgrün, Flächen von Algen am Ufer. Als er sich ein Stück weiter aus dem Fenster lehnte, sah er Äste, Schläuche, Ziegel, Schutt und Abfall unter sich, aber er fühlte sich nicht so schwindlig wie sonst. (Ebd., 210) Der hypnotische Sog des rauschenden Meeres, das hier nicht mehr lediglich Objekt der Wahrnehmung ist, sondern gewissermaßen als Gegenspieler auf Gartners Bewusstsein einwirkt, wird durch die Innen/Außen-Dynamik des Fensters und den hohen Standort des Betrachters noch verstärkt. Interessanterweise findet sich diese Szene detailgenau auf einem von Gerhard Roth selbst in Pantokratoros gemachten Foto (vgl. Abb. 3), der besonderen Bedeutung der Fotografie in Roths Arbeitsweise und Schaffen entsprechend. Das stillgestellte Fensterbild des Fotos wird im Narrativ in Bewegung versetzt und erfährt eine desillusionierende, ernüchternde Weiterführung: Der Perspektivenwechsel, der zweite Blick weiter aus dem engen Rahmen des Fensters – trotz Glasscherben – macht eine andere, unvermutete Seite der Realität sichtbar. So wird die mehrfach gerahmte Darstellung des Meeres hier zu einer Vorführung vom Perspektivismus der Wahrnehmung, der zentralen Frage des Romans, in dem es im-
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Abb. 3: »Kloster Pantokratoros, Blick aus dem Gästezimmer«.
Gerhard Roth, 1996, Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Graz, ›Berg 1 V 15A‹.
mer wieder um Bilder unterschiedlichster Art und ihre Aufzeichnung und Deutung geht. Ganz ähnlich versteht Gartner kurz darauf, dass er das foto-ähnliche Rasterpunktebild, das er unter Drogeneinwirkung im gesprenkelten Fußboden erblickt und in dem er die Lösung aller Geheimnisse vermutet, »nicht hatte entziffern können, […] weil der Ausschnitt zu klein und er zu nahe dran [war]« (vgl. Miesbacher 2011, 219). Die Perspektivität der Wahrnehmung und der Wahrheit wird Gartner später von einem Imkermönch, der ihm »journalistische Sensationsgier« (ebd., 223) vorwirft, folgendermaßen entgegengehalten, zugespitzt auf die Suche nach dem schweigenden mutmaßlichen Srebrenica-Zeugen, dem Dichter Goran R.: »Man kann den Krieg als alles mögliche auffassen. Als ein politisches Phänomen«, erklärte er spöttisch, »als militärisches oder biologisches, als Folge der Verstoßung aus dem Paradies … Gerechtigkeit? Wie wollen Sie richten, wenn Sie nur eine Seite sehen, einen Punkt herausgreifen? Krieg ist ein Chaos von unzähligen Punkten. Ich sage Ihnen etwas: Goran R. weiß das, darum schweigt er. Darum schreibt er über Heilige, Ikonen, die Blindheit, die sehen kann.« (Roth 2000, 226)
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Auch diese Sichtweise, die Gartners anfänglicher »detektivische[r] Obsession» und seinem »Gerechtigkeitsgefühl« (ebd., 17) so konträr gegenübersteht, wird ihrerseits in ihrer Andersartigkeit perspektiviert, indem es heißt, der Mönch in seiner Imkerkleidung »schaute Gartner durch das feine Netz hindurch in die Augen, wie ein fremdes Wesen« (ebd., 226). Die proteische Vielgestaltigkeit des Meeres, die sich immer wieder über die Wahrnehmung des Protagonisten und Perspektivträgers Viktor Gartner erfahrbar macht, erweist sich so als konstitutiver Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung mit Perzeption und Perspektive sowie mit Erinnerung und Zeugenschaft, der zentralen Thematik in Roths Œuvre. Eine breite Palette an Farben und anderen Attributen kommt dabei auch weiterhin zum Einsatz. Je näher Gartner seinem Ziel, dem Kloster Chilander, kommt und dabei auch mehr über die ihn so faszinierende Ikonenmalerei lernt, desto stärker mischen sich Elemente (orthodox-)christlicher Ikonografie in die Darstellung des Meeres.20 Als Gartner seine Reise in Richtung Chilander, wo er Goran R. zu finden hofft, frühmorgens ohne Dr. Siegle fortsetzt, heißt es: »Das Meer hatte die Farbe von reflektierendem Silber, die überging in das gleißende Weiß des Himmels, Gartner konnte keine Horizontlinie erkennen.« (Ebd., 218) Das Meer spiegelt hier nicht mehr nur den Himmel wider, sondern verschmilzt mit ihm in einem utopisch-verheißungsvollen Licht, wobei die Farbgebung eine besondere Signifikanz bekommt, hat doch Dr. Siegle Gartner (und den Leser) belehrt, dass »[i]m Weiß […] die Ikonenmaler das Symbol für göttliches Licht, Verklärung, Auferstehung [sehen]« (ebd., 182). Die Spiritualität des Heiligen Berges beeindruckt Gartner zutiefst. Als er in Vatopediou an der Liturgie der Mönche teilnimmt, findet das Motiv der Verbindung von Meer und Himmel im Bild des Kirchenschiffes eine unerwartete und zugleich sehr traditionsreiche metaphorische Ausprägung:21 Das Hin- und Hergehen, Küssen der Ikonen, Schwenken des Weihrauchkessels und des Wechselgesangs nahmen kein Ende, bis der weißbärtige Imkermönch mit einem Stock den goldenen, riesigen Kerzenluster in Bewegung versetzte, so 20
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So bereits die Anspielung auf die biblische Jona-Geschichte als Gärtner beim Versuch, nachts über das Meer nach Chilander zu kommen, in einen Sturm gerät und ihm »die Vorstellung [überkommt], sich im Magen eines riesigen Fisches zu befinden« (Roth 2000, 90). Vgl. dazu Dermutz 2017, 178f. Jona bleibt bekanntlich drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches, auch das, wie Odysseus’ Hadesfahrt im 11. Buch der Odyssee, eine Reise in die Unterwelt, in den Orkus, die biblisch mit dem Meer assoziiert wird. Vgl. Jona 2.5; allgemeiner dazu Böhme 1988, 27f. Vgl. Horst Bredekamp im Zusammenhang mit dem bei den alten Griechen wie in der christlichen Tradition weitverbreiteten Schaudern vor dem Meer: »Glückhafte Seefahrt bzw. Schiffbruch stieg unter den Bedingungen dieser Meeresangst zu einem der erfolgreichsten […] Sinnbilder auf. Das vom Sturm und von Wasserdämonen bedrohte Schiff galt vor allem als Metapher der Kirche, die durch die Gefährdung dieser Welt allein durch Christus gelenkt wird.« (Bredekamp 1988, 148f.)
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daß dieser sich zu drehen begann und das flackernde Licht über die Wandbilder und aufblitzenden Mosaike schaukelte. Und wirklich konnte man jetzt meinen, sie befänden sich in einem Kirchenschiff, das auf hoher See dem Himmel nahekam. (Ebd., 228)22 Wie sehr Gartner in die fremde Welt der Mönche eintaucht – und damit auch in die Welt von Goran R., so wie er sie sich vorstellt –, zeigt sich auch in der Passage, in der er mit einem Schiff endlich die langersehnte Fahrt nach Chilander antritt. Stärker noch als zuvor wird die Farbe von Meer und Himmel zum zentralen Bezugspunkt: Als er den Pier erreichte, waren das Schiff und ein fremder Soldat, die Berge, das Meer in Ultramarin getaucht. […] Das Ultramarin sog sie auf […] Das Meer war glatt und ruhig und schien den Rest der Nacht nicht preisgeben zu wollen. Langsam wurden die Quallen seltener, und dann war nichts mehr da als das Ultramarin von Himmel und Meer. (Ebd., 231f.) Ultramarin – das Meer ist schon im Namen enthalten, da der Rohstoff Lapis lazuli bereits im Mittelalter von jenseits des Meeres (ultramarinus) aus Afghanistan nach Europa importiert wurde – war bekanntlich bis ins 19. Jahrhundert das kostbarste Pigment und wurde in der christlichen Ikonografie vor allem für bildliche Darstellungen von Jesus Christus oder der Jungfrau Maria verwendet und mit dem Heiligen assoziiert. Das Ultramarin des Meeres fließt hier über alles hinweg, nimmt alles in sich auf, ist aber auch ephemer: »Er machte mit der Kamera rasch einige Aufnahmen, um die allmählich verschwindende Ultramarinbläue festzuhalten.« (Ebd., 234) Bezeichnend ist auch hier wieder Gartners obsessives Bestreben, alles aufzuzeichnen, was sich am Ende als vollkommen erfolglos erweisen wird. Auch insofern bahnt sich die Desillusionierung in der Bildsprache des verschwindenden Ultramarins schon an. Chilander zeigt indes auch eine andere Seite, die ebenfalls zu der Sphäre gehört, in die Goran R. durch seine unwillentliche Zeugenschaft so unversehens geraten ist: In der Beschreibung häufen sich Kriegsassoziationen. Der Name des Klosters leitet sich von einem »Kriegsschiff« (ebd., 235) oder gar einem »Massaker« (ebd., 236) her, an Bord ist auch ein Soldat (ebd., 231), während Gartner schon vorher in einem »Militärfahrzeug« (ebd., 218) unterwegs war und auf dem Weg zum Kloster »eine Handvoll leerer Schrotpatronenhülsen« entdeckte (ebd., 235). So heiß die Spur von Goran R. auch erscheint, zu einer Begegnung kommt es nicht, stattdessen wird Gartner von der Polizei festgenommen und abgeführt. Am Ende des Kapitels zeigt sich beim Abschied vom Athos wieder das Meer, und 22
Interessant ist in diesem Kontext auch Gerhard Roths eigene mystische »Satori«-Erfahrung in Vatopediou, von dem ihm »speziell das Blau in Erinnerung geblieben [sei], das Meer grünblau, der hellblaue Himmel, eine wunderbare Stille, die nur durch das Wasser und die Wellen rhythmisiert wurde« (Dermutz 2017, 175).
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zwar in einer neuen, im Hinblick auf die nächste Station Istanbul beziehungsreiche Farbe: »das Schiff fuhr seiner Bestimmung gemäß auf das türkisfarbene Meer hinaus.« (Ebd., 249) Gartners Ankunft mit der Fähre am Goldenen Horn eröffnet das nächste Kapitel und führt gleich in die Hektik der Großstadt. Das Meer ist hier vor allem auch eine geschäftige Verkehrsader. Zusammen mit Tamara ist Gartner in einer »prunkvollen Villa am Ufer des Bosporus» untergekommen, in der »[d]ie Fenster seines Zimmers […] sich zum Meer hinaus [öffnen], auf dem zum Greifen nahe Tanker und Frachter vorbeizogen« (ebd., 256). In Istanbul trifft Gartner durch Vermittlung von Tamara unerwartet Professor Avramis, der keine Antwort auf Gartners Fragen hat und ihm rät, aufzugeben, aber für den nächsten Tag ein Treffen mit Goran R. arrangiert. Als Gartner abends auf der Fähre zurück aus der Stadt mit Tamara Raki trinkt, kulminiert die Farbenvielfalt des Meeres in das folgende Bild: »Ein Schiff tutete, das Wasser schillerte in Milliarden bunten Farbtupfern, wie ein bewegtes Bild von Monet, und er begann, Tamara alles zu erzählen, was er erlebt hatte.« (Ebd., 269) Die Schönheit des schimmernden Bildes erscheint merkwürdig schimärisch: Die »Euphorie« (ebd., 269), die Gartner hier erfährt, ist »wie erwartet« durch Alkohol herbeigeführt, und inwiefern Tamara, der er nun »seine Geheimnisse anvertraut[]«, vertrauenswürdig ist, wird gleich anschließend infrage gestellt (ebd., 269). Bemerkenswert ist auch der Verweis auf Monet, es ist das einzige Mal im Roman, dass das Meer mit der Malerei verbunden wird. Das Naturerlebnis erinnert an das Kunsterlebnis und damit an die vorgängige Aufzeichnung und Reproduktion bereits existierender Bilder. Auch darin liegt eine Entfernung von der unmittelbaren spontanen Wahrnehmung: Natur wird Kunst und Kunst wird Natur. Zurück im Zimmer reflektiert Gartner die Wirkung des Meeres auf die Farben im Laufe der Zeit: [Das Zimmer] war gelb, aber das Meerwasser des Bosporus hatte die Wände durchdrungen. Er war davon überzeugt, daß man von Jahr zu Jahr deutlicher erkennen konnte, wie andere Schichten von darunter liegenden Farben zum Vorschein kamen: ein Grün, ein angedeutetes helles Blau. […] die Bretter […] wiesen Fugen und Spalten auf – die Kälte und Hitze des sommerlichen und winterlichen Wassers trieb ihr Spiel mit ihnen. (Ebd., 271) Das Meer zeigt sich hier nicht mehr nur selbst in immer anderen Farben, sondern seine zersetzende und auflösende Einwirkung führt auch dazu, dass die Farben wechseln, Verdecktes palimpsestartig sichtbar wird (ähnlich wie Dr. Siegles Experiment vorher die vielfachen Bildschichten der Ikone hervorzauberte). Durch das Meer verlieren die Dinge ihre feste Gestalt, nichts bleibt so, wie es ist.
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Noch ein letztes Mal wird das Meer erwähnt: nach Gartners desillusionierendem Treffen mit Goran R.,23 das wiederum ganz im Stil des chandlerschen Kriminalromans inszeniert wird, allerdings ohne jegliche Aussicht auf ultimative Aufklärung der Rätsel und Überführung der Schuldigen, ohne Hoffnung auf Gerechtigkeit. War das Meer ganz zu Anfang schwarz, so erreicht Gartner nun »[a]m Ende der Landmauer […] das glitzernde, graue Marmara-Meer, auf dem Tanker ankerten« (ebd., 281). Die Farbenfreude macht hier einem ernüchternden Grau Platz. Insofern vollzieht sich eine Art Kreisbewegung, wie sich das für den Roman insgesamt beobachten lässt, ohne dass jedoch der Endzustand mit dem Anfang identisch wäre.
Nostos: Scylla und Charybdis Abschließend sollen hier kurz einige Überlegungen zu zwei weiteren homerischen Meeresmotiven erfolgen und die Befunde zu Stellenwert und Funktion des Meeres in Der Berg dazu in Bezug gesetzt werden. Der Odyssee-Vorlage entsprechend erfolgt am Ende des Romans Gartners Heimkehr nach Wien, die hier aber keineswegs eine glückliche ist. Sie geschieht nicht einmal freiwillig, sondern durch polizeiliche Ausweisung. Außerdem muss Gartner feststellen, dass all seine Notizen, Fotos und Tonbandaufnahmen unbrauchbar gemacht worden oder einfach verschwunden sind. Ironischerweise erweist sich seine manische Aufzeichnungswut als völlig vergebens. Festhalten lässt sich nichts davon, das Geschehene bleibt fluid. Wie das unfassbare, proteische Meer sperrt es sich gegen jede Festlegung, lässt sich nicht mit Händen greifen. Darüber hinaus wurde schon während der Reise das Meer selbst zum Akteur und wusch alle Aufzeichnungen weg, am deutlichsten im Sturm, bei dem Gartners Notizbuch »durch das Meerwasser unleserlich« (ebd., 101) wird, sein Exemplar von Goran R.s Gedichtband »vom Meerwasser halb zerfressen [ist]« (ebd., 102). Noch ein weiteres Meeresmotiv aus der Odyssee ist hier von Bedeutung, auch wenn wir uns damit vom konkreten Meer entfernen und ins Metaphorische bewegen: In seinen bereits zitierten Planskizzen zum Orkus-Zyklus stellt Roth für Der Berg das Motiv von Scylla und Charybdis heraus und verbindet dies mit der in Der Berg so zentralen Thematik von »Täuschung, Fälschung, Unsicherheit […] Sein und Schein« (Roth 2003a, 20). Mit Scylla und Charybdis sind, wie Daniela Bartens argumentiert, hier auch die »unterschiedlichen Schreibpositionen […] Gartners und
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Schmidt-Dengler (2011, 206) spricht von einer »glatten Nullnummer« und meint, dass es wenige Texte gibt, »in denen der Höhepunkt so raffiniert herbeigeredet und ebenso raffiniert in seiner Nichtigkeit entlarvt wird«.
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Goran R.s« (Bartens 2003, 62) angesprochen.24 Genauer lässt sich das Dilemma in Der Berg fassen, wenn man sich die jeweilige Reaktion der beiden auf die Problematik einer adäquaten Aufzeichnung von Geschichte, und speziell von Kriegsverbrechen vergegenwärtigt: Goran R. schweigt, da sich die Bruchstücke seiner vagen Erinnerungen an die Nacht in Srebrenica nicht zu einer kohärenten Aussage verbinden lassen. Der seherische Dichter meint, mit seiner transzendentalen Dichtung seit Jahren vor der Gewalt gewarnt zu haben, »Zeugenschaft« aber interessiere ihn nicht (Roth 2000, 278).25 Mit Recht bemerkt Bartens, dass »sich weder Gartner noch Goran R. in der je eigenen Verbohrtheit […] [den] Opfer[n] des Massakers von Srebrenica […] angemessen nähern« (Bartens 2003, 63). Aus Gartners doppelter Mission wird letztlich eine doppelte Fälschung: Seinen Reisebericht über den Athos schönt er unter Hohngelächter bis hin zu einer völlig fiktiven Besteigung des Berges; die Zeitungsmeldung zu Goran R. enthält »zahlreiche Fehler« (Roth 2000, 306). Das Dilemma lässt sich im Roman nicht lösen, die Konflikte bleiben ungelöst.26 Aber vielleicht deutet sich in Gartners Gedanken zu zwei »Darstellungen der Greuel […] [des] bethlehemitischen Kindesmord[es]«, die die Istanbuler Byzantinistin in ihrem Vortrag zeigt, eine Möglichkeit an, dem Grauen bildlich gerade in der Zurücknahme der Repräsentation, sozusagen als Leerstelle gerecht zu werden: »Das Mittelstück war vernichtet, trotzdem machte der ausgelöschte Teil auf Gartner einen stärkeren Eindruck als der erhaltene, da man meinen konnte, das Bild habe sich angesichts der Morde selbst zerstört.« (Roth 2000, 258)27
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Im Hinblick auf den Nostos-Begriff im ganzen Orkus-Zyklus bringt Roth, so Bartens (2003, 51), »die Freier mit dem ›Verschweigen‹ und ›Fälschen‹ der Geschichte in Verbindung. […] Der ›erfindungsreiche‹ Odysseus […] als der mythologisch verbriefte Bezwinger der Freier ist bei Roth daher jener, der durch Aufklärung, d.h. Reden, die Macht des Schweigens und Vergessens bricht« – ein hoher Anspruch, der für Bartens letztlich auf die Schriftstellerfigur bzw. die »geschichtsbildende[] Kraft der engagierten Literatur« (ebd.) abzielt. Goran R. und Gartner gelingt es dementgegen nicht, dem Verschweigen bzw. Fälschen zu entkommen. Nicht umsonst wird er immer wieder mit der Blindheit, oder nur vorgetäuschten Blindheit Königs Stephan III. Decansky assoziiert, dessen Schicksal er in mythischer Rückwendung zu wiederholen scheint. Vgl. aber McChesneys Hinweis darauf, dass der Prozess der Protagonisten in Roths Romanen wichtiger ist als das konkrete Ergebnis ihrer Reisen: »Resurrecting the past ends in death, insanity, and hopelessness for all of the protagonists rather than in Nostos, the joyful welcome home in the Odyssey. While the journeys might be deemed unsuccessful based only on their conclusions, it is the process that is vital to the protagonists’ and the author’s pursuits. Painfully remembering reveals the universal tendency to blot out a destructive past in the histories of individuals and nations, and it breaks with those patterns.« (McChesney 2014, 56) Vgl. dazu supra Anm. 11 und Preußers Kommentar zu Angelopoulos’ Der Blick des Odysseus, in dem in seiner Deutung eine ganz ähnliche Zurücknahme des Bildes, eine »Verweigerung der Repräsentation in der Darstellung« angesichts der Grauen des Krieges erfolgt (Preußer 2005, 171).
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Wie Angelopoulos’ A. in der Schlussszene von Der Blick des Odysseus sitzt Gartner am Ende des Romans in einem Kino, zurück in seiner alten Rolle als Filmkritiker. Hier wie dort zeigt sich zunächst »[e]in grelles Flimmern […] auf der Leinwand, Licht, Schmutzpartikel und Kratzer« (ebd., 306). Bei Angelopoulos geht es dabei um die endlich gefundenen Filmrollen der Manakis-Brüder, zu sehen ist aber auch weiterhin nur die weiße Leinwand, während A. in einer an die Odyssee erinnernden Tonart seine Wiederkehr in einer erneuten Reise evoziert: »When I return, | It will be with another man’s clothes | Another man’s name […] I will tell you about the journey all night long | and then all the nights to come […] | between lovers’ calls and the whole human adventure | the story that never ends.« (Zitiert nach Calotychos 2013, 81) In Der Berg dagegen beschreibt das erste Bild des »Abenteuerfilmes« (Roth 2000, 305) im Wiener Apollokino aus Gartners Kindheit genau die Anfangsszene des Romans in Thessaloniki, wiederum »durch die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos« (ebd., 307, vgl. 9). So steht auch hier am Ende eine Wiederkehr zum Anfangspunkt bzw. deren Fortsetzung als unendliche Geschichte. Allerdings erscheint diese, wie schon zuvor im Bild des eben nicht ewiggleichen, sondern immer wieder anders schillernden Meeres, bei Roth durch die andere Perspektive Gartners im Zeichen zumindest potenzieller Veränderung. So wie sich das Meer in Der Berg immer wieder neu und anders manifestiert, so steht hier auch am Ende nicht eine bloße Wiederholung desselben, sondern bietet die Überführung von Wirklichkeit in Fiktion, indem Gartner nun Zuschauer oder genauer Kritiker der abenteuerlichen Ereignisse ist, auch die Chance eines Neuanfangs.
Quellen Joyce, James (1992): Ulysses. London: Penguin Books. Roth, Gerhard (2000): Der Berg. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Roth, Gerhard (2003a): Entwurfskizze zum »Orkus«-Zyklus (1993-). In: Daniela Bartens und Gerhard Melzer (Hg.): Gerhard Roth Orkus. Im Schattenreich der Zeichen. Wien: Springer Verlag, 14-25. Roth, Gerhard (2003b): »Der Berg«, 1. Inhaltsskizze, 15.3.1998, 7-8h, Kopreinigg, S.1. In: Daniela Bartens und Gerhard Melzer (Hg.): Gerhard Roth Orkus. Im Schattenreich der Zeichen. Wien: Springer Verlag, 178.
Literatur Apel, Friedmar (2002): Wasserzeichen in der Wüste. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2002, 36.
Figurationen des Meeres in Gerhard Roths Roman Der Berg
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Die Ägäis als Testfall für die Gestaltungsmöglichkeiten einer Europäischen Union im Krisenmodus Martin Schwarz
Krise? Welche Krise? Das Jahr 2017 wird als ein Krisenjahr in Erinnerung bleiben, nicht als eines der Jubiläen oder gar als eines des Aufbruches, wie ihn Emmanuel Macron vor Augen hatte, als er im September 2017 und damit wenige Monate nach den Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge (Europäischer Rat 2017) seine europapolitische Grundsatzrede an der Sorbonne hielt (Macron 2017).1 Das früher so erfolgsverwöhnte Integrationsprojekt befand sich zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem nicht nur in einem Stimmungstief, sondern in einer regelrechten Sinn- und Vertrauenskrise. Weder die Erweiterungsrunden der Jahre 2004, 2007 und zuletzt 2013, noch das Versprechen von Thessaloniki (19.-21.06.2003) – also die Beitrittsperspektive für die Staaten des westlichen Balkans – hatten daran etwas geändert. Offenkundig ist es der EU nicht überzeugend gelungen, die welthistorische Zäsur der friedlichen Revolutionen von 1989/1990 für die Idee Europa nutzbar zu machen. Angesichts der wachsenden Vorbehalte in Mittelost- und Südosteuropa – ausgelöst nicht zuletzt durch den im Zuge der griechischen Staatsschuldenkrise seit 2010 etablierten Stabilisierungsmechanismus –, des Erstarkens des nationalpopulistischen Lagers bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (2019) und der
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Am 25.03.2017 und damit nur wenige Tage vor dem offiziellen Beginn der Brexit-Gespräche hatten die Staats- und Regierungschefs von 27 EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission die Erklärung von Rom (Europa ist unsere gemeinsame Zukunft) unterschrieben, um ein Signal der inneren Geschlossenheit nach London zu senden. Die Rede Macrons datiert auf den 26.09.2017. Sie ist damit weit mehr als nur ein Gesprächsangebot an die Adresse der aus der Bundestagswahl 2017 hervorgegangenen deutschen Bundesregierung. Macron zelebrierte diese Rede vielmehr an der Wirkungsstätte von Pierre Dubois (ca. 1255-ca. 1321), jenem Kronanwalt von König Philipp IV. und Schüler von Thomas von Aquin, der 1306 mit dem Traktat De recuperatione et reformatione et conservatione terre sancte den ersten europäischen Friedensplan vorgelegt hatte.
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Aktivierung von Art. 50 EUV durch London (Brexit) steht eine Frage im Raum: Hat die Strahlkraft des Projekts EU als Friedens- und Wohlstandsgarant womöglich den Zenit überschritten? Nun sind Krisen und Entscheidungsblockaden in der europäischen Integrationserfahrung seit den Anfängen in den 1950er-Jahren wahrhaftig keine Seltenheit gewesen (Brunn 2017; Loth 2014). Die heutige EU hat hieraus allerdings stets neue Impulse ziehen können, weil die sich in den Krisen zeigenden strukturellen Defizite der Integration im Kontext einer der Erweiterungsrunden ausgeräumt und in Form von Konsensregeln sowie Zusatzprotokollen in den Acquis Communautaire einfließen konnten. Dieser an und für sich erstaunlich erfolgreiche Mechanismus der Methode Monnet – erstaunlich, weil aus sich heraus voraussetzungsfrei und rein rational intendiert – ist aber spätestens seit dem Scheitern der europäischen Verfassung (2005) außer Kraft. Die Intention, das bisherige EU-Governance durch demokratische Grundsätze zu grundieren und so die Steuerungsfähigkeiten der EU nach innen wie auch ihre Handlungsmöglichkeiten nach außen hin zu legitimieren, erwies sich als zu große Bürde (Höreth 2010, 167f.). Ob degressive Proportionalität, Grundrechtecharta oder der Gottesbezug – der gefundene Konsens markiert seither eine Zäsur, weil mit dem Vertrag von Lissabon (auf deutsche Vermittlung 2007 paraphiert, seit 2009 in Kraft) erstmals die Blockadegründe zementiert und nicht überwunden wurden. Das immer wieder beschworene Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist also längst Realität (so Borchardt 2015, 68f.; Herwig 2014).2 Zwar wurden mit Lissabon einige institutionelle Reformen in Angriff genommen und so das Dreieck aus Kommission, Rat und Europäischem Parlament inhaltlich gestärkt. Impulse für eine weitergehende Erneuerung der EU hat es – sieht man einmal vom Vorschlag ab, die Euro-Bonds und damit die Schuldenunion nun in Form von Corona-Bonds zu verwirklichen –aber seit geraumer Zeit schon nicht mehr gegeben. Die einst als Integrationsmotor gepriesene Achse Paris-Berlin zeigt sich ermüdet und in den eigenen Pfadabhängigkeiten, die allenfalls eine inkrementelle Weiterentwicklung des Status quo zulassen, verfangen. Die Grenzschließungen im Kampf gegen die aktuelle Corona-Pandemie haben zuletzt mehr für Misstrauen als für europäische Geschlossenheit in einer EU gesorgt, die vor einer 2
Die Antwort auf die diversen Integrationsmodelle ist zunächst die Option der Verstärkten Zusammenarbeit, die in Art. 20 EUV (Rahmenbedingungen) sowie in Art. 326-334 AEUV (ergänzende Bestimmungen) fixiert und im Rahmen des Schengener Übereinkommens sowie des Euros zum Einsatz gebracht wurde. Dazu kommen die Protokolle in den Vertragsanhängen seit Maastricht, in denen zahlreiche Ausnahmeregeln und Sonderabsprachen verbrieft sind, ebenso die Benelux-Klausel (Art. 350 AEUV), die CTA-Regelung zwischen Irland und Großbritannien sowie die Akzeptanz der völkerrechtlichen Verträge der EU-Mitgliedstaaten außerhalb des Kompetenzbereichs der Union. Alle diese Bestimmungen unterliegen einer Loyalitätspflicht, die in Art. 4 Abs. III EUV verankert wurde.
Die Ägäis als Testfall
ganzen Reihe von Herausforderungen steht. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist, ebenso wie die Flüchtlingskrise, noch nicht ausgestanden. In der Krimfrage ist die EU aufgrund mitgliedstaatlicher Sonderinteressen blockiert, gleiches gilt für die Beziehungen zu den USA und zu China. Das alles wurde viele Jahre durch den Brexit überlagert, gleiches zeichnet sich momentan in der Corona-Krise ab. Auch wenn die Zeit einer sich weiter vertiefenden Union derzeit vorbei zu sein scheint, hat es keinen spill-back, also einen Rückschritt in der Integrationsformation, beispielsweise auf die Zeit vor Maastricht, gegeben. Stattdessen findet eine vom heutigen Vizekommissionspräsidenten ausgegebene Devise wachsenden Zuspruch: »National, wo es möglich ist, europäisch, wenn es sein muss.« (Timmermans 2013, zitiert nach Winkler 2019, 9) Die Blaupause dafür lieferte ausgerechnet die Staatsschuldenkrise Griechenlands. Entgegen der Erwartung verblieb Griechenland im Euroverbund und gelang es der 2015 erstmals gewählten Regierung von Ministerpräsident Tsipras die Sparauflagen aus Brüssel einzuhalten, während flankierend der ESM als mögliche Vorstufe des seither diskutierten Europäischen Währungsfonds aufgebaut wird (Röger 2018). Die Rettung Griechenlands aber ist der Schlüssel zum Verständnis der Debatte um den Haftungsausschluss der EU und aller ihrer Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten einzelner Mitgliedstaaten, also die Absage an eine Schuldenunion.3 Im Ergebnis der Griechenlandkrise – die bald auch noch Zypern, Irland, Portugal und Spanien erfassen sollte – wurde die seit Maastricht bestehende No-Bailout-Klausel (heute Art. 125 AEUV) in Lissabon durch Art. 136 Abs. 3 AEUV (Schaffung des ESM) erstmalig eingeschränkt. Dies wiederum gilt als das auslösende Moment für die Brexit-Bewegung in Großbritannien. Kein Wunder also, dass sich Donald Tusk in seiner Funktion als 3
Ministerpräsident Tsipras trat im Juni 2019 im Ergebnis der Europawahlen zurück, die Neuwahlen vom 07.07.2019 konnte Kyriakos Mitsotakis (Néa Dimokratía) mit absoluter Mehrheit gewinnen. Die Regierung Tsipras (Syriza und Anel) hatte auf Druck der sog. Troika tiefgreifende Reformen (Austerität) durchgeführt, die im Ergebnis u.a. die Löhne, Gehälter und Renten stark absinken und infolge der steigenden Steuerquoten den Privatkonsum erheblich zurückgehen ließen. Nur so konnte Griechenland auch das dritte Rettungspaket (EZB und IWF) abrufen, gleichzeitig stieg die Staatsschuldenquote von 159 Prozent (2012) – mit dem Höhepunkt 182 Prozent (2015) auf 140 Prozent (2018). Lag die Arbeitslosenquote 2012-2015 bei über 24 Prozent, sank sie bis Ende 2018 auf 16,3 Prozent. Tourismus und Baubranche konnten zuletzt gute Zahlen vorlegen, die Jugendarbeitslosigkeit sank bis 2018 auf 32,4 Prozent (Munzinger 2020). Wie fragil die Lage in Griechenland indes immer noch ist, zeigen nicht nur die negative Wirtschaftsprognose der Kommission, sondern auch die Folgen der Maßnahmen, mit denen die Regierung Mitsotakis die Folgen der Corona-Krise abmildern will. Betroffene Unternehmen (Gastronomie und Einzelhandel) dürfen ihre Mieten um bis zu 40 Prozent reduzieren. Gleiches gilt für die Beschäftigten dieser Unternehmen. Für freigestellte Arbeitnehmer (etwa 22 Prozent aller Beschäftigten) und Selbstständige gibt es eine monatliche Unterstützung von 800 € – die Regelung soll von März bis Mai 2020 gelten, wird aber wohl verlängert werden (ebd.).
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Präsident des Europäischen Rates zum Jahresauftakt 2017 an die nach dem Brexit verbleibenden 27 Staats- und Regierungschefs wandte und die EU kurzerhand zur Schicksalsgemeinschaft erklärte: »Vereint stehen wir, getrennt fallen wir« (Tusk 2017). Jean-Claude Juncker, der damalige Kommissionspräsident, schlug in seinem Weißbuch über die Zukunft Europas (COM [2017] 2025) vom 01.03.2017 gänzlich andere Töne an. Die hierin skizzierten fünf Entwicklungsszenarien lassen alle graduell abgestufte Integrationsspielräume erkennen, von einem dezidierten Scheitern ist hier keine Rede (Becker 2017). Wie dünn das Polster geworden ist, auf dem der Integrationsprozess unterdessen ruht, zeigen exemplarisch mehrere scheinbar nicht zusammenhängende Vorgänge: die Erleichterung über die Wahlausgänge in den Niederlanden und im Frankreich des Jahres 2017, die Wahl von Ursula von der Leyen am 16.07.2019 zur neuen Kommissionspräsidentin und der Wahlsieg Boris Johnsons bei den vorgezogenen britischen Unterhauswahlen vom 12.12.2019: •
Nach dem verlorenen Votum vom 23.06.2016 reichte David Cameron seinen Rücktritt ein. Seine Nachfolgerin Theresa May löste am 29.03.2017 das Austrittsverfahren nach Art. 50 EUV aus und nahm gemäß Art. 218 Abs. 3 AEUV Verhandlungen mit Brüssel über einen Austrittsvertrag auf. Nach der vorgezogenen Neuwahl (08.06.2017), die May nur mit Hilfe der DUP überstand, verkämpfte sich May im Unterhaus, wurde zwischen UKIP und den Populisten in der eigenen Partei, darunter Boris Johnson, zermürbt. Eine Reihe von Misstrauensanträgen und Abstimmungsniederlagen später und in Reaktion auf die für sie verheerenden Kommunal- und Europawahlen (Mai 2019) trat May zurück. Ihr Nachfolger Boris Johnson konnte die Politikblockade schließlich im Dezember 2019 dadurch brechen, dass er Neuwahlen erzwang, die er gewann.4 Weil sich Johnson nun strikt weigerte, für die Kommission von Ursula von der Leyen einen britischen Vorschlag vorzulegen, wurde seitens der Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das Johnson durch den BrexitVollzug zum 31.01.2020 aushebelte. In den Verhandlungen pocht London seither für die Zeit nach der Übergangsphase auf eine Generalklausel, während Brüssel auf einem detaillierten Vertrag besteht (Frau 2020; ergänzend Shipman 2016).
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Boris Johnson war am 24.07.2019 als Nachfolger von Theresa May angetreten, um den Brexit bis zum 31.10.2019 abzuwickeln, scheiterte dann aber gleich in mehreren Anläufen an der Politikblockade im britischen Unterhaus. Bei den Wahlen vom 12.12.2019 konnte Johnson den größten Sieg der Conservative Party seit 1979 feiern, auch wegen der Brexit-Party: Deren Vorsitzender Nigel Farrage hatte landesweit nur in wenigen Wahlkreisen eigene Kandidaten aufgestellt, um nicht offen gegen Boris Johnson antreten zu müssen. Am Ende gewann Johnson 365 von 650 Sitzen, Labour verlor 7,8 Prozent und erreichte noch 203 Sitze, während die Brexit-Party leer ausging.
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Das von der Ermordung der proeuropäischen Labour-Abgeordneten Jo Cox überschattete Brexit-Votum stärkte europaweit die nationalpopulistischen und europaskeptischen Kräfte. Diese konnten zwar in den folgenden (nationalen) Wahlen vom Brexit-Beschluss profitieren, das Ziel einer Regierungsbeteiligung oder gar Regierungsübernahme verfehlten sie allerdings. In Frankreich schaffte es Marine Le Pen mit dem FN (heute Rassemblement National) erwartungsgemäß in die Stichwahl (07.05.2017) um das Amt des Staatspräsidenten, in der sie ebenso vorhersehbar mit 33,9 Prozent gegen Emmanuel Macron (66,1 Prozent) und dessen Bewegungspartei En Marche unterlag, um dann auch bei den Europawahlen 2019 Stimmen zu verlieren. In den Niederlanden wurde Geert Wilders mit der Partij voor de Vrijheid am 15.03.2017 mit 13,1 Prozent zweitstärkste Kraft hinter Mark Ruttes VVD, bei den Europawahlen konnte er seinen Stimmenanteil um knapp 2 Punkte ausbauen. Die AfD erzielte 2017 bei den Bundestags- und 2019 bei den Europawahlen in Deutschland mit 12,6 bzw. 11 Prozent deutliche Gewinne (Europäisches Parlament 2019). Die Europawahlen vom Mai 2019 haben erstmals seit 1979 wieder eine steigende Wahlbeteiligung mit sich gebracht, und zwar von 42,61 (2014) auf 50,66 Prozent (2019). In Griechenland sank die Wahlbeteiligung dagegen leicht ab. Im Ergebnis aber gelang es nicht, die europaskeptischen bis feindlichen Parteien unter Führung der italienischen Lega in einer Fraktion zu bündeln. Einerseits konkurrieren nun mit Identität & Demokratie (73 Mandate), EKR (62) und Fraktionslose (57) gleich drei Gruppen um den striktesten antieuropäischen Kurs. Andererseits stieg die Zahl der Europakritiker von 175 (2014) auf 192 Mandate, bei aktuell 705 Mandaten insgesamt (ebd.). Angesichts des Wahlergebnisses brauchte der Europäische Rat mehrere Anläufe, bevor er sich am 02.07.2019 auf Ursula von der Leyen als neue Präsidentin der Kommission und damit auf einen Konsens einigen konnte.5 Der Konsens düpierte zwar die beiden Spitzenkandidaten, die vom Europäischen Parlament favorisiert worden waren, beinhaltete aber ein für Brüssel durchaus typisches Personalpaket, wonach Christine Lagarde (Frankreich) die EZB, Charles Michel (Belgien) den Europäischen Rat, Josep Borell (Spanien) das Amt des Hohen Beauftragten der GASP und David Sassoli (Italien) das Europaparlament leiten sollen. Mit Ursula von der Leyen übernahm nach Walter Hallstein die erste Deutsche und die erste Frau den Spitzenposten in Brüssel.
Ein Faktor bei der Wahl von der Leyens war sicherlich, dass sie als bundesdeutsche Verteidigungsministerin ganz maßgeblich mit dazu beigetragen hatte, dass PESCO – die Ständige Strukturierte Verteidigung – am 13.11.2017 aus der Taufe gehoben und am 11.12.2017 gegründet werden konnte. An der Initiative nehmen 25 EU-Mitgliedstaaten teil, um im Krisenmanagement wie auch im Bereich der Verteidigung enger zu kooperieren und so die europäische Komponente der NATO zu stärken.
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Hier bestätigt sich erneut die ausgeprägte Abneigung der Staats- und Regierungschefs gegenüber Pfadsprüngen (spill-overs), also der Vertiefung der Integration. Weil sie nach wie vor keine Antwort darauf haben, wie sie dem sich aus dem von Christopher Hill konstatierten capability-expectations-gap (Hill 1993, 305-328) ergebenden Demokratiedefizit begegnen sollen, bleiben sie selbst im Angesicht des Brexit und der Wahrscheinlichkeit, dass sie dafür einen hohen politischen Preis zahlen werden, seltsam passiv. Ursula von der Leyen hatte diverse Reformen ins Spiel gebracht, darunter mehr Rechte für das Europaparlament. Ehe die Vorschläge aber auch nur Kontur annehmen konnten, legte die Corona-Pandemie erst Italien, dann Österreich und schließlich die EU im Ganzen (wie auch Großbritannien) weitestgehend lahm. Statt um Reformen sorgt sich Brüssel derzeit um einen milliardenschweren Rettungsfonds. Diese hier nur zu skizzierende Gemengelage verstärkt somit zwei gegensätzlichen Positionierungen, die das Paradox des nur vermeintlich autopoietischen Integrationsprozesses verdeutlichen und das Erscheinungsbild der EU in der Öffentlichkeit prägen: Einerseits wird die EU »ökonomisch […] als Urheber von Verteilungsungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaften sowie Konflikten zwischen den auseinanderdriftenden Mitgliedern der Währungsunion betrachtet. Kulturell nährt sie die Sorgen vor unkontrollierter Zuwanderung und dem Verlust nationaler Eigenständigkeit. Und politisch leidet sie unter angeborenen und/oder von den Eliten bewusst in Kauf genommenen demokratischen und Rechtsstaatsdefiziten« (Rüttgers und Decker 2017, 10).6 Andererseits »hat sich [diese Europäische Union] nur deshalb nicht aus der Geschichte verabschiedet, weil sie nie in ihr angekommen ist. Nie und nirgendwo wurde eine Armee unter der blauen Europaflagge eingesetzt, nie hat ein Herold aus Brüssel sein Veto gegen irgendwas eingelegt, nie eine Friedenskonferenz einberufen, nie einen Krieg erklärt oder beendet. Das ist nicht die Art des Hauses« (Debray 2017, 1). Die EU ist, was sie immer war: aus Verträgen geboren, damit mehr Benedict Anderson und weniger Ernest Renan, also nicht aus einer Erweckungsbewegung entstanden, sondern eine Konstruktion. Das viel zitierte Bonmot von Jacques Delors hat nichts von seiner Aktualität verloren: »Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.« (FAZ online 2018). Von einer EU im Krisenmodus kann aber im Vergleich mit den großen Erschütterungen der 1950er- (Scheitern der EVG), 1960er(Leerer Stuhl) und 1980er-Jahre (Britenrabatt) nur bedingt gesprochen werden, obwohl seit 2005 unverkennbare Muster vorhanden sind, die eine Verdichtung von krisenhaften Situationen anzeigen. Das gilt für die dem Brexit-Votum zeitlich vorausgehende sogenannte Flüchtlingskrise des Jahres 2015, in deren Verlauf massive Funktionsstörungen der EU-Systematiken (Schengener Übereinkommen, DublinRegelwerk) deutlich wurden. In der Summe setzten diese Störungen eine für das 6
Hervorhebungen im Original.
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Projekt Europa durchaus gefährliche Konfliktspirale in Gang, bei der sich die Regierungen von Polen, Tschechien und Ungarn an die Spitze der Europaskeptiker stellten, während externe Akteure wie Russland und die Türkei die Schwächung der EU ausnutzten. Gleiches gilt für die Effekte des Brexits, die zu einer Serie von Handlungsentscheidungen aufseiten der Entscheidungsträger führten, deren dringliche Notwendigkeit durch das Erstarken populistischer Kräfte und das damit einhergehende Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit bei gleichzeitig hohem Zeitdruck zur Selbstlegitimierungsformel gerann. In beiden Fällen konnte die europäische Öffentlichkeit die Informationslage nur bedingt auf ihre Belastbarkeit überprüfen, wurde das durch Trollfabriken angeheizte Phänomen der Fake News zum neuen Orientierungsfaktor, sahen sich Befürworter wie Skeptiker in ihren jeweiligen Positionen gestärkt, musste die Kommission austarieren. Seither finden die Europadiskurse auf drei Ebenen statt: Entlang des StaatsNationen-Kernkonzepts, der Haltung zu Europa und nicht zuletzt der Frage nach dem richtigen Europa (Waever 2004; Waever 1998, 113). Wenn aber Régis Debray darauf verweist, dass Kaiser Karl V. »mit Gott Spanisch, mit den Frauen Italienisch, mit Männern Französisch und mit seinem Pferd Deutsch [sprach]« (Debray 2017, 2), kritisiert er damit indirekt auch das Fehlen einer integrativen Idee, nachdem die Friedens- und Wohlstandsformel offensichtlich nicht mehr ausreicht. Gleichzeitig steht eine Warnung im Raum: »Wir sollten die Menschen nicht glauben machen, dass wir Sonne und Mond herbeizaubern können, wenn wir höchstens ein Teleskop liefern können.« (Juncker 2017) Wenn man nun davon ausgeht, dass viele der derzeit zu beobachtenden tiefgreifenden Veränderungen unvermeidlich und letztlich unumkehrbar sind, wird deutlich, wie sehr sich die Gewichtung zugunsten der Kommission verschiebt. Umso interessanter wird es sein, wie die neue Kommissionspräsidentin mit ihrem am 27.11.2019 vom Europäischen Parlament gewählten Team die Aufgaben angeht.
Die von der Leyen-Kommission und die Frage der Zukunft für die EU Die EU-Kommission wird in der Literatur in der Regel als Teil des politischen Systems der EU behandelt und eher selten als eigenständige Institution, die dank der Meroni-Doktrin und damit schon seit Ende der 1950er-Jahre nachgeordnete Behörden und Agenturen aufbaut (dazu Hustedt et al. 2014; Borchardt 2015, 226; Knauff und Oppelland 2016). Dabei hat sich seit dem Inkrafttreten der Vertragswerke von Lissabon am 09.12.2009 einiges grundlegend geändert, etwa dass die Kommission gegenüber dem Europäischen Parlament nun stärker zur Zusammenarbeit verpflichtet ist oder dass die EU über eine eigene Rechtspersönlichkeit als Völkerrechtssubjekt verfügt, was vor allem der Kommission mehr Sichtbarkeit verleiht. Ursula von der Leyen knüpft bei der Arbeitsorganisation ihres Kommissar-
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Kollegs in mancher Hinsicht an die Juncker-Kommission an, in der nicht einfach nur Generaldirektionen definiert, sondern auch Kommissare mit einem dezidiert politischen Handlungsauftrag benannt wurden. Exekutiv-Vizepräsidenten (Frans Timmermans, Margrethe Vestager und Valdis Dombrovskis) bearbeiten die drei Schwerpunktthemen, mit denen von der Leyen die EU ins 21. Jahrhundert führen will: »Green Deal und Klimaschutz«, »Digitalisierung« und »Humane Wirtschaftswelt«. Ihnen stehen mit Maroš Šefčovič (Interinstitutionelle Beziehungen), Vera Jourová (Werte und Transparenz), Dubravka Šuica (Demokratie) und Margaritis Schinas (Europäische Lebensweise) vier Vizepräsidenten mit je eigenen Schwerpunkten zur Seite. Wie schon unter Juncker fungiert ein eigener Vizepräsident (für ein stärkeres Europa in der Welt) als Hoher Vertreter für die GASP (Josep Borrell i Fontelles), der damit gleichzeitig Vorsitzender des Rates für Auswärtige Angelegenheiten sowie Dienstherr des Europäischen Auswärtigen Dienstes ist (European Commission 2019a). Wie Juncker hat auch von der Leyen jedem Kommissar konzeptionelle Vorgaben (Mission letters) mit auf den Weg gegeben, wonach die acht Vizepräsidenten ein Mitspracherecht beim Agenda-Setting haben. Von der Leyen nutzt damit ihre in Art. 17 Abs. 6 EUV verankerten Gestaltungsrechte, um gleich zu Beginn eigene Akzente (»Neustart für Europa«) zu setzen. Deutlich wird das bei den sechs Arbeitsgruppen auf Kommissionsebene, welche die Schwerpunkte der Legislaturperiode zu Themenclustern bündeln und diesen die Generaldirektionen als administrativen Unterbau zuordnen (eine Übersicht beinhalten European Commission 2019b und 2019c). Von der Leyen hält nicht nur am Prinzip des Kollegiums der Kommissare fest, sie baut es gezielt als politisches Zentrum gegenüber den noch 27 Mitgliedstaaten aus. Die schon von Juncker (dazu Hustedt et al. 2014, 56f.) eingeleiteten Reformen werden fortgeführt: Entlang einer vertikalen Achse wurden zunächst die Kompetenzen, Aufgaben und politischen Verantwortlichkeiten zwischen den Kommissaren und deren Generaldirektionen sowie den Diensten und (Exekutiv-)Agenturen der Kommission neu geordnet respektive die personalen und prozeduralen Ressourcen der Kommissare den neuen Anforderungen angepasst. Auf einer horizontalen Achse wurden dann die organisatorischen Abläufe neu definiert und das Europäische Semester als Entscheidungsrahmen präzisiert, wodurch sich der Charakter der in kollegialer Verantwortlichkeit getroffenen Entscheidungen im Sinne der oft unterschätzten EU-Governance gezielt verstärken lässt. Es wird sich zeigen, ob die Kommission damit die drängenden Fragen wird beantworten können, die sie bei Amtsantritt von der Juncker-Kommission übernommen hat und die allesamt derzeit von der Corona-Pandemie und deren Folgen überlagert werden: •
die seit Jahresbeginn 2019 wieder akute Flüchtlingsfrage; eng verbunden damit die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 EU-Mitgliedstaaten, notfalls per Art-7-Verfahren;
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die Mittelfristige Finanzplanung 2021-2027; das im Brexit-Dauerstreit mit London immer noch drohende no-deal-Szenario; die Umsetzung der in Madrid formulierten Selbstverpflichtungen (Green Deal) und die Beilegung des Handelsstreits (Strafzölle wegen Airbus-Subventionen) mit den USA; inhaltliche Reformen entlang der Diskurslinie Demokratiedefizit – europäisches Regieren (inkl. EuGH als Verfassungsgericht?) – Euroskepsis/Populismus – »Union der Bürger« – Integrationsbereitschaft seitens der mitgliedstaatlichen Eliten (Erweiterung/Vertiefung).
Gleichwohl brauchen solche Prozesse Zeit, was nicht ohne Folgen für das jährlich vorzulegende Arbeitsprogramm der Kommission bleibt. Kommissionspräsidenten wie Walter Hallstein (1958-1962 und 1962-1967), Jacques Delors (1985-1995) und zuletzt Jean-Claude Juncker (2014-2019) hatten einen eng gesteckten Rahmen für ihre Gestaltungswünsche,7 der sich aus den formaljuristischen und in den Verträgen definierten Kompetenzen sowie dem volatilen und von den Regierungen dominierten politischen Umfeld speist (Borchardt 2015, 186-196). Das gilt auch für Ursula von der Leyen, die ihr Verhandlungsgeschick und ihren Überlebenswillen erst noch unter Beweis stellen muss. Dabei kommt ihr ein wichtiger Perspektivwechsel zugute, der auf Jacques Delors zurückgeht: »Vom Präsidenten der Europäischen Kommission […] kann man nicht verlangen, dass [er] den Bürgern die Vorzüge Europas [erklärt]. […] Ich bin kein Zauberdoktor, der glaubt, die perfekte Lösung zu haben. Aus meinen Erfahrungen als Kommissionspräsident habe ich aber gelernt, dass man nur mit guten Kompromissen vorankommt.« (Die Welt online, 23.03.2007) Delors galt als citoyen, für den die Kommissionspräsidentschaft ein politischer Gestaltungsauftrag war (Vogel 2008, 166). Seiner Nachfolgerin hilft ein scheinbares Paradoxon im Vertrag von Luxemburg: Einerseits benennt dieser konkret bezeichnete Ziele, andererseits sind die dafür vorgesehenen Einzelermächtigungen (Befugnisse) der Kommission unvollständig. Um nun die Ziele zu erreichen und die von den Mitgliedstaaten hierfür formulierten Absichten im Sinn von Arbeitsaufträgen bewältigen zu können, kann 7
Die Rechtssetzungsfunktion als Motor der Integration und das reguläre Initiativmonopol basieren auf Art. 17 Abs. 1 (Kommission als Exekutive) und Abs. 2 EUV. Die konstitutionelle Gestaltungsfunktion erwächst aus Art. 48 EUV (Vertragsänderungen) und Art. 49 EUV (Beitrittsverfahren). Die Kontrollfunktion und damit die Zuschreibung als Hüterin der Verträge ergibt sich erstens aus dem Klagerecht (Art. 260, Art. 263 Satz 3 und Art. 265 Satz 1 AEUV), zweitens aus den Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258-260 AEUV) und drittens aus der Überwachung der Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik in den Mitgliedstaaten (u.a. Art. 121 Abs. 2-4 u. Art. 148 AEUV). Hinzu kommt seit Lissabon verstärkt auch die Außenvertretung der EU, von der aber die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als Rückzugsrefugien der nationalen Regierungen ausgenommen ist.
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sich von der Leyen nach Art. 352 Abs. 1 AEUV auf die Vertragsabrundungskompetenz als erweiterten Spielraum berufen. Borchardt verweist zwar darauf, dass Art. 352 AEUV nur greift, wenn bestimmte Kriterien kumulativ erfüllt sind und diese durch den EuGH überprüft werden können (Borchardt 2015, 230f.), dabei übersieht er aber den politischen Gestaltungsspielraum einer Kommission, deren Service dank der im Jahr 2000 eingeführten und mittlerweile erprobten Methode der offenen Koordinierung (MOK) immer stärker angebotsorientiert beratend ausfällt.8 Die MOK wurzelt nicht von ungefähr im Softlaw der EU, das trotz seiner indirekten Konsequenzen die Regeln des Primär- und Sekundärrechts der EU ergänzt und präzisiert (Snyder 1994; ähnlich auch Senden 2004). In der Summe geht es dabei also um die in Lissabon angelegten implied powers der Kommission, die gemäß Art. 216 AEUV die Stärkung einer bereits gegebenen Zuständigkeit kraft Sachzusammenhang vorsehen. Dem steht die auf den europäischen Gipfeltreffen erprobte, längst zum Ritual erstarrte und daher oft kritisierte intergouvernementale Methode gegenüber. Kein Wunder, dass in einer solchen Gemengelage utopische Zukunftsversionen zumindest derzeit keine Konjunktur haben,9 auch wenn sich manche Autoren bemüßigt fühlen, der EU so etwas wie eine kosmopolitische Staatlichkeit zu verpassen (dazu Heinbach 2014, 233-247; Mori 2017; Appiah 2019).
Funktions- und Rollenzuschreibungen für die EU Das europäische Mehrebenensystem und sein Vernetzungsgrad ist einerseits das Resultat der wachsenden Komplexität in der europäischen Politikformulierung und -gestaltung und andererseits der Pluralität der Adressaten jeder einzelnen Politikentscheidung geschuldet. Während in diesem Kontext die Leistungsfähigkeit der
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Die MOK kommt inzwischen in den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie der Entwicklungs-, Beschäftigungs-, Gesundheits-, Jugend-, Migrations-, Renten-, Sozial-, Umwelt- und Unternehmenspolitik zur Anwendung, also in den Bereichen, in denen die Kommission ebenso wie der Ministerrat und das Europäische Parlament keine oder nur begrenzte Zuständigkeiten hat. Ausgangspunkt der MOK ist jedoch, dass die Mitgliedstaaten entschlossen haben, in diesen Politikfeldern enger zusammenzuarbeiten, wobei der Kommission in der Summe die Aufgabe der koordinierenden Steuerung zukommt. Die schon erwähnte Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne wurde denn auch von Berlin bestenfalls unterkühlt zur Kenntnis genommen, auch wenn Macron dafür am 10.05.2018 mit dem Karls-Preis der Stadt Aachen geehrt wurde. Die Laudatio hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dass der Gesprächsfaden immer noch funktioniert, zeigen die feierliche Erneuerung des Élysée-Vertrags (22.01.2019) und der am 20.05.2020 vorgestellte deutsch-französische Rettungsplan für die besonders von Corona betroffenen Mitgliedstaaten, der ein Volumen von 500 Mrd. € haben soll.
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EU-Governance in einem vom Binnenmarkt grundierten politischen Raum beispielsweise anhand der Art und Qualität der getroffenen Regulierungsmaßnahmen qualifizierbar und damit messbar wird, bleiben die Funktions- und Rollenzuschreibungen, die von den nationalstaatlichen Akteuren an die EU gerichtet werden, bemerkenswert vage. Einigkeit liegt eigentlich nur dort vor, wo es angesichts der hohen Transformationskosten einer EU-Mitgliedschaft um deren innerstaatliche Legitimität geht (Archer 2001, 68-92; Brummer 2005, 47-60). Für die einen ist die EU nur ein Instrument bei der Umsetzung der partikularen und divergierenden Interessen ihrer Mitgliedstaaten. Die Kommission ist hier für den rechtsförmigen Vollzug des Acquis Communautaire als handlungslegitimierender Satzung und die Einhaltung der gemeinsamen Ziele als handlungslimitierenden Politikkorridoren zuständig, weil sie deviantes Verhalten über den EuGH dort bestraft, wo sie dazu die Befugnisse hat. Für andere ist die EU eine Arena, also der Rahmen für bi- und multilaterale Kontakte, die von den Mitgliedstaaten graduell abgestuft und daher in variabler Intensität gepflegt werden können. Die Kooperation ergibt sich dabei aus den in den Vertragswerken explizit genannten Politikfeldern oder lässt sich nach intergouvernementaler Lesart aus diesen herleiten. Der Kommission kommen hier die Aufgaben eines Gatekeepers und Agenda-Setters zu, der die multimodale Kommunikation an den Schnittstellen dank des Softlaws reibungslos operationalisiert. Spätestens seit Lissabon gilt die nun mit einer eigenen Rechts- und Vertretungspersönlichkeit ausgestattete EU auch als Akteur, weil die Kommission wie oben beschrieben über graduell abgestufte Vollmachten verfügt, die in den auf EU-Ebene gepoolten nationalen Souveränitätsrechten wurzeln. Auf diese Weise kann die Kommission das mitgliedstaatliche Sicherheitsdilemma einhegen,10 den Regierungen neue Kooperationswege erschließen und deren Vetopotenziale kompensieren. 10
In diesem Sinne muss sie auch im Grenzkonflikt zwischen Griechenland und der Türkei aktiv werden, der durch den Subtext aus Flüchtlingskrise (2015) und EU-Türkei-Abkommen (18.03.2016) vorgeprägt ist und mit der vermeintlichen Besetzung einer von Griechenland beanspruchten Insel im Grenzfluss Evros neuen Auftrieb erhalten hat. Weil außerdem türkische Kampfflieger immer wieder den griechischen Luftraum über Lesbos, Chios und Limnos verletzen, ist auch die NATO involviert. Beide Staaten streiten seit Jahrzehnten über die Hoheitsrechte in der Ägäis, sind in der Zypernfrage tief gespalten (was die Türkei nicht davon abhält, dort eigene Explorationen nach Rohstoffen durchzuführen) und versuchen in der Auseinandersetzung um die Ausschließliche Wirtschaftszone südlich von Kreta ein Einvernehmen zu erzielen. Von der sogenannten Erdbebenpolitik der 1990er-Jahre und der damit einhergehenden Entspannung ist nur wenig übrig. Die türkische Regierung beschuldigt Athen der Verwicklung in den Putschversuch von 2016 und fordert die Auslieferung flüchtiger Offiziere, die in Griechenland Asyl erhielten. Erst im Februar 2020 war es zu Gewaltausbrüchen am Grenzübergang Kastanies/Pazakule gekommen, als Ankara Tausende Flüchtlinge an die Grenze zur EU transportieren ließ und die griechische Grenzpolizei die Durchbruchsversuche der Flüchtlinge abwehren musste.
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Führt man diese Zuschreibungen zusammen, funktioniert die Kommission ganz ähnlich wie ein Anpassungsregime, da sie als Hüterin der Verträge in den dafür vorgesehenen Bereichen die legale Interpretationshoheit über den Acquis Communautaire ausübt und das EU-Recht zu einem wirkungsvollen Integrationsinstrument weiterentwickelt. Interessanterweise war genau das einer der zentralen Kritikpunkte der Brexit-Befürworter. Es ist also keineswegs selbstverständlich, dass die Mitgliedstaaten im Gegenzug zur Modifikation der eigenen institutionellen Grundlagen bereit sind, um den heterarchischen Charakter der EU zu wahren. Die gemeinsame Basis bildet hier der Vertrag von Lissabon, der die allgemeinen Zielsetzungen der Kooperation bestimmt, die zu deren Verwirklichung unabdingbaren und sich aus dem Gemeinwohl speisenden Normen definiert und diese wiederum an den Vertrag als Regelwerk mit präzisen Verhaltensvorschriften rückkoppelt. Die Entscheidungsverfahren, also die institutionalisierte Binnenstruktur, resultieren aus dem Zusammenspiel innerhalb des sogenannten institutionellen Dreiecks (Kommission – Rat – Europaparlament) und aus den Geschäftsordnungen, die sich eben diese Institutionen laut Vertrag geben. Diese Art des Zusammenspiels aus Gestaltungswille, Autonomieverzicht und Normdurchsetzung muss in seiner Anwendungsdynamik hinreichend flexibel sein, damit die nationalen Strategiemuster selbst dann noch isomorph werden, wenn die dafür erforderlichen Schnittmengen nicht mehr freiwillig, sondern wie im Falle der Flüchtlingskrise zwangsbewehrt sind, weil hier seit Lissabon die Einstimmigkeitserfordernis entfallen ist.11
Eine EU-Asylpolitik im Werden – und die Folgen für die Ägäis Seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) nimmt die EU für sich in Anspruch, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, dessen Außengrenzen seither dem Schengen-Acquis und dem daraus hervorgegangenen Dublin-
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Unter dem Eindruck der sich ab Anfang 2015 abzeichnenden Fluchtbewegung von hunderttausenden Menschen aus dem Bürgerkriegsland Syrien schlossen die EU-Mitgliedstaaten entlang der Balkanroute, voran Ungarn, ihre Außengrenzen. Die Einhaltung der DublinKriterien wurde zur Staatsräson, tausende Menschen saßen plötzlich in Elendscamps fest oder wurden in organisierten Kampagnen regelrecht durchgereicht in andere Mitgliedstaaten. Im September 2015 einigten sich die EU-Innenminister schließlich mehrheitlich darauf, die in Italien und Griechenland blockierten Flüchtlinge innerhalb der EU zu verteilen, was von Ungarn, Polen und Tschechien entschieden abgelehnt wurde. Ende 2017 leitete die Kommission dann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die drei Staaten ein – dem der EuGH Anfang April 2020 stattgab. Das hindert Polen, Ungarn und nun Österreich aber nicht daran, die verpflichtende Aufnahme von Flüchtlingen zu verweigern, weshalb die Kommission für die zweite Hälfte 2020 neue Vorschläge ankündigte.
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Verfahren unterliegen. Da die nationalen Regierungen die Asylpolitik weiterhin als Teil ihrer Kernkompetenz betrachten, fallen die europäischen Regelungsbestände zum Thema Asyl verhältnismäßig übersichtlich aus, wie ein Blick in den Vertrag von Lissabon zeigt. Art. 67 Abs. 2, Art. 78 und Art. 80 AEUV sowie Art. 18 der Charta der Grundrechte bilden eine Rechtsgrundlage, die zusätzlich durch das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (28.07.1951) und das dazugehörende Protokoll (31.01.1967) qualitativ verstärkt wird (Barslund u.a. 2019). Dabei ist der Regelungsbedarf nicht neu: Schon seit der Annahme des Protokolls von Tampere (1999) sollen gemeinsame Mindestnormen entwickelt werden, um zu einem gemeinsamen Verfahren mit einem einheitlichen Status für diejenigen zu gelangen, die in der EU Asyl erhalten. Seit 2005 können die dafür notwendigen Beschlüsse per Mitentscheidungsverfahren, also mit qualifizierter Mehrheit, gefasst werden. In der ersten Umsetzungsphase (1999-2004) wurden Mindeststandards zum Schutz der Asylsuchenden, das Fingerabdrucksystem Eurodac und erste Prüfkriterien für die Verfahrensabläufe definiert, die seit der Osterweiterung auch von den neuen Mitgliedstaaten angewendet werden müssen.12 Das unter dem Eindruck des Verfassungsprojektes stehende Haager Programm (2004) forderte gar, ab 2010 ein einheitliches Asylverfahren zur Anwendung zu bringen, was aber mit dem Scheitern der Verfassung (2005) erst zu scheitern drohte und dann als Kompromiss in den Vertrag von Lissabon aufgenommen wurde (Hailbronner und Thym 2016). Seither arbeitet die zuständige Generaldirektion an einem gemeinsamen System, das die Einheitlichkeit bei Asylstatus, subsidiärem Schutzstatus, vorübergehendem Schutz, Gewährung respektive Entzug des Asyl- und subsidiären Schutzstatus, Bestimmung des für den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaates, Festlegung der Normen für die Aufnahmebedingungen und der Kooperation mit Drittländern berücksichtigt. Der oben genannte Art. 80 AEUV hebt ausdrücklich auf den Grundsatz der Solidarität ab: Alle Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Verantwortlichkeiten und finanzielle Belastungen gerecht zu teilen. Seit der Verabschiedung des Stockholmer Programms (2009) arbeitet die Kommission an der ihr zur Aufgabe gemachten Verwirklichung eines Raums des Schutzes und der Solidarität, der durch das seit 2011 in Malta ansässige Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) inhaltlich unterstützt werden soll (Europäisches Parlament 2020). Dadurch, dass die maßgeblichen Rechtssetzungsakte – also die EurodacVerordnung, die Dublin III-Verordnung, die Richtlinie über Aufnahmebedingungen und die Asylverfahrensrichtlinie – erst im Juli 2013 in Kraft traten (die 12
Im Zuge des von der Kommission überwachten Acquis-Screenings verpflichten sich Beitrittskandidaten, den Acquis Communautaire vorbehaltlos und vollständig zu übernehmen, Ausnahmen davon gibt es nicht.
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Anerkennungsrichtlinie schon Januar 2012) und sich die Umsetzung in den Mitgliedstaaten bis Juli 2015 verzögerte, fiel die Einrichtung des Politikfeldes zeitlich mit der Flüchtlingskrise des Jahre 2015 zusammen. Da half es auch nicht, dass sich der Europäische Rat schon im Juni 2014 auf die Leitlinien zur gesetzgeberischen und operativen Programmplanung geeinigt hatte. So blieb der Kommission nichts anderes übrig, als im Mai 2015 ein Maßnahmenpaket vorzuschlagen (sog. Europäische Migrationsagenda). Demnach sollten das EASO, Frontex und Europol gemeinsam mit den betroffenen Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze Hotspots einrichten, um die Rechtssicherheit in den Asylverfahren wieder herzustellen sowie Italien und Griechenland durch die Umsiedlung von 160.000 Flüchtlingen (Aktivierung der Notfallklausel in Art. 78 Abs. 3 AEUV) zu unterstützen (ebd.). Zur Finanzierung der Maßnahmen steht der Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) bereit, dessen Mittel bis zum Ende des derzeit auslaufenden Langfristigen Haushaltsplans von 3,31 auf nun 6,6 Mrd. € angehoben wurden. Für den nächsten Haushaltsplan (2021-2027) sind nunmehr 10,4 Mrd. € veranschlagt, durch die Verknüpfung mit anderen Förderprogrammen (darunter ESF, FEAD und EFRE) soll der Integrationsaspekt stärker in den Blick genommen werden. Ferner wurde auch der Haushalt des EASO von zunächst 109 auf nun 456 Mio. € aufgestockt. Für 2021-2027 sehen die Etatplanungen ein Volumen von 1,25 Mrd. € vor (ebd.).
Fazit Seit Beginn des Jahres 2020 nehmen die Spannungen an der griechisch-türkischen Grenze wieder zu, nachdem die türkische Regierung einseitig eine Grenzöffnung verkündete, damit das Abkommen mit der EU faktisch aufkündigte und tagelange Ausschreitungen provoziert hatte. Als Pläne der Regierung in Athen zur Unterbringung von Flüchtlingen in Nordgriechenland bekannt wurden, kam es Anfang Mai in mehreren Ortschaften zu gewaltsamen Ausschreitungen und die geplante Überführung von 57 Flüchtlingen aus dem Lager Lesbos auf das Festland scheiterte. In Reaktion auf neuerliche Drohungen aus Ankara, die von der Grenzschutzagentur Frontex als authentisch eingestuft werden, verlegte die griechische Regierung seit dem 28.05.2020 rund 400 Sicherheitskräfte in die Grenzorte Kastanies und Feres, um u.a. den Baufortschritt eines 36 km langen Grenzzaunes abzusichern (NZZ online 2020). Parallel dazu verdichten sich die Hinweise, dass in den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln die Gefahr eines Corona-Ausbruchs steigt, nachdem Ende März und Anfang April bereits zwei Camps in der Nähe von Athen unter Quarantäne gestellt worden waren. Ein weiterer Ausbruch wurde im April in der Kleinstadt Kranidi (Peleponnes) bekannt. Als besonders gefährdet gilt unterdessen das Lager Moria auf der Insel Lesbos, wo in einer für 2.840 Personen
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ausgelegten Einrichtung über 19.000 Menschen leben – auf den Inseln Samos, Chios, Kos und Leros sind noch einmal 19.500 untergebracht. 11.000 Menschen wurden in den letzten drei Monaten auf das Festland evakuiert, weitere sollen folgen (ebd.). Was heißt das nun für die EU und vor allem für die Kommission? Seit Ende Februar 2020 hat die EU Gelder in Höhe von 700 Mio. € für das Grenzmanagement in Griechenland bereitgestellt. Dazu kommen seit 2015 rund 2 Mrd. € für Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern. EASO hat angekündigt, 160 Experten nach Griechenland zu entsenden, um die griechischen Behörden bei der Bearbeitung der Asylanträge zu unterstützen. Sie kann derzeit nur auf die Loyalitätspflicht pochen und darauf verweisen, dass es seit September 2015 einen Ratsbeschluss gibt, der einen prozentual gewichteten Verteilungsschlüssel für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in der EU gibt, wonach vier Kriterien zur Berechnung herangezogen werden: Bevölkerung (40 Prozent), BIP (40 Prozent), Anzahl von Anträgen pro Million Einwohner (10 Prozent) und Arbeitslosenquote (10 Prozent). Seit Amtsantritt als Kommissionspräsidentin und der Übernahme der Amtsgeschäfte von Jean-Claude Juncker gab es bislang wenig Gelegenheit zur Einschätzung, welche Akzente Ursula von der Leyen setzen will, oder besser: setzen kann. Die Erwartungen sind hoch, aber die Haushaltsberatungen für den Zeitraum 20212027 und die Hilfsmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie haben derzeit eine höhere Priorität. Die Flüchtlingskrise in der Ägäis muss warten, mit Appellen allein an die in den Verträgen festgeschriebene Solidarität ist es offensichtlich nicht getan. So richten sich derzeit alle Augen auf die Ratspräsidentschaft Deutschlands, die in der zweiten Jahreshälfte 2020 turnusmäßig die Amtsgeschäfte von Kroatien übernommen hat. Die ersten Signale scheinen vielversprechend. Es ist die Rede von einer Rechtsstaatsklausel in Haushaltsfragen, der Corona-Aufbaufonds nimmt Gestalt an. Die Flüchtlinge und die sie aufnehmenden EU-Mitgliedstaaten müssen sich weiterhin in Geduld üben.
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Autorinnen und Autoren
apl. Prof. Dr. Monika Albrecht lehrt Kulturwissenschaften an der Universität Vechta. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen kritischer und vergleichender Postkolonialismus, Memory Studies und Erinnerungspolitik, Transkulturalität und Migration, Gender und Diversity sowie der deutschsprachigen Kultur und Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichungen: Postcolonialism Cross-Examined: Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present (Routledge 2019); Europas südliche Ränder. Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer (transcript 2020). Prof. Dr. Anastasia Antonopoulou lehrt am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Vergleichende Literaturwissenschaft (mit besonderem Schwerpunkt in den deutsch-griechischen Literaturbeziehungen sowie in den intermedialen Beziehungen), Gender Studies und Übersetzung literarischer Texte. Letzte Veröffentlichungen: Rhéa Galanáki: ›Das Leben des Ismail Ferik Pascha‹. Narrative Versionen der neugriechischen Identität und die Entdeckung der osmanischen Vergangenheit Griechenlands als Kulturerbe, in: Monika Albrecht (Hg.): Europas südliche Ränder (transcript 2020); »Liebe Freundin Melpo …«. Zum Verhältnis von Melpo Axioti und Anna Seghers: unveröffentlichte Briefe, in: ΣΥΓΚΡΙΣΗ/COMPARAISON (2020) (in griechischer Sprache). Assist. Prof. Dr. Aglaia Blioumi lehrt Deutsche Literatur an der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migrations- und Interkulturelle Literatur, Literatur- und Kultursemiotik, Reiseliteratur, Literaturdidaktik. Letzte Veröffentlichungen: Literarisierter Migrationsbegriff und Balkanmimikri als europäische Herausforderung für die Komparatistik (ZIG 10/2019); Der Blick des Wissenschaftlers. Konstruktionen des Fremden im Reisebericht ›Reise in den Orient‹ (1840) von Karl Eduard Zachariä von Lingenthal, in: Monika Albrecht (Hg.), Europas südliche Ränder (transcript 2020).
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Prof. Dr. Sergio Corrado lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Neapel »L’Orientale«. Er hat sich in den vergangenen Jahren mit der Lyrik des 20. Jhs. und Literaturtheorie beschäftigt, sowie mit Ästhetik und Kultur der Goethezeit. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: die deutsche Literatur der Gegenwart (u.a. Timm, Goetz, Kracht) sowie kulturwissenschaftliche Themen wie Archiv, Krise der Repräsentation, Narrative der Krise, Arbeitsethik und handwerkliche Praxis, Mittelmeerdiskurs. Neuere Publikationen zu verwandten Themen: Repräsentationen des Insularen. Mittelmeerinseln als Orte der Vernetzung, Verbannung, Selbstfindung, in: Monika Albrecht (Hg.), Europas südliche Ränder (transcript 2020); Flaneure am Mittelmeer. Matvejević’ und Monioudis’ Reisen ins Sentimentalisch-Gelehrte, in: Giusi Zanasi et al. (Hg.), Das Mittelmeer im deutschsprachigen Kulturraum (Stauffenburg 2018). Julian Happes lehrt und forscht als Akademischer Mitarbeiter der Abteilung Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Formen des Wissenstransfers in der Vormoderne, städtische Geschichtsschreibung, Transkulturalität im Mittelmeerraum sowie digitale Medien in der Geschichtsdidaktik. Zuletzt veröffentlicht: gemeinsam mit Julian Zimmermann und Nadja Bergis: Transformation and Continuity in Urban Space. The Smartphone as a Companion to Digital Teaching and Learning Processes in Extracurricular Learning Settings, in: JEMMS 11/2 (2019); Im Südwesten nichts Neues? Textallianzen in historiographischen Sammelhandschriften, in: Pia Eckhart und Marco Tomaszewski (Hg.), Städtisch, urban, kommunal. Perspektiven auf die städtische Geschichtsschreibung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (V&R Unipress 2019). Prof. Dr. Michael Hofmann lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie an den Universitäten Bonn und Poitiers, Lehrtätigkeiten an den Universitäten Bonn, Nancy und Lüttich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der deutschsprachigen Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert sowie der Interkulturellen Literaturwissenschaft. Aus seinen letzteren Veröffentlichungen: Einführung in die interkulturelle Literatur (mit Iulia-Karin Patrut, WGB 2015); Türkisch-deutsche Kulturgeschichte (mit Karin E. Yesilada, Königshaussen und Neumann 2020). Assoc. Prof. Katerina Karakassi lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen. 2000-2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Essen-Duisburg im Fachbereich Allgemeine und Vergleichende Literatur; seit 2005 ist sie Dozentin an der Universität Athen im Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur; seit 2018 ist sie Leiterin
Autorinnen und Autoren
des Postgraduierten Studiengangs »Deutsche Philologie. Theorie und Anwendungen« des Fachbereichs. 2010-2012 und 2017 war sie Humboldt-Stipendiatin an der Universität Konstanz (Gastgeber: Prof. Dr. Koschorke). Ihre Veröffentlichungen liegen im Bereich der Komparatistik, der Literaturtheorie, der deutschen Literatur in der Aufklärung und in der Moderne. Dr. Marieke Krajenbrink ist Lecturer in German and Comparative Literature an der Universität Limerick, Irland. Ihre Forschung fokussiert auf Intertextualität und Intermedialität, Memory Studies und Identitätsfragen in vergleichender Perspektive. Besondere Schwerpunkte reichen von österreichischer und internationaler Kriminalliteratur über die deutsche Romantik und die Rezeption Richard Wagners bis zu deutsch-irischen und niederländisch-irischen Literaturbeziehungen sowie zur deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie ist Mitglied des Zentrums für deutsch-irische Studien und Mitbegründerin des International Crime Genre Research Network und der Comparative Literature Association of Ireland (CLAI). Assist. Prof. Dr. Stefan Lindinger lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Literatur und Literaturgeschichte vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sowie deutsch-griechische Literatur- und Kulturbeziehungen insbesondere im 19. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichung: Jan Hus und die Hussiten in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte: August von Kotzebues ›vaterländisches Schauspiel‹ Die Hussiten vor Naumburg, in: Cezary Lipiński und Wolfgang Brylla (Hg.): Die Reformation 1517. Zwischen Gewinn und Verlust (Vandenhoeck & Ruprecht 2020). Prof. Dr. Jürgen Pelzer hat Germanistik, Komparatistik, Geschichte und Philosophie in Köln und Konstanz studiert. Ph.D. Madison, Wisconsin. Lehre in den USA, zuletzt als Professor und Chair für Comparative Studies in Culture and Literature in Los Angeles. Forschungsgebiete: Frankfurter Schule, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Bertolt Brecht, Nachkriegs- und Gegenwartskultur. apl. Prof. Dr. Heinz-Peter Preußer lehrt Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der allgemeinen und speziell in der Medien-Ästhetik, im Verhältnis von Literatur und Politik, in Studien zur Transmedialität, etwa zum Themenkomplex Gewalt, in der Film- und Fernsehwissenschaft sowie in der Mythos- und Gendertheorie. Zuletzt erschienen Genre-Störungen. Irritation als ästhetische Erfahrung im Film (mit Sabine Schlickers, Hg.), Schüren 2019, die Monografie Gender | Mythos. Antike und Gegenwart der Geschlechterverhältnisse, Königshausen & Neumann 2020 sowie der Band Mauerschau –
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Die DDR als Film. Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates (mit Dominik Orth, Hg.), de Gruyter 2020. Dr. Phil. Kosmas Raspitsos lehrt Philosophie an der Universität Patras in Griechenland. Er forscht und veröffentlicht hauptsächlich in den Bereichen Hermeneutik-Phänomenologie, Sprachphilosophie-Übersetzungstheorie und zu den deutschgriechischen Kulturbeziehungen. Prof. Dr. Αlexandra Rassidakis lehrt germanistische Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur der Aristoteles Universität von Thessaloniki. Studium der Germanistik und Romanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Promotion (1999) über die Gnosis in der Gegenwartsliteratur. Forschungsschwerpunkt: Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft, Mythos und Literatur, Phantastik in Bild und Text, Dystopische Fiktionen, Mentalitätsgeschichte, Gnosis und Gnostizismus, der abendländische Melancholie-Diskurs. Letzte Arbeit: Aus romantischer Perspektive: Georgios Vizyinos und die deutsche Romantik. Monografie (in griechischer Sprache, Athen 2019). Prof. em. Dr. Hans Bernhard Schlumm lehrt an der Ionischen Universität deutsche Sprache, Literatur und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts und der interkulturellen deutsch-griechischen Beziehungen. Letzte Publikationen: gemeinsam mit Andreas G. Kertscher: Das Land der Verheißung. Deutsche Einwanderer in Griechenland während des 19. Jahrhunderts. Paderborn: IFB 2017 und Mitherausgeber des Bandes: Deutsche Spuren in Griechenland. Athen: Verlag der Griechenlandzeitung 2018. Dr. Martin Schwarz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Politikwissenschaft an der Universität Vechta. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die europäische Integration, inter- und transnationale Kooperationsformen sowie die (vergleichende) politische Kulturforschung mit den Schwerpunkten USA und Deutschland. Letzte Veröffentlichung: Entwicklungszusammenarbeit im europäischen Vergleich, Hrsg. v. W. Gieler / M. Schwarz (LIT 2020). Dr. Konstantina Tsonaka hat Pädagogik und Germanistik an der Universität Athen studiert, wo sie auch zum Thema »Prünhild, Brunhild, Brünnhilde: Fremdheit und Androgynie im Lichte der Metamorphosen der Figur Brunhildes in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts« promoviert hat. Ιhre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, Gender Studies, Komparatistik und Literaturdidaktik. Letzte Veröffentlichung: »Zum Wander- und Studienleben Emanuel Geibels und Robert Waldmüllers auf klassischem Boden. Eine lyrische Beschreibung Griechenlands anhand von Reiseberichten, Erinnerungen
Autorinnen und Autoren
und Tagebüchern deutscher Eingewanderter«, in: M. Hofmann/ A. Antonopoulou/ T. Thraka (Hg.): Deutsche Griechenland-Diskurse und Griechisch-Deutscher Kulturtransfer (im Erscheinen). Prof. Dr. Martin Vöhler unterrichtet Gräzistik an der Aristoteles-Universität, Thessaloniki. Gastdozenturen in Kairo, London, München, Berlin. Mitherausgeber des Hölderlin-Jahrbuchs und der Hölderlin-Schriften (Fink). Forschungsschwerpunkte: Rezeption der antiken Literatur im 18. und 19. Jahrhundert, Poetik, Rhetorik, antikes und modernes Theater, Humanismus und europäischer Philhellenismus, Rhetorik der Verunsicherung. Jüngste Veröffentlichung: Strategies of Ambiguity in Ancient Literature, ed. with Therese Fuhrer/Stavros Frangoulidis (de Gruyter 2021). Julian Zimmermann forscht im Graduiertenkolleg ›Metropolität in der Vormoderne‹ der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der vormodernen Stadtgeschichte Roms, der Epigraphik und Numismatik, dem kommunalen Italien, Erinnerungskulturen und Antikenrezeption sowie der allgemeinen Geschichte des Mittelmeerraumes in der Vormoderne und im Speziellen der Kykladen. Zuletzt veröffentlicht: Die Antike zwischen Rom und Bozen – Antikenrezeption im italienischen Faschismus und deren Rolle für Herrschaftslegitimation, Italianisierungspolitik und Heroisierungsstrategien. Eine vergleichende Analyse, in: Tilg, Stefan / Novokhatko, Anna (Hg.): Antikes Heldentum in der Moderne: Konzepte, Praktiken, Medien (Rombach 2019); Sakraler Ritus »meets« Fremdherrschaftserinnerung. Die Mariä Himmelfahrt Feierlichkeiten auf der Ägäisinsel Tinos als Mnemotop zwischen orthodoxer Marienverehrung und Weltkriegserinnerung im Lichte der cultural turns, in: Albrecht, Monika (Hg.): Europas südliche Ränder (transcript 2020). Prof. Dr. Georgios Xiropaidis studierte Philosophie, Germanistik und Klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., wo er auch 1990 promovierte. Von 1997 bis 2010 lehrte er Sprachphilosophie, Geschichte der deutschen Philosophie und Literaturtheorie am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Athen. Von 2010 bis 2019 lehrte er Geschichte philosophischer und ästhetischer Ideen des 18. und 20. Jahrhunderts am Fachbereich für Theoretische Kunststudien der Athener Hochschule für Bildende Künste. Seit 2019 ist er Professor am Fachbereich für Politikwissenschaft und Geschichte der PanteionUniversität Athen, wo er Moralphilosophie, Philosophie der Politik und Kunstphilosophie lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kants praktische Philosophie, Phänomenologie (Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Levinas), Hermeneutik (Gadamer, Ricœur), Dekonstruktion, Ästhetik und Sprachphilosophie. Letzte Veröffentlichung: »Holzwege. Kants Ästhetik in der neugriechischen Philosophie«, in: G.
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Pissis (Ηg.): Deutschland und Griechenland im Spiegel der Philosophiegeschichte: Transfers im 20. Jahrhundert (Edition Romiosini / CeMoG 2018).
Literaturwissenschaft Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
Laboring Bodies and the Quantified Self October 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit August 2020, 432 S., kart., 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3
Claudia Öhlschläger (Hg.)
Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Juli 2020, 258 S., kart., 10 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4884-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4884-7
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 1 August 2020, 226 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-4944-4 E-Book: PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4944-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de