Linguistik I: Lehr- und Übungsbuch zur Einführung in die Sprachwissenschaft 9783111335858, 9783484251052


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German Pages 159 [160] Year 1990

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Table of contents :
0 Vorwort
1 Linguistik als Gesellschaftswissenschaft
1.1 Die gesellschaftliche Bedeutung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache
1.2 Linguistik und Soziolinguistik
1.3 Linguistische Didaktik
1.4 Literaturauswahl
2 Einführung in die Grundlagen der sprachlichen Kommunikation
2.1 Einfache Modelle der Kommunikation und des Zeichens
2.2 Kodierung
2.3 Übertragung
2.4 Dekodierung
2.5 Der wissenschaftliche Gegenstand der Linguistik
2.6 Erweiterung des Kommunikationsmodells
2.7 Literaturhinweise
3 Einführung in die Phonetik
3.1 Artikulatorische Phonetik
3.2 Akustische Phonetik
3.3 Zur auditiven Phonetik
3.4 Bibliographische Hinweise zur Phonetik
4 Einßhrung in die Phonemik
4.1 Der taxonomisch-strukturelle Ansatz
4.2 Phonemanalyse
4.3 Das Phoneminventar
4.4 Phonemverbindung
4.5 Aufgaben
4.6 Bibliographische Hinweise
5 Einßhrung in die Morphemik
5.1 Gegenstand und Methode
5.2 Grundbegriffe der Morphemanalyse
5.3 Analyseregeln
5.4 Klassifikation der Morpheme
5.5 Literaturhinweise
6 Einßhrung in die Syntax
6.1 Konstituentenstruktur versus Satzerzeugung
6.2 Oberflächenstruktur - Tiefenstruktur - Transformation
6.3 Implikationen eines generativ-transformationellen Sprachmodells
6.4 Die Hauptkonstituenten des Satzes und ihre Funktionen
6.5 Satztypen
6.6 Die Konstituenten der Nominalphrase
6.7 Die Konstituenten der Verbalphrase
6.8 Die formalen grammatischen Kategorien
6.9 Lexikon und Merkmalkomplexe
6.10 Literaturhinweise
7 Lösungen der Aufgaben
8 Sprachwissenschaftliche Auswahlbibliographie
9 Sachregister
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Linguistik I: Lehr- und Übungsbuch zur Einführung in die Sprachwissenschaft
 9783111335858, 9783484251052

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Germanistische Arbeitshefte

5

Herausgegeben von Otmar Werner und Franz Hundsnurscher

Linguistik I Lehr- und Übungsbuch zur Einführung in die Sprachwissenschaft

Autorengruppe: Hans Bühler, Gerd Fritz, Wolfgang Herrlitz, Franz Hundsnurscher, Bernd Insam, Gerd Simon, Heinrich Weber

6., unveränderte Auflage

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Vorwort der Herausgeber zur 1. Auflage Mit diesem Heft stellen wir innerhalb der Reihe „Germanistische Arbeitshefte" einen ersten hochschuldidaktischen Versuch vor, der unmittelbar als Leitfaden für Einfuhrungsproseminare dienen kann. Es wäre zu begrüßen, wenn dadurch auch die Diskussion über die Auswahl des Lehrstoffes, der im Rahmen des Germanistikstudiums zur Einführung in die Sprachwissenschaft geeignet ist, angeregt würde. Das „Lehr- und Übungsbuch Linguistik I " lehnte sich zunächst enger an meine ( 0 . Werner) Einführungsvorlesung vom Wintersemester 1968/69 an; in den folgenden Semestern ging eine Gruppe von Lehrenden am Deutschen Seminar, Tübingen, daran, diese Darstellung des Stoffes zu einem Unterrichtsmittel in den Proseminaren weiterzuentwickeln und zu verselbständigen. Während die als Heft 1 der Arbeitshefte in bearbeiteter Form erschienene Vorlesung vor allem für den linguistisch Interessierten gedacht ist, der sich selbständig einlesen und einarbeiten möchte, ist das „Lehr- und Übungsbuch Linguistik I " vor allem für den akademischen Unterricht vorgesehen; d. h. es bedarf der ergänzenden Erläuterungen des Dozenten und der weiterführenden Diskussion in den Seminarsitzungen, um den hier in gedrängter Form gebotenen Lehrstoff zu entfalten. Beim gegenwärtigen Stand der Linguistik in Deutschland scheint der strukturalistische Ansatz auch weiterhin fur eine Einführung gut geeignet zu sein, bildet er doch eine der Grundlagen und einen möglichen Zugang zu den generativ-transformationellen Grammatik-Modellen, welche zur Zeit die Forschungsdiskussion beherrschen. Otmar Werner

Franz Hundsnurscher

Bemerkungen zur 3. Auflage und zu deren Nachdrucken Wie die starke Nachfrage zu beweisen scheint, kann „Linguistik I " seinen Zweck als Einführungsbuch in mehrerer Hinsicht erfüllen und der hier eingeschlagene Weg über die strukturellen Analysen dürfte auch weiterhin gangbar und von Nutzen sein. Die unterschiedliche Kritik an „Linguistik I " und die allgemeine linguistische Diskussion der letzten Jahre haben eine Reihe von wichtigen Aspekten aufgezeigt, die in diesem Einführungsbuch bei weitem nicht hinreichend berücksichtigt sind. Die Autorengruppe sieht sich aber schon allein aus Gründen der individuellen Arbeitsbelastung nicht in der Lage, jetzt rasch eine gründliche Überarbeitung vorzunehmen. Zudem fragt es sich, ob nicht eine Alternative mit einem neuen Ansatz und einem andersartigen Vorgehen versucht werden sollte. Die Herausgeber haben einer 3. Auflage und deren Nachdrucken zugestimmt, auch wenn sich die zeitweilig geplante Fortführung von „Linguistik II" nicht realisieren ließ. Viele der neueren Entwicklungen und Erweiterungen der Linguistik, nach denen die Sprache vor allem als Kommunikationsmittel mit ihren semantisch-pragmatischen Aspekten im Zentrum steht und die in die Sozio-/Psycholinguistik und Sprachdidaktik weisen, sind als Germanistische Arbeitshefte in Einführungsform vorgelegt worden und werden im laufenden Programm weiter erarbeitet. Februar 1983 O.W.

F.H.

Inhaltsverzeichnis

0

Vorwort

1

1 1.1

3

1.2 1.3 1.4

Linguistik als Gesellschaftswissenschaft Die gesellschaftliche Bedeutung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache Linguistik und Soziolinguistik Linguistische Didaktik Literaturauswahl

3 16 19 22

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Einführung in die Grundlagen der sprachlichen Kommunikation Einfache Modelle der Kommunikation und des Zeichens Kodierung Übertragung Dekodierung Der wissenschaftliche Gegenstand der Linguistik Erweiterung des Kommunikationsmodells Literaturhinweise

24 24 29 33 34 36 40 42

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Einführung in die Phonetik Artikulatorische Phonetik Akustische Phonetik Zur auditiven Phonetik Bibliographische Hinweise zur Phonetik

44 44 52 59 59

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Einführung in die Phonemik Der taxonomisch-strukturelle Ansatz Phonemanalyse Das Phoneminventar Phonemverbindung Aufgaben Bibliographische Hinweise

60 61 62 66 67 69 69

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Einführung in die Morphemik Gegenstand und Methode Grundbegriffe der Morphemanalyse Analyseregeln Klassifikation der Morpheme Literaturhinweise

6 6.1 6.2

Einführung in die Syntax Konstituentenstruktur versus Satzerzeugung Oberflächenstruktur - Tiefenstruktur - Transformation

. . . .

.

70 70 75 79 86 96 98 98 100 V

6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10

Implikationen eines generativ-transformationellen Sprachmodells . . . . Die Hauptkonstituenten des Satzes und ihre Funktionen Satztypen Die Konstituenten der Nominalphrase Die Konstituenten der Verbalphrase Die formalen grammatischen Kategorien Lexikon und Merkmalkomplexe Literaturhinweise

102 105 106 108 109 112 117 119

7

Lösungen der Aufgaben

121

8

Sprachwissenschaftliche

9

Sachregister

VI

Auswahlbibliographie

140 151

0

Vorwort

Die moderne Linguistik hat nun auch in Deutschland an den Universitäten Fuß gefaßt. Wir legen deshalb mit diesem Einführungsbuch in die Linguistik einen in Gemeinschaftsarbeit geschaffenen Versuch vor, dem folgende Zielvorstellungen zugrundeliegen: (a) Wir möchten den Studienanfängern an der Universität und an den Pädagogischen Hochschulen, sowie interessierten Lehrern die Möglichkeit geben, sich in moderne Grammatiktheorien einzuarbeiten. (b) Wir stellen dem linguistischen Teil ein Kapitel voran, das grundsätzliche Fragen über die verschiedenen Relevanzaspekte dieser Wissenschaft aufwirft. Außerdem sollen einige Anwendungsgebiete für die hier aufgezeigten Theorien und Methoden skizziert werden, die von vornherein auf den Charakter der Linguistik als Gesellschaftswissenschaft im weitesten Sinne hinweisen. (c) Bei der Anlage des Buches haben wir einige hochschuldidaktische Verfahren mit einbezogen: Wir fügen am Ende eines jeden Kapitels einen Aufgabenteil an, in dem der Leser seine Lernfortschritte selbst kontrollieren kann. Rückmeldung über den Lernerfolg gibt der Anhang, in dem Lösungsvorschläge zu den einzelnen Aufgaben gemacht werden. (d) Es war nicht unsere Absicht, ein methodenpluralistisches Panorama der heutigen Linguistik zu entwerfen. Wir sind vielmehr der Meinung, daß die transformationelle Grammatik z. Zt. die beschreibungsadäquateste linguistische Theorie ist (s. Kap. 6). Wir führen über den Strukturalismus zu der transformationellen Grammatik hin. Dies hat zwei Gründe: Der Strukturalismus bereitet die Grundlagen für die transformationeile Grammatik auf (s. Kap. 5). Weiterhin bietet es sich aus didaktischen Gründen an, einige grundlegende Methoden der Linguistik innerhalb der strukturalistischen Grammatiktheorie einzuführen, da sie dort relativ leicht durchschaubar werden. (e)

Eine didaktische Überarbeitung und Auswahl eines Lehrstoffes bringt immer Schwierigkeiten mit sich, da der reine Fachwissenschaftler befürchtet, die fachspezifische Information könne durch einen didaktischen Zugriff verfälscht werden, während der Didaktiker glaubt, daß die didaktische Auswahl nicht konsequent genug durchgeführt werde. Wir schließen hier kaum Kompromisse, da sich diese Gegensätze für hochschuldidaktische Bemühungen fruchtbar auswirken sollen. Noch einige Bemerkungen zur Vorgeschichte dieses Buches: Die Autoren — Linguisten und ein päd. Psychologe — arbeiten seit mehreren Semestern an der Verwirklichung hochschuldidaktischer Zielvorstellungen. Die Vorfassung dieses Buches lag im SS 70 den Einfuhrungsseminaren in die Linguistik zugrunde. Dabei wurde das Meinungsbild der Studenten durch Fragebögen erhoben und durch Seminarkritik ergänzt. Auf der Grundlage dieser Daten haben wir die vorliegende Fassung erarbeitet. Dieser Versuch würde am stärksten

1

gefördert werden, wenn die Benützer uns ihre Erfahrungen und Kritik zugänglich machten. Viele Änderungen wären nicht zustande gekommen, wenn die Studenten nicht kritisch bei der Verbesserung dieses Buches mitgeholfen hätten. Wir danken besonders Herrn Heinz Weber und Herrn Albrecht Gsell, die bei der Überarbeitung der Vorfassung mitgeholfen Tübingen im September 1970

Vorwort zur zweiten Auflage

Früher als erwartet ist eine Neuauflage notwendig geworden. Die Veränderungen erstrecken sich in der Hauptsache auf die Korrektur von Druckfehlern und die Behebung technischer Mängel. Die Kritik an „Linguistik I " setzte vor allem an zwei Stellen ein: 1. an der Intention und am Inhalt des „Relevanzkapitels" und 2. an der mangelnden Verzahnung des 6. Kapitels (Syntax) mit den vorangehenden Kapiteln. Der Anfang von Kap. 6. wurde daher überarbeitet; über die Veränderungen, die an Kapitel 1 vorzunehmen wären, konnte in der Autorengruppe keine völlige Einigung erzielt werden. Wir sind von dem Gedanken einer Kollektiwerantwortung für „Linguistik I" abgekommen; die Bearbeiter der einzelnen Kapitel sind: Gerd Simon (Kap. 1.1); Hans Bühler (Kap. 1.2 und 1.3); Wolfgang Herrlitz (Kap. 2 und Kap. 3); Bernd Insam (Kap. 4); Heinrich Weber (Kap. 5); Franz Hundsnurscher (Kap. 6); Gerd Fritz hat an den Team-Diskussionen teilgenommen und an der Vorbereitung der Neuauflage mitgearbeitet.Verbesserungsvorschläge und kritische Einwände haben wir dankbar aufgegriffen und, soweit es sich in der kurzen Zeit machen ließ, eingebaut. In diesem Zusammenhang möchten wir unseren besonderen Dank aussprechen Herrn Professor Werner Abraham, Groningen, Herrn Professor Klaus Matzel, Regensburg, Herrn Professor Wolfgang P. Schmid, Göttingen, Herrn Dr. J. M. Meisel, Frankfurt/M., Frau Dr. Gisela Igloffstein-Brämer, Hamburg, sowie allen Damen und Herren, die sich an der Fragebogenaktion des Verlags Niemeyer beteiligt haben, und den Teilnehmern an den Diskussionen über „Linguistik I" in den Sitzungen des Tübinger Linguisten-Zirkels im Wintersemester 1970/71. Tübingen, April 1971

2

1

Linguistik als Gesellschaftswissenschaft

1.1

Die gesellschaftliche Bedeutung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache

1.11

Didaktische

Vorbemerkungen

Wer ohne umfangreiche Vorkenntnisse sich mit einem Forschungszweig, wie ihn die Linguistik darstellt, beschäftigen will, möchte in der Regel erst einmal grundsätzlich wissen, wozu diese Beschäftigung eigentlich gut ist. Zumindest diejenigen, die eine nicht nur oberflächliche politische Bildung erfahren haben, werden sogar darauf bestehen, daß Lehrende erst einmal Sinn und Zweck des Lehrinhalts aufzeigen, bevor sie ihn selbst darbieten. Die unkritische Einstellung, „sich erst einmal auf etwas einzulassen", hat - wie sich denken läßt — erhebliche politische Implikationen. Wer als Lehrender eine solche Einstellung fordert und sich weigert, vor aller Wissensvermittlung die Bedeutsamkeit seines Lehrgegenstandes aufzuzeigen, muß sich außerdem im klaren sein, daß er damit direkt oder indirekt eine „Vogel-friß-oder-stirb"-Didaktik vertritt, die in der pädagogischen Fachwelt von niemandem vertreten wird, und die auch niemand aus pädagogischen oder demokratischen Gründen vertreten kann. Dieses Kapitel möchte anhand einiger Hauptantworten auf diese Frage exemplarisch die Relevanz der in den Kapiteln 2 - 6 dargestellten linguistischen Methoden erörtern. Die gleiche Funktion haben die beiden nachfolgenden Kapitel über Konzepte aus den Bereichen der Soziolinguistik und linguistischen Didaktik. In diesem Relevanzkapitel bieten wir bewußt mehrere Antworten. Verständnis ist nur möglich, wenn man auswählen kann, wenn dem „audiatur et altera pars" stattgegeben wird, wenn man nicht gezwungen wird, alles durch e i n e Brille zu sehen. Die Freiheit zur Kritik ist eine wesentliche Voraussetzung auch und gerade für wissenschaftliches Arbeiten. Die „Vogel-friß-oder-stirb"-Didaktik ist also nicht nur ein anti-pädagogisches und anti-demokratisches, sondern auch ein anti-wissenschaftliches Prinzip. Um die Meinung durch unsere Urteile nicht vorschnell - die Unkenntnis von Lesern ausnutzend - in eine bestimmte Richtung zu lenken, haben wir dementsprechend unseren eigenen Standpunkt in diesem Kapitel nicht als solchen besonders markiert. Diese „pädagogische" Einstellung fiel uns umso leichter, als wir in diesen Fragen ohnehin nicht völlig konform gehen. Bei der relativ großen Zahl und dem Umfang der linguistischen Theorien, die bislang hervorgebracht wurden, wird es nicht überraschen, wenn wir uns für die Darstellung linguistischen Arbeitens stattdessen auf wenige, von uns bevorzugte Beispiele beschränken und diese ausführlicher und im Zusammenhang behandeln. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in der Linguistik die Relevanzfrage nur sehr selten gestellt und diskutiert wurde. Offensichtlich wurde auch nicht sehr oft unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Bedeutung Linguistik betrieben. Die Gründe dafür wären in einer eigenen 3

Studie darzulegen. Wir sehen die Aufgabe, die Bedeutsamkeit der hier dargelegten Methoden aufzuzeigen. Eine Einfuhrung kann jedoch diese Mängel nicht in einem Anlauf beheben. Die „kritischen Anmerkungen" am Schluß der Abschnitte dieses Kapitels sind als Anregungen zum kritischen Durchdenken der referierten Standpunkte gedacht. Es handelt sich also nur gelegentlich um Kritik, die einzelne der Autoren vorzubringen hätten. Wir bringen dabei einige Einwände, die aus anderen — meist vorher oder später referierten Blickwinkeln möglich sind. Um der Kürze und des „Anregungscharakters" willen haben diese zumeist die Form von Fragen. 1.12

Die Hauptantworten auf die Relevanzfrage

Daß die Beschäftigung mit der Sprache nicht ganz bedeutungslos sein kann, erhellt schon aus drei Tatsachen: (1) daß seit Ρ e i r c e (1868) und endgültig seit W i t t g e n s t e i n (1921) kein Thema die Philosophie so zentral beherrscht wie das der Sprache, (7Λ daß einer der mächtigsten Politiker unseres Jahrhunderts, nämlich Stalin, sich mit linguistischen Fragen beschäftigt und unter seinem Namen linguistische Veröffentlichungen herausgebracht hat, (3) daß in den Naturwissenschaften, besonders aber in den technischen und biologischen Wissenschaften, seit 1948, dem Jahr der Entwicklung der Informationstheorie durch S h a n n o n und der Kybernetik durch W i e η e r , die Mathematisierung eines so zentralen linguistischen Begriffs wie „Information" zweierlei ermöglichte: (a) die Konstruktion von elektronischen Rechenanlagen. (b) das Verständnis von Leben aus der Materie. Sie verursachte damit eine Revolution, die die durch die Maschine hervorgerufene, industrielle Revolution im vorigen Jahrhundert schon jetzt in den Schatten stellen dürfte. Sieht man von dieser augenfälligen Bedeutung der Sprache und ihrer Erforschung für Philosophie, Politik und Naturwissenschaft ab, so studiert man diese kommunikative Hauptfunktion des Menschen wohl hauptsächlich aus zwei Gründen: (1) zur Optimierung der Verständigung unter den Menschen, (2) zur Durchleuchtung gesellschaftlicher Verhältnisse. 1.121

Optimierung der Verständigung

Einer der Hauptgründe, warum man zumindest in der Vergangenheit Linguistik studierte, war sicher das negative Erlebnis des Nichtverstehens, des Falschverstehens bzw. des Scheinverstehens. Viele Konflikte im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich kann man wenigstens vordergründig auf diese Phänomene zurückführen. Verstehen hängt offensichtlich sehr eng mit Sprache zusammen. Wie aber funktioniert Sprache? Je mehr man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet, desto verwunderter muß man feststellen, wie kompliziert sie gebaut ist, und was sie trotzdem oder vielleicht gerade deswegen alles leistet. Wie bringt sie das zuwege? Und was passiert, wenn sie einmal nicht funktioniert oder anders funktioniert, als man es wünscht, und manchmal so, daß man es gar nicht merkt? Was gerät bei der Sprache gleichsam aus der Fassung, wenn man sich mißversteht? Und wie kann man das reparieren? Besonders die letzte Frage hat sich auch die Sprachphilosophie zentral gestellt: Wie

4

kann die Verständigung zumindest unter den Wissenschaftlern verbessert werden? Wie kann man unwahre Sätze und Aussagen vermeiden? Wie entgeht man den Fallstricken der Sprache? Auf diese Frage sind in der Sprachphilosophie bislang vier Hauptantworten gegeben worden: (1) Ausbau der Kommunikationsmöglichkeiten (2) Konstruktion einer Idealsprache (3) Sprachkritik (4) Erweiterung des Verstehenshorizonts 1.1211

Ausbau der Kommunikationsmöglichkeiten (Behaviorismus, Semiotik)

Nehmen wir einmal an, zwei Physiker hören sich die Töne eines Geigerzählers in der Nähe von Urangestein an und führen dann ein Fachgespräch über sie. Nehmen wir weiterhin an, zwei Linguisten nähmen dieses Gespräch auf Tonband auf und führten über die Töne dieses Gesprächs ein Fachgespräch. Physiker und Linguisten unterhalten sich also jeweils über Töne. Tun sie prinzipiell das gleiche oder etwas Grundverschiedenes? Töne des Geigerzählers

Der Linguist könnte natürlich wie ein Physiker vorgehen - und die behavioristischen Richtungen vor allem in der Psycholinguistik ( S k i n n e r u. a.) versuchen das sogar - und er würde dann vielleicht feststellen, daß die Aufeinanderfolge der Töne der Objektsprache unregelmäßiger ist. Eine solche unregelmäßige Aufeinanderfolge von Tönen ließe sich aber auch herstellen, indem man den Geigerzähler z.B. in unregelmäßigen Abständen zum Urangestein hin- und wieder wegführt. Er könnte andere Unterschiede feststellen (ζ. B. in den Tonfrequenzen, - h ö h e n , - f ä r b e n ) . Alle diese Unterschiede lassen sich aber auch auf rein physikalischem Wege erzeugen mit Instrumenten, die bei richtiger Bedienung menschliche Sprachlaute täuschend echt imitieren können. Auch der Hinweis auf die verschiedenen Kontexte der Töne (Uran bzw. Physiker) und ihre Unterscheidung (etwa ziellos-zielgerichtet) verfängt nicht, da die Kybernetik inzwischen zielgerichtete Maschinen (ζ. B. Thermostat) in Fülle entwickelt hat. Noch weniger trifft die Unterscheidung „unfrei"—„frei" den Kern der Sache. Einen gewissen Freiheitsgrad kann man auch bei den Tönen des Geigerzählers beobachten; denn sonst würden die Strahlungen, die die Töne im Geigerzähler hervorrufen, in genau den gleichen Abständen erfolgen. Die physikalischen Naturgesetze — das weiß man seit Ρ 1 a η c k 's Quantentheorie - sind nur Grenzfälle statistischer Naturgesetze, bei denen lediglich der Freiheitsgrad so gering ist, daß man ihn mit unseren groben Meßinstrumenten gewöhnlich nicht mehr feststellen kann. Andererseits ist auch die Freiheit bzw. der Handlungsspielraum des Menschen nicht unbegrenzt groß. Die quantitative Psychologie hat den Nachweis erbracht, daß auch das menschliche Verhalten Gesetzen folgt wie sie in der Natur begegnen, allerdings 5

mit größerem Spielraum. Stellt man sich konsequent auf den Standpunkt des Physikers, dann wird man zwischen den Tönen des Geigerzählers und denen des Physikergesprächs keine grundsätzlichen Unterschiede entdecken können, es sei denn, sie seien quantitativer Natur. Nur am Rande sei vermerkt, daß auch der Behaviorismus diesem konsequenten Monismus nicht voll entspricht (s. vor allem die Kritik bei H a b e r m a s ), ihm aber von allen wissenschaftlichen Richtungen, die sich mit Sprache befassen, am nächsten kommen dürfte. Ein derart konsequent monistischer (d. h. aus e i η e m Prinzip abgeleiteter) Materialismus hat den großen Vorteil einer wissenschaftstheoretischen Einheitlichkeit. Jede Herleitung der Welt aus zwei und mehr Prinzipien ist — wenn sie nicht komplementär zueinander in Beziehung gebracht werden — philosophisch unbefriedigend. Monismen leiten die Welt zwar aus einem Prinzip her, aber sie haben den Nachteil, daß sie viele Phänomene unerklärt lassen müssen, nur weil die Forschungstechniken noch zu grob sind, um diese auf das Grundprinzip zu beziehen. Ist das Grundprinzip relativ einfacher Natur wie die Materie, so kann an Phänomenen komplexer Natur (wie das der Sprache) grundsätzlich immer nur die materielle Seite (die Lautkette) untersucht werden, also das, was man mit den relativ groben Forschungstechniken der Physik heute gerade noch erforschen kann. Das, was an diesen Phänomenen für den Menschen gerade relevant ist, bleibt unerforscht und wird in extremen Fällen sogar als Täuschung hingestellt. Es fragt sich, ob es nicht strategisch klüger wäre, wenn man die Erforschung der Welt von zwei oder mehreren Seiten her in Angriff nähme und ζ. B. für komplexere Gebilde eigene, auf diese Gegenstände zugeschnittene Forschungstechniken zuließe. Tatsächlich hat man das selbst in der Physik schon lange getan. Die Elektrizität wurde jahrhundertelang untersucht und die wichtigsten Gesetze in diesem Bereich waren längst bekannt, bevor man das Phänomen selbst überhaupt erst monistisch erklären konnte. Nach dieser Wissenschaftsstrategie wäre es erlaubt, mit Ρ e i r c e , dem Begründer der S e m i o t i k oder Zeichentheorie, Zeichensystemen, wie der Sprache, unter den möglichen Gegenständen wissenschaftlichen Forschens eine Sonderstellung einzuräumen, ohne das (vorerst) monistisch begründen und erklären zu können. Nach Ρ e i r c e haben Zeichen eine besondere triadische Struktur, d. h. für sie sind mindestens drei Faktoren konstitutiv: (1) Die S p r e c h e r oder Benutzer der Zeichen (2) Der Z e i c h e n k ö r p e r oder der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck des Zeichnens (3) das B e z e i c h n e t e oder das, worauf sich der Sprecher bezieht. Diese drei Faktoren stellt Peirce in einem Dreiecksmodell dar: Bezeichnetes Sprecher

Zeichenkörper

Die Disziplin der Semiotik, die sich mit allen drei Faktoren beschäftigt, nannte Peirce P r a g m a t i k . Abstrahiert man vom Sprecher, was nur in der Theorie möglich ist, und konzentriert sich auf Zeichenkörper und Bezeichnetes, so bewegt man sich im Bereich der S e m a n t i k im Peirceschen Sinne. Untersucht man nur die Zeichenkörper und ihre Beziehungen zueinander, so treibt man S y n t a x oder Syntaktik. Dieses Zeichenmodell - es

6

sei wiederholt — leistet keine monistische Erklärung des Phänomens des Zeichens. Wie eine Lautfolge oder eine Buchstabenkette dazu kommt, etwas zu bezeichnen oder zu bedeuten, ist damit nur umgangssprachlich beschrieben, nicht materialistisch erklärt. Peirce ist der Meinung, daß in unserem Beispiel am Eingang des Kapitels die Linguisten etwas prinzipiell anderes tun als die Physiker, wenn sie Töne analysieren. Er verfährt also zweigleisig oder dualistisch. Das Zeichen nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Gegenstände möglichen Forschens ein. Das bedeutet soviel wie: Solange ich es mit streng naturwissenschaftlichen Methoden zu analysieren trachte, gerät mir gerade das Besondere am Zeichen, seine eigene Leistung, aus dem Blick. Bei der Analyse von Zeichen bin ich also auf einen besonderen Zugang angewiesen. Ich muß als linguistischer Beobachter offenbar — metaphorisch gesprochen — in die Struktur des Zeichens springen, bevor ich mit der Analyse beginnen kann. Die Voraussetzung einer solchen linguistischen Analyse sprachlicher Zeichen und ihrer Bedeutungen ist, daß ich als Beobachter schon weiß, was das Zeichen bedeutet. Ich setze damit voraus, was erst untersucht werden soll. Die linguistische Sprachanalyse bewegt sich also in einem Zirkel. Das gilt natürlich auch, wenn der Linguist sich statt bei seinem „Sprachgefühl" bei einem „native speaker" hinsichtlich der Tatsächlichkeit seiner Erkenntnisse rückversichert (s. Kap. 6). Erforscht man Gegenstände im Bewußtsein, daß man sich dabei in einem Zirkel bewegt, so kann dieses Bewußtsein zu unterschiedlichen Reaktionen fuhren: (1) Man betrachtet den Zirkel als vorläufig notwendiges Übel und achtet peinlich darauf, daß der Einfluß des beobachtenden Ichs nicht noch größer wird. Diese wissenschaftstheoretische Konzeption vertreten Semiotik und logischer Empirismus (s. Kap. 1.121.2). (2) Man sucht sich durch Kritik an der Sprache den schwerwiegendsten Folgen dieses Zirkels zu entziehen. Das ist die Position des älteren Wittgenstein (s. Kap. 1.121.3). (3)

Man macht den Zirkel zu einer Tugend und stellt das beobachtende Ich bewußt in den Mittelpunkt der Analyse. Das ist die Konzeption der Hermeneutik und in anderer Weise der Psychoanalyse (s. Kap. 1.121.4).

In der Semiotik als Teildisziplin der Kommunikationswissenschaft wurden dabei folgende erkenntnisleitenden Hauptinteressen wirksam: (1)

Entwicklung einer systematischen S p r e c h - u n d H ö r e r z i e h u n g , nicht nur zur Beseitigung von Sprechstörungen. Erste Experimente lassen auch vermuten, daß die Entfaltung der kindlichen Intelligenz erheblich von der Beherrschung der Sprechorgane und der Selektionsfähigkeiten bei der Aufnahme von Nachrichten abhängt.

(2)

Ermöglichung einer automatischen Ü b e r s e t z u n g per Computer.

(3)

Förderung der s p r a c h i n t e r n e n K o m m u n i k a t i o n ; Untersuchung der Faktoren, die zu Kommunikationskonflikten und -abbrüchen führen, und die die Kommunikationsfreude und -qualität erhöhen. Dazu gehören Fragen, die auch die Erzieher in hohem Maße angehen: Welche Sprache sorgt bei welchem Gesprächsstoff und bei der Übernahme welcher sozialen Rolle für optimalen Kommunikationsfluß? Welche Sprache gehört zu welchem Denkstil, welche zu welchem Weltverständnis, usw.?

7

Kritische Anmerkungen Könnte es nicht sein, daß die Sonderstellung von Zeichen von selbst verschwindet, wenn man die Zeichen nicht so stark aus dem sprachlichen und sozialen Kontext herausreißt, wie es die Semiotik tut? Müßte man sich nicht, bevor man die Ziele vor allem der sprach internen Kommunikation in Angriff nimmt, bevor man überhaupt wissenschaftliche Analysen in den sprachlichen und semiotischen Disziplinen startet, erst einmal vergewissern, in welchem gesellschaftlichen Rahmen das geschieht? Könnte es nicht sein, daß diese Forschungen, für vom Wissenschaftler durchaus nicht erwünschte Zwecke, systematisch mißbraucht werden? 1.1212

Konstruktion einer Idealsprache (logischer Empirismus)

Der logische Empirismus, der vor allem im sogenannten „Wiener Kreis" ( C a r n a p , P o p p e r u.a.) entwickelt wurde, starke Impulse von F r e g e , R u s s e l l und dem jungen W i t t g e n s t e i n empfing und die Transformationsgrammatik maßgebend beeinflußte, hat in der Relevanzfrage einen bemerkenswerten Standpunkt hervorgebracht. Er geht von dem dualistischen Zeichenmodell der Semiotik aus, radikalisiert aber die Sprachnorm in Richtung auf das Ziel , E x a k t h e i t ' . Alles, was nicht diesem Ideal der Exaktheit entspricht, was nicht durch geeichte empirische Methoden oder nach den Regeln der Logik als ,wahr' nachgewiesen werden kann, gilt als .Metaphysik'. Die meisten Sätze, die geschrieben wurden, gerade auch in der Philosophie und nicht nur in der vor Kant, sind nach dieser Bestimmung unsinnig. Die meisten Probleme, die man zu sehen glaubte, sind gar keine echten Probleme. Es ist die Umgangssprache, die uns diese Probleme aufgibt. „Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man von der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen." (Wittgenstein, Tractatus 4.002). Die Umgangssprache ist dadurch charakterisiert, daß dasselbe Wort verschiedene Dinge oder Sachverhalte bezeichnen kann (Η o mo η y m e) und daß umgekehrt verschiedene Wörter die gleiche Bedeutung haben können ( S y n o n y m e ) . Außerdem sind die Wörter häufig nicht klar definiert. Hier liegt die Hauptursache für all die metaphysischen Scheinprobleme und Scheinerkenntnisse, für Einbildungen und Selbsttäuschungen, irrationale Ängste und Hoffnungen. Um diesen Irrtümern zu entgehen, gilt es, eine I d e a l s p r a c h e zu entwickeln, die (1) Homonyme und Synonyme vermeidet, (2) in sich widerspruchsfrei ist, (3) die Welt bis in die letzten Relationen vollständig und exakt zu beschreiben vermag, (4) atomistisch aufgebaut ist, d. h. sich aus Elementarsätzen zusammensetzen läßt. Die Vorteile einer solchen einheitlichen Kunstsprache liegen auf der Hand. Es wäre dann nicht mehr zulässig, daß über die Wahrheit von Aussagen — wie noch heute in vielen Geisteswissenschaften üblich — die Eloquenz, die Suggestivität oder die hochschulpolitische Machtstellung ihrer Vertreter entscheidet. Die Wahrheit eines Satzes, einer Aussage oder einer Theorie wird vielmehr durch empirische Testverfahren und Analyse ihrer Logik ermittelt. Diesen radikalen Rückzug des logischen Empirismus auf empirisch überprüftes 8

und logisch gesichertes Wissen kann man tatsächlich als eine Art Übergang vom Faustrecht zur Gesetzlichkeit auffassen: Die Methode behandelt wegen ihrer Exaktheit prinzipiell alle Wissenschaftler, die sie akzeptieren, gleich, d. h. nach ihren Fähigkeiten, mit ihr umzugehen. Sie gestattet darüber hinaus einen sichtbaren Fortschritt der Erkenntnis und garantiert bei richtiger Verwendung die Veränderung der Welt in die gewünschte Richtung. Denn Exaktheit der Methode — das zeigen die Erfolge der Naturwissenschaften - ist für jede gezielte Veränderung die wichtigste Voraussetzung. Kritische Anmerkungen Was kann eine Idealsprache faktisch ändern? Kann man die Menschheit ändern, indem man ihre Sprache ändert? Warum wird nicht darüber reflektiert, wie es zur Umgangssprache mit ihren Irrtümern kam, und wie die Idealsprache in einer Welt mit zumeist ganz andersartigen Interessen durchgesetzt werden kann? Und was kann man bis zu diesem Fernziel anderes tun als warten? Besteht hier nicht außerdem die Gefahr der „ScheuklappenWissenschaftlichkeit", die an einem Forschungsgegenstand immer nur das sieht, was mit Hilfe der Verifikationsprozeduren exakt ermittelt werden kann, und alles andere, häufig vielleicht das Wichtigste, aus dem Blickfeld verdrängt? Sollte das, was in der Wissenschaft untersucht werden soll nicht vom Gegenstand und seiner Bedeutung für die Menschheit bestimmt werden anstelle von Methoden und Exaktheitsidealen, deren Bedeutung für die Menschheit ungewiß ist und sich erst in ferner Zukunft erweisen kann? Hat nicht gerade die Fetischierung der Exaktheit, wie sie in neopositivistischen Kreisen üblich ist, sehr metaphysische und irrationale Ursachen im Leben der betreffenden Wissenschaftler (ζ. B. Sicherheitsbedürfnis)? 1.1213

Sprachkritik (der ältere Wi ttgenstein)

Als Wittgenstein 1914 seinen Tractatus fertiggestellt hatte, glaubte er, in ihm „alle Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben" (Vorwort). Als er 1929 einen Ruf an die Universität Cambridge annimmt, vertritt er plötzlich eme Philosophie, die von der früheren verschieden ist. Das Konzept der Idealsprache ist Wittgenstein jetzt gründlich zerbrochen. Vor allem durchschaut er das Exaktheitsideal als logischen Mythos. „ ,Unexakt', das ist eigentlich ein Tadel, und .exakt' ein Lob. Und das heißt doch: das Unexakte erreicht sein Ziel nicht so vollkommen wie das Exakte. Da kommt es also auf das an, was wir ,das Ziel' nennen. Ist es unexakt, wenn ich den Abstand der Sonne von uns nicht auf 1 m genau angebe; und dem Tischler die Breite des Tisches nicht auf 0.001 mm? E i η Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen; wir wissen nicht, was wir uns darunter vorstellen sollen - es sei denn, du selbst setzt fest, was so genannt werden soll." (Philosophische Untersuchungen, 88).

D. h. zu große Exaktheit kann das Ziel genauso verfehlen wie zu große Unexaktheit. Was wir als ,exakt' auffassen, hängt offensichtlich von den Umständen der Situation, dem gesellschaftlichen Kontext und unseren Zielen ab. Wenn die Exaktheit Selbstzweck ist, muß ich mich ihr bis ins Unendliche (und damit ad absurdum) nähern. Die Anweisung: „Halte dich ungefähr hier auf!" kann unter bestimmten Umständen exakt genug sein, um ihren Zweck zu erfüllen. 9

Das gleiche gilt von der Exaktheit von Wortdefinitionen. In dem Satz ,.Moses hat nicht existiert" kann ich unter Moses sehr viel verstehen. Nehmen wir an, mit „Moses" sei der Mann gemeint, der Israel aus Ägypten geführt hat. Dann entstehen sofort die Fragen: „was nennst du »Ägypten1, wen ,die Israeliten' etc? Ja, diese Fragen kommen auch nicht zu einem Ende, wenn wir bei Wörtern wie ,rot',,dunkel', ,süß' angelangt sind." (Philosophische Untersuchungen, 87). D. h. wenn ich die Exaktheit als Selbstzweck betreibe, dann führt das zu einem regressus ad infinitum. Die Umgangssprache kann, selbst wenn sie sehr ungenau ist, exakt genug sein, um in einer Situation ihren Zweck zu erfüllen. Es ist also gar nicht erforderlich, eine Idealsprache zu konstruieren. Um die Mängel der Umgangssprache zu vermeiden, geftügt es, sie durch S p r a c h k r i t i k aufzudecken. Ich muß ja in jedem Fall voraussetzen, daß die Kommunikation im Kern funktioniert. Da kann sich die Reflexion über die Sprache darauf beschränken, dort therapeutisch einzugreifen, wo sie die Menschen irreleitet. Ein typisches Beispiel fur Sprachkritik im Sinne Wittgensteins haben wir soeben schon kennengelernt: Die Analyse des Begriffs „Exaktheit", wobei er die häufig aus dem Blick geratene Abhängigkeit dieses Begriffs von dem mit ihm verfolgten Zweck, also von dem betreffenden sprachlichen und sozialen Kontext herausarbeitet. Das sprachkritische Verfahren besteht im Wesentlichen darin, daß Wörter, die zu falschen Vorstellungen und Scheinproblemen führen, in sprachliche, soziale und situative Kontexte, sogenannte „Sprachspiele", gestellt werden, um auf diese Weise die durch sie bewirkte „Verhexung des Verstandes" aufzudecken. Der „Kardinalfehler" besteht nach Wittgensteins Meinung darin, daß man von diesen „Sprachspielen" abstrahiert, die Wörter aus ihren Kontexten reißt, aus ihnen eine Lexikon-Bedeutung präpariert, dann nach dem „Wesen" dieser Wörter fragt und sie zu definieren versucht. Was ein Wort bedeutet, kann nur im Gebrauch und nicht durch Abstraktion festgestellt werden. Da die designative Bedeutungstheorie, die dem Peirce'schen Zeichenmodell (s. 1.121.1) und seit Piaton fast allen sprachanalytischen Ansätzen zugrunde liegt, dualistisch von einer — gleichsam in das Gefäß des Zeichens gegebenen — Lexikonbedeutung ausgeht, lehnt Wittgenstein sie ab. Er stellt ihr seine operationale Bedeutungstheorie gegenüber, nach der die Bedeutung eines Wortes immer nur im Gebrauch erscheinen kann. Ich erlerne sie, indem ich, während das Wort ausgesprochen wird, auf den Gegenstand hingewiesen werde. Gelingt es, die volle Funktionsfähigkeit der Sprache durch kritische Reflexion von Wörtern in Sprachspielen auf gleichsam therapeutischem Wege wiederherzustellen, so sind nach Wittgensteins Auffassung prinzipiell alle Probleme gelöst.

Kritische Anmerkungen Ist nicht der Computer, den Wittgenstein nicht mehr erlebte, und der durch die technische Lösung der Aufgabe ermöglicht wurde, Bedeutungen zu speichern, also strikt von der Gefäßtheorie der Bedeutung her konstruiert ist, ein schlagender Gegenbeweis gegen Wittgensteins operationale Bedeutungstheorie? Sind die Probleme tatsächlich gelöst, wenn die Sprachkritik zu ihrem Ende kommt? Wittgenstein hat das große Verdienst, auf die Gefahren von Abstraktionen hingewiesen zu haben, vor allem der Abstraktion sprachlicher Zeichen von ihrem gesellschaftlichen Kontext. Verfällt er nicht selbst dieser unzulässigen Abstraktion, wenn er seine thera10

peutischen Bemühungen auf die Sprache beschränkt? Und darf man so völlig davon abstrahieren, d a ß die Sprache eine geschichtlich gewordene Größe ist, wie das Wittgenstein nicht nur im Tractatus, sondern auch in der Spätzeit tut? 1.1214

Erweiterung des Verstehenshorizonts (Hermeneutik, Psychoanalyse)

Neben den bisher referierten Sprachtheorien, die meist von naturwissenschaftlich orientierten Philosophen und Wissenschaftlern vertreten wurden, hat sich in den Geisteswissenschaften von Schleiermacher über Dilthey und Heidegger eine hermeneutische (d. h. auf den Verstehensvorgang gegründete) Sprachtheorie entwickelt, die heute in der Philosophie hauptsächlich von Gadamer vertreten wird und die in der Linguistik die Sprachinhaltsforschung hervorgebracht hat. Den Versuch der naturwissenschaftlich orientierten Sprachtheoretiker, Sprache in den von dieser Sprache zur Verfügung gestellten Kategorien objektiv zu beschreiben, oder im Einzelfall die Bedeutung von Wörtern methodisch durch Befragung meines „Sprachgefühls" zu ermitteln (also meines Vorwissens über diese Bedeutung), kann man mit dem Bemühen des Mannes vergleichen, der sich an den Haaren aus dem Sumpf ziehen will. Das ist aber nach Meinung der Hermeneutiker gar nicht erforderlich. Erreicht werden kann ohnehin nur eine allmähliche Erweiterung des Verstehenshorizonts. Zu einer solchen Erweiterung gehören folgende Momente: (1)

Bewußtmachung der eigenen V o r m e i n u n g gegenüber dem jeweiligen sprachlichen Text. (2) K o n t r o l l i e r u n g des eigenen Sprachgebrauchs. (3) Feststellung der D i f f e r e n z e n zwischen dem eigenen Sprachgebrauch und dem des Textes. (4) Ausarbeitung eines V o r e n t w u r f s vom Sinn des Textes. (5) Wiederbeginn mit (1). Diese Momente zeigen zugleich den Weg, wie man trotz des hermeneutischen Zirkels (vgl. 1.121.1) zu relativ gesicherter Erkenntnis gelangen kann. Dieser geisteswissenschaftliche Ansatz führte dazu, daß vor allem die historische Komponente der Sprache wieder in den Blick geriet. Sowohl der Behaviorismus, die Semiotik, der logische Empirismus als auch der ältere Wittgenstein hatten von der Historizität dieses Phänomens abstrahiert. Vom hermeneutischen Standpunkt aus kann die Sprache einer Sprachgemeinschaft als Spiegel ihrer Welterfahrungen und Ergebnis ihrer geistigen Akte in ihrer Geschichte aufgefaßt werden. „Hauptaufgabe der Sprachwissenschaft ist es daher, alle geltenden Inhalte einer Sprache . . . herauszuarbeiten und damit das Netz geistiger Bahnen bewußt zu machen, das jeder Teilnehmer dieser Sprache in sich trägt." (Hans Glinz: Ziele und Arbeitsweisen der modernen Sprachwissenschaft. Archiv f. d. Stud. d. neueren Sprachen u. Literaturen 115 ( 1 9 6 3 - 4 ) , 175.) Die Sprache der Alpenbewohner kann z.-B. dadurch gekennzeichnet werden, daß in ihrer engeren Welt nur die Gegenstände Namen tragen, die eine Funktion in ihrer Lebensform haben. Hier bietet sie sogar eine Vielfalt sehr differenzierter Ausdrücke. Manche Stellen der Bergwelt, die dem Touristen wichtig sind, sind in dieser Sprache dagegen ursprünglich nicht oder kaum artikuliert. Man kann das hermeneutische Verfahren als eine Technik verstehen, die eigenen Vorurteile zu überwinden, gegebenenfalls die Ordnung seines Weltverständnisses der Infrage11

Stellung durch eine sprachliche Erscheinung auszusetzen und sich durch sie verändern zu lassen, nur um die Sache selbst in ihrer Eigenart zur Geltung zu bringen. Freud setzt vor der Begründung der Psychoanalyse mit exakten, naturwissenschaftlichen Studien ein. Dennoch entwickelt sich die Psychoanalyse sehr schnell zu einem Verfahren mit erstaunlichen Parallelen zur Hermeneutik. Man kann das psychoanalytische Verfahren als konsequente und methodisch zugeschnittene Anwendung hermeneutischer Grundsätze auf das Spezialgebiet der Heilung psychopathologischer Erscheinungen auffassen. Der Patient wird durch eine besondere Dialogtechnik nach und nach in die Lage versetzt, eine Verfälschung der Bedeutung sprachlicher Vorstellungen zu verstehen, die nicht nur seiner Umwelt, sondern auch ihm selbst unverständlich sind. Der kleine Hans ζ. B., von dem Freud berichtet, hat Angst, daß ihn Pferde beißen könnten. Die Analyse ergibt: Er überträgt auf Pferde negative Merkmale seines Vaters um auf diese Weise unbewußt einen Konflikt mit seinen Eltern (Eifersucht gegen den Vater) abzuwehren. Solche „Verdrängungen" zeigen manchmal deutliche körperliche Symtome. Sie können also krankhafte, auf somatischer Ebene empirisch nachweisbare Folgen haben. Das Verstehen der tabuierten Ursache kann — durch den interpretierenden Psychoanalytiker sprachlich vermitteln — die krankhaften Symptome auf psychischer und somatischer Ebene ebenso nachweisbar wieder beseitigen. Von objektiver Erkenntnis spricht man in den Naturwissenschaften häufig, wenn sie eine vorhergesagte Veränderung der materiellen Basis hervorrufen kann. Nach den Erfolgen der Psychoanalyse kann dem Verstehensprozeß eine vergleichbare Objektivität nicht mehr abgesprochen werden. In der Psychoanalyse kann man aus dem Grunde eine Rechtfertigung der von den meisten Linguisten vertretenen dualistischen bzw. pluralistischen Wissenschaftsstrategie erblicken (vgl 1.121.1).

Kritische Anmerkungen Zwischen den oben aufgezählten Momenten des Verstehensprozesses und dem positivistischen Falsifikationsverfahren lassen sich äußerliche Ähnlichkeiten feststellen: I f ) Vormeinung - Hypothese. ( 2 ) Selbstkontrolle - Falsifikationstest. ( 3 ) Feststellung der Differenzen — Entscheidung, ob Hypothese bestätigt wurde oder nicht. ( 4 ) Vorentwurf — Modifizierung der Hypothese (bei Nichtbestätigung). Der Unterschied besteht darin, daß der Positivist einen Test anwendet, der das Untersuchungsergebnis intersubjektiv nachprüfbar macht, während der Hermeneutiker sich auf keinen Fall durch solche Testmethoden den Blick für die Sache selbst verstellen lassen will. Warum schlägt der Hermeneutiker die zusätzliche Möglichkeit der Selbstkontrolle durch ein intersubjektiv nachprüfbares Testverfahren in den Wind? Er muß doch auch kritisch gegenüber dem Ergebnis seiner Selbstkontrolle sein. Warum riskiert er durch diesen Verzicht, daß die Eloquenz, Suggestivität oder hochschulpoiitische Machtstellung bestimmt, welche Meinung sich durchsetzt? Beruht nicht die Unexaktheit im wissenschaftlichen Vorgehen, deren Zweckmäßigkeit nirgends zufriedenstellend begründet wird, auf Nachlässigkeit und damit auf mangelnder Selbstkontrolle? Die Hermeneutik abstrahiert zwar nicht schon in der Theorie von den konkreten Lebensverhältnissen. Wie ist es aber zu verstehen, daß hier die historisch wirksamsten Faktoren, die die Sprache 12

bestimmen, nämlich die sozialen und politischen bis vor kurzem eigentümlich ausgeklammert blieben? Muß nicht schon in der Theorie thematisiert werden, zu welchem Zweck der Verstehenshorizont erweitert werden soll? Muß nicht auch schon in der Theorie die kritische Auseinandersetzung mit d e m Gegenstand des Verstehens viel zentraler herausgearbeitet werden? So führt der hermeneutische S t a n d p u n k t in der Sprachwissenschaft nicht sehr viel über das humanistische „Erkennen als Selbstzweck" hinaus. Gehört nicht auch zur Kontrolle der Vormeinung des Wissenschaftlers die Bemühung, sich den biographischen, historischen, sozialen und politischen K o n t e x t bewußt zu machen, der ζ. B. die Auswahl der Gegenstände b e s t i m m t , die er verstehen will?

1.122

Durchleuchtung gesellschaftlicher Verhältnisse (kritische Theorie)

Wittgenstein hatte auf die zentrale Bedeutung des sozialen Kontextes aufmerksam gemacht. Aber er hat diesen sozialen Kontext nicht thematisiert. Die Hermeneutik hat mit Nachdruck die historische Komponente der Sprache herausgearbeitet. Aber sie weigerte sich, die Sprache im Zusammenhang eines objektiven Geschichtsbildes zu sehen. Die Psychoanalyse sah hauptsächlich den Zusammenhang zwischen den biografischen und den sprachlichen Erscheinungen der Menschen. Erst in jüngster Zeit entdeckt sie den bestimmenden Einfluß der Gesellschaft. Die kritische Theorie (für die Linguistik wichtig sind vor allem die Veröffentlichungen von H a b e r m a s ) geht alle diese drei bisher nicht begangenen Wege und nimmt dabei neben der Theorie Freuds vor allem die Theorien des Marxismus auf.

1.122.1 Die Funktion der Sprache in der Gesellschaft Es ist wichtig, Sprechen als eine Form sozialen Handelns zu erkennen. Der Begriff „soziales Handeln" kann aber selbst wieder als eine unzulässige Abstraktion aufgefaßt werden. Welche Faktoren bestimmen dieses Handeln am stärksten? Eine allgemeine, nicht weiter konkretisierte Antwort — wie sie Wittgenstein gibt — könnte zu Fehldeutungen führen. Man könnte meinen, der alles entscheidende Faktor sei die Intention der Individuen. Man könnte als zweiten Faktor die materiellen Gegebenheiten hinzunehmen. Das könnte zumindest die vielen Sprachstile ein und desselben Sprechers als Anpassungsformen an diese Gegebenheiten verständlich machen, die sich je nach der Rolle, die der Sprecher spielen will, wandeln. Sprache und Rollenverhalten werden tradiert und erlernt. Sie treiben den Sprecher gelegentlich zu ziemlich wirklichkeitsfremden Einstellungen, die früher in vergleichbaren Situationen sinnvoll waren, in dem Kontext einer veränderten Welt aber ihren Sinn verloren. So hatten — um ein extremes Beispiel vorzuführen — die Volksbräuche, die heute noch in manchen deutschen Dörfern zu Frühlingsanfang üblich sind, zur Zeit der Germanen als Fruchtbarkeitsriten eine Bedeutung, werden heute aber nur noch um der Tradition willen gepflegt. Sprache und Rollenverhalten sind also selbständige Faktoren neben den Intentionen des Sprechers und der Wirklichkeit, in der er lebt. Nach Habermas tradiert Sprache Sinngehalte, die gleichsam institutionalisiert werden und allein dadurch normativ verbindliche Kraft erhalten. Die Triebe und Intentionen des Sprechers kollidieren also nicht nur mit den ma-

13

teriellen Gegegebenheiten, sondern auch mit den in der Sprache tradierten Normen und Werten. Sprache ist also nicht nur eine Form sozialen Handelns, sondern auch ein Faktor, der dieses bestimmt, der es kanalisieren oder unterdrücken kann. Sprache ist also wie soziales Handeln eine Resultante aus sinnvollen Interaktionen mit der Wirklichkeit und reaktiven Zwängen durch die sprachlich überlieferten Normen. Freilich ist diese tradierte Sprache offenbar ihrerseits abhängig von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht in normativen Zwängen aufgehen. Welche der Normen wirksam werden, liegt nicht an diesen Normen, nicht an der Sprache, die sie überliefert, sondern an den jeweiligen Machtverhältnissen. Ja, Sprache hat hier umgekehrt eher dienende Funktion; sie dient zur Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt. Ein Studium der Sprache hätte danach also vor allem die Abhängigkeit sprachlicher Erscheinungen von folgenden Faktoren zu explizieren: (1 ) die individuellen Triebenergien und Intentionen (2) die materiellen Gegebenheiten (3) die sprachlich vermittelten Normen (4) die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Die Hauptaufgabe eines solchen Linguistikstudiums wäre nach dieser Auffassung die Durchleuchtung der Gesellschaftsverhältnisse. Würde es unreflektiert das Ziel der Optimierung der Verständigung übernehmen, würde es außer acht lassen, daß es — sei es als Forschung, sei es als Lehre — im Kontext eben dieser Machtverhältnisse steht. Es könnte von den Herrschenden und Besitzenden für deren Zwecke und Interessen umfunktioniert werden.

Kritische Anmerkungen Sind nicht diese Ansätze zu einer sozialwissenschaftlich orientierten Linguistik, die sich selbst nicht einer Abstraktion verdankt, entschieden zu kopflastig, insofern als sie eigentlich nur den K o n t e x t der Sprache, nicht die Sprache selbst analysiert? Bleibt nicht auch diese Theorie im Stadium bloßen Behauptens stecken? Sollte man nicht wenigstens den Hinweis auf die Notwendigkeit empirischer Überprüf u n g geben?

1.122.2 Emanzipatorische Spracherziehung Jede kapitalistische Gesellschaftsordnung beläßt nicht integrierten oder nicht integrierbaren sozialen Formen unzählige Enklaven. Selbstverständlich haben diese nicht integrierten Gesellschaftsgebilde eine andere Existenz, als wenn sie unter einer anderen Gesellschaftsordnung existieren müßten. Zu diesen nicht integrierten Bereichen gehören heute in den westlichen Ländern weitgehend noch verschiedene Erziehungssektoren. Manche marxistisch orientierten Forscher sind hier der Meinung, diese Enklaven sollte man systematisch zur Entwicklung emanzipatorischer Erziehungstechniken ausnutzen. Es ist bekannt, daß Arbeiter und ihre Frauen - mittelbar durch den Beruf, unmittelbar durch das sozioökonomische System bedingt — ihren Kindern sprachliche Zuwendungen von minderer Qualität und Quantität zuteil werden lassen (s. Kap. 1.2). Das führt zu einer Unterentwicklung der sprachlichen Fähigkeiten bei ihren Kindern. Diese Unterprivilegierung sollte 14

durch vorschulische und schulische Spezialerziehung „kompensiert" werden. Dieser Terminus ist unglücklich gewählt. Keinesfalls sollen die Unterschichtskinder durch diese Erziehung an die Norm der Mittelschichtskinder angeglichen werden. Sie sollen sich im Gegenteil „emanzipieren" und zu einer eigenen Lebensform finden. Die Ziele der Emanzipation sind in der Forschung allerdings nicht klar umrissen. Im Mittelpunkt dieser emanzipatorischen Erziehung für Arbeiterkinder steht die sprachliche Erziehung, da man herausgefunden zu haben glaubt, daß die Intelligenz des Menschen in hohem Maße mit der Beherrschung der sprachlichen Ausdrucksmittel korreliere. Ziel der Linguistik müßte nach dieser Theorie die Entwicklung und Erprobung von emanzipatorischen Spracherziehungstechniken sein.

Kritische Anmerkungen Wäre es nicht schon in der Theorie zu klären, auf welches Erziehungsziel hin die Arbeiterkinder konkret erzogen werden sollen, und wie diese später in den Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft bestehen sollen? Wäre es nicht wichtig, statt den bürgerlichen Intelligenzbegriff im wesentlichen zu übernehmen, einen eigenen Intelligenzbegriff zu entwickeln?

1.13

Gefahren der L inguistik

Eine Einführung in eine Wissenschaft sollte, wenn sie nicht verantwortungslos verfahren will, nicht nur deren positive Ziele aufzuzeigen versuchen, sondern auch ihre Gefahren. Und die Gefahren der Linguistik sind nicht zu unterschätzen. Die Linguistik wird im Verein mit Statistik, Psychologie und Soziologie, sowie mit verfeinerten Kommunikationsmitteln in absehbarer Zeit die totale Manipulation von Menschen ermöglichen, wobei hier unter Manipulation die Bestimmung von Menschen gegen das Interesse der Gesamtheit verstanden werden soll. Manche Zeitungskonzerne beschäftigen bereits solche Forschungsteams. Die zur Zeit betriebene Reklame und Propaganda ist sicher nur eine Vorform dieser totalen Manipulation. Gegenüber den verschiedenen anderen Formen der Gewaltanwendung, wie sie Physik, Biochemie und Psychotherapie erstellen, wird eine solche totale Manipulation sehr bald nicht mehr als gewaltsamer Eingriff in die Freiheit des Menschen diagnostiziert werden können. Nach den bisherigen Forschungen gilt, was zu erwarten war: Sprache hat repressiven Charakter. Sie kann Menschen im wesentlichen nur in ihren Überzeugungen befestigen. Verändern kann sie nur, wenn sie das Neue gleichsam in den Schatten des Alten stellt, also mehr oder weniger unterschwellig verfährt. Schon aus dem Grunde muß die Entwicklung von Manipulationsmethoden den konservativen Kräften zugute kommen. Man kann aus diesen Umständen vom Standpunkt der kritischen Theorie den Schluß ziehen, sich nicht weiter an der Erfindung und Fortentwicklung linguistischer Methoden zu beteiligen. In diesem Falle würde man umgekehrt die Lehre intensivieren, breitere Kreise in die Wirkungsweise linguistischer Methoden einführen und deren politische Bedeutung aufdecken. Die übrigen wissenschaftstheoretischen Konzepte thematisieren diese Gefahr nicht. 15

1.2

Linguistik und Soziolinguistik

In den letzten Jahren rückte in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen die Sprache in den Vordergrund des Interesses. Als Beispiel seien angeführt: Philosophie, Soziologie, Psychologie und Schuldidaktik. Den verschiedenen Fragerichtungen ist dabei die These gemeinsam, daß man die Sprache nicht isoliert betrachten dürfe, weil sie sozial bedingt sei (s. Kap. 1.121.3 und 1.122). Diese Hypothese ist Ausgangspunkt fur alle soziolinguistischen Forschungen. Es wird versucht, die Abhängigkeit des individuellen Sprachgebrauchs von Faktoren der Sprachumwelt aufzuweisen. Fragestellungen der Soziolinguistik sind ζ. B. (1) Soziale Implikationen von Sprachbarrieren (2) Schichtenspezifische Sprachbarrieren. 1.21

Soziale Implikationen von Sprachbarrieren

Am Beispiel des Gymnasiums soll zuerst einmal auf die sozialen und damit auch politischen Implikationen von schichtenspezifischen Sprachbarrieren hingewiesen werden: Das Gymnasium ist z. Zt. noch die bedeutendste Institution für die Verteilung von Berechtigungen, die ein Hochschulstudium und als Konsequenz daraus eine höhere Berufslaufbahn ermöglichen. Da der „Auslesemaßstab der Höheren Schulen vornehmlich philologisch-sprachorientiert ist", (Undeutsch, 1969, S. 400) werden Kinder, die andere Begabungsrichtungen haben, benachteiligt. Dies wird aber noch schichtenspezifisch überhöht, weil die mittelschichtige Norm der Lehrer bisher als absolute Sprachnorm übernommen wurde, anstatt sie einer sprachwissenschaftlich fundierten Prüfung zu unterziehen. 1.22

Schichtenspezifische Sprachbarrieren

In England hat B. Bernstein eine soziologische Sprachbarrierentheorie aufgestellt, die für den deutschen Sprachraum von Roeder und Oevermann weitgehend bestätigt wurde (s. Roeder 1965; Oevermann 1967). Man unterscheidet verschiedene Arten von Sprachbarrieren. So spricht man ζ. B. in der Sprachgeographie von topographisch bedingten Sprachbarrieren. In der Soziolinguistik geht es um die Beschreibung von sozial bedingten oder schichtenspezifischen Sprachbarrieren. Dabei umschreibt der Begriff „Barriere" zwei Aspekte: Die kognitiven Stile des Individuums hängen vom Sprachkode (s. Kap. 2) ab. Außerdem ist das Sprachverhalten mit ein konstituierender Faktor des Rollenverhaltens. Dies wiederum beeinflußt die Zugangsmöglichkeiten zu den einzelnen Ausbildungssystemen und Berufslaufbahnen (vergi, dazu das Beispiel unter 1.21). Wie kommt es nun zu diesen Sprachbarrieren ? „Verschiedene Sozialstrukturen legen Nachdruck auf verschiedene, dem Sprachgebrauch inhärente Möglichkeiten. Und sobald dieser Akzent gesetzt ist, wird die daraus resultierende sprachliche Form eines der wichtigsten Mittel, bestimmte Gefühls- und Denkbahnen, die der betreffenden sozialen Gruppe funktional zugeordnet sind, hervorzubringen und zu festigen." (Bernstein, 1967, S. 254).

Das individuelle Sprachverhalten hängt also vor allem von Sprachumweltfaktoren ab. Es ist nicht so sehr individuell als sozial bedingt; oder in der Sprache der empirischen Soló

zialwissenschaften ausgedrückt: Das Sprachverhalten ist eine von der Sprachumwelt abhängige Variable. Die von der Sprachumwelt mit bedingte Art des Sprachverhaltens bleibt aber nicht folgenlos, da die Stellung des Einzelnen in unserer Gesellschaft durch diese Variable beeinflußt wird. Deshalb haben die beiden, von Bernstein unterschiedenen Sprachkodes weitreichende soziale Konsequenzen. Bernstein unterscheidet zwischen dem Sprachmilieu der Unterschicht und der Mittelschicht. Die Sprachumwelt der Unterschicht bedingt den „restricted code", während in der Mittelschicht der „elaborated code" gepflegt wird. Der „restricted code" ist durch folgende sprachliche Merkmale gekennzeichnet: Er erzeugt nach Bernstein eine Sprache von starrer, syntaktischer Struktur. Dabei werden selten untergeordnete Sätze verwendet. Adjektiva, Adverbien und unpersönliche Pronomina werden selten eingesetzt. Dagegen werden idiomatische Redewendungen und Sequenzen häufig verwendet. Dabei holt der Sprecher bei seinen Gesprächspartnern laufend Zustimmung ein. Die differenzierte Artikulation von Gedanken wird in diesem Code wegen der geringen Ausdifferenzierung der Sprachmittel erschwert. (Bernstein 1967, S. 258). Insgesamt handelt es sich um eine Sprache geringer Distanziertheit und Originalität. Bernstein führt dazu den Begriff „Vorhersagbarkeit" ein: Die Sprachsequenzen des „restricted code" sind wegen ihrer starken Vorstrukturiertheit mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. Die Vorhersagbarkeit ist dagegen beim „elaborated code" sehr gering, weil es der Sprecher versteht, eine hochdifferenzierte Auswahl und Variation der Sprachmittel vorzunehmen. So sichert ein konsequent verwendetes, syntaktisches Regelkorpus die sprachlich und logisch stimmige Verwirklichung hochkomplexer Bedeutungsstrukturen. Hinzu kommt der variable Einsatz von komplexen Satzkonstruktionen mit Präpositionen, Adjektiven und Adverbien. Die Abstraktionsebene kann bei diesem Sprechverhalten sehr hoch sein. Indikator dafür ist unter anderem die Häufigkeit der Verwendung von unpersönlichen Pronomina, wie „es" und „man". Der Sprecher des „elaborated code" kann auch den „restricted code" bei passender Gelegenheit verwenden. Den Sprechern des „restricted code" ist dagegen die verbale Planung des „elaborated code" nicht zugänglich. Diese — in diesem Rahmen nur zu skizzierende — Sprachbarrierentheorie hat in der wissenschaftlichen Diskussion weitgehende Zustimmung gefunden. Doch müssen aus verschiedenen Blickrichtungen einige Bedenken angemeldet werden: Bernstein glaubt, empirisch vorgegangen zu sein, wenn er Sprechdaten einmal mit einem Wortschatztest, das andere Mal aus einer Diskussion über die Todesstrafe gewonnen hat. Er generalisiert die Befunde aus diesen Versuchen auf das gesamte Sprachverhalten. Er geht dabei von der naiven Vorannahme aus, daß sich das einzelne Phänomen verallgemeinern lasse. Dabei hat er dip Komplexität der Faktoren der Sprachverwendung nicht berücksichtigt. Bernstein reflektiert kaum die Eigenart seines Untersuchungsgegenstandes. Dies wirkt sich auf einer anderen Ebene für die Haltbarkeit der vorgenommenen Generalisierungen aus. Wie unter 1.121.3 aufgezeigt wurde, wird die Sprachstruktur von der Sprechsituation mitbedingt (s. „Sprachspiele" beim späten Wittgenstein). Nun ist es aber sowohl von der Sprachphilosophie als auch von der Linguistik her unhaltbar (s. Kap. 2), die aus der Sprechsituation ,.Diskussion über die Todesstrafe" gewonnenen Sprechdaten für alle Sprechsituationen zu generalisieren.

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Von der Soziologie her sind Bedenken an der Einteilung der Versuchspersonen in die beiden Schichten anzumelden (eine detaillierte Kritik zu dieser Frage ist bei Oevermann, 1967 zu finden). Eine eigentlich linguistische Kritik des Bernsteinschen Werks steht noch aus. Sie ist zu Beginn eines Lehrbuches zur Einführung in die Linguistik schwer zu leisten, ohne den Leser zu verwirren. Deshalb beschränken wir uns hier auf einige, gleichsam exemplarische Gesichtspunkte: Vorbedingung für eine sinnvolle Untersuchung von Sprachmaterial ist dessen Regelhaftigkeit und Distinktivität. Eine empirische Untersuchung von Sprachmaterial ist nur dann möglich, wenn die einzelnen Sprachdaten eindeutig voneinander zu unterscheiden (distinktiv) sind. Der Soziolinguist will nun — ähnlich wie der Grammatiker — Abhängigkeiten zwischen den Sprechdaten feststellen. Dazu braucht er aber ein Erhebungsinstrument, das stimmig aus einer Sprachtheorie abgeleitet wurde und so das Datenmaterial eindeutig segmentieren und danach klassifizieren kann. (Ausführlich s. Kap. 4 und 5). Nun fallt es uns aber vorläufig noch schwer, die Kriterien, die Bernstein (1967, S. 257 ff.) den beiden Codes zuordnet, so operationalisieren, daß sie dem Datenmaterial eindeutig und damit intersubjektiv nachprüfbar zugeordnet werden können. Ein Beispiel hierfür: „restricted code"

„elaborated code"

„1. Kurze, grammatisch einfache und o f t unvoll„1. Genaue grammatische Ordnung und Syntax ständige Sätze von dürftiger syntaktischer Form." regulieren das Gesagte". (Bernstein, 1967, S. 257). (Bernstein, 1967, S. 258).

Die Forderungen nach Regelhaftigkeit und Distinktivität des Sprachmaterials seien einmal als erfüllt betrachtet (ζ. B. bei dem Wortschatztest). Wir sehen nun aber keine genaue Unterscheidung zwischen den beiden Beschreibungen. Höchstens „Unvollständige Sätze" lassen sich als klare Position des „restricted code" gegenüber dem „elaborated code" identifizieren. Sonst kann man sich aber nicht des Eindrucks erwehren, daß Bernstein in Gefahr ist, Sprachwertvorstellungen der Angehörigen der Mittelschicht als generelle Normvorstellungen zu übernehmen. Was Bernstein mit „dürftiger syntaktischer Form" meint, kommt in folgendem Beispiel zum Ausdruck, das 1964 von Hess (Educability and Rehabilitation: The future of the welfare class. Paper presented at the 3 0 t h Groves Conference, University of Chicago, 1964, mimeographed) vorgetragen wurde: Eine Mutter will telefonieren. Ihr Kind will auch telefonieren und stört sie dabei. Die Mutter aus der Unterschicht sagt: „Be quiet". Die Mutter aus der Mittelschicht sagt: „Would you keep quiet, while I answer the phone? " Betrachtet man beide Äußerungen, so ist deren Informationsgehalt im wesentlichen gleich. Das in dieser Situation bedeutsame Kriterium des ökonomischen Einsatzes von sprachlichen Mitteln ist aber beim Sprechen der Mutter aus der Unterschicht eher erfüllt; oder betont provozierend gesagt: Man sollte sich von einem Konjunktiv nicht blenden lassen! Der Sinn dieser ersten Kritik würde vollkommen mißverstanden, wollte man daraus schließen, daß das Bernsteinsche Werk linguistisch indiskutabel sei. Grundsätzlich ist es 18

legitim, mit dem erkenntnisleitenden Interesse des Soziologen einen Untersuchungsraster so zu entwerfen, daß er für soziologische Fragestellungen aussagekräftig ist (s. 1.1). Nur läßt sich dies bei sozio-1 i n g u i s t i s c h e n Untersuchungen schlecht ohne die Methoden der Linguistik erreichen, da die Distinktionsfähigkeit soziologischer Untersuchungsmethoden dem Untersuchungsgegenstand „Sprache" häufig unangemessen ist. Dies ist mit der Differenzierung der Fragestellungen gekoppelt. Falls die Soziolinguisten an einer Kooperation mit linguistischen Didaktikern (s. 1.3) interessiert sind, müssen sie ihre Fragestellungen und Untersuchungsmethoden zunehmend verfeinern. Dabei stellt die Linguistik die am besten ausdifferenzierten Methoden zur Untersuchung der Sprache bereit. Ein Beispiel hierfür: Nehmen wir an, ein Kind aus der Unterschicht habe Schwierigkeiten im Rechtschreiben, Es kann vor allem Wörter wie „Struktur" oder „Establishment" nur mit Fehlern schreiben. Dabei kommen etwa folgende Produkte heraus: „Schtruktur" bzw. „Ischtablischmend". Der Soziolinguist könnte dem linguistischen Didaktiker zur Analyse dieses Falles etwa folgende Informationen bereitstellen: Bei Unterschichtkindern besteht eine Sprachbarriere bei der Verwendung von Fremdwörtern. (— Es müßte hier auch noch untersucht werden, welche Lehrer und welche Schultypen zum Abbau oder zur Vertiefung dieser Sprachbarriere beitragen - ) . Eine weitere Information könnte lauten: Unterschichtkinder können Laute hauptsächlich über den optischen Wahrnehmungskanal unterscheiden. Schließlich könnte der Soziolinguist die Information bereitstellen, daß die akustische Unterscheidungsfähigkeit ebenfalls schichtenspezifisch determiniert sei. Solche Informationen lassen sich unter anderen beim derzeitigen Stand der Soziolinguistik noch nicht gewinnen, da hierfür linguistisch differenzierte Analysemethoden notwendig wären. (Für die oben aufgeführten Punkte werden ζ. B. in den Kapiteln 3 und 5 linguistische Informationen bereitgestellt.)

1.3

Linguistische Didaktik

Es wäre aufgrund der wissenschaftlichen Diskussion verfrüht, wenn wir an dieser Stelle eine linguistische Schuldidaktik konzipieren wollten. Doch zeichnen sich schon einige Arbeitsgebiete für diese neue Disziplin der angewandten Linguistik ab: — Sprechdiagnose und —therapie. - Linguistik und Grammatikunterricht. 1.31

Sprechdiagnostik und

-therapeutik

Die Sprechdiagnostik und -therapeutik sind der Soziolinguistik unmittelbar benachbart. Es ist ihre Aufgabe, umweltbedingte, individuelle Sprachmängel festzustellen und danach zu vermindern oder gar zu beheben. Diese Wissenschaften stehen zueinander im Verhältnis: Grundlagenforschung - Anwendung. Für die beiden angewandten Wissenschaften sind zusätzlich noch Informationen aus der Psychologie, der Medizin und der Pädagogik notwendig. 19

Der Sprachunterricht richtet sich bis heute in der Regel nach dem „Gießkannenprinzip", d. h. alle Schüler werden möglichst gleichmäßig mit dem gleichen Unterrichtsgegenstand versorgt. Der Lehrer folgt dem Lehrplan, der eine vollständige Darbietung der dort aufgewiesenen Lehrstoffe für alle Schüler verlangt. Es ist jedoch von der Sprachtherapie her einleuchtend, daß ein Teil des Sprachunterrichts auf die Behebung individueller Sprachmängel verwendet werden müßte. Dies wird klar, wenn wir ein (vorläufig noch) fiktives Beispiel konstruieren: Falls Umwelteinflüsse die Sprachentwicklung behindern können, ist es sinnvoll, die von der Soziolinguistik als verursachende Faktoren ausgewiesenen Variablen möglichst frühzeitig beim einzelnen Kind zu kontrollieren. Deshalb werden — wir haben ein fiktives Beispiel — alle Kinder mit 4 bis 5 Jahren vom Sprechtherapeuten beim Eintritt in die Vorschule untersucht. Dabei werden verschiedene Untersuchungsebenen angelegt: — Es wird erhoben, wie die Artikulation ausdifferenziert ist. (Kap. 3). — Die Funktionsweise der Sprechwerkzeuge wird durchgeprüft. (Kap. 3) — Der Wortschatz wird getestet. (Kap. 5) — In verschiedenen, vom Versuchsplan her wohl standardisierten Spielsituationen wird das Sprachverhalten der Kinder auf Tonband mitgeschnitten. Diese Sprachdaten werden auf Lochkarten übertragen und von einem Computer auf die Ausdifferenzierung der verschiedenen Kodierungsebenen (siehe Kap. 3-6) beim Sprechvorgang des einzelnen Kindes hin untersucht. Schließlich wird noch das Hörvermögen erhoben. Aufgrund dieser detaillierten Untersuchung ergeben sich verschiedene Behandlungsbilder in Form einer Diagnose für die verschiedenen Arten von Sprechdefiziten. Die nun folgende Sprech therapie im engeren Sinne wendet empirisch gewonnene Methoden zur Behebung des jeweiligen Defizits an. Diese Phase wird laufend von Effektivitätskontrollen begleitet, um mangelnde oder fehlende Effektivität auf ihre Ursachen hin zu untersuchen. Vielleicht wäre es möglich, die verschiedenen Arten von Sprachmängeln auf diese Weise wenigstens zu vermindern. Dieses Verfahren könnte auch Grundlage für die Sprachtherapie im weiteren Sinne werden: Im Grammatikunterricht wäre eine adressatenorientierte, effektive Informationsvermittlung möglich, da sie auf der ausdifferenzierten Sprachentwicklungsbeschreibung der einzelnen Schüler aufbauen könnte.

1.32

Linguistik und

Grammatikunterricht

Zuerst ein Blick zurück auf den herkömmlichen Sprachunterricht: Sprachunterricht im allgemeinen und Grammatikunterricht im besonderen werden als hervorragende „Denkschulung" aufgefaßt, — was aber noch zu beweisen wäre, denn letztlich handelt es sich bei dieser Vorannahme um die Übernahme eines Axioms der aristotelischen Logik. Der Sprachunterricht hat seither an der Schule eine wahrhaft dienende Funktion: Die Verwendung der Sprache in der Alltagssprache beschwört eine Bedrohung, ja Ent20

Würdigung der,eigentlichen Sprache' herauf. Fixierpunkt fur den Sprachunterricht ist deshalb das „Dichter"-Wort. Als Beispiel sei eine in Sprachbüchern anzutreffende Vorannahme angeführt: Die Dichtersprache wird im Vergleich zur Umgangssprache als „besser" angesehen. So werden den Schülern schon in den ersten Schuljahren noch zu hinterfragende Vormeinungen aufoktroyiert. Man vergleiche dazu die Besuche der Kinder beim „Dichter" in A. Kerns Sprachlehrbuch: „klipper-klapper-klötze." (Freiburg, 1967 6 ). Das dürfte auch einer der Gründe sein, weshalb das Sprachstudium bzw. der Sprachunterricht (noch) der Unheil abwendenden Philologie untergeordnet sind. Wir halten aber den Pragmatismus, der für viele Linguisten selbstverständlich ist, für eine fruchtbare Grundlage eines motivierenden Sprachunterrichts: So schreibt ζ. B. Postal: „Prescriptive grammar tends to assume implicitly that human language is a fragile cultural invention, only with difficulty maintained in good working order. It fails to recognize that language is an innate attribute of human nature." (Epilog zu Jacobs/Rosenbaum: English Transformational Grammar, 1968, S. 286). Der primäre Gegenstand der linguistischen Didaktik ist die mündliche Ausdrucksfähigkeit. Dabei werden im Grammatikunterricht nicht Vormeinungen über Texte interpretiert, sondern es werden Kriterien einer durchstrukturierten Sprachbeschreibungstheorie als Grundlage für eine intersubjektiv nachvollziehbare Sprachanalyse angelegt. Diese Sprachbeschreibungstheorie wirkt sich noch in anderer Hinsicht als Grundlage fur eine linguistische Didaktik günstig aus: — Regeln beschreiben in der herkömmlichen Schulgrammatik Ausnahmen, während in der Linguistik ein klar durchtheoretisierter Kernbereich gegenüber einem Randbereich abgegrenzt wird. Dies wirkt sich auf die Behaltensfunktion bei den Schülern günstig aus, da Regelmäßigkeiten besser behalten oder abgespeichert werden können als schlecht generalisierbare Ausnahmen. — Der herkömmliche Grammatikunterricht ist für den Schüler wenig transparent, weil eine formale Sprachtheorie fehlt. Die Linguistik gründet dagegen auf der Kybernetik und der Informationstheorie. Sie arbeitet mit den in diesen Wissenschaftszweigen üblichen Kommunikationsmodellen (siehe Kap. 2). Deshalb lassen sich die Aussagen über sprachliche Erscheinungen in ihrem Stellenwert und in ihrer Aussagekraft über die Sprache insgesamt genauer bestimmen. Vor allem in diesem Punkt liegt die Fruchtbarkeit eines linguistisch fundierten Grammatikunterrichts in mehrfacher Hinsicht begründet: a) Der Schüler lernt die Sprache in ihrer Funktion als sprachliches Zeichensystem unter anderen, nichtsprachlichen Zeichensystemen kennen. b) Dabei werden ihm die Regelmechanismen deutlich gemacht, die ζ. B. konstituierende Faktoren für den Informationsfluß zwischen einem Sprecher und einem Hörer sind. c) Im Zusammenhang mit der Sprache als Zeichensystem können auch andere Kodierungsformen in unserer Gesellschaft zu einem interdisziplinär fundierten Gegenstand werden. d) Die Modellbegriffe der einzelnen Fachwissenschaften an einer Schule könnten einander gegenübergestellt werden, um so u. a. eine wissenschaftstheoretische und/oder erkenntnistheoretische Fundierung und Relativierung der Aussagekraft der einzelnen Fachdisziplinen zu erreichen. 21

e) Die Einsicht in den Sprechvorgang kann sich für die Sprechtherapie beim einzelnen Schüler wiederum günstig auswirken. Dabei könnten auch durch Zusammenarbeit zwischen Grammatiklehrer und Sprechtherapeuten gruppentherapeutische Schulstunden konstruiert werden, die sowohl dem Grammatikunterricht als auch der Sprechtherapie nützen. So weit einige Zielprojektionen für eine linguistische Didaktik. Da dieses Gebiet der angewandten Linguistik erst im Entstehen ist, können noch keine differenzierteren Aussagen vorgelegt werden. Zum Abschluß dieses Kapitels sei noch auf einen Punkt hingewiesen, der grundlegend für alle angewandten linguistischen Disziplinen ist. Im Moment ist sehr schwer einen Raster für eine Norm z. B. als Grundlage für eine Sprachtherapie zu finden. Oevermann zielt deutlich auf die politische Brisanz dieser Frage hin: „Es hätte wenig Sinn, solche (kompensatorische Erziehungs-) Programme ausschließlich unter dem Gesichtspunkt zu planen, .kulturell vernachlässigte' Kinder an die Verhaltensformen und Sprachmuster der mittleren und oberen sozialen Schichten anzupassen. Vor der Einrichtung kompensatorischer Erziehungsprogramme muß geprüft werden, inwieweit sie für die Entfaltung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der persönlichen Identität des Kindes notwendig sind oder inwieweit sie lediglich aus einer unreflektiertcn Übernahme ideologisch verfärbter Bildungsziele der herrschenden Schichten bestehen." (Oevermann, 1969, S. 299 0 · (S. auch 1.222)

Es läßt sich im Moment auch noch nicht abschätzen, ob es sinnvoll wäre, wenn Vertreter der verschiedenen anthropologischen Disziplinen einen einheitlichen Sprachnormbegriff erarbeiten und durchsetzen wollten. So viel ist jedoch sicher: Sprachwertvorstellungen sind bedingende Elemente für verschiedene Verhaltensvorstellungen. Als Beleg dafür sei ein alltäglich in den meisten Schulen anzutreffendes Beispiel ohne Kommentar an den Schluß gestellt. Der Sprachstil im Schulunterricht wird von der Mittelschichtnorm des Lehrers beherrscht. Diese Norm enthält unter anderen Faktoren die Vorstellung, daß lautreine Hochlautung eines der Ziele des Sprachunterrichts sei. Davon abweichende, jedoch klar verständliche, mundartgefärbte Lautungen werden als sprachlich minderwertig diskriminiert. So sagt ein Gruridschullehrer zu einem Dialekt sprechenden Kind z. B. nicht: „Sag' es bitte noch einmal auf hochdeutsch", sondern: „Sag' es bitte schöner".

1-4

Literaturhinweise

(Die im Text genannte, hier aber nicht aufgeführte Literatur findet sich im Anhang im Abschnitt „Wissenschaftstheorie" bzw. „Soziolinguistik".) Adorno, Theodor W P o p p e r , Karl et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Dagebüll 1970. Grundlegend für die Auseinandersetzung vor allem zwischen der neopositivistischen Forschungsrichtung der Wiener Schule und der kritischen Theorie. Sprachtheoretische Fragen werden nur am Rande behandelt. Habermas, Jürgen: Zur Logik der Sozialwissenschaften.edition suhrkamp. 481(1966 abgeschlossen) Setzt sich hier zentral mit einer Reihe von Sprachtheorien auseinander. Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. In: Technik und Wissenschaft als .Ideologie', edition suhrkamp 287. Ergänzungen zur obigen Abhandlung. Berührt Sprachtheorien nur am Rand. Katz, Jerrold J.: Philosophie der Sprache. Theorie 2. Frankfurt/M. 1968 Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachtheorien vom Standpunkt der transformationeilen Grammatik.

22

Schmidt, Siegfried J.: Bedeutung und Begriff. Zur Fundierung einer sprachphilosophischen Semantik. Wissenschaftstheorie - Wissenschaft und Philosophie 3. Braunschweig 1969 Kritische Darstellung verschiedener Bedeutungstheorien. Bernstein, Basil: Sprache und Lernen im Sozialprozeß, in: A. Flitner (ed.); Einführung in pädagogisches Sehen und Denken, München, 1967, S. 253-270. Wir haben dieses Essay vor allem aus praktischen Überlegungen heraus ausgewählt. Es ist für eine Einführung sinnlos, die vielfältigen Ausdifferenzierungen der Bernsteinschen Sprachbarrierentheorie bibliographisch bereitzustellen. Wir halten es für sinnvoller, wenn hier ein Artikel, der Grundlegung und Konkretion dieser Theorie aufweist, sowie Implikationen aus dieser Theorie skizziert, aufgeführt wird. Roeder, Peter Martin: Sprache, Sozialstatus und Bildungschancen, in: Padszierny/Roeder/Wolf: Sozialstatus und Schulerfolg, Heidelberg 1965. Roeder hat der soziolinguistischen Fragestellung als erster in Deutschland zu der ihr gebührenden Aufmerksamkeit verholfen. Er legt in diesem Aufsatz zum ersten Male fundiertere Forschungsergebnisse für den deutschen Sprachraum vor. Oevermann, Ulrich: Schichtenspezifische Formen des Sprachverhaltens und ihr Einfluß auf die kognitiven Prozesse, in: H. Roth (ed.): Begabung und Lernen, Stuttgart, 1969. Drei Aspekte waren für die Auswahl dieses Essays entscheidend: Die Oevermannsche Diss, über „Sprache und soziale Herkunft" - eine ausführliche Analyse von Aufsätzen, die Frankfurter Schüler schrieben, ist die erste Arbeit für den deutschen Sprachraum, die auch einiges an linguistischer Haltbarkeit für sich in Anspruch nehmen kann. In diesen Essay wurden einige Punkte dieser Diss, mit eingebracht. Weiterhin werden hier vor allem psycholinguistische Theorien über die Abhängigkeit zwischen Sprache und kognitiven Stilen erörtert. Schließlich ist für den an dieser Frage Interessierten eine ausführliche Bibliographie angefügt.

23

2

Einführung in die Grundlagen der sprachlichen Kommunikation

Die Einsicht, daß die Sprache eine fundamentale Rolle für die menschliche Gesellschaft spielt, motiviert eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der sprachlichen Kommunikation, d. h. eingehende Beobachtung, genaue Beschreibung, Konstruktion von Hypothesen und Gesetzen, Zusammenfassung dieser Aussagen zu einer Theorie. Diese wiederum bietet eine der Grundlagen zur Beseitigung vieler Schwierigkeiten, die bei der keineswegs problemlosen sprachlichen Kommunikation auftreten (vgl. Kap. 1). Dieses Kapitel soll in die Grundlagen der sprachlichen Kommunikation einführen: Wir wollen ein Modell konstruieren, das wesentliche Eigenschaften kommunikativer Vorgänge spiegelt, und daraus Hauptaufgaben und Einzelbereiche der Linguistik ableiten. Einzelne Bereiche der linguistischen Forschung werden dann in den folgenden Kapiteln eingehender dargestellt werden.

2.1

Einfache Modelle der Kommunikation und des Zeichens

Die Zahl der Kommunikationsvorgänge, die in deutscher Sprache vollzogen worden sind und noch vollzogen werden, ist so riesig, daß es vollkommen aussichtslos wäre, eine auch nur einigermaßen vollständige Beschreibung anzustreben; man muß sich also auf jeden Fall mit der Deskription einer Auswahl begnügen. Diese Auswahl sollte für sämtliche Kommunikationsvorgänge (auch für alle zukünftigen) repräsentativ sein, damit die Beschreibung allgemein gilt. Allerdings ist offensichtlich, daß kein kommunikativer Vorgang präzise dem anderen gleicht, daß also die Hoffnung, aufgrund ausgewählten Materials eine vollständige, allgemein gültige Beschreibung liefern zu können, utopisch ist. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Hypothese, daß gewisse Grundstrukturen a l l e n Kommunikationsvorgängen gemeinsam sind; im Bereich dieser I n v a r i a n t e n muß es möglich sein, aufgrund begrenzter Beobachtung allgemein gültige Aussagen zu machen. Was aber zählt zu den invarianten, den notwendigen Eigenschaften? Vollkommen sichere Aussagen darüber erlaubt wiederum nur die Beobachtung sämtlichen Materials, und diese ist unmöglich zu leisten. Man kann lediglich ausgewählte kommunikative Vorgänge beobachten, dann die Hypothese aufstellen, die Eigenschaften Χ, Y und Ζ seien invariant und damit behaupten, sie kämen allen Kommunikationsvorgängen zu. Solange die Hypothese nicht durch Beobachtung widerlegt, falsifiziert ist, kann ich sie als allgemein gültig, als Gesetzesaussage aufrechterhalten. Eine Hypothese in den empirischen Wissenschaften ist eine Aussage, die ich aufgrund notwendig begrenzter Beobachtung über einen Gegenstand mache, der ich aber eine nicht zu beobachtende Geltung zuspreche, ζ. B. generelle Gültigkeit. Eine solche Hypothese wäre die Aussage: „Alle Katzen haben einen Schwanz." 24

Natürlich habe ich nicht sämtliche Katzen überprüft; deshalb hat meine generelle Aussage hypothetischen Charakter. Die Hypothese kann solange aufrecht erhalten werden, bis irgendjemand eine Katze ohne Schwanz beobachtet. 2.11

Ein einfaches

Kommunikationsmodell

Als Hypothesen über grundlegende invariante Eigenschaften sprachlicher Kommunikationsvorgänge stellen wir auf: (a) Es muß jemanden geben, der eine Mitteilung macht; wir nennen ihn S p r e c h e r (S). (b) An irgendjemanden muß diese Mitteilung gerichtet sein; ein H ö r e r (H) ist also auch unbedingt notwendig. (c) Der Sprecher muß, damit er vom Empfänger wahrgenommen werden kann, sich irgendwie sinnfällig äußern, d. h., er muß ein wahrnehmbares M e d i u m (M) benutzen, durch das seine Mitteilung zum Hörer transportiert wird. In der Sprache sind Schallwellen das Medium, bei Verkehrszeichen und schriftlichen Texten Lichtwellen, bei Funksignalen elektromagnetische Wellen usw. Diese Hypothesen lassen sich so schematisieren:

M

M

• IH

Diese Hypothesen interpretieren wir um in Definitionen: Nur die Phänomene, die die von diesem Modell dargestellten Merkmale haben, bezeichnen wir als Vorgänge sprachlicher Kommunikation. (Wir werden diese Definitionen im folgenden noch ergänzen müssen.) Phänomene, die diese Eigenschaften nicht haben, falsifizieren nicht unsere Hypothesen, sondern fallen nicht in unseren Gegenstandsbereich. 2.12

Zum Status des Modells

Damit haben wir ein M o d e l l konstruiert, das drei Eigenschaften, die wir für invariant und grundlegend halten, darstellt. Ein Modell repräsentiert jeweils nur einen kleinen Ausschnitt der beobachteten Daten; von allen anderen Eigenschaften eines Phänomens ist abstrahiert worden. Die Richtung (und damit auch das Ergebnis) der Abstraktion hängt vom Interesse desjenigen ab, der das Modell konstruiert, davon nämlich, was er in einem bestimmten Zusammenhang fur relevant und was er für irrelevant hält. Wer ein Modell konstruiert, muß also immer angeben, was es leisten soll und unter welchem Aspekt der Wissenschaftler von allen Beobachtungsdaten, die das Modell nicht deckt, abstrahiert hat. Wechselt der Aspekt, so verändert sich auch das Modell, obwohl die Beobachtungsdaten konstant bleiben. Ein Grundriß, ein Aufriß und eine plastische Nachbildung eines Hauses z.B. sind drei Modelle, die auf denselben empirischen Daten basieren, jedoch unterschiedliche Ausschnitte aus dem Beobachteten bieten, weil der Aspekt, unter dem abstrahiert wurde, jeweils verschieden war. Das gilt auch für die Modelle, die überall in den Wissenschaften konstruiert werden (etwa für das Modell unseres Sonnensystems, für das Bohr'sche Atommodell usw.). Unser Kommunikationsmodell ist unter dem Aspekt konstituiert worden, die invarianten Eigenschaften zu repräsentieren, die besonders grundlegend sind; wir werden in diesem Kapitel aufgrund weiterer Beobachtung weitere Hypothesen aufstellen und damit das Modell ausbauen. 25

Das Modell gibt nicht nur einen kleinen Teil der beobachteten Daten wieder, es ist auch hypothetischer Natur insofern, als es Aussagen über Phänomene macht, die gar nicht beobachtet worden sind (ζ. B. deshalb, weil sie noch nicht stattgefunden haben). Die Konstruktion eines Modells gestattet generelle oder doch weitreichende Aussagen über eine Menge einander ähnlicher, jedoch nicht identischer Phänomene. Man muß sich allerdings über die Abstraktionsebene und die Reichweite klar sein, um die Brauchbarkeit eines Modells richtig einschätzen zu können. 2.13

Modell des Zeichens und erweitertes

Kommunikationsmodell

Durch weitere Hypothesen aufgrund zusätzlicher empirischer Daten müssen neue Modelle konstruiert werden: Der Sprecher kann, um zu kommunizieren, nicht beliebige Schallwellen äußern; damit die Verständigung mit dem Empfänger wirklich funktioniert, müssen zwei B e d i n g u n gen erfüllt sein: Die Lautketten, die der Sprecher S produziert, müssen B e d e u t u n g haben, damit wirklich eine Mitteilung transportiert wird. Äußert S ζ. Β. einen Brummton von zwei Minuten Dauer, so ist damit solange kein kommunikativer Effekt verbunden, solange für diesen Brummton nicht eine Bedeutung, etwa ,ich habe Hunger' festgelegt ist. Erst wenn eine akustische Einheit bestimmter Qualität und Quantität einen bestimmten I n h a l t b e z e i c h n e t , besteht Aussicht darauf, daß die Verständigung zwischen Sprecher und Hörer funktioniert. Diese Z e i c h e n s t r u k t u r läßt sich schematisch so darstellen (vgl. ein anderes Modell in Kap. 1): Ausdruck Zeichen: Inhalt Die Beziehung· zwischen Ausdruck und Inhalt muß f e s t g e l e g t sein, damit der Sprecher die Information durch das Medium, die Schallwellen, transportieren kann. (Anmerkung: Für die deutschen Termini .Ausdruck' und .Inhalt' finden sich in der Literatur .signifiant' - .signifié (eingeführt von F. de Saussure, Cours 1916), .Signifikant' .Signifikat', .Bezeichnendes' — .Bezeichnetes', .form' — .meaning'.) Außerdem ist unerläßlich, daß der Hörer weiß, welche Bedeutung welche Lautkette hat. H muß also die sprachlichen Zeichen kennen, die S verwendet; bevor eine Verständigung möglich ist, muß verabredet, d. h., durch K o n v e n t i o n festgelegt worden sein, welche Lautketten man in welcher Bedeutung verwenden will. Erst ein S und H gemeinsamer, konventionell festgelegter K o d e ermöglicht die Kommunikation zwischen S und H. (Es sei daraufhingewiesen, daß der hier verwendete Kode-Begriff anders definiert ist als im 1. Kap.). Im konkreten Fall wirkt natürlich kein Sprecher an der Verabredung des Kodes mit, sondern er findet ihn als Tradition vor und muß ihn erlernen. Termini wie „verabreden", „Konvention" sollen lediglich klarlegen, daß es sich bei Kodes welcher Art auch immer um soziale Normen und nicht um irgendwelche Naturereignisse handelt. Wenn beispielsweise auf einem Bahnsteig ein Herr sein Taschentuch zieht und es heftig auf und ab bewegt, so wird ein unbefangener Beobachter sich über diese Zweckentfrem26

dung wundern. Um diesen Vorgang (nämlich seinen Zeichencharakter) zu durchschauen, muß der Beobachter die Gestik erkennen, in der festgelegt ist, daß das Zeichen Taschentuch auf und ab bewegen' die Bedeutung Jieftige Anteilnahme bei der Abfahrt eines Mitmenschen' hat. Für die gestische wie für die sprachliche Kommunikation gilt als Bedingung: Jeder Kommunikationsteilnehmer muß den Kode kennen. Er versteht Mitteilungen nur soweit, als ihm der Kode bekannt ist. M ψ ι ι ι I

Kode

Ψ ι ι ι I

Der s p r a c h l i c h e K o m m u n i k a t i o n s v o r g a n g läuft also folgendermaßen ab: — Der Sprecher S möchte eine Vorstellung (V) mitteilen. — Er muß diese Mitteilung k o d i e r e n , d. h., er muß aus dem mit dem Hörer H verabredeten Kode die seiner Vorstellung entsprechenden Zeichen heraussuchen. — Die im Kode für die Bedeutung vorgesehene Lautfolge wird gesendet. — Diese Lautfolge wird vom Hörer H aufgenommen. — Der Hörer d e k o d i e r t die Mitteilung, d. h., er entnimmt dem verabredeten Kode die Bedeutung der aufgenommenen Lautfolge. — Damit hat H die Vorstellung (V') aufgenommen, die S ihm mitteilen wollte (Bedingung dafür ist natürlich, daß der Kommunikationsvorgang störungsfrei abgelaufen ist).

Unser Modell bezieht sich auf einen i d e a l e n Kommunikationsvorgang: Unbeeinflußt von der Situation teilt ein idealer Sprecher ohne jede Störung aufgrund eines S und H vollständig bekannten gemeinsamen Kodes einem idealen Hörer seine Vorstellung mit. Es ist klar, daß die Situation großen Einfluß auf Kommunikationsvorgänge hat, daß die Übertragung der Lautkette Störungen ausgesetzt ist, daß der Kode des Sprechers nie präzis dem des Hörers gleicht usw. Es ist trotzdem legitim, ein ideales Modell aufzustellen, weil nur dann die Grundstruktur durchschaubar wird. Allerdings muß ein solches Modell ergänzt werden durch andere, die genau das darstellen, wovon hier abstrahiert wurde. Solche Modelle liefern etwa die pragmatischen Disziplinen der Soziolinguistik und Psycholinguistik (vgl. das 1. Kap.). 27

Wenn die ideale sprachliche Kommunikation, wie wir sie oben beschrieben haben, funktioniert hat, gilt die Gleichung: V^V', d.h. die vom Hörer rekonstruierte Vorstellung (V') entspricht (mehr oder weniger genau) der Vorstellung des Sprechers (V).

2.14 (1) (2)

Aufgaben Ein Autofahrer sieht das Verkchrsschild ^ ^ ^ und verhält sich entsprechend. Beschreiben Sie den Kommunikationsvorgang und seine Bedingungen. Vergleichen Sie die Verkehrszeichen

miteinander; welche Unterschiede können Sie zwischen den Strukturen dieser Zeichen feststellen? (3)

In 2.13 wurde behauptet, daft durch K o n v e n t i o n festgelegt sein muß, welchen Inhalt die Ausdruckskomponente eines Zeichens bezeichnet. Finden Sie in verschiedenen Zeichensystemen (ζ. B., nachdem Sie die Aufgabe (2) gelöst haben) Beispiele, die diese These widerlegen?

(4)

Sicherlich gibt es sprachliche Zeichen, bei denen die Beziehung von Inhalt und Ausdruck durch Ähnlichkeit motiviert ist. Führen Sie Gründe dafür an, daß trotzdem die Behauptung zutrifft: D a s s p r a c h l i c h e Z e i c h e n i s t w i l l k ü r lich.

(5)

Wir sind, damit die Grundstruktur deutlich hervorgehoben werden kann, von einer idealen Kommunikation ausgegangen. Machen Sie sich den Umfang dieser Abstraktion klar, indem sie Beispiele geben für: (a) die Situationsgebundenheit der Kommunikation, (b) Störungen der akustischen Übertragung, (c) Unterschiede zwischen dem Kode des Sprechers und dem des Hörers.

(6)

Unter welchen Bedingungen können Sie sich Kommunikation denken, auch wenn S und H partiell unterschiedliche Kodes haben? Welche Folgerungen können Sie aus diesen Bedingungen für das Erlernen eines Kodes ziehen?

2.2

Kodierung

Die Komponente .Kodierung' des Kommunikationsschemas muß noch differenzierter dargestellt werden: Durch eine genauere Ausdifferenzierung soll angedeutet werden, daß die sprachliche Kodierung sich in drei Phasen vollzieht als semantische, syntaktische und phonologische Kodierung. Wiederum muß betont werden, daß diesen drei Phasen des Kodierungsprozesses der Status eines Modells zukommt, das man sicher auch anders,, ζ. B. mit großer Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Kodierungsebenen, konstruieren könnte.

2.21

Semantische Kodierung

Kodieren heißt: aus dem Vorrat von verabredeten Zeichen diejenigen heraussuchen, die den Vorstellungen des Sprechers entsprechen, von denen der Sprecher also annimmt, daß sie beim Hörer eine analoge Vorstellung hervorrufen. Die erste Phase dieser Kodierung muß darin bestehen, daß die (individuelle und unter Umständen sich auf einen präzisen Einzelfall beziehende) Vorstellung des Hörers in einen durch Konvention festgelegten sprachlichen Inhalt, wie ihn der Kode enthält, umgesetzt werden muß. Nehmen wir an, der Kode einer Sprache enthält im Bereich der Farbbezeichnung vier Zeichen: gelb, rot, grün, blau. Der Sprecher S möchte seine speziellen Vorstellungen von einem dunkelroten, schon ins Violette übergehenden Farbton mitteilen. Er muß das Zeichen wählen, in dessen semantischen Bereich seine Vorstellung fallt, also das Zeichen rot. S muß dabei in Kauf nehmen, daß alle spezielleren Merkmale seiner Vorstellung {dunkel, ins Violette übergehend) verloren gehen, es sei denn, er entschließt sich, eine Zeichenkombination zu verwenden: dunkel + rot + mit etwas blau. Diese Umsetzung der subjektiven Vorstellungen in sozial gültige sprachliche Inhalte des Kodes nennen wir s e m a n t i s c h e K o d i e r u n g . Ohne die Überfuhrung einer individuellen in eine konventionelle Einheit ist keine Kommunikation möglich. 2.22

Syntaktische Kodierung

Nachdem der Sprecher S seine Vorstellungen semantisch kodiert hat, muß er die semantischen Einheiten (= die Inhalte) zueinander in Beziehung setzen. Diese Zuordnung und deren Ausdruck auf der Lautebene der Zeichen kann nicht dem Belieben des Sprechers überlassen bleiben, weil dann der Hörer nicht wissen kann, wie er die einzelnen Inhalte aufeinander beziehen soll. Der Kode muß also konventionell festgelegte Kombinationsregeln enthalten, nach denen sich der Sprecher bei der Kodierung und der Hörer bei der Dekodierung gleichermaßen richten müssen. Ein deutscher Sprecher möchte beispielsweise die Vorstellungen Hund, beiß-, Mann, mitteilen. Man kann annehmen, daß in diesen Vorstellungen schon ein Ordnungsprinzip impliziert ist: Hund soll Agens sein, beiß- die Aktion, Mann das Betroffene. Der Kode der deutschen Sprache schreibt nun folgende Regeln vor, nach denen der Sprecher verfahren muß, um die Beziehung der Vorstellungen zueinander auch in der Mitteilung dem Hörer verständlich auszudrücken: (a) (b)

(c) (d)

Hund als Agens muß als Nominativ kodiert werden; der Nominativ wird durch den Artikel der ausgedrückt. beiß- als Aktion muß als finite Verbform kodiert werden. Diese syntaktische Qualität wird ausgedrückt durch das Suffix -t, wenn es sich bei dem Agens im Nominativ um eine ,3. Person Singular' handelt. Mann als Betroffenes muß in der Kombination mit beiß- als Akkusativ kodiert werden. Der Akkusativ wird ausgedrückt durch den Artikel den. Der deutsche Kode läßt die Stellungen der Hund + beißt + den Mann und den Mann + beißt + der Hund zu. Ausgeschlossen sind: 29

der Hund + den Mann + beißt und den Mann + der Hund + beißt Die Reihenfolgen beißt + der Hund + den Mann und beißt + den Mann + der Hund wären nur dann möglich, wenn der Sprecher auch die Vorstellung Frage hätte mitteilen wollen. Die Kombination der Inhalte nach den Regeln des sprachlichen Kodes nennen wir syntaktische Kodierung. Die syntaktischen Regeln (a) — (d) stellen sicher, daß der Hörer wirklich der Hund beißt den Mann versteht und nicht etwa der Mann beißt den Hund. Sie verhindern auch Sätze, die in der deutschen Sprache nicht zulässig sind, wie den Mann der Hund beißt.

2.23

Phono logische Kodierung

Es ist überraschend, daß noch eine dritte Phase der Kodierung angesetzt werden muß. An sich könnte doch jetzt alles automatisch gehen: — in der semantischen Kodierung wurden die Einheiten der Inhaltsebene konstituiert; da gemäß der Zeichentheorie die Ausdrucksebene konventionell fest mit der Inhaltsebene verknüpft ist, liegen mit der semantischen Kodierung auch die entsprechenden Lautketten vor; — in der syntaktischen Kodierung sind die semantischen Einheiten zueinander in Beziehung gesetzt worden. Damit ist auch festgelegt, wie diese Beziehungen auf der Ausdrucksebene formuliert werden. Mit den ersten beiden Phasen der Kodierung sind also die Einheiten der Inhalts- wie der Ausdrucksebene dadurch konstituiert, daß im Sprachkode Inhalt und Ausdruck miteinander zu Zeichen verbunden sind; hat der Sprecher die Inhaltsebene arrangiert, so müßte der Kode automatisch die Struktur der Ausdrucksebene liefern. Der Struktur der Ausdrucksebene müssen wir uns näher zuwenden: Man könnte sich ja vorstellen, daß jedem Inhalt ein besonderer Laut als Ausdruck zugeordnet ist. Wenn man allerdings bedenkt, daß der Mensch nur eine recht begrenzte Anzahl von verschiedenen Lauten produzieren kann (die deutsche Sprache enthält ungefähr 50 deutlich für unser Ohr voneinander zu unterscheidende Laute), dann leuchtet ein, daß wir mit so wenig Zeichen kaum in der Lage wäre, alle unsere Vorstellungen mitzuteilen. Der Kode wäre bei weitem nicht leistungsfähig genug, um unseren kommunikativen Ansprüchen zu genügen. In allen Sprachen der Erde werden daher nicht einzelne Laute, sondern L a u t k o m b i n a t i o n e n als Ausdruck verwendet. Damit steigt die Leistungsfähigkeit des Kodes enorm an: Bei einem Inventar von 30 Lauten und einem Maximum von 5 Lauten im Ausdruck der sprachlichen Zeichen könnte eine Sprache 25 137 930 Zeichen bilden, ausreichend für jedes kommunikative Bedürfnis. Diese theoretisch mögliche Zahl von Zeichen wird allerdings bei weitem nicht erreicht: Jeder Kode enthält nämlich genaue Regeln, wie die Laute kombiniert werden dürfen. Lautketten wie aaaaa, kkk werden wohl in keiner Sprache zulässig sein. Der deutsche Kode gestattet ζ. B. im Anlaut maximal drei Konsonanten (Spreu, streuen, Splitter)', der erste 30

muß immer sch gesprochen werden (das s geschrieben wird), wenn noch zwei Konsonanten folgen; als zweiter kommen nur ρ oder t in Frage; dann kann nur r oder l stehen. Aus Gründen der Leistungsfähigkeit ist also die Ausdrucksebene z w e i s c h i c h t i g : Voneinander unterschiedene Laute (die erste Schicht) werden nach bestimmten Regeln des Kodes zu Lautketten kombiniert, die dann als Ausdruck der sprachlichen Zeichen funktionieren (die zweite Schicht). Im Kode müssen (a) die Laute gegeneinander abgegrenzt sein, damit sie identifizierbar sind, und (b) die Kombinationsregeln festliegen. Lautketten, die nach den Gesetzen des Kodes konstruiert sind, kann, wie gesagt, der Sprecher automatisch dem Kode entnehmen, wenn er semantisch und syntaktisch kodiert hat. Da die Ausdrucksebene fest mit der Inhaltsebene verknüpft ist, scheint eigene Tätigkeit des Sprechers, die man als Kodieren bezeichnen könnte, nicht mehr erforderlich zu sein. Nun unterliegen allerdings die Lautketten, die nach der semantischen und syntaktischen Kodierung konstituiert sind, bestimmten regelmäßigen Veränderungen, je nach dem, in welcher Umgebung sie stehen. Der Sprecher muß also gemäß den Regeln des Kodes die Grundlautkette, die für jedes Zeichen im Kode registriert ist, je nach dem Kontext umsetzen in die Lautkette, die wirklich produziert wird. Wenn der Sprecher den Inhalt Hund mitteilen möchte, so liefert ihm der Kode dazu automatisch die Grundlautkette h+u+n+d. In den Formen des Hundes, die Hunde entspricht diese Grundlautkette der gesprochenen Lautkette. Für Hund jedoch erscheint als endgültiger Ausdruck h+u+n+t, d. h., nach einer Regel des Kodes muß der Sprecher dzut umsetzen, wenn es im Auslaut steht. Auf diese Regel geht die Variation eines Konsonanten innerhalb vieler Wörter zurück: (in Lautschrift) gra.p - gra.bes, we:k - we.ges, ra:t - ra:des usw. Diese Umformung der Grundlautkette, die der Kode automatisch liefert, je nach den Bedingungen des Kontexts, nennen w i r p h o n o l o g i s c h e K o d i e r u n g . In dieser dritten Phase der Kodierung produziert der Sprecher nach den Regeln des Kodes die endgültigen Einheiten der Ausdrucksebene. 2.24

Schematische Darstellung der Kodierung

SK: semantische Kodierung SynK: syntaktische Kodierung PK: phonologische Kodierung

L.

Kode

31

2.25 (1)

(2)

(3)

(4)

(5) (6)

2.3

Aufgaben Vergleichen Sie anhand folgender Beispiele die semantische Struktur des Englischen und des Deutschen: Fleisch flesh : meat wissen : kennen — to know Uhr — clock : watch Inwiefern sind diese Differenzen zwischen den beiden Sprachen ein Indiz für die Notwendigkeit der semantischen Kodierung, d. h. der Umsetzung individueller Vorstellungen in konventionelle Inhalte? Inwiefern kann man von einem Merkmalsverlust infolge der semantischen Kodierung sprechen? Welche Möglichkeiten hat der Sprecher, diesen Verlust zu vermeiden? Benutzen Sie die Beispiele aus (1). Vergleichen Sie folgende Sätze (aus dem Deutschen, Englischen und Lateinischen) miteinander: der Hund + beißt + den Mann the dog + bites + the man canis + mordet + virum Diese Sätze unterscheiden sich voneinander durch (a) verschiedene Zuordnung der Vorstellungen • (b) unterschiedliche semantische Kodes • (c) unterschiedliche syntaktische Kodes • (d) unterschiedliche Ausdrucksweise der syntaktischen Zuordnung • (e) verschiedene Zuordnung der Inhalte • (f) unterschiedlich große Freiheit der Satzstellung. • Kreuzen Sie die richtigen Aussagen an. Begründen Sie Ihre Meinung. Inwiefern wird die Ausdrucksebene einer Mitteilung wesentlich ohne Aktivität des Sprechers kodiert? Nehmen Sie zur Erklärung das Beispiel aus 2.14, Aufgabe (1) hinzu. Inwiefern gleicht die phonologische Ebene in ihrer Struktur der semantischen zusammen mit der syntaktischen Ebene? Warum macht die Kontextabhängigkeit der Lautketten eine phonologische Kodierung notwendig? Spielt der Kontext auch auf der semantischen und syntaktischen Ebene eine Rolle? (Geben Sie Beispiele).

Übertragung

Mit der Kodierung wird der Bereich der Vorstellungen nicht verlassen; es werden nur individuelle durch konventionelle Vorstellungen ersetzt. Erst die Übertragung führt zu einer Realisierung.

Vorstellung 32

Vorstellung

2.31

Übertragung auf Nervenbahnen

In der ersten Phase der Übertragung müssen die Lautvorstellungen umgesetzt werden in Anweisungen an die Artikulationsorgane, diese Lautvorstellungen zu realisieren. Diese Anweisungen werden in Form von elektrochemischer Energie auf Nervenbahnen zu den Sprechwerkzeugen transportiert, so daß diese dann entsprechend funktionieren.

2.32

Artikulation der Lautketten

Durch die nervlichen Impulse werden die Artikulationsorgane (Kehlkopf, Zäpfchen, weicher Gaumen, Zunge, Unterkiefer, Lippen) so in Bewegung gesetzt, daß in den Resonanzräumen der Mund- und Nasenhöhle Laute mit ganz bestimmten akustischen (= phonetischen) Eigenschaften entstehen: Die Lautvorstellungen werden akustisch realisiert. Dabei müssen die Eigenschaften der Laute denen entsprechen, die der Kode für die Lautvorstellungen vorschreibt; sonst hätte der Hörer keine Chance, die akustischen Einheiten, die er empfängt, richtig zu dekodieren. Die phonetische Realisierung ist verknüpft mit einer strukturellen Veränderung: Die K e t t e der Lautvorstellungen wird zu einem akustischen Κ o η t i η u u m ; d. h. die genau gegeneinander abgegrenzten Einheiten, die nach den Regeln des Kodes kombiniert waren, werden in einen Lautfluß umgesetzt, in dem die einzelnen Bestandteile nicht gegeneinander abgesetzt sind. Wenn Sie sich bei der Artikulation des Satzes

Der Hund beißt den Mann beobachten, so werden Sie bestätigen können, daß aus der Kette von Lautvorstellungen

d+e:+r+h+u+n+t+b+a+i+s+t+d+e:+n+m+a+n das phonetische Kontinuum

de:rhuntbaiste:nman geworden ist (: ist in der phonetischen Konvention das Zeichen fur „Länge"). Die Kontinuität entsteht dadurch, daß die Artikulationsorgane nicht in Etappen, sondern in einer einheitlichen Artikulationsbewegung funktionieren. Daraus folgt erstens, daß die phonetischen Einheiten ineinander übergehen, und zweitens, daß sie sich gegenseitig beeinflussen, in ihren akustischen Eigenschaften also kontextabhängig sind.

2.33

Akustische Übertragung

Die Artikulationsorgane produzieren in einheitlicher Artikulationsbewegung ein Kontinuum von Schallwellen, die vom Kommunikationspartner empfangen werden können. Damit ist durch das Medium der Schallwellen die Verbindung zwischen Sprecher und Hörer geschaffen, ohne die Kommunikation selbstverständlich nicht möglich ist.

2.34

Empfang der Lautketten

Im Ohr des Hörers werden die Schallwellen in mechanische Schwingungen (des Trommelfells, der Ohrknöchelchen, der Ohrflüssigkeit) umgesetzt und damit den Nerven des Hörers zugänglich gemacht. 33

2.35

Übertragung auf Nervenbahnen

Die mechanischen Schwingungen werden in elektrochemische Energie umgewandelt und auf Nervenbahnen zum Gehirn transportiert. Damit ist das akustische Kontinuum, das der Hörer empfangen hat, dekodierbar.

2.36

Schematische Darstellung der Übertragungsvorgänge: Übertragung Kodierung

NB



NB

Dekodierung

V'

NB: Nervenbahnen; A: Artikulation; AÜ: Akustische Übertragung; Ii: Empfang;

2.4

Dekodierung

Nachdem die Übertragung der Mitteilung abgeschlossen ist, kann der Hörer mit der Dekodierung beginnen. Die Dekodierung steht in ihren einzelnen Phasen zur Kodierung in reziprokem Verhältnis: Während die Kodierung individuelle Vorstellungen in konventionelle, im Kode vorgesehene Vorstellungen überführt und damit übertragbar macht, setzt die Dekodierung den Lautfluß in die Kette der Lautvorstellungen um, identifiziert die einzelnen Zeichen und stellt damit die gesendeten Inhalte dem Hörer zur Verfügung.

2.41

Phonologische Dekodierung

In dieser ersten Phase der Dekodierung muß der Hörer das phonetische Kontinuum, das er empfangen hat, zurückverwandeln in eine Kette von Lautvorstellungen, deren einzelne Glieder und Kombinationsgesetze im Kode definiert sind. Er muß also das empfangene Kontinuum mit dem Lautinventar des Kodes vergleichen und es dabei in Einheiten aufspalten, die im Kode vorgesehen sind. Dabei werden die einzelnen, sehr individuell gestalteten akustischen Realisationen (die ja abhängig sind vom Kontext, vom Sprecher, von der Situation usw.) zurückverwandelt in konventionelle, im Kode definierte Lautvorstellungen.

2.42

Syntaktische Dekodierung

In dieser zweiten Phase der Dekodierung muß der Hörer die Kette der Lautvorstellungen umsetzen in syntaktische Einheiten und ihre Kombinationen. Er muß also diese Reihe zulässiger Laute und Lautkombinationen mit dem Zeicheninventar des Kodes vergleichen und feststellen, in welche Ausdruckseinheiten er die Lautreihe zerlegen muß. Damit liegen dem Hörer die Ausdruckseinheiten aller der sprachlichen Zeichen vor, die der Sprecher ihm mitgeteilt hat. Da die Zeichen nicht linear, sondern hierarchisch mit verschieden starker Abhängigkeit einander zugeordnet sind, muß der Hörer nach den Regeln des Kodes die erschlossenen Einheiten zueinander in Beziehung setzen. 34

H

2.43

Semantische

Dekodierung

Wie die letzte Phase der Kodierung, so leistet auch die letzte Phase der Dekodierung der Kode nahezu automatisch: Sobald die Ausdruckseinheiten erschlossen sind, kann der Kode die Inhaltseinheiten liefern, weil ja Ausdruck und Inhalt durch Konvention zu Zeichen verknüpft im Kode gespeichert sind. Besondere Aktivitäten des Hörers, die man als Dekodierung bezeichnen könnte, sind nicht notwendig, da die Verknüpfung von Ausdruck und Inhalt ja schon geleistet ist. Vom Hörer wird lediglich Betätigung des Gedächtnisses verlangt. Allerdings unterliegen die semantischen Einheiten genau wie die phonologischen den Einflüssen des Kontextes. Der Hörer muß also die Inhalte, die der Kode ihm liefert, nach den jeweiligen Bedingungen des Kontextes umformen (siehe dazu 2.63). Wenn etwa nach der phonologischen und syntaktischen Dekodierung der Kode die semantischen Einheiten grün + Hering liefert, so muß der Hörer den großen semantischen Bereich von grün so einengen, wie es dem Einfluß von Hering entspricht: auf den Bereich grün im Sinne von frisch. Die Regeln für die Umformung in Abhängigkeit vom Kontext liefert der Kode. Die Umsetzung semantischer Einheiten nach den jeweiligen Kontextbedingungen bezeichnen wir als semantische Dekodierung. Damit hat der Hörer die Mitteilung des Sprechers vollständig dekodiert, er hat sich damit auch die den sprachlichen Inhalten entsprechenden Vorstellungen verschafft. 2.44

Schematische Darstellung der Dekodierung

PD: Phonologischc Dekodierung; S y n D : S y n t a k t i s c h e Dekodierung: S D : S e m a n t i s c h e Dekodierung.

2.45 (1)

(2) (3)

Aufgaben Stellen Sie sich vor, Sie treffen auf der Straße einige Damen und Herren, welche Sie kennen und Sie mit Guten Tag begrüßen. Eine Dame hat einen Sopran, ein Herr singt Baß, der andere Herr hat Zahnschmerzen und deshalb eine dicke Backe, eine zweite Dame ist vollständig heiser, ein dritter Herr muß seine Stimme forcieren, da gerade ein Lastwagen vorbeifährt usw. Wie erklären Sie sich, daß trotz der sicherlich vielfältigen phonetischen Realisationen in allen Fällen dieselben Inhalte + Tag mitgeteilt werden (wir beschränken uns auf sprachliche Kommunikation)? Was vom phonetischen Kontinuum, mit dem die Mitteilung übertragen wird, kann man als im eigentlichen Sinne kommunikativ bezeichnen? Vom englischen Schauspieler Garrick wird berichtet, daß er seine Zuhörer durch das Rezitieren des Alphabets zu Tränen rühren konnte. Wie erklären Sie sich diesen 35

(4)

(5)

2.5

Effekt? Inwiefern war es legitim, diesen Bereich aus unserer Analyse der Kommunikation auszuklammern? Die beiden Sätze Der Teufel holt die Linguistik und Die Linguistik holt der Teufel unterscheiden sich bitte ankreuzen in der mitgeteilten Vorstellung ^ in der Bedeutung Π in der Stellung der Ausdruckseinheiten in der Hierarchie der sprachlichen Zeichen in der Kette der Lautvorstellungen ^ im Zeicheninventar ^ Inwiefern wird beim Kodieren wie beim Dekodieren mit Ausdruck und Inhalt immer simultan operiert? Worin ist diese Simultaneität begründet?

Der wissenschaftliche Gegenstand der Linguistik

Wir haben uns Einblick verschafft in die Grundlagen der sprachlichen Kommunikation, um den Gegenstandsbereich der Linguistik sachlich fundiert definieren zu können. Um die bisherige Analyse zusammenzufassen, stellen wir den gesamten Kommunikationsvorgang schematisch dar:

Komplexe kommunikative Vorgänge, wie sie in diesem Modell dargestellt werden, enthalten sehr verschiedenartige Komponenten. Um diese Unterschiede zu erfassen, stellt man Gegensatzpaare von Begriffen (sogenannte D i c h o t o m i e n ) auf, die das Gegenstandsgebiet sowie die Analysemöglichkeiten sachgerecht gliedern sollen. 2.51

Die Dichotomie

relevant-redundant

Die akustischen Einheiten, die vom Sprecher zum Hörer übertragen werden, haben keineswegs ausschließlich Eigenschaften, die zur Signalisierung der betreffenden Mitteilung un36

entbehrlich sind und deshalb vom Kode vorgeschrieben werden, sondern sehr viele andere, die zur Übertragung der Mitteilung überflüssig sind (vgl. besonders 2.45, (1) und (2).) Auch ganze Einheiten wären durchaus entbehrlich. Man muß also unterscheiden zwischen kommunikativ Relevantem und kommunikativ Redundantem (= Irrelevantem). Alles Relevante muß im Kode gespeichert sein, damit die Kommunikation einwandfrei funktioniert. In der Erforschung des Relevanten liegt auch das Hauptinteresse der Linguistik (d.h., die Linguistik analysiert ihren Gegenstand vor allem unter f u n k t i o n e l l e m Aspekt). 2.52

Die Dichotomie Rede-Sprache

Durch diese Dichotomie wird zwischen dem konkreten Redeakt und dem System relevanter Einheiten, das diesem Redeakt als Kode zugrundeliegt, unterschieden. Diese Dichotomie berührt sich mit der von Relevanz und Redundanz: Sie markiert die Differenz zwischen dem System der Sprache, in dem das Relevante konventionell fixiert ist, und dem realen Phänomen, der konkreten Rede, die allein beobachtbar ist, jedoch lediglich als Realisation des Sprachsystems (mit allen redundanten Zutaten) aufgefaßt werden muß. Dieser entscheidende Gegensatz wurde von F. de Saussure, Cours 1916 als „parole" (Rede) - „langue" (Sprache) formuliert (als Übersetzung von „parole" wird auch „Sprechen" verwendet). Der Unterschied zwischen den Dichotomien Rede-Sprache und Relevanz-Redundanz besteht darin, daß man zwischen Relevantem und Redundantem auf einer Ebene unterscheidet, während Rede und Sprache auf verschiedenen Ebenen liegen insofern, als die Rede als Realisierung der Sprache angesehen wird. Das Hauptinteresse der Linguistik liegt in der Erforschung der Sprache. Man muß sich ganz klar machen, daß „Sprache" hier nicht naiv mit umgangssprachlicher Bedeutung verwendet wird, sondern in einem wissenschaftlichen System definiert ist als Bezeichnung für das theoretische Konstrukt, das die relevanten Größen, die dem sprachlichen Kommunikationsprozeß zugrunde liegen, zu einem System zusammenfaßt. Der Gegenstand der Linguistik ist nicht ein empirisch erfaßbares „Objekt" wie etwa Pflanzen (Gegenstand der Botanik), Tiere (Gegenstand der Zoologie), Gesteinsformationen (Gegenstand der Geologie) usw., sondern ein Konstrukt, das unter gewissem Aspekt (nämlich dem funktionalen) aus Teilen des sozialen menschlichen Verhaltens (nämlich der sprachlichen Kommunikation) erschlossen werden kann. Dieser Gegenstand ist also nicht einfach „gegeben", sondern er ist abhängig von dem Aspekt (und damit schließlich von dem Interesse des Untersuchenden), unter dem er konstruiert wird. Er ist zum anderen deutlich sozialer Natur. Die konkreten sprachlichen Äußerungen (= Einheiten der „Rede") liefern nur den empirischen Ausgangspunkt, sie sind nicht das wissenschaftliche Objekt der Linguistik. 2.53

Die Dichotomie Synchronie-Diachronie

Nicht nur jede sprachliche Äußerung, auch das Sprachsystem selbst ist bezogen auf einen bestimmten historischen Punkt, zu dem es existiert. Die historische Sprachwissenschaft, die die Sprache unter diachronem Gesichtspunkt analysiert, hat aufgewiesen, wie sich jedes System im Laufe der Zeit stark verändert. Will man jedoch das Sprachsystem selbst und seine jeweilige Struktur feststellen, so muß man von der Veränderung, also der historischen Komponente abstrahieren und das zu beschreiben suchen, was an einem bestimm37

ten Zeitpunkt an relevanten Einheiten und Strukturen im Sprachkode fixiert ist; diese Deskription eines bestimmten Systems und damit die (partielle) Erklärung der sprachlichen Kommunikation ist Ziel der synchronen Linguistik. Die Synchronie gilt als primär, weil jede relevante sprachliche Einheit nur durch den Zusammenhang im System konstituiert ist. Damit wird die Diachronie gesehen als Folge verschiedener, synchron beschriebener Systeme. 2.54

Die Gegenstandsbereiche der L inguistik

Nachdem das Feld der kommunikativen Vorgänge durch drei Dichotomien strukturiert ist, lassen sich wichtige Gegenstandsbereiche der Linguistik gegeneinander abgrenzen: 2.541

Phonetik

Die Phonetik beschäftigt sich mit den Schallwellen, die zur Übertragung dienen, mit ihrer Produktion und ihrem Empfang. Als Teil der Akustik gehört die Phonetik zweifellos zu den Naturwissenschaften. Da sie aber die Analyse des konkreten Bereichs der sprachlichen Kommunikation liefert, sind ihre Ergebnisse für die Linguistik unentbehrlich. 2.542

Erforschung des sprachlichen Systems

Der sprachliche Kode (= die Sprache = das System) konstituiert erst die sprachliche Kommunikation und ist deshalb der eigentliche Gegenstand der Linguistik. Im Gegensatz zur Phonetik gehört die Linguistik nicht zu den Natur-, sondern zu den Sozialwissenschaften, da sie ein soziales Phänomen, nämlich das konventionell konstituierte System der Sprache, zum Gegenstand hat. Den Kodierungs- und Dekodierungsvorgängen kann man entnehmen, daß der Sprachkode sich in mehrere Bereiche gliedert; diesen entsprechen die Teildisziplinen der Linguistik: (a) Phonologie Die Phonologie beschäftigt sich mit den relevanten Einheiten der Ausdrucksebene (= Phoneme) und ihren Kombinationsregeln, wie sie im Sprachkode festgelegt sein müssen, damit phonologjsche Kodierung und Dekodierung funktionieren. Für „Phonologie" wird oft der Terminus „Phonemik" benutzt. (b) Morphemik Die Morphemik beschäftigt sich mit den Zeichen (= Morphemen) einer Sprache, also den Einheiten, die aus Ausdruck und Inhalt bestehen. (c) Syntax Die Syntax beschäftigt sich mit den Regeln, nach denen die Morpheme hierarchisch einander zugeordnet werden. (d) Semantik Die Semantik untersucht die Bedeutungsseite, d. h. die Struktur der Inhalte, die im Kode definiert sind.

38

2.55

Zur Strategie der Systemerforschung

Das Sprachsystem ist zwar die unentbehrliche Grundlage der Kommunikation, dennoch sind sich aber die Kommunikationspartner der Regeln des Systems nicht bewußt; Sprecher und Hörer kodieren ohne explizite Kenntnis der Regeln nach den Vorschriften des sprachlichen Kodes. Die Linguistik ist zwar eine empirische Wissenschaft, sie kann aber ihren Gegenstand weder direkt beobachten noch seine Strukturen vom Sprachteilnehmer erfragen. Der Sprachwissenschaftler m u ß das System aus dem beobachtbaren sprachlichen Verhalten von Sprecher und Hörer erschließen, er m u ß also aus den R e d e n , den sich akustisch manifestierenden Sprechakten, die S p r a c h e erschließen. Über die einzelnen Methoden der Linguistik geben die nächsten Kapitel Auskunft. Hier nur einige grundlegende Bemerkungen zur linguistischen Strategie: Der Sprachwissenschaftler hat die Möglichkeit, e'ine bestimmte, notwendigerweise begrenzte Menge von sprachlichen Äußerungen (ein sog. Korpus) zu sammeln, in einem analytischen Vorgehen die Äußerungen in einzelne Einheiten zu zerlegen (zu segmentieren) und dann auf Grund seiner Beobachtungen von diesen Einheiten bestimmte Aussagen zu machen (ζ. B.: Jedes sprachliche Zeichen (naiv: Wort) des Deutschen enthält auf seiner Ausdrucksseite mindestens eine Einheit aus der Menge ,a, e, i, o, u , . . (= Menge der Vokale); fast alle deutschsprachigen Äußerungen sind mindestens zweigliedrig, das eine der minimalen Glieder stammt aus der Menge der Subjekte, das andere aus der Menge der Prädikate; steht in einer deutschsprachigen Äußerung die Einheit aus der Menge der Prädikate an erster Stelle, so hat die Äußerung eine andere Bedeutung (naiv: Fragesatz), als wenn diese Einheit an zweiter Stelle stände usw.). Der Sprachwissenschaftler kann auch, da er ja als Kommunikationspartner den Kode intuitiv kennt, beurteilen, welche Einheiten und Strukturen kommunikativ relevant sind und deswegen zur Sprache gehören. Bei ausreichender Materialgrundlage fuhrt solch ein Vorgehen zu einem Inventar von relevanten Lauteinheiten, sprachlichen Zeichen und syntaktischen Regeln, für die man Zugehörigkeit zum Sprachsystem postuliert. Eine solche Analyse wird als t a χ ο η o m i s c h bezeichnet; ihr Ergebnis ähnelt der Klassifizierung sämtlicher bekannter Pflanzen im Linné'schen System, dem natürlichen System der Elemente usw. Diese taxonomische Strategie verfolgten (in verschiedenen Ausprägungen) die strukturalistischen Schulen in Europa und Amerika (in den Kap. 4 und 5 werden die Methoden des taxonomischen Strukturalismus näher beschrieben werden). Das Ergebnis der taxonomischen Analysen ist insofern nicht befriedigend, als Sprecher und Hörer nicht durch Reproduktion eines begrenzten Korpus sprachlicher Äußerungen kommunizieren, sondern durch Erlernen einer begrenzten Zahl von Einheiten und Regeln in der Lage sind, Äußerungen zu machen und zu verstehen, die sie noch nie gehört, die auch noch nie existiert haben (beliebtes Beispiel: ,1m Tertiär wurde auf dem Mond die Presse nicht zensiert'). Die Sprache ist also zu beschreiben als endliches Inventar von Einheiten und Regeln, mit dem es möglich ist, unendlich viele sprachliche Äußerungen zu produzieren, die alle grammatisch richtig sind. Die empirische Basis für eine solche Grammatikstrategie ist nicht mehr die Korpusanalyse (ein Korpus kann ja viele Äußerungen enthalten, die grammatisch „falsch" sind), sondern die Beurteilung sprachlicher Gebilde durch eine repräsentative Zahl von Sprachteilnehmern nach den Kategorien „grammatisch" - „nicht grammatisch".

39

Die Ergebnisse taxonomischer Analysen sind also (jedenfalls nach Meinung der generativen Grammatiker) umzuformulieren in eine g e n e r a t i v e Theorie der Sprache, nach der grammatisch richtige Sätze produziert, generiert werden können (im Kap. 6 werden die Methoden der generativen Grammatik erläutert). 2.56 (1)

(2)

(3) (4)

2.6

Aufgaben Inwiefern bedeutet das Aufstellen von Dichotomien eine Klassifizierung der kommunikativen Komponenten nach bestimmten Merkmalen? Wieviele Klassen wurden im Kapitel 2.5 aufgestellt? Wie sind diese Klassen definiert? Zwischen der Phonetik und der Sprachsystemanalyse bestehen grundlegende Unterschiede, nämlich - das Material, das untersucht wird, ist verschieden Π - das Untersuchungsziel differiert G - die Phonetik betreibt eine materielle, die Systemanalyse eine funktionelle Analyse CH - die Phonetik untersucht die Ausdrucksebene, die Systemanalyse die Inhaltsebene der Sprache CH Kreuzen Sie die richtigen Aussagen an. Definieren Sie die Forschungsbereiche Phonologie, Morphemik, Syntax, Semantik, indem Sie vom Zeichenmodell ausgehen. Inwiefern unterscheidet sich die empirische Grundlage sowohl der tax onomischen als auch der generativen Linguistik von der der „klassischen" Naturwissenschaften, ζ. B. der Astronomie? Erweiterung des Kommunikationsmodells

Wir haben ein Modell konstruiert, das die Grundstrukturen sprachlicher Kommunikationsvorgänge wiedergibt und aus dem man die Kerngebiete der Linguistik ableiten kann. Aufgrund weiterer Beobachtung wollen wir jetzt das Modell modifizieren und erweitern, so daß auch Probleme angedeutet werden können, mit denen sich die angewandte Sprachwissenschaft beschäftigt. 2.61

Differenz zwischen dem Kode des Sprechers und dem des Hörers

Wir haben angenommen, daß Sprecher und Hörer über den g l e i c h e n Kode verfugen müssen, wenn die Kommunikation funktionieren soll. Ohne irgendwelche Gemeinsamkeiten des Sprachsystems kann man sich sicherlich nicht verständigen; die Annahme eines identischen Kodes aber stellt eine Idealisierung dar. Die Dialektologie hat die verschiedenen Dialekte des Deutschen (man spricht von diatopischen Unterschieden) beschrieben; die Soziolinguistik hat die These aufgestellt, daß Sprachteilnehmer unterschiedlicher sozialer Schichten auch unterschiedliche Kodes haben (diastratische Differenzen); ein Gespräch mit einem Fachmann über dessen Spezialgebiet macht deutlich, daß jede Gruppe von Spezialisten eine eigene Fachsprache entwickelt hat, die Außenstehende schwer verstehen; in jeder Unterhaltung kann es einem passieren, daß der Partner Ausdrücke verwendet, die einem nicht geläufig sind usw. 40

Wir müssen das Kommunikationsmodell dadurch modifizieren, daß wir für Sprecher und Hörer zwei verschiedene Kodes ansetzen, die sich nur teilweise überschneiden. V



Dekodierung — V

Übertragung

Kodierung

f I

Τ

Η 1

2

Κ = Kode des Sprcchcrs; Κ = Kode des Hörers

In der Differenz der Kodes liegt natürlich das Hauptproblem des Sprachpädagogen, dessen Aufgabe es schließlich ist, die Sprachteilnehmer beim Erlernen des Kodes so zu unterstützen, daß keine Kommunikationsschwierigkeiten mehr auftreten. Aufgrund linguistischer Kenntnisse muß er in der Lage sein zu diagnostizieren, wie weit der Kode ausgebaut ist und welche Maßnahmen zum weiteren Ausbau zu ergreifen sind (vgl. Kap. 1). 2.62

Zur Rolle der Erfahrung bei Sprecher und Hörer

Die Vorstellungen, die der Sprecher kodiert, um sie dem Hörer mitzuteilen, sind entstanden durch die bisherige Erfahrung des Sprechers und deren Verarbeitung in dessen Bewußtsein. Die Kommunikation kann nur dann richtig funktionieren, wenn auch der Hörer einen Erfahrungshintergrund hat, der dem des Sprechers entspricht, so daß er die Mitteilung wirklich versteht. Der gemeinsame Kode genügt nicht (man denke an ein Gespräch mit einem deutschsprechenden Kannibalen über Tafelfreuden), ein gemeinsamer Erfahrungs- und Erkenntnishorizont muß hinzutreten.

Übertragung

Kodierung

K>

Dekodierung

WA *

E 1 = Erfahrungshorizont des Sprechers; E 2 = Erfahrungshorizont des Hörers.

Bei der Konstituierung des Erfahrungshorizonts spielt der sprachliche Kode eine Rolle, die jedoch noch nicht sicher bestimmt ist. 41

2.63

Die konnotative Komponente der sprachlichen Kommunikation

In der Aufgabe 2.45 (3) wurde bereits angedeutet, daß mit Hilfe der Sprache nicht nur begrifflich faßbare Nachrichten übermittelt werden (man spricht von denotativer Kommunikationsleistung), sondern daß auf vielfaltige Weise Emotionen beim Hörer durch Sprache ausgelöst werden können (das leistet die konnotative Komponente): Man denke an das Theater, an Literatur überhaupt, an politische Reden, an die Wirkung der Werbesprache usw. In vielen Fällen ist die konnotative Funktion relevanter als die denotative; man kann auch für den konnotativen Bereich ein eigenes Normeninventar postulieren, nach dem Sprecher und Hörer kodieren und dekodieren.

Em = Emotionen; KN = Konnotative Normen

Es ist wichtig zu betonen, daß die Feststellung kommunikativer Relevanz und Redundanz immer relativ gesehen werden muß zur jeweiligen kommunikativen Funktion: Was zur Übertragung einer denotativen Mitteilung redundant ist, kann für die konnotative relevant sein und umgekehrt. Dieses Kommunikationsmodell führt bereits über den Rahmen dieses Heftes weit hinaus. Es zeigt aber (wie schon das 1. Kap.), in welchem Horizont die linguistische Analyse (im oben skizzierten engeren Sinne) gesehen und worauf sie schließlich auch bezogen werden muß. 2.7

Literaturhinweise

Wir nennen hier fünf Titel, auf denen unsere Darstellung beruht und die wir zur ausführlicheren Orientierung für besonders empfehlenswert halten. Weitere Hinweise finden sich in der Bibliographie im Anhang. Cherry, Colin: On Human Communication, New York 1956. Dt. Übers.: Kommunikationsforschung - eine neue Wissenschaft, Frankfurt/M. 2 1 9 6 7 .

42

Dieses Buch führt in die Kommunikationswissenschaft mit all ihren natur- und sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen ein. Es ist empfehlenswert, weil es das sehr umfangreiche Material aus diesem sehr großen und unübersichtlichen Gebiet zusammenstellt und auch für naturwissenschaftlich und technisch nicht vorgebildete Leser verständlich ist. Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale, postum hg. v. Ch. Bally und A. Sechehaye, Lausanne, Paris 1 1916. Dt. Übers.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, Leipzig 1 1931; Berlin 2 1967. In diesen postum veröffentlichten Vorlesungen de Saussures - es handelt sich um Nachschriften seiner Schüler - finden sich Grundsätze, auf denen die strukturelle Linguistik Europas bis heute aufbaut: - Die Sprache ist ein Zeichensystem unter anderen Zeichensystemen; die Sprachwissenschaft ist deshalb als ein Teil der Semeologje (= Semiotik), der allgemeinen Zeichenwissenschaft anzusehen. - Das Zeichen besteht aus Ausdruck (signifiant) und Inhalt (signifié). Die Verknüpfung von sprachlichem Ausdruck und Inhalt ist willkürlich. - Die Dichotomie Sprache - Rede (langue - parole). Gegenstand der Sprachwissenschaft ist die Sprache. - Die Dichotomie Synchronie-Diachronie (Struktur des Sprachsystems - Geschichte des Sprachsystems). Die Analyse der Systemstruktur muß der Untersuchung der Systemgeschichte notwendig vorausgehen. Das Buch de Saussures ist ein Klassiker der strukturellen Linguistik. Besonders wichtig sind die Einleitung und der Teil I. Moulton, William G.: A Linguistic Guide to Language Learning, (New York) 1966. Moulton stellt die Grundlagen der modernen Linguistik zusammen, um das Erlernen fremder Sprachen zu erleichtern. Sein Buch ist für Laien geschrieben und bemüht sich deshalb um Voraussetzungslosigkeit und Anschaulichkeit. Besonders empfehlenswert ist das 3. Kapitel ,How Language Works'. Lindner, Gerhart: Einführung in die experimentelle Phonetik, München bzw. Berlin (1969). Lindner bietet eine Einführung in die Ergebnisse und Methoden der modernen Kommunikationswissenschaft und der modernen Phonetik. Der besondere Vorzug dieses Buches ist seine Lesbarkeit auch für lediglich geisteswissenschaftlich vorgebildete Leser. Meier, G. F.: Die Wirksamkeit der Sprache, ZPSK 1969, S. 474 -492. In diesem Aufsatz finden Sie ein besonders ausführliches Kommunikationsmodell. Heike, Georg: Sprachliche Kommunikation und linguistische Analyse. Sprachwissenschaftliche Studienbücher, 2. Abt., Heidelbeig 1969. Heike zeigt, von einem Kommunikationsmodell mit mehreren Ebenen ausgehend, verschiedene linguistische Analysestrategien und gibt Beispiele dazu.

43

3

Einführung in die Phonetik

In diesem Arbeitsheft stehen zwei Methodenkomplexe der Linguistik im Mittelpunkt: die Taxonomie, wie sie von den strukturalistischen Sprachwissenschaftlern (de Saussure, Trübetzkoy, Jakobson, Hjelmslev in Europa, Bloomfield und Harris in Amerika) entwikkelt wurde, und die generativ-transformationelle Grammatik Chomskys und seiner Nachfolger (die Titel der grundlegenden Werke dieser Linguisten können Sie der Bibliographie dieses Arbeitsheftes entnehmen). Wir werden mit den taxonomischen Methoden beginnen und dann im Bereich der Syntax die generativ-transformationelle Grammatik skizzieren. Die taxonomische Analyse einer Menge von sprachlichen Äußerungen muß zunächst ein Problem bewältigen, das eigentlich außerhalb der Untersuchung der Sprache (im Sinne von „langue") liegt: die Zerteilung des lautlichen Kontinuums einer Äußerung in distinkte Einheiten (Segmentierung), die Klassifikation dieser Segmente und die Deskription der Äußerungen als Segmentketten. Bevor diese materielle Analyse nicht geleistet ist, kann man nicht zur funktionellen Untersuchung, wie sie das Ziel der Linguistik ist, fortschreiten. Erst wenn diskrete Einheiten konstituiert sind, kann man nach Relevanz-Redundanz im Kommunikationsprozeß, nach Kombinationsfähigkeit, nach der kommunikativen Funktion größerer Einheiten usw. fragen. Die materielle Analyse sprachlicher Äußerungen ist Aufgabe der P h o n e t i k . Davon zu unterscheiden ist die Phonemik (= Phonologie), in der die funktionelle Analyse geleistet wird (wir benutzen hier die Terminologie der europäischen Linguistik; in Amerika ist „phonology" der Oberbegriff für Phonetik und Phonemik).

3.1

Artikulatorische Phonetik

Der Vorgang der Artikulation ist, ohne daß man komplizierte Instrumente nötig hätte, jedenfalls in seinen Grundzügen der Beobachtung leicht zugänglich. Die klassische Phonetik beschreibt deshalb die Laute einer Sprache nach den Bedingungen, unter denen sie produziert werden. Wir werden uns zunächst einen Überblick über die Grundbegriffe der artikulatorischen Phonetik verschaffen und dann die phonetischen Einheiten der deutschen Sprache nach ihrer Entstehung beschreiben und klassifizieren.

3.11

Produktion der Laute

Sprachliche Laute entstehen dadurch, daß die Lunge und ihre Muskulatur einen Luftstrom erzeugen, der durch den Kehlkopf oder ein Hindernis in der Mundhöhle in Schwingung versetzt wird. Die Schwingungen werden dann im sogenannten Ansatzrohr (der Mund- oder auch der Nasenhöhle) durch verschiedene Resonanzräume und weitere Schall-

44

quellen unterschiedlich ausgeformt, so daß Laute sehr verschiedener Qualität entstehen, wie sie zu differenzierter Kommunikation unentbehrlich sind. Auf die Bestimmung der artikulatorischen Differenz kommt es der artikulatorischen Phonetik an. 3.12

Artikulationsort und Artikulationsart

Die Differenzen zwischen den Lauten lassen sich beschreiben als Differenzen des Artikulations o r t e s und der Artikulations a r t . Unter der Artikulationsart versteht man den Modus, nach dem ein Laut produziert wird. Der Artikulationsort ist die Stelle, an der ein Laut in der Mundhöhle oder im Rachen gebildet wird. Im Koordinatensystem von Artikulationsart und Artikulationsort können alle Laute einer Sprache differenziert dargestellt werden. 3.121

Artikulationsorte

Der Artikulationsort ist die Stelle, an der ein Laut durch den Artikulator (vor allem die Unterlippe und die Zunge, also die beweglichen, aktiven Organe, die an der Lautproduktion beteiligt sind) artikuliert wird. Im Deutschen sind vor allem folgende Artikulationsorte relevant (vergleichen Sie das Schema am Ende dieses Abschnitts): — bilabial Lautbildung von Unter- und Oberlippe ([b]). — labiodental Lautbildung von Unterlippe und oberen Schneidezähnen ([f]). — dental Lautbildung von Zungenspitze und oberen Schneidezähnen ([t]). — alveolar Lautbildung von Zunge und Gaumenrand (= postdental) ([r]). — palatal Lautbildung von Zunge und Palatum (hartem Gaumen) ([ç, j]). — velar Lautbildung von Zunge und Velum (weichem Gaumen) ([k]). Palatale und velare Laute werden als Gutturale zusammengefaßt. — uvular Lautbildung von Zunge und Zäpfchen (uvula) ([R]). — glottal Lautbildung an den Stimmritzen (glottis) ([h]).

45

Die in der Phonetik üblichen Fach termini sind in Klammern hinzugefügt. 3.122

Artikulationsarten

Für die Produktion der deutschen Laute sind folgende Artikulationsarten relevant: — Vokale Die Stimmlippen des Kehlkopfes sind die einzige Schallquelle. Die Verschiedenheit der Vokale wird durch unterschiedliche Gestaltung des Resonanzraumes in der Mundhöhle erreicht. Die Stimmlippen produzieren regelmäßige, periodisch sich wiederholende Schwingungen, also Klänge.

46

Konsonanten Die Konsonanten haben als Schallquelle die Sprengung eines Verschlusses oder die Verengung des Luftweges irgendwo in der Mundhöhle oder im Rachen. Diese Schallquelle tritt bei den stimmhaften Konsonanten zu der Schallquelle der Stimmlippen hinzu, bei den stimmlosen ist sie einziger Schallproduzent. Die Schallquellen der Konsonanten erzeugen aperiodische Schwingungen, Geräusche. — Nasale Die Nasenhöhle wird als Resonanzraum benützt, die Mundhöhle wird an einer bestimmten Stelle verschlossen (Bsp.: [m, n]). — Laterale Die Mundhöhle wird durch die Zunge teilweise (nämlich nur in der Mitte) verschlossen, die Luft entweicht an beiden Seiten (Beispiel: [1]. — Intermittierende Die Mundhöhle wird durch die Zunge oder auch das Zäpfchen schnell hintereinander geschlossen und wieder geöffnet (Beispiele: Zungen-r und Zäpfchen-r). Laterale und Intermittierende werden als Liquide zusammengefaßt. — Spiranten An einer Stelle der Mund- oder Rachenhöhle wird der Luftweg f a s t verschlossen. Durch diese Engenbildung werden Reibelaute, Spiranten produziert (z. B. [f, s, v]). — Verschlußlaute Die Mund- oder Rachenhöhle wird an einer Stelle verschlossen und ruckartig geöffnet (daher auch: Explosivlaute) (z. B. [b, d, g]). — Aspirata Der Verschlußöffnung bei Explosivlauten folgt noch ein Hauch, ähnlich dem deutschen anlautenden h (Beispiele: [p, t, k]). — Affrikaten Besonders enge Kombination eines Verschlußlautes mit einem Spiranten desselben Artikulationsortes (Beispiele: [pf, ts] in Pferd, Zahn). — Stimmhafte Konsonanten, bei denen die Stimmlippen eine der Schallquellen sind (ζ. B. [b, d, v]). Gegenteil: stimmlose (ζ. B. [p, t, f]).

47

3.13

Die Laute des Deutschen

Artikulationsort

Phonetisches Schema der Konsonanten:

a

x>

Verschluß-

M o M,

T3 O

3

•S

3 JS

o

"Hb

sth.

laut stl.

ts

Affrikaten

sth. Spiranten stl.

s, Ç

Nasale

Laterale

Intermittierende

Kommentar zum Konsonantenschema: [p ] ein im Kehlkopf produzierter Verschlußlaut, der im Deutschen vor jedem anlautenden Vokal steht. [p 1 , t s ] der zweite Partner der Affrikaten ist als Exponent geschrieben, um die besondere phonetische Einheit zu betonen. [t s ] wird im Deutschen mit dem Schriftenzeichen bezeichnet. [v] phonetisches Zeichen für die stimmhafte labiodentale Spirans, die im Deutschen meist geschrieben wird, [s] phonetisches Zeichen für den geschriebenen Spiranten, [ç] phonetisches Zeichen für den palatalen Spiranten in ich, Milch. [x] phonetisches Zeichen fur den velaren Spiranten in acht, Kuchen. [i}.] phonetisches Zeichen für den velaren Nasal in fangen, Hang. [R] phonetisches Zeichen für das Zäpfchen-r. Wir verwenden weitgehend die Zeichen des Internationalen Phonetischen Alphabets; „sth." und „stl." sind Abkürzungen für „stimmhaft" und „stimmlos". Im Deutschen ist nicht streng festgelegt, welche Laute dental und welche alveolar artikuliert werden; hier hat der Sprecher die Freiheit der Variation. Deshalb haben wir diese beiden Gruppen im Schema der Konsonanten nicht voneinander getrennt.

48

Phonetisches Schema der Vokale: Zungenstellung

Zungenhöhe

hoch

vorn ung». rundet

gerundet

i:

ü: i

e: tief

gerundet u:

ü

u

ö: e

ö

ae

variabel

hinten

neutral

ae

o:

3

o

a:

a



ao

Kommentar zum Vokalschema

[91 [ae]

phonetisches Zeichen für Länge: manchmal auch durch ~ (a: = ä) wiedergegeben. phonetisches Zeichen für den unbetonten, e geschriebenen Laut in Hilfe, Gabel usw. phonetisches Zeichen für den geschriebenen Vokal in säen (im Unterschied zu sehen), gäbe (im Unterschied zu gebe) usw. (= [ä: ]).

Das Internationale Phonetische Alphabet verwendet für die Umlaute nicht die Zeichen [ü, ö], sondern für [ü] [y], für [ö] [φ]. Das Vokalschema benutzt als Koordinaten die Zungenstellung (vorn am Palatum, neutral = flach am Unterkiefer liegend, hinten am Velum) und die Zungenhöhe (von geschlossener kontinuierlich über halb geschlossener, halb offener zu ganz offener Stellung). Bei den Diphthongen [ae, oü, ao] ist sowohl die Zungenhöhe als auch die Zungenstellung variabel: beides ändert sich während der Artikulation. Die Ebene der Zungenstellung entspricht der Ebene des Artikolationsortes im Konsonantenschema; der Unterschied liegt darin, daß bei den Konsonanten am Artikulationsort eine Schallquelle liegt, während bei den Vokalen durch die besondere Zungenstellung nur ein spezifischer Resonanzraum geschaffen wird (s. 2.31). Bei einigen Vokalen ([ü, ö, u, o]) tritt als Merkmal noch die Rundung der Lippen hinzu; die vorderen Vokale treten gerundet und ungerundet auf, die hinteren nur gerundet. Die Ebene der Zungenhöhe entspricht der Ebene der Artikulationsart im Konsonantenschema. Das Konsonantenschema ist so aufgebaut, daß bei den oberen Lauten der Luftweg völlig verschlossen wird und die Öffnung immer größer wird, je weiter man im Sche49

ma nach unten geht. Diese Öffnung setzt sich im Vokalschema fort: Die Verschlußlaute und der Vokal [a] besetzen die extremen Positionen dieser Koordinate. 3.14

Stammbaumschema

der deutschen Laute

Die Beschreibung der deutschen Laute nach Artikulationsart und Artikulationsort ist identisch mit einer Klassifizierung: Alle im Deutschen auftretenden akustischen Einheiten werden nach artikulatorischen Merkmalen der Artikulationsart und des Artikulationsortes in bestimmte Klassen geordnet: Vokale, Konsonanten,Nasale, Spiranten usw. Diese Klassen stehen nicht beziehungslos als Alternativen der Einteilung nebeneinander; einige Klassen sind Unterklassen von anderen, d. h. man kann eine Hierarchie feststellen (Spiranten etwa sind eine Unterklasse der Konsonanten). Man kann also die Gesamtheit der deutschen Laute zunächst in zwei Klassen einteilen, in Vokale und Konsonanten, die Klassen wieder in Unterklassen usw. Je allgemeiner eine Klasse ist, je mehr Unterklassen sie um· faßt, desto weiter oben steht sie in der Hierarchie. Als graphische Darstellung solcher Klassenhierarchien hat sich der Stammbaum eingebürgert (nicht nur in der Linguistik, sondern auch in der Biologie, der Mengenlehre usw.); die Klasse, die die Gesamtheit der zu klassifizierenden Einheiten umfaßt, verästelt sich in immer mehr Unterklassen. Als Beispiel einer Stammbaumdarstellung stellen wir das Stammbaumschema der deutschen Vokale auf. Es gäbe sicherlich noch andere Möglichkeiten, diesen Stammbaum zu konstruieren, die Hierarchie der Klassen also anders aufzustellen (ζ. B. könnte man das Merkmalpaar kurz - lang erst nach dem Paar variabel - konstant oder sogar erst ganz unten im Stammbaum aufführen. Da die Hierarchie der Klassen in diesem Fall nicht genau festliegt (da also die eine Klasse nicht eindeutig umfassender als die andere ist), gibt es mehrere Stammbaumvarianten. Die Tatsache, daß die Klassifizierung nach bestimmten Merkmalen gleichzeitig eine Beschreibung der Laute ist, kann man sich verdeutlichen, indem man den Stammbaum der deutschen Vokale von oben nach unten durchläuft, immer eine der Alternativen an jedem Knoten auswählt und die Merkmale, die man an dem Knoten auswählt, notiert. Die Liste der Merkmale beschreibt die Klasse, bei der man sich befindet, am Ende des Stammbaums also den einzelnen Laut. (Beispiel: Vokal + kurz + ungerundet + neutral + offen = Beschreibung von [a]).

3.15

Die prinzipielle Unbegrenztheit des Stammbaums

Sie erinnern sich an das G«ien-7ag-Beispiel (vgl. Kap.2): Die Produktion der akustischen Einheiten unterliegt so vielen singulären Bedingungen (des sprachlichen und situativen Kontextes, des organischen Zustandes, des Alters, der sozialen und geographischen Herkunft usw.), daß man kaum erwarten kann, daß ein Laut irgendeinem anderen materiell präzise gleicht. Das bedeutet, daß das phonetische Zeichen [a] nicht für einen materiell konstant realisierten Laut, sondern für einen Lauttyp, für die Klasse aller Laute mit den Merkmalen Vokal + kurz + ungerundet + neutral + offen steht. Neben diesen Merkmalen, die die Klassenzugehörigkeit zu [a] konstituieren, haben diese Laute noch viele andere Merkmale, die von sehr divergierenden Bedingungen abhängen. Beispielsweise ist (in Ab50

« < u

•s

•δ SsP

g δ

I

& 3

ι•O 51

hängigkeit vom Lautkontext) das [a] in gackern weiter hinten als das [a] in Tatze. Wir könnten also ohne weiteres die Klasse [a] aufteilen in die Unterklassen „vorn" und „hinten" und dann weiter nach den Merkmalen „männlicher Sprecher" — „weiblicher Sprecher", „Tenor" — „Baß", „Krach" — „Stille" usw. Da man immer neue Bedingungen finden wird, die die phonetische Realisation von [a] um eine Nuance verändern, also eine neue Variante der Klasse [a] schaffen, kann man den Stammbaum laufend nach unten verlängern; jede Artikulation eines [a] kann eine neue Variante kreieren, die dazu zwingen würde, den Stammbaum zu erweitern; der Stammbaum ist, da das Ende der Welt nicht abzusehen ist, prinzipiell unbegrenzbar. Das Abbrechen des Stammbaums, der die Hierarchie der Klassen graphisch darstellt, ist eine Ermessensfrage: Wie lange ist es sinnvoll, Klassen voneinander zu unterscheiden? Solange, wie der Unterschied noch deutlich hörbar ist? Solange, wie meine Meßinstrumente ihn anzeigen? Solange, wie der Unterschied bedeutungsvoll für das Funktionieren der Kommunikation ist? Damit sind wir von der materiellen zur funktionellen Analyse übergegangen. Die Phonemik, nicht die Phonetik, kann angeben, wo von der denotativen Relevanz her der Stammbaum sinnvollerweise abzubrechen ist.

3.16 (1)

(2)

(3)

(4) (5)

3.2

Aufgaben Zur Einübung der artikulatorischen Merkmale: Tragen Sie unter den Astenden des Stammbaumschemas in Kap. 3.14 die dt. Vokale ein, die durch dieses Schema beschrieben werden. Vergleichen Sie die Linguistik mit anderen analytischen Wissenschaften, z. B. der Mathematik, der Geometrie, der Chemie. Inwiefern ist in all diesen Wissenschaften eine Segmentierung in diskrete Elemente der erste Schritt der Analyse? Welche Rolle spielt eine (natürlich naive) phonetische Analyse bei der Erlernung der Sprache durch jeden Kommunikationsteilnehmer? Welche Rolle fallt etwa in einem Gebiet mit ausgeprägter Mundart (die phonetisch sehr von der allgemeinen Verkehrssprache abweicht) dem Deutschunterricht der Schule zu? Welche phonetischen Probleme sehen Sie im Sprachunterricht für Taube? Gemäß strukturaiistischem Ansatz werden Einheiten nicht intern, sondern nach ihren Beziehungen zu den anderen Einheiten desselben Systems beschrieben. Inwiefern kann man die Deskription und Klassifikation der deutschen Laute nach Kriterien der Produktion als materiellen Strukturalismus bezeichnen?

Akustische Phonetik

Die akustische Phonetik beschreibt und klassifiziert die Sprachlaute nach ihren physikalischen Eigenschaften: Dauer, Frequenz, Intensität. Diese physikalische Analyse der Laute erfordert eine umfangreiche Apparatur (Speicherung der Laute, Frequenzmessung, Schalldruckmessung usw.), die erst in neuerer Zeit zur Verfügung stand. Die akustische Phonetik ist deshalb erheblich jünger als die artikulatorische, ihre Ergebnisse und ihre Terminologie setzen sich erst langsam durch.

52

3.21

Das

Visible-Speech-Verfahren

Durch das Visible-Speech-Verfahren werden akustische Phänomene in Hinblick auf Dauer (Zeitkoordinate), Frequenz (Frequenzkoordinate) und Intensität gemessen und sichtbar gemacht: Auf einen besonders präparierten Papierstreifen, der mit konstanter Geschwindigkeit durch den S o n a g r a p h e n , das Aufzeichnungsgerät, läuft, wird das S o n a g r a m m einer Lautsequenz aufgezeichnet (technische Einzelheiten bei Lindner, Phonetik 1969, S. 84-90). Als Beispiel geben wir auf der nächsten Seite ein Sonagramm des Satzes Wissen kann man sich nicht erkaufen. Auf der Abszisse wird die Zeit in Sekunden (s), auf der Ordinate die Frequenz in Kilohertz (kHz) aufgetragen. Die Intensität (=Amplitude der Schwingungen) läßt sich am Schwärzungsgrad ablesen. Der Grad der Schwärzung kann aufgelöst werden in eine Kurve, die über dem Frequenz-Zeit-Koordinatensystem aufgetragen ist. Aus einem Sonagramm, das die akustischen Eigenschaften der Laute abbildet, kann man nun die physikalischen Merkmale der Laute entnehmen und die Laute nach diesen Merkmalen klassifizieren, ganz so, wie es die artikulatorische Phonetik auch tut. 3.22

Die Merkmale der akustischen

Phonetik

Wir stellen die Merkmale der akustischen Phonetik zusammen, soweit sie fur die Deskription und Klassifikation deutscher Laute relevant sind. Wir wählen die englischen Termini und fügen die deutschen nur in Klammern hinzu, weil vor allem die englischsprachige Literatur die Terminologie der akustischen Phonetik benutzt, während in der deutschen Sprachwissenschaft vor allem die artikulatorischen Merkmale verwendet werden. Die Merkmalskala der akustischen Phonetik ist streng b i n ä r aufgebaut, d. h. es gibt immer nur die zwei Möglichkeiten: daß ein Merkmal vorhanden ist oder nicht vorhanden (+ oder —) bzw. sein Gegenteil vorhanden ist. Drei oder mehr Möglichkeiten (z. B. ein Laut ist entweder labial oder alveolar oder guttural) sind ausgeschlossen. Die binäre Skala ist am rationellsten, weil sie die geringste Zahl von Merkmalen enthält: von den drei Merkmalen „labial", „alveolar" und „guttural" kann ich eines (z. B. „guttural") einsparen, wenn ich diese Merkmale binär ordne; ein Laut ist dann entweder ,,+labial" oder „-labial" oder „+alveolar" oder „-alveolar"; das Merkmal „guttural" kann fehlen, weil die Laute dieser Klasse mit den Merkmalen „—labial" und „—alveolar" schon hinreichend von allen anderen differenziert sind. Beispiele Γιίτ jedes Merkmal finden Sie in der Matrix im nächsten Kapitel. (a)

Merkmal vocalic - nonvocalic (vokalisch - nicht-vokalisch) Schon das Sonagramm zeigt uns einen besonders auffallenden Unterschied zwischen zwei Lautgruppen: Ein Teil der Laute wird im Sonagramm durch scharf begrenzte, ziemlich waagerecht liegende Balken (= F o r m a n t e n ) abgebildet, d. h. sie liegen akustisch in ganz bestimmten Frequenzbereichen; die Abbildungen des anderen Teils haben keine scharfen Grenzen, sie sind außerdem nicht auf wenige Frequenzbereiche beschränkt, sondern erstrecken sich über große Teile der Ordinate. Definition: Laute, die im Sonagramm durch scharf auf bestimmte Frequenzbereiche begrenzte Formanten abgebildet werden, haben das Merkmal „vocalic". 53

(b)

(c)

(d) (e)

(f)

(g)

(h)

(i)

(j)

(k) (1)

3.23

Merkmal consonantal — non-consonantal (kons. — nicht kons.) Von dem Sonagramm kann man ablesen, daß die Intensität (= akustische Energie) der Laute sehr unterschiedlich ist. Die Laute mit niedriger Energie werden bezeichnet mit dem Merkmal „+consonantal" (versus „-consonantal" für die Laute mit hoher Energie). Merkmal compact — non-compact (kompakt — nicht-kompakt) Das Merkmal „+compact" haben alle die Laute, bei denen das Sonagramm eine Energiekonzentration auf einen verhältnismäßig schmalen, zentralen Bereich anzeigt. Merkmal diffuse - non-diffuse (diffus — nicht diffus) Dieses Merkmal ist dem Merkmal „compact" entgegengesetzt: weniger starke Konzentration der Energie und Lokalisierung außerhalb des Zentrums des Sonagramms. Merkmal grave - acute (dunkel - hell) Laute mit dem Merkmal „+grave" zeigen Energiekonzentration in den niedrigeren Frequenzen des Sonagramms, Laute mit dem Merkmal „+acute" (= - grave") in dem höheren. Merkmal flat — non-flat (erniedrigt - nicht erniedrigt) Wenn im Sonagramm eines Lautes zwar hohe Formanten vorhanden sind, der Laut also das Merkmal „+acute" hat, diese Formanten aber gegenüber anderen tiefer liegen, abgeflacht sind, dann ist dieser Laut ,,+flat". Merkmal nasal — oral Ein Laut ist ,,+nasal", wenn die Energie auf Kosten des untersten Formanten sehr gestreut ist und nasale Formanten hinzutreten. Merkmal continuous — non-continous (kontinuierlich — abrupt) Ein Laut, dessen Sonagramm kontinuierlich ohne abrupte Pausen, Einsätze usw. verläuft, hat das Merkmal „+continous". Setzt er nach einer Pause plötzlich ein oder reißt er vor einer Pause plötzlich ab, so ist er — continous. Merkmal tense — lax (gespannt — nicht gespannt) Laute mit hoher Energie und breiter Verteilung im Spektrum heißen „tense" (im Gegensatz zu „lax"), Merkmal strident — mellow (scharf — mild) Laute höherer Intensität erhalten das Merkmal „strident" im Gegensatz zu Lauten mit geringerer Intensität (= „mellow"), Das Merkmal long - short bedarf keiner Erläuterung. Merkmal voiced - unvoiced (stimmhaft - stimmlos) Laute, deren Sonagramm ganz unten einen schmalen Balken (,voice bar') aufweisen, erhalten das Merkmal „+voiced". Dieses Merkmal entspricht dem gleichbezeichneten artikulatorischen. Es sei angemerkt, daß wir dieses Merkmal in unserer Matrix nicht verwenden. Akustische Matrix deutscher Laute

Als eine Möglichkeit, Laute zu klassifizieren und die Klassifikation darzustellen, ist das Stammbaumschema erörtert worden (vgl. Kap. 3.14). Eine andere Möglichkeit bietet die Matrix: Auf der einen ihrer Koordinaten werden alle Laute aufgetragen, auf der anderen alle Merkmale in binärer Anordnung; dann kann man mit den Zeichen „+", „—" und „0" (= das Merkmal ist irrelevant) vermerken, welche Merkmale ein Laut hat. 55

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I

+ +

3 O 3 < Λ C > V

109

6.72

Wir bezeichnen auch die Verbform von Sätzen wie (2) Petra wacht auf (3) Der Arbeiter setzt die Maschine in Betrieb mit dem Symbol V ; aufwachen (Partikelverben) und in Betrieb setzen (Funktionsverben) sind also ebenso Verbformen wie singen (Simplexverben) und begreifen (Präfixverben). Es handelt sich hier um morphologische Varianten der Kategorie V, welche als terminale Konstituenten in Sätzen der Oberfläche auftauchen.

6.73

Manche Verbalteile enthalten neben einer Verbform noch einen Nominalteil, ζ. B. (4) Petra singt Schlager Die Strukturregel für diesen Verbalteil lautet: VP ->· V + NP Wenn man die Formel für Satz (1) und (4) kombiniert, so erhält man VP -*• V (+NP). Damit können wir alle Sätze erzeugen, die ein intransitives oder ein transitives Verb enthalten. 6.74 Mit dieser Formel erhält man auch eine formale Definition für die Termini .intransitives Verb' und ,transitives Verb' in der traditionellen Grammatik: Von intransitiven Verben sprechen wir, wenn der Verbalteil eines Satzes nur aus einer Verbform besteht. Von transitiven Verben sprechen wir, wenn der Verbalteil eines Satzes noch einen Nominalteil enthält. 6.75

Man könnte auch Sätze der folgenden Art mit dieser Formel erfassen: (5) Petra hilft dem Handwerker (6) Petra wartet auf Klaus

Wenn wir uns aber Kasuskennzeichnung und den Bau dieser Nominalteile ansehen, so stellen wir Unterschiede fest zum Satz (4), wo NP im Akkusativ steht; in Satz (5) hat der Nominalteil in VP die Dativform und in Satz (6) liegt eine Verbindung mit einer Präposition vor. Es können also in VP verschiedene Arten von Nominalteilen auftreten, die mit unserer Formel nicht präzise erfaßt werden. 6.76 Zwischen dem Verb und dem zum Verbalteil gehörigen Nominalteil bestehen enge Zusammenhänge, ζ. B. hat danken eine NP mit Dativ-Kennzeichnung (Der König dankt dem General), grüßen eine NP mit Akkusativkennzeichnung bei sich. Die Nominalteile der Beispielsätze sind, wenn die Kasuskennzeichnung beibehalten wird, nicht austauschbar: (7) *Der König dankt den General (7 ') *Der König grüßt dem General 6.77 Wenn wir eine Grammatik anstreben, welche die Regeln für grammatisch korrekte Sätze und nur für solche beschreibt, so ist es notwendig, auch diese Zusammenhänge in die formale Grammatikdarstellung aufzunehmen. Wir unterscheiden also bei der Darstellung des Verbalteils verschiedene v e r b a l e S u b k l a s s e n , die durch die Beziehung des Verbs zu bestimmten Nominalteilen charakterisiert sind. Wir unterscheiden etwa in unserem Grammatikmodell folgende Subklassen: 110

V0 (intransitive Verben) V, + NPi (transitive Verben, mit direktem Objekt) V2 + NP 2 (Verben, die den Dativ regieren, mit indirektem Objekt) V p r ä p + N T p r ä p (Verben mit Präpositionalobjekt) Die Zahlenindizes dienen der Subklassenunterscheidung bei den Verben und geben auf NP bezogen die jeweilige Kasusform an: k 0 = Nominativ; k, = Akkusativ; k 2 = Dativ; k 3 = Genitiv. NPi ist eine abgekürzte Schreibweise für NP + k , . Die Reihenfolge 1 - 3 soll die Häufigkeit andeuten: am häufigsten kommen NPj -Komplexe vor, am seltensten sind im Deutschen NP 3 -Komplexe in Objekt-Position. Vpj-gp bedeutet, daß das Verb obligatorisch mit einer Präposition verbunden ist; NTp r ä p bedeutet einen Nominalteil, der sich in der Kasuskennzeichnung nach der Präposition richtet: (8) Er lacht über die Sache (9) Er steht über der Sache 6.78 Auch hier taucht wieder das Problem auf, welchen Umfang man einem Grammatikmodell geben soll, denn die Möglichkeiten der Subklassifizierung sind sehr groß; ζ. B. müßten auch Subklassen mit NP 3 berücksichtigt werden V ι +3 + NP, + NP 3 (Verben mit Genitivobjekt) ζ. B. Der Polizist / bezichtigt den Landstreicher des Einbruchs V 1 + I + NP, + N P , ζ. B. Der Verteidiger / nennt den Zeugen einen Lügner V 2+1 +NP 2 + N P , ζ. B. Der Reiche /gibt dem Bettler einen Groschen Unser Grammatikmodell ist, wie das auch für den Nominalteil angedeutet wurde, besonders an dieser Stelle unvollständig, aber erweiterungsfähig. 6.79 Der Überschaubarkeit halber beschränkt sich die hier vorgestellte Minimalgrammatik auf die Erzeugung einer begrenzten Zahl von Satztypen und erfaßt daher nur folgende verbale Subklassen in ihrem Lexikon: V 0 : lacht, singt, arbeitet, wandert, ... Vj : singt, sieht, findet, kauft, .. . V2 : dankt, droht, hilft, winkt, . . . V p r ä p : denkt an, wartet auf, spricht über, hält zu,

6.7.10 (1) (2)

Aufgaben

Versuchen Sie, eine Formel aufzustellen, die alle mit unserer Minimalgrammatik erzeugbaren Verbalteile erfaßt. Welche Probleme stellen sich bei der V3-Subklasse? Lesen Sie dazu: Manfred Bierwisch, Grammatik des deutschen Verbs, Studia Grammatica Ii, Berlin 1967, S. 44/45. 111

(3)

(4)

6.8

Ordnen Sie die Verbformen der folgenden Sätze ihren Subklassen im Lexikon zu. Vergleichen Sie dazu M. Bierwisch, Studia Grammatica II, S. 84. Petras grollt Hans schläft auf dem Sofa Ernst duckt sich Günther arbeitet in der Fabrik Hugo schnauft Irmgard schämt sich Geben Sie an, wie die Formationsregeln und das Lexikon aussehen müßten, die den Verbalteil erfassen von Sätzen des Typs Das Mädchen ist schön Der Postbote ist draußen Der Gärtner ist der Mörder Lesen Sie dazu Owen Thomas, Transformationelle Grammatik und Englischunterricht, München 1968, S. 99/100.

Die formalen grammatischen Kategorien (Gk und Aux)

6.81 Wenn wir mit den bisher aufgestellten Formationsregeln Sätze zu erzeugen versuchen, so könnten Gebilde wie *Das Mannschaften gewannst die Spiel entstehen, die eindeutig ungrammatisch sind, aber der Konstituentenstruktur nach ebenso dargestellt werden könnten wie der grammatisch korrekte Satz ( 1 ) Die Mannschaft gewann das Spiel Satz

(daß) (daß)

die Mannschaft das Mannschaften

das Spiel die Spiel

gewann gewannst

Es fehlen in unserer Regel also noch die Angaben, die für die Herstellung der grammatischen Übereinstimmung zwischen den Konstituenten eines Satzes notwendig sind. Die im folgenden eingeführten Symbole Gk und Aux fassen die wichtigsten grammatischen Kategorien zusammen, die unmittelbare morphologische Veränderungen an den Nominalteilen und Verbalteilen bewirken: sie sind für sich genommen keine Elemente der Tiefenstruktur, sondern dienen nur der übersichtlicheren Darstellung. 6.82

112

Beim Vergleich der Sätze Der Junge lacht Die Jungen lachen

wird deutlich, daß dem Wechsel von Singular zu Plural beim Substantiv im Nominalteil auch eine Veränderung der Verbform im Verbalteil entspricht. Es handelt sich um die grammatische Kategorie N u m e r u s (Num); wir setzen vom Nominalteil ein abstraktes Symbol Gk (= Grammatische Kennzeichnung) ab, dem die Kategorie Num zugeordnet ist; ebenso setzen wir vom Verbalteil ein abstraktes Symbol Aux (= Auxiliarkomplex = Hilfsmorphemkomplex) ab und ordnen ihm dieselbe Kategorie zu. Die Kategorie Numerus hat zwei Ausprägungen: Singular und Plural; ihre Übereinstimmung im Nominalteil und Verbalteil ist eine Bedingung der Grammatikalität des Satzes: Satz

NP Gk 1 Num

l

VP NOM

HV

Aux

GN

1 V

1 Num 1 Sg

der Junge

Sg

lacht

Der Nominalteil enthält also die Konstituente N, und das abstrakte Symbol Gk ordnet dieser Konstiuente eine bestimmte Numerusstufe zu; der Verbalteil enthält die Konstituente HV (Hauptverbkomplex), und das abstrakte Symbol Aux ordnet dem Verb eine bestimmte Numerusstufe zu. NOM ist das Symbol für die Konstituenten des Nominalteils (Nominalkomplex). HV steht für die Konstituenten des Verbalteils (Hauptverbkomplex). 6.83

Die Beispielsätze

Ich lacht Du lachst Er lacht

Wir lachen Ihr lacht Sie lachen

zeigen, daß auch die Personalstufe des Nominalteiles Einfluß auf die Form des Verbs hat. Wir nennen diese grammatische Kategorie P e r s o n (Pers) und ordnen sie ebenfalls Gk und Aux zu. Satz

Aux Pers 1 I

1

Num

PRO

1 V0

Sg

ich

lache

I

Pers

Num

1 I

1 Sg 113

Die Kategorie kommt in drei Ausprägungen vor: 1. Person (I), 2. Person (II) und 3. Person (III). 6.84 Neben den grammatischen Kategorien Numerus und Person, deren Übereinstimmung im Nominalteil und Verbalteil notwendige Voraussetzung für die Grammatikalität jedes Satzes ist, wirken auf NP und VP jeweils noch spezielle grammatische Kategorien ein. So spielt ζ. B. die Kategorie G e n u s (Gen) eine wichtige Rolle für den Nominalteil; besonders betroffen davon ist die Artikelform. Satz

1

Gen Pers Num

I IIII I

mask

Sg

1

GN

der Junge

1 V0 lacht

Aux Pers Num

1 1

III

Sg

Die Kategorie Genus kommt in drei Ausprägungen vor: männlich (mask), weiblich (fem) und sächlich (neutr); jedem Nomen ist als grammatische Kennzeichnung eine bestimmte Genusform zugeordnet; wird davon abgewichen, entstehen ungrammatische Formen, ζ. B. *Das Katze schnurrt 6.85 Zur grammatischen Kennzeichnung kann man auch die Kasusfestlegung des Nominalteils rechnen. Der direkt vom Symbol S dominierte Nominalteil (das Subjekt) hat immer die Kasusform des Nominativs (k 0 ); der Nominalteil, der direkt vom VP dominiert wird und von einem transitiven Verb abhängig ist (das direkte Objekt), hat die Kasusform des Akkusativs (k! ). Wir unterscheiden daneben noch drei Kasusarten: den Dativ (k 2 ), den Genitiv (k 3 ) und Präpositionskasus (kp r ¿ p ), d. h. den jeweils von der Präposition abhängigen Kasus (z. B.: Er verzichtet auf den Vertrag; er besteht auf dem Vertrag). Im Deutsch der Gegenwart bewirkt die grammatische Kategorie Kas vor allem eine morphologische Veränderung des Artikels, in einzelnen Fällen auch eine Veränderung am Substantiv. 6.86 Die Wirkung der Kategorien, die zur grammatischen Kennzeichnung gehören, läßt sich am besten an Hand der Personalpronomina aufzeigen. Wenn NP weiter abgeleitet wird zu PRO, so ergeben sich bei der Festlegung der Kategorien in Gk die verschiedenen Formen der Personalpronomina. Wir geben zwei Beispiele einer vollständigen Beschreibung von Personalpronomina in leicht geänderter Darstellungsform: 114

Gen Kas Num Pers

— mask -k0 -Sg -III

PRO

"Gen Kas Num Pers

er

-

mask k2 PI III

6.87 Die Personalpronomina lassen sich also mit Hilfe des Merkmals [+ PRO] und den Kategorien der grammatischen Kennzeichnung (Gen, Kas, Num, Pers) vollständig beschreiben. Man kann ihnen so eine vollständige Merkmalbeschreibung zuordnen: ihnen

ich NP " PRO I k0 Sg .

NP PRO III k2 PI

Die beiden Merkmalkomplexe zeigen auch, daß bei [+ I] und bei Plural (= [ - Sg]) die Genus-Kennzeichnung entfällt; in der traditionellen Grammatik bezeichnet man den Unterschied als g e s c h l e c h t i g (er, sie, es) I u η g e s c h 1 e c h t i g (ich, du). Mit der Merkmaldarstellung lassen sich auch Homonyme-Probleme erfassen; der Oberflächenform ihr können zwei verschiedene Merkmalkomplexe zugeordnet werden:

ihr NP ' PRO III k2 .Sg .

NP ' PRO II k0 PI

6.88 Auch der Verbalteil weist spezielle grammatische Kategorien auf, die in Aux unterzubringen sind, z. B. T e m p u s (Temp). Bei der Aufstellung eines übersichtlichen Grammatikmodells kann man nicht alle Zeitstufen des Deutschen berücksichtigen; wir greifen daher Präsens (Präs), Präteritum (Prät), Perfekt (Perf) und Futur (Fut) heraus. Jede dieser Ausprägungen der Kategorie Tempus hat Veränderungen der Verbform zur Folge, z. B. 115

Pers 4III

Der Junge lacht

Der Junge lachte

Der Junge hat gelacht

Der Junge wird lachen

Aux I Num

\

Sg

Temp Ψ Präs

Pers 1 Num 4. 1 III Sg,

Temp

Num

Temp

III

Sg

Perf

Pers

Num

Temp

1 III

Sg

1 Fut

Pers

i

;

Prät

l

;

6.89 Eine weitere Kategorie in Aux ist M o d u s (Mod); sie führt die modalen Hilfsverben in den Verbalteil ein, ζ. B.

Petra will ein Lied singen Satz

Aux

HV NPi

V,

Mod

Temp

woll- Präs

(daß)

Petra ein Lied singen

will

Num

i Sg

Pers III

(Wir lassen die Grammatische Kennzeichnung der beiden NP weg, weil sie in diesem Zusammenhang nicht interessieren; nur V! und Aux stehen zur Debatte). Es zeigt sich, daß V stereotyp die Infinitivform annimmt, wenn Mod vorhanden ist; dabei wirken die Spezifizierungen der Kategorien von Aux auf das Modalverb ein.

6.8.10

Aufgaben

( 1 ) Versuchen Sie eine Matrixdarstellung des Systems der Personalpronomina zu geben. (2) Welche Veränderungen bewirkt die Festlegung der Kategorie T e m p u s auf Perfan der Verbform?

116

6.9

Lexikon und Meikmalkomplexe

6.91 Die bisher vorgeführten Formationsregeln erzeugen eine große Zahl grammatisch richtiger Sätze des Deutschen, dennoch würden wir Sätze von der Art ( 1 ) Irmgard zerbröckelt (2) Der Kuchen denkt ans Examen (3) Die Sehnsucht wurde von der Biene gestochen (4) Die Mücke frißt die Ehrlichkeit nicht als sinnvolle Sätze des Deutschen akzeptieren, obwohl sie allen Anforderungen grammatischer Korrektheit entsprechen. Zwischen Subjekt-NP und Verb und zwischen Objekt-NT und Verb bestehen Selektionsbeschränkungen, welche die Verbindbarkeit von Nominalteil und Verbform regulieren.

6.92 Die Selektionsbeschränkungen, die einen Satz wie (5) Der Student denkt ans Examen akzeptabel und einen Satz wié (2) Der Kuchen denkt ans Examen inakzeptabel machen, haben ihre Grundlage in den verschiedenen lexikalischen Merkmalen der Wörter, d. h. die Verbindbarkeit oder Nichtverbindbarkeit von Nominalteilen mit Verbformen ergibt sich aus der Struktur der Merkmalkomplexe der Wörter, welche im Lexikon gespeichert sind. Das Lexikon, wie wir es hier verstehen, ist unser internalisiertes Wissen von den lexikalischen Eigenschaften der Wörter und von den Bedingungen ihrer Verbindbarkeit zu sinnvollen Sätzen.

6.93 Das internalisierte Lexikon, über das wir verfügen, enthält dreierlei Information über jedes Wort: 1. die phonologische Information; sie gibt an, welche phonemische Struktur das Wort hat, so daß es artikuliert werden kann, ζ. B. als [ku:*9n]. Zur phonologischen Information kann auch eine orthographische Repräsentation des Wortes treten, ζ. B. als [Kuchen], 2. die syntaktische Information: sie gibt an, welche grammatischen Eigenschaften ein Wort hat, ζ. B. ob es sich um ein Substantiv handelt oder um ein Verb, so daß es an bestimmter Stelle und mit bestimmter Funktion im Satz eingebaut werden kann. Dazu kann man auch Angaben über die Morphologie stellen, ζ. B. beim Substantiv über Genus, beim Verb über unregelmäßige Präteritalformen. 3. die semantische Information: sie gibt an, welche Bedeutung ein Wort hat, so daß es sich sinnvoll mit anderen Wörtern zur Satzbedeutung verbinden kann. Wir beschäftigen uns im Rahmen dieses Programms hauptsächlich mit der syntaktischen Information und ziehen die semantische Information nur soweit in Betracht, als sie unmittelbare Auswirkungen auf die Grammatikalität des Satzes hat. Eine scharfe Abgrenzung von syntaktischer und semantischer Information ist nur schwer möglich. Die syntaktische und semantische Information wird in Form von Merkmalkomplexen gegeben; das Vorhandensein eines Merkmals wird mit + signalisiert, das Fehlen eines Merkmals mit - . Als syntaktische Information bei Arzt käme ζ. B. in Frage [+ NP], [+ GN], [+ mask], usw., als semantische Information [+ menschlich], usw. Wir stellen das folgendermaßen dar: 117

Arzt + NP + GN + belebt + menschlich . Für ein Wort wie Mücke sähe die Lexikonbeschreibung so aus: Mücke + NP + GN + belebt — menschlich

6.95 Im Falle von Arzt ist [+ belebt] vor [+ menschlich] redundant, da [+ menschlich] notwendig das Merkmal [+ belebt] impliziert; man könnte es als redundant einsparen. 6.96 Wir geben hier nur die Merkmale an, die für die Syntax von unmittelbarem Interesse sind, um an einem Beispiel anzudeuten, wie man sich die Organisation des internalisierten Lexikons vorstellen könnte. Mit dem Problem der vollständigen Merkmalbeschreibung von Wörtern beschäftigt sich die S e m a n t i k . Mit Hilfe weniger Merkmale schon lassen sich auf diese Weise die Substantive des Deutschen in Klassen einteilen und für syntaktische Zwecke hinreichend beschreiben. Das Merkmal [+ konkret] z. B. ermöglicht die Unterscheidung von Wörtern wie Stein, Kraut, Senf, gegenüber Wörtern wie Recht, Gewalt, Treue ([— konkret]) vgl. (6) Er setzte sich auf einen Stein (7) *Er setzte sich auf eine Treue Das Merkmal [+ GN] (= Gattungsname) unterscheidet Wörter wie Fenster, Metzger, Fleiß von Eigennamen wie Petra, München, England ([ - GN]). Das Merkmal [+ zählbar] unterscheidet Wörter wie Dose, Haus, Junge von Mengen wie Lehm, Milch, Fleisch ( [ - zählbar]), die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie keinen Plural bilden. Vgl. (8) Im Korb befanden sich zwölf Äpfel (9) *In der Kanne befanden sich zwölf Lehm 6.97 In folgenden Beispielen werden einige aufgeschlüsselte Merkmalkomplexe vorgeführt: Kneipe + NP + GN + konkret - belebt + zählbar 118

Treue

Student

+ NP + GN - konkret — zählbar

+ NP + GN + konkret + menschlich + zählbar

Lehm

Hoffnung

Frosch

+NP

+NP

+ GN

+ GN - konkret — zählbar

+NP + GN + konkret + belebt — menschlich + zählbar

+ konkret - belebt — zählbar

(Das Problem einer bestimmten Reihenfolge der Merkmale im Merkmalkomplex lassen wir hier beiseite). 6.98 In ähnlicher Weise lassen sich auch den Verben Merkmalkomplexe zuordnen. Bei der Verbindung von Nomen und Verb im Satz werden die Merkmalkomplexe ineinander amalgamiert, und die dabei auftretende lexikalische Verträglichkeit oder Unverträglichkeit beruht auf der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Merkmale, ζ. B. ist der Satz

(10) *Der Hund ißt den Knochen deswegen lexikalisch abweichend, weil im Merkmalkomplex von essen für das Nomen in Subjekt-Position das Merkmal [+ menschlich] vorgeschrieben ht, Hund als Subjektnomen aber das Merkmal [— menschlich] mitbringt; der lexikalisch adäquate Satz heißt

(11) Der Hund frißt den Knochen Für ein Subjekt-NT mit den Merkmalen [+ belebt], [ - menschlich] ist im Lexikon als entsprechendes Verb fressen vorgesehen. Mit diesen Bemerkungen zur Semantik-Komponente eines generativ-transformationellen Sprachmodells soll der Anschluß an Linguistik Ii-Seminare angedeutet werden.

6.99 ( 1)

Aufgaben Stellen Sie die T i e f e n s t r u k t u r des S a t z e s ( 4 )

Die Mücke frißt die Ehrlichkeit

im

S t a m m b a u m s c h e m a dar und dazu die M e r k m a l k o m p l e x e . Zeigen S i e , w e l c h e Merkmale zur A n o m a l i e des S a t z e s beitragen. (2)

B e s c h r e i b e n Sie anhand des S a t z e s

Der Schreiner vergoldete einen Sarg die

Fak-

toren und die Phasen der Erzeugung eines S a t z e s , mit den Mitteln der in diesem K a p i t e l vorgeführten M i n i m a l g r a m m a t i k .

6.10

Literaturhinweise

Chomsky, Noam: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt/M. 1969. Suhrkamp Theorie 2. Das grundlegende theoretische Werk über ein weiterentwickeltes Grammatik-Modell, auf dem alle neueren Untersuchungen zur tranformationell-generativen Syntax aufbauen. Zur Durcharbeitung in den Semesterferien, bes. S. 8 8 - 1 8 8 . Mötsch, Wolfgang: Grundgedanken der generativen Grammatik, In: Muttersprache 7 4 , 1 9 6 4 , S. 2 - 8 . Leicht verständliche, einführende Darlegung in Thesenform ; gibt den allgemeinen theoretischen Hintergrund; schon etwas überholt, aber lesenswert.

119

Bierwisch, Manfred: Syntax des deutschen Verbs. Studia Grammatica II, Akademie-Verlag Berlin, 5. Aufl. 1967. Der erste Versuch einer strukturellen Syntax des Deutschen, von Chomskys „Syntactic Structures" (Den Haag, 1957) ausgehend. Bis jetzt die einzige gründliche Darstellung des schwierigsten Teils der deutschen Grammatik, nämlich der Verbklassifizierung. Ausfuhrliche theoretische Einleitung; Diskussion von Formalisierungsproblemen. Härtung, Wolfdietrich: Die zusammengesetzten Sätze des Deutschen, Studia Grammatica IV, Akademie-Verlag Berlin, 4. Auflage 1970. Darstellung des Formationsteiles der Syntax des Deutschen und ausführliche Behandlung der Nebensätze (Einbettungstransformationen). Coseriu, Eugenio: Einführung in die transformationelle Grammatik, Vorlesungsmanuskript SS 1968. Tübingen. Detaillierte und sehr kritische Auseinandersetzung mit der TG-Grammatik. Genaue Begriffserklärungen. Tübinger Autorengruppe 1970: Transformationelle Schulgrammatik, Göppinger Akademische Beiträge Nr. 7. Vereinfachte und klar gegliederte Einführung für Deutschlehrer. Erster Versuch einer Anwendung im Grammatik-Unterricht. Deutsche Beispiele. Thomas, Owen: Transformationelle Grammatik und Englisch-Unterricht. München 1968. Didaktisch sehr überlegte und geschickte Einführung an Hand von Modellen steigenden Schwierigkeitsgrades. Englische Beispiele. Fiilei-Szanto, Endre: Die Grammatik von Strukturen-Operationen im fachsprachlichen Unterricht. In: Linguistische und methodologische Probleme einer spezialsprachlichen Ausbildung; hg. Irmgard Schilling. Halle/S. 1967, S. 9 6 - 1 0 5 . Beschäftigt sich mit dem Problem einer Minimalgrammatik auf generativer Grundlage für den Fremdsprachenunterricht (Deutsch als Fremdsprache). Jacobs, Roderick A. und Rosenbaum, Peter S.: Grammar 1, 2, 1 u. 2. Ginn and Company USA 1967 Sehr leicht verständliche Einführung in die Transformationsgrammatik; für amerikanische Oberschulen gedacht; Schüler- und Lehierhefte. Jacobs, Roderick A. und Rosenbaum, Peter S.: English Transformational Grammar. Blaisdell Publishing Company USA 1968. Die zur Zeit bestfundierte und eingängigste Transformationsgrammatik; arbeitet mit Merkmalkomplexen. Besonders lesenswert: Epilog von Paul M. Postal. Koutsoudas, Andreas: Writing Transformational Grammars. McGraw-Hill Book Company USA 1966. Theoretische Einführung mit starker Betonung der Formalisierungstechniken. Sehr nützliche Aufgaben mit Lösungen und Diskussion der Lösungen. Verschiedene Sprachen; auch deutsche Beispiele. Bach, Emmon: An Introduction to Transformational Grammars. Holt, Rinehart and Winston, USA 1964. Sehr formal; mit guten Übungsbeispielen zur Einübung der Formalisierungstechnik. Lester, Mark (Hg.): Readings in Applied Transformational Grammar. Holt, Rinehart and Winston, USA 1964. Enthält eine Reihe sehr wichtiger Artikel und zeigt die Anwendungsmöglichkeiten der TG-Grammatik bei Problemen des Spracherwerbs, für den muttersprachlichen Unterricht (Englisch) und für den Fremd sprachen-U nterricht. Langendoen, D. Terence: The Study of Syntax. The Generative-Transformational Approach to the Structure of American English. Holt, Rinehart and Winston, USA 1969. Eine sehr gut mit Beispielen ausgestattete Darstellung, anschaulich formuliert und leicht verständlich, bezieht auch die Semantik ein; mit Begriffserklärungs- und Ubungsteil. Bechert, Johannes, Daniele Clement, Wolf Thiimmel, Karl Heinz Wagner·. Einführung in die generative Transformationsgrammatik. Linguistische Reihe, Bd. 2, München 1970 Erstes umfassendes Lehrbuch der transformationell-generativen Grammatiktheorie in deutscher Sprachc für den akademischen Unterricht; mit deutschen Beispielen und mit Übungen und Lektürevorschlägen zu den einzelnen Kapiteln.

120

7

Lösungen

2

Einführung in die Grundlagen der sprachlichen Kommunikation

2.14 (1)

Bedingung: Eine Instanz, die den Verkehrskode festsetzt, kreiert das Zeichen und zwingt alle Autofahrer, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein Ausdruck dieser Form die Bedeutung ,Vorfahrtstraße' hat. Damit ist die Konvention durchgesetzt, die dieses Zeichen konstituiert. Kommunikationsvorgang: Ein Polizeipräsident (der Sender S) hat die Vorstellung, daß an der Kreuzung X alle diejenigen, die die Straße Y benutzen, Vorfahrt haben sollen. S kodiert seine Vorstellung, d. h. er wählt aus dem Kode das Zeichen

(2)

(3)

(4)

und läßt es an der Kreuzung X auf der Straße Y aufstellen. Der Autofahrer Meyer (der Empfänger E) nimmt das Zeichen wahr, dekodiert es, indem er dem Kode den entsprechenden Inhalt entnimmt und hat damit die Vorstellung des Senders zur Kenntnis genommen. Die Zeichen (a), (b) und (c) haben folgende Struktur: (a) Die Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt ist w i 11 k ü r 1 i c h , d. h. diese Beziehung ist durch keinerlei Ähnüchkeit zwischen Ausdruck und Inhalt motiviert. Man könnte für die Kodierung der Vorstellung .Vorfahrt achten' jedes andere Verkehrsschild benutzen, wenn es gelingt, dieses Schild durch Verabredung in den Kode aufzunehmen. (b) Dieses Verkehrsschild vereinigt drei Zeichen aus drei verschiedenen Kodes: - das blaue Dreieck mit rotem Rand aus dem Kode der Verkehrszeichen, - die Schriftzeichen HALT, die eine Lautfolge bezeichnen (Kode der deutschen Schriftzeichen), - die Lautfolge halt, die die Bedeutung .Anhalten' hat (Kode der deutschen Sprache). Alle Zeichen sind wiederum willkürlich. (c) Dieses Zeichen ist m o t i v i e r t (also nicht willkürlich), und zwar dadurch, daß der Ausdruck (jedenfalls großenteils) ein Abbild des Inhalts ist. Konsequenz: Man kann dieses Verkehrsschild nicht beliebig ändern, ohne daß die Zeichenstruktur grundlegend verändert wird. Die Beziehung zwischen den beiden Ebenen des Zeichens ist nicht nur durch Konvention, sondern auch durch Ähnlichkeit festgelegt. Man kann also alle Zeichen in zwei Gruppen ordnen: in motivierte und willkürliche. Das Zeichen (b) ist ein komplizierter Fall aus der zweiten Gruppe. Alle m o t i v i e r t e n Z e i c h e n widerlegen diese These (also etwa das Verkehrszeichen (c), die lautmalenden Wörter Kuckuck, plantschen, das Drohen mit der Faust usw.): Diese Zeichen müssen deshalb nicht konventionell konstituiert sein, weil man auch ohne Verabredung dem abbildenden Ausdruck entnehmen kann, welchen Inhalt er bezeichnet. Einmal zeigt nur ein sehr kleiner Teil der sprachlichen Zeichen Ähnlichkeit zwischen Lautfolge und Inhalt; die große Masse ist willkürlich. Das Konstituierende am Sprachkode ist also die Konvention, nicht die Motivation, die nur in wenigen Fällen sozusagen nebenbei auftritt. In der Sprache ist die Zeichenkonstitution durch Motivation durchaus entbehrlich, die durch Konvention dagegen nicht. Zum Anderen bildet die Lautfolgc der motivierten sprachlichen Zeichen nur einen Teil des Inhalts ab (die Laute kukuk etwa nur den Ruf des Vogels), so da£ für die vollständige Konstitution des Zeichens die Konvention unentbehrlich bleibt.

121

(5)

(6)

(a) Situation: Gemüsehändler, eine Kiste Äpfel, auf die eine Frau deutet und spricht: Ein Pfund, bitte. Die Situation gestattet dem Sprecher, die Lautfolge ich möchte ein Pfund Äpfel kaufen, bitte auf ein Pfund, bitte zu verkürzen. Hörer außerhalb der bestimmten Situation können die Mitteilung nicht verstehen. (b) Der Sprecher muß, wenn er verstanden werden will, die Geräuschkulisse übertönen, seine Reichweite ist begrenzt usw. (c) Ein Sprecher aus Norddeutschland kann sich einem Hörer aus Süddeutschland verständlich machen, obwohl beide den Ausdruck der Zeichen sehr verschieden realisieren. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Inhalt beim Sprecher genau dieselben Merkmale und Grenzen hat wie beim Hörer: Wie unterscheidet sich ein Lieferwagen von einem Lastwagen, blau von grün; wann sagt man es regnet, wann es nieselt, es gießt ? Wenn ich Sturm mitteile, kann ich nicht sicher sein, daß der Hörer nicht etwas versteht, was ich als Wind bezeichnen würde. Der Kontext (entweder der sprachliche oder der Situationskontext) muß die Verständnislücke schließen, der Hörer muß also den Inhalt des Zeichens, das ihm unbekannt ist, aus dem Kontext erschließen. Wenn ihm das nicht gelingt, muß er zurückfragen und um Aufklärung bitten. Wenn der Hörer sich die erschlossene oder erfragte Bedeutung des Zeichens merkt, hat er seinen sprachlichen Kode erweitert.

2.25 (1) In einigen Bereichen ist der semantische Raster des Englischen anders als der des Deutschen. Für einen deutschen Inhalt .Fleisch' hat das Englische zwei: ,meat' (totes Fleisch) und ,flesh' (lebendes Fleisch) usw. Die Zahl der sprachlichen Zeichen ist in gewissen Bereichen unterschiedlich, so daß man beim Übersetzen z. B. nicht direkt die englischen Zeichen durch deutsche ersetzen kann. Der englische Sprecher muß wegen des unterschiedlichen Kodes nämlich anders semantisch kodieren als der deutsche. Die Unterschiede in der Ausdrucksweise können nicht auf verschiedene Vorstellungen zurückgehen, denn zweifellos kann ein Deutscher genau wie ein Engländer zwischen lebendem und totem Fleisch unterscheiden; sie müssen ihren Grund im unterschiedlichen Zeicheninventar haben und sind damit ein Indiz für die notwendig sich vollziehende semantische Kodierung. (2) Der sprachliche Inhalt hat alle die semantischen Merkmale, die durch Konvention im Kode festgelegt sind (Fleisch·. Substanz, organisch, fest, aus Zellen aufgebaut, usw.). Alle Merkmale meiner Vorstellung, die nicht im Kode fixiert sind, gehen bei der Kodierung verloren (Vorstellung: Fleisch des kleinen Fingers meiner rechten Hand Inhalt Fleisch; im Englischen dagegen -*• flesh (= Fleisch + belebt)). Der Sprecher kann ein Zeichen durch andere ergänzen, so daß die Summe der semantischen Merkmale den Merkmalen seiner Vorstellung besser entspricht (Vorstellung Fleisch des kleinen Fingers meiner rechten Hand Inhalte Fleisch + Finger + klein + Hand + mein + rechts). (3) Richtig sind die Aussagen (c), (d), (f). Die Zuordnung der Vorstellungen, die semantischen Kodes und die semantische Kodierung und die Zuordnung der Inhalte zueinander sind gleich. Die Differenzen treten erst in der zweiten Etappe der Kodierung auf: Die syntaktischen Merkmale Agens und Betroffenes werden im Deutschen durch Artikel in verschiedenen Kasus, im Englischen durch die Wortstellung (1. Agens, 2. Aktion, 3. Betroffenes), im Lateinischen durch verschiedene Suffixe (-is, -u) ausgedrückt. Im Lateinischen ist die Stellung beliebig (die Beziehungen werden ja durch Suffixe ausgedrückt), im Englischen genau geregelt, da die Stellung die Beziehung der Zeichen anzeigt. Das Deutsche steht zwischen diesen Extremen. (4) Da die Inhaltsebene mit der Ausdrucksebene durch Konvention fest verbunden ist, können die Einheiten der Ausdrucksebene automatisch konstituiert werden, nachdem semantisch und syntaktisch kodiert wurde. Am Beispiel des Verkehrsschildes

(5)

122

können wir diesen Automatismus verfolgen: Sobald der Sender seine Vorstellung kodiert hat mit dem Ergebnis die Straße X ist Vorfahrtsstraße, liefert der Kode automatisch das weiße quadratische Blechschild mit rotem Rand. Die Verknüpfungsleistung von Inhalt und Ausdruck ist schon geleistet worden, als der Kode konstituiert wurde; sie braucht nicht bei jedem Kommunikationsvorgang wiederholt zu werden. Die phonologische Ebene ist zweischichtig: Laute werden zu Lautketten nach bestimmten Regeln kombiniert. Genau das trifft auch für die Inhaltsebene zu: semantische Einheiten werden nach syntaktischen Regeln zu Sätzen kombiniert.

(6)

Da der Kontext einer Lautkette von Mitteilung zu Mitteilung wechselt, ist es unmöglich, daß eine Lautkette bereits im Kode an ihre Umgebung angepaßt wird. Der Kode kann lediglich die Regeln für diese Anpassung enthalten. Erst der Sprecher kann die Lautketten nach den individuellen Kontextbedingungen endgültig konstituieren. Eben diese Konstitution ist die phonologische Kodierung. Auch bei der semantischen und der syntaktischen Kodierung muß der Kontext berücksichtigt werden: - der Inhalt kommen verändert sich, je nachdcm, womit er kombiniert wird (ankommen, auskommen, verkommen, abhanden kommen usw.). - das syntaktische Merkmal Nutznießer der Aktion ζ. B. wird nach dem Verb dienen als Dativ (ich diene Herrn Maier), nach dem Verb bedienen jedoch als Akkusativ (ich bediene Herrn Maier) kodiert.

2.45 (1)

(2)

(3)

(4)

(5)

Man muß annehmen, daß der Hörer den Lautstrom durch verschiedene Filtervorgänge so analysieren kann, daß er in der Lage ist, ihm Informationen auf vielen Ebenen zu entnehmen: - der Sprecher ist heiser - der Sprecher ist weiblich - der Sprecher spricht sehr laut - der Sprecher ist in Eile - der Sprecher behandelt mich freundlich - der Sprecher kommt aus Köln - der Sprecher teilt mit gut + Tag usw. Vieles fällt einfach unter den Tisch. Jedenfalls ist der Hörer in der Lage, aus unterschiedlichsten akustischen Phänomenen die Mitteilung Guten Tag hcrauszufiltern und zu dekodieren. Bedingung ist allerdings, daß die akustischen Phänomene trotz aller Unterschiedlichkeit bestimmte, im sprachlichen Kode definierte Merkmale haben, die die Dekodierung zu gut + Tag gestatten. Im eigentlichen Sinne kommunizierend, d. h. die Mitteilung übermittelnd sind die Merkmale, die nach den Regeln des Kodes auf jeden Fall dem Ausdruck eigen sein müssen, damit ein ganz bestimmtes Zeichen und kein anderes übertragen wird. Diese phonologischen Merkmale liefert der Kode dem Sprecher automatisch nach der semantischen und syntaktischen Kodierung, der Sprecher kontrolliert, ob diese kommunikativ relevanten Merkmale auch übertragen werden, und der Hörer ist dann in der Lage, da er den Kode kennt, auf Grund der übertragenen Merkmale die entsprechende Kette der Lautvorstellungen zu produzieren. Jedes akustische Phänomen kann, unabhängig davon, ob es Ausdruck eines Zeichens ist oder nicht, Emotionen im Hörer hervorrufen; man denke nur an die Musik und die Wirksamkeit der Sprache auf Säuglinge, die weder Kode noch Zeichencharakter der Sprache kennen. Sicherlich findet auch in all diesen Fällen Kommunikation statt, jedoch nicht mit Hilfe von willkürlichen, konventionell konstituierten Zeichen. Da wir unsere Analyse auf diese Art der Kommunikation beschränkt hatten, konnten wir die Übertragung von Emotionen beiseite lassen. Das heißt nicht, daß ihre Existenz geleugnet wird. Die Aussagen: - in der Stellung der Ausdruckseinheiten - in der Kette der Lautvorstellungen treffen zu. Die Leistung der Konvention besteht darin, daß sie allen Sprachteilnehmern Z e i c h e n , und das bedeutet, mit Inhalten verknüpfte Ausdrücke zur Verfügung stellt. Diese Zeichen ermöglichen erst die Kommunikation. Das bedeutet gleichzeitig, daß Sprecher und Hörer immer mit Zeichen operieren, nie mit Ausdruck oder Inhalt allein. Die Zerlegung des Zeichens in seine beiden Komponenten ist eine, allerdings klärende, linguistische Abstraktion.

2.56 (1)

Durch das Formulieren einer Dichotomie wird ein Gegenstandsbereich nach zwei antithetischen Merkmalen in zwei Klassen eingeteilt. Alle Komponenten, die das Merkmal a haben, gehören in die Klasse A. Die Klasse A wird also durch das Merkmal a definiert. Alle Komponenten, die das Merkmal a nicht haben, haben automatisch das Merkmal b (weil b = - a ) und gehören damit zur Klasse B.

123

(2)

(3)

(4)

3

Wir haben drei Dichotomien aufgestellt; wir haben also-nach den sechs Merkmalen (a) relevant (b) redundant, (c) Rede - (d) Sprache, (e) Synchronie - (0 Diachronie sechs Klassen konstituiert. Die Klassen sind durch die Merkmale definiert. Diese Klassifizierung nach Merkmalen ist die zentrale Operation des Strukturalismus. Die Aussagen - das Untersuchungsziel differiert - die Phonetik betreibt eine materielle, die Systemerforschung eine funktionelle Analyse treffen zu. Die Phonetik untersucht die akustische Struktur der sprachlichen Schallwellen, die Bedingungen ihrer Entstehung und ihres Empfangs, der Phonetik geht es also um eine Klassifizierung nach physikalischen, materiellen Merkmalen. Die Systemanalyse betrifft dasselbe Material, nämlich die Schallwellen, jedoch wird nicht die physikalische Struktur, sondern die Funktion in der Kommunikation untersucht. (a) Die Phonologie beschäftigt sich mit der Konstitution der Ausdrucksebene durch Lautkombinationen, die bestimmten Gesetzen folgen. (b) Die Morphemik definiert die sprachlichen Zeichen. (c) Die Syntax beschreibt die Kombination der sprachlichen Zeichen. (d) Die Semantik beschäftigt sich mit der Struktur der Einheiten auf der Inhaltsebene. Die Natur kann man direkt oder im Experiment beobachten und dann zur Erklärung eine Theorie konstruieren, die allen empirischen Daten gerecht wird (ζ. B. ein kopernikanisches Sonnensystem). In der taxonomischen Linguistik muß zu den Beobachtungsdaten deren Beurteilung durch einen kompetenten Sprecher-Hörer, der den Kode implizit beherrscht (einen „native speaker") nach den Kategorien Relevanz-Redundanz hinzutreten, damit man beurteilen kann, ob eine Einheit oder Relation in den (schließlich nicht beobachtbaren) Kode gehört oder nicht. In der generativen Grammatiktheorie schließlich ist die empirische Basis nicht so sehr das beobachtbare Material eines „Korpus" als die Beurteilung einer Äußerung durch einen „native speaker" nach den Kategorien grammatisch-ungrammatisch. Die Auskunft der Kommunikationspartner gehört in der Linguistik (als einer Sozialwissenschaft) mit zur empirischen Basis; in den Naturwissenschaften (etwa in der Phonetik) bieten allein die Meßwerte, nicht aber deren Beurteilung die Erfahrungsgrundlage.

Einführung in die Phonetik

3.16 (1)

(2)

(3)

(4)

124

Die Laute müssen in folgender Reihenfolge unter dem Stammbaum stehen (von links nach rechts): [ae, ao, oü,ü:, ö:, u:, o:, i:, e:,ae:, a:, ü, ö, u, o, i, e, a, a]. In der Mathematik wird der Zahlenstrahl unterteilt in die unendliche Menge der natürlichen Elemente: Erst dann kann man mit den Zahlen operieren; in der analytischen Geometrie werden sämtliche Kurven zerlegt in einzelne Punkte, die man durch Angabe der entsprechenden Werte auf Ordinate und Abszisse bestimmen kann: so kann man alle geometrischen Gebilde in Werten der Koordinaten beschreiben; in der Chemie werden sämtliche existierenden Stoffe in die natürlichen Elemente zerlegt und so als bestimmte Kombinationen dieser Elemente beschrieben. In der strukturellen Linguistik besteht die erste Aufgabe in der Segmentierung des akustischen Kontinuums in einzelne Laute. Jedes Kind muß die Lautketten, die es hört, analysieren, Schritt für Schritt das Lautsystem der Sprache lernen und gleichzeitig versuchen, die Laute und Lautketten selbst zu produzieren. Zur Kontrolle muß es dann seine eigenen Produktionen analysieren und mit dem Standard vergleichen, damit es allmählich dieselbe Sprechfähigkeit wie seine Umgebung erreicht. Ist die Sprechnorm einer kleinen Sprachgemeinschaft sehr verschieden von der allgemeinen Umgangssprache, so muß es eine Aufgabe des Schulunterrichts sein, den allgemeinen Standard als zweite Norm zu vermitteln und die Umsetzungsregeln zwischen beiden Nonnen einzuüben. Gehörlose sind zu einer phonetischen Analyse nicht in der Lage, so daß sie nicht sprechen lernen. Die Aufgabe des Sprachunterrichts für Taubstumme muß u. a. darin bestehen, den Lernenden Artikulationsbewegungen beizubringen, die einigermaßen sprachliche Laute erzeugen, ohne

(5)

daß der Sprechende weder die Laute seiner Umgebung noch die eigenen Laute analysieren und kontrollieren kann. Die artikulatorische Phonetik beschränkt ihre Deskription darauf, die Merkmale anzugeben, die die einzelnen Einheiten voneinander unterscheiden, also die Struktur zu beschreiben, in der die Einheiten einen genau bestimmten Ort haben. Materiell ist dieser Strukturalismus deswegen, weil der Aspekt, unter dem die Beziehungen der Einheiten zueinander bestimmt werden, ein artikulatorisch-materieller ist (und ζ. B. kein funktioneller).

3.25 (1)

Die Laute müssen in folgender Reihenfolge unter dem Stammbaum stehen (von links nach rechts): [a:, a, ae, u:, u, ü:, ii, i:, i, o:, o, ö:, ö, e:, e, a].

(2) Artikulatorische Matrix der deutschen Vokale a

a: ae e

-

-

-

-

e: ö ö: 3 0

o: i

i: ü

ü: u

u: ae oü ao

Vokal (+) vs. Konsonant kurz (+) vs. lang ( - ) variabel (+) vs. konstant ( - ) gerundet (+) vs. ungerundet ( - )

+ -

-

-

+

+

-

+

+

-

-

+

+

+

+

vorn (+) vs. nicht vorn ( - ) +

offen (+) vs. nicht offen ( - )

+ +

offen ansetzend (+) vs. mittel ansetzend ( - )

0

0 0

0

vorn endend (+) vs. hinten endend ( - )

0

0

0 0

(4)

0 0 0 0 0

geschlossen (+) vs. nicht geschlossen ( - )

(3)

+ +

Ί- +

+

+

+

0

+

0 0 0 0 0

0

0

0 0

0

0

0

0

Ο 0

0

0

0

0 0

0

0 0

0 0

0

0

0 +

-

0 +

0 + + —

In beiden Medien müssen Inventare der Einheiten bestehen (z. B. Laute und Buchstaben), damit die Äußerungen in beiden Medien identifiziert werden können; dazu müssen Umsetzungsregeln von einem Inventar zum anderen festgesetzt sein (die z. B. Lautketten Schriftketten zuordnen). Das Verhältnis der Einheiten aus beiden Inventaren muß nicht 1:1 sein (die Schrift zeigt das am deutlichsten), aber es muß festliegen. Will man den Übergang von Laut zu Schrift maschinell leisten, so braucht man eine Maschine, die einmal die Lautketten nach akustischen Merkmalen identifiziert (das macht wegen der situativ und individuell bedingten Variationen große Schwierigkeiten) und die zum anderen die Lautketten in Schrift umsetzt nach Regeln der Orthographie. Ein besonderes Problem bieten dabei die Homophone mit unterschiedlicher Schreibung (das gilt auch für den Rechtschreibunterricht). Wenn ein Vokal nur nach dem Verhältnis seiner Formanten identifizierbar ist, so ist nur eine Strukturbeschreibung des Sonagramms angemessen, die die Formanten zueinander in Beziehung setzt, und nicht z. B. die Aufzählung einzelner Frequenzwerte. Die Verhältnisse beschreiben ja auch die akustischen Merkmale (etwa .diffus', .compact' usw.); über absolute Werte dagegen sagen sie nichts aus. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen den Vokalen selbst.

125

4:

Einführung in die Phonemik

4.23 (1)

(2)

(3)

(4) (5) (6)

Die P h o n e t i k untersucht den Kanal, mit dem sprachliche Information vermittelt wird. Die P h o n e m i k beschreibt das System der Laute einer Sprache. Sie arbeitet nicht materiell, sondern funktionell. Die P h o n e t i k arbeitet mit Sonagrammen. Wie am Textbeispiel guten Tag gezeigt wurde, kann zwar die Phonetik die Lautfolge dieser Äußerung segmentieren und die einzelnen Laute und Lautnuancen materiell-physikalisch beschreiben. Wir kommen damit zu einer unbegrenzten Menge von Lauten. Das Gemeinsame aber, daß diesen Lauten zu Grunde liegt, und die Unterschiede zu anderen (die Oppositionen), können erst durch die funktionelle Analyse der Phonemik festgestellt werden. Einen einzelnen geschriebenen Buchstaben können wir als Graph bezeichnen. \ Κ, k sind alles Graphe. Wenn ich sie klassifiziere, dann bilden h, A. eine Klasse und Κ A eine andere Klasse. Die eine Klasse kann ich abstrakt als das Graphem > h Κ < . Die verschiedenen Realisierungen des Graphems > K < sind dann die Allographe Κ und i . . Richtige Antwort (c) /m/ : /w/ Die Antworten (b), (c), (d) sind richtig, sie definieren das Phonem unter verschiedenen Gesichtspunkten: (a) Minimalpaare mafi mani / f, η / mafi : lafi / m, 1 / mafi fafi / m, f / Ieri : lefi / r, f / meni : mani / e, a / lafi : lefi / a, e / lafi : fafi /1, F / (b) Durch das Aufstellen von Minimalpaaren werden die Laute, die kommunikativ relevant sind, ermittelt. Die Minimalpaaranalyse der „7 Wort-Sprache" zeigt, daß der Laut i nicht bedeutungsunterscheidend ist, da er kein Minimalpaar differenziert. Er steht in komplementärer Distribution mit dem Vokal e, der am engsten phonetisch mit ihm verwandt ist. Gehen wir die Minimalpaarliste nochmals durch, so sehen wir, daß auch die phonetisch verwandten Konsonanten [1 ] und [r] nie in einem Minimalpaar in Opposition zueinander stehen. Genauso verhalten sich [ m j u n d [n], Sie sind komplementär distribuiert und bilden ein Phonem / [1, r] / bzw. / [m, n] /. Es ergibt sich damit folgendes Phoneminventar: /a/,/[e,i]/,/[r,l]/,/[m,n]/,/f/

4.5 (1)

Es sind drei Arbeitsschritte notwendig: Aufstellen der Minimalpaare, Distributionsanalyse, Aufstellen des Phoneminventars. Minimalpaare: Distributionsanalyse: Auslaut lená tená /1, t / Anlaut Inlaut lemá / n, m / lená pebá pená Ib,η/ η e η á pebá pedá / b, d / m m nedá medá 1 ti, m 1 b Ρ nedá pedá In,ρ/ d t tená pená IUPI 1 pená pedá I η, dl Phoneminventar: /m/ / [e, á] /

126

In/

/ M ] / IH

/[p,b]/

(2)

Die distinktiven Einheiten dieser Sprache in Stammbaumdarstellung: (PE = Phonemische Einheiten)

labial

dental

lateral

Verschluß labial

(3)

(4)

5

dental

Die Vokale der 8-Wortsprache sind nicht frei distribuiert; [e] steht nur im Inlaut, [ á ] nur im Auslaut; [el und [á] sind also komplementär distribuiert. Da [e] und [a] an verschiedene Positionen gebunden sind, ist es ausgeschlossen, daß dieser Unterschied ein Minimalpaar differenzieren kann; dieser Unterschied ist also nicht distinktiv, also auch nicht kommunikativ relevant. Nur frei distribuierte Einheiten können voll relevant sein. Zwei Einheiten A und Β sind komplementär distribuiert, wenn A in einem Teil aller möglichen Kontexte und Β in genau dem anderen Teil steht; ζ. B. [ç - χ]. Auch [i] und [j] sind im Deutschen Allophone eines Phonems. Sie sind komplementär distribuiert, da sie nie in derselben Position vorkommen und phonetisch verwandt sind, [j] kann als zur Spirans verengtes [i] aufgefaßt werden oder auch [i] als geöffnetes [j].

Einführung in d i e M o r p h e m i k

5.14 (1) (2)

(3)

(4) (5)

Sprachzeichen haben eine Form und eine Bedeutung. Da Phoneme nur bedeutungsunterscheidend sind, aber keine eigene Bedeutung haben, sind sie keine Sprachzeichen. (a) weder - noch (die Definition wäre nur dann zutreffend, wenn „mit bedeutungsunterscheidender F u n k t i o n " hinzugefügt würde; so trifft sie nur auf nicht klassifizierte Laute zu) (b) weder — noch (c) Morpheme (d) Phoneme (c) weder - noch (f) Morpheme (g) weder - noch (die Definition läßt Morpheme mit lexikalischer Bedeutung, ζ. B. haus, gehunberücksichtigt) gestern, general, er bat, gift, vater, mutter, meister sind keine Morpheme, da weder die unterstrichenen noch die nicht-unterstrichenen Wortteile eine selbständige, in anderen Umgebungen auftretende Bedeutung besitzen, gift ist nur unter diachronischen Gesichtspunkten segmentierbar: es ist von geb- durch ein -f-Suffix abgeleitet (vgl. fahren - Fahrt). Vom synchronischen Standpunkt aus ist eine Segmentierung nicht zulässig, da gift in Form und Bedeutung von gebunterschiedcn ist. Iii paradigmatischer Beziehung stehen alle Verbmorpheme, ζ. B. säg-, bau-, schmied-, schreib-, ¡es-. In syntagmatischer Beziehung stehen ζ. B. die Konjugationsendungen und die Personalpronomina: er arbeit-e/, arbeit-e«, du arbeit-eji usw. (a) syntagmatisch: (1), (4), (5). Vgl. : Der Direktor rannte jeden Morgen schnell über den Fußballplatz zur Schule, paradigmatisch: (2), (3). (b) syntagmatisch: (4), (5), (6). Vgl. : Peter erwachte fast jeden Morgen um sieben Uhr. Peter erwachte nicht um sieben Uhr. Peter erwachte um sieben Uhr, weil der Wecker läutete. paradigmatisch: (1), (2), (3), (7). (c) syntagmatisch: (1), (4), (5), (6). Vgl.: Der General befahl wider besseres Wissen um Mitternacht den Angriff auf die feindlichen Stellungen, um die Front zu begradigen, paradigmatisch: (2), (3).

127

(6)

(7)

1

SYNTAGMEN kauflies-

buch heft DIGMEN ψ es 1. Durch Bildung von Minimalpaaren (wie bei der Phonemanalyse) können wir die Syntagmen in Morpheme segmentieren und ihnen Bedeutungen zuordnen: ikalwewe ,sein großes Haus' PARA-

er sie

ikalsosol

/

,sein altes Haus'

ikalwewe

/

,sein großes Haus'

komitwewe

ein das

.großer KochtopP

wewe

.groß'

ikal

,sein Haus'

sosol

,alt'

komit

Kochtopf

usw.

2. Es lassen sich folgende Morpheme identifizieren: ikal .sein Haus' crn .klein' komit ,Kochtopf' meh .Plural' petat .Matte' -? — .männlich' ko'yame .Schwein' ilama ,groß - weiblich' wewe .groß' sosol ,alt' 3. An folgenden Punkten treten Schwierigkeiten auf: (1) ikal trägt 2 Bedeutungen: .Haus' und .sein'. Nur mit Hilfe von zusätzlichem Material könnte entschieden werden, ob ikal 1 Morphem mit der Bedeutung .sein Haus' ist oder aus den beiden Morphemen i- .sein' und kal .Haus' besteht. (2) wewe und ilama: Es ist nur durch weiteres Material zu entscheiden, wie die Bedeutungen .groß', männlich', .weiblich' genau verteilt sind.

5.23 (1) (2) (3)

(4) (5) (6)

(7)

Def. (c) trifft auf das Morphem zu. Alle andern sind falsch. Def. (b) trifft auf das Allomorph zu, (e) auf das homonyme Morph. ba bi vi vera veri Schwierigkeiten: Es kann nicht entschieden werden, ob die gefundenen Einheiten wirklich kleinste Einheiten sind. Wenn man die Formen amo und amor hinzunimmt, muß man zwischen amund -a- einen weiteren Einschnitt legen. Eine vollständige Analyse würde Kenntnis des g e s a m t e n Korpus einer Sprache voraussetzen. Die Morphe können nicht zu Morphemen klassifiziert werden, wenn die Bedeutungen unbekannt sind. Allomorphe und homonyme Morphe werden nicht erkannt. (b) und (c) treffen zu. (b) verwendet jedoch einen Begriff aus einer andern Beschreibungssprache, der der traditionellen Grammatik. Nur (d) trifft zu. (a) Keine Allomorphe des Verbmorphems komm- .kommen' sind: kaum, kämm. (b) Keine Allomorphe von nehm· .nehmen' sind: näh-, numm-, (c) Das Verbmorphem sag- hat keine graphisch bezeichneten Allomorphe. sage ist ein besonderes Morphem (die Sage) oder eine Morphemkombination (ich sage). Die übrigen sind Morphemkombinationen. -er ist bedeutungslose Phonemfolge in: bruder, finger, sonst ist es Morph. Folgende Morpheme lassen sich unterscheiden: -er j : .Komparativ' in bess-er, größ-er -er2'· .Plural' in kind-er -ery .Berufsbezeichnung' in glas-er, schrein-er -er.: .Instrumentbezeichnung' in bohr-er

128

5' -er^: Substantivierung, in: mein Groß-er

5.310 (1)

(a) kauf- .kaufen' (Reg. 2) -e ,3. Ps. sg.' -f- ,Prät.' -en, .Infinitiv' 1 (Reg. 9) ge-. .. -t .Part. Prät.' (Reg. 8) -en* .1· Ps. pl.' / (b)frau, wagen, kind, Sünder, heft, radio (Reg. 2) haus /haus oo häus/, kunst /kunst oo künst ^kloster /kloster oo klöster/ (Regel 4) -e /e oo er oo en oo s oo ö {o oo φ / , ρ ΐ . ' /e/: bei heft, kunst /ö ( o/: bei kloster (Regel 5) φ: bei wagen, sunder (Regel 6) (c)«ri/ra:t~ra:d/,Rad' \ Jfcönfc /kö:nix~kö:nig/ .König'/

,R

, ,t l K e g e l 3>

rat!ra:t/,Rat' (Regel 2) (d)stachel ist Morphem nach Regel 1.1., erd- nach 1.2., him· und brom- nach 1.3. (unikale Morpheme) (e) jed•·. .Indef.-Pron.' -er: ,Nom. sg. mask.' -em: ,Dat. sg. mask.' -en: ,Akk. sg. mask.' ich (du): P. M. .Pers.-Pron. 1. (2.) Ps. sg.' + ,Nom. sg.' mir (dir): P. M. .Pers.-Pion. 1. (2.) Ps. sg.' + tDat. sg.' mich (dich): P. M. ,Pers.-Pron. 1. (2.) Ps. sg.' + .Akk. sg.' (f) find /find oo fand oo fund/ .finden' renn /ren oo ran/ .rennen' -t- /-1- oo a < i/ .Prät.' l-t-/ : bei renn 1 . . (Re el4 5) /a