Limina: Natur - Politik: Verhandlungen von Grenz- und Schwellenphänomenen in der Vormoderne 9783110605389, 9783110602524

This conference transcript examines boundaries and boundary demarcations related to the role of "nature" in th

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German Pages 387 [388] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Liminales in der jüdischen Apokalyptik
Auf der Schwelle des ‚Gelobten Landes‘
Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem
Maria an der Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz
Zwischen kosmologischer Anthropologie und Tugendethik
Mirakel als Grenzphänomene
‚In göttlichem Licht‘
Zur Formbarkeit des Körpers in der Frühen Neuzeit
Kühlen Kopf bewahren!
Der Grenzgänger Othello
Antikes Gedankengut und frühneuzeitliche Kosmologie als Grundlage ärztlichen Handelns
Cloister und Closet
Konfessionalisierung als Schwellenphänomen?
Moralität zwischen Verstand, Sinnen, Trieben und Offenbarung in der Aufklärung
Utopische Architektur oder architektonische Utopie?
‚Ideale Gemeinschaft‘ oder ‚Fesseln der Tradition‘?
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Limina: Natur - Politik: Verhandlungen von Grenz- und Schwellenphänomenen in der Vormoderne
 9783110605389, 9783110602524

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Limina: Natur – Politik

Limina: Natur – Politik

Verhandlungen von Grenz- und Schwellenphänomenen in der Vormoderne Herausgegeben von Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider und Oliver Bach

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

ISBN 978-3-11-060252-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060538-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060285-2 Library of Congress Control Number: 2018954396 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider, Oliver Bach 1 Einleitung Peter Juhás Liminales in der jüdischen Apokalyptik Zwei Beispiele 7 Petra Schmidtkunz Auf der Schwelle des ‚Gelobten Landes‘ Die Ermahnungen des Moseliedes (Dtn 32) für ein gottgefälliges 31 Leben Hannah C. Erlwein Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem Die Etablierung des perfekten Staates in der islamischen Philosophie 47 Magdalena Butz Maria an der Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz Überlegungen zur Rezeption des Alanus ab Insulis in Heinrichs von 63 St. Gallen Marienleben Alexandra Urban Zwischen kosmologischer Anthropologie und Tugendethik Transformationen der Natur in den poetischen Entwürfen des Alanus ab Insulis und Heinrichs von Mügeln 93 Andreas Rentz Mirakel als Grenzphänomene Das Beispiel des Abdankungswunders Papst Cölestins V. 1294

115

Melanie Förg, Annika von Lüpke ‚In göttlichem Licht‘ Die selbstbewusste Lehrtätigkeit Marguerite Poretes am Beispiel philosophischer Argumentationsfiguren in Kapitel 118 des Spiegels der einfachen Seelen 133

VI

Inhalt

Brendan Röder Zur Formbarkeit des Körpers in der Frühen Neuzeit Natur und plastische Chirurgie im katholischen Klerus

149

Bernhard Seidler Kühlen Kopf bewahren! Albrecht Dürers Darstellungen der Versuchung des Heiligen Antonius und 167 ihre medizinischen Implikationen Tabea Strohschneider Der Grenzgänger Othello

223

Manuel Förg, Katharina-Luise Link Antikes Gedankengut und frühneuzeitliche Kosmologie als Grundlage ärztlichen Handelns Liminalität in Rodrigo de Castros Medicus-politicus (1614) 243 Rebecca Faber Cloister und Closet Liminalität in Margaret Cavendishs The Convent of Pleasure 265 (1668) Anna Sebastian Konfessionalisierung als Schwellenphänomen? Zum Einfluss der Übersetzungen Richard Bakers auf Andreas Gryphius’ frömmigkeitsgeschichtliche Position 279 Oliver Bach Moralität zwischen Verstand, Sinnen, Trieben und Offenbarung in der Aufklärung Friedrich Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen und die Tradition 301 Wolffs, Rousseaus, Baumgartens und Gellerts Amelie Mussack Utopische Architektur oder architektonische Utopie? Idealstaatsentwürfe zwischen faktualem Projekt und fiktionaler 333 Strategie

Inhalt

Sophie Forst ‚Ideale Gemeinschaft‘ oder ‚Fesseln der Tradition‘? Immanuel Kants Konzeption der Urteilskraft und ihre Kritik durch die Hermeneutik 357 Register

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VII

Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider, Oliver Bach

Einleitung

Ausgangspunkt der DFG-Forschungsgruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ ist die Frage nach der Rolle von ‚Natur‘ bei der Begründung vormoderner politischer Ordnungen. Gegenstand der hier vorgestellten Tagung sind in diesem Zusammenhang diejenigen Argumentationen und Darstellungen, die Grenzen ziehen bzw. von Grenzziehungen ausgehen. Wir untersuchen dabei erstens die spezifische Beschaffenheit solcher Grenzen: Besteht jede Grenze in einer (sachlichen, formalen, performativen) Differenz? Ist jede (kategorische, graduale) Differenz schon eine Grenze? Wir fragen zweitens nach der relativen Beschaffenheit solcher Grenzen: Sind diese Grenzen durchlässig? Haben sie eine eigene Extension (Schwelle)? Sind Grenzgänge reversibel? Unsere Aufmerksamkeit richtet sich drittens auf die Objekte solcher Grenzziehungen: Werden die Kultur, die Politik, das Recht oder gar die Natur selbst begrenzt? Wir studieren viertens die Subjekte und Instanzen solcher Grenzziehungen: Setzen die Natur, das Recht, die Politik oder die Kultur Grenzen, oder allererst Gott? Im Zugriff auf diese Fragen erweist sich die Interdisziplinarität der Forschungsgruppe als besonders produktiv. Die Komplexität des vormodernen NaturDiskurses und seine Leistungsfähigkeit können nur im Dialog der Fächer differenziert bewertet werden. Der vorliegende Band versammelt daher Beiträge aus der Theologie, der Philosophie, der Literaturgeschichte, den Geschichtswissenschaften, der Kunstgeschichte und Medizingeschichte. Den Anfang macht die Studie von Peter Juhás. Dass liminale Strukturen einen festen Platz in der jüdischen Apokalyptik haben, wird anhand zweier Beispiele erläutert, und zwar zum einen für liminale Phasen und zum anderen für die Vorstellung raumzeitlicher Limina. Das erste Beispiel entnimmt Juhás den protosacharjanischen Texten (Sach 1– 8): Nach dem Zeugnis dieser Quellen, die einem beginnenden Stadium der Apokalyptik angehören, ist die frühnachexilische Zeit als eine liminale Phase anzusehen, während derer sich eine communitas formiert, die auf eine Neukonstituierung der Verhältnisse hinstreben darf und soll. Das zweite Beispiel liefern die spätapokalyptischen Schriften (4Esra und 2Bar), welche die Vorstellung von den ‚Schatzkammern der Seelen‘ dokumentieren. Diese ‚Schatzkammern‘ stellen liminale ‚Zeit-Räume‘ dar, in denen die Seelen der Gerechten nach dem Tod (Separation) auf die leibliche Auferstehung (Aggregation) warten. In dem Beitrag „Auf der Schwelle des ‚Gelobten Landes‘. Die Ermahnungen des Moseliedes (Dtn 32) für ein gottgefälliges Leben“ skizziert Petra Schmidtkunz im Rückgriff auf Arnold van Genneps Ritualtheorie, welche Schwellen in der https://doi.org/10.1515/9783110605389-001

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Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider, Oliver Bach

biblischen Narration von der Wanderung des Volkes Israel in das von Gott versprochene Land verhandelt werden: Während auf der Erzählebene der Marsch durch die Wüste einen geographischen Übergang darstellt, geht es in einem metaphysischen Sinne um den Weg zu Gott. Dabei bietet das spät in den Pentateuch eingefügte Moselied, geschrieben in einer politischen Schwellensituation nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit, den Leserinnen und Lesern der Bibel die Möglichkeit, sich die Wüstenerzählung des Volkes als individuelle Ermutigung zu einem Leben mit Gott anzueignen. Der Artikel von Hannah C. Erlwein befasst sich mit der politischen Philosophie des islamischen Philosophen Ibn Sina (gest. 427AH/1037AD; lat. Avicenna). Dabei geht die Verfasserin der Frage nach, worin für Ibn Sina die Funktion des perfekten Staates besteht, und zeigt auf, dass diese insbesondere mit dem Bestreben verbunden ist, dem Menschen zu seiner Vervollkommnung zu verhelfen. Menschliche Vervollkommnung kulminiert für Ibn Sina in der Ähnlichwerdung mit Gott. Des Weiteren verdeutlicht Erlwein, dass Ibn Sinas politische Philosophie trotz nicht zu verkennender griechischer Einflüsse ein vordringlich religiöses Projekt ist, das von koranischen und islamischen Ideen durchdrungen ist. In ihrer Studie untersucht Madgalena Butz die Rezeption des Alanus ab Insulis in Heinrichs von St. Gallen Marienleben. Die Grenze zwischen Natur und Gott wird bei Heinrich anders gezogen als in den vergleichend herangezogenen Texten, dem Anticlaudianus des Alanus und dem anonym überlieferten Compendium Anticlaudiani. Indem bei Alanus die nicht näher spezifizierte Figur des Homo novus in ein konkretes historisches Wesen (Maria) transformiert wird, schafft die Erzählung eine Figur, die diese Grenzen teilweise wieder zu überschreiten imstande ist. Durch diese Umbesetzung wird die Gottesmutter aufgewertet und ihr semi-göttlicher Status hervorgehoben. Einen Aspekt dieser Sonderstellung zwischen Menschlichem und Göttlichem stellt Marias Unbefleckte Empfängnis dar. Die spezifische Integration der Anticlaudianus-Handlung erlaubt es Heinrich von St. Gallen, die umstrittene Immaculata Conceptio mittels eines kulturell etablierten Narrativs anschaulich und glaubhaft darzustellen und ihr den Anstrich von Faktizität zu verleihen. Heinrich von St. Gallen tritt damit in den zeitgenössischen mariologischen Diskurs um die Unbefleckte Empfängnis ein und bereitet ihn für ein volkssprachliches Publikum auf. Der Beitrag von Alexandra Urban fragt nach den konzeptuellen Entwürfen der Natur im Verhältnis zur Kategorie der Tugend in den poetischen Entwürfen des Alanus ab Insulis und Heinrichs von Mügeln. In Alans De planctu naturae ist die Natur als kosmisches Schöpfungsprinzip in ein allegorisches Instanzensystem eingebettet. Alanus entwirft eine kosmologisch fundierte Anthropologie, die den Menschen in seiner natürlichen Veranlagung als sowohl tugendbegabtes als auch fehlerhaftes Wesen denkt. Diese Konzeption ändert sich in Heinrichs von Mügeln

Einleitung

3

Der meide kranz grundlegend. Zwar übernimmt Mügeln das Modell des Instanzenzugs, doch integriert er mit Kaiser Karl IV. eine historisch-reale Figur in das allegorische Gefüge. Vor diesem Hintergrund ist auch die konzeptuelle Modifikation des Naturbegriffs zu verstehen. Das Verhältnis von Natur und Tugend wird in einem Wettstreit ausgetragen, aus dem Letztere als Siegerin hervorgeht. Mügeln löst die hybridisierte Konzeption einer moralisch dimensionierten Natur daher zugunsten eines tugendethischen Modells auf. Andreas Rentz erläutert die Bedeutung von transrationalen Vorstellungen wie des Wunderglaubens für die ideen- wie für die realgeschichtliche Geschichtsforschung. Ein knapper Überblick über den mittelalterlichen Wunderdiskurs zeigt, dass eine scharfe Grenze zwischen Natur und Wundern nicht gezogen wurde: Mirakel sind als potenzielle historische Ereignisse ernst zu nehmen und unter Berücksichtigung mittelalterlicher Vorstellungswelten auch erklärbar, ohne die modernen Naturwissenschaften zur Disposition stellen zu müssen. Am Beispiel des Wunders, das Papst Cölestin V. im Anschluss an seine Abdankung 1294 gewirkt haben soll, wird dies näher ausgeleuchtet. Es zeigt sich, dass ein Wunder durchaus auch über gesellschaftliche Funktionen verfügen kann. Melanie Förg und Annika von Lüpke untersuchen in ihrem Beitrag vier platonische und plotinische philosophische Argumentationsfiguren im zentralen Kapitel 118 des hochmittelalterlichen Werks Der Spiegel der einfachen Seelen der Marguerite Porete. Ihr Anliegen ist es, durch diese Detailstudie die Autorin als philosophisch umfassend gebildete Frau zu erweisen, die selbst immer wieder deutlich macht, dass ihr Werk aus Vernunftüberlegungen hervorgegangen ist und von dort Autorität gewinnt. Diese Charakterisierung ist geeignet, die These von Marguerite Porete als einer Frau von höchstem Bildungsstand, die die ihr als Laie und als Frau gesellschaftlich auferlegten Grenzen bewusst infrage stellt und übersteigt, zu konkretisieren. Den pragmatischen Umgang mit gesetzlichen Grenzen untersucht Brendan Röder anhand des frühneuzeitlichen Kirchenrechts. Dort wurde das Fehlen bzw. die Schädigung bestimmter Körperteile als Weihehindernis für Priesteranwärter bestimmt (irregularitas). Da aber dieses Weihehindernis nur unter der Voraussetzung einer bestimmten disabilitas galt, entwickelte sich eine Prothetik, die diese Einschränkungen zu beheben und somit die irregularitas zu umgehen suchte. Der Erfolg dieser Versuche hing zwar von der Funktionalität der Prothesen ebenso ab wie von der Anerkennung durch die kirchliche Jurisdiktion, gleichwohl kann die Prothetik als Beispiel dafür gelten, wie Grenzen mithilfe pragmatischer Mittel zu passierbaren Schwellen werden. Mit Schwellenphänomenen in der bildenden Kunst beschäftigt sich Bernhard Seidler. In seiner Studie geht er der Frage nach, wie Albrecht Dürer in Zeichnungen von der Versuchung des St. Antonius das Krankheitspatronat des

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Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider, Oliver Bach

Heiligen als Resultat des Vermögens, mit Trugbildern umzugehen, reflektiert. Bei Dürer werden die psychologischen und physiologischen Prozesse der erotischen Anziehungskraft von Bildwerken visuell analysiert und somit – nach der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn – der sensus naturalis naturphilosophisch für die Episode aus der Legende des Heiligen ergründet. Die Versuchung des Antonius ebenso wie seine Resistenz gegen dieselbe erweisen sich dabei als medizinischen Theorien der Dürerzeit zugänglich. Implizit erkennbar wird damit nicht nur die – bereits selbst liminal angelegte – Humanisierung des zuvor meist über- bis unmenschlichen Heiligen im Bild, sondern auch wird die Liminalität von Heil und Heilung als Schwellenbereich zwischen theologischen und medizinischen Diskursen als Bild-Frage gewendet. In ihrem Beitrag „Der Grenzgänger Othello“ untersucht Tabea Strohschneider, wie die Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Fremden in William Shakespeares berühmter Tragödie konstruiert wird. Die Autorin zeigt, wie Othello zugleich der Vertraute und der Fremde ist bzw. wie er zwischen diesen beiden Rollen hin und her geschoben wird, indem die anderen Figuren des Dramas ihn in die venezianische Gesellschaft inkludieren bzw. ihn aus derselben ausschließen. Auch Othellos self-fashioning (Stephen Greenblatt) nimmt dieses Changieren auf: Othello versucht einerseits, die Grenze zwischen Fremden und Vertrauten zu überschreiten, während er andererseits seine Identität als Afrikaner nicht verleugnet bzw. verleugnen kann. Anhand des Schrifttums des jüdischen Arztes Rodrigo de Castro (1550 – 1627) erläutern Manuel Förg und Katharina Link Schwellenphänomene sowohl mit Blick auf wissenschaftliche Traditionsbildung als auch mit Blick auf medizinische Systembildung. Der medizinische Handlungsdruck insbesondere urbaner Räume machte zunehmend eine Freiheit der Wissenschaft notwendig, die den kritischen Umgang mit der Tradition stärkte. Auf der Schwelle steht auch das Natur-Argument bei de Castro selbst: So führt ihn sein Vergleich des menschlichen Körpers mit einem Staate zwar einerseits zu dem Schluss, dass der Arzt wie ein Politiker zu handeln habe; andererseits folgt aus dem Vergleich des Staates mit dem menschlichen Körper ausdrücklich nicht, dass der Arzt als Politiker agieren soll. Genderhistorische Perspektiven eröffnet der Beitrag von Rebecca Faber „Cloister und Closet: Liminalität in Margaret Cavendishs The Convent of Pleasure (1668)“. Dabei analysiert die Verfasserin das Closet, einen teils abgeschlossenen Raum in englischen (Adels‐)Häusern, als Bereich, in dem vor allem Frauen schriftstellerischen Tätigkeiten nachgingen. Closet wird begriffen als liminaler Raum zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, der den liminalen Status von Frauen in der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts versinnbildlicht. Margaret Cavendish spielt mit den verschiedenen Funktionen des Closets. Der bewusste Rückzug in ein selbstgegründetes Kloster dient den Frauen im Drama The Convent

Einleitung

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of Pleasure dazu, sich eine utopische Gesellschaft aufzubauen. Raison d’Être des Klosterlebens ist die Erfüllung weiblicher Lust (pleasure), die durch die freigiebige Göttin Natur ermöglicht wird. Mitten in dieses Klosteridyll setzt Cavendish jedoch ein zweites Drama, eine Gegen-Utopie, das die Leiden der Frauen erzählt und eine weitere Funktion des Closets repräsentiert: das Closet als Geburtenkammer. Einer der wichtigsten Schwellenepochen, dem Zeitalter der Konfessionalisierung, widmet sich Anna Sebastian. Anhand der Rezeption und Übersetzung des Erbauungsschrifttums Sir Richard Bakers durch Andreas Gryphius nimmt Sebastian solche interkonfessionellen Kontakte in den Blick, die sich weder ausschließlich durch Gegnerschaft noch durch Gemeinschaft auszeichnen. Die Zustimmungsfähigkeit des pietistischen Denkens Bakers war für den Lutheraner nicht je schon gegeben. Als vermittelnde Instanz wirken die Frömmigkeitskonzepte Johann Arndts, deren breite Wirkung innerhalb des deutschen Luthertums die Empfänglichkeit der Leser auch für den englischen Pietismus präformierte. Dieses Bedingungsgeflecht bildet einen liminalen Raum zwischen orthodoxem Luthertum und radikalem Spiritualismus, in dem Gryphius von fremdkonfessionellen Einflüssen profitieren konnte, und zwar zum Zweck seiner lutheranischen Agenda im beengten schlesischen Kontext. Ausgehend von Friedrich Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen untersucht Oliver Bach den liminalen Status von Moraltheorien der Aufklärung. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche Seelenteile für die Moral vorrangig zuständig sind. Das Spektrum von Antworten auf diese Frage entfaltet Bach paradigmatisch von Christian Wolff über Jean-Jacques Rousseau und Alexander Gottlieb Baumgarten bis Christian Fürchtegott Gellert. Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund wird der Leistungsanspruch von Friedrich Schillers Vermittlung zwischen Trieb und Vernunft, Notwendigkeit und Freiheit sowie historischer Positivität und systematischer Universalität erhellt. Inwiefern Interdisziplinarität selbst eine Schwelle zwischen differenten Feldern eröffnet, zeigt der Aufsatz von Amelie Mussack. Indem die Autorin sowohl die Rezeption von Architektur in utopischen Texten als auch die Rezeption utopischer Ideale in architektonischen Texten erläutert, weist sie den Transfer zwischen diesen Disziplinen und zugleich mögliche Konsequenzen für den Status dieser Texte selbst nach. Wenn nämlich ein Architekt wie Le Corbusier utopische Modelle in seinen städtebaulichen Programmen und Plänen zu realisieren sucht, vollzieht diese Rezeption einen Bruch mit dem eigentlich kategorischen Unterschied zwischen Fiktionalität und Faktualität: Da der utopische Text durch seinen fiktionalen Status nicht die Form eines Urteils über die reale Welt hat, erwächst daraus eine Freiheit des Möglichkeitsdenkens, deren Früchte Praktiker wie Le Corbusier gerade für die reale Welt ernten wollen. Zumindest rezeptionsästhetisch existiert ein liminaler Raum zwischen Fiktionalität und Faktualität.

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Annika von Lüpke, Tabea Strohschneider, Oliver Bach

Den Abschluss des Bandes bildet der Aufsatz von Sophie Forst über Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft und ihre Kritik durch Hans-Georg Gadamer. Während für Kant die bestimmende Urteilskraft Ereignisse unter ein bekanntes Naturgesetz nur subsumieren muss, besteht die Herausforderung an die reflektierende Urteilskraft gerade darin, für Ereignisse ein allgemeines Gesetz erst zu finden. Dabei muss sie einerseits dahingestellt sein lassen, ob ein solches Naturgesetz überhaupt existiert, um nicht in einen deterministischen Fehlschluss zu verfallen; andererseits muss sie zugleich annehmen, dass ein solches Naturgesetz der Möglichkeit nach existiert, weil die Urteilskraft ansonsten über die Formulierung bloß empirischer statt allgemeiner Gesetze unmöglich hinauskäme. Dies bildet den Kern der Herausforderung an die Urteilskraft und wird von Kant mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur gefasst. Die Kritik Gadamers lautet, dass sich Kants Urteilskraftkonzeption durch ein unkritisches Überheben des Subjekts über das Urteil anderer und die Tradition auszeichne. Diese Kritik weist Forst unter Rückgriff auf Kants Konzeption des Gemeinsinns (sensus communis) zurück. Vielmehr erhebt der hermeneutische Zirkel durch die Eliminierung des gleichberechtigten Anteils des Subjekts an der Urteilsbildung die Tradition zu einem Argument vom Range eines Naturgesetzes und ebnet somit die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zugunsten der theoretischen Vernunft ein. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im Dezember 2017 mit großzügiger Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bei der Katholischen Akademie in Bayern im Kardinal Wendel Haus in München stattgefunden hat. Sie führte im interdisziplinären Gespräch die Forschungsarbeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DFG-Forschungsgruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen“ zusammen, die von 2016 – 2019 in neun Teilprojekten entstehen. Die Tagung sowie der vorliegende Band ergänzen dieses Gespräch um Gastbeiträge, die nicht nur das Tableau der vorliegenden Ergebnisse vervollständigen, sondern auch für die Einzelprojekte der Forschungsgruppe gewinnende Einsichten liefern. Dafür sei den Gastbeiträgern gedankt. Für das Gelingen der Tagung sei Herrn Folker Müller, für die Publikation des vorliegenden Bandes dem Walter de Gruyter-Verlag, namentlich Frau Sabina Dabrowski und Frau Bettina Neuhoff, gedankt. Die Sprecher unserer Forschungsgruppe, Frau Prof. Beate Kellner und Herr Prof. Andreas Höfele, haben sowohl die Tagung als auch diesen Band von Beginn an mit Rat und ungebrochenem Interesse begleitet. Ihnen gebührt unser besonderer Dank. München im Juli 2018

Peter Juhás

Liminales in der jüdischen Apokalyptik Zwei Beispiele

1 Einleitung Dass die Hölle mehrere Kreise nach den unterschiedlichen Klassen der Sünder hat, dürften mittlerweile die meisten wissen; wenn nicht direkt von Dante und seinem Inferno, dann spätestens vom gleichnamigen Roman Dan Browns. In das monumentale Werk Dantes sind nicht nur umfangreiche Kenntnisse mittelalterlicher Theologie und klassischer Antike eingeflossen, sondern auch viele Vorstellungen, die in der jüdischen Apokalyptik wurzeln. Der erste Kreis der Danteschen Hölle, der Limbus (Inferno, Canto IV), ist ein hervorragendes Beispiel, das zugleich einen liminalen Charakter aufweist. Dort lässt der florentinische Dichter die gerechten Heiden ‚weilen‘ und die großen Gestalten des Alten Testaments ‚warten‘. Die unterschiedlichen Verben sind absichtlich gewählt, da der Limbus als liminale Kategorie nur auf die alttestamentlichen Figuren zutrifft. Nur für diese bildet der Limbus eine zeit-räumliche Zwischenstation – bis zum Descensus Christi. ¹ Im zweiten Beispiel werden wir die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen einer solchen Vorstellung und den apokalyptischen Traditionen beobachten können. Im Folgenden sollen zwei spezifische Probleme dargestellt werden, an denen sich studieren lässt, welche Rolle das Konzept ‚Liminalität‘ und konkret die liminalen ‚Zeit-Räume‘ in den apokalyptischen Texten spielen.² Als erstes Beispiel sind die sogenannten proto-sacharjanischen Visionen, die für manche „den Anfang der Apokalyptik“³ darstellen, und ihr historischer Kontext – die frühnachexilische Zeit – zu nennen.

Prof. Hermann-Josef Stipp (München) und Prof. em. Otfried Hofius (Tübingen) sei an dieser Stelle für ihre hilfreichen Hinweise herzlich gedankt.  Was die Vorstellung von der Errettung alttestamentlicher Gestalten aus dem Limbus während des Descensus angeht, verweisen die Kommentatoren auf die Erzählungen des apokryphen Nikodemus-Evangeliums. Vgl. Hartmut Köhler in seiner Übersetzung und Kommentierung der Commedia, S. 60, Anm. 55.  Zu anderen Problemen bzw. Aspekten vgl. etwa van Deventer, Daniel, S. 443 – 458; Najman, Visions, S. 151– 167; Ruiz, Betwixt, S. 221– 242.  Vgl. Gese, Anfang, S. 20 – 49. https://doi.org/10.1515/9783110605389-002

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Peter Juhás

2 Der kulturanthropologische Ansatz Victor Turners Einen besonders vielversprechenden Zugang zur Beschreibung und Erklärung der genannten Periode bietet der kulturanthropologische Ansatz Victor Turners,⁴ der seinerseits an die Ritualtheorie Arnold van Genneps (rites de passage) anknüpft.⁵ Nach dieser sind in einem Passageritus drei Phasen zu unterscheiden: eine präliminale (Separation), eine liminale und eine post-liminale Phase (Aggregation). Gerade die liminale Phase in rituellen Prozessen war der Forschungsschwerpunkt Turners. Die Eigenschaften der Liminalität, also des Schwellenzustands und der ‚Grenzgänger‘, beschreibt er als „notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen“⁶. Die Liminalität beschreibt also, wie Christian Strecker es treffend formuliert, „eine Existenz ‚zwischen den Stühlen‘ […], einen Zustand des ‚Weder-noch‘, der Unstrukturiertheit, der Undefinierbarkeit und des Paradoxes […]. Zwischen ritueller Separation (Trennungsphase) und Reintegration (Wiedereingliederungsphase) steht somit ein in jeglicher Hinsicht ambivalenter Bereich, der wenige bzw. keine Attribute des vorherigen oder des künftigen Zustands aufweist“⁷. Was die rituellen Schwellenwesen angeht, charakterisiert sie – der Ritualforschung Turners zufolge – eine außergewöhnliche Gemeinschaftlichkeit, ein Phänomen, das er communitas nennt: „Communitas ist im wesentlichen eine Beziehung zwischen konkreten, historischen, idiosynkratischen Individuen. Diese Individuen sind nicht in Rollen oder Statuspositionen aufgeteilt, sondern stehen sich eher in der Art des Martin Buberschen ‚Ich und Du‘ gegenüber.“⁸ Obwohl für die rituelle Liminalität eine Negierung oder Vereinfachung der sozialen Strukturen charakteristisch ist, wird sie von einer Ambiguität geprägt, die sich in einem paradoxen „Neben- und Ineinander einer Communitas unter den rituellen Subjekten auf der einen und der bedingungslosen Unterwerfung unter die Autorität des Ältesten auf der anderen Seite“⁹ zeigt. In diesem liminalen Spannungsbogen werden die sogenannten sacra übermittelt, d. h. Objekte,

 Vgl. besonders Ritual Process (in der deutschen Ausgabe als Das Ritual. Struktur und AntiStruktur).  Vgl. van Gennep, Rites.  Turner, Ritual, S. 95.  Strecker, Liminale Theologie, S. 43 f.  Turner, Ritual, S. 128 f.  Strecker, Liminale Theologie, S. 46.

Liminales in der jüdischen Apokalyptik

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Handlungen oder verbale Mitteilungen, die in sich „die grundlegenden kulturellen Muster der jeweiligen Gesellschaft in einfacher und abstrahierter Form“¹⁰ verdichten. Den Turnerschen Forschungen zufolge ist dem Ritual eine transformative Kraft eigen, die sich nicht nur auf die Ritualteilnehmer bezieht, sondern sie wirkt „in die Gesellschaft selbst hinein und führt auch auf dieser Ebene Veränderungen herbei.“¹¹ Gerade die „Entdeckung der verändernden und regenerativen Kraft ritueller Liminalität“ machte „Turner weit über die Grenzen der Anthropologie hinaus bekannt.“¹² Turner selbst hat unter diesem Aspekt literarische und dramatische Werke analysiert, in denen er rituelle Strukturen und Symbole zu entdecken vermochte.¹³ Ähnlich zeigt Mircea Eliade rituelle Muster und Initiationsstrukturen in den mittelalterlichen und modernen Romanwerken auf.¹⁴ Der Turnersche Ansatz wurde in mehreren bibelwissenschaftlichen Arbeiten – hauptsächlich im englischsprachigen Raum – rezipiert.¹⁵ Im deutschsprachigen Raum ist besonders auf die schon mehrfach zitierte Arbeit von Christian Strecker zu verweisen,¹⁶ in der er unter dem Aspekt der Liminalität die paulinischen Texte untersucht und zu zeigen bestrebt ist, dass sie „durch rituelle Strukturen, Motive und Symbole geformt sind“ und sich mit Hilfe dieses Ansatzes besser erhellen lassen.¹⁷ Für unsere Beschäftigung mit der jüdischen Apokalyptik ist Streckers Deutung der paulinischen Eschatologie von besonderem Interesse. Im Folgenden wird aber die spezifische Eschatologie Proto-Sacharjas unter die Lupe genommen.

       

Strecker, Liminale Theologie, S. 47. Strecker, Liminale Theologie, S. 48. Strecker, Liminale Theologie, S. 48. Vgl. etwa Turner, African Rituals, S. 45 – 81, besonders S. 64– 81 (zu Purgatorio, Canto I). Vgl. etwa Eliade, Mysterium, S. 224– 230; S. 239 – 243. Vgl. die Literatur bei Strecker, Liminale Theologie, S. 77 f. Vgl. auch Otto, Thronratsvision, S. 183 – 195. Strecker, Liminale Theologie, S. 80.

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Peter Juhás

3 Die frühnachexilische Zeit als Schwellenperiode (nach Sach 1 – 8) 3.1 Die Exilzeit als prä-liminale Phase Der Inhalt der proto-sacharjanischen Texte (Sach 1– 8)¹⁸ lässt sich natürlich nur vor dem Hintergrund des Exils verstehen. Bezeichnet man gerade die Exilzeit als prä-liminale Phase, dann bedarf dies einer zusätzlichen Klärung. Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, die eine oder andere Periode in der Geschichte Israels als prä-liminal zu bezeichnen. Eines der entscheidenden Kriterien ist die Perspektive, die die untersuchten Texte einnehmen. Betrachtet man die Geschichte des antiken Israels aus einer Makroperspektive, dann bietet sich gerade die Exilzeit für eine Interpretation als liminale Phase an,¹⁹ die zu einer Neukonstituierung der Lebensumstände Israels nach dem Exil führt. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass die proto-sacharjanischen Texte in einer Mikroperspektive die frühnachexilische Zeit als eine Schwellenperiode betrachten, wobei in der Exilzeit prä-liminale Charakteristika beobachtet werden können. In den Bibelwissenschaften sind mit der Exilzeit die Eroberungen Jerusalems und Judas und die darauffolgende Periode gemeint.²⁰ Wenn man auch bei der Vorstellung einer totalen Verwüstung einige Abstriche machen muss, bedeutete die Exilzeit den Einschnitt in der Geschichte Israels, und zwar sowohl politisch als auch literaturgeschichtlich. Wurden nach der ersten Eroberung Jerusalems (597 v.Chr.) durch die Babylonier ‚nur‘ der König Jojachin – ersetzt durch seinen Onkel Zidkija – und Teile der gesellschaftlichen Elite deportiert, ging nach der zweiten (587 v. Chr.) das judäische Königtum unter. Weiterhin wurden die Stadtmauer zerstört, der Tempel niedergebrannt und große Teile der Bevölkerung verschleppt. Manche alttestamentliche Texte erwecken sogar den Eindruck, das Land sei

 Aus zahlreichen Kommentaren vgl. das jüngst erschienene umfangreiche Werk von Boda, Zechariah.  Robert L. Cohn hat die Wüstenerzählung (Ex 12,37–Num 25,18) unter dem Aspekt der Liminalität untersucht. U. a. stellt er fest (Shape, S. 19): „By retelling, rewriting, and reediting the story of the wilderness trek, the exilic authors gave expression to their own fears and hopes as they reexperienced ʻliminalityʼ in exile.“ Strecker (Liminale Theologie, S. 224) zieht daraus die Schlussfolgerung: „Die Wüstenerzählung ist ein eindrückliches Paradigma liminaler Situiertheit, das Personen oder Gruppen in Krisen-, Aufbruchs- bzw. Umbruchszeiten, wie z. B. der Exilgemeinde, zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten bietet […].“ Vgl. auch van Deventer, Daniel, S. 449 – 450.  Zur Gesamtdarstellung vgl. Frevel, Geschichte, S. 270 – 286; Keel, Geschichte, S. 772– 949; Albertz, Exilszeit; zu Einzelproblemen vgl. Ben Zvi u. Levin (Hrsg.), Concept of Exile.

Liminales in der jüdischen Apokalyptik

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menschenleer gewesen. Obwohl man in diesem Fall von einem literarischen Motiv sprechen muss, ist tatsächlich mit großen Bevölkerungsverlusten zu rechnen.²¹ Der Verlust des eigenen Landes, der heiligen Stätte par excellence und des Königs, der ja ‚Gesalbter Gottes‘ war, haben notwendigerweise grundlegende Fragen nicht nur nach der Zukunft und dem Überleben, sondern auch nach der eigenen Identität provoziert. Jedoch zeigen die Quellen zu den Lebensumständen der Exilanten auch ein Bild konsolidierter Verhältnisse, das Bild einer neu gebildeten Struktur,²² sodass „nur eine begrenzte Zahl zur Rückwanderung bereit war“²³ und die Exilierten prophetisch motiviert werden mussten, sich auf den Weg Richtung Jerusalem zu machen (s. 3.2 u. 3.3; vgl. Jes 52,11– 12).

3.2 Die nachexilische Zeit und der Prophet Sacharja Der Machtwechsel auf der Bühne der Weltpolitik – d. h. die Übernahme des Babylonischen Reiches durch die Perser – bedeutete für die judäischen Exilanten einen Neuanfang.²⁴ Die großen Wellen der Rückkehrer, die besonders die Bücher Esra und Nehemia insinuieren, entsprechen dem genannten Mythos des ‚leeren Landes‘ (s. Anm. 21). Jedoch ist historisch plausibel, dass der politische Machtwechsel die Rückkehr mancher Gruppen und die Neukonstituierung der Verhältnisse in Jerusalem samt dem judäischen Umland ermöglichte. In diesem Prozess spielten – neben anderen wichtigen Persönlichkeiten – die Propheten Haggai und Sacharja eine geschichtlich bedeutsame Rolle. Es ist gerade die Schrift des Propheten Sacharja – genauer die in ihr enthaltenen Visionen (Kap. 1– 6) –, die im Zusammenhang der Apokalyptik relevant ist. Obwohl die sogenannten proto-sacharjanischen Visionen nicht im selben Ausmaß apokalyptisch sind wie etwa die henochischen oder danielischen apokalyptischen Texte, enthalten sie manche formale und inhaltliche Merkmale, die es erlauben, das Buch Sacharja der beginnenden (M. Knibb: „inchoate“), also noch nicht völlig entfalteten, Apokalyptik zuzurechnen.²⁵

 Dazu vgl. den Exkurs Diskussion um das ,empty land‘ bei Koenen, Zerstörung; vgl. auch Stipp, Concept, S. 103 – 154.  Vgl. die Keilschrifttafeln aus āl Jāḫūdu und ālu ša Našar (6. – 5. Jh. v. Chr.) sowie dem MuraššûArchiv (5. Jh. v. Chr.). Dazu vgl. Pearce, Evidence, S. 399 – 411.  Albertz, Exilszeit, S. 89.  Zur Perserzeit und Provinz Jehud vgl. Leuenberger, Haggai, S. 64– 76; Keel, Geschichte, S. 950 – 1125; Gerstenberger, Israel.  Vgl. Knibb, Prophecy, S. 175; Juhás, Center and Periphery, S. 437– 439.

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Die genannten Visionen zeichnen ein Ideal der Zukunft Israels.²⁶ Mit anderen Worten: Sie beschreiben die zu erreichende post-liminale Phase des sich neu konstituierenden Volkes. In der jetzigen Textgestalt des Sacharjabuches sind es acht Visionen. Da sich die Vision in Sach 3 (die Entsühnung und Einsetzung Josuas) von den anderen formal abhebt, ist ursprünglich mit einem Zyklus von sieben Visionen zu rechnen, die konzentrisch angelegt sind. Die formalen oder sachlichen Entsprechungen lassen erkennen, dass die Visionen I (Reiter und Pferde) und VII (Wagen und Pferde), II (Hörner) und VI (Frau im Efa) sowie III (Mann mit Messschnur) und V (Fliegende Schriftrolle) aufeinander bezogen sind. In ihrer Mitte stand ursprünglich die Vision (IV) von dem Goldenen Leuchter, der die Präsenz JHWHs symbolisiert. Der liminale Charakter ist besonders in der ersten Vision (1,7.8 – 15) zu beobachten. Eine Abgrenzung gegenüber den vorausgehenden Zeiten kommt aber schon in der Bucheinleitung – noch vor der ersten Vision und mittels einer anderen Gattung – zum Ausdruck (1,1– 6). Im Zentrum steht ein Umkehrruf an die Adressaten, der eine klare Zäsur zwischen der Generation der Väter und der gegenwärtigen Gemeinde macht: „[…] Kehrt um zu mir – Spruch des Herrn der Heere –, sodass ich zu euch umkehre, spricht der Herr der Heere. 4 Seid nicht wie eure Väter, denen die früheren Propheten zuriefen: So spricht der Herr der Heere: Kehrt doch um von euren bösen Wegen und von euren bösen Taten. Aber sie hörten nicht und schenkten mir kein Gehör – Spruch des Herrn.“ (V. 3 – 4). Da die Sprache deuteronomistisch ist, wurde der Einleitungsabschnitt wahrscheinlich im Zuge einer späteren Redaktion hinzugefügt. Zusammen mit Kap. 7– 8 (vgl. schon 6,15b) bildet er einen Rahmen um die Visionen.²⁷ Es ist festzustellen, dass in diesen Rahmentexten (vgl. 8,14 f) die „[u]nheilvolle Vergangenheit und hoffnungsvolle Zukunft“ einander gegenübertreten.²⁸

3.3 Die erste Vision im Kontext In der ersten Vision sieht Sacharja „zwischen den Myrten“ einen Reiter auf einem roten Pferd, dem weitere Pferde verschiedener Farbe – wohl mit Reitern – folgen.

 Aus mehreren Arbeiten zu den Visionen vgl. jüngst Tiemeyer, Zechariah (mit Literatur).  Im gewissen Sinne stehen Teile der Rahmentexte in einer Spannung zu den Visionen, da sie (Sach 1,3 – 6; 7,7– 14; 8,9 – 13.14– 17) die Umkehr zur Vorbedingung des Heils machen.Vgl. Delkurt, Sacharja/Sacharjabuch: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/25774/ (12.03. 2018); zur detaillierten redaktionskritischen Analyse vgl. Hallaschka, Haggai und Sacharja; Beuken, Haggai–Sacharja.  Graf Reventlow, Propheten, S. 38.

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Ob „die Myrten an der (Meeres)tiefe“ oder „im Tal“ einen rein mythischen Ort bezeichnen oder ob im Hintergrund auch eine konkrete Vorstellung der judäischen bzw. Jerusalemer Landschaft mitschwingt,²⁹ sei dahingestellt. Die Reiter funktionieren als Kundschafter, Späher Gottes. Den Hintergrund einer solchen Vorstellung bilden wahrscheinlich die bekannten persischen Reiter, die im Dienste des Großkönigs im Post- und Meldewesen tätig waren.³⁰ Die Botschaft, die sie mitbringen, lautet „Ruhe“. Darunter ist wohl die weltpolitische Lage zu verstehen, die mit der redaktionellen Datierung der sacharjanischen Visionen korreliert: im 2. Jahr des Darius (am 24. Tag des 11. Monats; Sach 1,7), d. h. – je nach Umrechnung – im Jahr 520 oder 519,³¹ nachdem sich die Verhältnisse im Großreich (mehr oder weniger) beruhigt und stabilisiert haben. Jedoch handelt es sich nur um den Ausgangspunkt der Aussage, die die Vision vermitteln will. Trotz – oder gerade wegen – der berichteten Ruhe im Großreich erklingt die klagende Frage des Engels des Herrn (1,12aβ): „Herr der Heerscharen, bis wann wirst du dein Erbarmen über Jerusalem und die Städte Judas nicht zeigen, denen du diese siebzig Jahre gezürnt hast?“ Die Fragepartikel „bis wann?“ bzw. „wie lange noch?“ gehört zu den Gattungsmerkmalen der kollektiven Klagelieder (vgl. Ps 74,10; 80,5 usw.).³² Die Angabe „70 Jahre“ greift wahrscheinlich eine alte Tradition auf (vgl. Jer 25,11 f; 29,10), in der die Notzeit des Exils 70 Jahre dauert.³³ Offensichtlich befindet sich das Volk in gespannter Erwartung des Eingreifens Gottes. Gerade in einer solchen Lage ergeht der Zuspruch Gottes, dass er sich mit großem Eifer für Jerusalem einsetzen werde (1,14– 15). Die Heilszusage betrifft sowohl äußere als auch innere Lebensbedingungen, einschließlich der moralischen Verfassung der Gemeinde. Die zweite Vision (Hörner und Schmiede) verspricht die Entmachtung und Bestrafung jener Völker, die für das Exil verantwortlich waren (2,1– 4). Komplementär dazu folgt die dritte Vision vom Mann mit einer Messschnur (2,5 – 9), die Jerusalem als eine offene, d. h. mauerlose Stadt schildert, deren Schutz von JHWH allein als einer „Mauer von Feuer“ gewährleistet wird. Die letzten Worte dieser Vision „und zur Herrlichkeit werde ich in seiner [d. h. Jerusalems] Mitte sein“ greifen der zentralen Vision vom Goldenen Leuchter vor. Wie schon erwähnt, symbolisiert der Goldene Leuchter mit seinen 49 Flammen die Präsenz JHWHs. In diese zentrale Vision wurden zwei Orakel eingearbeitet, die die Schilderung und Deutung der Vision

 Dazu vgl. Willi-Plein, Sacharja, S. 62.  Vgl. Keel, Geschichte, S. 1013.  Vgl. Graf Reventlow, Propheten, S. 39 (15. Februar 520); Hanhart, Sacharja, S. 9, S. 59, und Willi-Plein, Sacharja, S. 61 (15. Februar 519); vgl. auch Boda, Zechariah, S. 63 – 65, S. 107 f.  Vgl. Deissler, Zwölfpropheten, S. 273; Graf Reventlow, Propheten, S. 42.  Vgl. Leuchter, Prophecy, S. 503 – 522; Nogalski, Seventy Years, S. 247– 258.

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zwar unterbrechen, der Vision aber einen spezifischen historischen Kontext verleihen und sie in gewissem Sinne konkretisieren. Die beiden Orakel stellen ein anderes Anliegen in den Vordergrund, nämlich den Tempelbau, und verbinden ihn mit dem Davididen Serubbabel. Im ersten Orakel lassen sich sogar Spuren eines Rituals entdecken (V. 7): Wer bist du, Berg des Großen? Vor Serubbabel bist/wirst du eine/zur Ebene! Und er wird den Grundstein? (‫ )ָהֶאֶבן ָהר ֹא ָשׁה‬herausbringen unter lautem Zuruf: Gnade, Gnade für ihn [d. h. den Grundstein]!

Der Text enthält mehrere morphosyntaktische und semantische Probleme.³⁴ Seit Langem wird diskutiert, ob der genannte Stein ein Grund- oder ein Schlussstein ist.³⁵ Aufgrund des Vergleichs mit dem mesopotamischen Material, insbesondere mit den Königsinschriften, ist wohl anzunehmen, dass es sich hier in Analogie zum akkadischen libittu maḫrītu, dem „ersten Ziegel“ bzw. dem „ersten der früheren Ziegel“, um den Grundstein handelt.³⁶ Es wird also auf die (symbolische) Grundsteinlegung angespielt, wohl in Anwesenheit der zurufenden Gemeinde. Die Ritualteilnehmer konstituieren eine communitas, die sich dem neuen Projekt des Tempelbaus öffnet und sich dadurch – zumindest auf der Ebene der jetzigen Textgestalt – dem proto-sacharjanischen Programm der Neukonstituierung anschließt. Das Thema ‚Tempelbau‘ spielt nämlich auch in den anderen Orakeln des Proto-Sacharjabuches eine zentrale Rolle und bildet somit einen roten Faden im Buch, der zugleich einen hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis und die aktuelle Verortung der Visionen bereitstellt. Die Präsenz JHWHs kann die ethischen Missstände im Lande nicht zulassen. Die fünfte und sechste Vision haben deshalb die Beseitigung des ‚Bösen‘ zum Thema. Die Vision von der fliegenden Schriftrolle von enormer Größe, die der Deuteengel mit dem Fluch identifiziert, der in die Häuser der Diebe und Meineidigen eindringt und diese vernichtet, spricht der neuen communitas die Gerechtigkeit zu. Möglicherweise steht im Hintergrund der historisch plausible und an mehreren alttestamentlichen Texten ablesbare Konflikt zwischen den Zurückgekehrten und Daheimgebliebenen, bei dem es um den ursprünglichen Besitz der Heimkehrer ging. Allerdings ist dies umstritten,³⁷ da die Visionen keine klare Pro-

 Zu ‚Wer bist du…‘ (Sach 4,7) vgl. Juhás, Studien, Kap. 2 (Manuskript abgeschlossen).  Zu verschiedenen Deutungen (mit Literatur) vgl. Tigchelaar, Prophets, S. 32 f.  Vgl. Laato, Temple Building, S. 385, Anm. 26.  Zu verschiedenen Deutungen vgl. Tiemeyer, Zechariah, S. 200 f.; vgl. auch Williamson, Welcome Home, S. 113 – 123; Macchi u. Nihan, Conflit, S. 19 – 47.

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Gola-Haltung zu erkennen geben.³⁸ Vielmehr sprechen sich die proto-sacharjanischen Texte für die Anti-Struktur,³⁹ also für die communitas, aus.⁴⁰ Nach der anschließenden Vision von der Frau im Efa (einem Getreidemaß) wird die Bosheit, deren Personifikation diese Frau darstellt und die u. a. vielleicht auch mit dem Götzendienst zu verbinden ist,⁴¹ aus dem Land abtransportiert. Und wohin? Nach Schinear, ergo Babylonien! Damit wird ein Bild gezeichnet, das einerseits Babylon(ien) zu einem lebenswidrigen Ort macht, nämlich dem ‚Speicherraum‘ der Bosheit, andererseits werden die übrigen Exilanten motiviert, zurückzukehren⁴² und sich der sich neu konstituierenden communitas anzuschließen. Mit der letzten Vision von den vier Wagen (mit den Pferden verschiedener Farbe; Sach 6,1– 8) „rundet sich die Botschaft der Nachtgesichte, die von der Ungewissheit der Gegenwart und der scheinbaren Interessenlosigkeit Jahwes für Jerusalem-Juda (1,12) aus den Blick auf sein unmittelbar bevorstehendes helfendes Eintreten öffnen“⁴³. Obwohl der Wiederaufbau des Tempels für Sacharja ein wichtiger Topos ist, ist er nicht sein einziges Anliegen. Vielmehr funktionieren die den Tempelbau betreffenden Orakel als ein verbindendes Element, das den Visionen einen konkreten Charakter verleiht. Der zu erbauende oder sich im Renovierungsstadium befindliche Tempel dient als Kristallisationspunkt der Erwartungen, an dem die Glieder des sich neu konstituierenden Volkes teilhaben. Die einzelnen Visionen lenken die Aufmerksamkeit der Adressaten auf die Hoffnung auf kommendes

 Vgl. Bedford, Temple Restoration, S. 264: „[…] these prophets do not distinguish between repatriates and non-repatriates, nor do they necessarily exclude Samarian Yahwists from participation in the temple rebuilding. Temple rebuilding was not undertaken to establish a distinct community of repatriates within Judah.“  Verstanden im Turnerschen Sinne als Gegenteil der etablierten Sozialstruktur.  Finitsis (Visions and Eschatology, S. 138) meint, dass es keine zwingende Evidenz gibt, die zeigen würde, Sacharja habe die eine oder die andere Fraktion exklusiv repräsentiert, und verweist auf seine Inklusivität – „one of the reasons why his message found wide appeal in the early post-exilic community.“  Vgl. Uehlinger, Frau, S. 93 – 103.  Vgl. Juhás, Center and Periphery, S. 439 – 446.  Graf Reventlow, Propheten, S. 70. Die letzte Vision ist mit vielen Problemen belastet. Die Aufmerksamkeit der Adressaten wird auf die in das Land des Nordens (also nach Babylonien) ziehenden Pferde gelenkt, die dorthin den Geist JHWHs bringen. Bei den Auslegern ist eine Vielfalt an Deutungen anzutreffen (vgl. Tiemeyer, Zechariah, S. 242– 278). Wie Reventlow (Propheten, S. 70) bemerkt, ist die Mehrdeutigkeit denkbar. Zwei Deutungslinien, die sich nicht ausschließen, scheinen mir plausibel zu sein: Die Auswirkung des Geistes bezieht sich auf das Gericht an den Feindesmächten oder/und positiv auf die Exilierten, die durch den Geist zur Heimkehr bewegt werden (vgl. Deissler, Zwölfpropheten, S. 285).

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Heil,⁴⁴ wobei Jerusalem „als Ort der Präsenz Jhwhs in einer befriedeten Welt“⁴⁵ gilt. Spricht man von der frühnachexilischen Zeit im Lichte des Sacharjabuches als einer Schwellenperiode, dehnt sich diese nicht ins Unbestimmte aus, da zwischen verschiedenen Heilserwartungen bzw. eschatologischen Vorstellungen zu unterscheiden ist.⁴⁶ Im Zusammenhang mit Proto-Sacharja (wie auch Haggai) ist daher von einer „restoration eschatology“ zu sprechen: „[…] Zechariah brings the events of the ‘eschaton’ very close to the present creating a new version of an almost realized eschatological expectation […].“⁴⁷

4 „Schatzkammern der Seelen“ als liminale ‚Zeit-Räume‘ Ein weiteres Beispiel der liminalen Strukturen in der jüdischen Apokalyptik stellt die Vorstellung von den sogenannten promtuaria animarum, „(Schatz‐)Kammern der Seelen“, dar. Sie ist besonders in den spätapokalyptischen Werken belegt, die meistens nur in einer sekundären Übersetzung erhalten sind.⁴⁸ Es handelt sich hauptsächlich um das 4. Esrabuch (4Esra) und die Syrische Baruch-Apokalypse (2Bar), die viele Gemeinsamkeiten aufweisen und deren Verhältnis zueinander nicht völlig geklärt ist.⁴⁹ Jedenfalls reagieren die beiden Schriften auf die Situation der Juden nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n. Chr.⁵⁰ und sind wahrscheinlich in das ausgehende 1. Jahrhundert zu datieren. Dass die Eschatologie einen ihrer Schwerpunkte darstellt, entspricht ganz dem Charakter der Apokalyptik. Die betreffende Vorstellung von den „Schatzkammern der Seelen“ ist auch nur im Zusammenhang mit Eschatologie verständlich. Dabei ist vorauszuschicken, dass die eschatologischen Konzeptionen ziemlich heterogen sind und  Vgl. Delkurt, Sacharja/Sacharjabuch: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/25774/ (16.11. 2017).  Schmid, Das Sacharjabuch, S. 409.  In seiner Studie zu den Visionen führt A. Finitsis (Visions and Eschatology) eine nuancierte Unterscheidung ein.  Finitsis, Visions and Eschatology, S. 127 (Hervorhebung: P.J.).  Der lateinische Text von 4Esra: Klijn, Text; der syrische Text von 4Esra: Bidawid, 4 Esdras; der syrische Text von 2Bar: Dedering, Apocalypse; Gurtner, Second Baruch; die Editionen von Bidawid und Dedering als Teil von Leiden Electronic Peshitta Text.  Zu Einleitungsfragen vgl. Collins, Apocalyptic Imagination, S. 240 – 280; Henze, Jewish Apocalypticism, S. 16 – 70; Stone, Fourth Ezra, S. 1– 47.  Ben-Zion Rosenfeld (Time, S. 142– 157) bezeichnet die Periode zwischen 70 und 85/90 n. Chr., also die Zeit zwischen der Zerstörung des Tempels und der Errichtung des Zentrums in Javne, als „the liminal time“.

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auch innerhalb derselben Schrift konzeptionelle Spannungen zu beobachten sind. Obwohl die Bezeichnung ‚Schatzkammer‘ zunächst eine spatiale Bedeutung insinuiert, ist diese mit dem Zeitverständnis eng verzahnt.

4.1 Scheol und die „Schatzkammern der Seelen“ in 2Bar 21 Es erscheint zweckmäßig, mit Kap. 21 der Syrischen Baruch-Apokalypse zu beginnen, das als ein Gebet Baruchs stilisiert ist und u. a. auch eine strukturierende Funktion in dieser Schrift ausübt.⁵¹ Eine Stelle des angeführten Kapitels liefert gleich mehrere Charakteristika, die in der Vorstellungswelt der Apokalyptiker mit den „Schatzkammern der Seelen“ assoziiert wurden (V. 23): (A) Rüge also den Todesengel! (B) Sichtbar möge deine Herrlichkeit, (B′) erkannt die Größe deiner Schönheit (A′) und die Scheol versiegelt werden, (C) damit / sodass sie von nun an keine Toten (mehr) annehme (C′) und die Schatzkammern der Seelen (diejenigen) zurückgeben, die in ihnen gefangen gehalten werden.

Wie aus der Übersetzung ersichtlich ist, weist der Text einige poetische Charakteristika auf, wenn man auch im Falle der Syrischen Baruch-Apokalypse eher von einer Kunstprosa sprechen muss.⁵² Es begegnen mehrere Parallelismen, die im ersten Teil sogar chiastisch geformt sind. Die Kola A und B einschließlich ihrer jeweiligen synonymen Gegenstücke sind parataktisch verbunden. Dagegen schließt sich das Kolon C an das Vorausgehende hypotaktisch an. Die Kola C und C′ bilden einen weiteren Parallelismus, der aber eher als ‚synthetisch‘ zu bestimmen ist, da die jeweiligen Aussagen der beiden nicht einfach synonym sind. Vielmehr entfaltet das zweite Kolon (C′) die Idee der Scheolversiegelung aus A′. Somit gelangt man zum Problem des Verhältnisses der Scheol und der „Schatzkammern der Seelen“.⁵³ Wurden die beiden Konzepte hier etwa synonym ge-

 Zum Gebet vgl. Licht, Analysis, S. 327– 331; Juhás, Apokalypsa, S. 110 – 127.  Zu einigen Beispielen im Brief (2Bar 78 – 87) vgl. Whitters, Epistle, S. 57– 65.  Vgl. Stone, Fourth Ezra, S. 99, Anm. 49.

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braucht und vom Autor als identische ‚Orte‘ verstanden? Um diese Frage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit beantworten zu können, muss die Semantik des Wortes und seine Verbindung mit den „Seelen“ an anderen Stellen näher untersucht werden. Vorher sollen noch einige Bemerkungen zur Scheol-Vorstellung angeführt werden. Die Syrische Baruch-Apokalypse folgt grundsätzlich der alttestamentlichen Vorstellung von der Scheol als dem Ort der Toten (11,6; 23,5; 43,16; 52,2; 56,6).⁵⁴ Jedoch spiegelt der oben zitierte Text (21,23) eine Weiterentwicklung dieser Vorstellung. Nach dem alttestamentlichen Befund verband man mit der Scheol auch sehr konkrete Charakteristika.⁵⁵ So hat die Scheol Pforten (z. B. Jes 38,10) oder – etwas poetischer – einen „Rachen“ (z. B. Jes 5,14). Dann ist auch die Rede von der Versiegelung der Scheol verständlich, wenn sie mit einer radikalen Neuerung – dem Auferstehungsglauben⁵⁶ – zusammenhängt. Zwar beschreiben die alttestamentlichen Texte lebensbedrohliche Situationen als eine Form der Nähe zur Scheol,⁵⁷ vor der man errettet werden konnte. War ein Mensch jedoch erst einmal in die Scheol eingegangen, galt sie als Endstation, als ein Ort ohne Wiederkehr (vgl. Ijob 7,9; 10,21 usw.). Auch bei der engen Assoziation der Scheol mit der Erde bzw. dem Staub knüpft 2Bar an eine gut bezeugte Tradition an. Manchmal scheint 2Bar zwischen den betreffenden Größen zu differenzieren: „Mögest du, o Erde, Ohren haben, und du, o Staub, ein Herz, sodass ihr hingeht und in der Scheol kundtut und den Toten sagt […]“ (11,6; vgl. aber unten 11,4).

4.2

„(Schatz‐)Kammern“ in 2Bar und 4Esra

Das Substantiv kommt in der Syrischen Baruch-Apokalypse fast ausschließlich im Plural (außer 29,8) vor.⁵⁸ Dabei lässt der Autor sein eher spirituelles

 In 83,17 metaphorisch gebraucht – für die Vergänglichkeit des Reichtums.  Zur Scheol vgl. Riede, Jenseitsvorstellungen; Wächter, ‫ ְשׁאוֹל‬, Sp. 901– 910; Lee u. Markl, ‫ ְשׁאוֹל‬, Sp. 794– 799.  In Bezug auf die Botschaft des Buches Daniel, das das einzige klare Zeugnis des Auferstehungsglaubens in der Hebräischen Bibel darstellt (Dan 12,2 – 3; vgl. Collins, Daniel, S. 394), schreibt van Deventer (Daniel, S. 456) über den Tod als „an in-between state. Death becomes a link between this world and a next in which the dead will awaken.“  Mit anderen Worten, wie es Bernd Janowski (Der Gott Israels, S. 281) formuliert: „Das Jenseits ist […] ein Machtbereich, der geradezu räumlich ins Diesseits hineinragt und dieses zu einem Todesraum, zu einem – wie der Ägyptologe E. Hornung treffend formuliert hat – jenseitigen Bereich in der diesseitigen Welt umgestaltet.“  Vgl. dagegen den Befund in Qumran, wo ca. zwei Drittel der Belege im Singular sind. Vgl. Rungelrath, ‫אוָֹצר‬, Sp. 101.

Liminales in der jüdischen Apokalyptik

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Verständnis der „Schatzkammern“ durchblicken.⁵⁹ Nur einmal ist im Einklang mit der älteren (henochischen) Tradition von den „Schatzkammern des Regens“ die Rede (10,11; vgl. 1Hen 60,20; 69,23). Dazu sind vielleicht noch die „Schatzkammern des Lichtes“ zu rechnen (59,11). Der genannte Beleg im Singular spricht von der „Schatzkammer des Mannas“, das hier als eschatologische Speise dient (29,8). Die anderen Belege wissen von den „Schatzkammern der Weisheit“ (44,14), die unter dem Thron Gottes verortet werden (54,13). Für unsere Frage sind die übrigen drei Fälle besonders relevant. In einem der Dialoge zwischen Gott und Baruch, der bestimmte Aspekte des Gottesgerichtes anspricht, wird festgestellt, dass die Gerechten furchtlos das Ende erwarten, weil sie bei Gott eine „Schar der (guten) Werke“ haben, „die in den Schatzkammern aufbewahrt wird“ (14,12). Ähnlich werden die „Schatzkammern“ in einem weiteren Dialog über das Gottesgericht mit der Gerechtigkeit assoziiert (24,1). In ihnen ist die „Gerechtigkeit all derer gesammelt, die sich in der Schöpfung als gerecht erwiesen haben“. Diese „Schatzkammern“ werden „in jenen Tagen“ (d. h. des Gerichts) geöffnet. Die letzte zu nennende Stelle (30,2) findet sich in einem Kontext, der die messianische Zeit schildert. Dort ist wieder die Rede von den „Schatzkammern der Seelen“. Im Vergleich mit der oben zitierten Stelle liefert dieser Beleg noch eine zusätzliche Information und soll hier daher vollständig zitiert werden (30,1– 2): Es wird nach diesen (Dingen) geschehen, wenn sich die Zeit der Ankunft des Messias erfüllt und er in Herrlichkeit zurückkehrt: Dann werden all diejenigen, die in seiner Hoffnung entschlafen sind, auferstehen. (2) Und es wird in jener Zeit geschehen: Jene Schatzkammern, in denen die Zahl der Seelen der Gerechten aufbewahrt ist, werden geöffnet werden, und sie [d. h. die Seelen] werden herauskommen, und die Vielzahl der Seelen wird sich zusammen in einer Versammlung eines Sinnes zeigen. Es werden sich die ersten freuen und die letzten nicht traurig sein.

Laut diesem Beleg dienen die „Schatzkammern“ eindeutig als Aufenthaltsort der Seelen der Gerechten.⁶⁰ Schon die zuvor angeführten Belege wiesen auf einen engen Zusammenhang zwischen den Gerechten bzw. der Gerechtigkeit und den „Schatzkammern“ hin. Daraus könnte man schließen, dass die „Schatzkammern

 Vgl. Henze, Jewish Apocalypticism, S. 311.  Nach Rivka Nir (Destruction, S. 159) gebe es in 2Bar „a distinction between the resurrection of those who slept in their faith in him, that is, the holy ones or martyrs, and that of the righteous whose souls are preserved in the storehouses of souls, where they sleep and await resurrection.“ Eine so klare Unterscheidung scheint aber im Text nicht vorzuliegen. Vielmehr stellt der V. 2 eine Entfaltung des in V. 1 angekündigten Ereignisses dar. Vgl. auch Ludlow, Death, S. 119.

20

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der Seelen“ in der Vorstellungskraft des Autors nicht mit der Scheol identisch waren und einen besonderen Ort für die Gerechten bezeichneten.⁶¹ Auf eine solche Deutung scheinen auch die Belege im 4. Esrabuch zu verweisen. Allerdings ist der Befund auch dort nicht ganz eindeutig, wie folgende Tabelle veranschaulicht:

in Esra

Funktionale Bestimmung: Schatz- bzw. Vorratskammern

Lateinischer Begriff

,

= Räume im Herzen des Meeres habitationes

,

der Seelen der Gerechten

nonne de his interrogaverunt animae iustorum in promptuariis suis dicentes: usquequo spero sic?…

,

der Seelen

…in inferno promptuaria animarum matrici adsimilata sunt.

,

= ‚Abteilung‘ für den Verstand

promptuarium (Sg.)

,

der Winde

promptuaria

,

= Speicher

promptuaria

,

des Lichtstrahls

thesauri

,

der Seelen

promptuaria

,

der (guten) Werke

thesaurus

,

nicht für die Seelen der Gottlosen

inhabitationes

,

der ‚anderen‘ [d. h. der Gerechten] – von den Engeln bewahrt

habitacula

,

der Gerechten⁶²

…intellegentes requiem quam nunc in promptuariis eorum congregati requiescent cum silentio multo ab angelis conservati, et quae in novissimis eorum manet gloriam.

 Anders Bauckham, Fate, S. 281: „[…] there can be little doubt that both 2 Baruch and 4 Ezra imply that the chambers are in Sheol. So the phrase ‘the chambers of the souls’ is another equivalent to Sheol, the place of the dead, at least with reference to the righteous dead.“ Stemberger (Leib, S. 92) weist mit Recht auf das Aufeinandertreffen der traditionsgebundenen und der neuen Denk- und Ausdrucksweise hin, wobei „gegenüber 4Esra [in 2Bar 21] die traditionelle Auffassung stärker als die neue Sprechweise von den Seelenkammern“ ist. In den Qumrantexten ist die Scheol jedoch der Aufenthaltsort der Gottlosen (mit bronzenen Toren [11Q11=PsApa 5,9]; vgl. auch 1QH 11,17). Lee u. Markl, ‫ ְשׁאוֹל‬, Sp. 797: „Die [Scheol] wird also als Ort der postmortalen Strafe verstanden, insofern sie als Ort der Vernichtung der Gottlosen gezeichnet wird.“  D. h. diejenigen, „die die Wege [des Gesetzes] bewahrt haben“ (V. 88).

Liminales in der jüdischen Apokalyptik

21

Fortsetzung Funktionale Bestimmung: Schatz- bzw. Vorratskammern

Lateinischer Begriff

in Esra ,

s. ,

–⁶³

,

der Seelen

habitacula

,

der Gesundheit und Sicherheit⁶⁴ habitacula (sanitatis et securitatis) [für die Gerechten]

Aus der Tabelle werden gleich mehrere Aspekte ersichtlich. Während der Übersetzer ins Syrische des Öfteren denselben Begriff gebrauchte ( ), sind in der lateinischen Übersetzung verschiedene Nomina anzutreffen (thesaurus, (in) habitatio, habitaculum und vor allem promptuarium [meistens im Plural]). Das letztgenannte Wort gehört zum spezifischen Vokabular des 4. Esrabuches, da es im Rahmen der lateinischen Bibel fast ausschließlich in diesem Buch vorkommt (ansonsten nur noch in Ps 144/143,13).⁶⁵ Ähnlich der Syrischen Baruch-Apokalypse beziehen sich die „Schatzkammern“ in 4Esra meistens auf eine spirituelle Größe und wiederum meistens auf die Seelen. Dabei bleibt zunächst eine gewisse Unklarheit erhalten, weil manche Stellen von den „Schatzkammern der Seelen“ ohne Differenzierung sprechen (4,41; 7,32.101), während aus den anderen hervorgeht, dass es sich um besondere „Orte“ für die Seelen der Gerechten handelt (4,35; 7,80.85.95.99Syr.121)⁶⁶, die sogar von Engeln beschützt werden (vgl. V. 85.95). In 7,80 (vgl. auch V. 99Syr) wird ausdrücklich betont, dass die Seelen der Gottlosen⁶⁷ in die „Schatzkammern“ nicht eintreten werden („haec inspirationes inhabitationes non ingredientur“), sondern sie „werden von nun an/sogleich in Qualen umherschweifen, immer leidend und traurig […]“. Auch wenn man nicht mit Sicherheit behaupten kann, dass die „Schatzkammern der Seelen“ in 4Esra als ein Sonderbereich ausschließlich für die Gerechten gedacht sind, ist es aufgrund mancher Belege sehr wahrscheinlich anzunehmen.

 Der lateinische Text hat lacunae, während der syrische „expanded drawing on 7:80“ ist. Stone, Fourth Ezra, S. 237.  Der syrische Text formuliert anders: „ohne Bedenken und ohne Krankheit“.  Von den nicht-kanonischen Schriften vgl. noch Liber Antiquitatum Biblicarum 32,13 (Jacobson, Liber, S. 52): „[…] et nunciate patribus in promptuariis animarum eorum […]. In LAB 32,7 sind es prompturia der Winde.“  Vgl. Stone, Fourth Ezra, S. 96, S. 219 – 220.  7,79: „et si quidem esset eorum qui spreverunt et non servaverunt viam Altissimi et eorum qui contempserunt legem eius et eorum qui oderunt eos qui timent Deum, […].“

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4.3 Nochmals 2Bar 21,23 Kehrt man zur problematischen Stelle 2Bar 21,23 zurück, dann machen die oben angeführten Beobachtungen wahrscheinlich, dass es sich auch an dieser BaruchStelle um den ‚Ort‘ für die Seelen der Gerechten handelt.⁶⁸ Ein zusätzliches Indiz könnte noch der folgende Vers bieten, der die Erzväter und diejenigen, die ihnen ähnlich sind, in den Blick nimmt (24): „Denn zahlreich sind die Jahre – wie eine Trostlosigkeit – seit den Tagen von Abraham, Isaak, Jakob und all denen, die ihnen ähnlich sind, die in der Erde schlafen, diejenigen, um derentwillen du – du hast (es) gesagt – die Welt erschaffen hast.“ Ist in diesem Vers zwar die Rede von den Gerechten par excellence, so bleibt die oben angesprochene Unklarheit jedoch bestehen, weil das Verhältnis zwischen der Erde und der Scheol einerseits und das der Seelen und der Körper andererseits nicht näher bestimmt wird. Jedenfalls korreliert die Aussage von V. 24 mit der von 2Bar 11,4: „Unsere Väter legten sich ohne Schmerzen/Trauer hin, und die Gerechten, siehe, (sie) schliefen in der Erde in Ruhe.“ Was das Verhältnis der Seele und des Körpers angeht, gibt die Stelle 4Esra 7,32 eine wichtige Auskunft: et terra reddet qui in eam dormiunt, et pulvis qui in eo silentio habitant, et promptuaria reddent quae eis commendatae sunt animae. Und die Erde wird diejenigen, die in ihr schlafen, zurückgeben, und der Staub diejenigen, die darin schweigend wohnen, und die Schatzkammern werden die ihnen anvertrauten Seelen zurückgeben.

Und die Erde wird diejenigen, die in ihr liegen, zurückgeben, und der Staub diejenigen, die darin schlafen, und die Schatzkammern werden die Seelen zurückgeben, die in ihnen deponiert sind.

Im Lichte von 7,100 – 101 sind die ‚Schatzkammern‘ speziell für die Seelen gedacht, da nach dem Tod die Seelen von den Körpern getrennt (Separation) und in den Schatzkammern versammelt werden.⁶⁹ Die Erde und synonym dazu der Staub

 Es handelt sich um eine – meines Erachtens – wahrscheinliche Deutung, die sich im Lichte anderer Stellen bietet. Anders Henze, Jewish Apocalypticism, S. 311: „This text does not further discriminate between the souls of the righteous and those of the wicked.“  Das 4. Esrabuch ist mit seiner Dichotomie viel expliziter als die Syrische Baruch-Apokalypse. Bauckham (Fate, S. 281) meint sogar: „[…] this dichotomous view of death and resurrection seems not to be found in 2 Baruch […]. 2 Baruch never speaks of death as the separation of soul and body

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sind also die für die Körper reservierten Orte. Erst in der Auferstehung werden die Seelen wieder mit den Körpern vereinigt (Aggregation).⁷⁰ Zwar gibt das 4. Esrabuch über das Schicksal der Seelen nach dem Tod viel mehr Auskunft als die Syrische Baruch-Apokalypse (s. aber zur Gestalt der Auferstandenen 2Bar 49 – 51), sie belegt aber auch die Vorstellung, wonach die Seelen der Frevler bei der Auferstehung „mehr und mehr dahinsiechen werden“ (2Bar 30,4; vgl. die gleiche Ausdrucksweise in 51,5, wo das Schicksal der Gottlosen ausführlicher behandelt wird). Folglich werden die Frevler nie vere et proprie auferstehen (vgl. 4Esra 7,80 oben).⁷¹

4.4 Ein Vorläufer – 1Hen 22 Die Kreise, die hinter der Entstehung der beiden Apokalypsen stehen, brauchten die Vorstellung von den „Schatzkammern der Seelen“ nicht völlig neu zu erfinden. Auch wenn das in 1Hen 22 gezeichnete Bild mit dem der späteren Apokalypsen nicht identisch ist, konnten die Autoren(kreise) der jüngeren Werke auf die ältere henochische Tradition zurückgreifen: 1 Und von dort ging ich an einen anderen Ort, und er zeigte mir im Westen einen großen und hohen Berg und hartes Felsgestein und vier Räume. 2 Und darinnen war es sehr tief und breit und glatt […] „Wie glatt (sind) , und wie tief und finster ist es anzusehen!“ 3 Da antwortete Rufael, einer von den heiligen Engeln, der bei mir war, und sprach zu mir: „Diese (sind dazu bestimmt), dass sich dort die Geister der Seelen der Toten sammeln; dafür sind sie geschaffen, um hier alle Seelen der Menschenkinder zu versammeln. 4 Und diese Räume sind gemacht, um sie unterzubringen bis zum Tage ihres Gerichtes und (bis) zur festgesetzten Frist, dem großen Gericht über sie.⁷²

or of resurrection as the reunion of the two.“ Auch wenn die Sprache von 2Bar in dieser Hinsicht viel traditionsgebundener ist, sodass dort die Rede von der Scheol öfter als die von den ‚Schatzkammern der Seelen‘ ist (vgl. Stemberger, Leib, S. 92), scheint die Ausdrucksweise in 2Bar 30,2 eine Art Dichotomie vorauszusetzen. Vgl. Henze, Jewish Apocalypticism, S. 310: „The underlying idea here [d. h. in 30,2] is that at the moment of death the soul is separated from the body. The body is then placed in the ground.“  Vgl. Stone, Fourth Ezra, S. 219 – 220; Henze, Jewish Apocalypticism, S. 310.  Vgl. Henze, Jewish Apocalypticism, S. 309 – 317, besonders S. 310, S. 314 f. Er macht (S. 313 f., Anm. 205) auf eine Stelle bei Josephus (De Bello Judaico 2.163 [bzw. 2.8.14]) aufmerksam, die eine den angeführten 2Bar-Stellen ähnliche Vorstellung belegt: „Die Seelen sind nach ihrer Ansicht [d. h. der Pharisäer] alle unsterblich, aber die der Guten gehen nach dem Tode in einen anderen Leib über, während die der Bösen ewiger Strafe anheimfallen.“ Flavius Josephus, Geschichte (übersetzt von H. Clementz), S. 148. Zum Problem des Auferstehungsglaubens bei den Essenern und in den Qumranschriften vgl. Collins, Otherworld, S. 95 – 116.  Die Übersetzung: Uhlig, Henochbuch, S. 555 f.

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Dieses Kapitel gehört zu einem größeren Textblock (Kap. 20 – 36), den Georgen Nickelsburg folgendermaßen charakterisiert: „Chapters 20 – 36 appear […] to be a revision of chaps. 17– 19 that has taken some of its inspiration from the structure of Zechariah 1– 6. […] This journey narrative complements chaps. 17– 19 through its emphasis on human eschatology […].“⁷³ Das Kapitel 22, das aus drei Abschnitten besteht und mehrere inhaltliche Spannungen enthält, ist Ergebnis einer literarischen Wachstumsgeschichte.⁷⁴ Die oben zitierten Verse – in einer reduzierten Form (z. B. ohne spezifische Zahl der Höhlen) – stellen die älteste Gestalt dieser Vision dar. Der Autor verfährt innovativ, indem er die ihm bekannte biblische Vorstellung von der Scheol entfaltet und in manchen Aspekten abwandelt:⁷⁵ Zum einen wurde die Scheol in der Bibel nicht als Berg gedacht, zum anderen war sie der endgültige Aufenthaltsort der Totengeister.⁷⁶ Nach der henochischen Vision gibt es aber einen Berg als Sonderbereich, in dem die Seelen auf das Jüngste Gericht warten. Einer jüngeren Bearbeitung entstammt die Vorstellung (vgl. V. 8 – 13), „that the intermediate state between death and judgment is already the locus of reward and punishment“⁷⁷. Vielleicht fallen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesem henochischen Text und den späteren Apokalypsen sofort auf. Dass die traditionelle Scheolvorstellung in den beiden modifiziert und entfaltet wurde – wenn auch in unterschiedlichem Maße –, liegt auf der Hand. Für unsere Fragestellung ist hauptsächlich die Existenz der Sonderbereiche für die Seelen – der Vorstellungswelt der beiden Autoren(kreise) zufolge – relevant. Jedoch weisen gerade in diesem Fall die besprochenen späteren Apokalypsen einen substantiellen Unterschied auf. Weiß der (bearbeitete) henochische Text von verschiedenen Sonderbereichen für die Seelen sowohl der Gerechten als auch der Frevler, die auf das Endgericht warten, dann scheinen die späteren Apokalypsen nur die Vorstellung von „Schatzkammern“ für die Seelen der Gerechten zu propagieren. Jedoch zeigt 2Bar 30,4– 5,⁷⁸ dass die Seelen der Frevler Zeugen der Auferstehung der Gerechten sein werden. Was daraus folgt, ist eine Art Existenz auch der Seelen der Frevler –

 Nickelsburg, 1 Enoch, S. 292.  Dazu vgl. Wacker, Weltordnung, S. 122 – 131; Nickelsburg, 1 Enoch, S. 302 f.  Zur Weiterentwicklung der Scheol-Vorstellungen in Qumran vgl. Lee u. Markl, ‫ ְשׁאוֹל‬, Sp. 797– 799.  Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch, S. 304; zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Wacker, Weltordnung, S. 132– 177.  Nickelsburg, 1 Enoch, S. 304.  Dazu vgl. besonders Henze, Jewish Apocalypticism, S. 309.

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zumindest bis zur Auferstehung.⁷⁹ Aber nur die Seelen der Gerechten werden sich bei der Auferstehung mit ihren Körpern vereinigen (vgl. besonders die Belege in 4Esra), während die Seelen der Frevler „mehr und mehr dahinsiechen werden“ (2Bar 30,4). Die liminale Existenz in den „Schatzkammern der Seelen“ ist daher ein exklusives Privileg der Gerechten.⁸⁰ Mit anderen Worten – in kulturanthropologischer Terminologie –, die Frevler werden aus dem oben genannten Grund keine Subjekte der Aggregation sein.

5 Zusammenfassung Zwei Beispiele – das erste aus der beginnenden und das zweite aus der späten Apokalyptik – belegen, dass das Liminale bzw. die liminalen Strukturen in der apokalyptischen Vorstellungswelt einen festen Platz haben. Nach dem Zeugnis der proto-sacharjanischen Texte (Sach 1– 8) ist die frühnachexilische Zeit als eine liminale Phase anzusehen, während der sich eine communitas formiert, die auf eine Neukonstituierung der Verhältnisse hinstreben darf und soll. Der Kristallisationspunkt der Erwartungen bzw. des Prozesses der Neukonstituierung ist der zu erbauende oder sich im Renovierungsstadium befindliche Tempel. Daran partizipiert die communitas, deren Mitglieder die Separation – die Rückkehr aus Babylonien bzw. den Bruch mit den mittlerweile konsolidierten Verhältnissen – hinter sich haben. Die hoffnungsvolle Orientierung – die zu erreichende post-liminale Phase – zeichnen gerade die Visionen Sacharjas. Die spätapokalyptischen Schriften – hauptsächlich das 4. Esrabuch und die Syrische Baruch-Apokalypse – dokumentieren die Vorstellung von den „Schatzkammern der Seelen“. Diese stellen liminale ‚Zeit-Räume‘ dar, in denen die Seelen nach dem Tod (Separation) auf die leibliche Auferstehung (Aggregation) warten. Somit bilden sie eine liminale communitas, die auf die eschatologische Vollendung hin orientiert ist. Auch wenn manche Belege nicht eindeutig sind, scheinen die besprochenen späten Apokalypsen die Vorstellung zu propagieren, dass die „Schatzkammern der Seelen“ nur für die Gerechten reserviert sind. Die liminale Existenz ist also ihr exklusives Privileg. Die Frevler dagegen werden nie vere et

 Wo werden sie aufbewahrt? Nach 4Esra 7,80 erwartet sie das folgende Schicksal: „[…] sie werden von nun an/sogleich in Qualen umherschweifen, immer leidend und traurig […].“ Das steht in gewisser Spannung zur Stelle 4Esra 7,101, die jedoch nicht ganz eindeutig ist. Ähnlich meint Bauckham (Fate, S. 55): „[…] the wicked, it seems, do not have chambers, but continue to wander around in tormented awareness of their doom […].“  Die Qumrantexte vermitteln die Vorstellung, „dass die [Scheol] exklusiv den Gottlosen vorbehalten wird […].“ Lee u. Markl, ‫ ְשׁאוֹל‬, Sp. 798.

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proprie auferstehen. In der Ausdrucksweise der Kulturanthropologie: Sie werden keine Subjekte der Aggregation sein.

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Petra Schmidtkunz

Auf der Schwelle des ‚Gelobten Landes‘ Die Ermahnungen des Moseliedes (Dtn 32) für ein gottgefälliges Leben Der niederländisch-französische Ethnologe Arnold van Gennep schreibt in seinem 1909 erschienenen Buch Rites des passage (‚Übergangsriten‘): In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigkeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet, wie sie etwa der Lehre bei unseren Handwerksberufen entsprechen. Bei den halbzivilisierten Völkern sind solche Handlungen in Zeremonien eingebettet, da in der Vorstellung des Halbzivilisierten keine einzige Handlung ganz frei von Sakralem ist. Jede Veränderung im Leben eines Individuums erfordert teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt. Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht. Das Leben eines Menschen besteht somit in einer Folge von Etappen, deren End- und Anfangsphasen einander ähnlich sind: Geburt, soziale Pubertät, Elternschaft, Aufstieg in eine höhere Klasse, Tätigkeitsspezialisierung. Zu jedem dieser Ereignisse gehören Zeremonien, deren Ziel identisch ist: Das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte hinüberzuführen.¹

Hieran anknüpfend möchte ich die These aufstellen und erläutern, dass sich van Genneps Beobachtungen auch in der Literatur des Pentateuch (d. h. der Tora, der Fünf Bücher Mose) spiegeln. Mein Ziel ist es dabei, die innere Logik der biblischen Texte darzustellen und nicht, reale Abläufe zu rekonstruieren. Ich werde also van Genneps Begrifflichkeit benutzen, um zu veranschaulichen, wie innerhalb der Fünf Bücher Mose dem vorvorletzten Kapitel im fünften und letzten Buch, dem sogenannten „Lied des Mose“ (Dtn 32,1– 43), gerade aufgrund seiner Position an der Schwelle zum folgenden Abschnitt der Bibel, d. h. am ‚Übergang‘ zu den ‚vorderen Propheten‘, eine eminent soziale Funktion zukommt. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein müßiges Gedankenspiel, da die Frage nach dem Verhältnis des Moseliedes zum Rest des Buches Deuteronomium in der aktuellen Forschung noch immer höchst unterschiedlich beantwortet wird.² Abgesehen davon, dass die funktionale Analyse vielleicht das erbauliche Potenzial dieses bis

 Deutsche Übersetzung bei van Gennep, Übergangsriten, S. 15.  Vgl. für einen forschungsgeschichtlichen Überblick Otto, Deuteronomium, S. 2157– 2163. https://doi.org/10.1515/9783110605389-003

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heute liturgisch bedeutsamen Textes aufs Neue zur Geltung bringen kann,³ sollen die folgenden Ausführungen also auch dazu dienen, die ihm im literarischen Kontext der Hebräischen Bibel zugedachte Rolle zu erhellen. Wenn hierzu auf die Arbeiten Arnold van Genneps und Victor Turners anders Bezug genommen wird als in dem Beitrag von Peter Juhás in diesem Band, wird dadurch nur umso klarer, dass die jeweils unternommenen Vergleiche heuristischen Wert, aber keine ausschließliche Geltung beanspruchen. Rein oberflächlich ergibt sich ein erster Vergleichspunkt zwischen van Genneps Ritualtheorie und der Komposition des Pentateuch aus dem Thema der biblischen Erzählung: Der Weg der Patriarchen bis an die Schwelle des ‚Gelobten Landes‘ ist natürlich ein Übergang. Das Land heißt ‚gelobt‘, weil der Gott JHWH ‚gelobt hat‘ (hebräisch: ‫)שׁבע‬, es seinem Volk zu geben.⁴ Es ist demnach das dem Volk Israel zugeschworene Land, das erst noch erreicht werden muss. Alle Wanderungsbewegungen, von denen in den Büchern Genesis bis Deuteronomium berichtet wird, dienen der Vorbereitung auf den entscheidenden Schritt, den Schritt von Osten her über den Jordan. Dieser Schritt selbst erfolgt dann aber erst in der anschließenden Narration des Buches Josua. In Jos 1,1– 2 heißt es: ‫ויהי אחרי מות משה עבד יהוה ויאמר יהוה אל־יהושע בן־נון משרת משה לאמר משה עבדי מת ועתה קום עבר‬ ‫את־הירדן הזה אתה וכל־העם הזה אל־הארץ אשר אנכי נתן להם לבני ישראל‬ Und es geschah nach dem Tod des Mose, des Knechtes JHWHs, dass JHWH zu Josua, dem Sohn des Nun, dem Diener des Mose, Folgendes sagte: „Mose, mein Knecht, ist gestorben. Aber nun erhebe dich, ziehe durch diesen Jordan, du und dieses ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Söhnen Israels, gebe.“

Daraufhin erzählt Jos 3, wie das Volk in einer Art Prozession, den Priestern mit der Bundeslade folgend, schließlich das Westufer des Flusses erreicht. Und am Ende des Josua-Buches wird endlich festgestellt, dass die Landnahme abgeschlossen ist, vgl. Jos 21,43: ‫ויתן יהוה לישראל את־כל־הארץ אשר נשבע לתת לאבותם וירשוה וישבו בה‬ Und JHWH gab Israel das ganze Land, von dem er ihren Vätern geschworen hatte, es [ihnen] zu geben, und sie nahmen es in Besitz und wohnten dort.

 Zur liturgischen Bedeutung in Judentum und Christentum vgl. Christensen, Deuteronomy, S. 784; Wüste, Fels, S. 14.  Vgl. Gen 24,7; 26,3; Ex 13,5.11; 32,13; 33,1; Num 14,16.23; Dtn 1,8.35; 6,10.18.23; 8,1; 9,5; 10,11; 11,9.21; 19,8; 26,3.15; 31,7.21.23. Bei der ersten Erwähnung des Landversprechens gegenüber Abraham in Gen 12,7 wird jedoch einfach das Verb ,sagen‘ (‫ )אמר‬verwendet.

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Bezeichnenderweise liegt somit der Zielpunkt der pentateuchischen Erzählung gänzlich außerhalb ihrer selbst. Der Pentateuch handelt von JHWHs Landversprechen, aber kaum vom versprochenen Land selbst. Von besonderer Prägekraft ist vielmehr ein anderer Schauplatz: die Wüste. Hier spielt der Großteil der Handlung des Pentateuch. Nachdem das Buch der Genesis die Schöpfung der Welt, die Verzweigung der Menschenfamilien auf der Welt, die vorläufige Ansiedlung Abrahams in Kanaan und die Übersiedlung der Söhne Jakobs (Israels) nach Ägypten verhandelt hat, erfahren wir in den folgenden drei Büchern Exodus, Levitikus und Numeri, wie das Volk von Ägypten her durch die Wüste Sinai Richtung Israel zieht, um sich laut dem Deuteronomium „jenseits des Jordan, im Land Moab“ (Dtn 1,5: ‫ )בעבר הירדן בארץ מואב‬für den Einzug ins ‚Gelobte Land‘ bereit zu machen. Oder, um es mit van Genneps Worten zu sagen: Das Volk verlässt „die genau definierte Situation“ der Sklaverei in Ägypten und nähert sich dem Land, das ebenso genau als das Gegenteil definiert ist: dem „Land, überfließend von Milch und Honig“ (Ex 3,8 u. ö.: ‫)ארץ זבת חלב ודבש‬. Und so wie es auch van Gennep als typisch beschreibt, ist der Bibel zufolge der Übergang in dieses Land von zeremoniellen Handlungen begleitet: dem Pessach-Fest vor dem Auszug (vgl. Ex 12), dem Bundesschluss am Sinai (vgl. Ex 24) sowie der Bekräftigung dieses Bundes bei der Versammlung des Volkes in Moab, schon in Sichtweite des Landes (vgl. Dtn 28 – 29). Als letzte Zeremonie folgt die besagte ‚Prozession‘ durch das auf wundersame Weise trockene Flussbett des Jordans (Jos 3) – und damit der eigentliche Schritt ins Land Kanaan, der Übergang. Ich meine aber, dass es in der biblischen Erzählung nicht nur um den einst von den Vorvätern und -müttern des Volkes Israel vielleicht zurückgelegten Weg geht. Die Kontrastierung der beiden ‚Situationen‘ im Pentateuch (hier Ägypten, dort Israel) und vor allem die Schilderung des mühsamen Übergangs nimmt vielmehr deshalb so breiten Raum ein, weil hierin zeitlose Erfahrungen aufgehoben sind. Der Sache nach geht es schlicht um den Weg zu Gott, also darum, zu JHWH zu gehören, nach seinen Geboten zu leben und sich dadurch von einem Leben ohne diesen Gott zu unterscheiden. Es geht um ein Leben als Kinder JHWHs, das zu allen Zeiten Reife und Eigenverantwortung voraussetzt. Was ich deshalb im Folgenden entfalten möchte, ist die funktionale Analogie der Übergangsriten nach van Gennep mit dem Moselied (Dtn 32,1– 43), das fast ganz am Ende des pentateuchischen Erzählbogens steht und die hier eigentlich schon zu Ende erzählte Geschichte auf die einzelnen Hörer(innen) zuspitzt. Synchron gelesen, unterstreicht, ja verdichtet das Moselied am Schluss des Pentateuch, warum die vorangegangenen Bücher, insbesondere die vielen Gesetzestexte des Deuteronomiums, überhaupt von Bedeutung sind. Es ruft die Zuhörenden oder Lesenden zur Besinnung, erinnert sie an ihre Zugehörigkeit zum Gottesvolk und an die Verantwortung, die sich daraus ergibt. Schon beim Über-

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fliegen des Textes sticht die besondere kommunikative Struktur des Moseliedes ins Auge. Mit Hilfe zahlreicher direkter Anreden, d. h. durch Imperative, rhetorische Fragen und auch durch Anklagen, wendet es sich unmittelbar an seine Adressatinnen und Adressaten. Und es verknüpft dabei die Gegenwart seiner Hörerschaft mit der Geschichte des Volkes Israel, wenn JHWHs Handeln an diesem Volk als Vorgeschichte und Vorbedingung der Gegebenheiten späterer Zeiten dargestellt wird. Auf diese Weise wird das zuvor im Pentateuch Geschilderte, die Narration vom Auszug aus Ägypten, vom Zug durch die Wüste und bis ins Land Moab, für den Einzelnen interpretiert und aktualisiert.⁵ Mit anderen Worten: Das Narrativ des Pentateuch handelt zunächst davon, wie das Volk Israel zu seinem Gott findet und lernt, diesem Gott gemäß zu leben. Es erzählt von einem einmal geschehenen Übergang. Das Moselied wiederum personalisiert die Botschaft von den Bedingungen und Tücken dieses Übergangs und erinnert jeden einzelnen Hörer und jede einzelne Hörerin daran, dass das ‚Gelobte Land‘ auch wieder verloren gehen kann und die Schwelle zu einem gottgefälligen Leben von jeder und jedem Einzelnen erklommen werden muss. Dieser textpragmatische Zusammenhang ist auch für die diachrone Beurteilung der literarischen Verhältnisse am Ende des Pentateuch bedeutsam: Da das Lied die Erzählung offenbar ergänzt, ist seine Einfügung in den Pentateuch später anzusetzen als die Komposition der Erzählung. Freilich ist damit noch nicht darüber entschieden, ob das Moselied für seinen jetzigen Kontext verfasst wurde. Wie an anderer Stelle zu zeigen ist,⁶ deuten sprachliche und logische Inkonsistenzen zwischen dem Lied und seiner unmittelbaren Einleitung darauf hin, dass das Moselied unabhängig von seinem Kontext entstanden ist.⁷ Erst nachträglich wurde es – zweifellos wegen seiner poetischen Ausdruckskraft – in den Dienst der pentateuchischen Gesamtkomposition gestellt. Bei der Einfügung des Liedes in das Buch Deuteronomium oblag es mithin dem Autor oder der Autorin der Einleitung, zwischen den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der PentateuchErzählung und des Liedes zu vermitteln, was nicht vollständig gelang.⁸

 Zur intendierten Pragmatik von (biblischen) Texten vgl. Markl, Volk, S. 10 – 11.  Vgl. Schmidtkunz, Moselied.  Für anders lautende Positionen vgl. Hempel, Schichten, S. 267; Labuschagne, Song, S. 91– 93; Meyer, Bedeutung, S. 133 – 134, die davon ausgehen, dass das Lied zusammen mit seiner narrativen Rahmung (Dtn 31– 32) in den Pentateuch eingefügt wurde, sowie Otto, Deuteronomium, S. 2170, der sogar annimmt, Lied und Rahmen seien gemeinsam für den jetzigen Kontext verfasst worden.  Zu den Unstimmigkeiten zwischen Lied und Prosarahmung vgl. z. B. Steuernagel, Übersetzung, S. 114; Driver, Commentary, S. 342.344.349; von Rad, 5. Buch, S. 136; Mayes, Deuteronomy, S. 376; Nelson, Deuteronomy, S. 355 – 356.

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Anhand der van Gennep’schen Schematisierungen lässt sich indessen gut nachvollziehen, welche Funktion dem Moselied innerhalb der Komposition des Pentateuch zukommt. Van Gennep identifiziert ein Muster im Umgang mit Übergängen, das in den verschiedensten Gesellschaften anzutreffen ist: „Übergangsriten erfolgen […] in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase (die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase) und Angliederungsriten die Integrationsphase.“⁹ Van Gennep nennt diese Riten im Original „rites préliminaires“, „liminaires“ und „postliminaires“.¹⁰ Um deutlich zu machen, was er unter dem ‚Übergang‘ versteht, der durch die sogenannten ‚Übergangsriten‘ begleitet wird, beschäftigt er sich als Erstes mit räumlichen Übergängen, die in vielen Kulturen tatsächlich auch an sich rituell begangen, zugleich aber als Modell für alle Arten von Übergängen herangezogen werden: Bei uns berührt heute ein Land das andere; aber früher, als noch der christliche Boden nur einen Teil Europas ausmachte, war das keineswegs so. Jedes Land war von einem neutralen Streifen umgeben […]. Derartige Zonen waren in der klassischen Antike, vor allem in Griechenland, von großer Bedeutung; sie wurden als Marktplätze und Schlachtfelder benutzt. Bei den Halbzivilisierten findet man dasselbe System neutraler Zonen, nur sind die Grenzen weniger genau definiert, weil die Zahl der beanspruchten Territorien geringer ist und diese nicht so dicht besiedelt sind. Solche Zonen sind gewöhnlich Wüstengebiete, Sümpfe, häufig unberührte Wälder, in denen jedermann gleichermaßen sich aufhalten und jagen kann.¹¹

Zwischen zwei Gebieten, die jeweils einem Volk mit seiner Lebensweise gehören, befindet sich in diesem Modell eine Zwischenzone, die gemeinsam genutzt, aber vielleicht auch einseitig beansprucht werden könnte und für die wegen der unklaren Machtverhältnisse keine festen Regeln gelten. Dem entspricht die Hebräische Bibel, wenn das Volk Gottes im Buch Exodus aus Ägypten hinauszieht und damit den Herrschaftsbereich des Pharaos verlässt. Zur Trennung von diesem ersten klar definierten Bereich gehört eine symbolische Handlung, d. h., in der Terminologie van Genneps, ein ‚Trennungsritus‘: das Bestreichen der Türrahmen mit dem Blut von geschlachteten Lämmern oder Ziegen, damit der von Gott geschickte ‚Vernichter‘ in der Nacht vor dem Auszug nicht die Söhne der Israeliten tötet, sondern nur die Erstgeborenen der Ägypter (vgl. Ex 12,5 – 13). Im Anschluss an diese Pessach-Feier wandert das Volk durch die Wüste, von der ja auch van Gennep spricht. Bei ihm heißt es weiter: „Jeder, der sich von der einen Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-

 Van Gennep, Übergangsriten, S. 21.  Van Gennep, Rites, S. 14.  Van Gennep, Übergangsriten, S. 27; vgl. auch S. 25.

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religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten. Diese Situation bezeichne ich als Schwellenphase […].“¹² In der Übergangsphase passiert nach van Gennep nun Entscheidendes, um die Ritualteilnehmer für das Kommende vorzubereiten und sie auf ein Leben nach neuen Regeln einzustimmen. Dies kann bedeuten, dass eine Gruppe von Heranwachsenden eine Zeit lang alleine in der Wildnis lebt und beweisen muss, dass sie selbst für ausreichend Nahrung sorgen kann. Oder Kandidaten für heilige Ämter versetzen sich in Trance, um Kontakt mit übernatürlichen Kräften aufzunehmen. Die Übergangsphase ist eine Phase der Gesetzlosigkeit, der fehlenden Struktur, des Entbunden-Seins von allen Verpflichtungen gegenüber der übrigen Gesellschaft. Andererseits spielen oft auch bestimmte Handlungsabläufe eine Rolle, ohne die eine solche Entfernung vom normalen geordneten Leben gar nicht stattfinden würde und durch die gleichwohl das Weiterfunktionieren des gemeinschaftlichen Lebens gesichert wird. So haben nicht nur magische Handlungen, sondern auch die Unterweisung ihren festen Platz an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Denn damit ein Novize oder eine Novizin, gleich welcher Art, gerüstet ist, Schritte auf unbekanntem Terrain zum ersten Mal selbst zu tun, bedarf er oder sie der Wegleitung derer, die diese Pfade bereits gegangen sind. Arnold van Gennep zählt in diesem Zusammenhang höchst unterschiedliche Arten der Unterweisung auf: Unterrichtung in Schwangerschaftstabus bei einem Stamm in Malawi,¹³ das Erlernen von „Formeln und Gesten“ in der Aufnahme in die Gruppe der amtierenden Brahmanen in Indien,¹⁴ die Lehrzeit in Handwerksberufen, die mit der Aufnahme in eine Zunft endet¹⁵ – was für van Gennep auch in Europa und Nordamerika durchaus noch Realität war. Demnach ist eine typische Übergangsphase durch eine elementare Wechselbeziehung zwischen Individuen und Gesellschaft gekennzeichnet: Einerseits sind die Rahmenbedingungen für persönliche Entwicklungen und die Abläufe von Ritualen, die der einzelne Mensch vollzieht, durch die jeweilige Gesellschaft festgelegt. Andererseits muss das von der Gesellschaft Geforderte und als solches Tradierte in diesen Ritualen von jedem einzelnen Mitglied dieser Gesellschaft (und sei es gleichzeitig mit anderen in einer Gruppe von Gleichaltrigen oder Gleichgestellten) unbedingt selbst erfahren und angeeignet werden. In derselben Weise lässt sich auch die biblische Erzählung von der Tora-Gabe in der Wüste verstehen (vgl. Ex 19 – 24): Am Sinai erfährt Mose von Gott, welche    

Van Gennep, Übergangsriten, S. 27– 28. Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 89 – 90. Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 105. Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 103.

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die Regeln für das Zusammenleben als Gottesvolk sein sollen. Dazu gehören die Zehn Gebote, aber auch eine ganze Reihe zusätzlicher Gesetze, die Mose anschließend alle an das Volk weitergibt. Zusätzlich aber ist die Verkündigung der Gebote mit der feierlichen Zeremonie des Bundesschlusses verbunden. Durch diesen Bund, der als ein ‚Schwellenritus‘ betrachtet werden kann, wird das Volk Israel dazu verpflichtet, im versprochenen Land nach dem Gesetz seines Gottes zu leben (Ex 24,3 – 8; vgl. 34,10 – 27). Noch bevor das Land erreicht ist, steht damit fest, wie das Leben dort funktionieren und worin es gründen soll. Mitten in der Ungewissheit des Übergangs finden Unterweisung und Neuorientierung statt. Schließlich wird in der Bibel auch von einem ‚Angliederungsritus‘ des Volkes berichtet. Obwohl der eigentliche Übertritt in das ‚Gelobte Land‘ erst im Buch Josua erfolgt, schließt Gott zuvor schon am Ende des Deuteronomiums einen zweiten Bund mit dem Volk. Diejenigen, die unter Josuas Führung nach Israel einwandern dürfen, werden der besonderen göttlichen Zuwendung versichert und stellvertretend auch für die nachfolgenden Generationen davor gewarnt, den gemeinsamen Gott JHWH zu missachten (vgl. Dtn 29,8 – 28). In eindrücklicher Übereinstimmung mit dem van Gennepschen Schema von Trennung – Übergang – Angliederung wird also im Pentateuch in den Büchern Exodus bis Deuteronomium dargestellt, wie das Volk Israel aus der ägyptischen Fremde zu sich und zu seinem Gott kommt. Historisch dürften hinter dieser Geschichtskonstruktion die geistige Neuorientierung und Selbstvergewisserung der Theologen Israels in der Perserzeit (6.–4. Jh. v. Chr.) stehen, als aus den Königreichen Israel und Juda zunächst assyrische und babylonische Vasallenstaaten und schließlich die persischen Verwaltungseinheiten Samaria und Jehud geworden waren.¹⁶ Es ist anzunehmen, dass sich in einer Zeit fehlender politischer Unabhängigkeit die Religion als Identifikationsgröße anbot. An ihr konnte festgehalten werden, während die fremden Oberherrscher einander ablösten.¹⁷ Und so setzten die Autoren der Bibel an die Stelle

 Es wird an dieser Stelle auf die Zuschreibung einzelner Texte zu bestimmten Verfasserkreisen verzichtet, weil das Hauptinteresse des vorliegenden Beitrags einer pragmatischen Gesamtbetrachtung der pentateuchischen Literatur gilt. Für eine differenzierende Betrachtung der biblischen Literaturgeschichte der Perserzeit vgl. z. B. Gerstenberger, Israel, S. 116 – 322.  Vgl. Berquist, Judaism, S. 147– 159 (mit der Ansicht, v. a. die Priesterschaft habe einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs erfahren); Gerstenberger, Israel, S. 75 – 76: „Die eigentlichen Akteure in dem geschichtlichen Spiel waren […] die Perser. Sie setzten die Ziele fest. Ihre Interessen dominierten Politik und Wirtschaft. […] Nach Ausweis der hebräischen und aramäischen Schriften der Bibel hat die Jahwegemeinschaft in Jerusalem und in der Diaspora jedoch mit unerhörter Energie an der selbstbestimmten, menschlich-natürlichen Weltsicht […], die durch den Erwählungsglauben verstärkt wurde, festgehalten.“; Keel, Geschichte, S. 1080 – 1083 (zur Rolle

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des Königs die Weisung (d. h. die Tora) JHWHs als Ausdruck der ungebrochenen Identität des Volkes Israel. Sie erzählen eine Geschichte, die zeigen soll, dass der Übergang von einer Situation zur anderen keine Angst machen muss, weil Gott sein Volk führt. Es ist eine Mustererzählung, die das Ideal vertritt, das Leben der Israeliten könnte ein für alle Mal nach Gottes Willen organisiert werden. Zu diesem Leben nach Gottes Willen gehört dann auch das jährliche PessachFest. Es soll ausdrücklich in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gefeiert werden (vgl. Ex 12,14). Der eigentliche Auszug stellt dagegen ein einmaliges Ereignis dar, das nicht wiederholt wird (vgl. Ex 12– 14). Ebenso verhält es sich letztlich mit den beiden Bundesschlüssen in der Wüste. Obwohl sie in der Darstellung der Hebräischen Bibel Parallelen in früheren Bundesschlüssen (vgl. Gen 9; 15; 17) und einen ausgesprochen rituellen Charakter haben, verbleibt ihre Bedeutung für die Leserinnen und Leser der Bibel auf der symbolischen bzw. literarischen Ebene. Zwar wird vom Moabbund gesagt, dass er nicht nur denjenigen gilt, die mit Mose östlich des Jordans versammelt sind, sondern auch denjenigen, die nicht dort stehen (vgl. Dtn 29,13 – 14). Das heißt, die Bestimmungen des Bundes gelten weiter auch für diejenigen, die an der Zeremonie vor dem Übertritt ins ‚Gelobte Land‘ nicht beteiligt, weil noch nicht geboren waren. Doch es bedeutet zugleich, dass die Hörerschaft außerhalb der Erzählung nur noch zur Kenntnis nehmen und nicht selbst nachvollziehen kann, worauf ihre Gottesbeziehung sich gründet. Die Nachgeborenen müssen mit den Ankündigungen von Segen und Fluch vorliebnehmen, die dem Bericht vom Bundesschluss in Moab vorausgehen und an das künftige Verhalten des Volkes geknüpft sind (vgl. Dtn 27,11– 28,69). Hier wird durchaus ein Bewusstsein für die Gefahr erkennbar, das Volk Israel könnte sich womöglich nicht an die Verabredungen mit seinem Gott halten. So bedrohen die Flüche diejenigen, die sich dem Gotteswillen widersetzen, während denjenigen Segen verheißen wird, die das Leben nach Gottes Willen wählen. Gleichwohl bleibt ihre Bekanntgabe ein Geschehen in der (erzählten) Vergangenheit, die von den einzelnen Hörer(inne)n oder Leser(inne)n sehr weit entfernt sein mag. Hier schafft das Moselied Abhilfe, denn es wendet sich so direkt wie kaum ein anderer biblischer Text an die jeweils Zuhörenden. Es spricht von der Vergangenheit, doch in der Absicht, hieraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Allerdings nimmt das Lied nicht erkennbar Bezug auf eine konkrete Situation des Volkes Israel. Im Vergleich mit der Narration vom Auszug aus Ägypten und dem Zug durch die Wüste ist es deutlich abstrakter formuliert und hat eher die mentale

Jerusalems für die Herausbildung einer religiös-jüdischen Identität); Ben Zvi, Study (für Überlegungen zu Konvergenzen und Differenzen im schriftgelehrten Milieu des perserzeitlichen Jehud).

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Verfassung der Zuhörenden im Fokus. Um das Land geht es gar nicht, sondern darum, angesichts der Versuchung, zu anderen Göttern abzufallen, die Größe und alleinige Autorität JHWHs zu betonen.Wahrscheinlich stammt das Lied aus einem Kreis, der unter der Perserherrschaft nicht mehr an eine eigenständige Verfasstheit Israels als Staatswesen glaubte, sondern die religiöse Identifikation konsequent weitergedacht hat und sich nun an die einzelnen Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft wendet. Zweifellos erfüllt das Moselied denjenigen Zweck, den laut van Gennep Übergangsrituale haben, denn es zielt auf eine Statusänderung derer, die es hören oder lesen. Indessen enthält das Lied nicht den Text eines Rituals: Es formuliert weder kultische Anweisungen noch ist es Teil einer Zeremonie. Es wird in der Hebräischen Bibel nicht gesagt, dass es zu bestimmten Zeiten zu rezitieren wäre.¹⁸ Es verweist vielmehr auf das, was zeitlos gültig ist. Es steht also nicht für sich wie der Text der Gebote, sondern es ist zurückgebunden an diese Gebote und die ganze Tradition, zu der auch sie gehören. Und damit hat es effektiv manches mit einem Ritus oder Ritual gemein. Wie ein Ritual, wie eine Beschneidung, eine Verlobungsfeier, ein Gebet für die Seele eines Verstorbenen, wäre das Moselied unverständlich ohne die Kenntnis bestimmter Zusammenhänge und Voraussetzungen.Wie jedes Ritual beruht es auf Konzepten, die es selbst und den einzelnen Menschen übersteigen und die man anerkennen muss, um seine Tragweite zu erfassen. Erst durch die Einbettung in einen bestimmten Vorstellungsraum bekommen ja die einzelnen Elemente eines Rituals ihr spezielles Gewicht. Wasser kann einfach Wasser sein – oder in der Taufe die Vergebung der Sünden symbolisieren. Nur wenn man die biblischen Erzählungen vom Täufer am Jordan, von Jesu eigener Taufe und von der Erneuerung der Menschen durch den Heiligen Geist kennt, so kann man überhaupt nachvollziehen, worauf das Besprenkeln mit Wasser in der Kirche zielt. Und nur wer sich grundsätzlich mit der christlichen Lehre identifiziert, wird der Verabreichung dieser zum Waschen meist viel zu geringen Menge an Wasser eine besondere Bedeutung beimessen. Das Gleiche gilt für das Zertreten des Glases unter dem jüdischen Hochzeitsbaldachin, das auch an einem Freudentag die Erinnerung an den zerstörten Tempel wachhalten soll. Die in Japan streng beachtete Ausrichtung einer Totenbahre nach Norden wird nur für diejenigen von tieferer Bedeutung sein, die darum wissen, dass der Buddha selbst bei seinem Eintritt ins Nirwana mit dem Kopf nach Norden lag.

 Eine solche Anweisung gibt Dtn 31,10 – 13 nur für die Verlesung der Tora (alle sieben Jahre zum Erlassjahr am Laubhüttenfest). Erst der Talmud kennt die regelmäßige Rezitation des Moseliedes (zum Zusatzopfer am Sabbat, vgl. Traktat Rosh HaShanah 31a).

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Diese Beispiele zeigen, dass Rituale sich nicht selbst erklären. Und so verhält es sich auch mit dem Moselied. Liest man es für sich allein, kann man ihm nur wenige klare Informationen entnehmen. Es setzt bereits voraus, dass seine Hörer(innen) und Leser(innen) mit der Tradition vertraut sind, aus der es stammt. Gleich zu Beginn fordert der anonym bleibende Sprecher: „Wenn ich den Namen JHWHs ausrufe, gebt unserem Gott Ehre!“ (Dtn 32,3: ‫)כי שם יהוה אקרא הבו גדל לאלהינו‬. Ob der Name JHWHs einfach JHWH ist oder vielleicht der Ehrenname ,Fels‘, der erst im nächsten Vers fällt, wird ebenso wenig spezifiziert wie die Art, in der diesem Gott die Ehre zu erweisen ist. Wenn es um ‚unseren Gott‘ geht, müssen ‚wir‘ schon wissen, was ihm zukommt. Etwas später heißt es von JHWH und seinem Volk: „Er fand es im Wüstenland und in Verlassenheit, im Geheul der Einöde; er umhegte es, er hatte auf es Acht, bewahrte es wie seinen Augapfel“ (Dtn 32,10: ‫ימצאהו בארץ מדבר ובתהו ילל ישמן‬ ‫)יסבבנהו יבוננהו יצרנהו כאישון עינו‬. Im vorhergehenden Vers war noch davon die Rede gewesen, dass Gott sich sein Volk selbst zum Erbteil erwählt hatte¹⁹ und anschließend wird wiederum beteuert, dass er sich um Israel wie ein Elternvogel um sein Junges kümmerte.²⁰ Die plötzliche Wüstenreminiszenz ergibt nur Sinn, wenn man bedenkt, dass die biblische Tradition immer wieder gerade die Wüste als Schauplatz für Gottes Handeln besonders hervorhebt. Andererseits wird mehrmals im Lied davon gesprochen, dass das Volk seinen Gott „beleidigt“ hätte, so in V.16: „Sie reizten ihn durch Fremdlinge, durch Abscheulichkeiten beleidigten sie ihn“ (‫)יקנאהו בזרים בתועבת יכעיסהו‬. Ganz ähnlich heißt es in V.21: „Sie haben mich gereizt durch einen Nicht-Gott, beleidigt durch ihre Nichtse…“ (‫)הם קנאוני בלא־אל כעסוני בהבליהם‬. Das verwendete Verb ,beleidigen‘ (‫ כעס‬Hif’il) ist innerbiblisch eindeutig konnotiert. An 40 von 43 Belegstellen außerhalb des Moseliedes und seines Rahmens drückt es aus, dass das Volk oder seine Könige das Erste Gebot gebrochen und andere Götter als JHWH verehrt haben.²¹ Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass auch das Lied genau diese ‚Beleidigung‘ im Blick hat und davor warnen will. Das Gebot selbst aber: „Du

 Vgl. Dtn 32,9: „Ja, JHWH teilte sich sein Volk Jakob zu [emendiert], sein abgemessenes Erbteil Israel“ (‫)כיחלק יהוה עמו יעקב חבל נחלתו ישראל‬.  Vgl. Dtn 32,11: „Wie ein Geier, der sein Nest bewacht, über seinen Jungen schwebt, breitete er seine Flügel aus, nahm es, hob es auf seine Schwinge“ (‫כנשר יעיר קנו על־גוזליו ירחף יפרש כנפיו יקחהו‬ ‫)ישאהו על־אברתו‬.  Vgl. Dtn 4,25; 9,18; Ri 2,12; 1.Kön 14,15; 2.Kön 17,11.17; 21,15; 22,17; 23,19; 2.Chr 34,25; Ps 78,58; 106,29; Jes 65,3; Jer 7,18.19; 8,19; 11,17; 25,6.7; 32,29.30.32; 44,3.8; Ez 8,17; 16,26; Hos 12,15 sowie für die Königsbewertungen: 1.Kön 14,9; 15,30; 16,2.7.13.26.33; 21,22; 22,54; 2.Kön 21,6; 23,26; 2.Chr 28,25; 33,6.

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sollst keine anderen Götter vor mir haben“ (Ex 20,3 = Dtn 5,7: ‫לא יהיה־לך אלהים‬ ‫ )אחרים על־פני‬wird im Moselied nicht ausgesprochen. Bereits diese kurze Aufzählung macht deutlich, in welchem logischen Zusammenhang das Moselied und der Rest der Hebräischen Bibel stehen. Ihr Verhältnis ist damit vergleichbar, wie sich einzelne Rituale und die Gesamtheit einer kulturellen Überlieferung zueinander verhalten. So übersetzen einzelne Rituale bestimmte Glaubenslehren oder Überzeugungen in praktisches Handeln, ohne es im Einzelnen zu erklären oder zu begründen. Die Hörenden des Moseliedes werden zur Gottesverehrung aufgerufen; die ausführlichen Berichte über die Ursprünge dieser Gottesbeziehung aber finden sich andernorts in der Hebräischen Bibel. Auf sie wird im Lied nur angespielt. Ebenso wird im Taufgottesdienst der Taufbefehl Jesu zitiert, aber keine systematisch-theologische Vorlesung über die Entsprechung von Wasser und Heiligem Geist gehalten. Wenn der jüdische Bräutigam das Glas zertritt, genügt ein Vers aus Ps 137 zum Verweis auf die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems.²² Und auch bei einer buddhistischen Totenfeier in Japan, im Angesicht des nach Norden ausgerichteten Verstorbenen, werden zwar Sutren rezitiert, nicht aber die Lebensgeschichte des Buddha und seine Körperhaltung zum Zeitpunkt seines Todes diskutiert. Die Hintergründe all dieser zeremoniellen Abläufe werden normalerweise an anderen Stellen erklärt und vermittelt und bleiben möglicherweise solange abstrakt, bis man sie selbst miterlebt. Zum Zeitpunkt einer Taufe, einer Hochzeit, einer Totenfeier können Glaubensinhalte plötzlich anschaulich werden, die es im normalen Alltag nicht sind. Folglich erwachsen Rituale zwar zunächst aus einer bestimmten Weltsicht, sie tragen durch ihre Wiederholung aber auch dazu bei, dass die mit ihr verbundenen traditionellen Überzeugungen und Werte erhalten bleiben. Mit diesem Zusammenhang hat sich der schottische Ethnologe Victor Turner in der Nachfolge Arnold van Genneps ausführlicher befasst und festgestellt: Die Neophyten in vielen […] Übergangsriten haben sich einer Autorität zu unterwerfen, die keine geringere als die der Gemeinschaft als Ganzes ist. Diese Gemeinschaft bewahrt die ganze Skala der Werte, Normen, Einstellungen, Empfindungen und Beziehungen der Kultur. Ihre von Ritual zu Ritual möglicherweise variierenden Repräsentanten in den jeweiligen Riten stellen die allgemeine Autorität der Tradition dar.²³

 Ps 137,5: „Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, dann soll meine Rechte vergessen (bzw.: verdorren) […]“ (‫)אם־אשכחך ירושלם תשכח ימיני‬. Zum Übersetzungsproblem von ‫ תשכח ימיני‬vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen, S. 691– 694.  Turner, Ritual, S. 102; vgl. im Original Turner, Process, S. 103: „[…] neophytes in many rites de passage have to submit to an authority that is nothing less than that of the total community. This community is the repository of the whole gamut of the culture’s values, norms attitudes, senti-

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In ähnlicher Weise wird in Dtn 31 die Funktion des Moseliedes beschrieben, wenn JHWH Mose und Josua den Auftrag gibt, das Lied an das Volk weiterzugeben, vgl. Dtn 31,19.21: ‫ועתה כתבו לכם את־השירה הזאת ולמדה את־בני־ישראל שימה בפיהם למען תהיה־לי השירה הזאת לעד בבני‬ […] ‫ישראל ]…[ והיה כי־תמצאן אתו רעות רבות וצרות וענתה השירה הזאת לפניו לעד כי לא תשכח מפי זרעו‬ Und nun schreibt dieses Lied für euch auf und lehre es die Söhne Israels, lege es in ihren Mund, damit dieses Lied mir zum Zeugen wird bei den Söhnen Israels. […] Und es wird geschehen, wenn viele Übel und Bedrängnisse es treffen, dann wird dieses Lied in seinem Angesicht als Zeuge antworten, denn es wird nicht vergessen werden aus dem Mund seiner Nachkommenschaft […].

Als Zeugnis dafür, dass Gott das Schicksal seines Volkes kennt und bestimmt und es sogar vorhergesehen hat, verkörpert das Moselied das ganze Gewicht der biblischen Tradition. Es gilt als Beweis und Veranschaulichung von Gottes Macht. Doch die Vermittlung dieses Wissens um Gott ist in der Fiktion des Pentateuch eng mit der Figur des Mose verknüpft. Das Buch Exodus erzählt, dass Mose von Gott den Auftrag erhielt, das Volk aus Ägypten ins ‚Gelobte Land‘ zu führen (vgl. Ex 3; 6). Mose verfügt demnach aus Sicht der Hebräischen Bibel nicht nur über eine besondere Nähe zu Gott, sondern teilt zugleich die Wüstenerfahrungen der Israeliten. Dies verleiht Mose gegenüber dem Volk die Autorität eines Lehrmeisters, der Gegenwart und Geschichte zu deuten vermag. Auch dieser Aspekt der biblischen Textzusammenstellung, d. h. namentlich die literarische Inszenierung des Moseliedes als „Vermächtnis-Literatur“²⁴, lässt sich vor dem Hintergrund ritual-theoretischer Überlegungen gut verstehen. Angedeutet wird das schon in einem 1981 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Liminality as a Social Setting for Wisdom Instructions“.²⁵ Darin vergleicht der US-amerikanische Bibelwissenschaftler Leo Perdue die Beobachtungen von Victor Turner zur rituellen Gestaltung von Übergängen in verschiedenen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts mit den soziologischen Konstellationen, die in antiken, biblischen und altorientalischen Lehrtexten und ihren Rahmenerzählungen erkennbar werden. Perdue beschreibt zunächst die Rolle dessen, der oder die in einer bestimmten Gesellschaft mit der Durchführung eines Übergangsrituals betraut ist: „According to V. Turner, the ritual leader is the representative of structure in that both he and his instruction embody the valued traditions of

ments, and relationships. Its representatives in the specific rites – and these may vary from ritual to ritual – represent the generic authority of tradition.“  Meyer, Bedeutung, S. 134.  Perdue, Liminality.

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society. What he does and says are prompted not so much by his own initiative, but rather are traditional embodiments of the teachings and actions considered normative and authoritative by the society he represents.“²⁶ Perdue untersucht dann, inwiefern sich eine solche Rolle auch in der ägyptischen, mesopotamischen und alttestamentlichen Literatur andeutet und richtet sein Augenmerk auf Erzählungen von Übergangssituationen, in die Unterweisungen eingeschaltet sind. Er kommt zu folgendem Schluss: [W]e have consistently recognized that ancient Near Eastern instructions which in their tradition history have been linked to narratives have the same setting: an aged ‘father’, approaching death, instructs his ‘son’ who is about to be elevated to the father’s social position. […] It is our suggestion that the social setting for these instructions may best be described in terms of liminality which is a phase within the ‘rites of passage’ that accompany status elevation. In these cases, then, the ‘son’ is leaving his former status and is to be reincorporated into society at an elevated status, usually filling the position of the ‘father’. It is in this context that the instructions are given by the ‘father’ to the ‘son’, and embody the important social values of the respective society. […] The teachings’ function is not only to transmit societal knowledge, but also to bring about an ontological change in the character of the ‘son’.²⁷

In keinem der von Perdue betrachteten Texte geht es um Rituale im eigentlichen Sinne.Was er feststellt, ist die Ähnlichkeit der Funktion, die Übergangsrituale und die fiktiven Unterweisungen erfüllen. Obwohl er es nicht erwähnt, treffen seine Schlussfolgerungen auch auf die Schwellensituation am Ende der PentateuchErzählung zu: Mose ist die weisheitliche Modellfigur, der alte ‚Vater‘, der vor seinem Tod sein Wissen und seinen Status seinem ‚Sohn‘, d. h. der jüngeren Generation des Volkes Israel, überlässt. Im Falle des Moseliedes kommt eine Besonderheit hinzu. Denn es fällt auf, dass die biblische Geschichte des wandernden Gottesvolkes auch ohne das Lied sinnvoll zu Ende erzählt werden könnte. In dem Moment, da JHWH seinen Knecht Mose sterben lässt, ist das Volk schon mehrfach abgesichert. Es ist im Besitz der Gebote, die inhaltlich viel eher ein Vermächtnis darstellen, weil sie konkrete Anweisungen enthalten. Und es bekommt mit Josua auch einen neuen Anführer, der die Israeliten schließlich ins Land hineinführen wird. Im Horizont der Geschichte von ‚damals‘ fehlt nichts zu einem gelingenden Einzug ins Gelobte Land. Damit die Geschichte des Gottesvolkes aber auch im Land weitergeht, bedarf es einer andauernden Motivation zum gottgefälligen Leben. Diese Motivation formuliert das Moselied und richtet sich damit eindeutig an eine Hörerschaft au-

 Perdue, Liminality, S. 118.  Perdue, Liminality, S. 125.

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ßerhalb der Narration. Indem eine späte Redaktion Mose die Worte des Liedes in den Mund legte, fügte sie der Erzählung vom einmaligen Übergang die bleibende Deutung bei. Mose deutet also im Namen Gottes den Inhalt der Fünf Bücher Mose für die Hörer(innen) und Leser(innen) aller Zeiten. Durch die Einfügung des Liedes bleibt es nicht der Phantasie der kommenden Geschlechter überlassen, ob sie die Geschichte vom Auszug aus Ägypten und die an die Vorfahren ergangenen Gebote auf sich beziehen wollen. Wer den Pentateuch bis zum Ende liest, hat keine Wahl: Er oder sie wird selbst angesprochen und dadurch einbezogen in das Geschehen der Bibel.²⁸ Anstatt selbst durch die Wüste zu gehen, müssen die späteren Hörerinnen und Hörer des Moseliedes sich fragen lassen, wohin sie unterwegs sind und worauf sie sich ausrichten wollen. Die vorwurfsvolle Frage am Anfang des Liedes: „Tut ihr JHWH dies an, törichtes und unweises Volk?“ (Dtn 32,6: ‫ )ה־ליהוה תגמלו־זאת עם נבל ולא חכם‬behält ihre provozierende Kraft im Wandel der Zeiten. Unabhängig von Zeit und Situation spricht das Lied den Einzelnen an: „Gedenke!“ (Dtn 32,7: ‫) ְזכֹר‬, „Und du hast Gott vergessen!“ (Dtn 32,18: […] ‫)ותשכח אל‬. Es macht JHWHs Stimme stets neu und direkt vernehmbar: „Ein Feuer ist entbrannt in meiner Nase!“ (Dtn 32,22: ‫]…[ אש‬ ‫)קדחה באפי‬, „Seht nun, dass ich, ich es bin!“ (Dtn 32,39: ‫)ראו עתה כי אני אני הוא‬, „So wahr ich in Ewigkeit lebendig bin!“ (Dtn 32,40: ‫)חי אנכי לעלם‬. Der geforderte Übergang ist dann ein individueller – und eventuell mehrmals zu vollziehen. Denn die Schwelle, auf die das Moselied aufmerksam macht, ist letztlich unsichtbar. Um sie zu überschreiten und Gott nahe zu kommen, muss der einzelne Mensch sich nicht mehr auf Mose oder Josua verlassen, nicht mehr auf einen Anführer oder Zeremonienmeister warten. Was die Erzählung des Pentateuch einmal geschehen ließ, um der krisenhaften Erfahrung des Volkes Israel zu begegnen, ermöglicht das Lied immer wieder.²⁹ Um künftigen Krisen vorzubeugen, setzt es auf die Verantwortung des und der Einzelnen, sich im Einklang mit der Tradition für ein Leben nach dem Willen JHWHs zu entscheiden.

Literaturverzeichnis Assmann, Jan: Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte. In: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. 3. Aufl. München 2007. S. 148 – 166.

 Vgl. Markl, Volk, S. 241 f.  Zur Ersetzung eines Rituals durch eine Heilige Schrift vgl. Assmann, Text, S. 164: „Die Schrift verstetigt nicht das Ritual, sie tritt an seine Stelle.“

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Hannah C. Erlwein

Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem Die Etablierung des perfekten Staates in der islamischen Philosophie

1 Einleitung Ibn Sina (gest. 427AH/1037AD; auch bekannt unter seinem latinisierten Namen Avicenna) gilt als einer der einflussreichsten Denker in der philosophischen Tradition des klassischen Islam. Seine philosophischen Überlegungen hinterließen einen bleibenden Einfluss nicht nur auf Generationen von Theologen und Philosophen in der islamischen Welt, sondern auch auf Denker im christlichen Europa, wie zum Beispiel Thomas von Aquin (gest. 1274), der sehr von Ibn Sinas Überlegungen zur Natur Gottes und der Welt beeinflusst war.¹ Ibn Sinas philosophische Schriften umfassen eine Vielzahl von Themenbereichen – neben der Metaphysik und Physik widmete er sich Überlegungen zur Psychologie, Logik und Mathematik, um nur einige wenige zu nennen.² Im vorliegenden Beitrag möchte ich mich dem Bereich von Ibn Sinas philosophischem Denken widmen, der als politische Philosophie verstanden werden kann. Hierbei möchte ich der Frage nachgehen, worin für Ibn Sina Funktion und Aufgabe des perfekten Staates bestehen. Diese Frage ist jedoch mit einem weiteren Anliegen verbunden: Inwiefern kann man bei Ibn Sina von einer islamischen Philosophie sprechen? In der Sekundärliteratur ist dieses Label etwas umstritten, denn es gibt die Tendenz, Ibn Sina vor allem in der Nachfolge von Aristoteles und dem Neuplatonismus zu sehen.³ Der Einfluss der griechischen Philosophie auf Ibn Sina soll nicht geleugnet werden; worum es mir im Nachfolgenden jedoch geht, ist zu betonen, wie sehr Ibn Sinas Gedanken zur politischen Philosophie von einem religiösen Denken und insbesondere von islamischen Ideen durchdrungen

 Vgl. Acar, God, für eine vergleichende Studie einer Anzahl von philosophischen/theologischen Positionen von Ibn Sina und Thomas von Aquin.  Für einen Überblick über Ibn Sinas Leben und Werke vgl. McGinnis, Avicenna, S. 16 – 26.  Vgl. Gutas, Avicenna, für die Rezeption Aristoteles’ durch Ibn Sina. https://doi.org/10.1515/9783110605389-004

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sind.⁴ Am Beispiel von Ibn Sinas politischen Gedanken soll nahegelegt werden, dass seine Philosophie letztendlich ein religiös inspiriertes Projekt ist. Dies wird meiner Ansicht nach auch im Folgenden ersichtlich: Ibn Sina hat kein Werk hinterlassen, das sich gänzlich und ausschließlich mit politischer Theorie oder politischer Philosophie beschäftigt. Wenngleich Ibn Sina alle Wissenschaften in theoretische und praktische unterteilt und ‚Politik‘⁵ als eine eigenständige Disziplin unter den praktischen Wissenschaften bestimmt, müssen wir, wenn wir an Ibn Sinas politischer Philosophie interessiert sind, seine Überlegungen aus verschiedenen Werken zu verschiedenen Themenbereichen zusammensuchen. Die umfangreichste und detaillierteste Darstellung dessen, wie Ibn Sina sich die Entstehung von Gemeinwesen, die Etablierung des perfekten Staates, seiner Gesetze und seiner Aufgaben vorstellt, erscheint beispielsweise im letzten der zehn Bücher, die den metaphysischen Teil seines Hauptwerkes, al-Shifāʾ, ausmachen. Dies weist meiner Ansicht nach darauf hin, dass Ibn Sina seine politischen Überlegungen als Teil, ja sogar als Konsequenz seiner Erläuterungen zur Metaphysik ansah. Neben diesem auf die Struktur seiner Werke hinweisenden Argument sollen im Folgenden weitere inhaltliche Argumente vorgebracht werden, weshalb Ibn Sinas politische Philosophie eine islamische Philosophie ist.

2 Funktion und Aufgabe des Idealstaates Ich möchte nun auf das eigentliche Thema meines Beitrags zurückkommen, das sich mit der Funktion und der Aufgabe des Idealstaates in Ibn Sinas politischer Philosophie befasst. Bevor Ibn Sina dazu übergeht, über die Funktion des Idealstaates zu sprechen, geht er auf die Gründe ein, die zu seiner Etablierung führen. So erklärt er, dass die Bildung von Gemeinwesen ganz allgemein im Grunde ein natürlicher, unumgänglicher Prozess ist. Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen kommt der Mensch nicht ohne die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen aus und kann nicht in Isolation bestehen. Aus dieser Situation des Mangels und der Abhängigkeit entstehen daher Gemeinschaften und Staaten.⁶ Menschliches Zusammenleben bedarf nach Ibn Sina gewisser Regeln. Da die Gerechtigkeit die Grundlage jeglicher Gemeinwesen ist, erfordert dies wiederum die Existenz von Gesetzen, und Gesetze bedürfen eines Gesetzgebers. An dieser  Campanini, Alfarabi, betonte bereits denselben Aspekt in Bezug auf al-Fārābīs politisches Denken, das er als „political theology“ (S. 35) bezeichnet.  Vgl. Ibn Sina, Rasāʾil, Risāla 5, S. 107, wo er von „verschiedenen Formen der Herrschaft, Führung und des Gemeinwesens“ (aṣnāf al-siyāsāt wa’l-riʾāsāt wa’l-ijtimāʿāt al-madaniyya) spricht.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 364.

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Stelle wird die religiöse Dimension von Ibn Sinas politischer Philosophie erneut offensichtlich: Es ist kein geringerer als ein von Gott gesandter Prophet, der in Ibn Sinas Idealstaat die Gesetze macht. Die arabischen Begriffe, die er verwendet, um den Propheten (nabī)⁷ in seiner Funktion als Gesetzgeber (shāriʿ, sānn)⁸ und als Empfänger einer göttlichen Offenbarung (waḥī)⁹ zu beschreiben, weisen unmissverständlich auf die islamische Tradition hin. Das Auftreten eines solchen Propheten in einem Gemeinwesen wird von Ibn Sina als Ausdruck göttlicher Fürsorge und Vorsehung (al-ʿināya al-ūlā)¹⁰ betrachtet: Gott stellt sicher, dass den Menschen als Spezies die Möglichkeit gegeben ist fortzubestehen und gewährleistet daher, dass ihr Zusammenleben gut geregelt ist.¹¹ Ibn Sina stellt im Folgenden in ausführlicher Weise dar, was das Gesetz des Idealstaates beinhalten muss und was seine Funktion ist.¹² Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass nach Ibn Sina das erste Prinzip, das der gesamten Gesetzgebung des Propheten zugrunde liegt, mit gewissen Unterweisungen bezüglich Gottes zu tun hat: So muss der Prophet den Menschen mitteilen, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, dass er einzigartig und gänzlich verschieden von seiner Schöpfung ist und dass er absoluten Gehorsam von seiner Schöpfung verlangt. Dieser Gehorsam wird im Jenseits belohnt werden, während die Missachtung von Gottes Geboten Bestrafung im Jenseits nach sich zieht. Darüber hinaus soll der Prophet den Menschen nichts über Gott mitteilen, denn – und hier tritt Ibn Sinas recht pessimistische Sicht auf die intellektuellen Fähigkeiten der Mehrheit der Menschen zutage – dies würde sie nur verwirren, zu Disputen führen und dem Staat zum Verderben gereichen. Was der Prophet den Bürgern des Idealstaates über Gott und das Jenseits mitteilt, hat, gemäß Ibn Sina, letztendlich nur einen Sinn und Zweck: Es soll die Bürger aus Furcht vor Gott dazu bewegen, an den Gesetzen, die das Zusammenleben im Staat regeln, festzuhalten. Nur sehr wenigen Menschen ist aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung (al-jibla) das Nachsinnen über metaphysische Wahrheiten von Nutzen: Sie allein sind in der Lage, die „Symbole und Hinweise“¹³ (rumūz wa-ishārāt) in der Botschaft des Propheten zu begreifen und dadurch „göttliche Weisheit“¹⁴ (al-ḥikma al-ilāhiyya)

 So zum Beispiel Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 365. Vgl. Al-Akiti, Properties, zu Ibn Sinas Theorie der Prophetie und Konzeption des Propheten.  So zum Beispiel Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 3, S. 367.  So zum Beispiel Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 1, S. 359.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 365.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 364 f.  Vgl. March, Falsafa, S. 8 – 13.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 366.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 366.

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und das Verständnis der wahren Bedeutung von Gottes Einheit und Transzendenz zu erlangen.¹⁵ Der Gehorsam der Bürger gegenüber den Gesetzen – Ibn Sina erwähnt an dieser Stelle Gesetze zu Themen wie Handel, Ehe und Diebstahl – muss auch dadurch gewährleistet werden, dass der Prophet bestimmte rituelle Handlungen, wie Beten und Fasten, vorschreibt, die ihnen ständig Gott und das Jenseits vor Augen führen. In al-Aḍḥawiyya fī al-maʿād beschreibt Ibn Sina das Ziel der Gesetze (sharīʿa) so: „Das höchste Ziel der sharīʿa hat mit den praktischen Aspekten bezüglich der Handlungen der Menschen zu tun, sodass sie das Gute tun.“¹⁶ Damit betrifft das Ziel der sharīʿa den einen der beiden Aspekte, in die sich laut Ibn Sina alle Weisheit zergliedert, nämlich den der praktischen Weisheit im Gegensatz zur theoretischen.¹⁷ Weisheit, so erklärt Ibn Sina in ʿUyūn al-ḥikma, ist nichts anderes als die „Vervollkommnung (istikmāl) der menschlichen Seele“¹⁸. Das bedeutet, dass die sharīʿa, die, wie oben erwähnt, vor allem die praktische Weisheit und die Handlungen der Menschen im Blick hat, bestrebt ist, den korrespondierenden Teil oder das korrespondierende Vermögen der menschlichen Seele zu vervollkommnen: Wie auch die Weisheit hat die menschliche Seele einen praktischen und einen theoretischen Teil. Hier ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, dass, wenn Ibn Sina von der Vervollkommnung einer Sache spricht, er damit das Folgende meint: Vervollkommnung erfolgt in Stufen. Die erste Vervollkommnung einer jeglichen Sache ist die differenzbildende Eigenschaft, durch die sie zu dem wird, was sie sein soll. Das Beispiel, das Ibn Sina anführt, ist das eines Schwertes, dessen erste Vervollkommnung (al-kamāl al-awwal) darin besteht, dass es die einem Schwert gemäße Form erhält. Nach Ibn Sinas Hylemorphismus ist es die Form (ṣūra), nicht

 Vgl. Ibn Sina, al-Aḍḥawiyya, S. 111: „[Der Prophet] beschreibt die Glückseligkeit, die eine Belohnung ist, nicht gemäß ihrer wahren, wundervollen, herrlichen, göttlichen Form (ṣūra), sondern gemäß einer Form, die von den Menschen verstanden werden kann und von ihnen als angenehm empfunden wird.“  Ibn Sina, al-Aḍḥawiyya, S. 110.  Für Ibn Sinas Zweiteilung der Weisheit in praktische und theoretische sowie ihre jeweilige Unteraufteilung vgl. Ibn Sina, Rasāʾil, Risāla 4, S. 79 – 81 und Risāla 5, S. 105 – 107; ʿUyūn, S. 16 – 17. Zur Verbindung zwischen guten/verwerflichen Handlungen und der praktischen Weisheit vgl. Ibn Sina, Rasāʾil, Risāla 5, S. 105: „Das Ziel (al-maqṣūd) der praktischen Weisheit […] ist es, korrekte Meinungen zu erlangen über bestimmte Dinge, sodass der Mensch dadurch wisse, was das Gute (al-khayr) ist. Das Ziel […] ist, eine Meinung zu erlangen um einer Handlung (ʿamal) willen.“ Vgl. dazu auch Legenhausen, Philosophy und Kaya, Legislation.  Ibn Sina, ʿUyūn, S. 16.

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etwa die Materie (mādda), die ein Ding zu dem macht, was es ist.¹⁹ Die zweite Vervollkommnung (al-kamāl al-thānī) betrifft das, was darauf folgt und was nicht essentiell ist für eine Spezies: so zum Beispiel im Falle des Schwertes, dass es seiner Funktion gerecht wird und man damit schneiden kann. Im Falle des Menschen nun ist es die Seele – genauer: die menschliche/rationale Seele (al-nafs al-insāniyya/al-nāṭiqa), im Gegensatz zur tierischen (al-ḥayawāniyya) und pflanzlichen (al-nabātiyya) Seele –, die seine erste Vervollkommnung ausmacht und ihn zu dem macht, was es bedeutet, der Spezies ‚Mensch‘ anzugehören. Die weitere Vervollkommnung betrifft unter anderem die Handlungen und Leidenschaften des Menschen – und hier kommt die sharīʿa ins Spiel.²⁰ Ein Leben im Einklang mit den Gesetzen der sharīʿa bedeutet für Ibn Sina ein Leben, das dem gerecht wird, was es bedeutet, ‚Mensch‘ zu sein: „Wenn die meisten Menschen (alʿāmm min al-bashar) zum Guten und zur Gerechtigkeit aufgerufen werden, dann ist es, als würden sie zu etwas aufgerufen, das der menschlichen Natur (ṭabāʿ) widerstrebt und der Bewegung ihrer tierischen Seele (nufūsihim al-ḥayawāniyya) entgegensteht, welche die rationale Seele (al-nafs al-nāṭiqa) überwältigt hat […] [und] sie gehorchen nur widerwillig.“²¹ Die sharīʿa ist bestrebt, der rationalen Seele des Menschen Herrschaft über die niederen Begierden der tierischen Seele, die ihm ebenfalls zukommt, zu verleihen, indem sie ihn praktische Weisheit lehrt.²² Das Bestreben der sharīʿa, der menschlichen Seele zu ihrer Vervollkommnung zu verhelfen, wird von Ibn Sina mit der Erlangung von Glückseligkeit (saʿāda) gleichgesetzt. Die Aneignung praktischer Weisheit trägt dazu bei, dass „das Leben des Menschen im Diesseits und im Jenseits glückselig ist“²³. Da die vollkommenste Form der Glückseligkeit jedoch erst im Jenseits angesiedelt ist, wenn die Seele sich von ihrem Körper befreit hat,²⁴ betont Ibn Sina in besonderem Maße die

 Vgl. Ibn Sina, al-Aḍḥawiyya, S. 103: „Wir sagen: Der Mensch ist nicht Mensch aufgrund seiner Materie (mādda), sondern seiner Form (ṣūra), die in seiner Materie existiert.“ Vgl. auch ebd., S. 164: „[Die Seele] ist Form und Vervollkommnung des Körpers.“  Ibn Sina, al-Shifāʾ, Kitāb al-Nafs, S. 14. Vgl. auch McGinnis, Avicenna, S. 92, zu Ibn Sinas Konzeption der Perfektion und Vervollkommnung von Dingen.  Ibn Sina, al-Aḍḥawiyya, S. 111.  Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Staaten, die vom Idealstaat und seinen Gesetzen abweichen, die Gefahr darstellen, dass ihre Bürger der Möglichkeit beraubt sind, die Vervollkommnung zu erlangen, die die sharīʿa anstrebt. Vgl. dazu Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 364: „Wer einen Staat etabliert, aber von seinen Erfordernissen nicht Bescheid weiß, beraubt die Menschen ihrer Vervollkommnung (ʿādim li-kamālāt al-nās).“  Ibn Sina, Rasāʾil, Risāla 5, S. 107.  Vgl. Ibn Sina, al-Aḍḥawiyya, S. 105: „Die Existenz der menschlichen Seele im Körper steht der wahren Glückseligkeit entgegen (yaḍād), und körperliche Freuden sind nicht wahre Freuden.“

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Bedeutung der Vervollkommnung der Seele zur Erlangung dieses Ziels: „Alle Wissenschaften (ʿulūm) haben einen gemeinsamen Nutzen: die Verwirklichung der Vervollkommnung der menschlichen Seele, um sie auf die Glückseligkeit im Jenseits vorzubereiten.“²⁵ Das Jenseits ist der ‚Ort‘, wo die Seele, die ihren Körper zurückgelassen hat, Freude oder Schmerz erfahren wird. Freude und Schmerz sind, so betont Ibn Sina, geistiger Natur und nicht, wie die meisten Menschen glauben, körperlicher.²⁶ Die größte Glückseligkeit ist den wenigen vorbehalten, denen es zu Lebzeiten vergönnt ist, nicht nur den praktischen, sondern auch den theoretischen Teil ihrer Seele zu vervollkommnen, indem sie Gott und seine Schöpfung intellektuell durchdringen; der Großteil der Menschen, die dazu nicht in der Lage ist, aber ein Leben im Gehorsam gegenüber Gottes Geboten geführt hat, darf ebenfalls auf eine gewisse Form der Glückseligkeit hoffen.²⁷ Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass die Aufgabe des Staates darin besteht, seine Bürger durch die sharīʿa in einer Weise zu vervollkommnen, dass sie die ihnen größtmögliche Glückseligkeit im Diesseits und vor allem im Jenseits erfahren können.

3 Die Staat-Kosmos-Analogie Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass es für Ibn Sina eine Parallele gibt zwischen dem Staat und dem gesamten Kosmos. Diese Parallele manifestiert sich darin, dass die Vervollkommnung, die der Prophet für die Bürger des Idealstaates anstrebt, sich im gesamten Kosmos wiederfindet, welcher ebenfalls auf seine eigene Vervollkommnung hinstrebt. Für Ibn Sina ist der gesamte Kosmos gemäß einer göttlichen Ordnung geschaffen und es ist die Aufgabe des Staates, seinen Bürgern zu ermöglichen, sich in diese den ganzen Kosmos durchdringende Ordnung einzufügen. Was ist diese Ordnung? Sie ist nach Ibn Sina „die Ordnung des Guten“²⁸ (niẓām al-khayr), die als Gottes Schöpfung aus ihm hervorfließt (fayḍ). Diese Ordnung des Guten beinhaltet zum einen, dass alles Existierende essentiell gut ist – das Böse existiert nur akzidentiell und nur insofern, als es ein Mangel an einer Perfektion ist, die dem Guten gleichkommt.²⁹ Zum anderen manifestiert sich die Ordnung des Guten durch göttliche Vorsehung so, dass die Dinge im Kosmos

 Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 1, Kapitel 3, S. 13.  Vgl. Ibn Sina, al-Aḍḥawiyya, S. 113 f.  Vgl. Adhawiyya, S. 164 f., über das Schicksal, das die verschiedenen menschlichen Seelen ereilt.  So zum Beispiel Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 4, S. 327.  Vgl. Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 6, S. 339 – 357, über das Böse.

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eine ihnen zukommende Perfektion haben, die sie gut macht und auf die sie darüber hinaus hinstreben aufgrund einer „Liebe“ (ʿishq) zu dieser Perfektion und eines „Verlangens“ (shawq), wenn sie von dieser Perfektion getrennt sind.³⁰ In diesem Sinne besteht nun die Aufgabe des Propheten darin, die Bürger des Idealstaates sich in die allumfassende göttliche Ordnung einreihen zu lassen; denn nur sehr wenigen Menschen ist es ohne die Rechtleitung des Propheten möglich zu erkennen, worin ihre eigene Vervollkommnung, die Teil der Ordnung des Guten ist, besteht.³¹ Ibn Sina geht in seiner Argumentation jedoch noch einen Schritt weiter, den ich im Folgenden verdeutlichen möchte: Denn das Bestreben des Propheten, den Menschen zu ihrer Vervollkommnung zu verhelfen, kommt bei Ibn Sina – so lautet meine These – dem Bestreben gleich, sie gottähnlich werden zu lassen. Die Vervollkommnung der menschlichen Seele ist eine Bewegung hin zum Göttlichen. Auch in dieser Hinsicht findet sich eine gewisse Parallele zwischen dem Staat und dem Kosmos, die ich nun erläutern möchte. In Ibn Sinas Kosmologie sind es die Himmelskörper, deren Streben nach Vervollkommnung ein Streben nach Gottähnlichkeit bedeutet. Dies wird im metaphysischen Teil von Ibn Sinas magnum opus, al-Shifāʾ, ersichtlich, wo er der Frage nachgeht, was die ewige, kreisförmige Bewegung der Himmelskörper verursacht. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Bewegung von der Seele (al-nafs), die „die Vervollkommnung (kamāl) und Form (ṣūra) des Himmelskörpers“³² ist, verursacht wird. (Die Seele des Himmelskörpers hat damit dieselbe Funktion wie die tierische Seele des Menschen.) Ihr geht jedoch ein Intellekt (al-ʿaql) voraus, der den Himmelskörper mittels (bi-tawassuṭ) der Seele bewegt. Die Bewegung, die vom Intellekt hervorgerufen wird, ist eine Folge dessen, dass der Intellekt etwas liebt (maʿshūq) und das damit für ihn ein erstrebenswertes Gut (al-khayr) darstellt. Der Gegenstand seiner Liebe ist Gott als das höchste Gut. Die Liebe des Intellekts zu Gott drückt sich darin aus, dass er versucht, gottähnlich zu werden: „Das Ziel [der Himmelskörper] ist die Ähnlichwerdung (al-tashabbuh) mit dem Ersten (Ge-

 Ibn Sina, al-Ishārāt, al-Taṣawwuf, S. 46.  Die Erkenntnis der „Ordnung des Guten“ bedarf der Vervollkommnung des theoretischen Intellekts – etwas, das Ibn Sina den meisten Menschen abspricht. Darüber hinaus haben die meisten Menschen ihm gemäß ebenfalls eine korrumpierte Vorstellung dessen, was gut und was verwerflich ist (im moralischen Sinne), sodass es des Propheten und der sharīʿa bedarf, um sie zumindest in dieser Hinsicht auf den rechten Weg zu bringen. Vgl. dazu Ibn Sina, al-Shifāʾ, alIlāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 365: „Der Prophet darf die Menschen nicht ihren eigenen Meinungen bezüglich der Gesetze überlassen, da sie sonst miteinander uneins werden und jeder das als Gerechtigkeit ansieht, was ihm zusteht, und das als Ungerechtigkeit, was er anderen schuldet.“  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 2, S. 311.

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priesen sei er!) [d. h. Gott], soweit es ihnen möglich ist.“³³ Den Vorgang der Ähnlichwerdung beschreibt Ibn Sina so: „Diesem Gut ähnlich werden (al-tashabbuh) bedeutet, dass die Essenz dieses Gutes in ihrer Vollkommenheit (kamāl) intellektuell erfasst wird, bis man ihm ähnlich wird (fa-yaṣīru mithlahu) insofern, als man die Vollkommenheit erlangt, die einem möglich und gemäß ist, in derselben Weise wie das, was man liebt (maʿshūq), Vollkommenheit hat.“³⁴ Das Nachdenken der Himmelskörper über Gott, der reine Aktualität ist, lässt ihre nie zu Ende gehende kreisförmige Bewegung entstehen, die den Versuch darstellt, ihre eigene Vollkommenheit vollständig zu aktualisieren. Der wesentliche Punkt in Ibn Sinas Darstellung ist jedoch, dass das Streben nach Vervollkommnung als ein Streben, gottähnlich zu werden, verstanden wird.³⁵ Wenngleich Ibn Sina diesen Gedanken bezüglich der Vervollkommnung der Bürger des Idealstaates nicht explizit zum Ausdruck bringt, so möchte ich im Folgenden darlegen, dass er genau das im Sinn hat. Verdeutlichen möchte ich dies an der Person des Propheten. Der Prophet steht nach Ibn Sina an der Spitze des Staates. Er ist seinen Bürgern ein Beispiel, an dem sie sich orientieren sollen und das es nachzuahmen gilt. Der Prophet wird explizit so beschrieben, dass er „Gottähnlichkeit“³⁶ (taʾalluh) besitzt und „Gottes Repräsentant“³⁷ (khalīfat Allāh) auf Erden ist. Daraus folgt, wie ich aufzeigen möchte, dass die Vervollkommnung der Bürger – wie auch im Falle der Himmelskörper – sich letztendlich im Hinblick auf Gott vollzieht und im Bestreben kulminiert, Gott soweit wie möglich ähnlich zu werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit der Prophet als ein solcher Mensch angesehen werden kann, der die größtmögliche Gottähnlichkeit erlangt hat.

 Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 2, S. 315.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 2, S. 314.  Es scheint hier angebracht zu betonen, dass es den Anschein hat, dass in Ibn Sinas Kosmologie nur Wesen, die die Fähigkeit zur intellektuellen Reflexion haben, wirklich nach Gottähnlichkeit streben können. Das Streben nach Gottähnlichkeit bedarf der Fähigkeit, Gott in seiner Perfektion zu begreifen, was wiederum eines Intellekts bedarf. Pflanzen zum Beispiel, deren Seele dazu nicht in der Lage ist, scheinen ihre Vervollkommnung nicht mit Blick auf Gott erstreben zu können. Dennoch reihen auch sie sich in die „Ordnung des Guten“ ein, die der gesamten Schöpfung zugrunde liegt, wenn sie die ihnen gemäße Vervollkommnung anstreben und erlangen.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 3, S. 370. ‚Gottähnlichkeit‘ scheint hier eine treffendere Übersetzung zu sein als ‚Göttlichkeit‘ (so von Marmura übersetzt mit divinity), was im Arabischen durch den Terminus ilāhiyya ausgedrückt wird. Der Begriff taʾalluh scheint mir durch seinen fünften Stamm ausdrücken zu wollen, dass der Prophet sich aus seiner eigenen Kraft heraus sozusagen im Prozess der Angleichung an Gott und seine ilāhiyya befindet.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 5, S. 378.

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Betrachten wir zunächst die folgende Aussage Ibn Sinas: Dem Propheten ist von Gott aufgetragen, dass er die Verehrung Gottes zur Pflicht macht. Der Nutzen der Verehrung besteht darin, dass die Bürger dadurch an den Gesetzen und der sharīʿa festhalten, welche die Ursachen für ihre Existenz (asbāb wujūdihim) sind […]. Diesem Menschen [d. h. dem Propheten] ist gänzlich die Lenkung (tadbīr) der Umstände der Bürger auferlegt […] und er ist ein Mensch, der sich von allen anderen Menschen durch seine Gottähnlichkeit (taʾalluh) unterscheidet.³⁸

Die oben erwähnte Gottähnlichkeit, die Ibn Sina dem Propheten zuspricht, ist an dieser Stelle mit zwei zusammengehörigen Dingen verbunden: Zum einen beschreibt Ibn Sina die Bedeutung der sharīʿa damit, die „Ursache[n] für die Existenz [der Bürger]“ darzustellen.Wir erinnern uns: Ibn Sina betrachtet die Sendung des Propheten und die sharīʿa als eine Konsequenz göttlicher Fürsorge, ohne die die Menschen nicht mehr Mensch, sondern „zu einer gänzlich verschiedenen Gattung“³⁹ würden. An anderer Stelle spricht Ibn Sina von der „Bedürftigkeit (ḥāja) der menschlichen Spezies – hinsichtlich ihrer Existenz, ihres Fortbestehens und ihres Übergangs in das Jenseits – nach der sharīʿa“⁴⁰. Dem Propheten wird damit gleichsam im Staat die Rolle zuteil, die auf der Ebene des gesamten Kosmos Gott zukommt: die Sorge um die Existenz und das Fortbestehen aller Dinge. Zum anderen kommt nach Ibn Sina dem Propheten die Aufgabe zu, das Leben der Bürger im Staat zu leiten und zu organisieren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der arabische Begriff tadbīr, den Ibn Sina ebenfalls gebraucht, wenn er über Gottes „Leitung“ oder „Herrschaft“ über den ganzen Kosmos spricht. So schreibt er zum Beispiel, dass „das, worum es der Metaphysik geht, Wissen von der Leitung/Herrschaft (tadbīr) des Schöpfers (Gepriesen sei er!) ist“⁴¹. Ebenso spricht er vom „Hervorgehen aller Dinge aus der ersten Lenkung (al-tadbīr al-awwal)“⁴² bezüglich der Emanation der „Ordnung des Guten“ aus Gott. Erneut wird dem Propheten insofern Gottähnlichkeit zugesprochen, als er bestimmte schöpferische Eigenschaften Gottes auf Ebene des Staates in sich verkörpert. Ähnlich wie Ibn Sinas bereits erwähnte Feststellung, dass der Prophet „ein Mensch [ist], der sich von allen anderen Menschen durch seine Gottähnlichkeit (taʾalluh) unterscheidet“, findet sich im letzten Satz seiner Metaphysik eine weitere Aussage, die den Propheten in expliziter Weise in die Nähe Gottes rückt. Ibn Sina beschreibt hier den Propheten als einen „Herrn in Menschengestalt (rabb

    

Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 3, S. 369 f. Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 364. Ibn Sina, Rasāʾil, Risāla 5, S. 108. Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 1, Kapitel 3, S. 14 f. Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 1, S. 299.

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insānī), dessen Verehrung nach [der Verehrung] Gott[es] (Gelobt sei er!) beinahe erlaubt ist (kāda an tuḥill ʿibādatuhu)“⁴³. Nicht nur weist der arabische Terminus für ‚Herr‘ – genauso wie der Begriff taʾalluh – unmissverständlich auf diese Nähe zu Gott hin, sondern auch die Tatsache, dass Ibn Sina den Propheten, neben Gott, als beinahe verehrungswürdig ansieht. Meiner Ansicht nach gibt es für Ibn Sina mehrere Gründe, weshalb er den Propheten in dieser Weise beschreibt. Sie verdeutlichen, in welcher Hinsicht Ibn Sina dem Propheten Gottähnlichkeit zuspricht. Der erste Grund ist, dass für Ibn Sina eine Verbindung besteht zwischen Gottes Rolle als Schöpfer, seinem Recht, Regeln aufzustellen und der Pflicht der Menschen, ihm und diesen Regeln zu gehorchen. Ibn Sina schreibt: „Es ist Gottes Recht, dass seinen Befehlen gehorcht wird – denn derjenige, der die Schöpfung hervorbringt, hat das Recht zu befehlen.“⁴⁴ Diesen Gedankengang überträgt Ibn Sina auch auf den Propheten, der, wie bereits erwähnt, Gott in seiner Rolle als Schöpfer ähnelt – Gott in Bezug auf den Kosmos, der Prophet in Bezug auf den Staat –, insofern, als er den Bürgern Gesetze gibt, die, wie er sagt, die Ursache ihrer Existenz sind. Aus diesem Grund verdient es der Prophet, dass ihm die Bürger gehorchen. Das Element der Verehrung kommt hinzu, wenn Ibn Sina eine Verbindung mit Gottes Recht (und damit auch mit dem Recht des Propheten) herstellt, Gehorsam einzufordern: Beide gehören zusammen und Verehrung ist im Grunde eine Art, Gehorsam zu erweisen. Im folgenden Zitat wird dieser Gedankengang ersichtlich: „Dem Kind ist es auferlegt, seinen Eltern zu dienen, ihnen zu gehorchen, sie zu rühmen (ikbār) und zu verehren (ijlāl), da sie die Ursache seiner Existenz (sabab wujūdihi) sind.“⁴⁵ (Zugegebenermaßen ist in diesem Zitat nicht von ‚Verehrung‘ im Sinne von ʿibāda die Rede, was nicht erstaunlich ist, da diese Form der Verehrung Gott vorbehalten ist. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass ʿibāda als die höchste Form jeglicher Verehrung angesehen wird.) Die Verehrungswürdigkeit, die dem Propheten laut Ibn Sina beinahe zukommt, weist darauf hin, inwiefern er Gottähnlichkeit besitzt. Der weitere Grund, weswegen der Prophet laut Ibn Sina beinahe der Verehrung würdig ist und damit auf die Ebene des Göttlichen erhoben wird, ist meiner Ansicht nach der Folgende: In dem Abschnitt, in dem Ibn Sina den Propheten einen „Herrn in Menschengestalt“ nennt, erklärt er auch, dass der Prophet in sich nicht nur alle praktischen Tugenden vereint, sondern auch alle theoretischen. Darin unterscheidet er sich von der Mehrheit der Menschen, deren Vervoll-

 Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 5, S. 378.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 2, S. 365.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 4, S. 374.

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kommnung sich – wenn überhaupt – auf den praktischen Intellekt beschränkt. Im Falle des Propheten sieht das jedoch anders aus: Alle Aspekte seiner Seele haben Vollkommenheit erlangt. Der Prophet ist damit zum Inbegriff des perfekten Menschen geworden: „Der beste unter den Menschen ist derjenige, dessen Seele Vollkommenheit erlangt hat, indem sie ein aktiver Intellekt (ʿaql bi’l-fiʿl) geworden ist [sodass das theoretische Vermögen der Seele Vollkommenheit erlangt hat], und der die Sitten (akhlāq) erworben hat, die die praktischen Tugenden (faḍāʾil ʿamaliyya) ausmachen [sodass das praktische Vermögen der Seele Vollkommenheit erlangt hat].“⁴⁶ Die Vervollkommnung sowohl des praktischen als auch des theoretischen Intellekts des Propheten ist von besonderer Bedeutung, denn sie impliziert: „[Die Seele des Propheten] wird zu einer geistigen Welt (ʿālam ʿaqlī), in die die Formen aller Dinge, die Ordnung aller Dinge […] und das Gute, das auf alle Dinge ausströmt, eingeschrieben sind […], sodass die Ordnung alles Existierenden seine Seele erfüllt. Seine Seele wird so zu einer geistigen Welt, die die gesamte existierende Welt widerspiegelt.“⁴⁷ Es kann nicht übersehen werden, wie sehr die Beschreibung dieses Zustandes der Seele des Propheten der Beschreibung Gottes ähnelt: Gott, so Ibn Sina, ist „das Prinzip der Ordnung des Guten in den existierenden Dingen und er [d. h. Gott] erfasst daher geistig die Ordnung des Guten in den existierenden Dingen“⁴⁸. Der Prophet ähnelt Gott also darin, dass er, wie Gott, die Ordnung, die der gesamten Schöpfung zugrunde liegt, erfasst und durchdringt, nämlich: „die Ordnung des Guten“. Diese Erkenntnis führt dazu, dass der Prophet die Schöpferrolle Gottes auf der Ebene des Staates nachahmt. Diese Gottähnlichkeit rechtfertigt, so Ibn Sina, dass der Prophet beinahe der Verehrung würdig ist. Um ein Zwischenfazit zu ziehen: In den bisherigen Ausführungen ging es um die Frage, worin die Funktion des Idealstaates bei Ibn Sina besteht. Dabei habe ich gezeigt, dass Ibn Sina in der Vervollkommnung der Bürger, die der Prophet anstrebt, den Versuch sieht, sie gottähnlich werden zu lassen – natürlich im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten, wie er selbst immer wieder betont. Der entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang besteht darin, dass der Prophet, der den Bürgern als Beispiel dienen soll, von Ibn Sina als gottähnlich beschrieben wird. Bemerkenswert ist, dass das Bestreben des Propheten seine Parallele im gesamten Kosmos findet, der ebenfalls auf seine eigene Vervollkommnung aus ist. Im Falle der Himmelskörper besteht die Vervollkommnung ebenfalls darin, Gott Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 10, Kapitel 1, S. 358 f.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 7, S. 350. Ibn Sina spricht in diesem Zitat selbst von der „rationalen Seele“ (al-nafs al-nāṭiqa), die allen Menschen zukommt, und was ihre Vervollkommnung beinhalten würde. Der Prophet hat diese Vervollkommnung natürlich erreicht.  Ibn Sina, al-Shifāʾ, al-Ilāhiyyāt, Buch 9, Kapitel 4, S. 327.

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ähnlichkeit zu erlangen. Dies bedeutet, dass der Prozess der Vervollkommnung und des Gott-ähnlich-Werdens in gewisser Weise eine zweifache Bewegung darstellt: Das Göttliche kommt hinab in die geschaffene Welt, während das Geschaffene (und insbesondere das Menschliche) aufsteigt und sich dem Göttlichen annähert – die Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichen verschwimmen dabei.

4 Die fiṭra und die göttliche Weltordnung Die Idee der Vergöttlichung des Menschen und des Kosmos existierte bekanntermaßen bereits vor Ibn Sina in verschiedenen Traditionen. Und natürlich kann davon ausgegangen werden, dass Ibn Sina in diesen Traditionen eine Inspiration für seine Philosophie gefunden hat.⁴⁹ Gleichwohl möchte ich am Ende dieses Beitrags darauf hinweisen, dass Ibn Sinas Vorstellung einer göttlichen Ordnung, die den gesamten Kosmos durchzieht und in die sich einzufügen die Aufgabe aller Menschen ist, eine Idee reflektiert, die sich auch im Koran findet und vor und nach Ibn Sina von islamischen Theologen (mutakallimūn) diskutiert wurde. Auf der Grundlage der folgenden zwei koranischen Verse argumentierten islamische Theologen, dass alle Menschen von Gott mit einer bestimmten Natur oder einer bestimmten Veranlagung geschaffen sind: Q. 30:30 fordert auf „So richte dein Antlitz in aufrichtiger Weise auf den Glauben, im Einklang mit der natürlichen Veranlagung (fiṭra), mit der Gott die Menschen geschaffen hat. Es gibt keine Veränderung von Gottes Schöpfung“ und Q. 7:172 berichtet „Und als dein Herr aus den Kindern Adams, aus ihren Lenden, ihre Nachkommen hervorbrachte und sie gegen sich selbst bekennen ließ, indem er sprach: ,Bin ich nicht euer aller Herr?‘, da sagten sie: ,Ja, wir bezeugen es‘“. Islamische Theologen übernahmen den koranischen Begriff der fiṭra aus Q. 30:30 für diese natürliche Veranlagung der Menschen, die sie als eine Bewegung hin zur Anerkennung Gottes als Schöpfer und absoluter Herr ansahen. Dies setzten sie dann häufig mit der Religion des Islam gleich.⁵⁰ Dieselbe Veranlagung, so wurde oftmals argumentiert,

 Vgl. Sedley, Teleology, u. Sedley, Ideal, für eine Analyse dieses Gedankens bei Platon und Aristoteles; Reydams-Schils, God, mit Bezug auf den Platonismus und Stoizismus; Berman, Interpretation, mit Bezug auf die griechische Philosophie und ihre Rezeption durch al-Fārābī; Koester, Divine, mit Bezug auf die christliche Tradition der Imitatio Christi. Vgl. auch Adamson, State, für die Analogie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos (Kosmos und Staat) in der griechischen Philosophie.  Vgl. al-Ṭabarī, Tafsīr, Band 18, S. 492– 497, Kommentar zu Q. 30:30 (wo auch auf Q. 7:172 Bezug genommen wird), der die Position verschiedener Exegeten zitiert, die die fiṭra mit dem Islam

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durchzieht auch den Rest der Schöpfung, wie zwei weitere koranische Verse nahelegen: Q. 3:83 postuliert „Ihm [d. h. Gott] unterwirft sich, was auch immer in den Himmeln und auf der Erde ist, freiwillig oder wider Willen“, während Q. 41:11 berichtet: „Dann wandte Gott sich zum Himmel, der Nebel war, und sprach zu ihm und zur Erde: ,Kommt, ihr beide, freiwillig oder wider Willen!‘ Beide sprachen: ‚Wir kommen freiwillig‘.“⁵¹ Im Verständnis der Theologen hat Gott den gesamten Kosmos gemäß der Ordnung geschaffen, die der Veranlagung hin zur Anerkennung seiner absoluten Herrschaft gleichkommt. Die Tatsache, dass viele Menschen sich Gottes Herrschaft nicht unterwerfen – im Gegensatz zum Kosmos, dem diese Art der Verweigerung eher unbekannt ist –, bestätigte für diese Theologen, dass es von Gott gesandter Propheten bedarf, die die Menschen auf den richtigen Weg führen, sodass diese sich in die göttliche Weltordnung einfügen können. Die Parallele zwischen Ibn Sinas Vorstellung einer göttlichen Weltordnung und der Vorstellung der Theologen, die explizit auf den Koran Bezug nehmen, ist offensichtlich, selbst wenn sich die verschiedenen Denker darin unterscheiden mögen, worin im Detail diese Ordnung besteht.⁵² Der Vergleich Ibn Sinas mit den Theologen (und dem Koran selbst) zeigt in anschaulicher Weise, wie sehr seinen philosophischen Überlegungen ein religiös motiviertes Weltbild zugrunde liegt. Darüber hinaus zeigt sich, dass Ibn Sinas Bereitschaft, Ideen und Konzepte aus anderen Traditionen zu übernehmen, stets mit Blick auf ihre Vereinbarkeit und Übereinstimmung mit diesem religiösen Weltbild geschieht. Dies wird nicht zuletzt aus Ibn Sinas politischer Philosophie ersichtlich.

gleichsetzen. Vgl. Adang, Islam, über das Konzept der fiṭra in der islamischen Theologie; Griffel, Al-Ghazālī’s Use, über dasselbe Konzept bei bestimmten islamischen Theologen und Philosophen.  Vgl. al-Ṭabarī, Tafsīr, Band 5, S. 548 – 553, Kommentar zu Q. 3:83. Die Übersetzungen koranischer Verse sind meine eigenen.  Islamische Theologen betonen in der Regel den Aspekt der fiṭra und der göttlichen Weltordnung, der mit der Anerkennung Gottes absoluter Herrschaft zu tun hat, während Ibn Sina eher das Streben auf Gott und seine Perfektion hin betont, was er als ein sich Einreihen in die „Ordnung des Guten“ versteht. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass Ibn Sina selbst in mehreren Werken eine eigene Exegese verschiedener Koranverse vorlegt. Vgl. dazu Janssens, Avicenna; De Smet u. Sebti, Approach.

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Literaturverzeichnis Quellen Al-Ṭabarī, Abū Jaʿfar Muḥammad b. Jarīr: Tafsīr al-Ṭabarī. Jāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān. Hrsg. von ʿAbd Allāh ʿAbd al-Ḥasan al-Turkī. Al-Qāhira 2001. Ibn Sina, Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh: ʿUyūn al-ḥikma. Hrsg. von ʿAbd al-Raḥmān Badawī. 2. Aufl. Al-Kuwayt, Bayrūt 1980. Ibn Sina, Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh: al-Aḍḥawiyya fī al-maʿād. Hrsg. von Ḥasan ʿĀṣī. 1. Aufl. Tehrān 1962. Ibn Sina, Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh: Tisʿ rasāʾil fī al-ḥikma wa’l-ṭabīʿiyyāt. 2. Aufl. Al-Qāhira. Ibn Sina, Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh: The Metaphysics of the Healing (al-Shifāʾ: al-Ilāhiyyāt). A Parallel English-Arabic Text Translated, Introduced, and Annotated by Michael E. Marmura. Provo, Utah 2005. Ibn Sina, Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh: al-Shifāʾ, al-Ṭabīʿiyyat, Kitāb al-Nafs. Paris, Beyrouth 1988. Ibn Sina, Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh: al-Ishārāt wa’l-tanbīhāt: al-Taṣawwuf. Hrsg. von Sulaymān Dunyā. 2. Aufl. Al-Qāhira 1968.

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Magdalena Butz

Maria an der Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz Überlegungen zur Rezeption des Alanus ab Insulis in Heinrichs von St. Gallen Marienleben

1 Maria: Gottesmutter ‒ Mediatrix ‒ Immaculata Maria ist in ihrer Bedeutung für Frömmigkeitspraxis, Lehre und Alltag des christlichen Mittelalters kaum zu überschätzen. Keine andere biblische Figur, schon gar keine andere weibliche, nimmt in der christlichen Lehre, im religiösen und gesellschaftlichen Leben und auch in der Kunst so viel Raum ein wie Maria.¹ Sie hat eine Sonderstellung inne, die sie vor allen Menschen auszeichnet: Ihr Status als Gottesgebärerin, Jungfrau und Mutter, Schwester und Braut, Gebärende und Geborene des Erlösers ist singulär,² selbst Propheten und Märtyrer stehen der

 Vgl. hierzu die kritischen Überlegungen von Schreiner, Maria, S. 493 – 509. Die unzähligen Zeugnisse der Marienverehrung ganz unterschiedlicher Provenienz und Funktion ‒ von der Hymnik bis zur Marienleben-Dichtung, von der Monumentalkunst bis zum Andachtsbildchen, von den liturgischen Marienfesten über das Wallfahrtswesen bis hin zum Rosenkranz ‒ geben davon beredtes Zeugnis. Sie auch nur streiflichtartig zu behandeln, wäre rahmensprengend. Stellvertretend sei verwiesen auf die umfassende Studie von Schreiner, Maria, mit weiterführender Literatur und Delius, Marienverehrung; vgl. außerdem die Überblicksdarstellungen bei Daxelmüller, Marienverehrung, Sp. 251– 255; Nauerth, Maria, Sp. 100 – 121; Meßner, Maria in der Liturgie, Sp. 249 – 251; Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 119 – 137; Lechner, Maria Ikonographie, Sp. 259 – 262; sowie die Beiträge des Sammelbandes Opitz u. a. (Hrsg.), Maria in der Welt.  Zu diesen „Eigenschaften und Rollen, die bei keiner anderen Frau zusammenliegen, die entweder einander abfolgen oder zumindest ein anderes Gegenüber voraussetzen“ (Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 123), in Maria jedoch symbiotisch und gleichzeitig vorliegen, sowie zu den zahlreichen weiteren, oftmals erst später hinzugetretenen Eigenschaften, Titeln und Zuschreibungen vgl. (mit jeweils unterschiedlichen Akzenten) Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 122 f.; Söll, Mariologie; Delius, Marienverehrung, S. 52– 190; sowie Kern, Trinität, Maria, Inkarnation, S. 81– 138. Im Anschluss daran stilisieren die auf apokryphen Quellen fußenden Marienleben Maria nicht nur zum Exempel vorbildlicher Weiblichkeit schlechthin ‒ für Jungfrauen, Ehefrauen und Witwen jeden Standes ‒, auch ist Marias (imaginierte) Lebensführung beispielhaft für die klösterliche Lebensform geistlich lebender Frauen; vgl. etwa Schmolinsky, Imaginationen, S. 81– 93; zur Gattung des Marienlebens in der Kunst vgl. Nitz, Marienleben, https://doi.org/10.1515/9783110605389-005

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Königin über Himmel und Erde nach Einschätzung der mittelalterlichen Kirche nach. Auf Maria, die mater misericordiae, richtet sich die gläubige Hoffnung auf irdisches Wohl und jenseitiges Heil, denn in der ihr zugeschriebenen Rolle als Vermittlerin (Mediatrix) kann sie für die Hilfsbedürftigen Fürsprache bei ihrem Sohn einlegen und Gnade erwirken ‒ sie ist das Bindeglied zwischen Mensch und Gott, sie „verbindet als Hals (collum) das Haupt der Kirche Christus (caput) mit den Gläubigen (membra), so daß ein Leib (corpus) entsteht“³. Versehen mit Titeln wie reconciliatrix mundi, Regina coelorum, immaculata, salvatrix, redemptrix oder socia passionis, ist Maria aufgrund ihrer herausragenden, einzigartigen Eigenschaften, ihrer Auserwähltheit und ihrer Verdienste beim Inkarnationsgeschehen schließlich Gegenstand gläubiger Verehrung und Lobpreisung, ja bisweilen sogar Anbetung.⁴ Während die Gottesmutterschaft Marias und ihre jungfräuliche Empfängnis Jesu schon in der altkirchlichen Zeit dogmatisiert wurden und zum festen Glaubensbestandteil geworden waren,⁵ ist die Frage nach der Reinigung bzw. Freiheit Marias von der Erbsünde gerade im Hoch- und Spätmittelalter Gegenstand reger mariologischer Auseinandersetzungen, die erst 1854 mit der Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Marias⁶ durch Papst Pius IX. ein Ende finden. Ausgangspunkt war die weitverbreitete, auf der Heiligen Schrift fußende Überzeugung, Maria sei aufgrund ihres Verdienstes und ihrer Teilhabe am Inkarnationsgeschehen durch das Wirken des Heiligen Geistes geläutert und in den Zustand

Sp. 212– 233; in der (deutschen) Literatur Gärtner, Maria. Literarisch. Deutsch, Sp. 269 f.; vgl. auch die Übersicht bei Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 395 – 433.  Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 128; vgl. auch Scheffczyk, Mariologie, Sp. 248.  Die Grenzen zwischen Verehrung einerseits und Anbetung Marias andererseits erwiesen sich nachgerade als fließend, wo die Mariengestalt sich verselbständigte und sie in den ihr zugeschriebenen Rollen und Eigenschaften ohne eine enge christologische Einbindung gepriesen wurde ‒ eine Gefahr, die Theologen wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin nachhaltig einzudämmen bestrebt waren. Vgl. etwa Daxelmüller, Marienverehrung, Sp. 251 f.; Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 127 f.; und Scheffczyk, Mariologie, Sp. 247 f.  Vgl. Söll, Mariologie, S. 41– 134; Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 120 – 122; Courth, Maria. Dogmatisch, S. 143 – 145; Biedermann, Maria. Frühchristentum, Sp. 243 f.  Der Begriff der Unbefleckten Empfängnis Marias „meint nicht, daß Maria Jesus jungfräulich empfangen hat od[er] selbst ohne männl[iche] Mitwirkung ins Dasein getreten wäre, sondern das Dogma, daß Maria ‚im ersten Augenblick ihrer [eigenen, sie selbst ins Dasein führenden] Empfängnis […] von jeglichem Makel der Urschuld unversehrt bewahrt wurde‘“ (Courth, Unbefleckte Empfängnis I, Sp. 376; Courth übersetzt hier die zentrale Stelle aus Piusʼ IX. Bulle zur Erklärung des Dogmas der Unbefleckten Empfängnis von 1854, vgl. Pius IX., Ineffabilis Deus, S. 616). Die Geschichte der Immaculata-Lehre nachzuzeichnen, ist nicht Ziel dieses Beitrags. Erwähnt werden deshalb nur einige Eckpunkte derselben, die für das Verständnis des Folgenden dienlich sind.

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der Gnade versetzt worden.⁷ Modus und Zeitpunkt dieser Läuterung und Begnadigung verlangten jedoch nach theologischer Klärung. Zwar wurde in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten als Moment der Reinigung und Heiligung Marias die Stunde der Verkündigung angesehen, jedoch suchten östliche sowie westliche Theologen nach Anhaltspunkten für eine möglichst frühe Reinigung und also Sündenfreiheit der Gottesgebärerin. Da man glaubte, den biblischen Schriften entnehmen zu können, Jeremias und Johannes der Täufer seien bereits in utero geheiligt worden, war man entsprechend dem argumentum a fortiori bemüht, Maria eine mindestens ebenso frühe Heiligung zuzuschreiben wie diesen und den Zeitpunkt ihrer totalen Reinigung noch vor die Verkündigungsstunde, ja sogar vor ihre eigene Geburt zurückzudatieren.⁸ Dabei versuchte man, den Zeitraum zwischen Befleckung und Heiligung auf eine nur infinitesimale Ausdehnung zu reduzieren, wobei der genaue Zeitpunkt der hierbei vorausgesetzten Infektion Marias mit der Erbsünde davon abhängig war, ob man diese mit der leiblichen Zeugung in Verbindung brachte oder „erst mit der Vereinigung von Leib und Seele als gegeben sah und ihr Wesen nicht in Infektionen der caro, sondern im seelischen Defekt der ‚absentia debitae iustitiae‘ erblickte“⁹. Die Tatsache, dass Maria tatsächlich mit der Erbsünde befleckt war, stand dabei vorerst nicht zur Debatte. Anselms von Canterbury Schüler Eadmer sprach sich hingegen dafür aus, dass Maria bereits von der Erbsünde unbefleckt empfangen worden sei,¹⁰ und formulierte damit eine Überzeugung, die derjenigen von der Befleckung und anschließenden Reinigung Marias ‒ sei es in utero oder erst bei der Verkündigung ‒ diametral entgegenstand. Eadmer und anderen Vertretern dieser These wurde in der Scholastik allerdings damit widersprochen, dass ihre Ansicht unvereinbar mit der Universalität der Erlösung sei und Christi Würde als Erlöser herabsetze.¹¹

 Vgl. Courth, Maria. Dogmatisch, S. 145 f.; und Söll, Mariologie, S. 164. Zur biblischen Grundlage und frühen Entwicklung vgl. Courth, Unbefleckte Empfängnis I, Sp. 377; und Söll, Mariologie, S. 137– 144.  Vgl. besonders Söll, Mariologie, S. 165.  Söll, Mariologie, S. 167. Einen Überblick über die Entwicklung der Erbsündenlehre und deren Begrifflichkeiten geben etwa Holze, Sünde/Schuld VI.2, Sp. 1883 – 1886; Laarmann, Schuld, Sp. 1578 – 1580; Saarinen, Erbsünde, Sp. 1394– 1396; Scheffczyk, Erbsünde, Sp. 2118 – 2120; sowie Scheffczyk, Sünde, Sp. 315 – 319.  Vgl. etwa Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 126 f.; Söll, Mariologie, S. 167, und Scheffczyk, Mariologie, Sp. 247.  So besonders Bonaventura, Albertus Magnus und Thomas von Aquino, vgl. Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 127; Scheffczyk, Mariologie, Sp. 249; Söll, Mariologie, S. 175.

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Zu Beginn des 14. Jahrhunderts untermauerte aber schließlich der Franziskaner Johannes Duns Scotus seine Argumentation zugunsten der Unbefleckten Empfängnis Marias gerade durch die Einbeziehung ebendieses Einwands von der Universalität der Erlösung. Duns Scotus argumentierte nicht zuletzt damit, dass die Gottesmutter durch die vorausgreifende Erlösung in die ursprüngliche Gottesgemeinschaft empfangen und vor der Erbsünde bewahrt wurde.¹² Einer Erlösung aber sei Maria wie alle anderen Menschen bedürftig gewesen ‒ und ohne diesen Vorausgriff wäre sie aufgrund ihrer natürlichen Abstammung von Adam der Erbsünde verfallen. Christus habe sich also durchaus auch an Maria als Erlöser erwiesen, jedoch auf eine besondere Art, denn diese vor der Sünde bewahrende Erlösung sei noch vollkommener als eine, die lediglich von der bereits empfangenen Sünde befreie.¹³ Durch diese Lehre von der Vorherbewahrung (praeservatio) und Vorhererlösung (praeredemptio) der Gottesmutter durch ihren Sohn war das Ringen um die Immaculata Conceptio zwar längst noch nicht beendet, ein wesentlicher Vorstoß zur Durchsetzung dieser Lehre, die bald immer mehr Verbreitung und Anerkennung fand, aber geleistet.¹⁴ Etwa ein Jahrhundert nach der Lehrtätigkeit des Duns Scotus entstand das Heinrich von St. Gallen zugeschriebene¹⁵ Marienleben in Prosa mit dem Incipit

 Vgl. Courth, Unbefleckte Empfängnis I, Sp. 378.  Dazu etwa Courth, Maria. Dogmatisch, S. 146. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Grote, Maria. Kirchengeschichtlich, S. 127, und Söll, Mariologie, S. 174– 177. Zudem machte der Franziskaner die Erörterungen über die Vorgänge zwischen Zeugung und Beseelung hinfällig und argumentierte, „dass mit der conceptio auch die creatio der Seele stattfinden konnte und dass es durchaus entsprechend gewesen wäre, dass dann der Seele die Gnade eingegossen wurde, deretwegen sie keinerlei Infektion vom Fleisch oder Körper empfangen habe“ (Söll, Mariologie, S. 176).  Die Lehre des Duns Scotus „erwies sich als so wirksam, dass das Konzil von Basel 1438 […] das Fest und die Lehre der Unbefleckten Empfängnis billigte“ (Scheffczyk, Mariologie, Sp. 249). Zur (der Lehre teilweise sogar vorausgehenden) Verbreitung dieser Auffassung auch im Volksglauben und -brauch vgl. besonders Söll, Mariologie, S. 164– 215.  Die Verfasserfrage ist bis heute nicht letztgültig geklärt, ein Autorname nicht überliefert. Lediglich das Kolophon einer Handschrift (München, Universitätsbibl., 4° Cod. ms. 478) liefert Hinweise auf Heinrich von St. Gallen als möglichen Autor; vgl. Ruh, Compendium als Quelle, S. 110, und Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 46 f. Eine Reihe überlieferungsgeschichtlicher, formaler und thematischer Ähnlichkeiten zu insbesondere der MagnificatAuslegung und dem Extendit manum-Passionstraktat Heinrichs von St. Gallen machen jedoch eine Verfasserschaft des Prager Magisters und Predigers äußerst wahrscheinlich, wobei das Marienleben wohl zwischen 1410 und 1420, also nach Heinrichs Fortgang aus Prag, entstanden ist. Vgl. die ausführliche Diskussion bei Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 367– 392, insb. S. 383‒390, sowie Ruh, Studien I, S. 210 – 229, insb. S. 227 f.

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„Do got der vater geschuff Adam vnd Eua“¹⁶. Der volkssprachliche Text greift die Frage nach der Unbefleckten Empfängnis noch einmal auf und verbindet sie auf einzigartige Weise mit der auf Alanusʼ ab Insulis Anticlaudianus ¹⁷ fußenden Erzählung vom Plan Naturas, einen neuen, idealen Menschen zu erschaffen. An die Stelle der in der alan’schen Dichtung verhandelten naturphilosophischen, theologischen und epistemologischen Diskurse des 12. Jahrhunderts tritt dabei, wie ich zeigen möchte, der zeitgenössische mariologische Diskurs um die Immaculata Conceptio.¹⁸ In der nachstehenden Untersuchung werde ich zeigen, wie Heinrich die von ihm dargebotene Heilsgeschichte mit der Anticlaudianus-Handlung engführt und die bei Alanus nicht näher spezifizierte Figur des homo novus et perfectus in eine konkrete historische Figur, nämlich in Maria, transformiert. Im Zuge dieser  Die Forschung zu Heinrichs Darstellung des Lebens der Gottesmutter, das „im exegetischen Gespräch m[ittel]al[terlicher] Autoritäten eine theologisch fundierte volkstümlich-erbauliche Auslegung [erfährt]“ (Hilg u. a., Heinrich von St. Gallen, Sp. 743), ist überschaubar und befasst sich zu großen Teilen mit Fragen der Überlieferung, Textvarianz, Verfasserschaft und Edition (etwa die Ausgaben Hörner, Kompilation; und Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben; Erwähnungen bei Ruh, Studien I; und Ruh, Studien II u. III). Nur wenige Studien behandeln einzelne Passagen des Marienlebens unter anderen Gesichtspunkten (vgl. etwa Ruh, Compendium als Quelle, S. 109 – 116, und Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 236 – 243 [beide zur AlanusRezeption]; Kesting, Maria als Buch, S. 122 – 147 [zum zweiten Kapitel des Marienlebens]; Montag, Brigitta von Schweden, S. 23 [zur Rezeption Brigittas von Schweden] oder Reichlin, Gläubiges Staunen [zur Verkündigungsdarstellung]). Eine umfassende Gesamtdarstellung ist bislang ein Desiderat. Den heilsgeschichtlichen Alanus-Adaptationen Heinrichs von St. Gallen wie auch Heinrichs von Neustadt widmet sich mein Dissertationsprojekt im Rahmen des Teilprojekts 3 zu „‚Natura‘ als kosmische und politische Ordnungsinstanz bei Alanus ab Insulis und in der lateinischen sowie volkssprachlichen Rezeption“ der DFG-FOR 1986. Das Marienleben wird im Folgenden zitiert nach der textkritischen Ausgabe Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, abgekürzt mit der Sigle ‚ML‘.  Zitiert nach der Ausgabe Wetherbee (Hrsg.), Alan of Lille, Anticlaudianus, S. 220 – 517 (Sigle ‚AC‘). Zu diesem um 1180 entstandenen zweiten poetischen Werk des Alanus ab Insulis vgl. Ochsenbein, Studien (stellenweise sehr kritisch hierzu allerdings Meier, Problem, S. 250 – 296); Economou, Goddess Natura, S. 97– 102; Huizinga, Verknüpfung, S. 89 – 182; Ochsenbein, Alanus, Sp. 99 – 102; Wetherbee (Hrsg.), Alan of Lille, Literary Works, S. XXVIII–XXXVII; Curtius, Europäische Literatur, S. 128 – 131; Kölmel, Natura, S. 54– 56; Speer, Kosmisches Prinzip, S. 113 – 128; Meier, Der ideale Mensch, S. 137– 150; Marshall, Identity, S. 77– 94; Kellner, Allegorien der Natur, S. 132– 137; Shanzer, Alan of Lille’s Anticlaudianus, S. 233 – 237; Wilks, Alan of Lille, S. 137– 157, und insbesondere Bezner, Vela Veritatis, S. 471– 553, mit weiterer Literatur.  Gerade diese Diskursverschiebungen und diskursiven Verschränkungen kommen in der sonst so grundlegenden Studie zur Rezeption des Alanus ab Insulis in heilsgeschichtlichen Texten bei Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 200 – 246, zu kurz. Auch die Frage nach der Darstellung der Empfängnis Marias wird, wo diese über die ‚reine‘ Alanus-Rezeption hinausgeht, von Huber nicht behandelt.

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heilsgeschichtlichen Einbindung des Anticlaudianus werden, so die These, die Grenzen zwischen Natur und Gott anders gezogen als in der Vorlage, zugleich aber wird mit Maria als Homo novus eine Figur geschaffen, die diese Grenzen teilweise wieder zu überschreiten imstande ist.

2 Die Integration der Anticlaudianus-Handlung in die christliche Heilsgeschichte im Marienleben Heinrichs von St. Gallen Heinrich von St. Gallen lässt sein Marienleben mit einem stark verknappten Schöpfungsbericht beginnen, der im Wesentlichen auf die Erschaffung des Menschen konzentriert ist: „Do got der vater geschuff Adam vnd Eua in dem lustlichen paradeiß, do schuff er sie zway volkumene menschen on allen geprechen gaistlich vnd leiplich vnd gab yn die natur vnd iren freyen willen“ (ML I,1‒3). Gott erlaubt Adam und Eva, alle Früchte des Paradieses zu genießen, bis auf diejenigen eines bestimmten Baumes. Der körperlich und geistig perfekte Ursprungszustand der ersten Menschen ist jedoch nicht von langer Dauer, denn aus „pshait“ verwandelt sich „Lucifer der teuffel“ in eine Schlange und überzeugt Eva davon, dass sie durch das Verspeisen der verbotenen Frucht gottgleich würde (vgl. ML I,5‒16). Die Geschichte ist bekannt: Eva isst voll Lust von dem Apfel, reicht ihn an Adam weiter, auch er beißt hinein ‒ „vnd in dem piß viel alleß menslichß geslecht in allen geprechen vnd yn grosse schuld“ (ML I,17 f.). Durch diese „hoffart“ (ML I,9), so der Erzähler, hätten die bis dahin unschuldigen und freien Menschen (vgl. ML I,5) den paradiesischen Zustand verloren und die Sünde in die Welt gebracht. Die göttliche Ordnung sei seither gestört. In diesen Bericht wird nun ohne einen Einschnitt die Natura-Figur des alan’schen Textes eingeführt,¹⁹ sodass die Anticlaudianus-Handlung von Beginn an mit der biblischen Heils- bzw. Unheilsgeschichte verknüpft ist. Unmittelbar im Anschluss an den Biss in den Apfel setzt Heinrichs Alanus-Paraphrase mit den Worten ein: „Nun schreibt der maister Alanuß und spricht:²⁰ Do die natur bekant, daß Adam vnd Eua also waren geuallen […], do gedacht sy: ‚Ach, ewiger got, wie

 Dazu auch Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 239.  Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 124, markiert an dieser Stelle den Beginn der Alanus-Paraphrase, als deren Ende er auf S. 128 die Zeile ML I,114 angibt. Zwar geht tatsächlich nur diese Passage auf Alanus zurück, ich übernehme hier allerdings Hilgs Markierung gezielt nicht, da der Text selbst gerade nicht das Ende der Rede des „maister Alanuß“ markiert.

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sol ich thun, daß ich wider komen mocht zu ainem volkumen menschen payde an leibe vnd an sel?‘“ (ML I,19‒28). Auch in Alans Anticlaudianus, der „die Entstehung und Bewährung des idealen Menschen in poetischer Imagination mit den Mitteln des Epos schildert[]“²¹, konstatiert die personifizierte Natur den korrumpierten Zustand von Mensch und Kosmos. Hier allerdings fehlt der Anfangsgrund dieses Missstandes oder eine ‚Sündenfallgeschichte‘, welche die Depravation des Menschen und sein Herausfallen aus der Naturordnung erklärte.²² Anders als später in Heinrichs Text gibt es bei Alanus keine Erzählung vom paradiesischen Ursprungszustand der Schöpfung als Ausgangspunkt des Geschehens, vielmehr ist es Natura bislang noch nie gelungen, einen fehlerfreien Menschen zu schaffen.²³ Nun aber will sie ihr Werk durch die Schöpfung des homo novus et perfectus, der die überhandnehmenden Laster bekämpfen und die gestörte Ordnung wiederherstellen soll, korrigieren und beschreibt den zu Rate gezogenen Tugenden ihr Vorhaben wie folgt: ‚Non terrae faecem redolens, non materialis sed divinus homo nostro molimine terras incolat et nostris donet solatia damnis. Insideat caelis animo, sed corpore terris; in terris humanus erit, divinus in astris. Sic homo sicque deus fiet, sed factus uterque quod neuter, mediaque via tutissimus ibit; […].‘²⁴ (AC I,235‒241)

 Meier, Der ideale Mensch, S. 153.  Eine ätiologische Erklärung bietet allerdings Alans erstes poetisches Werk, De planctu Naturae ‒ so man diese beiden Werke zusammenlesen möchte, wie etwa Krayer, Frauenlob, S. 24 f.; Jauss, Allegorese, S. 203; Huizinga,Verknüpfung, S. 106 f. u. a. es tun ‒, in welchem der Ehebruch der Venus für den korrumpierten Zustand des Menschen verantwortlich gemacht wird, vgl. Köhler (Hrsg.), Alanus ab Insulis, De planctu Naturae, S. 104– 120 (Prosa IV), im Folgenden abgekürzt mit der Sigle ‚DPN‘. Vgl. hierzu etwa Kellner, Allegorien der Natur, S. 130 f.; Economou, Goddess Natura, S. 73; Speer, Kosmisches Prinzip, S. 116; Jauss, Allegorese, S. 207; Huber, Personifizierte Natur, S. 160; Köhler, Natur und Mensch, S. 62 f.; Huizinga, Verknüpfung, S. 132– 134. Zur Parallelisierung von sexualmoralischer Devianz und grammatischer Fehlerhaftigkeit vgl. auch Ziolkowski, Grammar of Sex; Kellner,Wider die Natur?; Bezner, Vela Veritatis, S. 537– 540, und Bezner, Sexualität.  AC I,216‒218. Vgl. auch Speer, Kosmisches Prinzip, S. 116.  In der Übersetzung von Wetherbee (Hrsg.), Alan of Lille, Anticlaudianus, S. 243: „Let a man who does not reek of earthly foulness, a man not material but divine, dwell on earth though our efforts, and console us for our injuries. Let his mind dwell in the heavens, his body on earth; on earth he will be human, among the stars a god. Thus he will be created a man, and thus a god, yet so made each that he is neither, and will pursue the middle way with full assurance.“

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Demnach solle der homo perfectus mit zwei ‚Naturen‘, einer göttlichen und einer menschlichen, ausgestattet und anschließend, so bittet Natura, von allen Tugenden mit überreichen Gaben versehen werden, sodass er die früheren Fehler der Schöpfung tilgen könne.²⁵ Zwar spenden die Tugenden dieser Rede Beifall, doch weist Prudentia darauf hin, dass Natura nur einen sterblichen Leib formen könne, die Seele aber einen anderen, höheren Werkmeister erfordere.²⁶ Dadurch „macht sie die Möglichkeit einer creatio hominis novi von einem expliziten Assens Gottes abhängig ‒ und markiert damit die (von Alanus immer wieder herausgestellten) Grenzen des Natürlichen“²⁷. Mit dem Ziel, Gott um die Bereitstellung einer entsprechenden Seele zu bitten, begeben Ratio und Prudentia sich in einem von den septem artes liberales erbauten Wagen auf eine Himmelsreise, die in der Begegnung Prudentias mit Gott gipfelt. Bevor jedoch das Höchste erreicht wird, kommt es zum Bruch: Ratio muss zurückgelassen und der artes-Wagen abgespannt werden; stattdessen gesellen sich Fides und die Puella poli (i. e. Theologia) zu der orientierungslosen, ohnmächtigen Prudentia. Mit deren Hilfe werden der Klugheit nun die logikbedrohenden Phänomene der himmlischen Ordnung ‒ etwa das Mysterium der Jungfrauengeburt ‒ teilweise zugänglich gemacht.²⁸ „[V]erschlüsselt verbirgt sich hinter der exterior integumentorum narratio eine konzeptionelle Einsicht“:²⁹ Während das artes-Wissen „in divinis seine absolute Gültigkeit“³⁰ verliert und die an der Immanenz geschulte naturphilosophische Rationalität vom Raum des Transzendenten und von dessen Erkennbarkeit exkludiert ist, bleibt die (partielle) Erkenntnis des Höchsten der auf Glaubensinhalte gestützten Theologie vorbehalten. „Alanus imaginative Veranschaulichung steht somit in einem spezifischen Kontext: sie transportiert, ja ‚mythisiert‘ eine zentrale Idee einer sich institutionalisierenden, gegen die artes sich abgrenzenden facultas theologiae.“³¹

 Vgl. etwa AC I,225‒234 und die Ausstattung des Homo novus durch die einzelnen Tugenden in AC VII,77‒480.  AC I,326‒424; vgl. auch die Rede der Ratio in AC II,57‒89.  Bezner, Vela Veritatis, S. 505.  Vgl. hierzu Bezner, Vela Veritatis, S. 520 – 522.  Bezner, Vela Veritatis, S. 519.  Bezner, Vela Veritatis, S. 518.  Bezner, Vela Veritatis, S. 519.Vgl. zur Abwertung des naturphilosophischen Wissens zugunsten der scientia divina sowie zu Alans Bemühungen um eine Abgrenzung der Theologie von anderen Disziplinen und die damit zusammenhängenden Reformstrategien und Versuche einer „moralische[n], disziplinäre[n] und institutionelle[n] Normierung, ja Kontrolle“ (S. 474) besonders die detaillierte Analyse von Bezner, Vela Veritatis, S. 471– 553, hier v. a. S. 507‒524; zu ähnlichen Bestrebungen im Umfeld Alans auch Bezner, Mittelalterliche Reflexion, S. 57– 76.

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Von diesen und anderen naturphilosophischen, theologischen und epistemologischen Diskursen, die das intellektuelle Milieu des 12. Jahrhunderts am Vorabend der Pariser Universitätsgründung prägten und vor deren Hintergrund Alans Anticlaudianus sich bewegt,³² sind in Heinrichs von St. Gallen Marienleben nur noch wenige, ihres ursprünglichen Kontextes entblößte Rudimente zu finden.³³ Auch ist der alan’sche homo novus et perfectus hier nicht länger der einzelne Mensch, dessen ethische Vervollkommnung angestrebt wird, sondern erhält in Maria eine konkrete historische Gestalt. Dieser Befund lässt sich auf den gewandelten Rezeptionskontext und die Abfassung für ein volkssprachliches, nicht zwangsläufig laikales,³⁴ aber doch weniger gelehrtes Publikum zurückführen sowie auf (möglicherweise damit einhergehende) gezielte Auslassungen und Kürzungen. Zugleich dürften die in ihrem Umfang reduzierte Darstellung wie auch die diskursiven Verschiebungen durch das sogenannte Compendium Anticlau-

 Zu diesen Diskursen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. den reichhaltigen Sammelband Zimmermann u. a. (Hrsg.), Mensch und Natur; darin besonders die Beiträge von Kölmel, Natura, S. 43 – 56; Speer, Kosmisches Prinzip, S. 107– 128; sowie Köhler, Natur und Mensch, S. 57– 66. Reiches Material bietet auch die (teilweise überholte) Studie von Huizinga, Verknüpfung, S. 89 – 182. Umfassend aufgearbeitet sind diese ineinander integrierten Diskurse, Denkfiguren und Reflexionen bei Bezner, Mittelalterliche Reflexion, S. 57– 76; Bezner, Sexualität; und vor allem Bezner, Vela Veritatis, dort mit weiterer Literatur.  So etwa die „siben freyen kunst“ (ML I,83; i. e. septem artes liberales): Diese bauen im Marienleben nicht den für die Himmelsreise benötigten Wagen, sondern werden von der „weyshait“ auf die Reise mitgenommen, damit, „wenn sie kem fur den konig der eren, daß sie sie dann weisten, wie sie denn reden solt“ (ML I,83 f.). Auch eine Begründung für die Notwendigkeit des Zurücklassens von Wagen, Pferden und Wagenlenkerin bzw. Ratio, wie Theologia sie im Anticlaudianus gibt (AC V,246‒255), fehlt (tatsächlich wird nicht einmal explizit gemacht, ob Pferde und Wagen tatsächlich zurückbleiben müssen), ebenso die Ohnmacht und Orientierungslosigkeit der Weisheit oder die Hilfestellungen durch Theologia und Fides (statt diesen beiden nimmt die „barmherczikait“ die Weisheit im Himmel in Empfang, vgl. ML I,87‒94). Ein Scheitern der artesbasierten Rationalität angesichts des Höchsten wird hier also ebenso wenig thematisiert wie eine (teilweise) Erkenntnis des Transzendenten.Vgl. zum veränderten Personal der Himmelsreise auch die knappe Zusammenfassung bei Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 240. Damit einhergehend entfällt auch die Konfrontation Prudentias mit den Wassern über den Himmeln (vgl. AC V,306‒318) als eines der Beispiele des Versagens der Naturphilosophie angesichts der andersartigen Verhältnisse im göttlichen Raum; vgl. zu dieser Stelle Bezner, Vela Veritatis, S. 514– 520. Einige weitere Änderungen sind aufgeführt bei Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 237– 243; und Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 318.  Zum Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina als möglichen Auftraggeber Heinrichs von St. Gallen vgl. Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 388 mit Anm. 118 f.

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diani ³⁵ angeregt sein, das Heinrich als Vorlage für seine Anticlaudianus-Paraphrase diente. Das Compendium präsentiert den alan’schen Text in stark gekürzter Form und versieht ihn mit einer christologischen Ausdeutung.³⁶ Erzähltechnisch ist dieses Compendium zweigegliedert: Ein erster Teil paraphrasiert die AnticlaudianusHandlung bis zu dem Punkt, an dem Gott einwilligt, eine ideale Seele für den homo novus et perfectus bereitzustellen. Der zweite, bedeutend kürzere Teil erzählt dagegen von der Schaffung des neuen Menschen und seinem Sieg über das Böse. Hier ist der anonyme Autor zugleich bemüht, eine Art biblischen sensus historicus des Anticlaudianus herauszuarbeiten und „schachtelt [dabei] allegorische Bildebene, heilsgeschichtliche Literalebene und ihre Auslegung ineinander“³⁷. Die Überleitung zum ausdeutenden Teil des Textes ‒ „Si volumus huius novi hominis plasmacionem intelligere, formetur hystoria sic“ (CA Z. 329 f.)³⁸ ‒ zeigt dem Rezipienten an, dass nun der Sinn offengelegt wird, der (angeblich) hinter der alan’schen narratio verborgen ist. Tatsächlich wird aber in stark geraffter Form die historia des Lebens Christi erzählt und dies als die Zweitbedeu-

 Dass das erste Kapitel des Marienlebens ‚irgendwie‘ auf Alanus ab Insulis zurückgeht, haben bereits Vollmer, Berliner Studien, S. 116, und Stammler, Mittelalterliche Prosa, Sp. 767, angemerkt ‒ Schneider (Hrsg.), Handschriften, S. 449, erkennt darin fälschlicherweise „eine[] Allegorie aus ‚De planctu naturae‘ des Alanus de Insulis“. Seit Kurt Ruhs Textvergleich von Marienleben und Compendium Anticlaudiani (vgl. Ruh, Compendium als Quelle, S. 109 – 116; zudem Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 237) kann hingegen als gesichert gelten, dass Heinrichs Anticlaudianus-Paraphrase nicht auf dem alan’schen Text selbst, sondern auf dem Compendium fußt. Ob Heinrich der Anticlaudianus dennoch bekannt war, ließ sich am Text bislang nicht feststellen. Das Compendium wird im Folgenden zitiert nach der Textausgabe von Ochsenbein, Compendium Anticlaudiani, S. 93 – 109 (Sigle ‚CA‘).  Der Text bezeichnet sich in seiner knappen Einleitung selbst als kurze Zusammenfassung des Anticlaudianus, die zu dem Zweck verfasst ist, mündlich vorgetragen zu werden: „Ego autem textualiter ad compendium redegi, ut possint spiritualia a sapientibus tanquam hystoria recitari“ (CA Z. 8 f.). Meier, Rezeption, S. 480 f.; und Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 205, zufolge könnte es demnach für ein monastisches Publikum, etwa für Tischlesungen, verfasst worden sein. Dem entsprechen auch die „mit Bibelzitaten reich durchsetzte Sprache“, „die Verschmelzung von Alans Konzeption mit der traditionellen Lehre“ sowie die zahlreichen Kürzungen, Vereinfachungen und didaktischen Hilfen (Meier, Rezeption, S. 482 f.). Zur Bearbeitung des Anticlaudianus im Compendium vgl. Ochsenbein, Compendium, Sp. 2– 4; Meier, Rezeption, S. 480 – 483; Meier, Der ideale Mensch, S. 153 f.; sowie besonders Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 203 – 213; und Huber, Personifizierte Natur, S. 169.  Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 209 f.  „Wenn wir die Formung des neuen Menschen verstehen wollen, dann dürfte die Erzählung folgendermaßen aussehen.“

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tung der Anticlaudianus-Handlung ausgewiesen.³⁹ Während im Anticlaudianus nach der Bereitstellung einer idealen Seele durch Gott Natura eine fleischliche Hülle formt, Concordia diesen menschlichen Leib mit der göttlichen Seele verbindet und die Tugenden den Homo novus mit überreichen Gaben ausstatten,⁴⁰ wird im Compendium das Wirken von Natur und Tugenden mit dem biblischen Geschehen enggeführt und geht schließlich in diesem auf: Die Tugenden und der Heilige Geist bereiten Maria auf die Empfängnis des Homo novus vor (vgl. CA Z. 330‒332). Zeitgleich findet die aus dem Lukasevangelium bekannte Verkündigungsszene zwischen dem Erzengel Gabriel und Maria mit simultaner Empfängnis statt (vgl. CA Z. 333‒335), die hier als ein Zusammenwirken von Natura und Heiligem Geist im Unterleib Marias beschrieben wird.⁴¹ Die Herstellung des neuen Menschen geschieht hier also, anders als bei Alanus, quasi in utero. Maria trägt den Homo novus aus und gebiert ihn schließlich jungfräulich (vgl. CA Z. 342 f.). Nachdem der neue Mensch bereits durch den Verweis auf Maria, die Verkündigungsszene und die Jungfrauengeburt eindeutig auf Christus festgelegt ist, versucht das Compendium im weiteren Verlauf, das Leben und Wirken Jesu und das Handeln des alan’schen Homo novus ineinander zu blenden.⁴² Unabhängig davon, ob Alanus eine gezielte „Mythisierung des biblischen Geschehens“⁴³ vorgenommen hat und den Homo novus als inkarnierten Gottes-

 Zur Problematik dieses exegetischen Versuchs vgl. die Analysen bei Meier, Rezeption, S. 480 – 482, und Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 200 – 211, besonders S. 205 f.; zum größeren Kontext von auctores-Interpretation und Exegese vgl. auch Meier, Allegorie-Forschung, S. 1– 21.  Zweifelsohne geht der alan’sche Text weit über das eben Genannte hinaus und verbindet die verschiedensten „Reflexionsfelder, Kernbegriffe und -inhalte ‒ Formenspekulation, Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, ‚Natur‘, Moralphilosophie, Theologie, Methodendiskurs“ miteinander (Bezner, Vela Veritatis, S. 490). Auf diese näher einzugehen wäre an dieser Stelle jedoch nicht zielführend, denn das Marienleben, um das es im Folgenden ja gehen soll, übernimmt fast ausschließlich die Eckpunkte der narratio des Anticlaudianus, wie sie Heinrich von St. Gallen durch das Compendium Anticlaudiani vermittelt wurden.  CA Z. 336‒338: „eodem momento in utero virginis Natura materiam mundissimam ministravit et spiritus sanctus ex purissimis sanguinibus Marie virginis concepcionem operabatur et anima sanctissima statim a Deo creata infusa est.“  Der Kampf des neuen Menschen und der Tugenden gegen Alecto und die Schar der Laster wird in Christi ‚Kampf‘ gegen die historischen Juden und seine Höllenfahrt umgeformt; dem Sieg über das Böse und das Heraufführen des goldenen Zeitalters entspricht Christi Sieg über die Mächte der Hölle und die Erlösung des Menschen aus den Fängen des Todes. Vgl. zu den Änderungen und Entsprechungen dieser Passagen auch Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 212 f. und S. 433.  Vgl. hierzu Meier, Der ideale Mensch, S. 140, und die Überlegungen bei Jauss, Allegorese, S. 187– 209, hier bes. S. 194.

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sohn und Erlöser der sündigen Menschen verstanden wissen wollte⁴⁴ oder ob vielmehr „jegliche[] heilsgeschichtlichen oder eschatologischen Bezüge“ ausgeklammert sind,⁴⁵ eine dezidiert christologische Deutung also gerade nicht angelegt ist, sind Assoziationen mit der christlichen Heilsgeschichte nicht gänzlich von der Hand zu weisen: Ganz ähnlich wie diese verhandelt das alan’sche Werk Degeneration und Restitution des Menschen qua Neuschöpfung. Sowohl dem Homo novus des Anticlaudianus als auch Christus eignet eine ‚Doppelnatur‘, die beide zu Hybriden, zu Grenzgängern zwischen dem irdischen und dem göttlichen Bereich macht. Ihr Sonderstatus und ihr Wirken markieren jeweils eine Art Zeitenwende: Durch das Handeln des einen wie auch des anderen wird eine defekte Ordnung wiederhergestellt.⁴⁶ Ob eine solche Deutung tatsächlich von Alanus intendiert war, spielt im Hinblick auf die Rezeptionszeugnisse eine verhältnismäßig geringe Rolle. Die christologischen Adaptationen, etwa das Compendium Anticlaudiani und mit ihm Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft,⁴⁷ zeigen sehr deutlich, dass man den Anticlaudianus durchaus so verstehen konnte.⁴⁸

 Fraglich ist auch, ob eine konkrete historisch-politische Deutung intendiert ist, wie etwa Marshall, Identity, S. 77– 94, sowie Wilks, Alan of Lille, S. 137– 157, vermuten; dagegen Meier, Der ideale Mensch, S. 156. Überzeugender als Marshalls Argumente für eine Identifikation des Homo novus mit etwa dem Kapetinger Philipp II. August sind hingegen ihre Argumente gegen eine Gleichsetzung des Homo novus mit Christus, vgl. Marshall, Identity, S. 80 – 85. Abwägend auch Huizinga, Verknüpfung, S. 139 – 142, der die Figur des Homo novus jedoch als zu ungenügend ausgearbeitet ansieht, um letztgültig entscheiden zu können.  Krewitt, Natura, artes, virtutes, S. 27.  Bei Alanus geschieht dies, wie in Anm. 42 erwähnt, durch den Kampf gegen die Laster, in der Heilsgeschichte und Eschatologie ist der Prozess zwar zweigeteilt und zeitlich getrennt, letztendlich führen jedoch Christi Passion und Höllenfahrt sowie der Kampf gegen den Antichrist und das Jüngste Gericht zu einem vergleichbaren Ergebnis, sofern man diese Parallelen nicht mit der Goldwaage der Dogmatik wiegen will.  Unter den deutschsprachigen Rezeptionszeugnissen ist Heinrichs von Neustadt um 1300 entstandene Reimpaardichtung Gottes Zukunft (vgl. Singer (Hrsg.), Heinrich von Neustadt, Gottes Zukunft; Sigle ‚GZ‘) der erste Versuch, den homo novus et perfectus auf Christus auszulegen, wobei auch diesem Text das Compendium als Quelle diente; vgl. Ochsenbein, Compendium Anticlaudiani, S. 81– 85; Krewitt, Natura, artes, virtutes, S. 30 – 35; Huber, Personifizierte Natur, S. 169, und besonders Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 214– 236, dort mit weiterer Literatur.  Dies gilt zumindest in den „gewandelten Rezeptionskontexten, die vom intellektuellen Milieu des 12. Jahrhunderts abgerückt sind“ (Meier, Der ideale Mensch, S. 153; vgl. u. a. auch Meier, Rezeption, S. 480 f. u. ö.) ‒ sei es nun im monastischen Bereich oder im Bereich der volkssprachigen Literaturproduktion. Tendenzen, den Anticlaudianus heilsgeschichtlich zu interpretieren, lassen sich bereits in den „frühen Phasen der lateinischen Textaneignung“ (Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 201) nachweisen. Diese reichen von der handschriftlichen Präsentation über die Textkommentierung und Textersetzung bis hin zur Paraphrase im Pommersfelder Bilderzyklus,

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Auf den ersten Blick weniger naheliegend mag die Assoziation des homo novus et perfectus mit der Jungfrau Maria sein, wie sie uns in Heinrichs von St. Gallen Marienleben begegnet.⁴⁹ Insofern aber bereits das Compendium den neuen Menschen auf eine konkrete historische Person, auf Christus, auslegt, und Alans poetisches Integumentum als verhüllte christliche Heilsgeschichte ausweist, kann Heinrich an wesentliche Eckpunkte seiner Vorlage anknüpfen. Heinrichs eigene Rezeptionsleistung ist es nun einerseits, die bereits im Compendium als Gebärerin des Homo novus Christus erwähnte Jungfrau Maria selbst zum Homo novus aufzuwerten und andererseits das, was das Compendium in Erst- und Zweitbedeutung trennt, einzuebnen und beides als reine historia zu präsentieren, die schließlich als einer von mehreren Handlungssträngen der Heilsgeschichte erscheint und keiner gesonderten Auslegung mehr bedarf.⁵⁰ Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die Anticlaudianus-Handlung an keiner Stelle des Marienlebens als Traum, Vision oder poetisches Integumentum ausgewiesen wird. Anders als im Compendium oder in Gottes Zukunft wird auch kein Punkt markiert, an dem die Historie endet und ein neuer auslegender oder erklärender Abschnitt beginnt. Vielmehr paraphrasiert der Verfasser das allegorisierende Werk des Alanus (bzw. das Compendium) auf dieselbe Weise, in der er auch die kanonischen Evangelien, die Schriften der Kirchenväter und anderes theologisches Schriftgut wiedergibt ‒ so, als sei der Anticlaudianus ein Genesis-Kommentar.

3 Grenzziehungen zwischen Natur und Gott Im Zuge dieser Bemühungen um eine naht- und bruchlose Integration der Anticlaudianus-Handlung in die christliche Heilsgeschichte, respektive in das Leben Marias, nimmt Heinrich auch wesentliche Veränderungen am Personal der Alanus-Paraphrase vor, namentlich an der Figur der Natur. Zum besseren Vergleich

vgl. etwa Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 201 f., und die zahlreichen Beispiele bei Meier, Rezeption, S. 408 – 549.  Hierbei handelt es sich um die erste (fassbare) Adaptation, die den alan’schen Homo novus auf Maria auslegt. Die früher Johannes Gerson, jetzt Gilles Charlier zugeschriebene lateinische Predigt De conceptione Beatae Mariae Virginis kommt als ebenfalls marianische, aber später entstandene Auslegung des Anticlaudianus „als Anregung für Heinrich von St. Gallen nicht in Betracht“ (Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 243); vgl. auch Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 319, mit weiterer Literatur.  Insofern macht Heinrich (vermutlich ohne den Anticlaudianus gekannt zu haben) diesen Schritt des Compendiums rückgängig und weist der Alanus-Paraphrase nur eine Sinnebene zu. Dabei verliert seine Paraphrase jedoch jeglichen integumentalen Status; vgl. dazu auch Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 241.

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soll erneut zuerst ein Blick auf den Anticlaudianus und das Compendium geworfen werden. Im Compendium ist für das Folgende insbesondere von Interesse, dass Natura dort radikal auf eine defekte natura humana reduziert⁵¹ und ihre kosmische Funktion, ihr Status als nahezu makellose Herrscherin über Makro- und Mikrokosmos, den Alans poetische Werke ihr zuschreiben,⁵² dabei vollkommen eliminiert ist.⁵³ Zwar ist die Macht der Natur bereits im Anticlaudianus restringiert, doch scheint Natura dort auf einen ersten Blick durch ihren Plan einer Neuschöpfung in gefährliche Nähe zu Gott zu rücken und in den Wirkraum des alleinigen Schöpfers hineinzuragen: Sie ist die Initiatorin des Geschehens, beurteilt den Zustand der Welt kritisch, bestimmt den Zeitpunkt des Eingreifens und will einen neuen, besseren Menschen schaffen. Die Grenzen zwischen dem göttlichen Machtbereich und demjenigen Naturas scheinen dadurch partiell aufgeweicht. Als Teil dieser prekären Nähe zu Gott lassen sich auch die Einwände Prudentias gegen Naturas Schöpfungsplan lesen:⁵⁴ Auf dem Konzil der Tugenden wie auch bei ihrer Bitte vor Gott weist Prudentia auf die „unverfügbare Notwendigkeit einer göttlichen Dimension“⁵⁵ hin und zeigt damit deutlich, dass die creatio hominis novi jenseits des Machtbereichs der Natur liegt.⁵⁶ In einem Gnadenakt verleiht Gott schließlich der von Nouys herbeigebrachten reinen Seele die rechte Form⁵⁷ und reicht sie an Prudentia weiter, damit diese sie zur Erde geleite. ‒ Und dennoch ging zumindest

 Huber, Personifizierte Natur, S. 165, sieht Natura bereits im Anticlaudianus in dieser Funktion.  In De planctu Naturae gibt Natura sich als „Dei auctoris vicaria“ (DPN, Prosa III, S. 88, Z. 16) zu erkennen und stellt ihre Schöpfungskraft deutlich aus; der Dichter wiederum preist Natura unter anderem als „genitrix rerum“, „vinculum mundi“ und „regula mundi“ (DPN, Metrum IV, S. 100‒ 102, V. 1‒40). Zur (Selbst‐)Charakterisierung Naturas und ihrer gleichzeitigen Abgrenzung zu Gottes Schöpfermacht vgl. besonders Kellner, Allegorien der Natur, S. 126 – 130; außerdem Ochsenbein, Studien, S. 119 – 121; Huber, Personifizierte Natur, S. 159 – 165; zum größeren Kontext und der Tradition, die Alanus hier aufgreift bzw. abwandelt vgl. Speer, Kosmisches Prinzip, S. 112 f.; Economou, Goddess Natura, S. 72– 103; Kölmel, Natura, S. 52– 56; sowie die Bemerkungen bei Huizinga, Verknüpfung, S. 126 – 130.  So bereits Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 206.  Diesen Hinweis verdanke ich Frank Bezner.  Bezner, Vela Veritatis, S. 505; vgl. auch Speer, Kosmisches Prinzip, S. 122 f.  Vgl. etwa AC I,355‒387. Ratio stimmt dem bei und unterscheidet ebenfalls klar zwischen dem Wirkungsbereich Naturas und demjenigen Gottes: Gott schöpft aus dem Nichts, Natura aus dem Etwas. Gott ist Herrscher und Lenker, Natura ist lediglich Gottes Dienerin und Ausführende der göttlichen Befehle usw., vgl. AC II,70‒74.  Differenzierter zur „grundsätzliche[n] Verschränkung von naturalia und gratuita“ in dieser Passage vgl. Bezner, Vela Veritatis, S. 505 f.

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die Initiative zur Neuschöpfung von Natura aus, sie ist causa secunda operans ⁵⁸ und ihr ist auch die Schaffung des ‚natürlichen‘, leiblichen Teils des Homo novus vorbehalten. Das Compendium schränkt nun den Handlungsspielraum der personifizierten Natur im Vergleich zur Natura des Anticlaudianus enorm ein und stellt ihre Subordination unter die Allmacht Gottes wesentlich klarer heraus. Deutlich wird dies von Beginn an durch die Benennung und Attribuierung der Natur, denn sie wird explizit als ein Geschöpf Gottes ausgewiesen und betrachtet sich selbst als verdorben und unvollkommen: „Natura humana a deo naturata considerans corrupcionem et inperfectionem suam“ (CA Z. 11 f.). Auch ihr Status als Schöpferin ist auf ein Minimum reduziert, denn hier ist Natura lediglich für die Erziehung des Menschen zuständig, den Gott ‒ entsprechend dem biblischen Schöpfungsbericht ‒ nach seinem Abbild geformt und anschließend in Naturas Obhut gegeben habe. Hieran erinnert Natura selbst in ihrer Rede vor dem Rat der Tugenden ‒ „vos scitis, quod ipse creator hominem, quem ad ymaginem suam formavit, mee industrie commendavit“ (CA Z. 34‒36) ‒ und gesteht ihre Schuld im Gestus einer Confessio ein: „sed recognosco negligenciam meam et insufficienciam meam, quod nullum hominem ad perfectionem perduxi, qui sit in omni parte beatus“ (CA Z. 37‒39).⁵⁹ Im Folgenden greift das Compendium immer wieder Details aus der alan’schen Erzählung auf, wandelt diese aber so ab, dass Natura in schlechterem Licht erscheint bzw. ihr Anteil an der Neuschöpfung marginalisiert wird: Zwar schlägt sie die Schaffung eines homo novus et perfectus vor, fühlt sich jedoch in keiner Weise zur Durchführung dieses Plans imstande und bedarf der Hilfe der Tugenden (vgl. CA Z. 60‒66). Prudentia gibt daraufhin zu bedenken, „Natura autem ex concessa sibi auctoritate a Deo potest quidem formare corpus humanum“ (CA Z. 86 f.), doch dass die Seele einzig durch Gottes Hände erschaffen werden könne. Auch legt Gott im Gespräch mit Prudentia fest, dass Natura die fleischliche Hülle nicht gänzlich alleine, sondern mithilfe der Tugenden anfertigen solle (vgl. CA Z. 324 f.).⁶⁰ Unter der Voraussetzung, dass die Tugenden hier aber als hypostatische Eigenschaften Gottes begriffen werden,⁶¹ ließe sich mit Blick auf das Compendium wie auch das Marienleben folgern, dass selbst die Schöpfung des

 So auch bereits Huizinga, Verknüpfung, S. 127; Speer, Kosmisches Prinzip, S. 111; Kölmel, Natura, S. 55 f.  Wesentlich schwächer und weniger als Schuldeingeständnis, sondern mehr als Feststellung und Klage formuliert ist diese Passage im Anticlaudianus, vgl. AC I,214‒218.  Ganz ähnlich hatte dies bereits Ratio formuliert, vgl. CA Z. 113 f.  Im Compendium wie auch im Marienleben, vgl. etwa Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 207 und S. 239.

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menschlichen Körpers zu großen Teilen in den Wirkbereich Gottes statt allein in denjenigen der Natur fällt. Schließlich gibt Gott hier, anders als im Anticlaudianus, die göttliche Seele nicht sofort heraus und überlässt die Fertigstellung des Homo novus Natura und den Tugenden, sondern behält es sich vor, die Seele persönlich dem menschlichen Leib einzuflößen. Übrig bleibt der natura humana lediglich, gemeinsam mit dem Heiligen Geist den fleischlichen Part der Empfängnis Christi im Unterleib Marias zu schaffen (vgl. CA Z. 336‒338). Diese Restriktion und Reduktion der Natur im Compendium greift Heinrich von St. Gallen auf und führt sie in seinem Marienleben weiter aus. Die ‚natura‘ erkennt und beklagt angesichts des Sündenfalls die missliche Lage des Menschen. Aus eigener Kraft nicht imstande, die Situation zu ändern,⁶² begibt sich Natura zu den Tugenden und bittet diese um Hilfe. Dabei ist bezeichnend, dass sie das Konzil nicht wie im Anticlaudianus oder im Compendium bei sich einberufen kann, sondern als Bittstellerin zu den Tugenden gehen muss (vgl. ML I,29‒38), wodurch sie noch schwächer und geringer erscheint als im Compendium. ⁶³ Im Rat der Tugenden bekennt sie sich schuldig am Missstand des Menschen und berichtet, wie es durch ihre „grosse vnfursichtikeit“ zum Ordnungsverstoß gekommen war, indem sie den ihr von Gott anvertrauten paradiesischen „menschen an allen geprechen“ nicht vor Fehlern bewahrt habe „vnd yn [hab] lassen vallen yn groß geprechen“ (ML I,34‒36.). Sie fährt fort: „Nu beger ich hilf von euch, daß ir mir rat, wie ich wider kum zu ainem ganczn volkumen menschen an leib vnd an sel; wan an euch vermag ich nichtz“ (ML I,36‒38). Darin lassen sich sowohl Ähnlichkeiten als auch Differenzen zum Compendium Anticlaudiani feststellen. Natura, deren kosmische Dimension hier wie dort eliminiert ist, gesteht ihre (Mit‐)Verantwortung am Eindringen des Bösen in die Welt und, damit zusammenhängend, an der Depravation des Menschen ein. Um diesen Zustand zu ändern, ist sie jedoch zu schwach. Anders als in der Vorlage fasst die Natur im volkssprachigen Text aber nicht einmal den Plan, ein neues Wesen zu schaffen, sondern formuliert nur ihr Begehren nach einem vollkommenen Menschen. Entsprechend setzen die Tugenden ihr auch nicht die Schwierigkeit der Erschaffung insbesondere der Seele auseinander, sondern halten es generell für unwahrscheinlich, einen solchen homo perfectus zu finden. Oder in den Worten der Weisheit: „‚des dye natur begert, daß ist gar swer: daß man ein solchen menschen vinden mg, der an allen geprechen sey vnd daß al tugent in im volkumenlich sein.‘“ (ML I,67‒69). ‒ Damit wird nicht nur die Unmöglichkeit des Unternehmens  „‚Ich vermag sein [i. e. die Änderung der Situation] von mir selbß nit vnd pin sein vnweise‘“ (ML I,28 f.).  So bereits Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 319, und Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 238.

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hervorgehoben, sondern zugleich auf die singuläre Exzeptionalität des später geschaffenen Homo novus bzw. Marias vorausgewiesen. Ob und wie Natura oder die Tugenden aber an einer solchen Erschaffung beteiligt sein könnten, steht dabei vorerst nicht einmal zur Diskussion. Ohne einen konkreten Schöpfungsplan reist die Weisheit deshalb zu Gott und bittet ihn darum, einen „volkumen menschen an leib vnd an sel [zur Verfügung zu stellen], der do begabt sey mit allen tugenden, der do widerbring die geprechen vnd daß vbel, dar ein geseczt ist alleß menschlich geschlecht […]“ (ML I,104‒106). Erst Gott schlägt vor, einen neuen Menschen zu schaffen, wobei ‒ wie im Compendium ‒ die Tugenden zusammen mit der Natur einen Körper formieren sollen, in welchen er dann die perfekte Seele eingießen werde (vgl. ML I,109‒111). Stärker noch als in der lateinischen Vorlage werden also im Marienleben die Grenzen zwischen Gott und den ihm untergeordneten Mächten aufgezeigt, denn nicht nur ist die natura humana handlungsunfähig, sondern Natur und Tugenden sind nicht einmal imstande, eine konkrete Strategie zur Besserung ihrer Lage zu entwickeln, geschweige denn umzusetzen. Aller Einfallsreichtum, die Koordination und ein Großteil der Durchführung des Erneuerungsvorhabens sind Gott vorbehalten, während die Eigenleistung der Natur auf das Konstatieren des Missstandes und das Hilfegesuch reduziert ist.⁶⁴ Doch selbst diese beiden Aspekte sind nicht allein der Natur vorbehalten: Denn bevor nun der eigentliche Herstellungsakt des Homo novus vollzogen wird, der im Compendium direkt an Gottes Zustimmung zum Erneuerungsplan angeschlossen ist, führt der Erzähler noch einige im Marienleben nur angedeutete biblische Handlungsstränge mit demjenigen der Alanus-Paraphrase zusammen: Gott gelobt der „weishait“ die Schaffung eines vollkommenen Menschen, „alß er auch gelobt het vnserm vater Abraham: […] daß er gelobt het von dem vall Adamß, daß ewig wort zu senden yn die werlt zu widerbringen den selben fall“ (ML I,114‒ 117). Während dieser 5200 Jahre seit Gottes Versprechen an Abraham hätten „die heilign propheten vnd patriarchen“ Gott vielfach um Erlösung angefleht (vgl. ML I,118‒124). Damit scheint Natura nicht mehr die Erste und Einzige zu sein, die die gestörte Ordnung beklagt und eine Veränderung herbeisehnt. Unklar bleibt auf einen den Blick sogar, ob ihre und der Tugenden Bitte an Gott überhaupt einen Effekt auf diesen und also mit der Schaffung des Homo novus zu tun haben, wenn es heißt: „Nun aber die zeyt vergangen waß, daß sich got erbarmen wolt vber menslichß geslecht nach der begerung der heiligen propheten und altveter ‒ in

 Ähnlich auch Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 240, der jedoch nicht alle Aspekte behandelt, die in dieser Abänderung enthalten sind.

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der selben zeiten, als die weisheit ir potschaft het wider procht von got in den rat der tugent […].“ (ML I,132‒135).⁶⁵ Dass Gottes Entschluss wie auch die Bitten der Tugend und der Propheten und Patriarchen Teil desselben Zeitsystems sind, zeigt dabei klar, dass die Anticlaudianus-Handlung hier als ein ebenso ‚realhistorisches‘ Ereignis verstanden werden will wie das Flehen der alttestamentlichen Figuren.⁶⁶ Was genau Gott schließlich bewegt hat, den Erneuerungsplan gerade ‚jetzt‘ umzusetzen, macht der Text zwar nicht explizit, lässt sich aber aus der hier eingeschobenen, „sand Augustein“ zugeschriebenen⁶⁷ Beantwortung der Frage „‚War vmb verzog got daß glub alß gar lang […]?‘“ (ML I,125) erschließen: Het got den fal snellichlichen widerbracht, so heten die menschen gedacht, der val Adam wer nit alß swer gewesen, als er an im selber waß. Vnd auch dor vmbe, daß die menschen erkanten daß groß vbel, daß in kumen waß auß dem vall, vnd daß die menschen der widerbringung dester danckper weren: dar vmb wolt got nit all zu hant widerbringen den val. (ML I,127‒131)

Offenbar hatten die Menschen erst nach dieser Zeitspanne von mehreren Jahrtausenden das Ausmaß des Sündenfalls hinreichend erkannt. In Zusammenschau mit dem Eingang der Alanus-Paraphrase des Marienlebens ‒ „Do die natur bekant, daß Adam vnd Eua also waren geuallen in also manigueltig geprechen“ (ML I,19 f.) ‒ verkörpert die Natur hier regelrecht das gesammelte Erkennen (und Beklagen) des Missstands durch den Menschen, wie es insbesondere durch die Propheten und Patriarchen artikuliert wird.⁶⁸ Dem entspricht, dass die ‚Erlösungsanstrengung‘ der natura humana hier auf die Aspekte des Erkennens, der  Gemäß der eben zitierten Stelle ist der Zeitpunkt der Erlösungsbereitschaft zwar der Moment, in dem die Weisheit zurück im Rat der Tugenden ist. Dem geht aber der Auftrag Gottes voran, eine fleischliche Hülle für den neuen Menschen zu bereiten (und diesen Auftrag überbringt die Weisheit ja dem Tugendrat), sein Entschluss muss also bereits vor oder während der Bitte der Weisheit gefallen sein. Wenngleich also Gottes Beschluss, sich über die Menschen zu erbarmen, etwa zeitgleich mit dem Bittgesuch der Weisheit stattfindet, hat die „barmherczikait“ ‒ als Hypostase Gottes ‒ dies aber ihrer eigenen Aussage nach „albeg begert, seyt Adam viel“ (ML I,92). Inwieweit hierin eine Anlehnung an den ‚Streit der Töchter Gottes‘ zu sehen ist, bedarf einer genaueren Untersuchung. Mäder, Streit der Töchter Gottes, behandelt diese Passage, soweit ich sehe, nicht.  Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 242, behandelt diese Stelle nicht und kommt daher zu einem anderen Schluss.  Eine vergleichbare Passage wird auch in anderen, dem Marienleben thematisch verwandten Texten Augustinus zugeschrieben, vgl. Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 321.  Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 242, spricht hier von einer Vermittlung „zwischen irdischer Erlösungsanstrengung und göttlicher Erlösungsbereitschaft“ durch die Alanus-Paraphrase und schreibt ihr insofern eine Gelenkfunktion zu.

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Klage und des Hilfegesuchs reduziert ist ‒ selbst eine Neuschöpfung zu initiieren, käme der menschlichen Natur nicht zu, und auch mit der heilsgeschichtlichen Überlieferung ließe sich dies nicht vereinbaren. Die Aufgaben- und Wirkbereiche von Natur und Gott sind im Marienleben klar in ein irdisches Bemühen und ein göttliches Gewähren geschieden: Die menschliche Natur muss erkennen und bitten ‒ und Gott wird sich nach seinem Ermessen erbarmen und die Ordnung qua Neuschöpfung restituieren.

4 Maria und die Kontroverse um die Immaculata Conceptio: Umdeutung und Funktionalisierung der Anticlaudianus-Handlung Betrachtet man in den bereits zitierten Textstellen, worum genau die Weisheit Gott bittet und was dieser ihr daraufhin ‒ wie früher bereits Abraham ‒ verspricht, liegt es nahe, den „volkumen menschen […], der do widerbring die geprechen vnd daß vbel, dar ein geseczt ist alleß menschlich geschlecht“ (ML I,104‒106) bzw. „daß ewig wort, das den selben fall widerbringen“ soll (vgl. ML I,117) mit Jesus Christus, dem Wort Gottes und Erlöser von den Sünden, zu assoziieren.⁶⁹ Konsequenterweise müssten sich hieran Christi Empfängnis und Geburt anschließen ‒ doch das Marienleben wählt gezielt einen anderen Weg als seine Vorlage, das Compendium, oder auch Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft, und lässt stattdessen die apokryphe Erzählung⁷⁰ von Maria Empfängnis beginnen: Als Gott sich nun endlich erbarmen will, leben in Judäa zwei gottesfürchtige Menschen, Anna und Joachim, die beide aus dem „koniglichem geslecht herren Dauidß“ stammen, bislang aber „vnberhafft“ waren (vgl. ML I,138 f.). Dieses Ehepaar, die künftigen Eltern Marias, wenden sich nun mit der Bitte um Nachkommenschaft an Gott. Durch Gottes „fursichtikeit“ noch kinderlos „von ainß merern wunders wegen“ (vgl. ML I,139 f.) und zugleich ungemein fromm, erweisen die beiden sich nun als die idealen Eltern des homo novus et perfectus. Schließlich erscheint Joachim ein Engel und prophezeit: „Anna […] wirt entpfahen vnd geperen ein tochter, die wirdestu haissen Maria, vnd sie wird also heilig, daß durch sie hailsam wirt alleß menslichs geslecht, die ir hilf begern, wan sie wirt ain

 Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, und Huber, Aufnahme und Verarbeitung, übergehen diesen Aspekt.  Zu den Quellen dieser Passage vgl. Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 321 f.

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versunerin zwischen got vnd dem menschen“ (ML I,165‒168).⁷¹ Verkündet wird dadurch nicht nur die Geburt, sondern zugleich die herausgehobene Stellung Marias, die als „versunerin“, als Mediatrix,⁷² den Menschen Heil bringen und insofern auch erfüllen wird, worum die Weisheit Gott gebeten hatte. Von Marias Rolle beim Inkarnationsgeschehen ist dabei noch nicht die Rede, vielmehr scheint es hier ‒ und an mehreren anderen Stellen des Textes ‒, als sei Maria ganz allein und unabhängig von ihrem Beitrag zur Menschwerdung Gottes die Heilbringerin.⁷³ Die vom Engel prophezeite Empfängnis Marias wird anschließend aber mit der Schaffung des Homo novus durch Gott und Natura enggeführt: Do worckt die natur nach dem vnd ir die weißhait verkunt het in dem rat der tugent (daß sie ir vermugen dar zu thun solt vnd machen ain menschlichen leichnam); also worcht sie ein leiblein von matery vnd form (alß ain ander mensch) von Ioachim vnd Anna. Dor ein goß got ein sel noch seim gelub, die do waß begabt mit allen tugenden. (ML I,183‒187)

Der von der Natur geschaffene Körper Marias ist demnach aus Form und Materie, quasi aus dem genetischen Material ihrer beiden irdischen Eltern, auf natürliche Weise hergestellt und also menschlich. Die Seele Marias aber stammt direkt von Gott und ist dem Versprechen gemäß vollkommen tugendhaft. Maria wird dadurch ebenjene ‚Doppelnatur‘ zugeschrieben, die Natura im Anticlaudianus wie auch im Compendium für den homo novus et perfectus einfordert. Zudem „beleib dy sel do“, so der Erzähler, dem Dafürhalten eines Großteils der christlichen Lehrmeister entsprechend „vnvermayligt von allen erbsundn“ (vgl. ML I,188 f.). Unermüdlich streicht das Marienleben über neunzehn Kapitel hindurch die Sonderstellung und Auserwähltheit der Gottesmutter gegenüber allen anderen Menschen heraus. Eine explizite Vorrangstellung selbst gegenüber anderen herausragenden Figuren der Heilsgeschichte, die zwar von der Erbsünde gereinigt, nicht aber ohne Erbsünde empfangen wurden, hat Maria insbesondere auch aufgrund der Beschaffenheit ihrer gottgegebenen Seele und ihrer unbefleckten Empfängnis. Der außerordentliche Status der Gottesmutter zeigt sich dabei in verschiedenen Aspekten: Sie steht unerreichbar über den sündigen Menschen,  Derselbe Engel verkündet Anna „dye red vnd die potschaft als er het verkundet Ioachim“ (ML I,173 f.).  Zur Äquivalenz von „versunerin“ und ‚Mediatrix‘ vgl. Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 322.  Dass dieser Aspekt nicht dennoch mitgedacht ist, soll Heinrich jedoch nicht unterstellt werden. Er blendet diesen Punkt aber m. E. an manchen Stellen gezielt aus (vgl. etwa auch ML I,219 f. u. ö.), um Marias Exeptionalität, die freilich ohne den von ihr geborenen Gottessohn kaum denkbar wäre, nicht zu schmälern.

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zugleich wird sie als Leitfigur für alle Gläubigen, als Exempel vorbildlicher Weiblichkeit gepriesen⁷⁴ und nicht zuletzt zeichnet sie sich durch ihren steten Kontakt mit und ihre Nähe zu Gott aus. Maria vereint menschliche und göttliche Anteile in sich und ist besser als alle Geschöpfe, die vor oder nach ihr existieren ‒ jedoch mit einer einzigen Ausnahme, der selbst Maria nachgeordnet ist: Jesus Christus. Maria und Christus nehmen als Grenzgänger beide eine Sonderstellung zwischen Gott und Welt ein ‒ und „der heiligen e wurde nye kain grosser ere ye zuteil, wan in dem, daß die himlisch kayserin iunckfraw Maria vnd ir lieber sun Ihesuß Cristuß payde in der e enpfangen vnd geboren wurden“ (ML I,200‒203). Während aber Christus sich qua Inkarnation von der göttlichen Sphäre in die weltliche herabbegibt, steigt Maria ‒ so zumindest in der Darstellung des Marienlebens ‒ von einem rein menschlichen, natürlichen Dasein auf und ist durch ihre von Gott gegebene, reine Seele über alle anderen Menschen erhaben, ist „versunerin“, Mediatrix.⁷⁵ Der wesentliche Unterschied zwischen Gottessohn und Gottesmutter ist die Art und Weise der Empfängnis, „wan Maria ward entpfangen von menschlichem samen alß ain ander kind, Ihesuß aber an allen menschlichen samen“ (ML I,131). Marias Zeugung und Empfängnis bleiben in der Immanenz verhaftet, finden auf natürliche Weise und wie bei allen anderen Menschen statt.⁷⁶ Christi Empfängnis hingegen, die an späterer Stelle der Dichtung geschildert wird, geschieht auf nicht natürliche Weise, ist Mysterium.⁷⁷ Insofern ist mit Christus eine Grenze gezogen, die Maria nicht überschreiten kann. Dennoch kann die Auslegung des homo novus et perfectus auf Maria nicht, wie Hardo Hilg vorschlägt, allein mit der zeitlichen Priorität Marias vor Christus erklärt werden.⁷⁸ Auch ist der Rekurs auf den alan’schen Text mehr als bloß ein  Vgl. auch die Zusammenfassung bei Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 319 f.  Zudem räumt das Marienleben Maria noch eine weitere Besonderheit ein, die ‒ ganz ähnlich wie die Unbefleckte Empfängnis ‒ ebenfalls lange umstritten war: die leibliche Aufnahme Marias nach ihrem Tod, vgl. ML XIX,101 f. Zur Assupta-Kontroverse vgl. etwa Söll, Mariologie, S. 158 – 164, sowie Courth, Maria. Dogmatisch, S. 147 f.  Verwiesen sei hierzu erneut auf die Schaffung des Leibes Marias durch die Natur aus Form und Materie von Vater und Mutter „alß ain ander mensch“ (vgl. ML I,183‒186).  Vgl. Kapitel IV des Marienlebens, insbesondere ML IV,472‒490: Jesus wird vom Heiligen Geist aus dem Fleisch und Blut der Jungfrau ‒ also ohne männliche Zutat ‒ geschaffen. Anders als im Compendium (vgl. CA Z. 336) oder in Gottes Zukunft (vgl. GZ V. 1338) ist hier explizit nicht von einem Mitwirken der Natur die Rede. Zudem sei Christus bereits vom ersten Moment an nicht nur mit allen Gliedmaßen vollkommen ausgestattet, sondern auch bereits mit einer Seele versehen worden, wohingegen die Beseelung anderer Föten erst am 40. (Jungen) bzw. 80. (Mädchen) Tag nach der Empfängnis stattfände.Vgl. zu dieser weitverbreiteten Auffassung Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 335, außerdem Schmitz-Esser, Leichnam, S. 31, Anm. 58, mit weiterer Literatur.  Vgl. Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 319.

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innovativer Eingang für eine unter zahlreichen anderen Marienleben-Dichtungen.⁷⁹ Vielmehr, so möchte ich abschließend zeigen, stellt Heinrich von St. Gallen seine Alanus-Paraphrase ganz in den Dienst seiner Überzeugung von der Unbefleckten Empfängnis Marias, die er in einem Erzählerkommentar ausgiebig diskutiert.⁸⁰ Der Kontroverse um die Immaculata Conceptio ist Heinrich sich nämlich durchaus bewusst, denn kurz nach seiner Beschreibung der Schaffung Marias durch Gott und Natur referiert er einige wenige der aus den mariologischen Diskursen der Zeit bekannten Argumente für und wider die Unbefleckte Empfängnis: Den Gegenstimmen, die behaupten, „daß sie nit sey entpfangn on erbsunde“, sondern erst als „die sel dem leib veraint ward, […] ward sie geraynigt von allen erbsunden“ (ML I,191‒195), setzt er dabei ein Argument ähnlich dem der Bewahrung von der Erbsünde entgegen: „der, der sie her nach behut von allen sunden, […], der mocht sie auch do behuten vnd also schicken, das sie icht verfleckt wurd in kainer erbsunden“ (ML I,196‒199). Dabei wird bereits die Zuschreibung der jeweiligen Argumente auf diejenige Position durchsichtig, zu welcher der Verfasser des Marienlebens tendiert: Als die Befürworter der Immaculata Conceptio sind „der merer tail der maister der heiligen cristenhait“ (ML I,188) sowie (fälschlicherweise) „sand Augustein“ (ML I,206) benannt, der als Heiliger, Kirchenvater und Lehrautorität selbst weniger gebildeten Rezipienten des Marienlebens bekannt gewesen sein dürfte. Hingegen werden die Opponenten, wiewohl die von Heinrich anzitierten Gegenargumente ebenfalls von theologischen Autoritäten stammen,⁸¹ lediglich als „etlich“ (ML I,191), als eine namenlose Masse unklaren Status eingeführt. Auffällig ist auch Heinrichs Strategie, den Argumenten für die Unbefleckte Emp-

 Von den allein bei Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 396 – 433, aufgelisteten 86 weiteren Marienleben ist Heinrichs von St. Gallen Marienleben das einzige, das mit einer Alanus-Paraphrase beginnt.  Ein Erzählerkommentar in Heinrichs von Neustadt etwa ein Jahrhundert früher entstandener Reimpaardichtung Gottes Zukunft betont hingegen am Ende der Alanus-Paraphrase explizit, dass Maria mit der Erbsünde empfangen wurde (so auch Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 237) und verwendet hierfür das Argument der Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen, vgl. GZ V. 1323‒ 1328.  Bei der Auseinandersetzung mit theologischen Fragestellungen orientiert Heinrich sich an der Form der Quaestiones. Heinrichs jeweilige Argumentationen sind dabei aber keineswegs neu, sondern der Patristik oder zeitgenössischen theologischen Schriften entnommen. Vgl. zu dieser Stelle etwa die Quellennachweise bei Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 322 f., sowie die eingangs zitierten Titel zur Geschichte der Immaculata Conceptio.

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fängnis weitaus mehr Raum einzuräumen als den Gegenstimmen.⁸² Zudem können Letztere nicht im eigentlichen Sinne als Argumente für die Position der Infektion und anschließenden Reinigung bzw. gegen die der Unbeflecktheit angesehen werden ‒ wie etwa das Argument der Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen ein solches wäre. Vielmehr handelt es sich hier lediglich um eine knappe Darstellung der Überzeugung von der Befleckung und anschließenden Reinigung an sich. Eine Rechtfertigung oder Erklärung ihrer Meinung lässt er die Andersdenkenden nicht ins Feld führen. Die Position der Immaculata Conceptio wird hingegen ‚logisch‘ begründet, wie neben dem Verweis auf das ‚Vermögen‘ des Erlösers (vgl. ML I,196‒199) etwa die Verwendung des Augustinus⁸³ in den Mund gelegten argumentum a fortiori zeigt: Wäre Maria „nit enthalten worden vor allen erbsunden“ (ML I,207 f.), so der Erzähler, wäre dies äußerst „vnzimlich“ und ohne „vortail […] vor andern heiligen, denn vil auch sunst, nach dem alß sie entpfangn wurden in erbsunden, gerainigt wurden alß in der alten e Ieremiaß vnd Iohannes Baptista vnd sunst ander heiligen in der newen e“ (ML I,208‒212).⁸⁴ Näher erläutert wird diese selbst gegenüber den Heiligen herausgehobene Stellung sodann mit Gottes Beschluss, in dem „edelen wirdigen tabernackel“ (ML I,213) Wohnung zu nehmen, also durch die Rolle Marias bei der Inkarnation. Deshalb hatte „got der herr sie geheiligt […] vnd gewirdigt vber al lauter creatur, die ye ward vnd ymer werden mag ewiglichen“ (ML I,214 f.). Wenngleich der Erzähler also implizit wie explizit für die Immaculata Conceptio Position bezieht, erscheint die Unbefleckte Empfängnis Marias letztendlich doch mehr als eine Frage des Glaubens, denn als ein beweisbares Faktum, wenn er zu dem Schluss kommt, dass diese „mer gutlich zu glauben [sei] dan daß ander“ (ML I,196). Diesem nicht letztgültig entschiedenen Für und Wider ist nun aber die mit der Empfängnis Marias verquickte Alanus-Paraphrase vorgeschaltet, die, anders als

 Im Text der kritischen Ausgabe wird in siebzehn Zeilen dafür argumentiert (vgl. ML I,188‒190, 196‒199 und 206‒215), während den Gegnern nur fünf Zeilen (vgl. ML I,191‒195) eingeräumt werden, von denen es sich bei zweien um einen Einschub handelt, der mit Maria Empfängnis höchstens peripher zu tun hat.  Augustinus kennt allerdings die Freiheit Marias von der Erbsünde nicht, vgl. etwa Courth, Unbefleckte Empfängnis I, Sp. 377. Zusammenfassend zu Heinrichs Umgang mit theologischen Quellen, Lehrmeinungen und Autoritäten vgl. Hilg (Hrsg.), Heinrich von St. Gallen, Marienleben, S. 367– 371.  Dieses Argument wurde, wie oben bereits erwähnt, tatsächlich verwendet, allerdings nicht um die Unbeflecktheit Marias zu begründen, sondern um ihr eine Reinigung in utero zuzusprechen, die zu einem noch früheren Zeitpunkt stattfand als bei Jeremias und Johannes dem Täufer (vgl. Söll, Mariologie, S. 165). Eine Vorrangstellung hätte Maria auch dann inne, wenn sie lediglich früher gereinigt worden wäre als alle anderen.

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die zahlreichen anderen Versatzstücke aus theologischen Quellen, narrativ ausgestaltet ist und ‒ wie oben gezeigt ‒ nicht länger als poetisches Integumentum verwendet, sondern als reine Historie, als Teil der Heilsgeschichte präsentiert wird. Sie erzählt, was in den kanonischen Evangelien und Apokryphen eine Leerstelle bleibt. Möglicherweise markiert der Verfasser auch aus diesem Grund die Anticlaudianus-Handlung nicht als eine der Auslegung bedürftige Allegorie mit konkretem Anfang und Ende, um ebendiese Wirkung nicht zu schmälern. Darüber hinaus wird die Alanus-Paraphrase nicht durch Gegenstimmen anderer Autoritäten infrage gestellt, wie Heinrich es in seinem dialektisch angelegten Text sonst zu tun pflegt. Heinrichs spezifische Integration der alan’schen narratio hat dadurch einen erheblichen Vorteil gegenüber dem bloßen (wenn auch tendenziösen) Resümieren und Abwägen der Meinungen theologischer Autoritäten. Sie bietet ein kulturell etabliertes Narrativ,⁸⁵ das die nötige Faktizität und Legitimation für die zeitgenössisch umstrittene Immaculata-Lehre liefert und es Heinrich erlaubt, bildhaft darzustellen sowie unhinterfragt und glaubhaft auszuerzählen, was sonst verborgen, unwissbar und unsagbar ist: dass Maria frei von jeder Sünde empfangen wurde und wie genau diese Unbefleckte Empfängnis vonstattenging.⁸⁶

5 Resümee Für den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis, das Compendium Anticlaudiani und Heinrichs von St. Gallen Marienleben lässt sich zusammenfassend Folgendes feststellen: Die narratio des alan’schen Anticlaudianus kreist um die Schaffung eines neuen Wesens, das sowohl an der menschlichen als auch an der göttlichen Sphäre teilhat und die gestörte Ordnung durch sein Handeln wiederherstellt. Dieser homo novus et perfectus wird aber nicht mit einer konkreten historischen Person in Verbindung gebracht. Die Schöpfungsinitiative ergreift hier die kosmi Auf die weite Verbreitung des Anticlaudianus und seine starke Rezeptionswirkung bis hin zur Aufnahme in den Kanon der Schulautoren wie auch in spätere Poetiken wurde in der Forschung bereits vielfach hingewiesen.Vgl. hierzu auch die Zusammenfassungen bei Huber, Aufnahme und Verarbeitung, S. 1– 7; Bezner, Vela Veritatis, S. 479; Huizinga,Verknüpfung, S. 102– 104; Wetherbee (Hrsg.), Alan of Lille, Literary Works, S. IX; Speer, Kosmisches Prinzip, S. 108; Ochsenbein, Studien, S. 11, und Ochsenbein, Alanus, Sp. 97– 102.  Zudem folgt auf die Darstellung der Immaculata-Kontroverse im Marienleben noch eine weitere ‚Absicherung‘ und bildhafte Darstellung der absoluten Reinheit Marias durch das allegorisierende zweite Kapitel, in dem die verschiedenen Stufen der Buchherstellung auf die Präparation Marias bezogen werden. Zu Quellen und Verbreitung dieses Vergleichs, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann, siehe Kesting, Maria als Buch, S. 122 – 147, bes. S. 137‒147.

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sche Lenkerin Natura, sie fasst gemeinsam mit den Tugenden den Erneuerungsplan und schafft den menschlichen Anteil des Homo novus; nur die Bereitstellung einer idealen Seele bleibt Gott überlassen. Das Compendium hingegen wertet Natura als Schöpfungsinstanz zu einer hilflosen natura humana ab. Die Grenzen zwischen Schöpfergott und Schöpfung, als deren Teil auch Natura sich erweist, sind nun stärker gezogen. Mühsam verknüpft stehen die veränderte Anticlaudianus-Handlung und ihre explizite Auslegung auf den Retter und Erlöser Christus nebeneinander. Anregungen für diese Auslegung mögen durch die Doppelnatur des Homo novus und einige Eckpunkte der narratio des Anticlaudianus gekommen sein. Ein erster Schritt in Richtung einer heilsgeschichtlichen Umdeutung des alan’schen Textes ist damit geleistet; ihm werden die volkssprachlichen Adaptationen Heinrichs von Neustadt und Heinrichs von St. Gallen folgen. Stärker noch als in der lateinischen Vorlage wird auf den Grenzen zwischen Gott und Natur bzw. Gott und Schöpfung im Marienleben beharrt. Die Tendenz des Compendiums fortsetzend, wird Natura in ihrer Funktion weiter reduziert. Ihr Machtbereich ist hier wie dort kaum mehr existent, sondern auf die bloße Erziehung des Menschen beschränkt und selbst ihr Beitrag zur Planung des neuen Menschen erweist sich als marginal. Zudem ist sie nurmehr eine unter vielen Stimmen, die den Missstand beklagen und eine Besserung herbeisehnen. Sie stimmt lediglich ein in das kollektive Flehen der biblischen Figuren, Propheten und Patriarchen nach göttlicher Barmherzigkeit. Deren Gebete werden mit der Bitte Naturas und der Tugenden verquickt oder vielmehr von dieser verkörpert, sodass die Anticlaudianus-Handlung geschickt mit der Heilsgeschichte verflochten wird. Gott beginnt mit der Durchführung des Erneuerungsplans erst, als ein von ihm bestimmtes Maß der Reue und Klage erreicht ist, sodass an keiner Stelle Zweifel aufkeimen können, ob es sich bei der Schaffung des homo novus et perfectus tatsächlich um den göttlichen Heilsplan handelt oder doch bloß um ein allegorisches Handeln untergeordneter Instanzen. Indem der perfekte und tugendbegabte Homo novus, der die Welt von ihrem Leid erlöst, nun Maria ist, wird diese erheblich aufgewertet und ihr semi-göttlicher Status herausgestrichen: Wiewohl ihr Leib natürlich und menschlich ist, ist ihre Seele unbefleckt, tugendbegabt und göttlich. Heinrich von St. Gallen nutzt seine Version der Anticlaudianus-Handlung, um das Transzendente, das der Wahrnehmung Entzogene, die Immaculata Conceptio anschaulich und glaubhaft darzustellen. Marias Unbefleckte Empfängnis wiederum ist ein wesentlicher Bestandteil der Auserwähltheit Marias und ihrer Sonderstellung zwischen Menschlichem und Göttlichem, die das Marienleben kontinuierlich zu konstruieren versucht. Die naturphilosophischen und epistemologischen Diskurse, die im Anticlaudianus verhandelt werden und die selbst im Compendium noch spürbar sind, spielen im Marienleben keine Rolle mehr. An ihre Stelle tritt stattdessen der zeitgenössische

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mariologische Diskurs um die Unbefleckte Empfängnis, der für ein volkssprachliches Publikum aufbereitet wird.

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Alexandra Urban

Zwischen kosmologischer Anthropologie und Tugendethik Transformationen der Natur in den poetischen Entwürfen des Alanus ab Insulis und Heinrichs von Mügeln¹

1 Die Natur im Schwellenraum des 12. Jahrhunderts Eine ihrer Blüten als Begriff und Allegorie erlebt die Natur im 12. Jahrhundert im Umkreis der sogenannten Kathedralschule von Paris und Chartres.² Für diese Entwicklung hat Marie-Dominique Chenu die prägende Formulierung von der „Entdeckung der Natur“³ gefunden, hinter der sich ein neu erwachtes Interesse an kosmologischen Fragen verbirgt, die nicht selten in naturphilosophische Lehren münden. Deutlich wird dieses Interesse an einer eklatanten Zunahme von Genesiskommentaren und naturwissenschaftlich-kosmographischen Schriften im 12. Jahrhundert.⁴ Autoren wie Gilbertus Porretanus, Thierry von Chartres oder Wilhelm von Conches versuchen, die christliche Schöpfungslehre um rationale Welterklärungsmodelle, die sich aus den neuen Naturlehren ergeben, zu ergänzen. Vorbereitet wurden diese Lehren u. a. durch die Zugänglichkeit von Platons Timaios aufgrund der Übersetzung und des Kommentars durch Chalcidius, das Werk des Boethius und schließlich die Entdeckung des gesamten Corpus des Aristoteles.⁵ Im Laufe des 12. Jahrhunderts zeichnet sich dieser Wandel auch auf der institutionellen Ebene ab. Die Kathedralschulen und das damit verbundene enzyklopädische Wissensmodell der Artes liberales werden durch die Pariser Universität abgelöst, an der die neuen Disziplinen wie die Naturphilosophie und

 Der Beitrag steht im Kontext meiner Dissertation „Die Rezeption der poetischen Werke des Alanus ab Insulis in der gereimten Dichtung Heinrichs von Mügeln“.  Vgl. zur Problematisierung des Begriffs Dronke, New approaches to the School of Chartres und Häring, Chartres and Paris revisited.  Chenu, La Théologie au douziéme siécle, bes. S. 21– 30. Vgl. zu den philosophischen Hintergründen Economou, The goddess Natura; Speer, Kosmisches Prinzip, S. 107– 128; Speer, Zwischen Naturbeobachtung und Metaphysik, S. 155 – 180.  Vgl. Kölmel, Weltinteresse und Gesellschaftsprozess, S. 45.  Vgl. Dronke, History of twelfth-century western philosophy, S. 1– 18. https://doi.org/10.1515/9783110605389-006

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Theologie ihren Platz finden.⁶ Die Forschung hat diese Entwicklung unter das Paradigma einer „Verwissenschaftlichung und Rationalisierung“⁷ des 12. Jahrhunderts gestellt, doch wäre es falsch, hier von einem teleologisch gedachten Endpunkt der Veränderung auszugehen.⁸ Das 12. Jahrhundert erweist sich vielmehr als Schwellenzeit, in der sich christliche Welterklärungsmodelle und naturphilosophische Lehren überlagern, und in der altes und neues Wissen nebeneinander stehen. Dies wird nicht zuletzt an den literarischen Werken des Alanus ab Insulis deutlich: Der Anticlaudianus ⁹ entwirft unter dem Mantel seiner allegorischen Handlung ein Bildungsmodell, das gerade die umfassende Kenntnis der Artes liberales als Voraussetzung für theologische Spekulation konzipiert und das enzyklopädische Wissenssystem damit in den Fluchtpunkt einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, nämlich der Theologie, stellt.¹⁰ Die von der älteren Forschung vorgenommene Grenzziehung zwischen den Vertretern eines alten enzyklopädischen Wissensmodells und den Autoren einer neuen theologischphilosophischen Wissenschaft erweist sich als unangemessen und sollte zugunsten eines Schwellenmodells aufgegeben werden.¹¹ Dieser methodische Kunstgriff ermöglicht es auch, den Spannungen entgegenzuwirken, die sich aus der „verstörenden Gleichzeitigkeit des vermeintlich so Ungleichzeitigen“¹² ergeben. So überrascht es kaum, dass die naturphilosophischen Lehren der Welterklärung in Rückgriff auf Platon und Aristoteles nicht selten in die Heterodoxie abzugleiten drohen, da sie die christlichen Schöpfungsberichte durch antik-pagane Schöpfungsinstanzen wie jene der Natur unterwandern. Dass die neuen Welterklärungsmodelle dabei überhaupt Geltung besitzen, liegt nicht zuletzt an ihrer allegorisch Vgl. Ferruolo, The origins of the university und Baldwin, Masters, Princes and Merchants.  Vgl. Kluxen, Wissenschaftliche Rationalität, S. 89 – 99, bes. S. 89 f. und Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung, S. 61– 80.  Vgl. Bezner,Vela Veritatis, S. 24– 27, der zu Recht auf die Notwendigkeit der Dynamisierung des Paradigmas aufmerksam macht.  Bossuat (Hrsg.), Anticlaudianus.Vgl. für die deutsche Übersetzung Rath, Der Anticlaudian oder Die Bücher von der Erschaffung des neuen Menschen. Die zweisprachige Ausgabe von Wetherbee (Hrsg.), Alan of Lille, Literary works ist aufgrund der besseren Benutzbarkeit vorzuziehen.  Im Anticlaudianus fasst die Natura den Plan, einen neuen vollkommenen Menschen zu erschaffen. Die vollkommene Seele kann jedoch nur Gott und nicht die Natur selbst herstellen. Daher erbauen die Artes liberales einen Himmelswagen und schicken Prudentia auf die Reise zu Gott, um von ihm die vollkommene Seele für die Erschaffung des Homo novus zu erbitten. Der Prudentia bleibt es jedoch verwehrt, alleine zu den letzten Geheimnissen Gottes vorzudringen, weshalb ihr die Theologia als Führerin zur Seite tritt. Die Artes liberales und die Rationalität als Erkenntnisprinzip erscheinen in dieser Konzeption als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für den Aufruf zur theologischen Spekulation.  Vgl. hierzu Bezner, Wissensmythen, S. 46 – 49.  Bezner, Wissensmythen, S. 46.

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integumentalen Darstellung, anhand derer die philosophischen und theologischen Konzeptualisierungen in literarische Strukturen transformiert werden.¹³ Die Allegorien der Natur im 12. Jahrhundert sind in diesem Rahmen zu situieren. Als besonders einflussreiches Beispiel gilt die allegorische Darstellung der Natur¹⁴ in Alanus’ ab Insulis Prosimetrum De planctu naturae. ¹⁵ In alles überstrahlender Schönheit erscheint die Natur dem Dichter in einer Vision und wird in einer ausladenden descriptio beschrieben. In einem langen Dialog setzt sie dem Dichter-Ich ihren Macht- und Einflussbereich auseinander. Sie inszeniert sich als kosmisches Prinzip, das in Analogie zum Makrokosmos auch den Menschen entworfen hat, (S. 90, Z. 8 – 16). Sie vereint Körper und Geist, kann diese Verbindung jedoch auch wieder lösen und stilisiert sich damit als Herrin über Leben und Tod: „Sicut ergo praefatae nuptiae meo sunt celebratae consensu, sic pro meo arbitrio, eadem cessabitur copula maritalis“ (S. 90, Z. 7 f.).¹⁶ Ihre Selbstbeschreibung bewegt sich dabei an vielen Stellen an der Grenze dessen, was in einem Denkrahmen mit Gott als oberster Instanz gesagt und gedacht werden kann. Besonders in ihrer Rolle als pro-dea (S. 118, Z. 20), die über den richtigen Formgebungs- und Schöpfungsprozess zu wachen hat, rückt sie in nicht ungefährliche Nähe zu Gott.¹⁷ Zwar ordnet sie sich einerseits explizit der göttlichen Prärogative unter, indem sie sich als discipula (S. 96, Z. 5 f.) des höchsten Meisters zu erkennen gibt, doch ermächtigt sie sich andererseits, wenn sie ihren Anteil an der Schaffung der mythischen Helena als Vorgang des Vergöttlichens beschreibt: „Cur decore deifico vultum deificavi Tyndaridis […]“ (S. 108, Z. 9).¹⁸

 Vgl. hierzu besonders die Arbeiten von Jeauneau, L’usage de la notion d’integumentum, S. 127– 192; Dronke, Fabula; Meier, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung, S. 1– 69; Meier, Zum Problem der allegorischen Interpretation, S. 250 – 296; Meier, Argumentationsformen kritischer Reflexion, S. 116 – 159; Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus des Alanus; Bezner,Vela Veritatis; Bezner, Latet omne verum?, S. 575 – 611; Kellner, Allegorien der Natur, S. 113 – 143.  Vgl. zu den verschiedenen Rollen und Bedeutungen der Natur bei Alanus Huber, Die personifizierte Natur, S. 151– 172.  Es wird zitiert nach der Ausgabe von Köhler (Hrsg.), Die Klage der Natur. Vgl. zur Ergänzung der deutschen Übersetzung von Köhler die englischen Übersetzungen von Wetherbee (Hrsg.), Alan of Lille, Literary works und Sheridan (Hrsg.), The plaint of nature, die dem lateinischen Text näher und präziser folgen.  „Wie also mit meiner Zustimmung die oben genannte Hochzeit gefeiert wurde, so wird auch nach meinem Urteilsspruch diese eheliche Vereinigung als zerrüttet angesehen.“  Vgl. auch Kellner, Allegorien der Natur, S. 127 f.  „Warum habe ich das Angesicht Helenas mit göttlichem Glanz vergöttlicht […].“

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Die Spannungen, die sich zwischen den beiden Instanzen Gott und Natur ergeben, sind damit also keinesfalls beigelegt. Im Gestus der Subordination als vicaria Dei (S. 88, Z. 17) fordert sie dessen höchste Autorität vielmehr immer wieder heraus. Die Grenzziehung zwischen Gott und Natur erweist sich mit ihrer Stellvertreterschaft alles andere als stabil und eindeutig. Es entstehen vielmehr Grenzbereiche, in denen sich die Zuständigkeiten überlappen. Die Konzeptualisierung der Instanzen auf der allegorischen Ebene spiegelt damit eben jenen epistemologischen Schwellenbereich des 12. Jahrhunderts wider, aus dem sich die Theologie erst im Laufe der Jahrhunderte in Abgrenzung von der Naturphilosophie als eigenständige Disziplin heraus entwickelt. In De planctu naturae wird über den Naturbegriff jedoch nicht nur eine epistemologische, sondern auch eine anthropologisch-moralphilosophische Dimension integriert. Wie der Titel bereits verrät, stimmt die Natur ein Klagelied über den sexuellen und moralischen Verfall des Menschen an.¹⁹ Dieser habe in Form verschiedener Delikte gegen ihr Gesetz einer natürlichen Fortpflanzungsund Geschlechterordnung verstoßen. Inwieweit die allegorische Handlung Alanus’ Modell einer natürlichen Anthropologie des Menschen widerspiegelt, soll im ersten Teil dieses Beitrags entwickelt werden. Dabei soll veranschaulicht werden, dass Alanus über den Naturbegriff ein komplexes Hybrid aus Tugend und Natur im Sinne einer kosmologischen Anthropologie konzipiert. Wie sich diese Konzeptualisierung des Naturbegriffs bei Heinrich von Mügeln in Der meide kranz und in seiner Spruchdichtung transformiert, soll in einem zweiten Schritt herausgearbeitet werden.

2 Die natürliche Anthropologie des Alanus ab Insulis Die Natur ist die uneingeschränkte Protagonistin von Alans De planctu naturae, deren (Selbst‐)Beschreibung einen Großteil des Werkes ausmacht. Für ihre Konzeptualisierung ist neben Gott jedoch noch eine weitere Instanz von Bedeutung. Als sie dem Dichter davon berichtet, dass der Mensch gegen ihr Gesetz verstoßen

 Die ältere Forschung hat das Werk vor allem als Polemik gegen die Homosexualität gelesen. Vgl. z. B. Ziolkowski, Grammar of Sex und Green, Alan of Lille’s De Planctu Naturae, S. 649. Neueste Untersuchungen zeigen hingegen, dass das Werk in einen größeren Diskurszusammenhang eingebettet werden muss. Vgl. zu diesem Aspekt die Beiträge von Frank Bezner, Sexualität zwischen Kosmologie, Anthropologie und Disziplinierung und Beate Kellner, Wider die Natur?, die ihre Untersuchung auf den Trojanerkrieg Konrads von Würzburg ausweitet.

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habe, gibt sie als Grund für seine Vergehen eine mythologische Erklärung ab. Venus, die von Natura als subvicaria eingesetzt und mit der Aufgabe der irdischen Fortpflanzung betraut wurde, habe ihre Pflichten vernachlässigt: Sed quia sine subministratorii artificis artificio suffragante, tot rerum species expolire non poteram, […] Venerem in fabrili scientia conpertam, meaeque praeceptionis sub arbitrio, hymenaei coniugis, filiique Cupidinis industria suffragante, in terrestrium animalium varia effigatione desudans, fabriles malleos suis regulariter adaptans incudibus, humani generis seriem indefessa continuatione contexeret, ne Parcarum manibus intercisa discidii iniurias sustineret. (S. 120, Z. 6 – 16) Aber weil ich ohne die Fertigkeit einer untergeordneten Mithelferin die Arten so vieler Dinge nicht ausführen konnte, […] habe ich Venus, die im Werkwissen erfahren ist, zur Mithelferin meines Wirkens in der Vorstadt der Erde eingesetzt, damit sie sich unter meinem Auftrag und Willen, unterstützt vom Fleiß ihres Gatten Hymeneus und ihres Kindes Cupido, in der unterschiedlichen Herausbildung der irdischen Lebewesen abmühe und der Regel entsprechend die Handwerkshämmer auf ihren Ambossen anwende und so den Faden des menschlichen Geschlechts in unermüdlicher Fortsetzung knüpfe, damit er nicht durch die Hände der Parzen abgeschnitten und durch diese Unterbrechung Schaden erleide.

Anstatt der hier formulierten Aufgabe nachzugehen, vernachlässigt Venus ihre Pflicht, für die irdische Fortpflanzung zu sorgen und begeht Ehebruch mit Antigamus. Aufgrund dieser Verfehlung kann sie schließlich für den Verfall und die Lasterhaftigkeit des Menschen verantwortlich gemacht werden. Mit Venus wird also eine weitere Figur in das kosmologische Instanzengefüge von Gott und Natur integriert. Während Natura lediglich in einem Spannungsfeld zwischen ihren Aufgaben und denen Gottes agiert, überschreitet Venus mit dem Ehebruch mit Antigamus die Grenze des ihr Erlaubten. Die Inszenierung der Hierarchie von Gott, Natur und Venus erweist sich nun geradezu als Bedingung der Möglichkeit der Devianz des Menschen und spiegelt Alans komplexe Anthropologie wider. So wie die einzelnen Mächte die Grenzen ihres Aufgabenbereichs ausmessen und eben auch überschreiten, ist auch der Mensch dazu prädestiniert, von seinem telos abzuweichen. Er kann sich durch den Gebrauch der Ratio entweder zu den Engeln aufschwingen oder aber zur Bestie degenerieren, wenn er seiner sensualitas folgt. Haec [sensualitas] mentem humanam in vitiorum occasum deducit, ut occidat, haec [ratio] in orientem virtutum ut oriatur invitat. Ista hominem in bestiam degenerando transmutat, illa hominem in deum potentialiter transfigurat. (S. 90, Z. 24– 27) Sie [die Sinnlichkeit] verführt den menschlichen Geist in den Fall, in die Laster, um ihn zu töten. Jene [die Vernunft] lädt ihn ein in den Aufstieg, die Tugend, damit er entstehe. Diese verwandelt den Menschen degenerierend in eine Bestie. Jene verklärt ihn der Möglichkeit nach zu Gott.

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Das instabile und fehleranfällige Gefüge der allegorischen Instanzen veranschaulicht damit genau jenes Modell einer ‚Degeneration‘ (degenerandum) der alan’schen Anthropologie, das den Menschen als „Spektrum möglicher Zustände“²⁰ denkt. Deutlich wird diese Konzeption in den Regulae de sacra Theologiae, einem der wichtigsten theologischen Werke des Alanus ab Insulis: Nota quod aliud est thesis humanae naturae, aliud apotheosis, aliud ypothesis. Thesis dicitur proprius status hominis quem servare dicitur quando ratione utitur ad considerandum quid bonum, quid malum, quid agendum, quid cavendum. Sed aliquando excedit homo istum statum vel descendendo in vitia vel ascendendo in caelestium contemplationem. Et talis excessus dicitur extasis sive metamorphosis quia per huiusmodi excessum excedit statum proprie mentis vel formam. Excessus autem superior dicitur apotheosis quasi deificatio quod fit quando homo ad divinorum contemplationem rapitur. Et hoc fit mediante illa potentia animae quae dicitur intellectualitas qua conprehendimus divina. Secundum quam potentiam homo fit homo-deus sicut mediante illa potentia animae, quae dicitur intellectus, conprehendit invisiblia per quam conprehensionem homo fit homo-spiritus sicut per speculationem rationis homo fit homo-homo. Inferior vero extasis est quae et ypothesis, quando homo a statu humanae naturae demittitur degenerando in vitia. Et hoc fit per sensualitatem per quam homo fit homo-pecus. ²¹ „Bedingung“ [Normalzustand] wird der dem Mensch eigentümliche Zustand genannt, der dann gebraucht wird, wenn durch die Vernunft von der Betrachtung Gebrauch gemacht wird, was gut, was schlecht, was zu tun, was zu unterlassen ist. Aber manchmal überschreitet der Mensch diesen Zustand, indem er entweder zu den Lastern hinabgleitet, oder zur Betrachtung des Himmlischen aufsteigt. Eine Überschreitung zu Höherem wird „Vergöttlichung“ gewissermaßen als „Gottwerdung“ genannt, die geschieht, wenn der Mensch von der Betrachtung des göttlichen Bereichs weggerissen ist. Dies geschieht vermittelt durch jenes Seelenvermögen, das „Intellekt“ genannt wird, den Bereich des Unsichtbaren erfasst, durch welches Erfassen der Mensch Mensch-Geist wird, und so wie der Mensch durch das Erwägen der Vernunft Mensch-Mensch. [Die Überschreitung] zu Niederem aber ist Extase, die auch Grundlage [ist], wenn der Mensch den Zustand der menschlichen Natur hinter sich lässt, um in Lastern auszuarten. Und dies geschieht durch die Sinnlichkeit, durch die der Mensch Mensch-Vieh wird.

Die Stelle zeigt, dass Alanus ein, wenn man so will, liminales Modell der menschlichen Zustände entwirft. Den Normalzustand des Menschen bezeichnet er als thesis und meint damit den Status des Menschen als Mischwesen mit Körper und Seele. Im Zustand der thesis ist der Mensch in der Lage, rational zu reflektieren und moralisch zu handeln. Aus diesem Normalzustand kann der Mensch

 Bezner, Vela Veritatis, S. 501.  Es wird zitiert nach der Ausgabe von Niederberger, Pahlsmeier (Hrsg.), Alain von Lille. Regeln der Theologie, Kapitel 99, S. 214.

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jedoch in zweierlei Richtung ‚degenerieren‘, zum Guten (extasis superior) und zum Schlechten (extasis inferior). Wenn der Mensch seiner sensualitas folgt, verfällt er dem Laster und nähert sich dem „tierischen Menschen“ an. Bedient er sich jedoch seiner Ratio und betreibt theologische Reflexion (supercelestis scientia), um die Sphäre des Unsichtbaren zu betrachten, wird er zum homo-spiritus bzw. homodeus. Alanus denkt den Menschen in seiner natürlichen Veranlagung also sowohl als fehlbares als auch tugendbegabtes Wesen. Welchen Weg er einschlägt, hängt letztlich von der freien Entscheidung des Menschen ab. Tugend wird damit als natürliches Vermögen gedacht, das durch den freien Willen der Vernunftbegabung verwirklicht werden kann. Dadurch dass der Mensch grundsätzlich dazu in der Lage ist, zu degenerieren, bedarf es regulierender und kontrollierender Mechanismen. Auf der allegorischen Ebene wird dies durch die Personifikation des Genius verkörpert, der am Ende von De planctu naturae die Exkommunikation derer vornimmt, die in Lasterhaftigkeit verfallen sind. ‚O Natura, non sine internae inspirationis afflatione divina a tuae discretionis libra istud imperiale processit edictum, ut omnes, qui abusiva desuetudine nostras leges obsoletas reddere moliuntur, non in nostrae solemnitatis feria feriantes, anathematis gladio feriantur.[‘] ( S. 198, Z. 5 – 9) ‚O Natura, nicht ohne göttlichen Anhauch, eine innere Eingebung, kam durch dein ausgewogenes Urteil dieses herrliche Edikt zustande, daß alle, die sich durch leichtsinnige Entwöhnung bemühen, unsere Gesetze als abgenutzte hinzustellen, die nicht unsere feierlichen Feste mitfeiern, mit dem Schwert des Anathema getroffen werden sollen.[‘]

Die Rolle des Genius zu bestimmen, ist gerade in Abgrenzung von Natura nicht einfach.²² Im achten Prosaabschnitt bezeichnet sie ihn als Alter Ego („sibi alteri“), mit dem sie in Liebe verbunden ist: „[…] in te velut in speculo Naturae resultante similitudine inveniendo me alteram, tibe nodo dilectionis praecordialis astringor […]“ (S. 184, Z. 22– 23).²³ Die Nähe zwischen den beiden Instanzen wird auch in der vorliegenden Textstelle deutlich. Genius apostrophiert Natura und lobt ihren herrscherlichen Entschluss („imperiale edictum“), diejenigen durch ein Anathema verbannen zu lassen, die gegen ihre Gesetze („nostras leges obsoletas“) verstoßen und ihre Feste („non in nostrae solemnitatis feria feriantes“) nicht gefeiert haben. Das Possessivpronomen ‚noster‘ markiert die enge Zusammengehörigkeit der beiden Instanzen auf der Wortebene. An der allegorischen Handlung von De  Vgl. zur Bedeutung des Genius in De planctu naturae Wetherbee, The function of poetry, S. 87– 125, bes. S. 112– 120; sowie Brumble, The role of genius, S. 306 – 326.  „[…] so finde ich in dir mein zweites Ich, so wie sich die Ähnlichkeit der Natura in einem Spiegel wiederfindet; ich bin dir durch den Knoten einer herzlichen Liebe verbunden […]“.

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planctu naturae wird jedoch deutlich, dass Genius und Natura nicht vollständig miteinander gleichzusetzen sind. Genius erscheint in seiner Rolle als „Priester“ vielmehr als komplementäre Instanz zu Venus, der das Unrecht, das diese gegen die Natura begangen hat, durch die Exkommunikation der Lasterhaften bestraft (S. 198 – 200). Mit dem Auftritt von Genius integriert Alanus damit eine dezidiert rechtliche, institutionalisierte Komponente („leges“, „anathema“) in sein Werk, mittels derer es das moralischen Fehlverhalten zu sanktionieren gilt. Die eigentliche moralische Instanz ist jedoch die Natur. Diese Konzeption ist bei Alanus weitaus subtiler verankert als nur auf der Ebene der Allegorie.²⁴ Über die Begrifflichkeit der Formung setzt er den degenerierten Zustand des Menschen mit der vollkommenen Ungeformtheit der Hyle in Analogie. Dem Zustand der vollkommenen Geformtheit bzw. Veredelung des Menschen entsprechen dagegen die als Gedanken Gottes gedachten Ideen („informatio“). Zwischen diesen beiden Extrempositionen, also im Normalzustand des Menschen, befinden sich die Formhaftigkeit der aktualen Welt und die Formen jenseits der Materie („conformitas“). Anhand dieser Konzeption wird deutlich, dass der Naturbegriff bei Alanus dezidiert moralisch dimensioniert ist. Der ungeformte Zustand der Natur gilt als moralisch depraviert, der geformte Zustand dagegen als Erfüllung von Norm. Als besonders repräsentativ für diesen Aspekt gilt das vierte Metrum aus De planctu naturae, in dem der Dichter die Natura in einer langen Apostrophe beschreibt und das hier ausschnitthaft wiedergegeben ist. O Dei proles, genitrixque rerum, Vinculum mundi, stabilisque nexus, Gemma terrenis, speculum caducis, Lucifer orbis. Pax, amor, virtus, regimen, potestas, Ordo, lex, finis, via dux, origo, Vita, lux, splendor, species, figura, Regula mundi. (S. 100, Metrum 4, V. 1– 8) O Gottes Sprößling, Gebärerin der Dinge, Band der Welt und beständige Verbindung, Gemme den Irdischen, Spiegel den Gefallenen, Lichtstern des Erdkreises. Friede, Liebe, Kraft, Herrschaft, Macht, Ordnung, Gesetz, Ziel, Weg, Führerin, Ursprung, Maßstab der Welt.

 Vgl. für das Folgende die Ausführungen von Bezner, Vela Veritatis, S. 529 – 535.

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Während Natura im ersten Teil als kosmisches und generatives Prinzip erscheint und über die Begriffe „Band der Welt“ und „beständige Verbindung“ an die platonische Weltseele angenähert wird, erscheint sie ab Vers drei als Bezugspunkt für den Menschen. Sie fungiert als Vorbild („Gemme“, „Spiegel“) und Orientierungspunkt („Lichtstern“) für die Sterblichen. Anhand der darauffolgenden Epitheta virtus, regimen, ordo, lex, regula mundi wird auch der Aspekt der moralischen Dimensionierung des Naturbegriffs deutlich. Indem die Natur als Tugend, Ordnung, Gesetz und Regel der Welt apostrophiert wird, verankert Alanus den Aspekt der Normativität und Moralisierung im Innersten ihrer Begriffsmatrix. Daraus ergibt sich schließlich wiederum jene Konzeption, die den Menschen bereits in seiner natürlichen Veranlagung als tugendbegabtes und zum moralischen Handeln fähiges Wesen begreift. Verstößt der Mensch jedoch gegen die Gesetze der Natur, indem er von seiner natürlichen Veranlagung zum Gutsein abfällt, wird er, wie das Ende von De planctu naturae zeigt, aus der Gemeinschaft exkludiert. Dass diese Konzeptualisierung der Natur in einem ganz spezifischen historischen Kontext steht, haben vor allem die Arbeiten von Frank Bezner gezeigt.²⁵ So sind die literarischen Entwürfe des Alanus ab Insulis, in denen epistemologische und moralphilosophisch-anthropologische Fragen verhandelt werden, aus dem Kontext einer chaotischen Bildungswirklichkeit am Vorabend der Gründung der Pariser Universität heraus entstanden. Mit dem neu erwachten Interesse an Rationalisierung und wissenschaftlicher Erkenntnis ging ein enormer Zuwachs an Studenten und Magistern einher, der schnell zur Überlastung der institutionellen Strukturen führte. Es fehlten nicht nur Auflagen hinsichtlich der Lehrbefugnis und Entlohnung der Lehrenden, sondern auch Vorgaben zum rechtlich-politischen Status der Pariser Studierenden sowie moralische Normvorgaben. Diese werden durch eine Gruppe Pariser Gelehrter (Petrus Cantor, Thomas Chobham und Stephen Langton) in moralphilosophischen Traktaten und Predigten verhandelt, in deren Kontext auch die literarischen Werke des Alanus ab Insulis zu stellen sind. Die natürliche Anthropologie erweist sich damit nicht zuletzt als Teil einer moralischen Reformbewegung im Umkreis der Pariser Universität, die sich die rechtlich-normative Disziplinierung der jungen Studenten zur Aufgabe gemacht hat.

 Vgl. hierzu Bezner, Vela Veritatis, bes. S. 471– 502; Bezner, Omnes excludendi sunt praeter domesticos, S. 57– 77. Zum institutionellen und sozialen Hintergrund vgl. auch Ferruolo, The Origins of the University und Baldwin, Masters, Princes and Merchants.

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3 Transformation der Natur bei Heinrich von Mügeln Der Einfluss der Natura-Darstellung in den poetischen Werken des Alanus ab Insulis auf die mittelalterliche Literatur kann kaum überschätzt werden. Sowohl De planctu naturae als auch Anticlaudianus wurden in über hundert Handschriften überliefert und über Kommentare, Kompendien und Illustrationen bis hinein in die Volkssprachen rezipiert.²⁶ Grundlegend für die Alanus-Rezeption im deutschsprachigen Raum ist die Studie von Christoph Huber aus dem Jahr 1988,²⁷ an die die folgenden Ausführungen anknüpfen wollen. Der meide kranz von Heinrich von Mügeln stellt ein besonders interessantes Rezeptionszeugnis dar, da in ihm die bei Alanus vorgeprägten Themen der Theologie, Naturphilosophie und Anthropologie wiederkehren. Seit dem Nachweis von Helm aus dem Jahr 1897 gilt es als gesichert, dass Mügeln den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis kannte und als Vorlage für sein Werk benutzte.²⁸ Einzelne Passagen aus Der meide kranz, so z. B. die Natura-Beschreibung, scheinen außerdem direkt auf De planctu naturae zurückzugehen.²⁹ Die Kategorie der Natur eignet sich damit in besonderer Weise als heuristisches Instrument, um die Transformationen der genannten Diskursfelder herauszuarbeiten. Wie Mügeln die komplexe Konzeption von Natur und Tugend des Alanus ab Insulis in Der meide kranz verändert, soll im Folgenden entwickelt werden. Zunächst scheint es jedoch nötig, das Werk in seinem historisch-literarischen Kontext zu verorten. Heinrichs von Mügeln Der meide kranz entsteht um 1355 am Hof Kaiser Karls IV. und ist ein allegorisches Reimpaargedicht, in dem sich Fürstenpreis und Fürstenspiegel verschränken. Mügeln verewigt den Kaiser in seiner Rolle als Protektor von Bildung und Wissenschaft, dem es durch die Gründung der Universität im Jahre 1348 gelungen ist, die Voraussetzung für das höhere Studium in

 Bereits in der ersten Schülergeneration des Alanus existieren zwei Kommentare zum Anticlaudianus, die von Wilhelm von Auxerre und Radulphus von Longchamp verfasst wurden und die auf einen Gebrauch des Werkes als Schullektüre hinweisen. Vgl. Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis, S. 5 f.; vgl. zur Rezeption des Anticlaudianus in Kommentar und Illustration insbesondere in der Veroneser Handschrift CCLI und der Pommersfeldener Handschrift 215 Meier, Die Rezeption des Anticlaudianus in Textkommentierung und Illustration S. 408 – 549 und Mütherich, Ein lllustrationszyklus zum Anticlaudianus, S. 73 – 88.  Vgl. Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis. Das Kapitel zu Mügeln umfasst die Seiten 245 – 310.  Helm, Zu Heinrich von Mügeln, S. 135– 151.  Vgl. hierzu die Zusammenstellung in Anhang 24 bei Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis, S. 442.

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der Residenzstadt zu schaffen.³⁰ Er stellt dabei nicht nur die materielle Versorgung des Universitätsbetriebs sicher, sondern baut das Bildungswesen mit der Errichtung von Bibliotheken und dem systematischen Aufbau des niederen Schulwesens nach und nach aus.³¹ In dieser Rolle als Mäzen von Bildung und Kultur lässt Mügeln den Kaiser in Der meide kranz auftreten, indem er ihn im ersten Buch als Schiedsrichter im Prioritätenwettstreit zwischen den zwölf Artes einsetzt. Dadurch gelingt es ihm einerseits, Karls Urteilskraft als Richter unter Beweis zu stellen, sowie ihn andererseits als in allen Künsten gebildeten Herrscher auszuweisen. Es ist also vor allem der erste Teil von Der meide kranz, in dem die Elemente eines Fürstenpreises zu Tage treten und der als literarisches Repräsentationszeugnis für das (bildungs‐)politische Programm des Kaisers funktionalisiert werden kann. Der sich daran anschließende zweite Teil von Der meide kranz verschiebt den Fokus von den Artes und dem Kaiser auf die Instanzen der Tugenden und der Natur. Da Karl sein Urteil im Artes-Wettstreit von Natur überprüfen lassen möchte, reisen die Artes unter der Leitung von Sitte und Zucht ins Land der Natur. Diese wird hier also im wörtlichen Sinne zur Berufungsinstanz, fällt das Urteil aber wiederum mithilfe der Tugenden, die sich ebenfalls in das Land der Natur aufmachen. Im zweiten Buch entspinnt sich daraufhin ein Wettstreit zwischen Natur und Tugenden, der am Ende von Theologia zugunsten der Tugenden entschieden wird. Mügeln übernimmt das Modell des Instanzenzugs aus den Texten des Alanus, verändert das Figurengefüge jedoch entschieden.Während er den mythologischen Apparat um Venus und ihre Gehilfen ausklammert, integriert er mit Karl IV. eine historische Figur in sein Instanzensystem. Die Hierarchie von Gott, Natur und Kaiser wird im Prolog verhandelt. Die Grenzziehungen scheinen hier stabiler zu sein, doch wird bereits an der Grundstruktur von Der meide kranz – es werden zwei Prioritätenwettstreite verhandelt – deutlich, dass es auch hier um die Aushandlung von Hierarchien geht. Im ersten Prioritätenwettstreit wird die Ordnung unter den Artes verhandelt, bei dem der Kaiser Theologia die höchste Würde zuspricht. Gegenstand des Wettstreits zwischen Natura und den Tugenden im zweiten Teil ist die Frage, ob die Tugenden von der Natur abhängen oder aber die Natur von den Tugenden abstammt. Auf der allegorischen Ebene wird die Rangfolge zwar entschieden: Theologia spricht den Tugenden den Sieg zu, doch wird bereits am Schluss von Der meide  Vgl. zu diesem Aspekt Herkommer, Kritik und Panegyrik, S. 68 – 116.  Vgl. Hlavácek, Zum böhmischen Bildungs- und Bibliothekswesen, S. 795 – 806 und Stoob, Kaiser Karl IV. und seine Zeit, bes. S. 237– 246; vgl. für die Bedeutung des Prager Hofs als Zentrum kultureller Tätigkeit Macek, Die Hofkultur Karls IV., S. 237– 241.

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kranz deutlich, dass die Hierarchien keineswegs geklärt sind. In einer groß angelegten Selbstbeschreibung stellt Natura ihren Macht- und Einflussbereich vor sowie die Abhängigkeit des menschlichen Charakters vom Einfluss der Planetenund Sternenkonstellation. Wie diese Spannung aufgelöst werden kann, soll im Folgenden entwickelt werden.³² Im Rangstreit mit den Tugenden beginnt Natura mit drei Argumenten, die ihre Vorrangstellung untermauern sollen: Erstens werde Tugend nur an Handlungen sichtbar, die wiederum von ihr selbst initiiert würden. Zweitens habe der Mensch in Bezug auf die Tugend Entscheidungsfähigkeit. Aufgrund des freien Willens könne er sich für oder gegen die Tugend entscheiden und stehe damit über ihr. Gegen die Natur könne er sich jedoch nicht entscheiden, weshalb er nicht über der Natur stehe. Dadurch übertreffe die Natur die Tugend. Das dritte Argument besteht darin, dass sich Natura selbst als die Substanz bezeichnet und die Tugenden als Eigenschaften dieser Substanz. Tugend kann demnach nur innerhalb der Natur existieren und ist deshalb von ihr abhängig.³³ (MK, V. 1357– 1400) Demgegenüber begründen die Tugenden ihre Vorrangstellung erstens damit, dass die Handlungen (von Natura initiiert) durch Tugend erst veredelt und vervollkommnet werden. Das zweite und dritte Argument bezieht sich darauf, dass nur freiwillige Handlungen gelobt oder getadelt werden können. Wäre man von Natur aus gut, müsse man dafür nicht gelobt werden. Es ist also nur die Tugend, die zur Ehre führt. (MK, V. 1401– 1452) Nachdem die Kontrahenten ihre Argumente ausgetauscht haben, folgt die Selbstbeschreibung der Tugenden. Den Anfang macht die Weisheit, gefolgt von den anderen Kardinaltugenden der Gerechtigkeit, Stärke und Mäßigkeit. Dann kommen weitere Herrschertugenden wie Freigiebigkeit und Friede und schließlich christliche Tugenden wie Demut, Glaube, Liebe und Hoffnung hinzu. Am Ende ihrer Selbstbeschreibung münden die Reden der Tugenden in einen direkten Appell und in eine Lehre an die Fürsten, sich tugendhaft zu verhalten. (MK, V. 1453 – 2220) Folgt man der Doppelstruktur von Der meide kranz, würde man an dieser Stelle die Selbstbeschreibung der Natura erwarten. Stattdessen erfolgt jedoch sofort das Urteil der Theologia. Sie spricht den Tugenden den Sieg zu und begründet ihre Entscheidung ebenfalls mit drei Argumenten: Erstens könne Tugend nicht aus der Natur heraus fließen, da sie nicht in gleichem Maße in allen Men Die folgenden Versangaben und Zitate beziehen sich auf die Ausgabe von Stackmann (Hrsg.), Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, Zweite Abteilung. Die deutschen Übersetzungen stammen von mir.  Huber führt die Argumente des Rangstreits auf ihren aristotelisch-scholastischen Hintergrund zurück. Vgl. Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis, S. 287– 304.

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schen angelegt ist und der Mensch frei entscheiden könne, ob er tugendhaft sei oder nicht. Zweitens sei tugent wie eine ars erlernbar und daher nicht bereits von Natur aus angelegt. Die letzte Begründung schließlich, die den Prioritätenstreit eindeutig entscheidet, besteht in dem Argument, dass Gott die Schöpfung der Natur ohne Tugend nicht hätte erschaffen können. Aus diesem Grund muss tugent der Natur vorausgehen. (MK, V. 2221– 2288) Der Wettstreit scheint an dieser Stelle beigelegt zu sein und das Ende des Buches wird angezeigt: „hie sal des buches ende sin“ (MK, V. 2288). Umso erklärungsbedürftiger ist die etwa 300 Verse lange Rede der Natura, die unmittelbar an den Schluss des zweiten Buches anschließt und die merkwürdig nachgeschoben wirkt. Sie sprengt nicht nur die Struktur des zweifachen Prioritätenwettstreits, sondern wirft auch die Frage auf, wie das astronomisch-kosmologische Wissen, das Natura präsentiert, inhaltlich zu bewerten ist.³⁴ Ich möchte daher im Folgenden versuchen, das Ende des Werkes vor dem Hintergrund der Gesamtstruktur neu zu interpretieren und in die Gesamtanlage von Der meide kranz einordnen. Der Aufbau von Naturas Rede ist zweiteilig. Sie beginnt mit einer konventionellen Beschreibung des Kosmos und mündet schließlich in die Diskussion über den Einfluss der Planeten- und Sternenkonstellation auf den Charakter des Menschen. Natura präsentiert hier also Wissensinhalte aus dem Gebiet der Astronomie, die in den Bereich der Astrologie ausgreifen.³⁵ Die zwölf Sternzeichen (Stier, Fische,Widder, Zwilling, Krebs, Löwe, Jungfrau, Skorpion, Waage, Schütze, Steinbock und Wassermann) werden vollständig aufgezählt und ihr jeweiliger Einfluss auf den Charakter und die Physiognomie des Menschen beschrieben. Einem einheitlichen Muster folgen die Aufzählungen dabei nicht, sodass einige

 Vgl. zur Problematisierung der Stelle auch den Kommentar von Volfing (Hrsg.), Heinrich von Mügeln. Der meide kranz, S. 346 – 348, S. 374 f. Sie interpretiert die Rede der Natura und das anschließende Urteil des Dichters als dritten Prioritätenwettstreit und geht von einer Dreiteilung des Werkes aus. Ich halte ihre Argumentation für durchaus plausibel, doch scheint mir diese Lesart die Sperrigkeit der Stelle auf unnötige Weise zu glätten. Auch die Erklärung von Kibelka, Mügeln folge der Struktur einer scholastischen Argumentation, die die nicht gebilligten Argumente nach dem Austausch der Pro- und Contra-Argumente noch einmal aufgreife, geht nicht vollständig auf, da die Rede der Natur die argumentative Ebene verlässt und stattdessen in ein hymnisches Lob auf ihren Einfluss- und Wirkbereich verfällt. Vgl. Kibelka, der ware meister, S. 57. Ich möchte das Ende von Der meide kranz daher gerade in seiner strukturellen und inhaltlichen Spannung lesen und vor diesem Hintergrund eine neue Interpretation vorschlagen.  Mügeln widmet der Astronomie auch in seinem Spruchwerk ein eigenes Buch (Strophe 296 – 313 in der Zählung von Stackmann). Stackmann (Hrsg.), Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Die Strophen und die Rede der Natura in Der meide kranz entsprechen sich zu großen Teilen wörtlich.

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der Sternzeichen (Stier, Widder) lediglich die Physiognomie der Menschen vorhersagen, andere wiederum auch Charaktereigenschaften (Krebs, Zwilling) prognostizieren oder Aussagen über gewisse Berufe (Schütze, Fisch) treffen. Das Sternzeichen Krebs verbindet Aussagen zur Physiognomie und zum Charakter mit medizinischen und finanziellen Prognosen. Der Krebs das vierde zeichen heißt, der stete hinderwertig reist. welch tier darinne wirt geborn, in ern es selden wirt gekorn. sin antlitz das ist slaferig, sin hüffe grob und dabi dick. sin ougen im zerblunsen sint, krank ist sin blick, wirt es nicht blint. gar widerspenig ist sin tat, sin glücke rückelingen gat. ußsetzig und ouch süchen vil es lit in siner tage zil. treg ist sin werk, der adem sin im stinket. nach der lere min es wirt ouch von geschichte rich und snell den betelern gelich. wann in dem zeichen get der man, so saltu alle teiding lan: welch ding darinne wirt geborn, daran die erbeit ist verlorn. (MK, V. 2417– 2436) Krebs heißt das vierte Sternzeichen./Der bewegt sich stets rückwärts./Das Tier, das darin geboren wird,/wird selten zu Ehre auserwählt./Sein Antlitz ist schläfrig,/seine Backen sind grob und dick,/seine Augen geschwollen,/schwach ist seine Sehkraft, wenn es nicht blind ist./Seine Taten sind eigensinnig,/sein Glück wendet sich rückwärts./Am Ende seines Lebens/leidet es an Aussatz und an anderen Krankheiten./Seine Arbeit ist langsam und sein Atem stinkt,/wenn man meiner Lehre folgt./Es wird durch Zufall reich,/um umso schneller wieder zum Bettler zu werden./Wenn der Mond in diesem Zeichen steht,/dann sollst du alle Gerichtsverhandlungen unterlassen./Welche Sache unter diesem Sternzeichen entsteht,/ dessen Arbeit ist vergebens.

Die Verse treffen nicht nur Aussagen zum Charakter und zur Physiognomie der im Zeichen des Krebses Geborenen, sondern geben auch direkte Handlungsanweisungen. Wenn der Mond im Zeichen des Krebses stünde, sollten alle Gerichtsverhandlungen eingestellt und sämtliche Aktivitäten vermieden werden, da dies bloß Zeitverschwendung wäre. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Natura hier gewissermaßen verdoppelt. Sie tritt zum einen als personifizierte Instanz auf und verkörpert zum anderen das Prinzip einer natürlichen Weltdeutung. Indem sie astronomisch-

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kosmologisches Wissen präsentiert, führt sie ihren Einfluss auf den Menschen in Form eines natürlichen Determinismus vor. Wie genau sind die astrologisch-deterministischen Wissensinhalte am Ende von Der meide kranz aber nun in die Gesamtstruktur einzuordnen? Die Antwort auf diese Frage scheint mir in Mügelns Werk selbst zu liegen und zwar in einer Strophe aus seiner Spruchdichtung:³⁶ Die kunst nach irem mügen folgt naturen seil. was sinnes hant begrifet, das ist immer teil der dinge, die des himels ring umbsweifet. werf ich der witze garn in der naturen bach, ich fische ding. des alle kunst der dinge sach mit keines sinnes model umbereifet. des ich ir fremde straße laß, sint menschen kunst ir kraft nicht mag bezirken. wo mir ist kunt naturen straß da flecht ich zu der sitikeit ir wirken. den reinen siten ist nicht glich. wer sie zu liebe küst in herzen girde, der schephet er uß irem tich, die sterke, schonde und der werlde wirde. her Salomon zucht, siten hat für alle kunst gewegen. so wol im, der sie beide kan. der werde man zu achten ist für künige groß, die swacher siten phlegen (53, V. 1– 17).³⁷ Die Kunst folgt nach ihrem Vermögen dem Seil der Natur./Was die Hand der Sinne begreift, ist der geringere Teil der Dinge, die der Ring des Himmels umfasst./Werf ich den Faden der Einsicht in den Bach der Natur,/fische ich Dinge (im Trüben). Deswegen umgreift keine Kunst

 An dieser Stelle sei eine kurze methodische Zwischenbemerkung angebracht. Die Frage nach dem Entstehungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnis von Der meide kranz und dem Spruchwerk lässt sich aus heutiger Sicht im Detail nicht mehr rekonstruieren. Feststeht, dass sich zum Teil wörtliche Parallelen zwischen der Spruchdichtung und dem Reimpaargedicht ausmachen lassen, doch scheint mir der Versuch, die Sprüche unidirektional als Vorlagenmaterial für Der meide kranz zu bestimmen, wenig überzeugend. Michael Stolz schlägt daher vor, die diachrone Entstehung von Der meide kranz und der Spruchdichtung zugunsten eines synchronen Nebeneinanders aufzugeben. Vgl. Stolz, Die Artes-Dichtungen Heinrichs von Mügeln, S. 197. Dieser methodische Ansatz scheint mir auch deshalb besonders überzeugend, da er den Fokus von der Frage nach dem Entstehungszeitpunkt auf die inhaltliche Ebene verschiebt. Ich möchte Strophe 53 daher nicht als chronologisch früher entstandene Vorlage von Der meide kranz verstehen, sondern als metareflexiven Kommentar, der die personifizierten Begriffe der allegorischen Handlung auf der systematischen Ebene reflektiert und aushandelt. Ob die Strophe dabei vor oder nach der Ausarbeitung von Der meide kranz entstanden ist, ist in diesem Zusammenhang zweitrangig.  Es wird zitiert nach: Stackmann (Hrsg.), Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln.

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die Ursache der Dinge mit dem Maß der Sinne./Deshalb verlasse ich ihre unbekannte Straße,/da menschliche Kunst ihre Kraft nicht vermessen kann./Wo mir der Weg der Natur bekannt ist,/da verbinde ich ihr Wirken mit Sittsamkeit./Den reinen Sitten kommt nichts gleich./Wer sie sich aus der Gier des Herzens heraus zum Wohlgefallen wählt, der schöpft aus ihrem Teich Ehre, Stärke, Schönheit und weltliche Würde./Herr Salomon hat Zucht vor jeder Kunst gewichtet./Also wohl dem, der beides kann./Der ehrenhafte Mann ist über die Könige zu achten, die nur schwache Sitten pflegen.

Der konzeptionelle Unterschied der Strophe zu Der meide kranz wird bereits daran deutlich, dass die Natur hier nicht als personifizierte Allegorie auftritt, sondern als Gegenstand bzw. Richtschnur („seil“) von „kunst“ definiert (V. 1) wird.³⁸ Ihr Bereich, der von menschlicher Kunst erfasst werden kann, ist jedoch nicht grenzenlos, sondern beschränkt sich auf die Dinge („das ist mynner teil der ding“),³⁹ die vom Himmelsgewölbe („des himels ring umbsweifet“) umschlossen werden und damit sinnlich wahrgenommen werden können (V. 2– 3). Gemeint ist damit der Bereich der naturphilosophischen Weltdeutung, also z. B. astronomisch-kosmologisches Wissen, das von theologischen Inhalten, die sich mit den Dingen jenseits des Himmels befassen und dem Menschen unverständlich bleiben, unterschieden werden muss. Die Kunst als eine von Menschen gemachte kann der Natur also nur insoweit folgen („nach irem mügen“ [V. 1]), als sie deren Inhalte zu erkennen vermag. Vers vier und fünf verweisen nochmals auf die Natur als Quelle („bach“) von Einsicht und Weisheit („witze“). Mügeln verwendet hier das Bild vom Fischer, der seinen Faden im Bach der Natur auswirft und daraus Erkenntnis („ding“) gewinnt. Der Inhalt dieser Erkenntnis bzw. die genaue Bestimmung von „ding“ bleibt vage und scheint doch gerade damit ins Bild zu passen. Der Dichter fischt im Bach der Natur gewissermaßen im Trüben, die Erkenntnis der Dinge jenseits des natürlichen Bereichs, also die Ursache aller Dinge, ist ihm mit dem Maß menschlicher Kunst (V. 5 – 6) dagegen nicht möglich. Die beiden Verse runden die Hauptaussage des Aufgesangs damit noch einmal ab: Die Natur dient als Erkenntnisquelle von Kunst, Gotteserkenntnis ist über sie aber nicht möglich. Die Verse sieben bis zehn setzen das Thema variierend fort. Die Natur wird nun als gewaltige Macht beschrieben, die von menschlicher Kunst nicht gänzlich erfasst werden kann. Daher ergeben sich für den Dichter zwei Möglichkeiten: Zum einen muss er den Bereich der Natur, der ihm uneinsichtig bleibt („des ich ir  Hinter dem ersten Vers verbirgt sich der Satz von Aristoteles: „Ars imitatur naturam inquantum potest“ (Phys. II, 2). Vgl. Kibelka, der ware meister, S. 24 f.  Stackmann konjiziert hier zu „immer teil“, ich folge jedoch der Lesart des diplomatischen Abdrucks, da in der Bedeutung „mynner teil“ als „der geringere Teil“ die Defizienz der menschlichen Erkenntnisfähigkeit stärker zum Ausdruck kommt.

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fremde straße laß“[V. 7]), verlassen. Mügeln definiert diesen Bereich nicht weiter, doch lässt sich aus dem Kontext des vorherigen Abschnitts folgern, dass hier erneut das Feld der theologischen Gotteserkenntnis gemeint ist.Wo dem Dichter der Weg der Natur jedoch bekannt sei, da überführe er ihr Wirken in Tugendhaftigkeit („da flecht ich zu der sitikeit ir wirken“ [V. 10]). Die Natur ist als Gegenstand von Kunst definiert, doch erweist sie sich gerade dabei als so weitreichend und wirkmächtig, dass sie entweder gar nicht von menschlicher Kunst eingefangen werden kann oder aber durch die Kategorie der Tugend eingehegt werden muss.⁴⁰ Das Bild von den beiden „Straßen der Natur“ lässt sich auf die epistemologische Ebene übertragen und so folgendermaßen auflösen: Einerseits ist theologische Gotteserkenntnis über naturphilosophisches Wissen nicht möglich, und andererseits müssen die Inhalte astronomisch-kosmologischen Wissens durch eine Tugendlehre begrenzt werden, um die Folgen eines natürlichen Determinismus, der sich aus der naturphilosophischen Weltdeutung ergibt, durch den persönlichen Willen zur Tugend auszuhebeln. Als Beispiel für eine solche freie Willensentscheidung zur Tugendhaftigkeit wird in den letzten Versen Salomon angeführt. Dieser hat Zucht und Sitten schwerer als jede Kunst gewichtet. Die Strophe endet, durch das Exempel von Salomon vorbereitet, in einer impliziten Fürstenlehre, indem betont wird, dass ein tugendhafter Mann höher zu achten sei als ein König, der keinerlei Tugend besitze. Fasst man die Ergebnisse der Analyse kurz zusammen, wird deutlich, dass die Strophe das Verhältnis von Natur, Tugend und ars auf der systematischen Ebene verhandelt und die Struktur der allegorischen Handlung von Der meide kranz damit geradezu abbildet. Das Aufbäumen der Natura am Ende des Werkes wird vor diesem Hintergrund verständlich. Anstatt innerhalb der Grenzen des formellen Disputs zu bleiben und das Urteil der Theologia zu akzeptieren, sprengt die Natura das Korsett der zweifachen Struktur der Handlung. Obwohl ihr Fall verloren ist, stilisiert sie sich als wirkungsvolles und mächtiges kosmisches Prinzip, das sogar auf den Charakter des Menschen Einfluss nehmen kann. An der Lehre von den Tierkreiszeichen, die eine Form des natürlichen Determinismus darstellt, werden die Folgen, die sich aus einer naturphilosophischen Weltdeutung ergeben, deutlich. Diese können und müssen nach Mügelns Konzeption durch die Kategorie der Tugend einge-

 Vgl. hierzu auch Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis, S. 265, der betont, dass sich hinter der Strophe die methodischen Grenzen der Naturlehre (ars) verbergen, die schließlich in ein neues Fach, die Ethik, überführt werden muss.

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fangen werden.⁴¹ Auf der allegorischen Ebene wird diese durch ihren Sieg im Prioritätenwettstreit gegenüber der Natur aufgewertet. Dies erfolgt nicht zuletzt über die Annäherung der Tugenden an Gott im dritten Argument der Theologia. Folgt man diesem Schritt, erweist sich der Prioritätenwettstreit zwischen Natura und den Tugenden letztlich als Streit zwischen Gott und der Natur. Daran nun wird auch der entscheidende konzeptionelle Unterschied zu Alanus deutlich. Während Mügeln den Tugendbegriff direkt unter die Direktive Gottes stellt bzw. mit ihm gleichsetzt, entwirft Alanus ein Konzept von Tugend, das diese als natürliche Anlage im Menschen verortet und sich in der praktischen Erprobung bewähren lässt. Selbstverständlich bedarf es auch bei Alanus der göttlichen Gnade, um die Tugendhaftigkeit zu verwirklichen, doch ist die Natur bei Alanus selbst normativ und moralisch ausgerichtet. Diese hybride, liminalisierte Konzeption wird bei Heinrich von Mügeln mit der Trennung der Tugenden von der Natur aufgelöst. Die Natur fungiert hier nicht als Orientierungs- und Bezugspunkt für den Menschen und normatives Vorbild. Sie verkörpert stattdessen das wirkmächtige und deterministische kosmische Prinzip, dessen Einfluss auf den Menschen durch Tugend zwar nicht verhindert, jedoch korrigiert werden kann. Das Aufbäumen der Natura am Ende von Der meide kranz spiegelt damit ihr innerstes Wesen als aufwallendes und wirkungsvolles kosmisches Prinzip wider, das durch Tugend gebändigt werden muss. Metaphorisch gesprochen entgleitet Mügeln die Natur in ihrer hybridisierten Konzeptualisierung, wie sie bei Alanus angelegt ist, und muss stattdessen durch eine moralisch-didaktische Tugendlehre eingehegt werden.

4 Fazit Ich möchte die Überlegungen mit einem kurzen Fazit abrunden. Der Beitrag ging von der Beobachtung aus, dass die Instanzen in Alanus’ De planctu naturae keineswegs eindeutig voneinander abgegrenzt sind, weil sie entweder – wie im Falle der Natura – ihre eigenen Grenzen zu überschreiten versuchen oder – wie im Falle der Venus – ihre Pflichten innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs vernachlässigen. Die Instanzen agieren damit eher in Grenzbereichen, als dass von klar definierten Hierarchien zwischen ihnen die Rede sein könnte. Die Instabilität des Instanzengefüges erweist sich als Bedingung der Möglichkeit der Degenera-

 Das Ausstellen eines natürlichen Determinismus mündet bei Mügeln daher nicht in einen häretischen Vorstoß, sondern wird durch die Aufwertung des Tugendprinzips moraltheologisch eingehegt. Vgl. ähnlich, aber weniger differenziert, Kibelka, der ware meister, S. 193 f.

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tion des Menschen und veranschaulicht damit Alans komplexe Anthropologie auf allegorischer Ebene. So wie die allegorischen Instanzen in die eine oder andere Richtung abweichen können, kann sich auch der Mensch entweder zum Guten oder Schlechten entwickeln. Für das Verhältnis von Natur und Tugend ergibt sich damit Folgendes: Der Mensch ist bei Alanus bereits in seinem natürlichen Normalzustand mit der Anlage zur Tugend versehen und zur moralischen Reflexion fähig. Folgerichtig erscheint, dass der Naturbegriff bei Alanus dezidiert moralisch dimensioniert ist. Über die Begriffe der Ordnungshaftigkeit und Geformtheit erhält die Natur eine normative Komponente. Bei Mügeln ändert sich diese Konzeption grundlegend. Das Verhältnis von Natur und Tugend wird in einem allegorischen Prioritätenwettstreit ausgetragen. Die Tugend geht dabei als Siegerin hervor und wird gegenüber dem Naturprinzip aufgewertet. In der Abschlussrede der Natura wird ihre Wirkmächtigkeit in Bezug auf den Menschen deutlich, doch gilt es in Mügelns poetischem Entwurf, ihren Einfluss durch das Tugendprinzip zurückzudrängen. Diese Konzeption scheint vor dem Hintergrund des Fürstenspiegels konsequent, doch erweist sich die Natur in Hinblick auf die Gesamtstruktur von Der meide kranz keineswegs als disqualifiziert. Weitere Untersuchungen müssen hier einsetzen und herausarbeiten, welche Bedeutung der Natur angesichts der politischen Anlage des Gedichts als Fürstenspiegel für Kaiser Karl IV. zukommt. Dabei wird zu zeigen sein, dass die Natur der Tugend als komplementäre Berufungsinstanz gegenübersteht und beide in eine hybride Konzeption aus Tugend- und Geblütsadel überführt werden.⁴²

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 Vgl. hierzu die wichtigen Arbeiten von Huber, Karl IV. im Instanzensystem, S. 63 – 91; Herkommer, Kritik und Panegyrik, S. 68 – 116 und Stolz, Heinrichs von Mügeln Fürstenpreis, S. 106 – 141, an die in weiteren Untersuchungen anzuknüpfen sein wird.

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Andreas Rentz

Mirakel als Grenzphänomene Das Beispiel des Abdankungswunders Papst Cölestins V. 1294

Mittelalterliche Wunder stellen in vielschichtiger Weise Grenzphänomene dar, sowohl für die Zeitgenossen als auch für moderne Betrachter. Seit sich im 19. Jahrhundert die Geschichtsschreibung als Wissenschaft etabliert hat, tut sie sich mit der Untersuchung vormoderner Mirakelerzählungen, wie sie in der hagiographischen Literatur zu finden sind, schwer. Um mit Dieter von der Nahmer zu sprechen, hat „nichts die Heiligenviten […] so sehr in Mißkredit gebracht wie die Berichte von Wundern“¹. Bereits durch die Reformatoren gibt es vereinzelte Kritik am Wunderglauben, später auch durch verschiedene Aufklärer. Während die Reformatoren theologisch argumentieren und die Verehrung Heiliger mit Aberglauben gleichsetzen, lehnen manche Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts Wunder als Vernunftgründen und Naturgesetzen widersprechend ab.² In dieser Tradition bewegt sich die positivistische Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts, die die Beschäftigung mit der Hagiographie ablehnt. Das abschätzige Urteil Oswald Holder-Eggers, dass es sich bei Wundererzählungen um „historisch unbrauchbares Zeug“³ handele, steht stellvertretend für diese Epoche. Die strenge Scheidung zwischen Historiographie und Hagiographie, die auf einer Differenzierung zwischen ‚Faktischem‘ und ‚Nicht-Faktischem‘ beruht, entwickelt sich überhaupt erst in dieser Epoche der Forschung und wird in modernen Studien auch als willkürlich kritisiert und zurückgewiesen.⁴ Das Interesse an hagiographischen Texten beschränkt sich auf ihre Verwertbarkeit für Fragen der

 Nahmer, Heiligenvita, S. 146.  Zur Kritik der Reformation und der Aufklärung an Wundern und Heiligen, sowie der katholischen Gegenreaktion s. Soergel,Wondrous; Graus,Volk, S. 25 – 27; Angenendt, Heilige, S. 230 – 241; und Dartmann, Wunder, S. 11– 15, alle mit weiterführenden Literaturangaben. Allerdings galt das längst nicht für alle Aufklärer: Viele von ihnen hielten am Wunderglauben fest, von einem Konsens der Wunderkritik in intellektuellen Kreisen lässt sich folglich nicht reden, s. Sawilla, Antiquarianismus, S. 5 – 9.  Holder-Egger, Monumenta, S. 20. Einige weitere Stilblüten wunderkritischer Historiker aus dem Zeitalter des Geschichtspositivismus bieten Graus, Volk, S. 28, Anm. 55 – 57; Angenendt, Heilige, S. 339 – 344; und Lotter, Methodisches, S. 299 f.  Lifshitz, Beyond positivism, S. 100 – 113. Vielmehr sei „Hagiographie als Historiographie mit entsprechenden methodischen Konsequenzen“ aufzufassen, s. Herbers, Hagiographie, S. XXVII. Kleine, Gesta, S. 34, postuliert gar, es gäbe keinen Unterschied zwischen Hagiographie und Historiographie. https://doi.org/10.1515/9783110605389-007

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Politik- und Ereignisgeschichte.⁵ Dies hatte einerseits zwar die Edition verschiedener Viten zur Folge, wobei andererseits gerade die Wundererzählungen gestrichen und die betreffenden Texte damit unvollständig gedruckt wurden.⁶ Als schließlich auch die Neobollandisten unter Hippolyte Delehaye in Wunderberichten Fantastereien des ungebildeten Volkes zu erkennen glauben, bleibt dies bis weit in das 20. Jahrhundert die vorherrschende Sichtweise auf hagiographische Texte.⁷ Auch heute noch wird eine Diskrepanz zwischen dem Glaubens- und Wissenshorizont der Zeitgenossen und moderner Betrachter konstatiert,⁸ mit der eine häufige Ablehnung von Wundergeschichten durch die Forschung einhergeht.⁹ Vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes ist die moderne Geschichtsforschung folglich bei der Behandlung von Wundern an ihre Grenzen gestoßen. Dabei beruht die Beurteilung von Wundern als unnatürlich, widernatürlich und entsprechend nicht-faktisch auf einem Anachronismus. Ohne die naturwissenschaftliche Forschung zur Disposition stellen zu wollen oder zu können, ist sie eine Errungenschaft der Moderne, die bei der Bewertung und Analyse vormoderner Quellen nicht ohne jede Reflexion angewendet werden kann. Im Mittelalter existierten nämlich andere Auffassungen, die bei der Beschäftigung mit Wundern ernst zu nehmen sind. Um theoretische und philosophische Erwägungen zu Mirakeln bemühen sich insbesondere Augustinus von Hippo und Thomas von Aquin.¹⁰ Augustinus, dessen Ausführungen zu Wundern bis ins Hochmittelalter maßgeblich bleiben,¹¹ ist der Auffassung, dass Wunder ebenso wie die Natur auf Gottes Wirken zurückzuführen wären und entsprechend nicht als contra naturam, sondern als praeter oder supra naturam aufzufassen seien.¹² Mit Bernhard Wenisch gesprochen, kennt seine „Wundertheorie […] ontologisch keinen absoluten Unterschied zwischen dem natürlichen Geschehen und dem wunderbaren Wirken Gottes. Beide gehen in gleicher Weise auf Gott zurück.“¹³

 Wenz-Haubfleisch, Miracula, S. 24.  Dazu Herbers u. a., Mirakelberichte, S. 11; und Angenendt, Heilige, S. 143. Vgl. auch die Kritik von Lotter, Methodisches, S. 304– 306, an den MGH-Ausgaben merowingischer Viten.  Delehaye, Légendes; Dartmann, Wunder, S. 15 – 17, betont die Parallelen zwischen dem Neobollandismus und dem Positivismus.  So Kleine, Gesta, S. 37.  Nahmer, Heiligenvita, S. 149.  So Ward, Miracles in the Middle Ages, S. 151. Eine Wundertheorie im engeren Sinne hat es im Mittelalter nicht gegeben, vgl. Bynom, Wonder, S. 6.  Ward, Miracles in the Middle Ages, S. 151, und Bynom, Wonder, S. 7.  Ward, Miracles and the Medieval Mind, S. 3 f.  Wenisch, Geschichten, S. 152.

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Eine Kontrastierung zwischen dem Natürlichen und dem Über- oder Außernatürlichen ist bei Augustinus dennoch angelegt und wird auch in der Scholastik diskutiert und weiterentwickelt, die sich um begriffliche Schärfungen und Differenzierungen bemüht, insbesondere zwischen miracula (Wunder Gottes) und mirabilia (wunderliche Begebenheiten, die ohne einen Eingriff Gottes naturgesetzlich erklärbar waren).¹⁴ So heißt es bei Thomas von Aquin: „Der dritte Grund [dafür, dass Wunder ein Verdienst des Glaubens seien] ist der, daß Wunder unabhängig von natürlichen Ursachen geschehen.“¹⁵ Insoweit wird im Hochmittelalter durchaus eine Grenze zwischen der Natur und Wundern aufgemacht. Als widernatürlich werden sie jedoch zu keiner Zeit aufgefasst, ebenso wie niemand an ihrer grundsätzlichen Existenz zweifelt. Die scharfe Grenzziehung zwischen Natur und Wunder analog zur Differenzierung zwischen Faktischem und Kontrafaktischem, wie sie die moderne Geschichtswissenschaft vielfach vollzieht, lässt sich folglich nicht auf das Mittelalter anwenden. Eine Grenzerfahrung sind Wunder im Mittelalter aber dennoch, gerade weil es sich um außeralltägliche Phänomene handelte, durch die man mit Gott in Berührung kam. Thomas verknüpft den Begriff miraculum mit admiratio, also Verwunderung: Man wundere sich über eine Begebenheit, deren Ursache unbekannt ist. Als ein Wunder im engeren Sinne definiert er ein Ereignis, dessen Ursache jedem unbekannt ist. Die jedem Einzelnen verborgene Ursache setzt er hierbei mit Gott gleich, weshalb auch nur dieser Wunder wirken könne. Dies hat letztlich auch Auswirkungen auf die Wunderwirkung von Geschöpfen, handele es sich um Engel, Dämonen oder auch Heilige, die nicht aus sich selbst heraus wundertätig sind, sondern gewissermaßen als Instrumente Gottes fungieren.¹⁶ Insoweit sind in dieser Sichtweise Natur und Wunder nicht mit der Unterscheidung zwischen dem Faktischen und dem Nicht-Faktischen zu identifizieren, sondern mit der Unterscheidung zwischen dem Alltäglichen oder Gewöhnlichen und dem Göttlichen. Nun bleibt natürlich fraglich, ob und inwieweit philosophische und theoretische Erwägungen zu Wundern Einfluss auf das Mirakel- und Naturverständnis der einfachen Bevölkerung hatten.¹⁷ Da aber auch die intellektuelle Elite des Hochmittelalters Wunder als real und nicht der Natur widerstrebend, zugleich aber als außeralltäglich und staunenswert auffasst, dürfte das auch für die übrigen Zeitgenossen gegolten haben, selbst wenn sie nicht das gleiche Reflexi-

 Angenendt, Wunder, S. 104 f.; Wynom, Wonder, S. 8; Daston/Park, Wunder, S. 141– 148.  Thomas von Aquin, Quaestiones, 6,9: „Tertia ratio est, quia miracula praeter naturales causas fiunt […]“. Übersetzung nach der Edition von Schönberger, Quaestiones, S. 276.  Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, III, 101– 103; Thomas von Aquin, Summa theologica, I,105,7.  Herbers u. a., Mirakelberichte, S. 14.

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onsniveau erreicht haben dürften. Einzig eine Grenze zwischen dem Alltäglichen und dem Göttlichen wurde gezogen, nicht jedoch zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen und mithin dem Nicht-Faktischen. Mentalitäts- und kulturgeschichtliche Forschungsansätze versuchen im 20. Jahrhundert dem auch Rechnung zu tragen und stellen in Abgrenzung zum Positivismus hagiographische Texte ins Zentrum ihrer Studien.¹⁸ Pionierarbeiten wurden insbesondere von Marc Bloch¹⁹ und Aaron Gurjewtisch²⁰ vorgelegt. Nicht mehr die Frage nach dem Wahrheitsgehalt einer Quelle steht hier im Zentrum, sondern ihr Nutzen für die Erforschung mittelalterlicher Vorstellungswelten – wofür jeder zeitgenössische Text verwertet werden kann, unabhängig davon, ob der Inhalt erfunden ist oder nicht. Kritisiert wird an diesen mentalitätsgeschichtlichen Zugängen, dass sie die Quellen aus ihrem jeweiligen Kontext reißen und in übergreifende Kategorien hineinzwängen würden.²¹ Neuere Studien aus der modernen Kulturgeschichte²² folgen dem Forschungskonzept der „pragmatischen Schriftlichkeit“²³ und erklären daher die Kontextualisierung hagiographischer Texte und Textstellen zum Erkenntnisziel. Hat man zuvor die Frage nach dem Abfassungsgrund eines solchen Textes allgemein damit beantwortet, dass er der Propagierung eines Heiligenkultes gedient hätte,²⁴ steht nun die Frage nach der causa scribendi bzw. nach dem ‚Sitz im Leben‘,²⁵ der spezifischen Funktion eines Textes unter den jeweiligen zeitlichen Umständen, in denen er entstand, und nach den konkreten zeitgenössischen Adressaten im Fokus.²⁶ Im Zentrum dieser kulturwissenschaftlichen Arbeiten steht folglich die Kommunikation der Autoren der jeweiligen hagiographischen Texte und Wunderepisoden mit ihren anvisierten Rezipienten. Neben der Frage nach dem spezifischen gesellschaftlichen Kontext und dem

 Einen größeren Überblick über die Forschungsgeschichte mit weiterführender Literatur bei Rentz, Inszenierte Heiligkeit, S. 9 – 22.  Bloch, Die wundertätigen Könige.  Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur.  Dartmann, Wunder, S. 33 – 35, fasst die Kritik zusammen.  Zum Begriff von Kultur und Kulturgeschichte und ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung s. Oexle, Kultur. Der Terminus ‚Kulturgeschichte‘ ist hier nicht als Gegenbegriff zu ‚Mentalitätsgeschichte‘ aufzufassen. Gerade Oexle, Was deutsche Mediävisten, betont die Notwendigkeit gegenseitiger Befruchtung.  Dazu paradigmatisch Althoff, Causa scribendi; sowie Althoff/Coué, Pragmatische Geschichtsschreibung.  Prinz, Heiligenkult, S. 531– 532; ausführlicher Prinz, Hagiographie.  Zur Herkunft des Begriffs s. Wagner, Gattung.  Zur genaueren forschungsgeschichtlichen Einordnung s. Coué, Hagiographie, S. 5 – 7, sowie Herbers u. a., Mirakelberichte, S. 12 f., jeweils mit weiteren Literaturangaben.

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Adressatenkreis der Texte befassen sich die einzelnen Studien damit, welche Absichten die Autoren verfolgten, welche Funktion sie den einzelnen Textabschnitten beimaßen und mit welchen sprachlichen und stilistischen Mitteln sie vorgingen, um ihre Ziele zu erreichen.²⁷ In einigen Studien werden Mirakelberichte zudem als gleichrangige Bestandteile eines Textes neben ‚profanen‘ Episoden aufgefasst.²⁸ Einerseits bleiben diese Fragen bislang weitgehend auf verstorbene oder fingierte Heilige beschränkt, andererseits werden in all den genannten kulturgeschichtlichen Arbeiten hagiographische Texte wie auch Wunderepisoden stets auf ihre erzählerische Funktion und ihren literarischen Charakter reduziert. Die Frage nach der sozialen Realität von Wundern blieb demgegenüber in der Forschung lange Zeit unberücksichtigt. Vereinzelte jüngere Arbeiten nehmen stattdessen den Wunderglauben der Menschen ernst und fassen Mirakel als „soziale Tatsache“²⁹ auf und nicht nur als literarisch überformte Erinnerung.³⁰ So betont Barbara Schuh in Anlehnung an Aaron Gurjewitsch die Bedeutung eines kollektiven Wahrheitsfindungsprozesses, der den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden versuche. Über den Realitätscharakter von Wundern schreibt sie: „Ob diese Wunder ‚echt‘ waren, stand vermutlich solange außer Zweifel, solange eine Gemeinschaft von der Echtheit und Glaubwürdigkeit, die durch beteiligte Personen namhaft gemacht wurden, überzeugt war.“³¹ Das heißt nun nicht, dass übernatürliche Erscheinungen im Mittelalter real waren oder es generell sind. Wie gesagt, stellt die Entwicklung der Naturwissenschaften eine Errungenschaft dar; sie sollten jedoch als umfassendes Deutungskonzept nicht unreflektiert auf vormoderne soziale Phänomene angewandt werden. In der Forschung bemüht man sich mit medizinhistorischen Zugängen um eine Erklärung von Wundern, ohne sie wie das 19. Jahrhundert als Erfindungen abzutun.³² So legitim dieser Ansatz ist, reicht er zur Erklärung der Wundererzählungen nicht aus. Zu berücksichtigen ist auch der zeitgenössische Glaubens-

 Bspw. Ruhrberg, Der literarische Körper; Fuchs, Zeichen und Wunder; Nuß, Die hagiographischen Werke.  Bspw. Dartmann, Wunder.  So Kleine, Gesta, S. 20.  So Lotter, Methodisches, S. 332, der davon ausgeht, dass sich Wundererzählungen auf reale Ereignisse bezogen und in der Erinnerung als Mirakel gedeutet und aufgeschrieben wurden, ohne jedoch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass bereits Augenzeugen und nicht erst die Autoren die Deutung von Ereignissen als Wunder vorgenommen haben könnten.  Schuh, Jenseitigkeit, S. 16; auch Angenendt, Heilige, S. 346 f., hat die soziale Realität von Wundern betont und bringt ihre Akzeptanz durch die Forschung mit der zunehmenden Rezeption ethnologischer Ergebnisse in Verbindung.  So insbesondere Scott, Miracle Cures; Wittmer-Butsch u. Rendtel, Miracula.

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und Wissenshorizont. Im Mittelalter war er insbesondere vom christlichen Glauben geprägt. Metaphysik sowie praktische Vernunft folgten theologischen Prämissen. Bereits Uta Kleine hat die christliche Natur- und Heilslehre als Erklärung für die soziale Realität von Wundern herangezogen; was man für möglich und wahrscheinlich hielt, war durch die Rezeption biblischer und älterer hagiographischer Texte vorgegeben.³³ Das zeigt sich, wie dargestellt, auch bei Augustinus und Thomas, die die Realität von Wundern zu keiner Zeit infrage stellten. Für die mittelalterlichen Zeitgenossen waren Mirakel folglich reale Ereignisse. Mag man sie auch naturwissenschaftlich erklären können, so wurden sie in der Vormoderne als außer- oder übernatürliche Eingriffe Gottes ins Alltagsgeschehen gedeutet. Dies geschah aus damaliger Sicht nicht ohne Grund. Christoph Kann arbeitet heraus, dass Thomas von Aquin Wundern die Funktion zuspricht, als Argumente für den christlichen Glauben zu dienen und dadurch zur Gotteserkenntnis zu gelangen.³⁴ Zwar behandelt Thomas zu keiner Zeit ausdrücklich die Frage nach der Funktion von Wundern, doch lässt sich die Einschätzung Kanns nur bestätigen, soweit aus den Aussagen des Thomas eruierbar. Ein Beispiel möge genügen: „Deshalb unterstützt Gottes Macht mit einem Wundergeschehen insbesondere den Glauben.“³⁵ Nicht allein, dass Wunder für mittelalterliche Zeitgenossen reale Ereignisse sein konnten: Sie fungierten auch als Argumente. Dies geschah mitunter auch in politischen Kontexten. In diesem Aufsatz soll dies an einem Beispiel veranschaulicht werden. Bei diesem handelt es sich um ein Wunder, das Peter von Morrone, ein Zeitgenosse des Aquinaten und 1294 für wenige Monate als Cölestin V. Papst, im Anschluss an seine Abdankung gewirkt haben soll. Der Benediktiner begann etwa 1230 ein Leben als Einsiedler. Ihm schlossen sich im Laufe der Zeit zahlreiche Gefährten an, wodurch sich eine Eremitenkolonie entwickelte, die von vielen Adligen reich beschenkt wurde. Diese Kolonie wurde 1263 und 1275 von den Päpsten Urban IV. und Gregor X. als Teil des Benediktinerordens anerkannt. Allmählich entstand hieraus der Orden der Cölestiner.³⁶ Peter selbst ist 1291 als Generalprior dieser Kongregation belegt, zog sich jedoch später aus allen Führungspositionen zurück. In diesem Zeitraum etablierte sich auch sein Ruf als Wunderheiler.³⁷ In den Akten seines Kanonisationsprozesses aus dem Jahr 1307

 Kleine, Gesta, S. 21.  Kann, Wunder, S. 176 f.  Thomas von Aquin, Quaestiones, 6,9: „[…] et ideo divina potentia in operatione miraculorum praecipue fidei coassistit“. Übersetzung nach der Edition von Schönberger, Quaestiones, S. 276.  Zum Orden s. Melville, Welt, S. 233 – 236.  Zum Leben Peters vor seiner Papstwahl s. Herde, Cölestin V., S. 1– 30.

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sind unzählige Wunder überliefert.³⁸ Als im Jahre 1292 Papst Nikolaus IV. verstarb, trat ein Konklave zusammen, das sich zwei Jahre regelmäßig traf, ohne sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen zu können. Durch eine Vision Peters, in der er das Strafgericht ankündigt, wenn nicht bald ein neuer Papst gewählt werde, soll er sich bei den Kardinälen, zu denen er Verbindungen hatte, selbst ins Gespräch gebracht haben. Angesichts seiner frommen eremitischen Lebensweise wurde er am 5. Juli 1294 tatsächlich gewählt. Von einer Abordnung der Kardinäle ebenso wie von König Karl II. von Neapel gedrängt, nahm Peter trotz anfänglichen Widerwillens die Wahl an und wurde am 15. oder 16. August in L’Aquila inthronisiert.³⁹ Am 13. Dezember desselben Jahres trat er dann in Neapel als Papst zurück.⁴⁰ Der Grund ist in seiner Überforderung mit den Amtspflichten zu suchen. Aufgrund seines hohen Alters – er war über 80 Jahre alt – war er den Anforderungen nicht gewachsen. Seine radikale Lebensweise in Armut und Demut, die einem Papst als unwürdig angesehen wurde, brachte ihm seitens der Kardinäle ebenso viel Kritik ein⁴¹ wie diverse illegale Verfügungen und Verleihungen von Ämtern und Pfründen, die sein Nachfolger Bonifaz VIII. rückgängig machte.⁴² Mit seiner Abdankung zog Cölestin die Konsequenzen aus seiner desaströsen Politik und den kritischen Stimmen, die diese evozierte. Von der Forschung unbeachtet soll er im Anschluss jedoch eine Wunderheilung gewirkt haben.⁴³ Überliefert ist diese im Tractatus de vita et operibus atque obitus ipsius sancta viri. Der Verfasser dieses Traktats ist nicht mit letzter Sicherheit zu ermitteln.Vermutet wurde zumeist Peters Mitbruder Thomas von Sulmona. Evident erscheint, dass es sich um jemanden aus seinem Orden gehandelt haben muss.⁴⁴ Ebenso ist die Entstehungszeit des Werks unklar. Peter Herde vermutet, dass der Tractatus nach 1303, evtl. um 1306, entstanden ist, wobei womöglich schon zu Peters Lebzeiten begonnen wurde, was aber unklar bleibt.⁴⁵ Das Wunder, um das es hier geht, schildert der Hagiograph jedenfalls folgendermaßen: Und um zu bestätigen, dass es Gott nicht missfiel, was sein Zögling Peter machte, wollte es Gott selbst mit folgendem Wunder beweisen. An einem Tag nach der Abdankung trat jemand

 Processus informativus. Zur Datierung der Akten s. Herde, Cölestin V., S. 182 f.  Zu den Vorgängen der Konklave von 1292 bis 1294 s. Herde, Cölestin V., S. 31– 83.  Herde, Cölestin V., S. 141– 143.  So sein Einzug auf einem Esel in L’Aquila, s. Herde, Cölestin V., S. 77.  Herde, Cölestin V., S. 121 f.  So erwähnt Peter Herde in seiner Cölestin-Biographie diese Heilung mit keinem Wort.  Das deshalb, weil der Autor sich selbst in der Überschrift als Peters „Schüler“ (discipulus) bezeichnet  Herde (Hrsg.), Die ältesten Viten, S. 33 – 43.

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mit zwei Krücken allzu ehrerbietig auf den ehrwürdigen Mann zu, um von ihm einen Segen zu empfangen. Zu diesem Zeitpunkt hielt der heilige Mann jedoch eine Messe. Jener wartete, bis die Messe zu Ende war. Als die Messe zu Ende war und der Segen gegeben wurde, warf er sich an seinen Gliedmaßen gelähmt vor dessen Füße. Der heilige Vater richtete ihn auf und sagte ihm: „Erhebe dich, erhebe dich!“ Sofort erhob sich jener geheilt vom Boden und war zur selben Zeit befreit. Er fing unter Tränen an, Gott und dem heiligen Vater Dank dafür zu sagen, seine Befreiung zurückerhalten zu haben, und ließ als Zeugnis seine Krücken dort, ohne die er zuvor niemals hätte gehen können. Die Brüder warfen ihn aus dem Raum und hinderten ihn daran, irgendjemandem etwas zu sagen, außer sich bei Gott zu bedanken. Dies taten sie deshalb, weil sie allzu ängstlich und traurig über die Dinge waren, die sich ereigneten. Als viele Menschen, die gegen den Vater geklagt hatten, dass er nicht richtig handelte, sahen, was nicht verborgen werden konnte, schwiegen und staunten sie. Sie sagten: „Dies geschah nicht ohne Fügung Gottes.“⁴⁶

Das dargestellte Wunder erfolgte nicht nur zu dem Zweck, die Lähmung zu heilen. Vielmehr handelt es sich auch um einen Akt symbolischer Kommunikation, um eine Verkettung performativer Handlungen, die vor dem Hintergrund eines kollektiven Wissenshorizonts verschiedene Wirkungen erzielen und Funktionen einnehmen können.⁴⁷ Das geht in dieser Episode aus der Reaktion derjenigen hervor, die beim Wunder zugegen waren. Der anonyme Hagiograph spricht von fratres, die die geheilte Person aus dem Raum warfen und über die zurückliegenden Ereignisse bestürzt waren. Peter Herde rekonstruiert die Konfliktlinien, die es um die Abdankungspläne Cölestins gab: Während die Kardinäle sie befürworteten, leisteten seine Anhänger dagegen Widerstand. Herde beschreibt ihre Haltung dazu folgendermaßen: „Für die Eremiten stand zu viel auf dem Spiel. Eine Abdankung ihres Papstes hätte sie unter Umständen der Rache aller derjenigen ausgeliefert, die ihren schnellen Aufstieg mit Mißmut verfolgt hatten; dar-

 Tractatus, S. 29: „Et ad probandum, quod deo non displicuerat hoc, quod suus famulus P. fecerat, tali miraculo ipse deus voluit comprobare. Quadam die post renuntiationem quidam cum duabus zammectis cum nimia devotione abiit et intravit ad eundem venerabilem virum, ut benedictionem ab eodem acciperet. Eadem autem hora vir iste sanctus missam dicebat. Qui expectavit, ut missam expleret. Completa missa et benedictione data statim hic membris contractus ante pedes illius se proiecit. Quem pater ille sanctus erexit dicens illi: ‚Surge, surge!‘ Statim ille de terra surrexit sanus et eadem hora liberatus fuit. Qui cum lacrimis cepit gratias deo et sancto patri reddere de sua liberatione, et in testimonium reliquit ibi suas zammectas, sine quibus antea numquam poterat ambulare. Quem fratres statim de camera expulerunt prohibentes illum, ne diceret alicui, sed deo gratias referret. Hoc ideo faciebant, quia nimium timidi et tristes erant de hiis, que acciderant. Quod homines videntes, quia latere non potuit, quamplures, qui adversus eundem patrem clamaverant, quod non bene fecisset, conticuerunt et mirabantur atque dicebant: ‚Hoc non est actum absque nutu dei.‘“ Übersetzung A. R.  Zur symbolischen Kommunikation von Wundern s. Rentz, Inszenierte Heiligkeit.

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unter waren wohl die meisten Kardinäle. Die Verbindungen der Cölestiner zu den Spiritualen brachte gar die Gefahr eines Ketzerprozesses.“⁴⁸ Tatsächlich wurden die Cölestiner vom Papst stark gefördert. Zwei von ihnen wurden zu Kardinälen erhoben.⁴⁹ Zudem wurde der Orden mit zahlreichen Privilegien und Ablässen bedacht⁵⁰ und gegen den Widerstand der ansässigen Benediktiner das Kloster Montecassino dem Cölestinerorden einverleibt, was Bonifaz später ebenfalls widerrief.⁵¹ Zudem wurden auch die Spiritualen entscheidend unterstützt. Bei diesen handelte es sich um eine Strömung der Franziskaner, die sich mit ihren Ordensbrüdern, den Konventualen, um die korrekte Auslegung des Armutsgebots ihres Ordensgründers stritten: Während die Konventualen für eine Lockerung und die Annahme von Besitz plädierten, waren die Spiritualen strikt dagegen und beharrten auf ein Leben in radikaler Armut.⁵² Cölestin anerkannte sie als eigenen Ordenszweig mit dem Namen „Arme Eremiten und Brüder des Papstes Cölestin“ und unterstellte sie einem eigenen Protektor – was unter Bonifaz ebenfalls rückgängig gemacht wurde. Daher ist anzunehmen, dass in der zitierten Episode unter fratres auch die Spiritualen subsumiert wurden. Dass viele von ihnen 1318 von der Inquisition verfolgt und verbrannt wurden, lässt ihre Befürchtungen um Cölestins Abdankung im Nachhinein begründet erscheinen. Die Anhänger Cölestins hatten folglich gute Gründe, die Abdankung ihres Papstes abzulehnen und zu kritisieren. An sie richtete sich denn auch das Wunder. Dessen Funktion dürfte es gewesen sein, die Gottgewolltheit der Abdankung anzuzeigen. Wie bereits erwähnt, war Peter von Morrone bereits lange vor seiner Wahl zum Papst als Wundertäter aktiv. Im mittelalterlichen Verständnis hieß das, dass Gott, der allein in die Natur eingreifen konnte, ihn als Medium hierfür ausgewählt hatte – ihn sich dadurch näher zugeführt hatte. Dass Peter auch nach seiner Abdankung Menschen zu heilen vermochte, bedeutete folglich, dass er nach wie vor über die Gnade Gottes verfügte. Das aber hieß, dass er mit seinem Rücktritt nicht gegen Gottes Willen verstieß. Im Gegenteil: Dass sich so bald nach der Abdankung ein Mirakel ereignete, suggeriert vielmehr, dass Peter damit dem Willen Gottes entsprach. Die Abdankung war folglich gottgewollt, was durch die Wunderheilung symbolisch artikuliert wurde. Die anwesenden Brüder leisteten zwar zunächst gegen das Wunder Widerstand, indem sie den ehemals Gelähmten aus dem Saal warfen, unterwarfen sich dann aber dem Willen Gottes. Symbolisch zum Ausdruck brachten sie die Anerkennung von Cölestins Abdankung, indem     

Herde, Cölestin V., S. 128. Herde, Cölestin V., S. 99. Herde, Cölestin V., S. 110 f. Herde, Cölestin V., S. 117 f. Melville, Welt, S. 251– 254; Feld, Franziskus, S. 483 – 496.

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sie über das Wunder staunten. Dadurch wurde die Heilung als außeralltäglich und verwunderlich, mithin als göttlichen Ursprungs akzeptiert. Um auf die Überlegungen von Thomas von Aquin zurückzugreifen: Da die Ursache des Ereignisses unbekannt war, evozierte sie bei den Anwesenden Verwunderung. Eine unbekannte Ursache ist jedoch stets mit Gott zu identifizieren. Woher aber das Interesse oder die Notwendigkeit, die Gottgewolltheit der Abdankung Cölestins anzuzeigen? Immerhin war sie ja durch kanonisches Recht abgesichert. Hinweise zur Beantwortung dieser Frage finden sich im weiteren Verlauf der Episode. Im Anschluss an das erfolgte Wunder berichtet der Hagiograph: Später versammelten sich die Kardinäle zur Wahl eines anderen Papstes. Der heilige Mann sagte jenen, der es sein sollte, voraus und vertraute es dem Herrn Thomas, den er selbst zum Kardinal gemacht hat, und dem Herrn Benedikt, der zum Papst gewählt wurde, an. Nachdem also gewiss jener, den der heilige Vater vorhergesagt hatte, zum Papst gewählt war, trat er sofort zu ihm ein und küsste ihm ehrerbietig die Füße. Daraufhin bat er ihn um die Erlaubnis, in seine Zelle zurückzukehren, so wie er es vor seiner Abdankung dargelegt hatte. Aber der Gewählte selbst begann, anders darüber zu denken und sagte ihm: „Ich will nicht, dass du zur Zelle zurückgehst, sondern dass du nach Kampanien gelangst.“ Und mit vielen weiteren Worten fing er an, ihn zu erschrecken.⁵³

Offenkundig bestand ein Konflikt zwischen Peter und seinem frisch gewählten Nachfolger Bonifaz. Laut Peter Herde fürchtete der neue, am 23. Dezember gewählte und tags darauf inthronisierte Papst ein Schisma aufgrund der großen Anhängerschaft Peters und der vielen Zweifel, die es an der Rechtmäßigkeit seiner Abdankung in diesen Kreisen noch gab.⁵⁴ Bereits 1295 begannen diverse Kardinäle allmählich, gegen Bonifaz zu intrigieren und die Abdankung Cölestins zu delegitimieren, wobei der Konflikt erst 1297 ausbrach, als der Eremit bereits verstorben war. Unterstützung erhielten sie dabei von den Spiritualen.⁵⁵ Die Sorgen des neuen Papstes waren nicht unbegründet. Immerhin ließ er Peter noch 1295 in Gefangenschaft bringen, wo er im Jahr darauf starb.⁵⁶ Bereits vor der Abdankung

 Tractatus, S. 29: „Post hec collegerunt se cardinales ad electionem alterius pape et illum, qui esse debebat, hic vir sanctus predixit et intimavit domino Thome, quem ipse fecerat cardinalem, et domino Benedicto, qui fuit electus in papam. Electo itaque papa, illo videlicet, quem pater sanctus predixerat, statim ad illum intravit et eius pedes osculatus est reverenter, et tunc licentiam petiit redeundi ad suam cellam, sicut ante suam renuntiationem disposuerat. Ipse vero electus alia cepit machinari de illo et dixit illi: ‘Nolo, ut ad cellam redeas, sed volo, ut in Campaniam venias;’ et aliis verbis multis cepit terrere illum.“ Übersetzung A. R.  Herde, Cölestin V., S. 145.  Herde, Cölestin V., S. 163 – 171.  Herde, Cölestin V., S. 148 – 159.

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beriet sich Cölestin mit vereinzelten Kardinälen und Kanonisten hinsichtlich der juristischen Legitimität eines solchen Schritts, da mangels Präzedenzfälle päpstlicher Rücktritte Unsicherheiten bestanden. An diesen Gesprächen soll auch Kardinal Benedetto Caetani, der spätere Bonifaz VIII., beteiligt gewesen sein.⁵⁷ Auch wenn sich zu dem Zeitpunkt alle Kardinäle über die Notwendigkeit einer Abdankung einig waren, dürfte die juristische Problematik dem Nachfolger Cölestins folglich nicht verborgen geblieben sein. In diesem Kontext ist das Abdankungswunder des Papstes anzusiedeln. Es ging darum, die eigene Anhängerschaft, zu der neben den Cölestinern auch die Spiritualen als fratres gezählt wurden, von der Gottgewolltheit der Abdankung zu überzeugen, und zwar durch ein öffentliches Wunder, das sehr bald nach dem Rücktritt am 13. Dezember und vor der Wahl des Bonifaz zehn Tage später gewirkt wurde. Auf diesem Weg hätten wohl die Bedenken des angehenden Papstes in Bezug auf ein Schisma zerstreut werden sollen. Dann hätte Bonifaz Peter, wie von diesem erwünscht, in seine Zelle ziehen lassen können. Eine Gefahr hätte er für ihn ja nicht mehr dargestellt. Warum ließ er ihn dann trotz des Wunders verhaften? Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Möglich ist, dass nur ein Teil der Anhänger Cölestins sich vom Abdankungswunder und der Rechtmäßigkeit des Rücktritts überzeugen ließe. Möglich ist auch, dass Bonifaz auf die Wirkmacht eines öffentlichen Wunders nicht vertraute. Im Lexikon des Mittelalters wird er beschrieben als „keineswegs eine religiöse Natur und ohne theol[ogische]. Tiefe“⁵⁸. Denkbar, dass er – zumal als Kanonist, der er war – in einem Mirakel kein bindendes Beglaubigungsmittel sah. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit wäre natürlich, hier eine Fiktion des Hagiographen zu sehen. Das Wunder hätte sich vielleicht gar nicht ereignet, sondern könnte erst nachträglich erfunden worden sein, die Spiritualen wären folglich nie von der Rechtmäßigkeit der Abdankung überzeugt gewesen, weshalb die Skepsis des Bonifaz weiterhin begründet gewesen sei. Nun ist nicht in Abrede zu stellen, dass das Wunder nicht nur als Argument gegenüber einer internal audience, sondern auch gegenüber einer external audience fungierte.⁵⁹ Gemeint ist damit die Differenzierung zwischen den Adressaten symbolischer Handlungen im Rahmen einer Erzählung und den Adressaten der Erzählung selbst, die mitunter unterschiedliche Erwartungen hatten. Textinterne Adressaten in der behandelten Episode sind die fratres. Um die behandelte Episode und ihre Funktion zu verstehen, ist allerdings auch die Auseinandersetzung mit textexternen Adressaten nötig. Soweit eruiert werden

 Herde, Cölestin V., S. 128 – 135.  Schmidt, Bonifatius.  Diese Begriffe gehen auf Constantinou, Female, S. 13, zurück.

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kann, dürfte es sich hierbei um die Cölestiner gehandelt haben. In der lamentatio spricht der Hagiograph diese mehrfach mit „oh geliebte Schüler Peters von Morrone“ oder „meine liebsten Brüder“ an, während Peter als „unser Vater“ bezeichnet wird.⁶⁰ Offenkundig handelte es sich beim Autor um einen Cölestiner, der zu anderen Cölestinern sprach. Ihnen erzählte er folglich auch vom Abdankungswunder. Das tat er vielleicht, weil er sie von der Gottgewolltheit der Abdankung überzeugen wollte. Gerade im Abfassungszeitraum zwischen 1303 und 1306 nahm die Kritik an Bonifaz im Anschluss an dessen Tod deutlich zu. Die Kronjuristen König Philipps des Schönen von Frankreich unterstellten Bonifaz, Cölestin zur Abdankung gedrängt und zu dessen Lebzeiten sein Pontifikat angetreten zu haben; dabei bezogen sie sich vielfach auf die Argumentation der Spiritualen.⁶¹ Ist es daher denkbar, dass in diesem Zeitraum auch viele Cölestiner von der Legitimität des Rücktritts Cölestins noch nicht überzeugt waren? Der Autor des Tractatus war es jedenfalls und könnte mit der Erfindung des Wunders den Zweck verfolgt haben, sie ebenfalls davon zu überzeugen. Diese Argumentation hat allerdings mehrere Haken. Zum einen ist ein aufwendiger Widerstand der Cölestiner nach der Abdankung nicht bekannt. Peter Herde betont auch die Zurückhaltung der Cölestiner im Konflikt mit Bonifaz im Vergleich zu den Spiritualen.⁶² In der Agitation gegen Peters Nachfolger spielten Letztere eine zentrale Rolle, nicht jedoch die Cölestiner, bei denen es sich um das Zielpublikum des Hagiographen handelte. Zum anderen wurde die Vita innerhalb von zwölf Jahren nach der Abdankung verfasst. Viele der Anhänger Cölestins, die auch während seines Rücktritts in Neapel zugegen waren, dürften noch am Leben gewesen sein. Wenn der Autor das Wunder erfunden haben soll, hätte es als Argument für die Gottgewolltheit der Abdankung Cölestins jene Zeitzeugen, die diese Erfindung durchschaut haben müssten, überhaupt überzeugt? Plausibler erscheint es, dass sich etwas ereignete, das von den Anwesenden vor dem Hintergrund eines kollektiven Wissenshorizonts als Wunder gedeutet wurde (selbst wenn es für moderne Betrachter wissenschaftlich erklärbar wäre) und durch seine symbolische Bedeutung eine materielle Wirkmacht auf das soziale Verhältnis der Beteiligten entfaltete: Aus dem Papst wurde ein lebender Heiliger ohne Ämter und Würden, der entgegen den Erwartungen der fratres mit seiner Abdankung nicht gegen Gottes Willen verstieß, sondern diesen vielmehr erfüllte. Die Cölestiner – wenn auch nicht die Spiritualen – akzeptierten Wunder wie Abdankung und konstituierten sich dadurch als gehorsames Kollektiv von Anhängern Peters.  Tractatus, S. 41: „[…] O dilecti discipuli fratris Petri de Murrone […]. […] fratres mei dilectissimi […]. […] Pater noster […]“.  Herde, Cölestin V., S. 176 f.  Herde, Cölestin V., S, 164.

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In jedem Fall ist zu konstatieren, dass Bonifaz keine allzu rühmliche Rolle in der zitierten Episode spielte: Weil dieser seinen Vorgänger verhaften ließ, setzte er sich nämlich über den Willen Gottes hinweg. Gott hatte ja durch seinen Eingriff in die Natur die Abdankung legitimiert. Wie ausgeführt, dürfte sich dieser Eingriff gerade deshalb ereignet haben, um die Anhänger Cölestins von der Rechtmäßigkeit des Rücktritts zu überzeugen und die Sorgen des Bonifaz um ein Schisma zu zerstreuen. Gott griff also ein, um zu beweisen, dass von Peter keine Gefahr ausging – und Bonifaz setzte sich aus Sicht der Cölestiner über dessen Willen hinweg, indem er seinen Vorgänger gefangen nehmen ließ und ihn dadurch als gefährlich markierte. Dem Hagiographen dürfte es wohl auch darum gegangen sein, auf diese Weise die Unrechtmäßigkeit der Gefangennahme Peters herauszustreichen. Dass sich das Abdankungswunder nur im Tractatus findet, nicht jedoch in anderen Quellen, die für die Lebensgeschichte Peters von Bedeutung sind, spricht nicht gegen diese These. Im Kanonisationsprozess 1307⁶³ berichteten viele Augenzeugen von unzähligen Mirakeln, die sich vor, während und nach dem Pontifikat Cölestins zugetragen haben sollen, ohne das Abdankungswunder zu nennen – und dabei fand dieser Prozess in Neapel statt, wo es sich ereignet haben soll. Wenn nun auch die Kanonisationsakten nur unvollständig überliefert sind⁶⁴ (und die Möglichkeit gegeben ist, dass das Wunder an anderer Stelle durchaus Erwähnung fand), so ist anzumerken, dass die befragten Zeugen keine Cölestiner waren, sondern Menschen aus dem Umland Neapels, Richter, Ärzte, Notare, Bauern usw., auch viele Frauen, die aufgrund diverser Gebrechen auf Peter zugetreten waren und von ihm Hilfe erhofft hatten. Es besteht kein Grund anzunehmen, sie wären Zeugen des Abdankungswunders gewesen oder hätten es gar mit seinem Rücktritt in Verbindung gebracht. Die eigentlichen Adressaten dieses Wunders – Cölestiner und Spiritualen – sind im Kanonisationsprozess, soweit dessen Protokolle erhalten sind, schlichtweg nicht befragt worden. Gleiches gilt für das Opus metricum des Jakob Stefaneschi. Wie aus dem Werk selbst hervorgeht, ist der erste Teil, der das Pontifikat Peters behandelt, noch vor der Erhebung Stefaneschis zum Kardinaldiakon von S. Giorgio in Velabro entstanden – die sich Ende 1295 ereignete, nicht lange vor Peters Tod.⁶⁵ Es handelt sich folglich um eine Quelle, die den Ereignissen um Peters Abdankung zeitlich sehr nahe steht. In den Abschnitten, die von dieser handeln, ist vom Abdankungswunder allerdings keine Rede.⁶⁶ Daraus ist aber nicht zu schließen, dass    

Herde, Cölestin V., S. 182 f. Seppelt (Hrsg.), Monumenta, LII. Nur die Hälfte der 322 Zeugenaussagen ist erhalten. Seppelt (Hrsg.), Monumenta, S. XXXVI; s. auch Barone, Stefaneschi. Jakob Stefaneschi, Opus metricum 3, S. XII–XVIII.

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sich das Mirakel nie ereignet und Stefaneschi andernfalls davon berichtet hätte. Vor seiner Erhebung zum Kardinal war Stefaneschi seit 1291 römischer Subdiakon – und als solcher ebenfalls weder Zeuge noch Zielpublikum des Abdankungswunders von Neapel. Es ist denkbar, dass er von dem Wunder schlichtweg nichts wusste. Zudem stand er Bonifaz VIII., dem er auch die Kardinalswürde zu verdanken hatte, nahe und war wie dieser ein Rechtsgelehrter und Kanonist. Während Peters Kanonisationsprozesses, der von Philipp dem Schönen initiiert wurde und sich maßgeblich gegen Bonifaz richtete,⁶⁷ opponierte er daher gegen eine Heiligsprechung und zweifelte die überlieferten Mirakel an.⁶⁸ Daher besteht die Möglichkeit, dass er – so er vom Abdankungswunder wusste – auch dieses nicht akzeptierte. Zudem wurde bereits herausgearbeitet, dass Bonifaz hierbei eine unrühmliche Rolle spielte: Dadurch, dass er Peter trotz des Abdankungswunders gefangen nehmen ließ, dürfte er sich aus der Sicht Vieler über den Willen Gottes hinweggesetzt haben. Stefaneschi hätte seinem Förderer folglich keinen Gefallen getan, wenn er das Mirakel berichtet hätte. Zudem dürfte er als Kanonist – ebenso wie Bonifaz – der Auffassung gewesen sein, dass eine Abdankung nicht durch einen Eingriff Gottes legitimiert werden kann, sondern allein durch das kanonische Recht. Insofern spricht die Nichterwähnung des Abdankungswunders im Opus metricum nicht gegen seine potentielle Historizität. Entweder war es ihm nicht bekannt oder er hat es aus guten Gründen verschwiegen. Das Abdankungswunder Cölestins V. steht als Beispiel für das alterierende Naturverständnis mittelalterlicher Zeitgenossen im Vergleich zur Moderne. Wunder wurden damals nicht als Gegensatz zu den Naturgesetzen aufgefasst, sondern als jederzeit mögliche Eingriffe Gottes. Thomas von Aquin hat dieses Verständnis explizit artikuliert. Und das Abdankungswunder zeigt, dass sich dieses Verständnis im selben Zeitraum auch außerhalb scholastischer Kreise fand. Konsequenz solcher Auffassungen war die gesellschaftliche Realität von Wundern: Sie waren integraler Bestandteil des kollektiven wie individuellen Erfahrungshorizonts, jederzeit möglich und mitunter mit einer sozialen Funktion ausgestattet. Im Gegensatz zum modernen Verständnis war die Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen im Hochmittelalter dergestalt durchlässig, dass sich Wunder auch in politischen Kontexten ereigneten und eine argumentative Wirkmacht entfalteten. Für den modernen Betrachter heißt das, dass er im Umgang mit vormodernen Quellen die eigenen Prämissen – wie (natur‐)wissenschaftliche Wissensbestände – reflektieren muss, um diese verstehen und ihnen gerecht

 Herde, Cölestin V., S. 181 f.  Herde, Cölestin V., S. 186 f.

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werden zu können, ohne dabei zugleich diese Wissensbestände über Bord werfen zu müssen. Vielmehr besteht die Notwendigkeit, die moderne wissenschaftliche Perspektive mit der Alterität der Vormoderne in eine Synthese zu bringen, die universellen wissenschaftlichen Ansprüchen ebenso gerecht wird wie dem Verständnis einer Epoche oder Gesellschaft, die diese Ansprüche nicht teilt.

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Melanie Förg, Annika von Lüpke

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Die selbstbewusste Lehrtätigkeit Marguerite Poretes am Beispiel philosophischer Argumentationsfiguren in Kapitel 118 des Spiegels der einfachen Seelen

1 Einleitung Das mystische Werk Der Spiegel der einfachen Seelen ¹ der hochmittelalterlichen Gelehrten Marguerite Porete (um 1250/1260 – 1310) ist bisher vor allem in seiner theologischen und literaturgeschichtlichen Bedeutung untersucht worden.² In diesem Aufsatz gehen wir hingegen den philosophischen Bezügen des Textes nach und beschränken uns dabei auf das zentrale Kapitel 118, in dem Marguerite den Aufstieg und darin zugleich die Rückkehr der Seele zur mystischen Einung mit Gott (unio mystica) beschreibt. Unser Anliegen ist es, durch diese Detailstudie die Autorin als auch philosophisch umfassend gebildete Frau zu erweisen, die selbst immer wieder deutlich macht, dass ihr Werk aus Vernunftüberlegungen hervorgegangen ist.³ Diese Charakterisierung ist geeignet, die These von Marguerite Porete als einer Frau von höchstem Bildungsstand zu konkretisieren, wie sie beispielsweise von Elisabeth Gössmann, Barbara Hahn-Jooß, Theo Kobusch und Irene Leicht vertreten worden ist.⁴

Für Anregungen und Korrekturvorschläge danken wir herzlich Isabelle Mandrella und Peter Adamson.  Als Textausgabe verwenden wir die kritische zweisprachige Edition (altfranzösisch/mittellateinisch) von Guarnieri u. Verdeyen: Marguerite Porete, Le mirouer des simples ames/Margaretae Porete Speculum simplicium animarum. Als deutsche Übersetzung verwenden wir die Ausgabe von Louise Gnädinger, die wir an einigen Stellen verändert haben.  Siehe beispielsweise Hahn-Jooß, Ame; Leicht, Intellektuelle; Terry u. Kocher, Companion.  Mit der Unterscheidung theologischer und philosophischer Argumentationsfiguren legen wir eine moderne Perspektive an, die für das Mittelalter, in dem philosophische Lehren vor allem durch theologische Texte vermittelt werden, so nicht gilt (siehe Flasch, Philosophie des Mittelalters, S. 4 und Kobusch, Metaphysik, S. 48).  Siehe Gössmann, Schriftstellerinnen; Gössmann, Porete; Hahn-Jooß, Ame; Kobusch, Philosophiegeschichte, S. 363 – 366; Leicht, Intellektuelle; Leicht, Eschatologie. Siehe auch Mandrella, Meisterinnen. https://doi.org/10.1515/9783110605389-008

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Voraussetzung ist freilich, dass Marguerite Zugang zu philosophischer Bildung gehabt hat und dass die Texte und Gedanken, auf die wir uns hier vor allem beziehen, im Hochmittelalter Gegenstand ihrer Bildung gewesen sein könnten. Dies macht als Erstes einen kurzen Blick auf die Quellen zu Leben und Werk der Marguerite erforderlich. Diese sind erstens die sieben Akten des Inquisitionsprozesses, der zu ihrer Hinrichtung führte, zweitens Einträge in Chroniken und drittens die 13 überlieferten Handschriften des Spiegels selbst.⁵ Alle drei Quellengattungen müssen auf ihre je eigene Weise als problematisch angesehen werden: Die Prozessakten sind als Hauptquellen fragmentarisch und voreingenommen, zeitgenössische Chroniken widersprechen sich zum Teil,⁶ und der Handschriftenbefund des Spiegels ist schwierig, da verschiedene späte französische Versionen neben den lateinisch-, englisch- und italienischsprachigen Übersetzungen existieren.⁷ In der Zusammenschau dieser Quellen konnte in der Forschung dennoch gezeigt werden, dass Marguerite mit großer Wahrscheinlichkeit der städtischen Oberschicht des im 13. Jahrhundert florierenden und theologisch überaus betriebsamen Valenciennes im Hennegau entstammt und dort eine hervorragende Ausbildung genossen hat, die auch das Lernen der Gelehrtensprache Latein eingeschlossen haben wird.⁸ Hinsichtlich Marguerites eigener Quellen und Vorbilder wurden bisher vor allem theologische und literarische Texte unterschieden und diskutiert. Als aus heutiger Sicht theologisch gebildet gilt Marguerite aufgrund ihres umfangreichen theologischen Wissens, das der Spiegel zu erkennen gibt, wenn auch mit den beiden Einschränkungen, dass sie erstens keine Autoritäten oder Quellen zitiert wie in scholastischer Literatur üblich und dass zweitens die genauen Vorlagen aufgrund der weiten Verbreitung der Themen, Motive und Begriffe in der lateinischen wie in der volkssprachlichen Literatur nur schwer zu bestimmen sind; Marguerites Kenntnis von Augustinus, Boethius und Bonaventura im lateinischen Original wird dabei nicht ausgeschlossen, auch wenn sie selbst in der Volks-

 Siehe Field, Companion, S. 9 – 23; Hahn-Jooß, Ame, S. 12– 17 und Leicht, Intellektuelle, S. 19 – 23 und S. 61– 162.  Siehe Field, Companion, S. 23.  Siehe Guarnieri u. Verdeyen, Introduction, S. VI–XII und Leicht, Intellektuelle, S. 118 – 120.  Siehe Lundt, Männerwelt, S. 113 f. Siehe auch Leicht, Intellektuelle, S. 86: „Bis 1350 ist in den bürgerlichen Kreisen kein großer Unterschied der Knaben- und Mädchenbildung festzustellen. Erst das vermehrte Studieren an Universitäten begründete die Kluft zwischen den Geschlechtern. […] ,Sicher ist, daß im wallonischen Valenciennes Mädchen und Knaben gemeinsam die Lateinschule besuchten.‘ [Zitat aus Uitz, Frau, S. 110] So ist also gerade in dem Milieu, in dem Marguerite vermutlich zu Hause war, das Erlernen der lateinischen Sprache und die Aneignung höheren Wissens für junge Frauen gewährleistet.“

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sprache schreibt.⁹ Als aus heutiger Sicht literarisch gebildet gilt Marguerite, weil sie Wortschatz, Formen, Motive, Stilmittel und -figuren aus der weltlichen Dichtung und Literatur, beispielsweise dem höfischen Liebesroman wie dem prominenten Rosenroman und der französischen Version des Alexanderromans des Alexandre de Paris, der Minnelyrik und dem Débat verwendet.¹⁰ Die philosophischen Quellen der Marguerite zu ermitteln, ist insofern besonders schwierig, als diese im Hochmittelalter mit wenigen Ausnahmen nur indirekt über die Theologie und die Literatur überliefert sind. Für den Spiegel zentral sind die Enneaden Plotins, die das Ziel des Aufstiegs und darin zugleich der Rückkehr der Seele zum Einen verfolgen und vor allem über Augustinus auf die mittelalterlichen Gelehrten kommen, und die Dialoge Platons, insofern sich Plotin als dessen Interpret versteht.¹¹ Als Vermittler wirkmächtig ist neben Boethius und anderen lateinischen Autoren vor allem Pseudo-Dionysius Areopagita.¹² Theo Kobusch nennt den Spiegel der einfachen Seelen trotz dieser schwierigen

 Siehe Terry, Companion. Da Boethius für unsere Textpassage von besonderer Bedeutung ist, einige Worte zu der Frage, ob und inwieweit er Marguerite beeinflusst hat: Boethius’ Consolatio wird in der Forschungsliteratur vielfach als wahrscheinliche Quelle Marguerites genannt. Wendy Terry diskutiert zahlreiche mögliche Quellen der Marguerite, behandelt Boethius jedoch nur kurz (siehe Terry, Mirror, S. 61 f.). Dabei nennt sie einen formalen und einen inhaltlichen Gegengrund: Erstens ähnele die Consolatio hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung mehr einem Drama, der Spiegel hingegen mehr einem Dialog (siehe dagegen Babinsky, Courtly Language), und zweitens habe Boethius sich durch sein Buch nicht explizit zur christlichen Tradition bekannt, Marguerite hingegen schon. Beide Kriterien überzeugen uns nicht. Letztlich schließt auch Terry einen Einfluss nicht aus („cannot be disproved“) und erwägt die Möglichkeit, Marguerites Weigerung gegenüber den kirchlichen Autoritäten, ihr Werk als häretisch zu erklären und somit dem sicheren Tod zu entkommen, sei durch das Handeln von Sokrates und Boethius in ihrer vergleichbaren Situation inspiriert (siehe S. 62).  Siehe Kocher, Companion, S. 102– 117 und Leicht, Intellektuelle, S. 139 – 162.  Siehe beispielsweise Dillon u. Gerson, Introduction, S. XIII f.; Halfwassen, Plotin, S. 13; Kobusch, Metaphysik, S. 29 – 31 und S. 38 – 45; Tornau, Einleitung, S. 7. Das Verhältnis der mittelalterlichen Gelehrten zu Platon ist paradox, da dieser zwar verehrt, jedoch selbst kaum studiert wird. Der einzige Dialog, der an Universitäten diskutiert wurde und bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zum Curriculum gehörte, ist der Timaios, aber nur in der unvollständigen Übersetzung von Calcidius (das Fragment von Cicero blieb kaum beachtet). Zudem lagen in der lateinischen Übersetzung von Henricus Aristippus (ca. 1155) der Menon und der Phaidon vor, welche aber nur sehr selten (etwa im 13. Jahrhundert von Henricus Bate) gelesen und diskutiert wurden. Siehe dazu Guldentops, Lateinisches Mittelalter, S. 447 f. und S. 450: „Während also der Platonismus im lateinischen Mittelalter in vielfältigen Varianten begegnet, ist Platon selbst nirgendwo wirklich präsent.“  Die Consolatio des Boethius wurde seit dem 9. Jahrhundert so intensiv studiert wie kaum ein anderes Lehrbuch (siehe beispielsweise Graeser, Trost, S. 167; Gruber, Boethius, S. 99 und Marenbon, Boethius, S. 172 f.). Wendy Terry behandelt neben Boethius im Einzelnen die folgenden

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Gemengelage ein „durch und durch philosophisches Werk“¹³. Dem philosophischen Charakter des Werkes werden wir uns im Folgenden nähern, indem wir platonische und plotinische Argumentationsfiguren im Text nachweisen. Diese sind in der mittelalterlichen Literatur weit verbreitet, erfahren durch Marguerite jedoch eine je eigene Prägung. Auf diese Weise soll ein kleiner Beitrag zum Bildungsstand der Gelehrten Marguerite Porete – und an ihrem Beispiel philosophierender Frauen des Mittelalters – geleistet werden.

2 Marguerites Werk Der Spiegel der einfachen Seelen Der Titel von Marguerite Poretes Werk ist ein sprechender Titel, insofern er das wirkmächtige Motiv des Spiegels enthält. Dieses steht für die mystische Selbsterkenntnis, die mit der Gotteserkenntnis zusammenfällt: Literarische Spiegel sind „Instrumente der Erkenntnis“¹⁴. Die Bewegung der erkennenden Seele – die stets zugleich Aufstieg und Rückkehr ist – zur mystischen Einung mit Gott (unio mystica) beschreibt Marguerite im zentralen Kapitel 118 ihres Spiegels. ¹⁵ Sieben Stufen, die die Verfasserin „Seinsweisen der Seele“¹⁶ nennt, führen zu Gott: Auf der ersten Stufe ist die Seele angestrengt bemüht, die Gebote einzuhalten. Auf der zweiten Stufe geht die Seele aufgrund ihrer Freundschaft zu Gott über die für jeden Menschen verbindlichen Gebote noch hinaus und folgt dem Beispiel Jesu Christi; sie lebt nun in einer Art fortgeschrittenen Tugendhaftigkeit. Während auf der ersten und zweiten Stufe die Seele also nach der „Vollkommenheit ihrer Werke“¹⁷ strebt, ist auf der dritten Stufe ihr Streben selbst Gegenstand der Betrachtung und wird als affektiv kritisiert. Denn die Seele ist leidenschaftlich bemüht, ihrer Liebe zu Gott durch gute Werke Ausdruck zu verleihen.

möglichen Quellen der Marguerite: Die oben bereits erwähnten Augustinus und Bonaventura, Bernhard von Clairvaux, William von St. Thierry, Hugh und Richard von St. Victor sowie PseudoDionysius Areopagita (siehe Terry, Companion). Unsere Untersuchung des Boethius – neben den Grundlagentexten des Platon und Plotin – ist somit exemplarisch und durch die der genannten Autoren zu ergänzen.  Kobusch, Philosophiegeschichte, S. 364.  Leicht, Intellektuelle, S. 153. Zur Spiegeltradition siehe dort S. 153 – 156.  Für eine Definition des Phänomens ,Mystik‘ siehe Wendel, Christliche Mystik, S. 14 (kurze Definition) und S. 15 – 22 (deren Erläuterung).  „Des sept estaz de l’Ame devote, qui aultrement s’appellent estres.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 1 f.).  „oeuvre de parfection“ (Porete, Mirouer 118, Z. 40).

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Marguerite fordert nun auch die Vernichtigung dieses Willens zu guten Werken. Nur wer auch das eigene Selbst „zerquetscht und zerbricht“¹⁸, gewinnt die für die Erfahrung Gottes konstitutive Freiheit. Der vierte Zustand baut nun weniger direkt auf der dritten Stufe auf, als dass Marguerite hier der mystischen Affektivität den Riegel vorschiebt. Naiv ist, wer meint, die Erfahrung der Liebe zwischen Gott und Mensch erschöpfe sich in „Wonne“ und „Glanz“¹⁹. Die von ihrer Liebe überwältigte Seele nennt Marguerite „trunken“²⁰, und trunken zu sein fasst sie als ein Nichtverstehen und Nichtsehenkönnen.²¹ Wer sich von der Liebe überwältigen lässt, geht rauschhaft und irrational fehl, die Liebe wird so zu einer Erfahrung von „Gewalt“²², die der Mensch, der „durch die Empfindung der Liebe auf der vierten Stufe stolz und hochfahrend und in hoher Beschauung von sich eingenommen“²³ ist, sich selbst zufügt. Dieser Erfahrung von Gewalt stellt Marguerite in der fünften Stufe die Erfahrung radikaler Freiheit gegenüber. Nur im Zustand umfassender Freiheit kommt die zuvor blinde und unverständige Seele zu Einsicht und Erkenntnis. Freiheit meint hier die Aufgabe jedes eigenen Wollens, jedes Ausgerichtetseins auf ein bestimmtes Gut und somit die für Marguerites Mystik charakteristische Vernichtigung des Selbst. Die vernichtigte, „nackte“²⁴ Seele stellt sich ganz in das göttliche Wollen, dem sie sich wie alles andere auch verdankt.²⁵ In der Aufgabe alles Eigenen, der Überwindung jedes inneren Ringens und Kämpfens, liegt die größtmögliche Freiheit und darin Vollkommenheit. Dort, wo die Seele nichts ist, ist Gott alles: „Der fünfte Zustand aber hat sie zurechtgesetzt, er hat dieser Seele ihr eigenes Selbst gezeigt. Sie erkennt sich nun, was sie von sich aus ist, und sie kennt die göttliche Güte. Die göttliche Güte wiederum lässt sie sich neu selbst erkennen.“²⁶ Sowohl im fünften als auch im sechsten Zustand ruft  „deffroisant et debrisant“ (Porete, Mirouer 118, Z. 62).  „delit/delices“ (Porete, Mirouer 118, Z. 71 und Z. 75); „clarté“ (Z. 73).  „yvre“ (Porete, Mirouer 118, Z. 82).  Siehe Porete, Mirouer 118, Z. 81– 92.  „force“ (Porete, Mirouer 118, Z. 83 und Z. 91).  „par sentement d’amour, fiere et orgueilleuse et dangereuse en la haultesse de contemplacion on quart estat“ (Porete, Mirouer 118, Z. 165 – 167).  „nuement“ (Porete, Mirouer 118, Z. 127).  „[…] l’Ame regarde que Dieu est, qui est dont toute chose est.“/„[…] die Seele betrachtet, was Gott ist, der ist, von dem her jedes Ding ist.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 94 f.); siehe auf der komplementären sechsten Stufe: „[…] Dieu se voit in elle […] ceste Ame, si que elle ne voit que nul soit, fors Dieu mesmes, qui est, dont toute chose est.“/„[…] Gott sieht sich in ihr […], dieser Seele, sodass sie nicht sieht, was da noch wäre, außer Gott allein, der ist, von dem her jedes Ding ist.“ (Z. 177– 180).  „Mais le cinquiesme estat l’a mise a point, qui a monstré a telle Ame elle mesmes. Or voit elle d’elle, et cognoist la divine Bonté, laquelle cognoissance de divine Bonté luy fait reveoir elle mesmes“ (Porete, Mirouer 118, Z. 167– 170).

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Marguerite die Tugend der „Demut“²⁷ auf, die hier allerdings gerade nicht Passivität und Ablassen vom Mut im Sinne einer Selbstdemütigung bedeutet. Die Tugend der Demut bedeutet, ja erfordert vielmehr Aktivität und Selbstbewusstsein im Sinne eines Bewusstseins für das Auserwählt- und Fähigsein, sich auf den Abstieg ins Nichts, das heißt die volle Gotteserkenntnis, einzulassen. Diese Gotteserkenntnis beschreibt Marguerite in der sechsten Stufe als eine von zwei Betrachtungsweisen,²⁸ die aufs Engste mit der Selbsterkenntnis zusammengehört, da die Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis geschieht. Erkannt wird die Gutheit Gottes, die Gott selbst ist: „Darum ist er, was Güte, und Güte ist, was Gott ist.“²⁹ Auf diese Weise „durch göttliches Licht“³⁰ sehend, ist die Seele vollends frei. Der siebte Zustand schließlich verweist auf die Ewigkeit, von der Marguerite nicht spricht, da sie die Grenzen der Sprache übersteigt und sich irdischer Erkenntnis entzieht.³¹

3 Vier bekannte philosophische Argumentationsfiguren in Kapitel 118 des Spiegels der einfachen Seelen 3.1 Das Motiv des Aufstiegs Als ein erstes philosophisches Motiv soll das des Aufstiegs vorgestellt werden, das prominent in der Rede der Diotima in Platons Symposion begegnet und das Plotin in seiner ersten Enneade Über das Schöne aufgreift.³² Beide Philosophen bestimmen das Schöne (to kalon) anhand einer hierarchischen Stufenfolge, die von

 „umilité“ (Porete, Mirouer 118, Z. 143 und Z. 176).  „ces deux regars“/„diese beiden Betrachtungspunkte“ und „ces deux veoirs“/„diese beiden Betrachtungsweisen“ (Porete, Mirouer 118, Z. 96 und Z. 170).  „pource est il ce que bonté est; et bonté est ce que Dieu est.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 194 f). Auch bei Boethius wird Gott mit dem Guten identifiziert (siehe Cons. 3,11,3: „[…] deum quoque, qui bonum est“).  „voit […] par divine lumiere“ (Porete, Mirouer 118, Z. 195 f.).  „car le glorifiement est ou septiesme estat, que nous aurons en gloire, dont nul ne sçait parler“/„Denn die Glorifizierung geschieht im siebenten Zustand, den wir in der Herrlichkeit haben. Davon vermag niemand zu sprechen.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 185 f.).  Siehe Plat. Symp. 209e5 – 212c2 (zu Diotima siehe Adamson, Anything You Can Do) und Plot. Enn. I 6. Auch bei Boethius begegnet das Motiv des Aufstiegs der Seele, siehe Cons. 4,1,9 (bes. „in altum tollere“) und 4 m.1 (bes. „Sunt etenim pennae volucres mihi/quae celsa conscendant poli“) und 4 m.8 f. (bes. „transcendit […] surgat“).

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der Schönheit wahrnehmbarer Einzeldinge zur Schönheit seelischer Vermögen führt und somit von außen nach innen. Dabei wird die Höherwertigkeit seelischer Vermögen im Kontrast dadurch verdeutlicht, dass diese weder aufgrund eines Teilhabeverhältnisses noch als Teil schön sind.³³ Das Motiv des Aufstiegs darf jedoch nicht missverstanden werden als Eroberung eines gänzlich neuen Terrains, sondern führt die menschliche Seele zurück auf ihren Ursprung. Plotin verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel des Odysseus, der nach vielen Irrwegen in sein Heimatland zurückkehrt.³⁴ Erst mit dieser Vorstellung einer Rückkehr erschließt sich das Motiv der Sehnsucht als ein Streben nach etwas, das in irgendeiner Weise schon vertraut ist.³⁵ Auch Marguerite erläutert den Aufstieg der Seele, der bei ihr in den oben beschriebenen sieben Stufen, die sie „Seinsweisen der Seele“ nennt, zu Gott als höchstem Ziel führt. Als Grund ihres Seins ist Gott der menschlichen Seele dabei auf keiner Stufe gänzlich fremd.³⁶ Auch im Spiegel verläuft der Weg der Seele zu diesem Ziel von außen nach innen und stellt eine Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung dar.³⁷ Diese Rückkehr ist insofern eine radikale Vereinfachung, als Marguerite fordert, der Mensch müsse alles Äußere und nicht Ursprüngliche fallen lassen. Wie vor ihr Plotin und viele andere antike Autoren wählt sie zur

 Siehe Plat. Symp. 211a1–b3 und Plot. Enn. I 6.1.12– 14 und 49 – 50.  Siehe Plot. Enn. I 6.8.16 – 27. Auch bei Boethius ist im 4. Buch der Consolatio das Motiv des Aufstiegs mit dem Gedanken der Rückkehr in die eigentliche, ursprüngliche Heimat der Seele verbunden, siehe Cons. 4,1,9 (bes. „in patriam […] revertaris“; vgl. 1,5,3: „[…] procul a patria […]“) und 4 m.1 (bes. „recurrat“) und 4 m.1,25 f. („‚Haec‘, dices, ‚memini, patria est mihi,/hinc ortus, hic sistam gradum“). Die Aufforderung zur Rückkehr ins Innere begegnet auch schon im 3. Buch der Consolatio, siehe 3 m.11,3 und 5 f.  Siehe Plot. Enn. I 6.7.1 f.  Marguerite betont auf der ersten Stufe Gottes Präsenz durch seine Gebote (siehe Mirouer 118, Z. 8 – 17) und nennt Gott auf der zweiten Stufe einen „Freund“ („amy“, Z. 29 f. und Z. 36) und ein „Vorbild“ („exemple“, Z. 34).  Siehe Porete, Mirouer 118, Z. 106 – 108: „Lumiere […] monstre au Vouloir du lieu la ou il est, ou il ne doit pas estre, pour le remectre la ou il n’est, dont il vint, la ou il doit estre.“/„[Das] Licht zeigt dem Wollen von dem Orte aus, wo es ist, wo es aber nicht sein sollte, woher es kommt und wo es sein sollte, um es dahin zurückzubringen, wo es nicht ist.“; Z. 110 f.: „pour remectre en Dieu ce Vouloir“/„um dieses Wollen in Gott zurückzubringen“; Z. 119 f.: „adonc se remect et donne et rent a Dieu, la ou il fut premierement prins“/„von jetzt an gibt sie sich zurück und schenkt und überlässt sich Gott, dorthin, wo es [das Wollen] ursprünglich hergenommen war“ und Z. 127 f.: „remis ou lieu, la ou il fut prins, et la ou il doit par droit estre“/„zurückgegeben an den Ort, woher es [das Wollen] genommen wurde, dahin nämlich, wo es richtigerweise zu sein hat“.

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Verdeutlichung dieses Gedankens das Bild der Seele, die „nackt“ dorthin zurückkehrt, von wo sie gekommen ist.³⁸

3.2 Die ethische Dimension des Schönen Insofern für Platon und Plotin nicht nur wahrnehmbare Einzeldinge, sondern auch Sitten, Gesetze und Tugenden schön sein können,³⁹ ist das Schöne auch und vor allem ethisch zu begreifen. Die Menge der schönen Dinge weiß ein philosophisch gebildeter Mensch zu ordnen, wobei dem Allgemeineren und in ontologischer Hinsicht Ersteren ein höherer Rang zukommt. An der Spitze dieser Stufenleiter steht als ihr Ziel das seinem Wesen nach Schöne („tên physin kalon“⁴⁰). Dieses ist weder entstanden noch vergänglich und somit ewig und verändert sich nicht, wohingegen alle anderen Dinge ihre Schönheit von ihm beziehen.⁴¹ Was somit im ästhetischen Sinne schön erscheint, ist dies nur aufgrund seiner Teilhabe am wahren Schönen, das eines („monoeides“⁴²) und nur dem Intellekt zugänglich ist.⁴³ Die Forderung nach der Sorge um die Seele gewinnt von daher

 Siehe Plot. Enn. I 6.7.7; für weitere Vorkommnisse dieses Topos in der Antike siehe Kalligas, Enneads, S. 207– 210. Für Marguerite siehe Porete, Mirouer 118, Z. 127 („nuement“).  Siehe beispielsweise Plat. Symp. 210b6 f. (τὸ ἐν ταῖς ψυχαῖς κάλλος) und c3 f. (τὸ ἐν τοῖς ἐπιτηδεύμασι καὶ τοῖς νόμοις καλὸν); 211c5 – 7 ([…] ἐπὶ τὰ καλὰ ἐπιτηδεύματα, καὶ ἀπὸ τῶν ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ τὰ καλὰ μαθήματα); 212a4 (εἴδωλα ἀρετῆς) und a5 f. (ἀρετὴν ἀληθῆ) und Plot. Enn. I 6.4.4– 12.  Siehe Plat. Symp. 210e5.  Auch bei Boethius erscheinen Körper und äußere Formen als vergänglich (siehe Cons. 3,8,6 – 11, bes. „Formae vero nitor ut rapidus est“) und der oberflächlich betrachtet schönste Körper des Alkibiades erscheint dem philosophisch gebildeten Menschen letztlich als abstoßend, siehe Cons. 3,8,10: „nonne […] illud Alcibiadis superficie pulcherrimum corpus turpissimum videretur?“ In Wahrheit bezieht die Welt ihre Schönheit vom wahrhaft schönsten Schöpfer, der die Form des höchsten Guten und den Ursprung der Schönheit in sich trägt, siehe Cons. 3 m.9,5 – 9: „[…] verum insita summi/forma boni […] tu cuncta superno/ducis ab exemplo, pulchrum pulcherrimus ipse/mundum mente gerens similique in imagine formans/perfectasque iubens perfectum absolvere partes.“  Siehe Plat. Symp. 211e4.  Siehe Plat. Symp. 210e1–b5; siehe auch die Umkehrung des Aufstiegs bei Plotin (Enn. I 6.6.25 – 32), die die Abhängigkeit alles einzelnen Schönen vom einen wahren Schönen deutlich macht. Bei Boethius wird der Mensch nur glücklich durch Teilhabe am Göttlichen, siehe 3,10,23 – 25, bes. „Omnis igitur beatus deus. Sed natura quidem unus; participatione vero nihil prohibet esse quam plurimos.“ Dabei ist nichts schöner als das, was dem Intellekt zugänglich ist (siehe 3,10,27: „Atqui hoc quoque pulchrius nihil est, quod his adnectendum esse ratio persuadet“) und das dieser in der Kollektion der Formen gleichsam zu „einem Körper der Glückseligkeit“ („unum veluti corpus beatitudinis“, 3,10,28) verbindet.

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ethischen Charakter. Denn bei Platon verwirklicht sich die menschliche Natur („tê anthrôpeia physei“⁴⁴), wenn der Mensch das Schöne selbst schaut.⁴⁵ Wer auf diese Weise die höchste Tugend erreicht, der gewinnt Nähe zu den Göttern.⁴⁶ Plotin ruft in diesem Zusammenhang – ganz im Sinne Platons – noch einen zweiten Naturbegriff auf („to aischron to para tês heteras physeôs“⁴⁷), der auf die körperliche Verfasstheit des Menschen zielt, welche Begierden und Affekte mit sich bringt, die den Aufstieg der Seele erschweren und den vollständigen Übergang in die intelligible Welt unmöglich machen. Als ein Spektrum wird die menschliche Natur hier von ihren Polen, der Triebverhaftung einerseits und der Vernunftfähigkeit andererseits, gedacht. Bei Marguerite steht an der Stelle des seinem Wesen nach Schönen der christliche Gott, „der ist, von dem her jedes Ding ist“⁴⁸. Auch sie geht von einer in sich differenzierten menschlichen Natur aus und wie Platon und Plotin gebraucht sie den Naturbegriff in ihrer Argumentation in mehreren Bedeutungen: So steht die menschliche Natur im Sinne der Triebverhaftung und des Eigenwillens der Verwirklichung der menschlichen Natur im Sinne des Aufstiegs und der Rückkehr zu Gott im Wege. In der Sprache Marguerites wird die menschliche Natur auf diese Weise durch sich selbst „gebeugt“⁴⁹ bzw. tritt in einen Krieg mit sich selbst („Krieg der Natur“⁵⁰). Beugung und Krieg wiegen nun so schwer, dass Marguerite die menschliche Natur als Ganzes für ein Nichts hält („Nichts ihrer Natur“⁵¹) und ihr die göttliche Natur („Natur der Liebe“⁵²) gegenüberstellt.

 Siehe Plat. Symp. 212b3.  Siehe auch Plat. Symp. 211d1– 212a2.  Siehe Plat. Symp. 2212a5 – 7.  Plot. Enn. I 6.5.57.  „Dieu est, qui est dont toute chose est.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 94 f.). Auch bei Boethius ist Gott der Ursprung aller Dinge und das ontologisch Erste (siehe beispielsweise Cons. 3,10,7: „Deum, rerum omnium principem“; 3,10,9: „rerum omnium princeps“ und 3,10,13: „rerum omnium praecellentissimum“).  „car sa nature est maligne par l’inclination du nient dont nature est enclinee“/„Denn dessen [des Willens] Natur ist bösartig durch die Neigung zum Nichts, durch die die Natur gebeugt wurde.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 113 f.).  „guerre de nature“ (Porete, Mirouer 118, Z. 126).  „nient de sa nature“ (Porete, Mirouer 118, Z. 116).  „nature d’Amour“ (Porete, Mirouer 118, Z. 124); siehe auch Z. 153: „deux natures“.

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3.3 Der Eros als Antriebskraft zur Tugend Das Verhältnis des erkennenden Menschen zum Schönen als seinem Gegenstand ist ein Liebesverhältnis: Die Dinge, die den Eros betreffen („ta erôtika“⁵³) sind die schönen Dinge. Antriebskraft des Aufstiegs zum Schönen ist bei Platon wie bei Plotin der Eros, der einen Reifeprozess initiiert: Wer liebt, richtet sich auf schöne Dinge, wer verständig liebt, richtet sein ganzes Streben auf das wahrhaft Schöne, das Ziel dieses Reifeprozesses ist. Der jugendlich Liebende wird zunächst einen schönen Körper begehren, dann die Schönheit in mehreren Körpern sehen. Ist er dieser einmal gewahr, erweist sich die Liebe zum Einzelnen als Knechtschaft.⁵⁴ Von der körperlichen Schönheit steigt er in einem Prozess zunehmender Abstraktion und Vereinfachung auf zur Schönheit nichtkörperlicher Dinge, was sein Lieben vervollkommnet.⁵⁵ Die Dinge, die den Eros betreffen, werden auf diese Weise auch Gegenstand von Bildung und Erziehung, denn was als Antriebskraft dem Menschen innewohnt, bedarf der Ausrichtung und Sublimierung auf ein Ziel durch andere⁵⁶ und der beständigen Arbeit an sich selbst.⁵⁷ Nicht nur das Streben des Menschen findet so seinen Zweck, sondern das Leben des Menschen als Ganzes gelingt. Auch bei Marguerite ist der Aufstieg der Seele ein „Vorhaben der Liebe“⁵⁸. Während jedoch bei Platon und Plotin der Eros als Geburtshelfer der menschlichen Natur (und somit der menschlichen Tugend) erscheint,⁵⁹ problematisiert Marguerite ab der dritten Stufe das erotisch-affektive Streben des Menschen nach dem Aufstieg durch eigene gute Werke. Denn solange der Mensch durch gute Werke seiner Liebe zu Gott Ausdruck verleihen möchte, richtet er seinen Willen auf die eigenen guten Taten und darin auf das eigene Selbst. In einer Radikalisierung des plotinischen „Aphele panta“ („Lass ab von allem“⁶⁰) fordert Mar-

 Siehe Plat. Symp. 209e5; 210e2 und 210e4.  Siehe Plat. Symp. 210d1 (ὥσπερ οἰκέτης) siehe auch Plot. Enn. I 6.7.17– 19.  Siehe Plat. Symp. 210d2– 211d1; bes. 210d6–e1 (ἕως ἂν ἐνταῦθα ῥωσθεὶς καὶ αὐξηθεὶς κατίδῃ τινὰ ἐπιστήμην μίαν τοιαύτην, ἥ ἐστι καλοῦ τοιοῦδε); 210e3 f. (πρὸς τέλος ἤδη ἰὼν τῶν ἐρωτικῶν) und 211b6 f. ([…] ἐκεῖνο τὸ καλὸν ἄρχηται καθορᾶν, σχεδὸν ἄν τι ἅπτοιτο τοῦ τέλους) und Plot. Enn. I 6.4.12.  Bei Platon ist es Diotima, die Sokrates über die ta erôtika aufklärt. Plotin wiederum spricht seine Schülerschaft wie auch Marguerite in diesem protreptisch anmutenden Lehrstück direkt an und vollzieht den Aufstieg zum Schönen auf diese Weise mit ihnen nach (siehe die zahlreichen Fragen und Anreden, z. B. Enn. I 6.1.7– 11; I 6.5.1– 8).  Zur Ausbildung und Verfeinerung der Seele aus eigener Kraft siehe Plot. Enn. I 6.9.2– 15.  „emprinse d’Amour“ (Porete, Mirouer 118, Z. 3 f.).  Siehe Plat. Symp. 212b3 (τῇ ἀνθρωπείᾳ φύσει συνεργὸν) und Plot. Enn. I 6.4.15 – 22.  Plot. Enn. V 3.17.38 f.

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guerite nun die Vernichtigung des Eigenwillens und darin des eigenen Selbst.⁶¹ Wie dem jugendlichen Liebhaber bei Platon die Liebe zu einem einzelnen schönen Körper rückblickend als eine Art rauschhafte Knechtschaft erscheint, so bewertet auch unsere Autorin die affektive Liebe niedrigerer Stufe negativ. In Begriffen von Gewalt und Trunkenheit⁶² beschreibt sie eine Seele, die in die Irre geht, insofern sie sich an der eigenen Liebe ergötzt und darüber selbstgefällig wird. Diese Art der Liebe macht unverständig und bedarf der Verfeinerung in zwei weiteren Stadien.⁶³ Gelingt diese Verfeinerung, gewinnt die Seele ihr Wesen und schaut Gott selbst, der die Liebe ist.⁶⁴

3.4 Die Korrelation von Denkgegenständen und Seelenvermögen⁶⁵ Die Vervollkommnung der Seele erfordert sowohl größte menschliche Anstrengung als auch göttliche Zuwendung.⁶⁶ Die Seele, die angetrieben vom Eros aufsteigt, aktiviert dabei sukzessive ihr höchstes Vermögen, den Intellekt. Der Aufstieg der Seele zum wahrhaften und göttlichen Schönen ist somit alles andere als irrational.⁶⁷ Vielmehr korrespondieren Denkgegenstände und seelische Vermö-

 Siehe Porete, Mirouer 118, Z. 46 – 64. Diese Radikalisierung impliziert freilich auch die Loslösung „von allen äußeren Anstrengungen“ („de tous labours de dehors“, Z. 66 f.) und „vom Gehorsam anderen gegenüber“ („de obedience d’aultruy“, Z. 67), was erklärt, warum der Text von Vertretern der Kirche als Bedrohung ihrer Autorität wahrgenommen wurde.  Auch bei Boethius begegnet der Gedanke von der Trunkenheit der Seele: Berauscht durch irrationales, affektives Streben irren die Menschen umher, wobei ihr Streben im Sinne der platonischen Anamnesis eigentlich dem Guten und der Rückkehr zu diesem gilt: „Sed ad hominum studia revertor, quorum animus etsi caligante memoria tamen bonum suum repetit, sed velut ebrius, domum quo tramite revertatur ignorat.“ (Cons. 3,2,13).  Siehe Porete, Mirouer 118, Z. 81– 92.  Siehe 1 Joh 4,8. Bei Boethius stimmen alle Menschen im Streben und der Liebe zum Guten überein, siehe beispielsweise Cons. 3,2,20: „Bonum est igitur quod tam diversis studiis homines petunt […] in diligendo boni fide consentiunt.“ Dieses Gute wird später mit Gott identifiziert (siehe beispielsweise 3,11,3).  Sowohl in Platons als auch in Plotins Beschreibung des Aufstiegs zum Schönen lassen sich ontologische und epistemologische Perspektivierungen unterscheiden. Diese sind insofern untrennbar miteinander verbunden, als unterschiedliche Gegenstände der menschlichen Seele unterschiedliche Leistungen abverlangen.  Die Erwartung, dass ein tugendhafter Mensch von den Göttern zurückgeliebt werde (θεοφιλεῖ), die Liebesbeziehung also gegenseitig ist, äußert auch Diotima in Platons Symposion (212a6).  Siehe bes. Plat. Symp. 210e1 f.: πειρῶ δέ μοι, ἔφη, τὸν νοῦν προσέχειν ὡς οἷόν τε μάλιστα und Plot. Enn. I 6.1.53 und I 6.6.17.

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gen: Die höchsten Denkgegenstände sind nur dem höchsten Denkvermögen, dem Intellekt, zugänglich; das Streben der Seele ist ein Streben nach Weisheit,⁶⁸ Verinnerlichung und Autarkie.⁶⁹ In Ausübung der Vernunft steigt die Seele dabei in einem Lernprozess auf vom einzelnen Phänomen zu allgemeinen Wesensbegriffen.⁷⁰ Insofern es viele Wesensbegriffe gibt, gibt es viele schöne Kenntnisse („kala mathêmata“⁷¹). Unter diesen jedoch ragt als Ziel jeder Erkenntnis ein spezifisches Wissen heraus: die Kenntnis des Schönen selbst („tou kalou mathêma“⁷²). Dieses erblickt der verständige Mensch ganz im Sinne eines Aha-Effekts „plötzlich“ („exaiphnês“⁷³). Diese plötzliche Erkenntnis des wahrhaft Schönen darf freilich nicht als Offenbarung missverstanden werden, die ohne eigenes Zutun auf den Menschen kommt, sondern nach vielen Anstrengungen („ponoi“⁷⁴) gerade aufgrund seiner eigenen intellektuellen bzw. philosophischen Leistung.⁷⁵ Sprachlich wird diese Leistung in allen drei Texten in Metaphern des Sehens gefasst.⁷⁶ Die Sehkraft meint das Vermögen, mittels dessen der Mensch erkennt. Das Sehen des Schönen meint, dass er sein Wesen gewinnt. Die Aktivität des Sehens ist somit gleichermaßen Instrument wie Selbstzweck. Dies setzt allerdings voraus, dass das Sehvermögen ausgebildet und verständig gebraucht wird. Denn wer seinen Blick auf Unwesentliches richtet, ist blind, obwohl er sieht.  Siehe Plat. Symp. 210d6 (ἐν φιλοσοφίᾳ ἀφθόνῳ).  Siehe Plot. Enn. I 6.6.11.  Wer diesen Schritt vom Einzelnen zum Allgemeinen nicht zu gehen vermag, dem wirft Diotima großen Unverstand (πολλὴ ἄνοια) vor (Plat. Symp. 210b2); für Plotin siehe Enn. I 6.3.9 – 15.  Plat. Symp. 211c6.  Plat. Symp. 211c8; siehe auch 210d7 (τινὰ ἐπιστήμην μίαν τοιαύτην).  Plat. Symp. 210e4.  Plat. Symp. 210e6 und Plot. Enn. I 6.7.30 – 32.  Siehe Symp. 210d3 – 6, bes. ἐν φιλοσοφίᾳ ἀφθόνῳ. Mit dieser Interpretation von Platons Symposion soll nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei dieser Art plötzlichen Erkennens um ein Wiedererkennen handelt (siehe auch Plat. Phdr. 249b6–c8). Davon zu unterscheiden sind allerdings alltägliche und intuitive Momente des unmittelbaren Erkennens schöner und hässlicher Dinge, die Plotin als ἄλογον (Enn. III 5.1.16 – 18; siehe auch Kalligas, Enneads, S. 199) charakterisiert und die bei ihm am Anfang des Aufstiegs zum Schönen stehen (Enn. I 6.2.1– 11). Von dort führt der Weg freilich auch bei Plotin über die Ausbildung einzelner Tugenden zur Vervollkommnung der menschlichen Seele im und durch den Intellekt (6.6.12– 18). Bei Boethius findet sich in der Mitte der Consolatio die Anrufung Gottes als des Ursprungs aller Dinge in Form eines Hymnus, der einleitend den Intellekt Gottes aufruft: „O qui perpetua mundum ratione gubernas“ (Cons. 3 m.9,1). Zuvor nennt die Allegorie der Philosophie mit Platons Timaios eine ihrer prominenten Quellen (3,9,32: „ut in Timaeo Platoni“).  Siehe beispielsweise für Platon Symp. 210c3 f. (θεάσασθαι; ἰδεῖν); c7 (βλέπων); d4 (θεωρῶν); e4 (κατόψεται) und Plot. Enn. I.6.8.24– 27 und I.6.9 passim; für Marguerite siehe beispielsweise Mirouer 118, Z. 85 f. („veue“; „veoir“); Z. 109 („voit“); Z. 142 f. und Z. 145 f. („voit“; „veoir“); Z. 175 – 182; Z. 186 f.; Z. 197 und Z. 199 („voit“).

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Auch bei Marguerite ist der Aufstieg der Seele äußerst mühevoll.⁷⁷ Denn obwohl der Seele die Gnade Gottes zukommt, kann der Aufstieg ohne eigene Anstrengungen des Menschen nicht gelingen. Er muss Tugenden ausbilden und wieder fallenlassen, indem er seinen Willen mit ganzer Kraft auf Gott richtet.⁷⁸ Dass der Mensch zu diesem Zweck von allem eigenen Wollen ablassen muss, steigert seine Mühen bis hin zu einem „Martyrium“⁷⁹.

4 Schlussbetrachtung Vor dem Hintergrund der vier philosophischen Argumentationsfiguren, die sich in je eigener Prägung sowohl bei Platon und Plotin als auch bei Marguerite finden, hebt sich nun umso klarer ab, wie sich die Philosophin als eigenständige Denkerin profiliert. Schlüsselbegriff ihrer Lehre ist der Begriff des Willens.⁸⁰ Nach ihrem Verständnis hat Gott dem Menschen den freien Willen zum „Geschenk“⁸¹ gemacht und ihm damit die Möglichkeit gegeben, sein Leben zu gestalten. Diese Möglichkeit begreift Marguerite nun auch und vor allem als Aufgabe: All sein Wollen soll der Mensch auf Gott richten und vermag aufgrund der Nichtigkeit der menschlichen Natur doch nichts auszurichten. Solange das Wollen ein eigenes Wollen ist, ist es nicht, „wo es sein sollte“ und muss dahin zurückgebracht werden, „woher es stammt“⁸². Allein danach strebt die verständige Seele, die erkennt, „dass das Wollen einzig den Willen Gottes wollen sollte, ohne irgendein

 Siehe Porete, Mirouer 118, Z. 14–17: „Si semble a ceste Ame assez labour pour elle, pour tout ce que elle sçait faire; et luy semble que, se elle devoit vivre mil ans, ques on provoir a assez a faire de tenir et garder les commandemens“/„Dies scheint dieser Seele trotz allem, was sie zu tun vermag, eine große Mühe zu sein. Und ihr scheint, dass, wenn sie auch tausend Jahre zu leben hätte, sie vollauf damit beschäftigt wäre, diese Gebote zu beachten und zu befolgen.“  Siehe Porete, Mirouer 118, Z. 20 – 25: „non fera, se il a le cueur gentil, et par dedans plain de noble courage; mais peit cueur n’ose grant chose entreprendre, ne hault monter par deffaulte d’amour. Telz gens sont si couars; mais ce n’est pas merveille, car ilz demourent en paresse qui ne leur lesse point querir Dieu, lequel ja ne trouveront, se diligenment ne le quierent.“/„Er [der Mensch] wird nichts fürchten, wenn er ein edles Herz hat und von innen erfüllt ist mit hohem Mut. Doch ein kleines Herz wagt nicht, etwas Großes zu unternehmen, noch auch hoch hinaufzusteigen, aus Mangel an Liebe. Solche Leute sind doch feige! Doch dies ist kein Wunder! Sie verharren nämlich in der Trägheit, die sie Gott nicht suchen lässt. Sie werden ihn aber niemals finden, wenn sie ihn nicht fleißig suchen.“  „faire le martire“ (Porete, Mirouer 118, Z. 55).  Siehe Kobusch, Philosophiegeschichte, S. 363 – 366.  „don“ (Porete, Mirouer 118, Z. 103).  „ou il ne doit pas estre“ (Porete, Mirouer 118, Z. 107 f.); „dont il vint“ (118, Z. 108).

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anderes Wollen, und dass einzig dazu ihr das Wollen gegeben worden war“⁸³. Das Ablassen von jedem eigenen Wollen vervollkommnet die Seele, sodass die Selbstermächtigung der Marguerite letztlich zur Entmachtung des eigenen Selbst führt. Insofern sie es jedoch unternimmt, ihre Einsicht in Form eines Buches anderen Menschen zu vermitteln, liegt die Selbstermächtigung der Marguerite auch in ihrer selbstbewussten Lehrtätigkeit⁸⁴ und dem Vertrauen auf die eigene intellektuelle Leistungsfähigkeit: „Die Erkenntnis von den beiden Naturen […], von der göttlichen Güte und von der eigenen Schlechtigkeit“⁸⁵, verdankt sich Gott allein und ist doch zugleich Aufgabe und Leistung der menschlichen Vernunft.

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 „que Vouloir doit vouloir le seul divin vouloir, sans aultre vouloir, et que pource fut donné ce vouloir.“ (Porete, Mirouer 118, Z. 117 f.).  „maistresse“ (Porete, Mirouer 118, Z. 152). Siehe auch Z. 143 f.: „en la chaere“/„auf dem Lehrstuhl“.  „la cognoissance de des deux natures […], de divine Bonté et de sa mauvaistié“ (Porete, Mirouer 118, Z. 152– 154).

‚In göttlichem Licht‘

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Melanie Förg, Annika von Lüpke

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Brendan Röder

Zur Formbarkeit des Körpers in der Frühen Neuzeit Natur und plastische Chirurgie im katholischen Klerus

1 Zum Thema: Körpergebrechen und soziale Grenzen Die Trennung zwischen Klerikern und Laien war in frühneuzeitlichen Gesellschaften eine zentrale, wenn auch innerhalb wie zwischen den Konfessionen umstrittene Form der sozialen Grenzziehung.¹ Für die Erforschung von Übergangsriten und Liminalität bieten sich Eintrittsformen in den Klerus wie Tonsur, Ordination und Gelübde als rituell markierte Statusveränderungen besonders an.² In diesem Betrag möchte ich aufzeigen, welche Rolle der Körper der Betreffenden bei symbolischen Grenzübertritten und dem Verweilen im geistlichen Status spielte. Besondere Aufmerksamkeit widme ich dabei chirurgischen Praktiken, die Kleriker im Umgang mit dem eigenen Körper einsetzten. Der Fokus auf den Körper und chirurgische Eingriffe mag zunächst überraschen. Diese Themen wurden im Kontext von Zugangsbeschränkungen zum Klerus und ihrer Aushandlung von der Forschung kaum in den Blick genommen.³ Bei der Untersuchung der nachtridentinischen Konfessionsbildung standen vielmehr (postulierte oder tatsächliche) Anforderungssteigerungen im Bereich von Doktrin und Ausbildung, Spiritualität und Verhalten von Geistlichen im Zentrum der Aufmerksamkeit.⁴ Allerdings wurde die Bedeutung von Körperlichkeit für den klerikalen Status im Kirchenrecht der Frühen Neuzeit – aufbauend auf mittelalterlichen Traditionen – explizit und ausführlich thematisiert.⁵ Männern mit sogenannten körperlichen Defekten blieb der Zugang zum Klerus verwehrt. Dabei findet sich eine spezifische kirchenrechtliche Konzeption, die sich von den genannten Eintritts-

 Schorn-Schütte, Priest.  Vgl. Cullum, Boy/Man into Clerk/Priest.  Vgl. für das Mittelalter Ostinelli, Defectus.  Zur Exklusion anhand von diesen Aspekten vgl. Brambilla, Ways of Exclusion, sowie zur Konfessionalisierung, Reinhard u. Schilling, Katholische Konfessionalisierung.  Vgl. zum Thema knapp Röder, Beeinträchtigungen. https://doi.org/10.1515/9783110605389-009

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oder Aufstiegsriten unterscheidet, nämlich die sogenannten Weihehindernisse oder Irregularitäten. Die Weihehindernisse ex defectu corporis definierten Barrieren zwischen Laien- und Klerikerstatus auf der Grundlage des Körpers. Was bei Laien in der Regel toleriert oder sogar besonders zum Gegenstand religiös begründeter Barmherzigkeit oder Pflege wurde, war für den Klerus ein Ausschlusskriterium. Ich werde argumentieren, dass diese spezifischen Rechtsnormen bestimmte chirurgische Praktiken nahelegten, mit denen klerikale Körper gleichsam bearbeitet und geformt wurden.⁶ Um Arbeit am Körper und soziale Grenzziehung in der Frühen Neuzeit zu korrelieren, erscheint mir die Untersuchung Sander Gilmans zur Kulturgeschichte kosmetischer Chirurgie analytisch besonders gewinnbringend.⁷ Darin nutzt Gilman den Begriff des passing, den er aus Forschungen zu race adaptiert.⁸ Wichtig ist der Wunsch, als Mitglied einer Gruppe wahrgenommen zu werden, zu der man gehören will oder geradezu muss. Passing beschreibt die Bewegung von Individuen von einer gesellschaftlich negativ besetzten Kategorie in eine positive, etwa von ‚alt‘ zu ‚jung‘, ‚glatzköpfig‘ zu ‚behaart‘ oder allgemeiner ‚hässlich‘ zu ‚schön‘. Vorausgesetzt wird das Vorhandensein von Kategorien der Inklusion und Exklusion, wie sie in unserem Falle die Aufnahme in den Klerus und die Irregularitäten darstellen. Besonders passend in unserem Kontext erscheint Gilmans Bezug des Begriffes auf die Grenzüberschreitung durch körperliche Praktiken. Im Sinne des Aufsteigens oder Übergehens in einen geistlichen Status kommt der Ausdruck passare auch in den Quellen vor. Der Begriff des passing fokussiert dagegen das ‚Durchgehen als jemand‘ (etwa als ‚Weißer‘, Schöner, Gesunder).⁹ Wenn unsere Akteure Kleriker sein wollen, so die These, dann mussten sie körperlich als solche ‚durchgehen‘ und gegebenenfalls ihren Körper verändern. Dies war integraler Teil der Überschreitung der Grenze zwischen Klerus und Nicht-Klerus, die schließlich durch beigeordnete religiöse und kirchenrechtliche Handlungen vollzogen wurde. Gilmans Untersuchung zur plastischen Chirurgie eignet sich zudem als Ausgangspunkt, da sie sich im Vergleich zu anderen neueren Studien zumindest kursorisch der Frühen Neuzeit widmet. Einen ersten Hochpunkt für Körperveränderung sieht Gilman in der Renaissance bei Autoren wie Paré oder Tagliacozzi. Hier hebt er besonders die Bedeutung der Rhinoplastik für Syphiliskranke her-

 Zum Begriff der Arbeit am Körper vgl. Schroer, Soziologie, S. 14.  Gilman, Body.  Gilman, Body, S. 21– 26. Zum Begriff passing vgl. auch Ginsberg, Passing and Fictions of Identity und Davis, Surgical Passing.  ASV, Congr. Concil., Pos 259, Gerunden, 01.03.1704.

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vor.¹⁰ In der Zeit der Gegenreformation dagegen habe das Interesse an solchen Formen der Chirurgie abgenommen – vermutlich auf Grund der Skepsis der Kirche gegenüber menschlicher Modellierung des eigenen Körpers.¹¹ Zwischen Renaissance und dem Aufschwung der ästhetischen Chirurgie im 19. Jahrhundert bleibt somit eine gewisse Lücke. Folgende Ausführungen stellen auch erste Schritte zur Hinterfragung dieser Chronologie dar, indem ich die Zeit um 1700 fokussiere. Die Untersuchung der genannten Fragen der körperbasierten Grenzziehung und -befestigung um die Sozialformation Klerus erfolgt in zwei Schritten. Erstens wird nach der Fixierung dieser Rechtsnormen und der Rolle von natura in ihrer Begründung gefragt. Inwiefern ließen sich die rechtlich-sozialen Trennlinien des Klerus mit dem Verweis auf Natur rechtfertigen, also Grenzen naturalisieren?¹² Zweitens möchte ich konkrete körperliche Praktiken und deren Hintergrund aufzeigen, die für die Überschreitung dieser Grenze eingesetzt wurden, hier im Speziellen die Chirurgie. Wie veränderlich wurden Natur und Körper konzipiert und welche Rolle spielen dabei Begriffe der Natürlichkeit und Künstlichkeit? Finden sich Vorstellungen einer ganz wörtlich verstandenen Formbarkeit des Körpers? Diese Fragen an die Frühe Neuzeit möchte ich auch zum Anlass nehmen, moderne Sichtweisen von Körpermodifikationen einzubeziehen. Zuvor sind einige Sätze zum Rechtsphänomen der Weihehindernisse und damit zum Charakter der fokussierten Grenzziehung generell und zu den herangezogenen Quellen angebracht. Irregulär wurde man prinzipiell ipso facto, ein Weihehindernis musste also nicht erst verhängt werden.¹³ Der Irreguläre war mit einem Hindernis behaftet, das den Eintritt in den Klerus oder, für bereits Geweihte, die Ausübung klerikaler Aufgaben unmöglich machte. Zwei Punkte seien vorweggeschickt: Bereits geweihte Priester, die nach der Ordination etwa aufgrund eines Unfalls irregulär wurden, befanden sich in einer Art Zwischenraum: Der Charakter der Weihe, der bei Ordination empfangen worden war, blieb erhalten, aber die kirchliche Regelung hinderte sie an der Ausübung ihres Amtes, insbesondere der Feier der Messe. Zudem ist eine weitere Differenzierung des Klerus angebracht. Die Hierarchiestufen, die in feiner, hochformalisierter Gliederung den Klerus in einzelne Weihestufen teilten, können als Teil eines großen Übergangs vom Laien zum Kleriker oder jeweils als einzelne Übergänge gesehen werden.

 Gilman, Body, S. 62– 72. Gegen die Bedeutung von Syphilis für die Chirurgie vgl. Gadebusch Bondio, Ästhetik, S. 129.  Gilman, Body, S. 73.  Vgl. die Fragestellung der Forschungsgruppe Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Höfele u. Kellner, Natur.  Gasparri, Tractatus, S. 97: „contrahitur ipso facto absque sententia etiam declaratoria.“

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Wann eine Irregularität vorlag und wann nicht, war in der Frühen Neuzeit Gegenstand umfangreicher kanonistisch-diskursiver Debatten und konkreter Rechtsverfahren und zwar zunächst unabhängig davon, ob es um Verletzungen durch Unfälle oder Gebrechen von Geburt aus ging. Mein Beitrag stützt sich entsprechend auf zwei Typen von Quellen: Einerseits die kirchenrechtliche und moraltheologische Traktatliteratur, die dieses Thema vom 16. bis ins 19. Jahrhundert intensiv behandelte. Andererseits Fälle individueller Kleriker respektive Klerikerkandidaten aus der Rechtspraxis, die sich in der Frühen Neuzeit an den Heiligen Stuhl wandten, um ihren rechtlich-körperlichen Status zu klären und im Zweifel eine päpstliche Dispens, also Ausnahme von exkludierenden Normen, zu erhalten. Neben den Petitionen haben sich noch die Stellungnahmen der lokalen Bischöfe und in vielen Fällen auch Expertisen oder Zeugenaussagen zum betreffenden Körper erhalten, so dass die ganze Komplexität der Rechtsfälle im Folgenden außen vor bleiben muss. Dass Dispense so großen Raum in Diskurs und Praxis einnahmen, macht bereits eines deutlich: Die Barrieren um den Klerus wurden ständig ausgesetzt und nachverhandelt. Es geht also nicht um eine harte Grenze. Nicht nur war jeder Kleriker irgendwann Laie, sondern auch die rechtlichen Zugangsbeschränkungen und Regulierungen dieser Grenze wurden durch praktische Arrangements und vor allem durch Rechtsmittel von oben vielfach umgangen. Zeitgenössisch haben das Phänomen vor allem protestantische Autoren skandalisiert: In ihren Augen war Sinn vieler dieser papistischen Irregularitäten genau deren Überschreitung, insofern der Papst sich die Dispense bezahlen ließ.¹⁴ Wichtig ist an dieser Stelle nicht die konfessionelle Polemik. Der Sinn von Dispensen war tatsächlich nicht die Aufhebung von Barrieren, sondern deren Aufrechterhaltung mit situativ begründeten Ausnahmen. Anders formuliert blieben Grenzen als überschreitbare bestehen. Sie waren einerseits auch in einem positiven Bescheid hochgradig präsent. Andererseits war auch in einem erfolglosen Dispensverfahren die Möglichkeit der Überschreitung angesprochen und in unmittelbarer Reichweite.

2 Natur und Recht Welche Rolle spielt nun die Natur bei all dem? Rechtliche Begriffe wie Hindernis (impedimentum) hatten nicht per se mit Natur oder Körper zu tun und galten auch für Männer, die z. B. verheiratet waren oder einen Mord begangen hatten. Als impedimentum ex defectu corporis erhielten sie aber eine spezifische Doppelbe-

 Etwa Gundling, Allgemeines geistliches Recht, Bd. 2, S. 1671.

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deutung: Eine Verletzung oder ein körperliches Gebrechen konnte physisch behindern (impedit) und deshalb zu einem rechtlichen Hindernis führen. Diese Dopplung findet sich positiv im Begriff des abilis, das eben körperliches Können ebenso wie rechtliches Dürfen bedeuten konnte. Die ‚Abilität‘ und das Gegenteil ‚Behinderung‘ (impedimentum) als Rechtsbegriffe gewannen durch die Verknüpfung mit dem im Körper verorteten, natürlichen Können an Evidenz. Diese Vorstellung, dass bestimmte Gebrechen offensichtlich gleichzeitig körperlich und rechtlich disqualifizierten, findet sich in der frühneuzeitlichen Traktatliteratur: Wem beide oder eine Hand oder die Füße fehlten, so einer der Autoren, der sei irregulär. Letzterer könne an sich (per se) nicht am Altar dienen, Ersterer die Heiligen Mysterien nicht berühren, wie sich von selbst verstehe (per se patet).¹⁵ So sei auch ein Blinder, egal ob so geboren oder aus sonst einem Grund, wie auch der Stumme, dem die Zunge abgeschnitten wurde, irregulär, weil er die Worte der Sakramente nicht sprechen könne.¹⁶ Rechtlich ausgeschlossen sollte in diesem Bereich schlicht derjenige sein, der es körperlich war: Wer nicht kann, darf auch nicht, so wäre die einfachste Formulierung. Durch die Überlappung der Begriffe konnte in Traktaten bei der Einschätzung von Gebrechen jedenfalls darauf abgehoben werden, dass die Exklusion solcher Gebrechen sich gewissermaßen von selbst erklärte. So reduzierten sich auch die Komplexität von Petitionen und deren im Zweifel zu verifizierende Elemente: Die Vorgeschichte eines Körperdefekts, z. B. Schuldhaftig- oder Schuldlosigkeit, wurde vergleichsweise irrelevant, wenn es um den durch einfachen Augenschein ersichtlichen, quasi deskriptiv-natürlichen Körperzustand gehen sollte. Wir haben es also auf den ersten Blick mit einer Grenze zu tun, die eine rechtlich-soziale Gemeinschaft organisiert und über den Begriff der Natur legitimiert wird, einem klassischen Beispiel einer Naturalisierung. Die Evidenz selbst (scheinbar) eindeutig disqualifizierender Gebrechen wurde allerdings schon zeitgenössisch problematisiert. Problematisch war nicht die Dopplung rechtlicher/körperlicher Abilität als solche, die man ja als teilweise Überlappung sehen konnte. Kritisch war die Frage der Dispensfähigkeit, also der Bedeutung und Grenzen von Rechtsakten im Feld des Natürlichen. Die geschilderte Legitimation qua natura implizierte eine Eigenlogik des ‚Natürlichen‘, die konsequent zu Ende gedacht ein Problem für die Logik der positiv-rechtlichen, päpstlichen Gewalt darstellte. Dieser unterlagen prinzipiell alle Irregularitäten,

 Ugolini, Tractatus, S. 188. „[N]am posterior altari interesse per se non potest; prior autem sacra mysteria contrectare non valet, ut per se patet.“ Hervorhebung B.R.  Ugolini, Tractatus: „[V]erbis sacramentorum formas exprimere, septem horarum praeces recitare nequit.“

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die entsprechend auch sämtlich dispensabel sein sollten.Wie stark das postulierte und offensichtliche physische Nicht-Können wog, zeigt auch der verwendete Begriff der impotentia. War bei der körperlichen ‚Ohnmacht‘ nicht auch das Recht – in diesem Fall der Papst – machtlos? Oder konnte dieser auch bei Unmöglichkeit zu Handlungen dispensieren, wenn seine Dispens doch gleichsam das Unmögliche möglich machte?¹⁷ In der Traktatliteratur finden sich hier unterschiedliche Antworten: Der Papst könne in allen Irregularitäten dispensieren, da sie sämtlich aus dem positiven Recht kämen, so etwa der Autor Bartolomeo Ugolini.¹⁸ Allerdings sagt er ebenfalls, dass auch der Papst „das natürliche Hindernis nicht aufheben kann“ („naturale impedimentum tolli non potest“).¹⁹ Bei der Frage, ob der Papst bestimmen könne, ob der physisch Unfähige ekklesiastische Funktionen ausüben dürfe, differenziert Ugolini aber doch: Es gebe Fälle, in denen ein Kleriker manche, aber nicht alle Funktionen ausüben könne und andere, in denen er gar keine Funktionen ausüben könne. Ersterer sei dispensabel; wer dagegen überhaupt keine Handlungen ausüben könne, sei es nicht.Was er allerdings könne, war einer Art Kompensationslogik zu folgen, die Funktionen ersetzte. Irgendeine klerikale Aufgabe musste allerdings als Minimalanforderung übrigbleiben. Die Autoren differenzierten eindeutig zwischen den Verwendungen von abilis im körperlichen und im rechtlichen Sinne und die Funktion der natürlichen Behinderung für die Irregularität lag nicht in einer Identifizierung beider Felder. Der Blinde, so er denn eine Dispens erhielt, wurde durch diese nicht sehend gemacht. Trotzdem war z. B. die Messfeier möglich, wenn auch nicht erstrebenswert. Einem Stummen könne aber nicht effektiv erlaubt werden, dass er kirchliche Funktionen ausübe, da diese Erlaubnis unnütz (inutilis) wäre.²⁰ Die Diskussion wird also komplexer, als sie eingangs erschien. Fragen der Zugehörigkeit zum Klerus warfen Fragen der Grenzziehung zwischen Natur und Recht bzw. verschiedenen Rechtsformen auf. Im frühneuzeitlichen Diskurs endet mit dem Grund für die körperliche Irregularität auch diese selbst. Wenn also beispielsweise der unbewegliche Arm oder das Bein wieder heilten, endete die Irregularität. Moderne Kirchenrechtler haben versucht, diese Spannung aufzulösen, indem sie Irregularität als ein Hindernis definieren, das nicht natürlich aufgehoben werden kann, so dass immer eine Dispens erfolgen muss. Ein echter Körperdefekt endet nicht durch Heilung oder körperliche Übung, sondern nur rechtlich. Bei anderen Irregularitäten war das    

Vgl. Corradi, Praxis, S.1: Die Dispens „facit impossibile possibile“. Ugolini, Tractatus, S. 239. Ugolini, Tractatus, S. 239. Ugolini, Tractatus, S. 239.

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übrigens schon frühneuzeitlich so: Etwa Besessenheit – auch wenn man frei davon war; Mord oder Unfälle mit Todesfolge brauchten eine Dispens; auch nach getaner Buße, Entschädigung und Friedensschluss war die Dispens nötig, weil die Sünde eine Narbe hinterlassen hatte. Ein entscheidender Punkt ist die Relevanz dieser kanonistischen Debatten für die Rechtspraxis. Es lässt sich feststellen, dass Petenten selbst explizit und häufig erfolgreich forderten, dass die Kirche sich nach der Natur richten solle. Ein Priester, dessen Arm nach langer Einschränkung wieder geheilt worden war, wollte etwa „wie von der Natur, so auch von der Kirche rehabilitiert werden“²¹. Wieder finden wir die Doppelung von Natur und Kirche bzw. Kirchenrecht. Zugleich zeigt der Fall aber auch, dass der Petent sich offensichtlich in einer unsicheren Lage befand und entsprechend auch die rechtliche Bestätigung des Natürlichen fordern musste. Wie die Barrieren der Irregularität stets in einem rechtlich-sozialen Kontext aufgerichtet wurden, so reichte eben auch für ihren Abbau das evident Körperlich-Natürliche nicht aus. Wir können festhalten, dass der Körper jedenfalls keine eindeutige, offen zu Tage liegende Evidenz vermittelte, sondern sich wiederum bestimmte soziale Prozesse und rechtliche Verfahren anschlossen. Bisher wurde damit die Präsenz und Ambivalenz diskursiver Appelle an die Natur im Kontext der Körpergebrechen im Klerus aufgezeigt. Die körperorientierten Barrieren in und um den geistlichen Stand wurden in einem Zusammenspiel von Natur und Recht legitimiert. In einem weiteren Schritt möchte ich nun nach der Rolle von Veränderungen am Körper selbst fragen.

3 Passing as a Priest. Kosmetik und Körperpraktiken Konnten Individuen durch Körperpraktiken den eigenen rechtlichen Status beeinflussen? Finden wir im Kontext von Kirchenrecht und konkreten Verfahren Spuren einer kosmetischen oder ästhetischen Arbeit am Körper? Im Folgenden sollen als Beispiele für Körperpraktiken chirurgische Modifikationen in den Blick genommen werden, wobei ich hier nicht zwischen rekonstruktiver und ästhetischer Chirurgie unterscheide.²² Es geht um die intendierte Ersetzung von verlo-

 ASV, Congreg. Concil., Pos 180, Nullius Piscien 11.08.1698: „Cupit propterea quemadmodum a natura, ita ab Ecclesia ad divina peragenda rehabilitari“.  Sicherlich lassen sich reconstructive und aesthetic surgery nicht immer gut auseinanderhalten, vgl. Gilman, Body, S. 9.

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renen Körperteilen, sei es durch menschliches Gewebe oder andere Materialien, sowie weitere chirurgische Arbeiten am Körper. Die Veränderbarkeit des Körpers allgemein und die kosmetische Chirurgie hat die kulturwissenschaftliche Forschung vielfach beschäftigt, wobei vor allem zwei Dinge zu beachten sind: Zum einen liegt der Fokus häufig auf der Moderne, etwa auf der Professionalisierung der ästhetischen Chirurgie (im Gegensatz zur rekonstruktiven Chirurgie).²³ Zum anderen werden radikal verschiedene Begrifflichkeiten verwendet. Für Letzteres mag ein Beispiel genügen: Tobias Prüwer versteht unter Body Modification etwa „Verfahren, die vom konventionellen Schönheitsbild und der Vorstellung vom Normalen abweichen.“²⁴ Damit ist also das Gegenteil von kosmetischen Eingriffen gemeint, die sich an gesellschaftlichen Postulaten der Normalität ausrichten.²⁵ Auffällig ist die auf (post‐)moderne, kapitalistische Gesellschaften fokussierte Begrifflichkeit der Normalität. Normalität wird von Prüwer beispielsweise als derzeit „herrschendes Dispositiv von Natürlichkeit/Unberührtheit/Reinheit“ gekennzeichnet, das nur Körperveränderungen zulässt, die dem eigenen Begriff von Natur und Integrität entsprechen.²⁶ Dies mag für die vom Autor behandelten Modifizierungen wie Tattoos, Piercings und dergleichen der Fall sein, generell muss hier aber differenziert werden: Wenn künstliche Körperteile und Schönheitschirurgie eingesetzt werden, kann das Streben nach Normalität offenkundig zu Abweichungen vom Ideal der Natürlichkeit führen. Finden sich Begriffe des Normalen und Natürlichen in der klerikalen Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit? Gab es Skepsis gegenüber dem Eingriff in den womöglich von Gott gegebenen natürlichen Zustand eines Körpers? Eine umfassende Behandlung von Körperpraktiken im Klerus müsste noch weitere Felder einbeziehen. Außer Acht lassen werde ich die ebenfalls wichtigen Aspekte der Körperübung, sei es von gesunden oder verletzen Körperteilen. Zudem geht es mir um chirurgische Veränderungen am Körper, die auf Verbleib oder Aufnahme in den Klerus abzielen. Im Diskurs finden sich dagegen auch Handlungen, die als gezielte Selbst-Mutilation mit gegenteiliger Intention vorgenommen wurden. In der frühneuzeitlich zirkulierenden spätantiken Erzählung über den Mönch Ammonius etwa schneidet dieser sich das Ohr ab, um nicht geweiht zu werden, da er sich des Amtes für unwürdig hält.²⁷ Handlungen der Selbst-Mutilation sind in unserem Kontext zwar relevant (mehr als die ebenfalls von Am-

 Geographisch überwiegt der Fokus auf die Herausbildung des Marktes für chirurgische Eingriffe in den USA, etwa Haiken, Venus Envy.  Prüwer, Body Modification, S. 9.  Davis, Surgical Passing.  Prüwer, Body Modification, S. 9.  Palladius, The Lausiac History, S. 25 f.

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monius und anderen überlieferte Kasteiung des Körpers), da sie ein Bewusstsein vom Konnex Körper-Klerikerstand vermitteln, sollen hier allerdings beiseitegelassen werden. Sicherlich lässt sich belegbare plastische Arbeit am Körper nicht für alle Arten von Verletzungen oder Makel gleichermaßen erwarten. Der physische Spielraum war an die technische Machbarkeit im Rahmen der chirurgischen Praxis gebunden, die freilich historisch variabel zu denken ist.²⁸ Ein ganzer Arm war schwerer zu ersetzen als etwa der kleine Finger.Von diesem Feld der Chirurgie sollten zunächst Wundergeschichten abgegrenzt werden, in denen Gott das Subjekt der Körperveränderung war und diese Einschränkungen nicht galten. Im Verständnis katholischer Autoren war über göttliche Eingriffe konsequenterweise deutlich mehr möglich als unter den Bedingungen moderner Chirurgie. So konnte auch ein ganzer Arm oder eine Hand direkt nachwachsen: Die Traktatliteratur nennt hier Beispiele aus Heiligenviten und Historien: Leo der Große oder Johannes Damascenus.²⁹ Ersterer hatte sich demnach die Hand abgehackt, nachdem eine Frau, vermutlich eine Prostituierte (muliercula), ihm die Hand geküsst hatte, die er deshalb als unrein für die heilige Messe ansah. Nachdem die Gemeinde deshalb unruhig wurde, hatte er sich an Gott gewandt, der diese prompt nachwachsen ließ. Dem Kirchenvater Johannes von Damaskus hatte in der Vorlage, den Exempla des Baptista Fregoso, Kaiser Theodosius die Hand abgeschlagen, weil er ihn der Konspiration mit den Persern verdächtigte.³⁰ Anderswo ist vom ikonoklastischen Kaiser Leo III. die Rede, der sich wegen Johannes bilderfreundlichen Schriften an ihm rächen wollte.³¹ Jedenfalls wuchs die Hand durch oder auf Bitten der Jungfrau Maria auf wunderbare Weise nach. Für die Ebene der Rechtspraxis sind diese Legenden allenfalls als Horizont relevant, relativieren sie doch das natürlich Mögliche. Allerdings, so schreiben schon zeitgenössische Autoren, komme dergleichen in der neueren Zeit kaum mehr vor. Ohne Gottes Intervention – so könnte man die Episode interpretieren – wären diese Personen allerdings wohl tatsächlich unfähig zur Messfeier gewesen. Lässt man das direkte Wirken Gottes außen vor, so stellen Rechtsmittel und chirurgische Eingriffe die wesentlichen Optionen dar. Ein bekannteres Beispiel mag für ersteren Komplex stehen: Der Missionar Isaac Jogues, dessen Hand in der Neuen Welt mutiliert worden war, hätte den göttlichen Eingriff in den Augen seines Ordens sicherlich verdient, benötigte aber die ganz weltliche Dispens des

   

Vgl. Gadebusch Bondio, Ästhetik, S. 129 – 179. Maiolus, Tractatus, S. 39. Fulgosius, Factorum, S. 44. Vgl. Louth, John, S. 19.

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Papstes.³² An dieser Stelle interessiert uns allerdings speziell die ebenfalls innerhalb des menschlichen Wirkungsbereiches liegende medizinische Intervention durch chirurgische Eingriffe, die ich anhand von konkreten Beispielen analysieren möchte. Ein hoher Grad von Arbeit am und Formbarkeit des Körpers wurde explizit in Petitionen gegenüber kirchlichen Autoritäten dargestellt – nicht nur, aber auch was die Ersetzung fehlender Körperteile betrifft. Ein Fall von 1705 beschreibt die Bemühungen eines nasenlosen Diakons, der dem Bischof nach viel Geld in seine Behandlung gesteckt habe, sodass letztlich die Deformität wenig auffallend sei.³³ Ein im Text erwähntes Bild der Nase ist nicht erhalten, wir kennen aber den Ausgang des Verfahrens. Rom erteilte hier eine Dispens und gab dem Petenten die Erlaubnis zum Priestertum aufzusteigen.³⁴ An dieser Stelle kann der gelingende Einsatz von Körperveränderungen hervorgehoben werden, ohne dass sich das medizinhistorisch sicherlich interessante zugrunde liegende Verfahren genau klären lässt.³⁵ Über die kanonistische Traktatliteratur lässt sich der Hintergrund solcher und ähnlicher Fälle erschließen. Flexibilität galt ganz besonders für Gebrechen, deren behindernde Wirkung nicht per se über die Natur erklärt, sondern im sozialen, variablen Umfeld verortet wurde. Zu nennen wären hier etwa Spott oder Abscheu angesichts von Narben oder fehlenden Körperteilen, die für die liturgischen Handlungen irrelevant waren. Die fehlende Nase beispielsweise behinderte den Priester nach allgemeiner Meinung nicht beim korrekten Vollzug der Messe. Sie gehört aber als wichtige Dekoration quasi ornamental zum Bild des letztlich natürlichen, ganzen Körpers, ist Teil der Erwartungen an den Kleriker. Das Fehlen der Nase konnte auch moralische Zuschreibungen nach sich ziehen.³⁶ Mit der Nase fehle dem denasatus, so ein Autor, ein besonders schöner und anmutiger Körperteil (membrum venustissimum).³⁷ Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass die kirchenrechtlichen Autoren sämtliche Probleme für leicht zu beheben hielten. Der Traktatautor fügte nämlich gleich hinzu, dass sich die Irregularität wegen der fehlenden Nase durch eine künstliche aufheben lasse. Diese werde

 Zu Jogues vgl. Martin, Jogues.  ASV, Congr. Concil., Pos 244, Hispalen, 03.03.1703: „[A]ver speso gran denaro in Napoli ed altri luoghi per medicarsi.“  ASV, Congr. Concil., Pos 244, Hispalen, 03.03.1703.  Für das wohl von Tagliacozzi angewandte vgl. im Detail Gadebusch Bondio, Ästhetik, S. 160 – 165. Ausführlicher zur Geschichte der chirurgischen Eingriffe Gurlt, Geschichte. Band 2.  Vgl. Groebner, Gesicht, S. 361– 380.  Leandr. Quaest. 35

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„aus Fleisch oder einem anderen fleischfarbenen Material angefertigt“³⁸. Damit ist das medizinische Verfahren der Rhinoplastik beziehungsweise die Anfertigung einer artifiziellen Nase oder Epithese angesprochen.³⁹ Beide Verfahren, wenngleich sehr unterschiedlich, zielen auf die äußere Erscheinung als körperlich vollständig. Die frühneuzeitliche Ersetzung der Nase oder Ergänzung fehlender Teile mag durch ein bekanntes Beispiel einer künstlichen Nase aus dem weltlichen Bereich illustriert werden: Tycho Brahe hatte seinen Nasenrücken bei einem Duell in Rostock im Dezember 1566 verloren. Bald nachdem die Wunde verheilt war, begann er mit Prothesen zu experimentieren, um die Entstellung zu kaschieren. Auf bekannten Porträts ist jedoch deutlich zu erkennen, dass er eine Prothese trug, die seiner Nase eine charakteristische Form gab.⁴⁰ Offenbar wurde diese geradezu zu einem Erkennungszeichen, was vielleicht nicht von Brahe selbst, aber von seinen Darstellern intendiert war. Dieser Umstand macht kontrastierend ein wichtiges Merkmal der Körpermodifikation im kirchlichen Kontext deutlich. Dort sollte dagegen die Nase möglichst so natürlich aussehen, dass der Makel unsichtbar würde, wie vor allem die Betonung der Farbe belegt. Erweitert man den Blick auf andere chirurgische Eingriffe, so lassen sich weitere Belege für Kleriker-Verfahren anführen. Aus der Diözese von Coimbra stammt etwa der Fall des Ludovicus de Aranches, der seine Oberlippe als seit Geburt „offen, gleich wie beim Hasen“ (instar Leporis) beschreibt.⁴¹ Trotzdem habe er die niederen Weihen erhalten. Um in die Heiligen Weihen ordiniert zu werden, sei er aber ermahnt worden (von wem wird nicht gesagt), sich um eine Dispens zu bemühen. Stattdessen aber habe er sich die Lippe bis zur Nase durch einen Chirurgen zusammennähen lassen.⁴² So war Ludovicus auch ohne Dispens Subdiakon geworden. Erst jetzt, mit dem Wunsch auch Diakon und Priester zu werden, wandte er sich nach Rom, das ihm die gewünschte Dispens erteilte – wie üblich nach Information durch den Bischof. Die Bereitschaft, den eigenen Körper zu verändern, das Aussehen zu verbessern, Fehler zu bekennen, aber unkenntlich zu machen, wurde in den Petitionen als wichtige Währung eingesetzt. Der Wert entstand dabei aus der bewussten Verknüpfung von Körperpraktik und rechtlich relevanter Außenwirkung. Zusammen mit weiteren Archivquellen belegen diese Fälle, wie Petenten auf kosmetisch-chirurgische Körperpraktiken zurückgriffen und diesen rechtliche Relevanz zusprachen.     

Leandr. Quaest. 35: Eine Nase „refecto ex carne, vel alia materia carnis colore.“ Vgl. Gilman, Body, S. 43 – 84. Remmert, Tycho Brahes Nase. ASV, Congr. Concil., Pos 239, Colimbrien, 18.02.1702. Vgl. zur Operation auch Paré, Opera, S. 309 mit Abbildung.

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Insgesamt können wir aus diesem und weiteren Fällen eine Verschränkung von juridischen und chirurgischen Mitteln konstatieren. Was sie in ihren Körper investierten, forderten und erhielten diese Petenten in Form von rechtlich-kirchlicher Anerkennung wieder zurück. Das Streben, die Schwelle vom Laientum zum Klerikerstand zu überschreiten, fand so seine materiell-körperliche Form. Zugleich zeigt sich die Auffächerung dieser Schwellen nach der Hierarchie der kirchlichen Weihen. Situativ war offenbar der Schritt zum Priestertum, vor allem zur Eucharistiefeier, der entscheidendere als der von mir bisher betonte zwischen Laien und Klerikern. In jedem Fall ist auch ein bemerkenswerter, wenn auch selektiver Einblick auf konkret zur Verfügung stehende Optionen der ganz plastischen Körperverbesserung gewonnen. Für kosmetische Praktiken hat Mariacarla Gadebusch Bondio das Zusammenspiel von drei Perspektiven betont: diejenige des Arztes, des Patienten (bzw. in unserem Fall Petenten) und die Perspektive des Anderen, wobei für das vorliegende Material dieses Andere in kirchliche Autoritäten und die umgebende Gemeinde aufgespalten werden sollte. Der medizinische Diskurs der Machbarkeit in der Chirurgie gerade im italienischen Raum beeinflusste, so kann man bei aller Vorsicht schließen, die kanonistischen Autoren ebenso wie die Kirche. Simon Maiolus etwa wollte sich in seinem Traktat von den Irregularitäten stets auf dem neuesten Stand der medizinischen Kunst zeigen.⁴³ Mit dem 17. Jahrhundert können wir zudem die Zunahme von spezialisierter medico-legaler Literatur beobachten – am bekanntesten sicherlich die Quaestiones medico-legales Paolo Zacchias –, die wiederum in die Rechtspraxis wirkte.⁴⁴ Wie gezeigt wurde, wurden Vorstellungen von der Formbarkeit des Körpers in rechtlichen Verfahren praktisch adaptiert: Das Versprechen der Medizin, die Verbesserung des Körpers, wurde von Klerikern – und solchen, die es werden wollten – aufgenommen. Die Attraktivität der Formbarkeit von Körpern zeigt sich an Vorher-Nachher-Bildern, die dieses Versprechen der Medizin bewerben. Diese von Gilman für die Moderne festgestellte Werbewirksamkeit erscheint mir mit Einschränkungen auch für die Frühe Neuzeit wichtig.⁴⁵ In unserem Fall ginge diese Transformation mit einer Überschreitung von Zugangsbeschränkungen einher, die in den Weihehindernissen festgehalten waren. Dabei kam ein Anderes neben Patient/Petent, Medizin und Kirche ins Spiel. Adressat der Nasenoperationen war in den an Rom gerichteten Narrativen immer auch die Gemeinde, sodass wir ganz direkt die Anpassung des eigenen Körpers an ästhetische Erwartung von außen finden. Hierzu passt auch,

 Maiolus, Tractatus.  Vgl. Pastore, Il medico.  Gilman, Body, S. 38.

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dass im Klerus Fuß- und Beinprothesen vergleichsweise unproblematisch waren, solange sie für die Gemeinde invisibel blieben.⁴⁶ Man kann dies als Beispiele von „Körperpraktiken der Darstellung“ verstehen, die vermittelt im rechtlichen Verfahren aufscheinen und sich auf die erscheinende Außenwirkung richten.⁴⁷ Die Körperpraktiken bei der Aushandlung von Zugehörigkeit zum Klerus, einem Kernbereich der katholischen Kirche, mögen auf den ersten Blick vor allem deshalb überraschend erscheinen, weil diese lange Zeit nicht als Innovationskraft im medizinischen Bereich bekannt waren.⁴⁸ So findet sich in einer medizinhistorischen Arbeit zur plastischen Chirurgie als Erklärung, warum die Errungenschaften der Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten lange vergessen worden seien: „Schuld daran war wohl die Kirche.“⁴⁹ Der geschilderte Fall des Subdiakon Ludovicus de Aranches stellt diese pauschale Vermutung geradezu auf den Kopf. Zwar waren es hier nicht die Kleriker selbst, die Operationen vornahmen.⁵⁰ Die von der Kirche gesetzten Rahmenbedingungen begünstigten aber direkt deren Inanspruchnahme. In unserem Material finden sich keine Hinweise darauf, dass in diesem Kontext Erwägungen von Gott als Schöpfer und einer Problematik der Unantastbarkeit seiner Schöpfung eine Rolle spielten.⁵¹ Gerade solche Topoi wären allerdings zu erwarten, wenn man Gilmans Vermutung folgt, es habe eine Krise der rekonstruktiven Chirurgie in der Zeit der Gegenreformation gegeben, in der die Kirche in der Reparatur der Nase eine gefährliche Kaschierung von Immoralität gesehen habe.⁵² Zwar geht es ihm primär um die Erklärung des Verschwindens der spezifischen Form der Tagliacozzischen Rhinoplastik; dieselbe Skepsis hätte konsequenterweise aber auch gegenüber anderen Veränderungen am Körper gelten müssen. Das oben angeführte Material legt das Gegenteil dieser Opposition der Kirche dar. Man kann vielmehr argumentieren, dass diese ganz wörtlich zu verstehende Formbarkeit sicherlich technische, aber keine prinzipiellen Grenzen kannte. Dies sollten wir zum Anlass nehmen, den historischen Ort und die Chronologie von Körper-Eingriffen zu überdenken. Auch wenn es Vorläufer gab, so be-

 Hierzu kurz Röder, Defekte.  Vgl. Schroer, Soziologie.  Zur jüngeren Forschung, die das Thema Katholizismus und Medizin neu belebt hat, vgl. Donato, Sudden Death.  Wünsche, Geschichte, S. 14  Zu diesem Thema vgl. Amundsen, Canon Law, S. 22– 44.  Gilman nennt Drydens Ausspruch „God did not make his works for man to mend“ als Beispiel für diese Skepsis. Gilman, Body, S. 45.  Gilman, Body, S. 73.

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schreibt Sander Gilman an zentralen Stellen den Optimismus bezüglich menschlicher Machbarkeit und Körpermodellierung letztlich als Effekt einer Säkularisierung. Unter der Zielvorstellung von individueller happiness, verstanden als moderner, spezifisch westlicher Begriff, findet der Körpereingriff seinen eigentlichen Ort.⁵³ Ohne dass dies expliziert wird, erscheinen religiöse Zusammenhänge allenfalls als Hindernisse. Die Vervielfältigung von chirurgischen Eingriffen unter den Bedingungen der Moderne (ideell, aber auch mit Blick auf die Asepsis und andere technische Veränderungen) erscheint mir weiterhin evident und soll nicht bestritten werden. Wenn wir allerdings die hier angeführten Beispiele ernst nehmen, dann sind Vorstellungen von der Formbarkeit weder ausschließlich in modernen noch in säkularen Kontexten beheimatet. Die damit verbundenen Praktiken wurden auch nicht nach kurzen Vorläufern in der Renaissance im Zuge der Gegenreformation vergessen. Vielmehr finden sie sich gerade im Kontext der frühneuzeitlichen katholischen Kirche. Dieses Ergebnis lädt meines Erachtens auch dazu ein, sich von einem engen Begriff der modernen happiness als Movens für Körperinterventionen zu verabschieden. Das Problem ist dabei weniger, dass der Begriff historisch für die weitgehend unbekannten, spurlosen individuellen Kleriker schwer zu belegen ist. Als Angebot an Patienten spielte er auch in unserem Kontext bereits eine Rolle, wenn etwa Tagliacozzi die „Wiederherstellung des Glücks“ als Aufgabe der Chirurgie bezeichnet.⁵⁴ Aufgrund der letztlich an die Moderne geknüpften Semantik sollte man aber wohl dennoch offener formulieren, dass die untersuchten Körpereingriffe besonders zum Einsatz kamen, wenn sie Erfolg bei der Erreichung bestimmter Ziele versprachen. In unserem Fall, so sollte gezeigt werden, lag die Attraktivität in der Hilfe bei der Überschreitung sozialer Grenzen.

4 Fazit: Die plastische Formbarkeit des Körpers Zum Abschluss möchte ich das Gesagte kurz rekapitulieren und fragen, was es über die Grenzen aussagt, die den Klerus definierten. Bezüglich der Verwendung des Naturbegriffs wurde eine Ambivalenz aufgezeigt. Auf der einen Seite eignen sich durch die Körperdefekte befestigte Grenzen in hohem Maße für den Bezug auf Natur und Formen der diskursiven Naturalisierung. Die Verortung bestimmter rechtlicher Defekte in der Natur entlastete die rechtlichen Normen und war insofern funktional für die Kirche. Auf der anderen Seite erschien schon in der

 Gilman, Body, S. 18.  Gadebusch Bondio, Ästhetik, S. 175.

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Frühen Neuzeit die Etablierung der Natur als Subjekt von Grenzziehung problematisch: So führte diese wichtige Rolle der Natur auch zu einer Relativierung des rechtlichen Instruments der Dispens. Das päpstliche Recht wäre so von der Natur begrenzt und zwar, das ist entscheidend, auf dem ihm eigenen Feld der kanonischen Weihehindernisse. Unverfügbarkeit durch Naturalisierung war also einerseits funktional, andererseits problematisch. Der Bezug auf Natur funktioniert zudem nicht nur in eine Richtung, also exkludierend von oben durch die Autoritäten, sondern wurde auch von Petenten in ihrem Sinne adaptiert. Naturalisierung kann damit zugleich als Machtmittel der Kirche gegenüber Individuen wie auch als ermächtigend für deren Anliegen gesehen werden. Die Variabilität der Natur plausibilisierte Körperpraktiken, die zur Überschreitung der rechtlichen Grenze eingesetzt wurden. Dabei ging es mir weniger um die Rekonstruktion tatsächlicher Eingriffe als um deren kulturellen Hintergrund. Die Arbeit am Körper hatte als Ziel die Zugehörigkeit zum Klerus, insbesondere den Dienst am Altar, und kann als Teil einer klerikalen Ästhetik gesehen werden. Der Begriff des passing bezeichnet treffend die Versuche der Grenzüberschreitung durch frühneuzeitliche Akteure. Zwar machte der chirurgische Eingriff allein noch keinen Geistlichen, anders als ein kosmetischer Eingriff dies kann, dessen Ziel allein die Zugehörigkeit zur Kategorie der Schönen ist. Dieses passing als gesund war allerdings Voraussetzung für den Eintritt oder Verbleib im Klerus und damit ganz zentral für den Übergang zwischen Laienstand und Klerus. Die Zugehörigkeit zur Referenzgruppe ‚ohne Körpermakel‘ ging also der Zugehörigkeit zum Klerus voraus. Das rechtliche Weihehindernis sollte nach dem Wunsch der Betroffenen ipso facto durch die Veränderung am Körper aufgehoben werden. Mögliche Fälle, in denen diese Strategie „schweigend“ funktionierte, wie Gilman es nennt, also in unserem Kontext ohne rechtliches und soziales Nachsteuern, haben freilich keine Spuren in den Quellen hinterlassen.⁵⁵ Nur wenn der Körper explizit thematisiert wird, ist er der historischen Untersuchung zugänglich. Ein Verstoß gegen die natürliche oder göttliche Ordnung, das sei nochmals betont, wurde dabei nicht konstatiert. Artifizielle Objekte oder Eingriffe wurden zwar begrifflich von natürlichen Körperteilen oder Aussehen unterschieden, diese Differenz aber nicht problematisiert. Im Sinne der Wiederherstellung einer (normativen) Natürlichkeit konnten medizinische Interventionen vielmehr legitimiert werden.⁵⁶ Plastische Formbarkeit, ganz wörtlich verstanden, war sozial akzeptiert  Gilman, Body, S. 26.  Zur Ambivalenz des Natürlichen, das eben auch gegen chirurgische Eingriffe in Stellung gebracht werden konnte, vgl. für die frühneuzeitliche italienische Medizin Gadebusch Bondio, Pericoli.

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und sogar gewünscht. In der Geschichte der Religion in der Frühen Neuzeit hat diese Art der Formbarkeit im Vergleich zur Arbeit am Glauben oder an der Disziplinierung von Verhalten nur geringe Aufmerksamkeit erfahren.

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Kühlen Kopf bewahren! Albrecht Dürers Darstellungen der Versuchung des Heiligen Antonius und ihre medizinischen Implikationen Unter dem Begriff ‚Naturalismus‘ versteht die Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit gemeinhin eine besonders genaue abbildliche Darstellung des Natürlichen, unmittelbar Vorgefundenen. Albrecht Dürer gilt heute insbesondere für seine minutiös ausgearbeiteten Aquarelle als herausragender Vertreter eines in diesem Sinne naturalistischen Kunstschaffens. Zieht man jedoch in Betracht, dass Dürer von seinen Zeitgenossen etwa in die Nähe zu großen Naturphilosophen wie Albertus Magnus und Theophrast gerückt wurde, ließe sich fragen, ob das Anliegen seiner Kunst neben einer ‚bloß‘ äußerlichen Wiedergabe der Natur nicht auch die Darstellung der in ihr wirkenden Prozesse eingeschlossen haben kann. So bestand die Arbeit der beiden Philosophen, mit denen Dürer verglichen wurde, ihrem Selbstverständnis nach nicht zunächst darin, die natürlichen Phänomene nur wiederzugeben, sondern sie durch die scientia naturae in ihrem intrinsischen Wirkzusammenhang nachzuvollziehen. Insofern wäre nach Dürer nicht nur als einem artifex zu fragen, der erstaunliche Effekte erzielen wollte, sondern auch als einem philosophus und interpres verax, der über die reine Oberfläche der Dinge hinaus zu ihrer Natur vorzudringen versuchte.¹ In eben diesem Sinne möchten auch die folgenden Ausführungen nach visualisierten, natürlichen Wirkursachen fragen und sich hierzu zwei Zeichnungen Dürers zuwenden, deren Thema gleichsam per se die Prüfung der Wahrheit hinter den Erscheinungen zum Inhalt hat: der Legende, nach welcher der Teufel den Heiligen Antonius in Gestalt einer Frau in Versuchung führt.

Für Anregungen und Korrekturvorschläge möchte ich mich zunächst herzlich bei Jörge Bellin, Michaela Boenke, Tassilo Burger, Sabina De Luca, Christina Hoegen-Rohls, Cécile Huber, Franziska und Johannes Kleybolte, Dr. Christof Metzger, Georg Starke, Maximilian Wick und den Editoren bedanken.  Zu Dürers Charakterisierung als philosophus vgl. Filippi, Denken durch Bilder. Konrad Celtis hat in einem Epigramm auf Albrecht Dürer aus dem Jahre 1502, das zugleich die früheste schriftliche Äußerung zu Dürer ist, den Nürnberger Maler mit Albertus Magnus verglichen. Dazu vgl. Wuttke, Dürer und Celtis; Robert, Konrad Celtis, S. 105 – 153. Zum Epigramm des Conrad Celtis auf Albertus Magnus, den er als interpres verax bezeichnet, vgl. Klüpfel, De vita. Bd. I, S. 55. Zu Albertus Magnus und den Ansprüchen der scientia naturae vgl. Sturlese, Die deutsche Philosophie, S. 324– 388 und Daston u. Park, Wonders, S. 109 – 133. https://doi.org/10.1515/9783110605389-010

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Die erste Zeichnung hat Dürer 1514/15 auf Folio 24v. im Gebetbuch Maximilians I. geschaffen, die zweite, von der Forschung weitgehend unbeachtete Zeichnung wird in das Jahr 1521 datiert und heute in der Wiener Albertina verwahrt. Beide Bilder – so die These – reflektieren intensiv über die Vorgänge, die sich bei der Versuchung des Heiligen Antonius in medizinisch-physiologischer Hinsicht ereignen und setzen sie mit dessen Krankheitspatronat in Beziehung. Um dies zu plausibilisieren, sollen Dürers Bildfindungen im Kontext zeitgenössischer Diskurse, etwa der spiritus- und humores-Lehre, neu ‚gelesen‘ werden.²

1 Die Gebetbuch-Zeichnung von 1514/1515 Unter den Zeichnungen, mit denen Albrecht Dürer und sechs weitere berühmte deutsche Künstler in den Jahren 1514/15 die Bordüren im Gebetbuch Kaiser Maximilians I. verziert haben, findet sich neben einem Hymnus an die Heilige Apollonia und einem zweiten an den Heiligen Matthias auch die folgende Darstellung (Abb. 1): Ein alter Mann mit langem Bart, in eine Kutte gehüllt, deren Kapuze zum Teil sein Gesicht verdeckt, sitzt auf einem Stein. Vor ihm steht eine Frau in einem langen Kleid, die dem Alten in leicht vorgebeugter Haltung eine Schale reicht. In seinem Rücken steht ein geflügelter Dämon und betätigt einen Blasebalg, dessen Lauf er von hinten an die Kapuze und das darunterliegende Ohr des Greises führt. Ob dieser das Geschehen bemerkt, ist unklar, denn er blickt zu Boden und zeigt auch sonst keine Reaktion auf das, was um ihn herum vor sich geht.

 Die Betrachtung von Dürers Kunst unter dem Blickwinkel der Wahrheitssuche ist natürlich keineswegs ein Novum. Vielmehr stand der Maler seit jeher als Künstler und Wissenschaftler zur Debatte, was auch seinen Nachruhm seit dem 16. Jahrhundert immer geprägt hat. Zudem gibt es schon lange eine Deutungstradition, die medizinisches Wissen in seinen Bildern zu erkennen sucht, vgl. von Retberg, Dürers Kupferstiche; Wind, Dürer’s Männerbad; Waetzold, Dürer, S. 79 f. Diese wird auch gerade in jüngerer Zeit wieder vermehrt untersucht, vgl. Münch, Das Männerbad; Münch, Praying against Pox. Weniger mit medizinischem Wissen argumentiert hingegen die Forschung, wenn sie aktuell vermehrt die spirituelle Wirkung frühneuzeitlicher Kunst, vor allem Frömmigkeitsbilder, betont. Dazu vgl. Melion, Clifton u. Weemans, Imago exegetica; Merback, True Self. Diese Untersuchung ist diesen beiden Ansätzen verpflichtet, wenn sie Krankheit in Bildern der Frühen Neuzeit von ihrer spirituellen, psycho-physischen Seite zu untersuchen in Angriff nimmt.

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Abb. : Albrecht Dürer, Versuchung des Hl. Antonius. In: Gebetbuch des Kaisers Maximilian I., /, München, Bayerische Staatsbibliothek.

Die Forschung geht davon aus, dass hier der Heilige Antonius im Rahmen einer jener Legenden aus seinem Leben dargestellt ist, in denen er vom Teufel versucht wird.³ Der Eremit aus der ägyptischen Wüste und Vater der monastischen Bewegung wurde in Europa insbesondere seit dem Hochmittelalter als Wunderheiler und Schutzpatron für zahlreiche Krankheiten – allen voran das AntoniusFeuer – hoch verehrt. Seit dem 14. Jahrhundert hatte sich sein Krankheitspatronat ausgeweitet und Antonius war zum Herrn der ansteckenden Krankheiten überhaupt geworden.⁴ Auch im Dürer-Kreis lässt sich eine intensive Verehrung des Heiligen ausmachen, was sich unter anderem daran zeigt, dass er in Dürers Werk zu den am häufigsten dargestellten Heiligen zählt.⁵ Die zeitgenössisch gängige Überlieferung der in der Zeichnung dargestellten Episode lautet in der Vita Antonii des Kirchenvaters Athanasius von Alexandria wie folgt:

 Obwohl die typischen Attribute des Heiligen Antonius – Feuer, Schwein, Kreuzstab, Glocke, seine Bibel usw. – fehlen, scheint Dürer hier dennoch zuerst an Sankt Antonius gedacht zu haben, wie ein Vergleich mit seinem Kupferstich Antonius vor der Stadt zeigt: Der hier dargestellte Eremit ist aufgrund seiner Attribute nun eindeutig als Antonius charakterisiert und sieht dem aus der Randzeichnung des Gebetbuches sehr ähnlich. Für einen Überblick über Dürers Randzeichnungen vgl. Sieveking, Das Gebetbuch, VII–XXXVI; von Tavel, Die Randzeichnungen; Vetter, Das Verhältnis von Text und Bild; Brinkmann, ‚Marginalia‘ on Dürer; Bach, Struktur und Erscheinung, S. 165 – 303; Bushart, Sehen und Erkennen, S. 159 – 192.  Vgl. Chaumartin, Le mal des ardents, S. 86 sowie Mâle, L’art religieux, S. 198.  Zur Verehrung des Hl. Antonius im Dürer-Kreis vgl. Schneider, Hartmann Schedel.

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Auch versuchte jener [der Teufel, d. A.] nämlich schmutzige Gedanken unter die seinen [des Antonius, d. A.] zu mengen und dieser beseitigte sie durch eifriges Gebet. Jener reizte durch das natürliche Brennen die fleischlichen Sinne, dieser verteidigte den ganzen Körper mit seinem Glauben und durch Fasten. Jener verkehrte sich des Nachts in das Kostüm einer schönen Frau und ließ dabei nichts aus, was seine Zügellosigkeit noch deutlicher hätte hervorheben können; dieser dachte an die rächenden Flammen der Hölle und den Schmerz des Wurmes und stellte sich dem Gedanken an die Lüsternheit entgegen.⁶

Abweichend von Dürers Zeichnung erwähnen Athanasius’ Erzählung sowie die späteren Versionen der Legende keine Trias, sondern nur Antonius und den als Frau verkleideten Teufel, der den Eremiten in Versuchung führt. Und tatsächlich stellen auch die Bilder, die zu Zeiten Dürers und vorher zu diesem Sujet entstehen, meist nur zwei Figuren dar: Antonius und die Versucherin, welche durch äußere Merkmale wie Klauenfüße oder Hörner als diabolisches Geschöpf kenntlich gemacht wird. Ein prägnantes Beispiel bietet etwa die Federzeichnung des in Bern tätigen Niklaus Manuel Deutsch (Abb. 2).⁷ Durch die Erweiterung des Figurenpersonals um den Teufel als dritten Akteur, als ‚Kuppler‘ und Vermittler zwischen Antonius und der Versuchung, kann Dürer die Versucherin dagegen ohne solche Merkmale darstellen und sie bleibt für den Betrachter dennoch als teuflische Gestalt erkennbar. Die satanische Täuschung erscheint Antonius jetzt gleichsam mimetisch perfekt, als wären es die Dinge der Welt selbst und nicht die Erscheinung des verkleideten Teufels, von denen die verführerische Wirkung ausgeht. Dass hierbei ein Dämon mit einem Blasebalg hantiert, ist ikonographisch einmalig geblieben. In der Forschung ist seit Panofsky immer wieder die Vermutung geäußert worden, der Dämon übertrage damit ein Trugbild auf Antonius, um ihn zu verführen.⁸

 „Nam et ille cogitationes sordidas conabatur inserere et hic eas oratu submouebat assiduo. Ille titillabat sensus naturali carnis ardore, hic fide, ac ieiuniis corpus omne uallabat. Ille per noctes in pulchrae mulieris vertebatur ornatum, nulla omittens figmenta lasciviae; hic ultrices gehennae flammas et dolorem vermium recordans, cognitationi libidinum obiciebat.“ (Bertrand, Die Evagriusübersetzung, S. 162). Um 360 n. Chr. verfasste der Kirchenvater Athanasius die Vita Antonii, die 376 n. Chr. von Euagrios von Antiochia ins Lateinische übersetzt wurde. Im Jahr 1516 wurde die Vita von Jakob Sobius in Köln herausgegeben und gedruckt.  Zur Geschichte dieser ikonographischen Tradition vgl. Lüdke, O lieber herr Jesu criste; Philipp, Der versuchte Antonius; Künstle, Ikonographie der Heiligen, S. 66 – 69; Aurenhammer, Lexikon, S. 157; Braun, Tracht, S. 86 – 88; Bautz, Antonius, Sp. 192 f.; Samson, Die Schutzheiligen, S. 88 – 90; Mâle, L’art religieux, S. 195 – 199. Zur Einflussnahme des Antoniter-Ordens auf die Ikonographie des Heiligen vgl. Gutscher-Schmid, Von sant Anthonien kapeilen wegen. Zu Niklas Manuel Deutsch vgl. Chastel, La tentation, S. 144– 146; Klemm, Bildphysiologie, S. 248 – 255.  Zum ersten Mal bei Panofsky, Zwei Dürerprobleme. Zur Geschichte dieser Deutungstradition vgl. Makowski, Albrecht Dürer, S. 36 – 53.

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Abb. 2: Niklaus Manuel Deutsch, Die Versuchung des Hl. Antonius, 1518 – 1520, Feder in Schwarz über Vorzeichnung mit schwarzem Stift, Basel, Kupferstichkabinett, Kunstmuseum.

2 Blasebalg und Bildwerdung Um das Motiv des Dämons mit Blasebalg näherhin zu klären, sollen zunächst die erst in jüngerer Zeit untersuchten rezeptionsgeschichtlichen Voraussetzungen eines Betrachters um 1500 erschlossen werden.⁹ Im Hinblick auf die Wahrnehmungstheorien der Dürerzeit, die sich darin einig sind, dass Strahlen (radii specierum sensibilium bzw. spiritus) von dem Gesehenen in das Auge des Sehenden fallen müssen, damit etwas gesehen werden kann, hat Michael Cole die These aufgestellt, dass der Dämon in Dürers Zeichnung genau diese radii manipuliere. Er drücke hierzu mit dem Blasebalg Luft in den Kopf des Heiligen, weil sie bzw. die  Vgl. Cole, The Demonic Arts; Klemm, Bildphysiologie, S. 209 – 230.

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in ihr gelösten spiritus oder species das Medium sind, aus dem einerseits die Sehstrahlen selbst bestehen, aber auch dämonische Trugbilder geschaffen werden. Somit diene der Blasebalg in Dürers Zeichnung dazu, die Übermittlung jener täuschenden Erscheinung vor den Augen des Antonius durch die Luft besonders realitätsnah zu verbildlichen – und damit genau so, wie es auch in frühneuzeitlichen Magie- und Psychologietraktaten erklärt wurde.¹⁰ Zugleich lässt sich aber nicht nur die dämonische Erzeugung, sondern auch die sinnliche Perzeption und Wirkung von Trugbildern im gesamten Körper mit den spiritus aus dem Blasebalg erklären. Denn in der zeitgenössischen medizinischen Lehre vermitteln die feinstofflichen, fast nicht mehr materiellen Partikel in drei Unterarten zentrale physiologische Steuerungs- und Kommunikationsfunktionen: Aus der Leber stammen spiritus naturales (oder insiti) und bilden aus der verdauten Nahrung das venöse Blut, das den Körper ernährt. Aus dem mit spiritus naturales reichen, venösen Blut werden in der linken Herzkammer die spiritus vitales gebildet, welche die Körperteile mit Energie und Wärme versorgen und aus denen im Gehirn die spiritus animales entstehen. Diese Partikel sind am feinsten und vermitteln zwischen äußeren Sinnesorganen (sensus exteriores) und inneren Sinnen (sensus interiores) in den Hirnventrikeln sinnliche Wahrnehmung und kognitive Funktionen. Alle spiritus-Arten kommunizieren miteinander. Wenn etwas wahrgenommen wird (spiritus animales), beeinflusst das in gewissem Grade auch die Körperwärme (spiritus vitales) – „das Blut gefriert in den Adern“ – oder die Verdauung (spiritus naturales). Die damit in der spiritus-Theorie angelegte psycho-physische Korrelation ist für die weiteren Überlegungen entscheidend.¹¹ Das System der inneren Sinne und ihre Verteilung auf die Ventrikel des Gehirns (A) hat Dürer selbst 1498 in einem Holzschnitt für den Traktat Trilogium animae des Theologen Ludovicus Prutenus visualisiert (Abb. 3): Der beistehende Text erklärt, dass bei der Wahrnehmung im Wachzustand alle Informationen aus den fünf Sinnesorganen zum Gehirn weitergeleitet werden und zunächst im sensus communis (B) zusammentreffen. Sodann werden sie von der imaginatio (C) geordnet und in der fantasia (D) – wie in einem Kurzzeitgedächtnis – zwischengespeichert, um schließlich von der estimativa (E) beurteilt und in der memoria (F) längerfristig gespeichert zu werden. Bei diesem Prozess findet eine Abstraktion statt, durch die der in der Abbildung nicht dargestellte Intellekt schließlich die nicht mehr an Bilder und spiritus gebundenen Begriffe  Vgl. Cole, The Demonic Arts, S. 629 f.  Einführend zur spiritus-Lehre vgl. Klier, Die drei Geister; Boenke, Körper; zu der durch die spiritus-Lehre hergestellten psycho-physischen Korrelation vgl. Schmitt, Le corps; Schmitt, L’imagination efficace sowie der jüngst erschienene Sammelband von Schneider/Baumbach, The Aisthetics.

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Abb. 3: Albrecht Dürer, caput physicum. In: Ludovicus Prutenus: Trilogium animae. Nürnberg: Anton Koberger, 1498.

erkennt.¹² Aus dem Holzschnitt leitet die Forschung gemeinhin ab, dass Dürer nicht nur mit den – zum besseren Allgemeinwissen gehörenden – Grundlagen, sondern tiefergreifend mit dem spiritus-System und der aristotelisch-thomistischen, auf das Zustandekommen veridischer Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung und ein korrektes Sinnesurteil (iudicium) abzielenden Erkenntnistheorie der scholastischen Fakultäten-Psychologie vertraut war.¹³

 Die Unterscheidung von imaginatio und fantasia und somit fünf inneren Sinnen geht auf Avicenna zurück. Zur Einteilung der inneren Sinne und den Theorien ihrer Lokalisation vgl. Wolfson, The Internal Senses. Neben dieser klassischen Studie vgl. Lagerlund, Forming the Mind, und Corcilius, Partitioning the Soul.  Vgl. Klemm, Bildphysiologie, S. 214; Scherbaum, Phantastik und Traum, S. 140; Schoch, Mende u. Scherbaum, Albrecht Dürer. Bd. 3, S. 128 – 130. Zur fantasia in der Kunst vgl. Swan, Art, Science and Witchcraft, S. 16 f.; sowie Swan, Eyes Wide Shut, S. 566 f. Zu Prutenus’ zugehörigem Text mit Thomas von Aquin und Isidor von Sevilla als Referenzen für Dürers Bild vgl. Massing, Dürer’s Dreams, S. 239 f.; Massing, Studies in Imagery, S. 279; zu Dürers Bemerkungen über die ars memorativa, die auch von einer Kenntnis des Ventrikelsystems und der inneren Sinne zeugen vgl. Massing, From Manuscript to Engravings, S. 102. Zur Zellenlehre ebenso, allerdings voller unkritischer Annahmen, Larink, Bilder vom Gehirn, S. 120 – 135, sowie zur Entwicklung der mentalen Bedeutung des Ventrikelsystems, nachdem Aristoteles die Sinnesorgane allerdings nicht mit dem Gehirn verbunden und alle zur Erkenntnis beteiligten Vermögen im Herz lokalisiert hatte, vgl. Müller, Historische Entwicklung, S. 86; Clarke u. O’Malley, The Human Brain, S. 7– 12.

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Für die Gebetbuch-Zeichnung ist dies insofern bedeutsam, als Dürer, wie Tanja Klemm für ein anderes Bild, den um 1498 entstandenen Kupferstich Traum des Müßiggängers, gezeigt hat, durch das Motiv des Teufels mit dem Blasebalg eher die Kehrseite jener Erkenntnistheorie impliziert (Abb. 4). Diese beruht noch immer auf der Lehre von den spiritus, betont jedoch vor allem die Unsicherheit sinnlicher Erkenntnis und führt sie auf dämonische oder physiologische Sinnestäuschungen in der fantasia zurück.¹⁴ Als klassisches Beispiel derartiger Illusionen galten Traumbilder. Sie gelangen nicht von den Sinnesorganen, die im Schlaf verschlossen sind, zu den inneren Sinnen, sondern können entweder durch dämonisches Zutun und prophetische Eingebung von außen eingeflößt oder intrinsisch-physiologisch von der fantasia direkt hervorgebracht oder von ihr aus der memoria hervorgeholt werden.¹⁵ In Dürers Kupferstich erträumt der auf seiner Bank schlummernde Müßiggänger ein solches Bild in Gestalt der unbekleideten Frau im Bildvordergrund, während der geflügelte Dämon neben ihm mit einem Blasebalg in sein Ohr bläst. Klemm legt nun nahe, dass Dürer hier nicht nur den dämonisch gesteuerten Bildwerdungsprozess im Traum medizinisch-physiologischen Lehren gemäß realistisch darstellt und folglich der Dämon mit dem Blasebalg das Bild der unbekleideten Frau in der fantasia des Schläfers generiere. Vielmehr spiele er hier auf die Theorie der physiologischen Traumentstehung an, derzufolge die fantasia auch aus sich selbst Traumbilder hervorzubringen vermag. Welche Bilder sie dabei erschafft, hängt nach Ansicht der Zeitgenossen Dürers stark vom jeweiligen physiologischen Zustand des Träumenden ab. Ein erotischer Traum, wie derjenige des Müßiggängers, wird durch Erhitzung des Körpers und durch süße Düfte hervorgerufen, wie sie Dürer im linken Teil des Kupferstichs mit dem prominenten Ofen und dem darauf liegenden Apfel und Schnuller andeutet.¹⁶ Diese Überlegungen bezieht Klemm auf Dürers Antonius-Zeichnung aus dem Gebetbuch:

 Vgl. Klemm, Bildphysiologie, S. 200 – 205. Zur Theorie des iudicium vgl. Summers, The Judgment. Klemm wählt für die Bezeichnung des Kupferstiches den Namen Traum des Doktors, ich halte mich an Panofskys Vorschlag und schreibe Traum des Müßiggängers.  Vgl. Prutenus, Trilogium animae, 2. Teil, cap. X: „Pariformiter in fantasticis et melancolicis et somniantibus (dum ille species procedunt retrograde de fantasia ad imaginationem: et de imaginatione ad sensum communem: usque ad sensus exteriores) passiones per imaginativam virtutem notabiliter intendunt vel minuunt.“ In De imaginatione benennt Pico Krankheit, Schlaf und Verdunkelung der Sinne und ihre Selbsttätigkeit als die vier Ursachen, wegen derer die imaginatio Trugbilder hervorbringt. Als Beispiel nennt er Fieberhalluzinationen. Vgl. Pico, De imaginatione, S. 67– 78. Die Halluzinationen des Fiebers werden bei Gregor Reisch als Grund für eine verstärkte Bildproduktion der fantasia reflektiert, vgl. Reisch, Margarita philosophica, lib. IX, cap. XL, op. cit. S. 415.  Klemm, Bildphysiologie, S. 228 f.

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In ihrer Grundthematik allerdings unterscheiden sich diese beiden Bilder nicht, denn beide verknüpfen den Vorgang einer dämonischen Affizierung mit einer erlebten Wahrnehmungstäuschung. Wie auch im Traum des Doktors drückt hier ein geflügelter Dämon mit einem Blasebalg Luft in den Hinterkopf des Getäuschten. Antonius, der seine Hände wie auch der Doktor in sein Gewand gewickelt hat, nimmt nicht diesen Dämon wahr, sondern eine bewegte Täuschung […].¹⁷

Abb. 4: Albrecht Dürer, Traum des Doktors, um 1498, Kupferstich, 19x12 cm.

 Klemm, Bildphysiologie, S. 231. Klemm wiederholt diese Schlussfolgerung auf Seite 254.

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Ich würde Klemms Deutung noch dahingehend modifizieren, dass die verführerische Frau der Zeichnung im Gebetbuch, dadurch dass Antonius im Unterschied zum Müßiggänger nicht schläft, nicht eindeutig als Traum oder Wahrnehmungstäuschung der fantasia zu erkennen ist.¹⁸ Es bleibt unklar, ob der Teufel mit dem Blasebalg die Erscheinung erzeugt. Stattdessen könnte Dürer ihn auch eingefügt haben, um zu verdeutlichen, welchen Effekt der Teufel durch die Versuchung in Frauengestalt bei Antonius hervorrufen möchte, nämlich die in der Vita Antonii erwähnten „schmutzigen Gedanken“ (cogitationes sordidas). Vergleichbar scheint es Dürer im Kapitel Von schatz fynden für Sebastian Brants Narrenschiff illustriert zu haben (Abb. 5). Auch hier steht linker Hand ein Teufel, der mit einem Blasebalg auf das Ohr des Narren zielt, welcher die Hände nach zwei vor ihm stehenden Säcken voller Münzen ausstreckt. Obwohl diesem Bild nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob die auf dem Boden stehenden Münzsäcke real oder trügerische Vorstellungsbilder des Teufels sind, legt die Formulierung von Brants zugehörigen Versen nahe, dass der Narr tatsächlich etwas findet und fälschlicherweise als ihm zustehend interpretiert. Insofern steht der Blasebalg auch auf dem Narrenschiff-Holzschnitt für Täuschung, deren Objekt aber nicht gleich ein durch ihn erzeugtes Trugbild sein muss und daher auch im Gebetbuch nicht mit Sicherheit als ein solches gedeutet werden kann.¹⁹ Von ihrer Interpretation des Kupferstiches hat Klemm zudem nur die Traumentstehung durch Inspiration mit dem Blasebalg, jedoch nicht die Traumentstehung durch die Düfte und die Wärme auf Dürers Zeichnung bezogen. So eindeutig allerdings im Gebetbuch der Blasebalg auf das Ohr des Mönches gerichtet ist, trägt dieser auch eine Kapuze, die doch zumindest die Frage aufwirft, ob Antonius von dem Dämon überhaupt beeinflusst werden kann oder aber per se durch seine Kapuze geschützt ist. Wie im Traum des Müßiggängers könnte es

 Dabei wurde die Versuchungslegende um 1500 häufig, darunter auch in Aymar Falcos Historiae Antonianae Compendium von 1534, zu den visiones des Heiligen gezählt (vgl. Falcoz, Historiae Antonianae Compendium, fol. XIII). Zu Aymar Falco vgl. Paravy, La mémoire. Da Falcos Werk vermutlich die Verschriftlichung eines über lange Zeit gewachsenen kollektiven Wissensschatzes darstellt, kann davon ausgegangen werden, dass die Antoniter sich mit Falcos Ausführungen identifizierten und die offizielle Auslegung der Episode aus der Antoniusvita als Vision unterstützten. Für eine solche verwendet Dürer in seinem Bild aber nicht die zur Darstellung einer Vision in seiner Zeit typischen Bildformeln.  Zum Text vgl. Brant, Das Narrenschiff, S. 52 (20. Kapitel: Von schatz fynden): „Wer ettwas fyndt/und dreyt das hyn/Und meynt gott well/das es sy syn/ So hat der tufel bschyssen jn/Der ist eyn narr der ettwas fyndt/Und jn sym synn ist also blindt/Und spricht/das hat mir got beschert/ Ich acht nit wem es zu gehört.“ Die Feststellung, dass eigentlich nicht zu entscheiden ist, in welche Richtung die Gebetbuch-Zeichnung zu lesen ist, findet sich schon bei Makowski, Albrecht Dürer, S. 51.

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Abb. 5: Albrecht Dürer, Narr von Fremden Reichtümern versucht. Holzschnitt in: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Basilea: Johann Bergmann, 1494. S. 52.

daher nicht nur der Dämon sein, der dem Mönch das Trugbild ‚einflößt‘. Genauso gut wäre denkbar, dass Antonius’ Vorstellungskraft aus sich selbst heraus phantasiert – zumal sie einerseits durch die Duftschwaden, welche aus der dem Eremiten dargereichten Schale aufsteigen, und andererseits durch die zahllosen phantastischen Linienfigurationen, die den Seitenrand der Versuchungs-Zeichnung sowie das Gebetbuch insgesamt bevölkern und Antonius umschwirren, offenkundig stimuliert scheint. Vergleichbare Überlegungen zum Tun und Lassen der Einbildungskraft eines Heiligen stellt auch der Dürer nahestehende Nürnberger Arzt Ulrich Pinder in seinem Frömmigkeitstraktat Der beschlossen gart des rosenkratz marie an. Im Kapitel Wie die gedanck auch ausß eignem hertzen jeren ursprong müge hon verwendet er gerade Antonius als Beispiel dafür, dass selbst ein Heiliger auch von sich aus auf jene versucherischen Gedanken kommen könne, die des Teufels sind,

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weil die „ersten bewegongen“ der Gedanken schlicht nicht kontrollierbar seien.²⁰ Da Pinder den beschlossen gart von der Dürer-Werkstatt mit Holzschnitten versehen und in der Folgezeit noch weitere Texte illustrieren ließ, dürfte sein Gedankengut Dürer nicht gänzlich unbekannt gewesen sein.²¹ Die Verbindung zu Pinder und seinen Überlegungen lässt demnach noch plausibler erscheinen, dass Dürer tatsächlich zwei Ursachen für die Bildung des dem Heiligen in jedem Falle völlig real erscheinenden Phantasmas angedeutet haben könnte: dass entweder der Dämon mit dem Blasebalg die Versucherin erschafft oder Antonius sie sich selbst einbildet.

3 Blasebalg und Erhitzung Klemm hat das Motiv des Blasebalgs also in dem Sinne interpretiert, dass der Dämon mit seiner Hilfe Bilder in die Köpfe in-spiriert. Dabei ging sie, wie der überwiegende Teil der Forschung, von Dürers Traum des Müßiggängers aus. Wie für die Versuchung des St. Antonius im Folgenden gezeigt wird, ergibt sich ein ebenso interessanter und zudem komplementärer Bedeutungsaspekt des Motivs, so man den Blasebalg nicht nur in seiner bildgebenden Funktion, sondern auch in seiner gebräuchlichen Verwendung zur Erzeugung von Hitze versteht.²² Das In-

 Vgl. Pinder, Der beschlossen gart, fol. LI r.–v.: „Die gedanck zu zeiten habend auch jeren ursprong auß eignes hertzen/Wie dan der her sprach/Mat. x. Ex corde exeunt. Die bösen gedank gond auß dem hertzen/Darumb den jn einer figur der her sprach zu Adam/Spinas et tribulos. Dorn und dysteln wirt dier geberen das ertrich verstand deines hertzes/Dorn der gedechtnus und sorgfeltigkeit der zeitliche güter/Und dystel der begird entphintlicher sinnlicher dingen/Welche gedanck den menschen alzeit ungestiemenglichen byssend/unnd beschwerend wie die fliegen manigvaltenglich die schelmen des getöten leibes/wie dan sant Anthoni auff ein zeit also verdrossen und gemüt ward von sölicher grösse ungesteimikeit der gedancken dass er schrey zu got dem herren O her ich welt gern behalten werden/so lassend mit die gedancken kein ruew noch underlibong/Und das ist dann war/wan die ersten bewegongen der gedancken seyend nit in unserem gewalt und darumb auch nit süntlich Wann sich der mensch nit weyter begipt zu wolnest und fröd jn den gedancken.“ Derartige Überlegungen zur Sündhaftigkeit der eigenen Einfälle und Affekte waren um 1500 durchaus verbreitet, vgl. Tentler, Sin and Confession, S. 134– 161; Flynn, Taming Anger’s Daughters. Zum vermutlich bedeutenden, bisher wenig beachteten Einfluss Ulrich Pinders auf Albrecht Dürer vgl. Lassnig, Beiträge, S. 15 – 20; Lassnig, Dürers ,Melencolia-I‘, S. 55 – 58.  Zum Einfluss Pinders auf Dürer vgl. Lassnig, Dürers ,Melencolia-I‘, S. 57. Speziell zur Illustration des beschlossen gart vgl. Winkler, Dürers kleine Holzschnittpassion, sowie insbesondere Münch, Cum figuris magistralibus.  Bereits Hartlaub hatte darauf hingewiesen, dass die Venus im Traum des Müßiggängers nicht auf den Schläfer, sondern den Ofen zeigt und mit Hinweisen auf Dürers und Pirckheimers her-

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strument war schließlich nicht nur im Schmiedewesen zum Erzielen hoher Temperaturen, sondern auch im Alltag weit verbreitet, um in den Feuerstellen der Privathäuser aus Glut wieder Brand zu entfachen. In dieser Funktion war der Blasebalg als Bildmotiv in der zweiten Hälfe des 15. Jahrhunderts auf Darstellungen von Märtyrern verbreitet, die den Tod durch das Feuer erleiden. Beispielsweise wird dem Heiligen Vinzenz, der auf Befehl des Präfekten Publius Dacianus auf dem Rost von einem Feuer gemartert wird, in dem von Anton Koberger 1488 herausgegebenen Der Heiligen Leben durch den rechts stehenden Schächer mit einem Blasebalg eingeheizt (Abb. 6).²³ So verstanden würde auch in der Gebetbuch-Zeichnung der Teufel mit dem Blasebalg in Antonius wie in einen Ofen blasen und dadurch seinen Körper erhitzen.

Abb. 6: Anonym, Das Martyrium des Hl. Vinzenz. In: Anton Koberger (Hrsg.): Leben der Heiligen. Nürnberg: Anton Koberger, 1488. fol. 317r. München, Bayerische Staatsbibliothek.

Diese Vermutung lässt sich erhärten, wenn man ein anderes Bild hinzuzieht, bei dem ein Blasebalg die Erwärmung eines Körpers andeutet, das Wappen mit Mann hinter dem Ofen (Abb. 7). Hier sitzt ein Mann in der Pose eines Melancholikers, den Kopf auf den Arm gestützt, hinter einem herkömmlichen Ofen und blickt zum Betrachter. Über ihm schwebt ein Blasebalg und mündet in sein Gesicht. In dem mit „Hitze, Fritze, hoho“ überschriebenen Wappen geht es demnach

metische Kenntnisse darauf geschlossen, dass der Schläfer über alchemistische Sublimation Verjüngung suche. Vgl. Hartlaub, Albrecht Dürers Aberglaube. Für die Gegenargumente zu dieser These vgl. Makowski, Albrecht Dürer, S. 39 – 64.  Zur Frage der Autorenschaft Dürers vgl. Amelung, Konrad Dinckmut, S. 39 f.

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eindeutig um die Erwärmung, welche Ofen und Blasebalg bewirken, wobei Letzterer eventuell genau die Erhitzung der spiritus meint.²⁴ Für die Versuchung des Heiligen Antonius eröffnet der Blasebalg, betrachtet man ihn unter dem Aspekt der Wärme, eine weitere Bedeutungsebene, die sich besonders auf die physikalischen Implikationen des Sehsinnes und der Legende des Heiligen erstreckt. Wenn Antonius das Bild der Versucherin vor Augen hat bzw. in seiner Vorstellung sieht, dann bewirkt dies auch eine Erhitzung seines Körpers. Derartige Wechselwirkungen zwischen psychischem Erleben und physischer Erwärmung entsprachen der gängigen Anschauung der Dürerzeit und wurden nach dem weitgehend anerkannten Erklärungsmodell der Scholastik durch die von Bildern und Vorstellungen hervorgerufenen Emotionen vermittelt. Bei dieser Theorie, die besagt, dass Emotionen, also affektive Geistesregungen, physische Veränderungen bewirken und beispielsweise im Körper Wärme erzeugen, steht die fantasia im Mittelpunkt. In ihr wird aus den Sinnesinformationen ein Vorstellungsbild (fantasma) generiert. Auf die fantasmata reagiert das sinnliche Strebevermögen (appetitus sensitivus) und ruft zunächst in der Region um das Herz eine von zwei Grundemotionen hervor: Anziehung (vis concupiscibilis) oder Abstoßung (vis irascibilis). Diese bewirken nun gemäß der aristotelischthomistischen Lehre unweigerlich eine Veränderung des Körpers (transmutatio corporalis): Freude und Lust etwa führen effektiv zu seiner Erwärmung, Trauer und Furcht zur Abkühlung. Dieser Vorgang zeigt deutlich die funktionelle Verbundenheit von Leib und Seele in den Leidenschaften, die der Grundanschauung der Dürerzeit entspricht.²⁵ Jenes fantasma, welches der Anblick und das Bild der teuflischen Versucherin in Dürers Gebetbuch-Zeichnung hervorruft, löst natürlicherweise eine anziehende Emotion (concupiscentia) aus und führt dementsprechend zur Erwärmung. Nach dem Modell der erwärmenden Emotion muss die Versuchung des Hl. Antonius sogar als Erhitzungsprozess vorgestellt werden.

 Dabei wird seit Langem von der Forschung kontrovers diskutiert, ob sich in den Worten nicht Dürers Handschrift erkennen lässt. Zu dieser Frage mit ausführlicher Diskussion der Literatur vgl. Makowski, Albrecht Dürer, S. 49 – 53; Bashir-Hecht, Der Mensch als Pilger, S. 87.  Vgl. dazu Brungs, Die passiones. Die Theorie knüpft an Aristoteles’ Feststellung an, dass desiderium entsteht, wenn der appetitus etwas Angenehmes anstrebt, vgl. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 2, S. 52– 70. Außerhalb des theologischen Diskurses wurde für concupiscentia häufig der Begriff desiderium verwendet. Auch die Ärzte kennen die speziell bei der Fleischeslust entstehende Wärme und sprechen vom calor luxuriae, vgl. Baldwin, Five discourses on Desire. Die Theorie vom Entstehen der Emotionen und nachfolgender Wärme wird auch zur Dürerzeit vertreten, beispielweise in der Margarita philosophica, vgl. Reisch, Margarita philosophica, lib. X, cap. XXX, op. cit., S. 440, oder bei Gianfrancesco Pico della Mirandola, der in den Emotionen insbesondere die direkte Wirkung der Sinne ohne Zutun des Verstandes erkennt, vgl. Pico della Mirandola, De imaginatione, IV, S. 56: „sensus parit motus animae“.

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Abb. 7: Anonym (Albrecht Dürer, Umkreis Albrecht Dürer?), Wappen mit Mann hinter dem Ofen und Pelikan, um 1490 – 1494, Federzeichnung, 23,1x18,7 cm, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen.

Sexuelle Versuchung und Körperwärme hängen also nach den Anschauungen von Dürers Zeitgenossen auf natürliche Weise miteinander zusammen, was auch seine Zeichnung mit dem Blasebalg am Ohr des Antonius impliziert. Die Erwärmung des Eremiten durch den Blasebalg korreliert allerdings nicht nur damit, dass er die teuflische Verführerin sieht, sondern auch, wie nun gezeigt werden soll, mit dem

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Krankheitspatronat des Heiligen, insbesondere dem Antonius-Feuer, das bereits per se mit Erhitzung und zudem mit dem gerade beschriebenen psycho-physischen Modell der Erhitzung durch bestimmte Gedanken assoziiert wurde.

4 Versuchung und Antonius-Feuer Unter der Bezeichnung ‚Antonius-Feuer‘ versteht die medizinhistorische Forschung seit dem 18. Jahrhundert insbesondere den Ergotismus, d. h. eine Vergiftung mit einem Roggenschimmelpilz, die seit dem 10. Jahrhundert nach dem Verzehr von verdorbenem Getreide in Zeiten der Missernte epidemieartig auftrat. Zu Dürers Zeit wurde der Name ‚Antonius-Feuer‘ jedoch in einem weiteren Sinn als gängiges Synonym zu den fachsprachlichen Begriffen ignis sacer, ignis persicus, ignis invisibilis, pruna, sphacelos, anthrax, herpes esthiomenus sowie Heißer Brand und mal des ardents zur Bezeichnung einer Krankheit verwendet,²⁶ die humoralphysiologisch als heiß und ansteckend galt und deren Symptomatik im Wesentlichen drei Bereiche umfassen konnte: erstens einen sensiblen, in dem die brennende Empfindung entscheidend war, die auch zu Sensibilitätsstörungen und -verlust führen konnte; zweitens einen visuell wahrnehmbaren mit Krankheitszeichen auf der Haut, die sowohl Rötung als auch die gangränös-nekrotische Dunkelfärbung einschlossen und optisch an Feuer, Verbrennung und Verkohlung erinnern konnten; und schließlich drittens einen Bereich, der unterschiedliche, zusätzlich auftretende Symptome wie eine erhöhte Körpertemperatur, Halluzinationen, Krampfanfälle oder brennenden Durst umfasste.²⁷ Das Antonius-Feuer wurde also vor allem phänomenologisch beschreibend von seinen Symptomen her gekennzeichnet.²⁸ Folglich konnten zahlreiche, aus Sicht der heutigen Medizin sehr verschiedene Pathologien unter die Diagnose von Antonius-Feuer fallen, so sie einige der oben genannten Symptome aufwiesen,²⁹ und insofern ist die

 Vgl. Chaumartin, Le mal des ardents, S. 23 – 52; Bauer, Das Antonius-Feuer, S. 19 – 33.  Zu den Symptomen des Antonius-Feuers vgl. Chaumartin, Le mal des ardents, S. 195 – 200.  Vgl. Grmek, Das Krankheitskonzept.  Entsprechend konnte ein großes Spektrum unserer heutigen Pathologien unter das AntoniusFeuer fallen, von Entzündungen bis zu geschwürartigen oder nekrotischen Veränderungen des Körpers, sei es durch vermutlich häufige Ursachen wie bakterielle Infektionen, Gefäßerkrankungen wie periphere arterielle Verschlusskrankheit, chronisch-venöse Insuffizienz, diabetische Angiopathie oder seltenere systemische und dermatologisch lokalisierte Autoimmunerkrankungen, sei es durch die Gefäßverengungen und -verschluss nach Einnahme einer Überdosis von Mutterkornalkaloiden. Entsprechend werden in den Quellen ganz verschiedene Erscheinungsbilder als Antonius-Feuer bezeichnet, auf der einen Seite Typen wie Wundrose und Erysipel (vgl. Wickersheimer, Recepte, S. 174), auf der anderen Seite verschiedene Arten geschwüriger Prozesse

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moderne labormedizinische Definition, die nur eine Mutterkornalkaloid-Überdosis zur Krankheitsentität des Antonius-Feuers rechnet, um 1500 als anachronistisch einzustufen. Dennoch wird häufig versucht, allein durch aus Textquellen retrospektiv diagnostizierte Ergotismus-Epidemien Rückschlüsse über die Bedeutung der Krankheit zu einer gewissen Zeit zu ziehen.³⁰ So wurde etwa geschlussfolgert, dass das Antonius-Feuer um 1500 kaum noch eine Rolle gespielt habe.³¹ Im Gegenteil scheint jedoch vieles darauf hinzudeuten, dass die Erkrankung noch überaus relevant war. So wird auch auf Bildwerken dieses Heiligen, die um 1500 als Auftragswerke für geistliche Institutionen oder die private Frömmigkeit entstanden sind, regelmäßig auf die mit ihm assoziierte Krankheit Bezug genommen, meistens indem zu Füßen des Heiligen ein loderndes Feuer dargestellt wird. Dies kann ein Einblattholzschnitt aus der Münchner Graphischen Sammlung verdeutlichen, in dem die Kranken, deren Glieder von den vor dem Thron des Heiligen züngelnden Flammen erfasst worden sind, um Heilung vom ignis sacer bitten und ihm andere mit Geschenken und Votivgaben bereits für die Rettung ihren Dank erweisen (Abb. 8).³² Darüber hinaus war das Antonius-Feuer auch im medizinischen Bereich als Krankheitsmodell noch von hoher Bedeutung, was sich unter anderem daran zeigt, dass Ärzte bedeutende Krankheiten mit dem Antonius-Feuer identifizierten, wie etwa Antonius Guainerius 1534 die Pest und Conradino Gilino 1497 die Sy-

bis hin zum ulzerösen Syphilid. Mischlewski führt zwei Quellen an, in denen die Krankheitsbezeichnung eher für eine Wundinfektion des Vaters von Johann Geiler von Kaysersberg und den Altersbrand Kaiser Friedrichs III. verwendet wird, vgl. Mischlewski, Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens, S. 350.  Die Sichtweise wird aber trotz der schon vor langer Zeit geäußerten Kritik heute noch oft unkritisch eingenommen, vgl. Dixon, Introduction, S. 12– 15; Angel, Kampf gegen die Krankheit; Mischlewski, Wer waren die Antoniter?; Mischlewski, Soziale Aspekte der spätmittelalterlichen Antoniusverehrung und Mischlewski, Die Antoniter. Yves Kinossian geht bei seiner Interpretation der Ordensstatuten des Antoniter-Ordens von dieser Annahme aus, vgl. Kinossian, Hospitalité, S. 225 – 227.  Henry Chaumartin kommt zu dem Schluss, im 16. Jahrhundert habe das Antonius-Feuer nur mehr als sporadische Krankheit existiert, vgl. Chaumartin, Les idées d’un médecin, S. 277. Mit ähnlichem Tenor hat sich Sandra Uhrig in jüngerer Zeit gegen eine Relevanz der Krankheit für die Kunstgeschichte um 1500 ausgesprochen, vgl. Uhrig, Die Versuchung des Hl. Antonius, S. 144.  Zum Holzschnitt vgl. Dixon, Introduction, S. 11 f.; Wood, The Votive Scenario. Zur ikonographischen Bedeutung des Feuers zu Füßen des Heiligen vgl. Duchet-Suchaux u. Pastoureau, The Bible and the Saints, S. 39; Thurston u. Altwetter, Butler’s Lives of the Saints. Bd. I: January, February, March, S. 109; Bereits Thomas von Aquin berichtet, dass sich auf Bildern von Antonius häufig zu Füßen oder in der Hand des Heiligen das Antonius-Feuer finde, weil er so zahllose Menschen davor bewahrt habe.

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Abb. 8: Süddeutsch, Der Hl. Antonius sitzend, 1440 – 1450, Einblatt-Holzschnitt, koloriert, 38,2x26,4 cm, München, Staatliche Graphische Sammlung.

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philis.³³ Eine weitere Bedeutungserweiterung des Antonius-Feuers, die sich spätestens seit dem 15. Jahrhundert greifen lässt, bestand darin, das Antonius-Feuer auch auf die Fleischeslust zu beziehen. Im Zusammenhang mit Dürers AntoniusVersuchung verdient dies besondere Aufmerksamkeit, handelt es sich doch genau um jenen Affekt, welchen der Teufel durch die sexuelle Versuchung des Antonius erzeugen wollte. Eine Tendenz dazu deutet bereits die Episode De habitu quem Christus Antonium induit in der Legenda mirabilis an, einer Erweiterung der Antonius-Vita, die der katalanische Mönch Alphonsus Bonihominis im 14. Jahrhundert in Europa eingeführt hatte. Antonius wird hier von einer vermeintlich gottesfürchtigen Königin über längere Zeit erfolgreich getäuscht. Als sie ihn zum Beischlaf bewegen möchte, erkennt er schließlich den Schwindel des Teufels, woraufhin die Verführerin zu einer Flammensäule wird und sich auflöst. Antonius findet sich indessen von Dämonen gepeinigt auf einem Feuerberg wieder, wo ihm Jesus zu Hilfe kommt, seine Wunden heilt und ihm Macht über das Feuer verleiht.³⁴ Nach dieser Erzählung wäre das Feuer gleichsam der wahre Kern der Verführerin und der Heilige hätte sein Feuerpatronat erhalten, weil er sie überwinden konnte. Deutlicher noch findet sich dieser Zusammenhang zu Beginn des 15. Jahrhunderts formuliert, wenn etwa der Theologe Johannes Gerson in einer Antonius gewidmeten Predigt auf dem Konstanzer Konzil den Heiligen nicht nur als besonderen Helfer gegen den ignis sacer im Körper, sondern auch als Triumphator über das geistige Feuer der Fleischeslust in den Herzen lobpreist.³⁵ In seinem Sermo tertius

 Vgl. Foscati, Ignis, S. 104; Gilino, De morbo quem gallicum nuncupant. Für die spärlichen Informationen zu Gilino vgl. Barnard, The ‚de morbo quem gallicum nuncupant‘, S. 97– 101. In neu verfassten, medizinischen Kompendien der Dürerzeit und später wird das Antonius-Feuer regelmäßig und nicht weniger ausführlich behandelt, vgl. Ryff, Letzte Theil, fol. XXr–XVIv; Gersdorff, Feldbuch, fol. LXVIr.–LXIXr; Ambroise Paré, Les Oeuvres, S. 301 f.; Hilden, De gangraena et sphacelo.  Vgl. Halkin, La légende de saint Antoine, S. 205 f.; Zur Legenda mirabilis vgl. außerdem Aichinger, Die Legenda mirabilis. Eine andere Legende, die das Motiv vorwegzunehmen scheint, wurde im Heiligenleben des Hermann von Fritzlar erzählt: Der Teufel sucht Antonius in Gestalt einer Frau auf, die vorgibt, sich verirrt zu haben. Der Eremit gewährt ihr Nachtquartier, durchschaut sie jedoch, als sie ihn zu verführen sucht. Er bezieht sein Nachtlager an der Feuerstelle, woraufhin der Teufel entflieht (vgl. Pfeiffer, Deutsche Mystiker, S. 61). Beide Episoden wurden durch Aufnahme in die deutschen Ausgaben des Buoch der heiligen Altväter weithin bekannt. Zu ihrer Rezeption in den Bildkünsten vgl. Trebbin, Sankt Antonius, S. 149 – 155.  Vgl. Gerson, Opera omnia (Sermo habitus constantiae in Festo S. Antonii), Sp. 364: „Movit ad hoc priùs Religionis Christianæ spiritus, recogitans, quot miraculis in vita, quot post mortem beneficiis, & opitulationibus refulsit idem Antonius, præsertim in hac quadam speciali prærogatiua, quòd ignem sacrum fugat ex corporibus, in signum quòd ignem concupiscentiæ libidinosæ perniciosiorem invocatus refrigerat in cordibus.“ / „Durch so viele Wunder in seinem

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de Sancto Antonio hat Gerson die Verbindung sogar kausal verknüpft: „Es ist gut vorstellbar, dass Sankt Antonius eine besondere Gnade von Gott zuteilwurde, das körperliche Feuer in den Gliedern der Kranken zu heilen, deswegen weil er solchermaßen das geistige Feuer der unrechten Fleischlichkeit besiegt hatte.“³⁶ An der Wende zum 16. Jahrhundert findet sich der Gedanke bei dem Straßburger Kanzelredner Johannes Geiler von Kaysersberg wieder, der die Unkeuschheit nun allerdings nicht mehr mit dem Krankheitspatronat des Heiligen, sondern mit der Krankheit selbst in Verbindung bringt.³⁷ Im selben Sinne erwähnen auch spätere Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich auf Gerson berufen, die Verbindung von Fleischeslust und Antonius-Feuer.³⁸ Zudem hat der Gedanke Widerhall in der Kunst gefunden: In einem Kupferstich von Jan Wellens de Cock, den Dürer auf seiner Niederländischen Reise kennengelernt hatte, wird die Versucherin, die links im Vordergrund mit einem Pokal in der Hand auf Antonius zuschreitet, von einem Mann in Lumpen, der mit Krücken und einem verstümmelten Bein als Opfer des Antonius-Feuers gekennzeichnet ist, flankiert und folglich mit der Krankheit assoziiert (Abb. 9).³⁹ In der Verbindung von Antonius-Feuer und Fleischeslust wollen die Literaturwissenschaftler Wolfgang Aichinger und Peter Gendolla die Ausbreitung der Leben und durch so viele Wohltaten und so viel Hilfe nach seinem Tod strahlt derselbe Antonius, besonders in diesem speziellen Vorzug, dass er den ignis sacer aus den Körpern vertreibt, im Zeichen, dass er das so schädliche Feuer der Fleischeslust in den Herzen auslischt.“ Übers. B. S.  Vgl. Gerson, Opera omnia (Sermo tertius de Sancto Antonio), Sp. 1399: „Facile est creditu, S. Antonium specialem gratiam a Deo recepisse sanandi ignem corporalem in infirmorum membris, eo quod taliter vicerit spiritualem ignem iniquæ carnalitatis.“  Weßmer, Doctor Keiserßbergs Postill, Das fyerdt teyl, zit. nach Martin, Geiler von Kayersberg. Die Schrift hat Geiler von Kaysersberg nicht selbst im Original veröffentlicht, es handelt sich um eine Predigtmitschrift fraglicher Zuverlässigkeit von Heinrich Weßmer. Vgl. Martin, Geiler, S. 513 – 517, sowie Mischlewski, Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens, S. 350. Passend dazu wurden – zwar nicht im medizinischen Fachvokabular, wohl aber im allgemeinen Sprachgebrauch – schon seit dem 13. Jahrhundert unter Antonius-Feuer auch Geschwüre in der Genitalregion verstanden. Chaumartin hat dies abgelehnt, obwohl er selbst eine Stelle des Dominikaners Stephan von Boubon (1190 – 1261) überliefert, vgl. Chaumartin, Le mal des ardents, S. 185 – 190. Ganz sicher lässt sich dies jedoch für das 15. und 16. Jahrhundert nachweisen, vgl. die Belege bei Kraemer, Les maladies, S. 11– 14.  Noch Molanus bestätigt diese Feststellung in seiner Historia SS. imaginum, vgl. Molanus, De historia SS., S. 113r–114v.  Bei dieser Szene handelt es sich am ehesten um eine Vermischung der Ikonographie der bei Alphonsus Hispanus überlieferten Versuchung durch die Königin, der klassischen Versuchung nach Athanasius und der ihm folgenden Legenda Aurea. Dass auch Dürer die fleischliche Lust mit dem Antonius-Feuer assoziiert, legt überdies eine im Krieg verlorene Zeichnung der Kunsthalle Bremen (W158) nahe, auf welcher das Antonius-Schwein – neben das von einem Teufel als Kuppler vereinte Paar – gezeichnet wurde. Dazu vgl. Hinz, Nackt/Akt, S. 219.

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Abb. 9: Jan Wellens de Cock, Versuchung des Heiligen Antonius, 1522, Hamburg, Kunsthalle.

Metapher vom Höllenfeuer erkennen.⁴⁰ Aichinger begründet mit den Theorien Josep Maria Fericglas zum systemischen Irrationalismus, dass „Schlüssel-“ bzw. „ganzheitlich übergreifende Metaphern“ wie jene des Feuers in einem sozialen Bereich generiert würden, „in dem alltägliche Wahrnehmungs- und Denkformen zurücktreten und Spielregeln und Verfahren des poetischen Denkens gelten“⁴¹. Im Anschluss an Victor Turner vergleicht er das Feuer mit einem root paradigm, welches in die Erkrankung des Antonius-Feuers eingeflossen sei.⁴² Auch Gendolla begreift die Übertragung der Fleischeslust auf das Antonius-Feuer metaphorisch: Für ein Bewußtsein, das sich die Erscheinungen nicht technologisch – als materielle Ursache-Wirkungs-Kette –, sondern allegorisch, in einem metaphysisch begründeten Zeichensystem erklärt, mußte sich die Legende des von den Dämonen befallenen Einsiedlers ganz selbstverständlich mit jenen Krankheiten verknüpfen. Auf was anderes deutete wohl dieser brennende oder sich ekstatisch verwerfende Körper, als daß sich das Feuer der Hölle schon im Diesseits seiner bemächtigt habe, die Dämonen in diesem Leib ihr Werk verrichteten. Der Leib verbrennt im direkten Sinne des Wortes, weil er Begierden nachgegeben hat, die aus der

 Vgl. Aichinger, Das Feuer; Gendolla, Phantasien; allgemein zur Entwicklung des Höllen- und Fegefeuers im Mittelalter vgl. Le Goff, Die Geburt.  Aichinger, Das Feuer, S. 94. Vgl. Fericgla, El sistema, S. 35.  Vgl. Aichinger, Das Feuer, S. 83 – 94; Fernandez, Spielerisch und planvoll, S. 10. Zum metaphorischen Zusammenhang von Heiligenvita, Orden und Heilungspatronat vgl. du Broc de Segange, Les Saints patrons, S. 49 – 56; Cuttler, The Temptation, S. 13.

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Unterwelt stammen. Niemand besser als der, der in lebenslanger Askese diesem Bereich widerstanden hatte, konnte als Schutzheiliger gegen das innere Feuer aufgeboten werden.⁴³

Dem ist zu entgegnen, dass Dürers Zeitgenossen die Hitze des Antonius-Feuers nicht nur metaphysisch, sondern durchaus physisch auffassten und sich die Verbindung dieser Krankheit mit der Fleischeslust nicht nur durch ein „metaphysisch begründetes Zeichensystem“, sondern auch durch eine physische, „materielle Ursache-Wirkungs-Kette“ erklärten, die auf einem psycho-physiologischen Kausalnexus beruhte: Versuchung führt, wie bereits erläutert wurde, zu Erhitzung. Und Erhitzung führt, wie nun gezeigt wird, zu Antonius-Feuer. In den vorangegangenen Abschnitten wurde gezeigt, inwiefern die Fleischeslust als Resultat der Versuchung des Antonius durch das Bild der Frau – ganz gleich, ob diese nun als real oder imaginiert gedacht wird – über die fantasia eine Erhitzung seines Körpers bewirkt. Diese Erhitzung ist nun zugleich zentrales Charakteristikum und Grundlage für die Krankheiten unter dem Patronat des Heiligen, zum einen das Antonius-Feuer (1) und zum anderen ansteckende Krankheiten allgemein (2): (1) Aus Sicht der Ärzte um 1500 ist das Antonius-Feuer von Natur aus heiß und geht ursprünglich auf eine Erhitzung des Körpers zurück, die zur Entzündung und jene wiederum zum Fieber wird; das Fieber schließlich verursacht eine Gangrän, aus welcher dann Antonius-Feuer hervorgeht.⁴⁴ Indessen können die Prozesse der

 Gendolla, Phantasien, S. 79.  Zur Empfindung großer Hitze als einem Symptom des Antonius-Feuers schreibt im 15. Jahrhundert etwa der Arzt Leonardo Buffi da Bertipaglia: „[…] dicitus autem ignis persicus a vicitate sive a regione Persie, ubi est maximus adustiuus calus, in tantem que habitantes combrurunt quandam terram ex defectu lignorum: et haec passio sacrum id est a Deum sacratum: dicitur autem ignis persicus adhuc […]“ (zit. nach Foscati, Ignis, S. 97). Im 16. Jahrhundert findet sich diese Wahrnehmung nochmals deutlicher bei Guy Didier, dem Arzt des Antoniter-Spitals in Saint Antoine de Viennois, in seinen Epitomae chirurgiae von 1560: „[…] Es ist bemerkenswert festzustellen, daß bei dieser Krankheit solcher Schmerz und solche Hitze entstehen, daß sie einer wirklichen Verbrennung gleichkommen.“ (zit. nach Bauer, Das Antonius-Feuer, S. 31). Ernest Wickersheimer hat daher auch die Gangrän selbst bereits zum Antonius-Feuer gerechnet, vgl. Wickersheimer, Ignis sacer, S. 168. Die von den Ärzten für die Pathologien verwendeten Begriffe unterscheiden sich zwar oftmals, die medizinische Lehre war in diesem Punkt jedoch recht kohärent, vgl. stellvertretend das bis ins 16. Jahrhundert relevante Standardwerk des Bernard de Gordon, Opus Lilium medicinae, I, XIX, S. 67: „Erysipelas est apostema de cholera grossa ignita, et cum ulcerat, corrodit circa se, et denigrat, et escharam facit et tunc potest vocari sacer ignis, aut ignis persicus […] magis curantur manu divina, quam humana […] Cum igitus adiutorio magni Dei et sancti Antonii.“ (zit. nach Foscati, Ignis, S. 93 f.); vgl. Woyt, Gazophylacium medico-physicum, Sp. 2115: „Insgemein aber gehet es mit dem Sphacelo langsam zu. Aus der Inflammation wird Gangraena, und hernach Sphacelus [Antonius-Feuer; B.S.].“

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fantasia nicht nur, wie bereits dargelegt, den Körper erwärmen; sie können sogar Fieber induzieren, wenn die spiritus animales in der fantasia erhitzt werden und die Wärme durch ihren physischen Zusammenhang mit den spiritus vitales zum Herzen übertragen. Diese Erhitzung der spiritus animales erfolgt vor allem durch Sinneseindrücke und ihre Verarbeitung. Wie der bereits erwähnte Arzt Ulrich Pinder in seiner 1506 publizierten Ephiphany Medicorum in Anlehnung an Avicenna und den portugiesischen Arzt Valescus de Taranta beschreibt, kann dieses effimera genannte Fieber auch aus Wahrnehmungen entstehen, die von amourösen Empfindungen begleitet werden. Deren Bilder werden nach gängiger Auffassung besonders stark von der fantasia angezogen, brennen sich förmlich in sie hinein, lassen sie nicht mehr los und wirken ständig weiter, zuletzt eben als Fieber, aus welchem das Antonius-Feuer entsteht.⁴⁵ (2) Ein weiterer Aspekt ergibt sich, wenn man in Betracht zieht, dass Geiler von Kaysersberg die Unkeuschheit nicht nur mit dem Antonius-Feuer, sondern auch mit der Lepra vergleicht: Dass diese zuerst das Herz befalle, dann den Leib verfaulen lasse und wie die Syphilis oder die Pest hochansteckend sei, gelte gleichermaßen auch für die Unkeuschheit.⁴⁶ Geiler nennt Lepra, Pest, Syphilis und Antonius-Feuer nicht zufällig und auch nicht bloß deshalb in einem Atemzug, weil er als Priester diese schweren Krankheiten als Gottesstrafen betrachtete. Vielmehr lässt sich auch dieser Vergleich, für den sich Geiler auf Ficino und

 Vgl. Pinder, Ulrich, Epiphany medicorum, fol 120v: „Cum aliquis vehementer figit eius estimatiuam in eliciendo species in sensatas amoris: aut odii ex formis sensatis: vt in amore hereos sepe contingit: inflammant ob hoc animales spiritus: & ex consequenti per coligantiā igniunt spiritus vitales cordis: & fit effimera.“ Pinder spricht hier vom amor hereos, aber er identifiziert seine effimere Fieberart nicht direkt damit, sondern hält beide Krankheiten für pathogenetisch ähnlich. Zum Konzept der Liebe als Krankheit in hippokratisch-galenischen Begriffen und seine Bedeutung seit Avicenna vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 3, S. 131– 133. Zum Umgang mit der Liebeskrankheit in Dichtung und Medizin vgl. die systematisch starke Studie von Simone de Angelis, Die Liebeskrankheit. Zur Liebeskrankheit in der Kunst jüngst de Boer, Figments of the Imagination. Fieber wurde zur Dürerzeit nach Galen als entzündete Körperwärme definiert, die das Herz erreicht, vgl. Gordon, Opus Lilium medicinae, I, I, S. 2: „febris est calor innaturalis mutatus in igneum. Nunc autem com febris sit propria passio cordis: corde superaccenso et inflammato spiritus qui a corde procedunt una cum sanguine transeunt ad totum corpus et calefaciunt ipsum […]“.  Vgl. Geiler von Kaysersberg, Das Evangelienbuch, fol. 137v: „Die doctores sagen, das die malatzy bedütet todsünd und das ist wol gsagt. Nüt dester minder, so seind leerer denen ich uff dis mal folgen wil. Die sagen dass die malatzy und unkünscheit zesamen gegleichet werden, und das umb zehen ursachen willen, die in inen funden werden. Das seind die Cor, Corpus, Contagio, Lux, Abhomimnatio, Pruritus, Fetor, Generatio, Corruptio, Duratio.“ Die Schrift hat Geiler von Kaysersberg nicht selbst im Original veröffentlicht. Es handelt sich um eine Predigtmitschrift fraglicher Zuverlässigkeit des Barfüßers Johannes Pauli, vgl. Martin, Geiler, S. 514 f.

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Alexander von Hales stützt, aus der medizinischen Tradition verstehen, innerhalb derer sich alle genannten vier Krankheiten dadurch auszeichnen, dass sie als ansteckend betrachtet wurden. Die circa neun anerkannten morbi contagiosi konnten nach zeitgenössischer Vorstellung von einem Menschen auf einen anderen übertragen werden, wenn ihr kontagiöses Agens beispielsweise über die Luft (miasma) in einen geschwächten Körper gelangt. Dieser sei insbesondere in jenen Momenten dafür anfällig, wenn er sich in einer warmen Konstitution befinde, da sich dann die Poren öffneten. Gerade eine Erhitzung des Körpers berge folglich immer die Gefahr der Ansteckung in sich.⁴⁷ Daher sind die Äußerungen von Johannes Gerson und dem eifrigen GersonRezipienten Geiler von Kaysersberg auch nicht als reine Metapher zu verstehen.⁴⁸ Vielmehr naturalisieren beide Theologen die Fleischeslust und betrachten sie als ein Ungleichgewicht der spiritus animales, aus dem als körperliche Folge zunächst Erhitzung und dann Krankheiten wie beispielsweise das Antonius-Feuer resultieren. Diese Erklärung übertrugen Gerson und Geiler auf die Legende und deuteten den Sieg des Antonius über die Versuchung als einen psycho-physischen und somit natürlichen Prozess: Der Eremit ließ sich nicht in Versuchung führen, seine spiritus gerieten nicht in Unordnung. Die Naturalisierung des AntoniusFeuers und der ansteckenden Krankheiten, für die der Eremit das Patronat innehatte, führte jedoch nicht zwangsläufig auch zu deren Säkularisierung. Im

 Obwohl im Mittelalter mit Galen die körperliche Disposition als wichtigste Krankheitsursache galt, war jedem Arzt das Konzept einer Krankheitsübertragung als Ansteckung von Mensch zu Mensch bekannt. Man findet davon nur wenig unter den Ursachen der Krankheit geschrieben, da Übertragbarkeit einer Krankheit um 1500 als von ätiologischen und symptomatischen Merkmalen unabhängig galt und gesondert betrachtet wurde. Jedoch widerspricht die Vorstellung einer Krankheitsübertragung durch Miasmen in der Luft nicht einer Übertragung von Mensch zu Mensch. Natürlich kontaminierte ein Kranker, dessen Haut oder Atem korrumpiert, also durch Fäulnis verändert war, die umgebende Luft und jene, die sie einatmeten. Vgl. Jacquart, La médecine médiévale, S. 239 – 250; Monfort, Venenum; Worboys, Contagion, S. 71– 76. Insbesondere zu Miasmen als Ursache der Übertragung vgl. Cipolla, Mismas and Disease. Über die Rolle von Fäulnis und Eiter in der damaligen Krankheitslehre vgl. einführend Ottosson, Scholastic Medicine, S. 271– 281. Zum Antonius-Feuer: Unter den neun bei Avicenna aufgeführten ansteckenden Krankheiten finden sich eitrige Apostemata, die Bernard de Gordon im Lilium medicinae mit dem Begriff ignis sacer wiedergibt, vgl. Gordon, Opus Lilium medicinae, III, III, S. 271: „Febris acuta, phtisis, pedicon, scabies, sacer ignis,/Anthrax, lippa, nobis contagia praestant.“ Die Merkverse tauchen im Lilium mehrfach auf.  Dürer war über Jacob Wimpfeling, einem Schüler und großen Verehrer seines Lehrers Geiler von Kaysersberg, mit dessen Gedankengut sicherlich teilweise vertraut. Wimpfeling war es auch, der das von Geiler begonnene Projekt einer Straßburger Gerson-Ausgabe übernahm, für deren vierten Teil Dürer 1502 das Frontispiz illustriert hat. Vgl. Bashir-Hecht, Gerson als Pilger; jüngst Krüger, Albrecht Dürer, S. 30 f.

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Gegenteil wurden diese Erkrankungen nach wie vor als Folge der Sünde betrachtet, nun aber als deren ‚natürliche‘ medizinische Konsequenz: zum einen verursacht durch (noch näher zu spezifizierendes) Einwirken von Dämonen und Teufeln auf die spiritus, zum anderen – mit Blick auf die Symptomatik brennender Qualen und verbrannt wirkender Gliedmaßen in ihrer Verbindung zur Fleischeslust – durch immanente physiologische und nicht mehr nur von der Transzendenz des Höllen- oder Fegefeuers abhängige Prozesse erklärt. Dieser Gedanke lässt sich nicht zuletzt auch auf die Predigten Gersons und Geilers applizieren: Indem sie das Wort Gottes verkünden, kann der in diesem enthaltene spiritus sanctus in das offene Ohr der Gläubigen gelangen und ihre spiritus animales ordnen, reinigen und abkühlen.⁴⁹ Es lässt sich festhalten, dass die bis in Sonntagspredigten hineinwirkende medizinische Theorie der Dürerzeit davon ausging, dass die anfängliche Ursache des Antonius-Feuers, seiner Ansteckung sowie ansteckender Krankheiten überhaupt zunächst die unnatürliche Erwärmung des Körpers war. Da die sexuelle Versuchung einen solchen Erhitzungsprozess induziert, begünstigt sie die Ansteckung mit Antonius-Feuer und anderen infektiösen Krankheiten und insofern erscheint die Verknüpfung von Fleischeslust und Antonius-Feuer konstitutiv. Für die Gebetbuch-Zeichnung bedeutet das: Wenn der Blasebalg als Instrument der Erhitzung und die Versuchung als Moment der Erhitzung aufgefasst wird und sowohl Antonius-Feuer wie auch Ansteckung generell durch Erhitzung verursacht werden, dann ist damit das Krankheitspatronat des Heiligen in der Versuchung durch die Frau impliziert. Die Zeichnung setzt die sexuelle Versuchung des Heiligen Antonius als den Moment einer möglichen Ansteckung und Erkrankung ins Bild, von der der mit der Legende vertraute Betrachter natürlich weiß, dass sie nicht stattfinden wird, weil der Eremit standhaft bleibt. In diesem Kontext ist nun die Zeichnung von 1521 in der Wiener Albertina von Interesse. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, inszeniert Dürer auch hier die Versuchung als Ansteckung, thematisiert jedoch – anders als die Gebetbuch-Zeichnung – ausdrücklich die Gründe von Antonius’ Standhaftigkeit und verbindet sie in bemer-

 Für weitere Beispiele von Gersons medizinisch-physiologischen Auslegungen heiliger virtus vgl. Ziegler, The Biology of the Virtues, S. 11. Mit der gleichen Methode hat Gerson auch Bibelerzählungen in eine medizinische Schreibweise übersetzt, vgl. Fogleman, Finding a Middle Way, S. 16. Eine sehr ähnliche, natürlich auf das Wort beschränkte Sicht auf das Wirken des spiritus sanctus findet sich bei Philipp Melanchthon, vgl. Wels, Manifestationen des Geistes, S. 89 – 130. Zur Krankheit als Folge von Sünde vgl. von Siebenthal, Krankheit. Zur Erklärung der Syphilis als Bestrafung Gottes für eine vita voluptuosa mit weiterer Literatur vgl. Adam, Die Strafe der Venus, S. 38 f.

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kenswerter Weise wiederum mit dem zeitgenössischen medizinisch-physikalischen Diskurs.

5 Die Albertina-Zeichnung von 1521 Die Versuchung des Heiligen Antonius von 1521 hat Dürer kompositorisch ähnlich wie die Zeichnung im Gebetbuch aufgebaut (Abb. 10). Auch hier sitzt Antonius links auf einem Stein, die Verführerin steht rechts und eine Stufe im Erdboden trennt beide Figuren. Allerdings ist die dargestellte Grundstimmung verändert und die Zeichnung in ein durch Weißhöhungen auf der dunklen Grundierung erzieltes, expressives Helldunkel getaucht, das sich durch die Abriebschäden des Originals nur noch auf den lithographischen Reproduktionen des 19. Jahrhunderts deutlich erkennen lässt (Abb. 11).⁵⁰ Den Bildinhalt hat Dürer jedoch in drei Punkten signifikant verändert: Der Teufel als dritter Akteur fehlt, die Versucherin wirkt antikisch, ist unbekleidet, und während Antonius im Gebetbuch scheinbar nicht auf sie reagiert, kehrt er ihr nun aktiv den Rücken zu, um Wasser mit einer Kanne aus einem vorbeifließenden Bach zu schöpfen. Obschon auf der Albertina-Zeichnung von 1521 also kein Dämon mit Blasebalg dargestellt ist, thematisiert auch diese Zeichnung die körperliche Erhitzung und die daraus resultierenden Krankheiten des Antonius im Moment seiner Versuchung durch die Frau. Die argumentative Eigenheit dieser Zeichnung wird dabei vor allem an zwei Motiven deutlich: der Gestaltung der Versucherin und dem Akt des Wasserschöpfens.

6 Die Venus Felix als exemplum luxuriae In der Zeichnung steht die Versucherin unbekleidet hinter Antonius und hält nur mit der linken Hand ein Tuch vor ihre Scham.Wölfflin fühlte sich zwar an die Frau aus dem Traum des Müßiggängers erinnert, die ebenfalls nahezu unbekleidet ist und ihre Scham mit einem Tuch bedeckt, als ursprüngliche Vorlage für die Figur hat jedoch offenbar ein antikes Standbild gedient, das Berthold Hinz als Venus Felix erkannte (Abb. 12).⁵¹ Die leicht vorgebeugte Haltung des Oberkörpers, der aus  Einige der anderen späten Dürer-Zeichnungen zeigen den dramatischen Effekt dieses Chiaroscuro noch deutlich.  Vgl. Hinz, Nackt/Akt, S. 216; Hinz, Venus im Norden; Hinz, Aphrodite, S. 192. Anne-Marie Bonnet hatte zuvor den Venus-pudica-Typ vorgeschlagen, wie er auf dem Dürer eventuell bekannten Venusfest von Tizian zu sehen sei (vgl. Bonnet, Der Akt, S. 249 – 251). Zu Heinrich

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Abb. 10: Albrecht Dürer, Die Versuchung des Hl. Antonius, 1521, Zeichnung, Wien, Albertina.

der Mittelachse nach rechts gewandte Kopf sowie das um die Hüfte geschlungene, über einen Unterarm gelegte und mit der anderen Hand vor die Scham gehaltene Tuch sind in der Tat dem antiken Prototyp so ähnlich, dass er Dürer als Vorlage gedient haben dürfte.⁵² Die um 1500 in Rom wiederentdeckte, nach einer Inschrift auf dem Sockel im frühen 3. Jahrhundert der Venus Felix geweihte Statue war im Jahr 1509 von Papst Julius II. im Hof des Belvedere aufgestellt worden. Woher Dürer das Aussehen des Wölfflins Assoziation vgl. Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers, S. 114. Ebenso wurde die Figur mit Dürers Zeichnung einer Versuchung in einem Kellergewölbe (W. 258) verglichen, dazu: Hinz, Aphrodite, S. 199 – 202. Dazu, dass nicht allein Nacktheit, sondern auch ein Kleid wie jenes in der Gebetbuch-Zeichnung als erotischer Aufmerksamkeitserreger im Dienste der Verführung betrachtet werden kann, vgl. Hinz, Nackt/Akt, S. 201; für weitere Literatur Schawe, Ikonographische Untersuchungen; anlässlich der Frau in Rot unter den nackten Leichen des Pestbildes vgl. ebd. S. 171– 173; Raupp, Bauernsatiren, S. 173.  Bereits in Francesco Albertinis Opusculum de mirabilibus novae et veteris urbis Romae von 1510 findet sich eine Beschreibung (vgl. Albertini, Opusculum, S. 66 (fol. 45v)). Zur Venus Felix vgl. Lüdemann, La ‚Venus felix‘. Zum Zeichnen nach Vorbildern als Teil der Künstlerausbildung in der Renaissance vgl. Perrig, Vom Zeichnen, S. 423 – 425.

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Abb. 11: Albrecht Dürer, Die Versuchung des Hl. Antonius (1521), 1826, lithographische Reproduktion.

antiken Bildes kannte, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Druckgraphische Reproduktionen, die auch erklären könnten, warum die Versucherin auf der Albertina-Zeichnung spiegelverkehrt wiedergegeben ist, sind vor 1521 nicht erhalten.⁵³ Dafür belegt eine Statuette des in Norditalien tätigen Bildhauers Antico die Rezeption und Wertschätzung der Venus Felix bereits um 1500 (Abb. 13).⁵⁴ Während dieser das antike Vorbild jedoch relativ frei interpretiert und insbesondere das Tuch anders um den Frauenkörper drapiert, hält sich Dürer weitgehend getreu an das Original. Nur den fehlenden rechten Arm ergänzt er und greift dafür auf die Frau aus dem Traum des Müßiggängers oder auf die Eva aus dem Sündenfall-Holzschnitt von 1504 zurück, von denen er den Unterarm und den offerierenden Gestus von Hand und Fingern in die Albertina-Zeichnung  Bober u. Rubinstein, Renaissance Artists, Nr. 16. Alternativ wäre auch ein Bezug Dürers auf die Venus Mazarin zu denken, die ebenfalls einige Ähnlichkeit hat und auf Stichen von Giovanni Antonio da Brescia und der Raphael-Schule zirkulierte.  Lüdemann, La ‚Venus felix’.

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Abb. 12: Venus Felix und Amor, römisch, 2. Jahrhundert n. Chr., Marmor, Rom, Vatikanische Museen.

übernimmt (Abb. 14).⁵⁵ Als teuflische Versucherin inszeniert er die Venus Felix damit in einer eindeutig negativ konnotierten Rolle. Entgegen seinem Ruf als

 Die Geste des Unterarmes und der Hand behielt Dürer auch bei späteren Versionen des Sündenfalls wie jener der kleinen Holzschnittpassion von 1510 bei, in der die fleischliche Anziehungskraft zwischen dem Paar mit dem Sündenfall korreliert wird. Zu Dürers SündenfallKonzeption vgl. Schoen, Albrecht Dürer, S. 93 – 116. Immerhin war concupiscentia, die bei der Versuchung des Antonius durch die Frau in Rede steht, nach dem bekannten Genesis-Kommentar des Petrus Lombardus zugleich Ursprung und konkreteste Manifestation des Sündenfalles. Und Petrus Cantor kommentiert über Genesis 3:7, Adams und Evas Augen würden geöffnet wie Kanäle,

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Abb. 13: Pier Jacopo Alari-Bonacolsi (gen. Antico), Venus Felix, um 1500, Bronze, Wien, Kunsthistorisches Museum.

Wiederentdecker der Antike und deutscher Apelles zeigt die Zeichnung so auch ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur antiken Plastik und dem italienischen Kulturkreis, wie es Jürgen Müller für andere Künstler der Dürerzeit herausgearbeitet hat.⁵⁶ Es wäre allerdings auch möglich, dass Dürer die Venus nicht nur deshalb abbildete, weil sie ein „antigisches, nacketes“ Bild war, das sich besonders als

welche die natürliche Kraft der concupiscentia zulassen und den Gliedern zutragen und selbst eine Sensation des Verlangens erzeugen, vgl. dazu Baldwin, The Language of Sex, S. 116 – 120. Zu Anticos Antikenrezeption vgl. Blume, Kleinformatige Bronzen; zu Dürers ironischer Antikenrezeption gerade im Vergleich zu Antico vgl. Müller, Antigisch Art, S. 42 f. Zur ironischen Absicht des abgeänderten Wiederaufgreifens antiker Formen vgl. Kruse, Ars latet arte sua.  Vgl. Müller, Italienverehrung. Auch der Humanist Erasmus hatte in seinem Traktat Ciceronianus 1528 die Kunst der heidnischen Antike als Vorbilder für die Schönheit christlicher Bilder abgelehnt und dabei auf die zeitgenössische italienische Kunst als Negativbeispiel hingewiesen. Dazu vgl. Müller, Das Paradox, S. 76 – 81.

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Abb. 14: Albrecht Dürer, Der Sündenfall, 1504, Kupferstich, 24,9x19,2 cm, Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie.

Versucherin eignete, sondern auch wegen des eifrigen Disputs, der sich in den 10er Jahren des 16. Jahrhunderts an dieser Skulptur entzündet hatte: Ihre Installation durch den Papst hatte einen Skandal ausgelöst, wobei die Vorwürfe, die erhoben wurden, nicht nur deshalb moralische Bedenken äußerten, weil sie darin ein Aufleben des paganen Götterkultes und somit eine religiöse Problematik erkennen wollten. Der Philosoph Gianfrancesco Pico della Mirandola, ein Neffe des

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berühmten Giovanni Pico, kritisierte vielmehr einen Exzess der Sinnlichkeit und argumentierte dazu medizinisch. In seinem Gedicht De Venere et Cupidine expellendis von 1513, mit dem er sich, wie das angehängte Scholion zeigt, gegen die Statue im Papsthof richtet, attestiert er ihr einen geradezu gesundheitsschädlichen Einfluss. Dabei argumentiert Pico für die schädliche Wirkung der weltlichen Liebe (amor carnalis et vanus): Er äußert sich kritisch gegenüber der platonischficinianischen Lehrmeinung des weltlichen Eros, da dieser gerade nicht den Aufstieg zur Gottesliebe, sondern den Fall herbeiführe, weil der Mensch hierbei einem Trugbild der fantasia nachjage. Den Vorgang des Entbrennens in körperlicher Liebe, bei welchem ausgehend vom Sehsinn diese Täuschung entsteht, beschreibt er als Ansteckung und gibt Ratschläge, wie man sich davon befreien und das Feuer wieder löschen kann (depulsoria).⁵⁷ Mit dem Scholion über die Statue greift Pico dann den Diskurs über die dämonische Anziehungskraft antiker Standbilder auf, der sich im Mittelalter insbesondere um solche der Göttin Venus entsponnen hatte, transponiert ihn allerdings in die medizinische Schreibweise des Gedichts: So spricht er von Krankheit und nennt neben typischen Symptomen der bereits erwähnten Liebeskrankheit (amor hereos) wie etwa Magersucht (macies) ebenso die Fäulnis (putredo), die auch nach Geiler von Kaysersberg durch die Fleischeslust entsteht. Die beschriebenen Gefahren gehen also sowohl von irdischer Liebe als auch von lasziven Standbildern wie dem exemplarischen Negativbeispiel, der Venus Felix, aus.⁵⁸

 Pico della Mirandola, De Venere, (unpaginiert) S. 3: „Si rerum specie siam contemplator ab alta/Naturae specula mireris/tactus ab oestro/Caelesti: veneris diceris captus amore/Aetheriae, & superam pennis sublatus in oram,/Vt fluxas rerum formas, rerumque figuras/Degeneres illinc despectes lumine puro./Si te solicitant fasces, & purpura regum,/ Ambitio est, auri stimulat si caeca cupido/Surgit auarities. facie si captus amata/spicula persentis succendere in ossibus ignem,/Sensilis haec veneris flama est, puerique uolantis/Vulnus ab aurata missum per inane sagitta./Nanqe ubi membrorum vultus discordia concors/Fulserit,& grata fuerit compage reuincta/Ipsa oculos afflat subito, celerique meatu/Labitur affecti tacita ad penetralia cordis: Idque trahit ueluti chalybem magnesia cautes: Et tractum incendit, generatque in pectore flammam/ Illecebris fotam/placidis/gratoque decore./Temporis at paruo spatio decor ille recedit. Disperit & flammaintenues euanida fumos.“ Zu depulsoria vgl. ebd., S. 9 – 10: „Cœlibe si vultis vitam traducere lecto/Continuo castis restinguite fontibus ignes:/Et venere gelido, venerem submergite ponto, Qua pater ad boream semper glacialis hyberne:/pervolitet mentem atqueoculos facibusque malignis/Si instillare velint tacitum in præcordia virus […] Vertenda est facies/nec blando verba susurro/Expienda/plagis quis non capiatur iniquis:/Quas menti semper vacuæ, semperque pententi/Illecebram sensus/fallax amathusia tendit./Nam fugiare decet lascivi retia amoris/Atque alio mentem/antque alio convertere sensus./Spectandum instabile hoc quodcumque hic degit cui/Delitum & vanum & fluxum mistumque dolore […] Quam vanis semper simulacris ludat [Venus] amantem […]“.  Vgl. Hinz, Aphrodite, S. 91– 105 und S. 191– 215.

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Dass deren Gestalt in der Albertina-Zeichnung als teuflische Versucherin figuriert, könnte also damit zusammenhängen, dass Dürer nicht nur über den Skandal und anschließenden Disput, sondern vermutlich auch über das Gedicht selbst informiert war. Denn nicht nur war sein humanistischer Mentor Willibald Pirckheimer eng mit Pico befreundet und tauschte regelmäßig Briefe mit ihm. Vor allem wurde zur Straßburger Edition von De Venere et Cupidine expellendis auch ein Brief vom November 1512 an Konrad Peutinger mitveröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass Pico dessen Schwager in Rom begegnet sei und ihm die Schrift über die Venus Felix für Peutinger mitgegeben habe. Dürer könnte also nicht zuletzt über den befreundeten Augsburger Humanisten von der eklatanten Schrift über das antike Standbild gewusst und – zumal Pico in seinem Brief auch auf die bildhauerische Raffinesse der Venus Felix hinweist, sodass eine Abbildung als Beilage wünschenswert erscheinen musste – sogar mutmaßlich eine Zeichnung davon aus dessen Sammlung gekannt haben.⁵⁹ Insofern ließe sich überlegen, ob Dürer, wenn er in der Albertina-Zeichnung die Venus Felix darstellt, somit auch in dieser das bereits in der Gebetbuch-Zeichnung erarbeitete Problem der körperlichen Erhitzung durch den Anblick eines erotisch anzüglichen Bildes und die daraus folgende Erkrankungsgefahr wiederaufgenommen hat. Diese Hypothese erscheint umso wahrscheinlicher, als die Zeichnung, wie nun gezeigt werden soll, in der Figur des Antonius wiederum auf die Themen Erhitzung und Krankheit anspielt.

7 Antonius und die Abkühlung Im Gebetbuch reagiert Antonius scheinbar nicht auf das, was um ihn geschieht. Auf der Albertina-Zeichnung hingegen wendet er sich von der Versucherin aktiv ab und füllt mit seiner rechten Hand Wasser in eine Kanne (Abb. 15). Da die spätantike Vita Antonii nicht erwähnt, dass der Eremit Wasser geschöpft hätte, als der Teufel ihn in Gestalt einer Frau versuchte, hat die Forschung bisweilen daran gezweifelt, ob hier überhaupt Antonius gemeint sei. Zuletzt wies

 Vgl. Pico della Mirandola, Ioannes Franciscus Picus Mirandulae, (unpaginiert) S. 1: „Argumentum praebit carmini/antiquum Veneris et Cupidinis simulacrum, uti in epistola ad Lilium non paucis retuli. Sed sane eo in simulacro simul et artificiis ingenium licebat suspecere et simul admirari vanae superstitionis tenebras veraw luce religionis ita fugatas,/ut nec ipsorum Deorum imagines nisi trincae/fractae/et poene prorsus evanidae spectarentur.“ Zu Dürers enger Bekanntschaft mit Konrad Peutinger und dessen Einfluss auf ihn vgl. Gümbel, Dürers Rosenkranzfest, S. 47– 56. Charles Schmitt meint sogar, Dürer hätte Gianfrancesco Pico persönlich gekannt, vgl. Pico della Mirandola, De imaginatione, S. 10.

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Abb. 15: Detail aus: Albrecht Dürer, Die Versuchung des Hl. Antonius 1521, lithographische Reproduktion.

Walter Koschatzky auf die Adaptation der Legenda mirabilis in den Vitae Patrum hin, wonach Antonius die teuflische Königin mit ihren Zofen unbekleidet beim Bad antrifft. Bei Dürer fehlten dann allerdings die Zofen und auch in diesem Text wird nicht erwähnt, dass Antonius zum Wasserholen an den Fluss gekommen sei. Zudem lassen sich neben Dürer nur Hieronymus Boschs Altar im Dogenpalast in Venedig und ein Gemälde von Joachim Patinir in Madrid als mögliche ikonographische Vorbilder ausmachen, sodass zumindest als unsicher gelten darf, ob eine Textvorlage für das Wasserschöpfen des Antonius überhaupt existierte (Abb. 16, 17).⁶⁰ Indessen lässt sich einerseits vermuten, dass Antonius hier symbolisch aus dem ‚Quell‘ Jesus Christus das mit der Taufe gespendete Seelenheil schöpft, das eben auch ihm als Heiligem zuteilwird. Allerdings sprudelt auf Bildern, die auf die symbolische Bedeutung der Quelle abzielen, diese meist selbst aus einem Berg

 Die ikonographischen Überlegungen zum Blatt werden zusammengefasst bei Koschatzky, Die Dürer-Zeichnungen, S. 394 f. Zu Patinirs Gemälde vgl. Maroto, Paisaje. Die Barkenszene mit der Königin in Patinirs Gemälde verbindet Isabel Mateo Gomèz mit der Narrenschiff-Erzählung, vgl. Goméz, Precisión iconográfica, S. 79 – 81. Auf den Wasserkrug geht sie dabei nicht ein, obwohl er hier in Kontrast zu dem Weingenuss auf der Barke nach der Logik ‚Wasser anstatt Wein‘ steht, vgl. zu dieser Unverfehrt, Wein, S. 73 – 80.

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Abb. 16: Joachim Patinir, Landschaft mit der Versuchung des Heiligen Antonius, 1520, Öl auf Holz, 155x173 cm, Madrid, Prado.

hervor. Andererseits erscheinen gerade in der Zeit um 1500 auf zahllosen Bildern Schöpfen, Trinken sowie Wasserkannen oder -flaschen als Gesten und Attribute bei Eremiten. Exemplarisch ließe sich Pieter Cornelisz’ Zeichnung des Propheten Elia anführen, dem ein Rabe in der Wüste Brot zuträgt, während vor ihm – und das ist im biblischen Text nicht enthalten – Wasser aus einer fantastischen Höhlenformation wie aus einer Körperöffnung der Erde entspringt und neben ihm wie zufällig, aber sehr auffällig eine Karaffe steht (Abb. 18). So ließe sich auch für Dürer überlegen, ob neben dem Symbolgehalt des Motivs Antonius nicht auch ganz realistisch im Begriff ist, Wasser zu trinken. Wasser war zwar einerseits Grundnahrungsmittel der Eremiten, zudem wurde aber im 15. und frühen 16. Jahrhundert ein lebhafter Diskurs über seine Rolle in der asketischen Praxis geführt. Von einer ganzen Reihe spätmittelalterlicher Asketen wurde gesagt, sie lebten über einen Zeitraum von mehreren Jahren voll-

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Abb. 17: Detail aus: Joachim Patinir, Landschaft mit der Versuchung des Heiligen Antonius, 1520, Öl auf Holz, 155x173 cm, Madrid, Prado.

ständig ohne feste Nahrung – eine Wasserdiät als Mirakel und potenzielles Anzeichen ihrer Heiligkeit.⁶¹ Eines der bekanntesten Beispiele ist der Schweizer Nationalheilige Nikolaus von Flüe (1417– 1487). ‚Bruder Niclas‘ galt schon zu Lebzeiten als ein Wunder, sodass weltliche und geistliche Würdenträger zu ihm pilgerten, darunter auch Geiler von Kaysersberg.⁶² Vor allem in Nürnberg genoss Flüe große Popularität, was sich unter anderem daran zeigt, dass seine erste Vita, die Historia fratris Nicolai, welche Albrecht von Bonstetten, Abt von Einsiedeln, 1479 veröffentlichte, im Auftrag des Nürnberger Rats ins Deutsche übersetzt

 Vgl. Dinzelbacher, Mirakel oder Mirabilien.  Vgl. Wimpfeling u. Rhenanus, Das Leben, S. 79 f.

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Abb. 18: Pieter Cornelisz, Der Prophet Elia wird vom Raben gefüttert, 1524/1534, Federzeichnung, 21x18,8 cm, Florenz, Uffizien.

wurde.⁶³ Diese sowie die weiteren Biographien, welche noch zu seinen Lebzeiten in rascher Folge erschienen, charakterisieren Nikolaus’ Person und Leben weitgehend einheitlich so, wie Wüstenväter in der Vitae-Patrum-Tradition geschildert wurden, wobei sie sich insbesondere an der Antonius-Legende orientieren. Was die Biographen dabei am meisten interessierte, bezeugt auch der Eintrag über Nikolaus in der Schedelschen Weltchronik, den möglicherweise Dürer selbst als

 Vgl. Signori, Nikolaus of Flüe, S. 236.

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Lehrling in der Wolgemut-Werkstatt bei seiner Mitarbeit an der Bebilderung der Chronik mit einem Holzschnitt illustriert hat (Abb. 19).⁶⁴

Abb. 19: Werkstatt Michael Wolgemut, Nikolaus von Flüe. In: Weltchronik. Nürnberg: Anton Koberger, 1493.

Die Darstellung zeigt Nikolaus von Flüe, der an einer aus einem Berg strömenden Quelle sitzt, in der einen Hand ein Wanderstab, in der anderen eine Kanne, die er mit Wasser befüllt. Die nicht sehr detailreiche Abbildung zeigt deutlich, worauf es auch dem beistehenden Text ankommt: Berichtet wird hier nicht von Wundertaten, sondern von der wunderbaren Lebensweise des Eremiten. Nikolaus habe in seinen jüngeren Jahren eine Frau geheiratet und mit ihr zwei Kinder gezeugt. Später habe er für zwanzig Jahre als Einsiedler nur von Gräsern, Wurzeln und Wasser gelebt. Durch seine asketische Diätetik sei der Eremit mager und die Disposition seiner Körpersäfte feucht-kalt geworden. Auf dieser Grund-

 Vgl. Fabian, Kulturkosmos, S. 190.

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lage habe er zudem für den Rest seines Lebens keusch gelebt.⁶⁵ Auch in den ausführlicheren Lebensbeschreibungen wird etwa geschildert, dass Nikolaus eiskalte Haut gehabt hätte. Indem Dürer auch Antonius in der Albertina-Zeichnung Wasser schöpfend und dabei dem Nikolaus von Flüe nicht unähnlich darstellt, verweist er möglicherweise auf den zeitgenössischen Diskurs über asketische Eremiten, deren Merkmale wie feucht-kalte Disposition und Keuschheit in seiner Zeit, wie aus Flües Eintrag ersichtlich, mit dezidiert medizinischem Interesse beschrieben wurden. Das mag unter anderem damit zusammenhängen, dass in der Hagiographie des Antonius, auf die sich später auch das monastische Leben und die Mönchsregeln beriefen, betont wurde, dass durch Fasten und sexuelle Enthaltsamkeit die zwei wichtigsten Zugangswege der Sünde in den Körper kontrolliert werden können.⁶⁶ Indem die Albertina-Zeichnung seine Kühle und Keuschheit in Verbindung mit der Versuchung durch die Frau thematisiert, weist sie jedoch über den allgemeinen Zusammenhang von Sünde und Lebensweise hinaus. Wie schon im Gebetbuch durch Blasebalg und Versuchung bringt Dürer mit Wasserschöpfen und Versuchung in einem Bild zwei Stoffe zusammen, deren Assoziation als Metapher aufgefasst und so interpretiert werden könnte, dass Antonius sich in dem Moment, da er vom Teufel sexuell versucht wird, von diesem ab- und der (symbolischen) Quelle des Heils zuwendet.⁶⁷ In Anbetracht der in diesem Aufsatz dargelegten Anschauung der Dürerzeit, dass erotische Bilder, fantasmata und sexuelle Versuchung physiologisch mit heiß-trockener Konstitution, konsekutiver Fehlfunktion der Vorstellungskraft sowie Erhitzung des ganzen Körpers mit eventuell nachfolgender Ansteckung und Krankheit korrelieren, ließe sich allerdings auch hier ein ganz natürlicher Vor-

 Vgl. Schedel,Weltchronik, fol. CCLVIr.: „Dieser Zeit enthielt sich bei den Schweizern nicht fern von Lzern in einer ungeheuren Einöde ein alter Mann gar in gelassenem und abgezogenen Leben für zwanzig Jahre aller leiblichen Speise. Den nannten sie Buder Niclasen, der war dürren mageren ausgeschöpften Leibs, allein von Haut, Glieder und Gebein zusammengehalten. Und wiewohl die Einsiedler wegen ihres müßigen Wesens am Schaaten und darum auch das von ihrer unverdauung wegen vil feuchter kalter und roher uberflüssigkeiten inen gesammelt werden destlenger fasten mügen. yedoch so hat dieser mensch in ganzem abzug so längerzeit als ein himlisch leben auf erden unbefleckte vermayligung gefüert.“  Vgl. Brown, The Body, bes. S. 163 – 172. Ähnliche asketische Themen hatte Dürer bereits für den Auftraggeberkreis der Nürnberger Klosterhumanisten um Jakob Locher, Stephan Fridolin, Benedictus Chelidonius oder Caritas Pirckheimer mit einem Wasserkrug dargestellt, wie etwa auf Die heiligen Einsiedler Antonius und Paulus aus der Serie des ‚schlechten Holzwerks‘ von 1503/4 oder im Bildzyklus der Benediktslegende. Zur Askese in Bildern der Dürer-Zeit vgl. Noll, Albrecht Altdorfer, S. 90 – 110.  So galt Weihwasser im theologischen Diskurs insbesondere gegen Dämonen als mächtiges Heilmittel, vgl. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit, S. 187.

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gang erkennen. Immerhin steht Wasser als Prototyp eines feucht-kalten Stoffes einer überhitzten und ausgetrockneten Vorstellungskraft und dem Feuer als verursachendem Prinzip eben derjenigen Krankheiten elementar entgegen, für die Antonius das Patronat innehatte. Dies reflektiert sowohl die medizinische Literatur zum Antonius-Feuer als auch jene über die allgemeine Ansteckung mit Krankheiten. So wurden neben kaltem Wasser zur Therapie zahlreicher Fieberarten sowie des Antonius-Feuers nur solche Stoffe als Heilmittel empfohlen, die in hohem Grade kühlend und befeuchtend wirkten und folglich den elementaren Qualitäten des Wassers entsprachen. Wassertrinken diente zur Behandlung wie auch zur Prophylaxe des Antonius-Feuers.⁶⁸ Diese medizinische Lehrmeinung beschreibt beispielsweise der in Nürnberg geborene und mit Dürer vermutlich bekannte Arzt Philipp Ulsted ausführlich in seinem Traktat De epidemia. ⁶⁹ Mit Bezug auf Ärzte wie Avicenna und Ficino, aber auch auf theologische Autoren wie den Eremiten und Kirchenvater Hieronymus erläutert Ulsted, wie die Ansteckung mit der Pest verhindert und eine allgemeine Krankheitsprophylaxe erreicht werden kann. Ganz im Sinne der hippokratischgalenischen Medizin hält er eine geschwächte gesamtkörperliche Disposition für den nächstliegenden Grund einer Erkrankung und stellt Verhaltensempfehlungen auf, wie eine gute dispositio corporis zu erhalten sei. An oberster Stelle stehen bei ihm Nüchternheit und Enthaltsamkeit beim Essen. In diesem Sinne wurde in vielen anderen Ernährungsverordnungen der Gesundheitsregime (regimina sanitatis) empfohlen, zur Kühlung Wasser zu trinken, um Ansteckung zu vermeiden. Selbst der sonst häufig zur Stärkung von Kranken eingesetzte Wein sollte mit Wasser verdünnt werden, eben weil er dafür bekannt war, insbesondere die spiritus zu erhitzen.⁷⁰ Als zweitwichtigsten Punkt rät Ulsted zur Keuschheit und begründet dies – entgegen dem verbreiteten Rat der Diätetik zu regelmäßigem, gemäßigten Geschlechtsverkehr – mit einem Verweis auf Aristoteles und Avicenna und dem folgenden Hinweis auf Augustinus:⁷¹ „Übrigens da die Pest oft-

 Vgl. Dixon, Bosch’s ‘St. Anthony Triptych’.  Im Tagebuch zur Niederländischen Reise notiert Dürer für den 1. Januar 1521 ein Treffen mit Max Ulsted, den er auch gemalt habe und der ein Verwandter Philipps sei.  Vgl. Arrizabalaga, Facing the Black Death, S. 278. Zur Lehre der regimina sanitatis und der res non naturales vgl. Ottosson, Scholastic medicine, S. 247– 271.  Ulsted, De epidemia tractatus, fol 15v–16r: „Duo sint autem quae vituose & meritorie corpus humanum exiccant & in sanitate conservant, quorum primum est sobrietas & abstinentia in cibo. Qui enim ist abstinens abijciet sibi vitam, Eccle. 37. Et ieiunio sanantur pestes corporis, ut ait divus Hieronymus ad Demetriadem. Secundum quod exiccat corpus & in sanitate conservat, est castitas, quae summopere à peste praeservat. Dissimilitudo enim causarum, ut ait Aristoteles 7 metaphisices, dissimiles producit effectus in causatis. Quum ergo actus venereus disponat corpus ad pestem, secundum Avicenna prima quarti, doctrina quarta, capite de febre pestilentiae, &

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mals vom Teufel geschickt wird, der nach Urteil und Gestatten Gottes die Erlaubnis erhält, die Luft zu infizieren und Krankheiten hineinzugeben, wie Aurelius Augustinus in De Divinatione Daemonum sagt, sollen wir uns Gott durch Liebe verbinden und die solche vom Feind bereitete Pest wird uns nicht schaden.“⁷² Auch in der medizinischen Fachliteratur wurde also eingeräumt, dass neben den natürlichen pathogenetischen Mechanismen in der Welt auch übernatürliche wirksam sind und in diesem Fall der Teufel die Ansteckung mit Krankheiten verursacht. Ulsted sieht freilich die übernatürlichen durch die natürlichen Mechanismen vermittelt – denn der Teufel infiziert die Luft und ‚schickt‘ hierüber die Krankheiten in uns.⁷³ In der Zeit um 1500 war die Wasser-Diät also nicht nur der Grund für die feucht-kalte Disposition von Eremiten wie Antonius, sondern das Wasser und sein feucht-kaltes Prinzip auch ein Grundsatz von Therapie und Prophylaxe der mit Antonius verbundenen Krankheiten. Zudem konnte gezeigt werden, dass Dürer bei der Versuchung des Heiligen Antonius im Gebetbuch durch das ikonographisch höchst seltene Motiv des Teufels mit dem Blasebalg die Erwärmung, Ansteckung und Erkrankung des Eremiten thematisiert – und auch Philipp Ulsteds Befund, der Teufel bewirke die Ansteckung mit Krankheiten durch die Luft, kann darin erkannt werden.⁷⁴ Dieses medizinische Thema wird auch in der ungleich dramatischeren Antonius-Versuchung der Albertina wiederaufgenommen. Hier kündigt sich die klinisch heikle Situation einerseits durch die Venus Felix als

Galenum de differen. febrium lib. primo cap. 3 removebit ergo castitas hanc malam dispositionem, & praeservabit ab Epidimia.“ Ulsteds Traktat berücksichtigt neben der humoralen Disposition auch die spiritus, mit welchen besonders Maß zu halten sei, vgl. ebd., fol. 17v: „Omia certe suam exigunt temperiem, nihil igitur in mundo temperantius est quam coelum, nihil sub coelo fermè temperatius est quam corpus humanum, nihil in corpore humano temperantius est spiritu. Per res igitus temperatas vita permanens in spiritu recreabitur, spiritus per temperata coelestibus conformabitur, ut venustissime atque doctissime declarat Marsilius Ficinus de triplici vita, libro secundo cap 14.“  „Caeterum quum pestis saepenumero immittatur à diabolo, qui iudicio & permissione dei permittitur inficere aera, & morbos immittere, ut inquit Aurelius Augustinus de divinatione daemonum, coniungamur ergo deo per amorem, & non poterit nobis nocere talis pestilentia ab inimico procurata.“ (ebd.)  Zu den Dämonen als Ursache der Krankheiten vgl. Röhrich, Krankheitsdämonen.  Für die ikonographische Assoziation von Blasebalg und Fieberinduktion stand Dürer in seiner Zeit vermutlich alleine da. Interessanterweise hatte aber der griechische Arzt Galen in den De differentiis febrium bei der Erklärung, wie das von den spiritus verursachte effimera-Fieber vorzustellen sei, als anschauliches Exempel das Bild des Blasebalgs gegeben, vgl. Galen, De differentiis febrium, fol 3v: „Reliqua verò & tertia exemplum omnino simile non habet, sed clarioris doctrin gratia, animo concipe fabrilem follem trahentem ad se aërem admodum calidum, deinde ab ipso calefieri adhuc, nondum autem incaluisse.“

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‚Inkubator‘ pathologischer Sinnenfreude an und wird andererseits in dem seltenen Motiv des sich abwendenden und Wasser schöpfenden Antonius visualisiert. Darin lässt sich sowohl ganz allgemein die Wirkweise der hippokratisch-galenischen Medizin erkennen, die Krankheiten durch Ausgleich humoralpathologischer Ungleichgewichte zu behandeln suchte, wie auch spezifische Prophylaxeund Therapieformen des Antonius-Feuers und der Krankheitsansteckung.

8 Schlussüberlegungen Die eingangs aufgeworfene These, dass Dürer über den Naturalismus einer ‚bloß‘ mimetischen Abbildungsleistung hinausgeht und als interpres verax zugleich eine Art scientia naturae der Bildgestaltung praktiziert, konnte vor dem Hintergrund des skizzierten medizinisch-physiologischen Diskurses, aber auch ganz konkreter Bildmotive plausibilisiert werden. Dürer operiert in den Zeichnungen, die im Zentrum dieser Untersuchung standen, gleichsam an einer Schnittstelle von Kunst und Naturwissenschaft, er greift den theologischen Diskurs um den Heiligen Antonius genau dort auf, wo er zu seiner Zeit eine naturalisierende Auslegung erfährt (Gerson, Geiler von Kaysersberg). Wie Dürer dabei das Thema der Versuchung des Heiligen in neuer Weise akzentuiert, kann abschließend ein Vergleich mit früheren Darstellungen des Antonius verdeutlichen. In einem Kupferstich des Israhel van Meckenem umkreisen vier Dämonen mit Fratzen auf ihren Bäuchen den Heiligen. Einer von ihnen schlägt mit einer Keule auf Antonius ein, ein weiterer zerrt an seinem Bart, ein dritter stößt einen Stock in die Bibel, die der Mönch in Händen hält (Abb. 20).⁷⁵ Ein vierter Dämon schließlich facht das zu Füßen des Heiligen lodernde Antonius-Feuer mit einem Blasebalg an. Bereits bei van Meckenem fungiert also der Blasebalg als ein geeignetes Bildmotiv, um den Zusammenhang von Krankheit und Erhitzung zu visualisieren. Wenn zudem die Gesichter auf den Leibern der Teufel auf die inneren Begierden verweisen, wäre sogar denkbar, dass derjenige Dämon, der das Feuer anfacht, die Fleischeslust figuriert.⁷⁶ Demnach hätte bereits Israhel van Meckenem um die Mitte des 15. Jahrhunderts ins Bild gesetzt, dass das Antonius-Feuer von Dämonen und womöglich sogar von der Fleischeslust verursacht wird. Der Kupferstich kann in diesem Sinne als ein konzeptioneller und ikonographischer Vorläufer der Ge-

 Das Bildmotiv des Einblatt-Holzschnittes war anscheinend verbreitet und hat sich in fünf Versionen erhalten, vgl. Schreiber, Handbuch, Nr. 1219 – 1219d. Die Invention schreibt die Forschung teilweise dem Meister E. S. zu, vgl. dazu Geisberg, Die Anfänge, S. 259.  Vgl. Uhrig, Die Versuchung, S. 38.

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betbuch-Zeichnung gelten, zumal Dürer van Meckenems Werk nachweislich kannte.⁷⁷

Abb. 20: Israhel van Meckenem, Der Hl. Antonius, 2. Hälfte 15. Jahrhundert.

Auch der Zusammenhang von Antonius-Feuer und Versuchung, der bei van Meckenhem nicht dargestellt ist, war als solcher kein neues Motiv und lässt sich bereits vor Dürer nachweisen: Ein weit verbreiteter Einblatt-Holzschnitt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts etwa stellt Antonius in Flammen stehend dar, während er die Versucherin von sich weist (Abb. 21).⁷⁸ Damit geht die Darstellung des Heiligen als Patron des Antonius-Feuers eine geradezu chimärische Verbindung mit der Versuchungslegende ein. Beide Bildmotive, der Dämon mit Blasebalg, der das Antonius-Feuer entfacht, sowie die Parallelisierung von Antonius-Feuer und sexueller Versuchung, waren also bereits im 15. Jahrhundert gebräuchlich. Bei Dürer lässt sich jedoch die Umsetzung dieser Ideen im Bild einerseits klarer fassen, weil sie in seinem Werk zusammenhängend überliefert sind, mehrfach wiederkehren und sich daher systematisch greifen lassen. Andererseits  Vgl. Riether, Israhel van Meckenem, S. 239 f.  Vgl. Uhrig, Die Versuchung, S. 36 f.

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Abb. 21: Versuchung des Antonius, um 1460, Einblatt-Holzschnitt, 13,2x7,3 cm, Wien, Albertina.

hat Dürer die beiden Motive in der Gebetbuch-Zeichnung zusammengeführt und dabei entscheidend transformiert: Indem der Dämon nun nicht in ein Feuer zu Füßen, sondern in den Kopf des Heiligen bläst, werden psycho-physiologische Prozesse ins Bild gesetzt und die fantasmata, spiritus und die körperlichen Auswirkungen der sexuellen Versuchung thematisiert. Diese neuartige Akzentuierung wiegt deshalb schwer, weil mit ihr das Dargestellte auf den Stand der zeitgenössischen medizinischen Theorie gebracht wird. Demnach verursachen spiritus und fantasmata als physiologische Korrelate des Trugbilds der Versu-

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cherin die Wirkung der erotischen Phantasie im Körper, wecken die Fleischeslust und führen zur pathologischen ‚Aufheizung‘ sowie zum Antonius-Feuer. Die Zeichnung verdeutlicht also, dass sich bei der Versuchung des Heiligen Antonius Bild- und Körperprozesse insofern verquicken, als beide auf dem Medium der spiritus basieren. Dürer setzt nicht mehr nur den dramatischen Höhepunkt der Episode aus dem Leben des Heiligen und auch nicht nur sein Krankheitspatronat ins Bild, sondern verknüpft beides auf eine Weise, die eine medizinisch-physikalische Rationalität anschaulich werden lässt: Diese Logik führt er konsequent in der Albertina-Zeichnung fort, indem er den Heiligen der Versuchung ein ebenso physiologisches Remedium entgegensetzen und ihn kühlendes Wasser schöpfen lässt. Insofern stellt Dürer nicht nur in der Gebetbuch-Zeichnung, in der er den Blasebalg nicht auf die Füße, sondern auf den Kopf des Antonius richtet, zugleich auch die bildinterne Logik vom Kopf auf die Füße.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1:

Abb. 2:

Abb. 3:

Abb. 4:

Abb. 5: Abb. 6:

Abb. 7:

Abb. 8:

Albrecht Dürer, Versuchung des Hl. Antonius. In: Gebetbuch des Kaisers Maximilian I., 1514/15, München, Bayerische Staatsbibliothek, 2°, L. impr. membr. 64, fol. 24v. In: Makowski, Claude: Albrecht Dürer. Le Songe du Docteur et La Sorcière. Genf 1999. S. 47, Abb. 44. Niklaus Manuel Deutsch, Die Versuchung des Hl. Antonius, 1518 – 1520, Feder in Schwarz über Vorzeichnung mit schwarzem Stift, Basel, Kupferstichkabinett, Kunstmuseum. In: Klemm, Tanja: Bildphysiologie. Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance. Berlin 2013. S. 251, Abb. 73. Albrecht Dürer, caput physicum. In: Ludovicus Prutenus: Trilogium animae. Nürnberg: Anton Koberger, 1498. In: Klemm, Tanja: Bildphysiologie. Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance. Berlin 2013. S. 214, Abb. 65. Albrecht Dürer, Traum des Doktors, um 1498, Kupferstich, 19x12 cm. In: Klemm, Tanja: Bildphysiologie. Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance. Berlin 2013. S. 208, Abb. 61. Albrecht Dürer, Narr von Fremden Reichtümern versucht, Holzschnitt. In: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Basilea: Johann Bergmann, 1494. S. 52. Anonym, Das Martyrium des Hl. Vinzenz. In: Anton Koberger (Hrsg.): Leben der Heiligen. Nürnberg: Anton Koberger, 1488. fol. 317r. München, Bayerische Staatsbibliothek. 2 Inc.c.a. 2069 o, fol. 317, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00027260 – 1. Anonym (Albrecht Dürer, Umkreis Albrecht Dürer?), Wappen mit Mann hinter dem Ofen und Pelikan, um 1490 – 1494, Federzeichnung, 23,1x18,7 cm, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen. In: Bashir-Hecht, Herma: Der Mensch als Pilger: Albrecht Dürer und die Esoterik der Akademien seiner Zeit. Stuttgart 1985. S. 89, Abb. 33. Süddeutsch, Der Hl. Antonius sitzend, 1440 – 1450, Einblatt-Holzschnitt, koloriert, 38,2x26,4 cm, München, Staatliche Graphische Sammlung. Inv.-Nr. 118241.

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Abb. 9:

Abb. 10: Abb. 11:

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Abb. 19:

Abb. 20:

Abb. 21:

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Jan Wellens de Cock, Versuchung des Heiligen Antonius, 1522, Hamburg, Kunsthalle. In: Philipp, Michael (Hrsg.): Die Versuchung des St. Antonius. Hamburg 2008. S. 187, Kat.-Nr. 57. Albrecht Dürer, Die Versuchung des Hl. Antonius, 1521, Zeichnung, Wien, Albertina (Photographie aus dem Archiv des Verfassers). Albrecht Dürer, Die Versuchung des Hl. Antonius (1521), 1826, lithographische Reproduktion. In: Lithographirte Copien von Original Handzeichnungen berühmter Alter Meister der Deutschen Schule. Wien 1826. Nr. 3171. Venus Felix und Amor, römisch, 2. Jahrhundert n. Chr., Marmor, Rom, Vatikanische Museen (Photographie aus dem Archiv des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München). Pier Jacopo Alari-Bonacolsi (gen. Antico), Venus Felix, um 1500, Bronze, Wien, Kunsthistorisches Museum. In: Skulptur. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Hrsg. von Philippe Bruneau, Georges Duby u. Bernard Ceysson. Köln 1999. S. 75. Albrecht Dürer, Der Sündenfall, 1504, Kupferstich, 24,9x19,2 cm, Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie. In: Schoen, Christian: Albrecht Dürer: Adam und Eva. Die Gemälde, ihre Geschichte und Rezeption bei Lucas Cranach d. Ä. und Hans Baldung Grien. Berlin 2001. S. 54, Abb. 10. Detail aus: Albrecht Dürer, Die Versuchung des Hl. Antonius, 1521, lithographische Reproduktion. In: Lithographirte Copien von Original Handzeichnungen berühmter Alter Meister der Deutschen Schule. Wien 1826. Nr. 3171. Joachim Patinir, Landschaft mit der Versuchung des Heiligen Antonius, 1520, Öl auf Holz, 155x173 cm, Madrid, Prado. In: Patinir: estudios y catálogo crítico. Hrsg. von Alejandro Vergara. Madrid 2007. Kat.-Nr. 14, S. 243, Abb. 1. Detail aus: Joachim Patinir, Landschaft mit der Versuchung des Heiligen Antonius, 1520, Öl auf Holz, 155x173 cm, Madrid, Prado. In: Patinir: estudios y catálogo crítico. Hrsg. von Alejandro Vergara. Madrid 2007. Kat.-Nr. 14, S. 248, Abb. 3. Pieter Cornelisz, Der Prophet Elia wird vom Raben gefüttert, 1524/1534, Federzeichnung, 21x18,8 cm, Florenz, Uffizien. In: Jan Piet Filet Kok, Walter Gibson und Yvette Bruijnen: Cornelis Engebrechtsz: a Sixteenth-Century Leiden Artist and his Workshop. Turnhout 2014. S. 172, Abb. 182. Werkstatt Michael Wolgemut, Nikolaus von Flüe. In: Weltchronik. Nürnberg: Anton Koberger, 1493. In: Schedel, Hartmann: Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Mit Einleitung und Kommentar von Stephan Füssel. Köln 2001. fol. CCLVIr. Israhel van Meckenem, Der Hl. Antonius, 2. Hälfte 15. Jahrhundert. In: Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts. 88 Bde. Hrsg. von Tilman Falk. Amsterdam 1986. Bd. 24. S. 127, Abb. 315. Versuchung des Antonius, um 1460, Einblatt-Holzschnitt, 13,2x7,3 cm, Wien, Albertina, Photographie © Albertina Wien.

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Wölfflin, Heinrich: Die Kunst Albrecht Dürers. München 1984. Wolfson, Harry A.: The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophic Texts. In: Harvard Theological Review 28 (1935). S. 69 – 133. Wood, Christopher S.: The Votive Scenario. In: RES: Anthropology and Aesthetics 59/60 (2011). S. 206 – 227. Worboys, Michael: Contagion. In: The Routledge History of Disease. Hrsg. von Marc Jackson. London, New York 2017. S. 71 – 89. Wuttke, Dieter: Dürer und Celtis: von der Bedeutung des Jahres 1500 für den deutschen Humanismus: ,Jahrhundertfeier als symbolische Form‘. In: The Journal of Medieval and Renaissance Studies, 10 (1980). S. 73 – 129. Ziegler, Joseph: The Biology of the Virtues in Medieval and Early Renaissance Theology and Physiognomy. In: Im Korsett der Tugenden. Hrsg. von Mariacarla Gadebusch-Bondio. Hildesheim u. a. 2013. S. 3 – 24.

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Der Grenzgänger Othello Othello kann in mehrerlei Hinsicht als Grenzgänger gelesen werden.¹ Zum einen im räumlichen Sinne, da die titelgebende Figur aus William Shakespeares berühmter Tragödie, die wahrscheinlich zwischen 1603 und 1604 geschrieben wurde, Grenzen überschreitet, die zwischen verschiedenen Ländern beziehungsweise Kulturen bestehen.² Denn Othello ist kein Venezianer, obwohl er zum Handlungszeitpunkt des Dramas in Venedig lebt. Vielmehr stammt er aus Afrika und hat die Welt bereist, bevor er sich dort niederließ. Auch im Drama selbst wird eine räumliche Grenzüberquerung behandelt: Othello und sein Gefolge reisen von Venedig nach Zypern, um dort den Kampf gegen die Osmanen aufzunehmen.³ Mit diesen kulturräumlichen Grenzen in Verbindung steht eine andere Grenze, um deren Überschreitung Othello sich bemüht, denn in Venedig angekommen zu sein, heißt dennoch nicht,Venezianer zu sein. Othello ist ein Fremder und es gelingt ihm, obwohl er sich redlich darum bemüht, nicht, zu einem Einheimischen zu werden.

 Zum Begriff ‚Grenzgänger‘, etwa nach dem kulturanthropologischen Ansatz Victor Turners, siehe auch den Aufsatz „Liminales in der jüdischen Apokalyptik“ von Peter Juhás im vorliegenden Band.  Zu Ländergrenzen siehe auch Becker, Demeulenaere u. Felbeck, Einleitung, S. 13.  Sowohl Venedig als auch Zypern können ihrerseits wiederum als liminale Räume verstanden werden.Venedig wurde in der Frühen Neuzeit häufig als Stadt der Schwellen wahrgenommen: „A Western city saturated with the East, a city of land and stone penetrated by water; a city of great piety and ruthless mercantilism; a city where enlightenment and licentiousness, reason and desire, indeed art and nature flow and flower together – Venice is indeed the surpassing-all-otherembodiment of that ‘absolute ambiguity’ which is radiant life containing certain death“ (Tanner, Venice, S. 368; siehe zum liminalen Status Venedigs auch McPherson, The Myth of Venice, vor allem S. 27– 48; Holderness, Shakespeare and Venice, S. 50 – 56; Holderness, Strangers, S. 125 f.; sowie Tosi, Crossing Boundaries). Zypern war in der Frühen Neuzeit aufgrund seiner Lage von militärstrategischer Bedeutung. Die Insel war heftig umkämpft von Christen und Muslimen, wie auch Shakespeares Othello es thematisiert: „Caught in a liminal zone between Venice’s Christian civility and the Ottomite’s pagan barbarism is Cyprus, a Venetian colony under siege. Cyprus is the frontier, the uttermost edge of western civilization, simultaneously vulnerable to attack from without and subversion from within. Even after the destruction of the Turkish fleet, it remains ‘a tower of war,/Yet wild, the people’s hearts brimful of fear’ […]“ (Vaughan, Contextual History, S. 22; zur realpolitischen Konfliktsituation zwischen Venedig und dem osmanischen Reich siehe etwa Vaughan, Supersubtle Venetians, S. 19 f.). https://doi.org/10.1515/9783110605389-011

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1 Die Konstruktion des Fremden Der Begriff ‚Fremdheit‘ hat Bernhard Waldenfels zufolge drei Bedeutungsaspekte: Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt […] und was in der Form von „Fremdling“ und „Fremdlingin“ […] personifiziert wird. Fremd ist zweitens, was einem Anderen gehört […]. Als fremd erscheint drittens, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt […]. Es sind also die drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen auszeichnen.⁴

Besonders der dritte Aspekt Waldenfels’ ist für diese Untersuchung relevant, denn Othello ist – so meinen zumindest einige Venezianer in Shakespeares Stück – fremdartig, da er aus Afrika stammt und eine andere Hautfarbe hat. Die Grenze zwischen dem Fremden und dem Eigenen, die von den Venezianern aufgrund dieser Andersartigkeit Othellos errichtet wird, ist, so zeigt das Drama, schwierig zu überqueren, ja es ist vielleicht sogar unmöglich. Die Schwierigkeit diese Grenze zu überwinden liegt in ihrer Natur, denn anders als allgemein anerkannte Ländergrenzen – die zwar veränderbar sind (etwa durch Kriege), die aber dennoch zu jedem beliebigen Zeitpunkt recht eindeutig definiert werden können – ist die Grenze Vertrautes-Fremdes nicht objektiv, sondern wird von einer Kultur, Gesellschaft oder Gruppe von Menschen subjektiv festgelegt. Insofern darf man das Fremde, wie auch Waldenfels betont, nicht mit dem Anderen verwechseln, da sich beim Anderen „die Bestimmung ‚a = nicht b‘ […] jederzeit vertauschen [lässt] gegen die Bestimmung ‚b = nicht a‘.“⁵ Dies ist beim Fremden nicht der Fall, da es durch Ein- und Ausgrenzung entsteht: „Fremdheit ist das Beziehungsprädikat je eines Subjekts. Die Feststellung, daß du mir fremd bist, impliziert daher nicht den Umkehrschluß, auch ich sei dir fremd.“⁶ Fremdheit ist also nicht objektiv, sie ist, „keine Eigenschaft [und] auch kein objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen, sondern die Definition einer Beziehung“⁷: Bezeichnet eine Person eine andere als Fremden, dann handelt es sich bei dieser Bezeichnung um eine qualifizierende Zuschreibung. Die Entscheidung, einen anderen fremd zu nennen, ist demnach die Entscheidung, ihn als ‚fremd‘ zu etikettieren.⁸ Fremdheitszuschreibungen arbeiten so, wie Jacques Derrida das Funktionieren des Rassismus beschreibt. Sie sind nur durch Sprache möglich: „There’s no racism without a

    

Waldenfels, Topographie, S. 20 (Hervorhebung im Original). Waldenfels, Topographie, S. 21. Münkler u. Ladwig, Dimensionen der Fremdheit, S. 12. Hahn, Soziale Konstruktion, S. 140. Siehe Hahn, Soziale Konstruktion, S. 140.

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language. The point is not that acts of racial violence are only words but rather that they have to have a word.“⁹ Fremdheitszuschreibungen und Rassismus „[…] institute[…], declare[…], write[…], inscribe[…], prescribe. [They] do[…] not discern, […] [they] discriminate[…].“¹⁰ Die Zuschreibung wird angewendet, wenn eine Grenze zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘ gezogen wird, die durch einen Unterschied definiert wird, der jedenfalls insofern nicht notwendig wäre, als zwischen den Menschen, die etikettieren und denen, die etikettiert werden, zugleich auch Gemeinsamkeiten existieren. Die Etikettierenden betonen allerdings die Unterschiede: „Die Gemeinsamkeiten, die es [das System] mit den Fremden teilt, [werden] auf sozial verbindliche Weise unerheblich […], obwohl diese für viele Beteiligte viel gravierender sein mögen als die, die zur Definition des ‚Wir‘ ausgewählt wurden.“¹¹ Zugleich kommt es durch diese abgrenzende Etikettierung zur Selbstbeschreibung: Man sagt, wer und was man ist, indem man sagt, wer und was man gerade nicht ist: „Die paradoxe Funktion von ‚Fremden‘ besteht eben darin, daß sie Selbstidentifikationen gestatten.“¹² Die Verfahren, einmal die Gleichheit der Unterschiedlichen und ein andermal die Unterschiedlichkeit der Gleichen zu akzentuieren, also die Grenze zwischen dem Fremden und dem Vertrauten zu vernachlässigen beziehungsweise zu betonen, kann man etwa mit Niklas Luhmanns Konzepten von Inklusion und Exklusion analysieren: „Mit den Modi der Inklusion beschreibt die Gesellschaft das, was sie als Teilnahmebedingungen setzt […]. Exklusion ist demgegenüber das, was unmarkiert bleibt, wenn diese Bedingungen […] formuliert werden […].“¹³ Zudem betont Luhmann, dass „Inklusion (und entsprechend Exklusion) […] sich nur auf die Art und Weise beziehen [kann], in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden.“¹⁴ In einem Dramentext kann man fast ausschließlich – stage directions und die Informationen in den dramatis personae ausgenommen – Kommunikation analysieren. Othello wird also in Luhmanns Sinne dadurch inkludiert und exkludiert, dass und wie die anderen Dramenfiguren ihn und er selbst sich bezeichnen und für relevant halten.

 Derrida, Racism’s Last Word, S. 292.  Derrida, Racism’s Last Word, S. 292.  Hahn, Soziale Konstruktion, S. 141.  Hahn, Soziale Konstruktion, S. 142.  Luhmann, Die Soziologie und der Mensch, S. 262.  Luhmann, Die Soziologie und der Mensch, S. 241 (Hervorhebung im Original).

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2 Die Venezianer zu und über Othello Die Venezianer verhalten sich Othello gegenüber unterschiedlich: Einige versuchen, ihn aus der Gesellschaft auszuschließen, andere, ihn einzuschließen. Figuren wie Desdemona, Cassio oder der Doge versuchen, Othello in die Gemeinschaft zu inkludieren.¹⁵ Da es den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, die Beziehung zwischen jeder der inkludierenden Figuren und Othello zu beleuchten, wird an dieser Stelle die Beziehung zwischen Othello und Desdemona exemplarisch dargestellt. Desdemona ist deswegen ein besonders geeignetes Beispiel, weil sie die wichtigste Bezugsperson für Othello unter den inkludierenden Figuren ist und weil sie – ähnlich wie Othello selbst, wie später gezeigt werden wird – ihn direkt auf der Grenze situiert. Außerdem kann auch Desdemona als liminale Figur verstanden werden,¹⁶ insofern sie sich den gängigen Regeln der venezianischen Gesellschaft in mehrerlei Hinsicht widersetzt: Sie handelt gegen den Willen ihres Vaters und distanziert sich durch ihre Eheschließung mit Othello von der venezianischen Gesellschaft. Zugleich gliedert sie aber Othello durch eben diese Hochzeit in die venezianische Gesellschaft ein. Einerseits hilft sie ihm so, die Grenze Fremdes-Vertrautes formal zu überwinden. Andererseits ist sie sich der Andersheit ihres Ehemanns stets bewusst. Durch die Anrede „Moor“ (etwa 1.3.188)¹⁷ betont sie Othellos und ihre unterschiedlichen Hautfarben und sie erklärt (ebenso wie Othello), dass sie sich aufgrund seiner exotischen Lebensgeschichte (und also aufgrund seiner Geschichtenerzählkunst) in ihn verliebte, also genau wegen seiner Andersheit und Fremdheit im Vergleich mit den venezianischen Edelmännern: „Das Fremde scheint […] als Verlockung, als Aufbruch aus belastenden Gewohnheiten und Routines, als Bereicherung und Anregung, als spannend und aufregend, als abenteuerlich und faszinierend […]“¹⁸, da es „[…]

 Zur Beziehung von Othello und Cassio, die vor allem vom Dienstverständnis der beiden geprägt ist, siehe etwa Neill, Introduction, S. 158 f.; siehe außerdem Engler, Great Heart, S. 129 – 136. Die Beziehung zwischen Othello und dem Dogen wird in der Forschung häufig als eine Nutzbeziehung charakterisiert (siehe beispielsweise Ogude, Literature and Racism, S. 159; sowie Bartels, Othello and Africa, S. 63): Dieser Lesart zufolge akzeptiert der Doge Othello nur aufgrund seiner herausragenden militärischen Fertigkeiten, die Venedig nutzen. Siehe demgegenüber wiederum Bartels, Speaking of the Moor, S. 174 f. für eine andere Interpretation, die die Wertschätzung des Dogen gegenüber Othello als „[…] grounded by more than politically indispensable military or mercenary parts […]“ (S. 175) versteht.  Für diesen Hinweis sei Prof. Andreas Höfele (München) herzlich gedankt.  Alle Angaben aus Othello beziehen sich auf die von Michael Neill in der Reihe Oxford World’s Classics herausgegebene Ausgabe aus dem Jahr 2006.  Hahn, Soziale Konstruktion, S. 151 f.

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Möglichkeiten wachruft, die durch die Ordnungen des eigenen Lebens mehr oder weniger ausgeschlossen sind.“¹⁹ Othello sagt, dass Desdemona sich in ihn verliebte, „for the dangers […] [he] had passed“ und Desdemona betont einmal mehr seine Andersheit und seine militärischen Tugenden, die sie verehrt: „I saw Othello’s visage in his mind,/and to his honours and his valiant parts/Did I my soul and fortune consecrate“ (1.3.250 – 252).²⁰ Insbesondere der Vers „I saw Othello’s visage in his mind“ (1.3.250) wird in der Forschung hinsichtlich Desdemonas Einstellung gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe diskutiert und unterschiedlich interpretiert. Oft wird davon ausgegangen, Desdemona wolle damit sagen, dass sie Othellos Hautfarbe ignoriere und seine inneren Werte betone, dass also sein Inneres edler sei, als sein Äußeres vermuten ließe.²¹ Stanley Cavell hingegen liest den Vers anders: „[…] what the line more naturally says is that she saw his visage as he sees it, that she understands his blackness as he understands it, as the expression (or in his word, his manifestation) of his mind.“²² Während die Lesart, dass Desdemona Othellos Fremdheit zu ignorieren und seine inneren Werte zu betonen versuche, nicht zu der Beobachtung passt, Desdemona habe sich gerade wegen seiner Andersheit und Fremdheit in ihn verliebt, geht Cavells Interpretation Hand in Hand mit dieser. Außerdem wird eine weitere Facette der Liebe Desdemonas zu Othello deutlich: Nicht nur hat sie sich aufgrund seiner Andersheit und Fremdheit in ihn verliebt, sondern zugleich versteht sie diese so, als wäre sie selbst eine Fremde. Desdemona situiert Othello, so kann man zugespitzt formulieren, auf der Grenze: Othello ist für sie vertraut und zugleich fremd. Oder um es anders zu sagen: Desdemona hilft Othello einerseits, die Grenze, die die venezianische Gesellschaft zwischen dem Vertrauten

 Waldenfels, Topographie, S. 44.  Desdemona ist nicht die einzige, die empfänglich für Othellos exotische Erzählungen ist: Die Anziehungskraft, die Othellos Geschichten auf Brabantio ausüben, ist der Grund, warum Othello und Desdemona sich überhaupt erst näher kommen konnten („Her father [Brabantio] loved me, oft invited me/Still questioned me the story of my life/From year to year: the battles, sieges, fortunes/That I have passed“ [1.3.128 – 131]; siehe hierzu auch Barthelemy, Black Face, S. 160) und auch der Doge kann die Faszinationen dieser Schilderungen durchaus nachvollziehen („I think this tale would win my daughter too“ [1.3.171]); siehe hierzu auch Callaghan, Othello Was a White Man, S. 205, die diese Aussage des Dogen als Beispiel für die sexuelle Macht, die das Fremde haben kann, interpretiert.  Siehe hierzu etwa Sinfield, Cultural Materialism, S. 50: „‘I saw Othello’s visage in his mind’ […] means he may look like a black man but really he is very nice“; sowie Ogude, Literature and Racism, S. 160: „This is another false attempt ‘to paint the blackamoor white’. All Othello’s friends are quick to ignore his color, to pass over his physical appearance and praise his virtues and prowess. Even Desdemona refrains from referring to Othello’s color.“  Cavell, Epistemology, S. 35.

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und dem Fremden setzt, zu überwinden, andererseits zieht auch sie eine solche Grenze und etikettiert ihren Ehemann als Fremden, der sie fasziniert und den sie deswegen liebt. Andere Figuren wiederum, allen voran Iago und Roderigo aber etwa auch Emilia, die Dienerin Desdemonas, ziehen eine unüberbrückbare Grenze zwischen sich, den Venezianern, und Othello, dem Fremden, und exkludieren Othello. Anders als Desdemona nehmen Iago, Roderigo und Emilia das Fremde nicht als faszinierend, sondern als bedrohend wahr: Othello „stört bestehende Gleichgewichte und Verteilungsverhältnisse, ist also im schlichten Sinne ein Konkurrent um ökonomische Chancen, um Geld, […] Prestige, Aufmerksamkeit, menschliche Zuwendung usw.“²³ Iago etwa weiß zwar Othellos militärische Fertigkeiten ebenso wie der Doge und andere Venezianer zu schätzen (siehe 1.1.148 – 152), aber es reichen diese für ihn nicht aus, um Othello in die venezianische Gemeinschaft zu integrieren. Entscheidend für ihn sind sein persönlicher Hass („I do hate him as I do hell pains“ [1.1.153]), seine Eifersucht (1.1.7– 32) und der Versuch „[…] to create a larger ‘place’ or status for himself at the expenses of an outsider.“²⁴ Gerade Iago schließt Othello nicht nur aus der venezianischen Gesellschaft aus, sondern spricht ihm in seinen wüsten Beschimpfungen, mit denen er Brabantio aufwecken und verärgern will, sogar jegliche Menschlichkeit ab und ordnet ihn dem Bereich des Unmenschlichen zu: Even now, now, very now, an old black ram Is tupping your white ewe. Arise, arise! Awake the snorting citizens with the bell, Or else the devil will make a grandsire of you. […] you’ll have your daughter coverted with a Barbary horse, you’ll have your nephews neigh to you, you’ll have coursers for cousins and jennets for germans […] I am one sir, that comes to tell you your daughter and the Moor are now making the beast with two backs. (1.1.88 – 116)

Dies sind Iagos berühmt-berüchtigte Beleidigungen, in denen er die stereotype Vorstellung von der Lüsternheit der Schwarzen mit Hilfe des wiederholten Gebrauchs von Tierbildern verdichtet.²⁵ Die Verbindung zwischen Othello und diesen Tieren wird von Iago durch Hautfarbe und Herkunft hergestellt: Othello ist Iago zufolge ein schwarzer Widder und ein Berberpferd, weil er aus Afrika

 Hahn, Soziale Konstruktion, S. 153.  Washington, Door of Truth, S. 181.  Zum Stereotyp der Lüsternheit von Schwarzen und zu diesem Thema in Othello siehe beispielsweise Barthelemy, Black Face, S. 150 f.; oder Loomba, Shakespeare, Race, and Colonialism, S. 49 – 51. Zum Gebrauch von Tierbildern in Othello siehe etwa Swarbrick, Shakespeare’s Blush.

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stammt.²⁶ Außerdem setzt er die Vorstellung von der Schwärze des Teufels mit Othellos schwarzer Hautfarbe gleich, indem er den Namen ‚Othello‘ durch „the devil“ als Substantiv eines Satzes ersetzt: „[…] the devil will make a grandsire of you.“²⁷ An diesen Beschimpfungen Iagos zeigt sich deutlich, dass die Grenze Vertrautes-Fremdes beliebig ist, denn er setzt beziehungsweise löst hier Grenzen ad libitum: Anstatt etwa die Gemeinsamkeiten aller Menschen hervorzuheben, betont er die Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Hautfarben, zieht also eine Grenze, und hebt damit zugleich die Grenze Mensch-Tier – oder genauer gesagt: die Grenze dunkelhäutiger Mensch-Tier – auf.²⁸

3 Othellos self-fashioning ²⁹ Othello selbst wiederum versucht einerseits, die Grenze zwischen Fremden und Vertrauten zu überschreiten, während er andererseits seine Identität als Afrikaner nicht verleugnet. Zu Beginn des Stückes nimmt sich Othello als Venezianer und als Fremder wahr. Diese Einschätzung seiner selbst gleicht der, die Desdemona von ihm hat: Auch Othello selbst versteht sich als eine Figur, die auf der Grenze  Interessanterweise – und auch das passt zu einer Interpretation von Desdemona als Grenzgängerin – wird auch Desdemona mit einem Tier gleichgesetzt: Sie ist Brabantios „white ewe“: „Iago engages in a pattern-building process […] in which he draws a clear line that separates the black, morally inferior other from the white,Venetian self. However, the borderline between white and black is not the only one drawn by Iago. After all, Desdemona is […] compared to an animal just as much as Othello, and indeed Iago is not only insensitive to what he perceives to be ethical imperatives of racial alterity but also the otherness of gender“ (Antor, Constructing Alterity, S. 76). Zum bestial act, den Desdemona in den Augen einiger Venezianer begeht, siehe auch MacDonald, Black Ram, S. 206 f.  Vgl. Adler, Rhetoric of Black and White, S. 251. Die Ansicht, schwarze Hautfarbe sei gleichzusetzen mit dem Teufel und dem Bösen war in der Frühen Neuzeit weit verbreitet, wie zahlreiche Belege in Reiseberichten zeitgenössischer Entdecker und Abenteurer zeigen (etwa Thomas Herberts Some Yeares Travels into Africa von 1638), die sich beim englischen Publikum großer Beliebtheit erfreuten und deren Ansichten und Einschätzungen von den Rezipienten häufig übernommen wurden (siehe Jones, Othello’s Countrymen, S. 8 – 26). Die Verbindung von schwarzer Hautfarbe mit dem Bösen stammt aus antiken und mittelalterlichen Quellen und wurde ab der Frühen Neuzeit zusätzlich durch die Notwendigkeit, den Sklavenhandel zu legitimieren, verstärkt (siehe auch Loomba, Shakespeare, Race, and Colonialism, S 47; siehe zu den antiken und mittelalterlichen Quellen etwa Jones, Othello’s Countrymen, S. 1– 9; sowie Barthelemy, Black Face, S. 2 f.).  Die Unterscheidung Mensch-Tier ist zwar grundlegend für die westliche Kultur, aber in der Frühen Neuzeit keineswegs selbstverständlich. Siehe hierzu etwa Höfele, Stage, Stake, and Scaffold, S. 24; sowie Boehrer, Shakespeare Among the Animals, S. 27 f.  Vgl. zum Begriff Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning.

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beheimatet ist. Dies zeigt sich etwa in seiner ersten Erzählung, die er dem Senat von Venedig vorträgt, um zu erklären, wie sich Desdemona in ihn verliebte: Her father loved me, oft invited me, Still questioned me the story of my life From year to year: the battles, sieges, fortunes That I have passed. I ran it through, even from my boyish days To th’ very moment that he bade me tell it– Wherein I spoke of disastrous chances: Of moving accidents by flood and field, Of hair-breadth scapes i’th’ imminent deadly breach Of being taken by the insolent foe And sold to slavery; of my redemption thence, And portance in my travailous history, Wherein of antres vast and deserts idle, Rough quarries, rocks and hills whose heads touch heaven, It was my hint to speak – such was my process – And of the Cannibals that each other eat, The Anthropophagi, and men whose heads Do grow beneath their shoulders. (1.3.128 – 145)

In dieser, seiner längsten Geschichte offenbart Othello dem Senat „the story of [his] life/From year to year“. Die Erzählung ist nicht nur eine Beschreibung ferner Länder und merkwürdiger Völker wie etwa Plinius’ Naturalis Historia, sondern eben auch eine Lebensgeschichte von den „boyish days/To th’ very moment that he bade me tell it“. Othellos Afrika ist zugleich der Ort seiner Abstammung „from men of royal siege“ (1.2.22) und eine Wildnis plinischer Monster, „Cannibals that each other eat/[…] Anthropophagi, and men whose heads/Do grow beneath their shoulders.“³⁰ Durch seine Rede distanziert sich Othello von diesen Bildern. Er zeigt, dass er zwar ein Fremder ist, aber kein Monster. Seine Schilderungen erinnern stark an Beschreibungen des Fremden im europäischen Kolonialdiskurs. Dadurch, dass er wie ein europäischer Reisender oder wie ein antiker Historiker klingt,³¹ stilisiert er sich als Europäer und integriert sich in die venezianische Gesellschaft. Othello erinnert hier an Leo Africanus, der mit seiner Erzählhaltung in dem Reisebericht A Geographical Historie of Africa, der im Jahre 1600 von John Pory ins Englische übertragen wurde, sein christliches, europäisches Selbst ebenfalls auf Kosten seiner ‚anderen‘ Identität als moor zu sichern versucht.³²

 Vgl. auch Neill, ‘Mulattos’, ‘Blacks’, and ‘Indian Moors’, S. 362.  Siehe hierzu auch Hadfield, Lying in Early Modern English Culture, S. 287.  Siehe Bartels, Making More of the Moor, S. 436.

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Nicht zuletzt gilt Leo Africanus’ Leben – er wurde in Nordafrika geboren, von venezianischen Piraten versklavt, konvertierte schließlich zum Christentum und stand unter dem Schutz von Papst Leo X. – als mögliches Vorbild Shakespeares für Othellos „travailous history“.³³ Während es Othello in dieser ersten Erzählung gelingt, wie ein europäischer Reisender zu klingen, ist ihm dies bei seiner zweiten Erzählung, bei der er bereits unter Iagos Einfluss steht, nicht mehr möglich. Vor der berühmten temptation scene lehnte Othello magische Fähigkeiten, die ihm aufgrund seiner afrikanischen Herkunft nachgesagt werden, noch strikt ab: Als Desdemonas Vater Brabantio ihm etwa vorwirft, er habe seine Tochter mit Magie erobert („She is abused, stolen from me, and corrupted/By spells and medicines bought of mountebanks./For nature so preposterously to err–/Being not deficient, blind or lame of sense–/Sans witchcraft could not“ [1.3.61– 65]), weist Othello dies strikt zurück. Doch nun bedroht er selbst Desdemona mit eben solch fremdländischer Magie: […] that handkerchief Did an Egyptian to my mother give; She was a charmer and could almost read The thoughts of people; she told her, while she kept it ’Twould make her amiable and subdue my father Entirely to her love – but if she lost it, Or made a gift of it, my father’s eye Should hold her loathèd, and his spirits should hunt After new fancies. She dying gave it to me And bid me, when my fate would have me wived, To give it to her. I did so […] ’Tis true; there’s magic in the web of it: A sybil, that had numbered in the world The sun to course two hundred compasses, In her prophetic fury sewed the work; The worms were hallowed that did breed the silk, And it was dyed in mummy, which the skillful Conserved of maidens’ hearts. (3.4.54– 74)

Othello nutzt die Vorstellung von witchcraft, um Desdemona zu verdeutlichen, wie wichtig das handkerchief für ihn ist, wie auch Emily Bartels zeigt: „[…] he uses the exotic story to gain leverage at a point of obvious crisis, and uses it to manipulate

 Siehe Neill, Introduction, S. 18 f.

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someone whom he has already presented as susceptible of his exotica.“³⁴ Während Othello bei seiner ersten Erzählung noch in der Lage ist, sich als venezianischer insider darzustellen, ist er sich bei dieser mehr denn je seiner Fremdheit bewusst und kann sich nicht mehr von ihr distanzieren.Vor Iagos Verführung und seinem Zusammenbruch war der Gedanke an Zauberei für ihn undenkbar, ja sogar lächerlich. Zu diesem Zeitpunkt der Handlung ist Othello nun aber bereit, die Zauberei als Teil seiner stereotypen Fremdheit zu akzeptieren, der er nicht (mehr) entfliehen kann. Die Verwirrung über seinen Status als Grenzgänger, als Venezianer und gleichzeitig Fremder, gipfelt in Othellos letzter Rede: I have done the state some service, and they know’t– No more of that. I pray you in your letters, When you shall these unlucky deeds relate, Speak of me as I am; nothing extenuate, Nor set down aught in malice: then must you speak Of one that loved not wisely, but too well; Of one not easily jealous, but being wrought, Perplexed in the extreme; of one whose hand, Like the base Indian, threw a pearl away Richer than all his tribe; of one whose subdued eyes, Albeit unusèd to the melting mood, Drops tears as fast as the Arabian trees Their medicinable gum. Set you down this; And say besides that in Aleppo once, Where a malignant and a turbaned Turk Beat a Venetian and traduced the state, I took by th’ throat the circumcisèd dog And smote him – thus. (5.2.338 – 355)

Othello beginnt mit der Erwähnung seiner Dienste, die ihm bisher geholfen haben, sich in die venezianische Gesellschaft einzugliedern. Schon zuvor stellten diese ein wichtiges Motiv seiner Selbstintegration dar. Den Mord an Desdemona hat er ebenfalls als Dienst gerechtfertigt, nämlich als Dienst an den Männern: „Yet she must die, else she’ll betray more men“ (5.2.6). Dieser Dienst ist auch ein Dienst an Venedig: In Othellos Augen hat Desdemona bereits zwei Venezianer, nämlich Brabantio und ihn selbst, betrogen. Er verhindert nun, dass sie in Zukunft noch mehr venezianische Männer hintergeht. Solange er sich als Herr über das Recht versteht, entzieht er sich „clime, complexion, and degree“ und sieht in Desde-

 Bartels, Othello on Trial, S. 161 (Hervorhebung im Original).

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monas Körper die Ursache für die Tragödie.³⁵ Als er realisiert, dass Desdemona ihn nicht hintergangen hat, ist dies nicht mehr möglich. Ihm wird bewusst, dass er die Teilnahmebedingungen der venezianischen Gesellschaft unwiderruflich verletzt hat, als er ein Mitglied dieser Gesellschaft getötet hat. Auch seine Dienste an Venedig können ihn nicht mehr schützen: „No more of that.“ Dennoch versucht er, nicht in den anonymen Status des fremden, namenlosen moor zu fallen, sondern seine Geschichte zu kontrollieren. Othello möchte, dass Venedig so von ihm spricht, wie er ist. Doch wer ist er überhaupt? Zuerst stellt er sich als Held einer domestic tragedy dar, als „one that loved not wisely, but too well“³⁶. Danach beginnt er, sich zu othern. Er vergleicht sich mit dem „base Indian“,³⁷ der eine weiße Perle wegwarf, die so viel wertvoller war als alles, was seine eigene Welt zu bieten hat. Othello konnte die weiße Perle, die „fair Desdemona“, nicht verstehen und nicht an sich binden.³⁸ Seine Trauer darüber vergleicht er wiederum mit einem ihm offensichtlich vertrauten, aber für die Venezianer fremden Bild von arabischen Harzbäumen. Othello ist zwar immer noch der Fremde und der Venezianer – bewohnt gewissermaßen immer noch die Grenze –, aber nicht mehr in einer ausgeglichenen Art und Weise, da er realisiert, dass der Fremde in ihm der Feind und nicht der Unterstützer Venedigs ist. Er ist gleichzeitig der Soldat im Dienste der Stadt und ihr Erzfeind, der „malignant and […] turbaned Turk“. Bereits von Beginn an stellt das Drama auf zweierlei Art und Weise eine symbolische Verbindung Othellos mit den Türken her. Während des gesamten Handlungsverlaufs wird nämlich die ‚Gefahr‘, die die Eheschließung von Othello und Desdemona für das weiße, christliche Venedig mit sich bringt, parallelisiert mit der militärischen Gefahr, die durch die Türken droht. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass der Name ‚Othello‘ von englisch Othoman abstammt, dem Namengeber der osmanischen Dynastie.³⁹

 Siehe auch Bartels, Speaking of the Moor, S. 183.  Siehe auch Bartels, Speaking of the Moor, S. 190.  In der Folioausgabe heißt es „base Iudean“. Othello, der in 1.2 noch wie eine Jesusfigur dargestellt wurde, identifiziert sich nun mit Judas, der verdammt wurde (vgl. auch Vitkus, Turning Turk, S. 175).  Siehe auch D’Amico, Moor, S. 195.  Siehe Gillies, Geography of Difference, S. 32. Michael Neill meint auch, dass die Ähnlichkeit zwischen ‚Othello‘ und ‚Othoman‘ nicht zufällig sein könne, weist aber außerdem darauf hin, dass der Name ‚Othello‘, „[…] although rare, did exist in Italian; and Shakespeare may have been influenced in his choice by ‘Thorello’, the name of the jealous husband in the first version of Every Man In His Humour (printed 1601) in which Shakespeare had performed a few years earlier […]“ (Shakespeare, Othello, Kommentar des Herausgebers zu „The Persons of the Play“, S. 193 f.).

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Im zweiten Akt ist turning Turk – ‚zum Türken werden‘ – für Othello noch eine Gefahr, die Zypern und damit der Zivilisation dräut. Sie droht aber nicht, sich seiner zu bemächtigen: „Are we turned Turks, and to ourselves do that/Which Heaven hath forbid the Ottomites […]“ (2.3.161 f.). Am Ende des Dramas kann Othello selbst dieser Gefahr nicht mehr entrinnen.⁴⁰ Othello wird sich selbst fremd. Julia Kristeva zufolge ist der Fremde „weder die kommende Offenbarung noch der direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden. Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst […]“⁴¹. Doch für Othello ist der Fremde in ihm selbst genau dieser „direkte Gegner, den es auszulöschen gilt, um die Gruppe zu befrieden.“ Ihm wird bewusst, dass er seiner Fremdheit und Andersheit niemals völlig entfliehen kann, dass er die Grenze Fremdes/Vertrautes niemals komplett überqueren kann und dass ein dauerhaftes Leben auf der Grenze nicht möglich ist, und begeht Selbstmord. Zum einen hofft er, damit seine Ehre wiederherzustellen. Zum anderen kann man Othellos Selbstmord auch als letzten Akt des Dienens für Venedig interpretieren:⁴² Indem er einen Ungläubigen und Erzfeind Venedigs tötet, unterstützt er Venedig und befriedet die venezianische Gesellschaft. Nicht nur durch diese drei Geschichten zeichnet Othello sein Selbstbild. Ein wiederkehrendes Motiv, das grundlegend für sein self-fashioning als Venezianer ist, ist sein Konzept von sich selbst als Diener des venezianischen Staates, dem aus seinem Einsatz gewisse Rechte erwachsen. Er spricht diesen Beweggrund in der relativ kurzen Szene 1.2 – seinem ersten Auftritt – dreimal an: „My services which I have done the Signory/Shall out-tongue his complaints“ (1.2.18 f.), „and my demerits/May speak unbonneted to as proud a fortune/As this that I have reached“ (1.2.22– 24) und „Not I – I must be found:/My parts, my title, and my perfect soul/Shall manifest me rightly“ (1.2.30 – 32). Dadurch, dass Othello das Bedürfnis hat, seine Dienste in dieser Weise immer wieder zur Sprache zu bringen und damit zu betonen, zeigt sich, dass er weiß, dass er ein Fremder ist. Anders als die Venezianer muss er sich seine Zugehörigkeit erst verdienen und sich ihrer immer wieder vergewissern. So agiert Othello in den Anfangsszenen besonnen und umsichtig. Er fängt zum Beispiel keinen Straßenkampf mit Brabantio und seinem Gefolge an, obwohl er provoziert wird.⁴³ In der Senatsszene gibt er sich

 Vgl. auch Klein, Kartographische Repräsentation, S. 193. Zu einer genauen Analyse von conversion und turning Turk siehe Vitkus, Multicultural Mediterranean, vor allem S. 77– 106.  Kristeva, Fremde, S. 11.  Siehe Neill, Introduction, S. 158.  Ian Smith verweist auf die Ähnlichkeit dieser Szene zu Johannes 18,1– 11: „The nighttime setting; Iago as traitorous friend or Judas-figure; the two groups of officers bearing torches, one sent to locate the Moor; the skirmish between Othello’s faction and the party led by Brabantio only

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äußerst ehrerbietig und zeigt wieder, dass er sich als Diener der Stadt definiert. Die Senatoren sind seine Herren: „Most potent, grave, and reverend signors/My very noble and approved good masters“ (1.3.77 f.). Ein weiteres Motiv, das für Othellos Selbstbild grundlegend ist, ist die Identifikation seiner selbst mit seinem Beruf als Soldat. Auch dieser Topos kommt wiederholt zur Sprache und wird beispielsweise aufgegriffen, als Othello „most humbly“ (1.3.234) sagt: Rude am I in my speech, And little blessed with the soft phrase of peace; For, since these arms of mine had seven years’ pith, Till now some nine moons wasted, they have used Their dearest action in the tented field: And little of this great world can I speak More than pertains to feats of broil and battle; And therefore little shall I grace my cause In speaking of myself. (1.3.82– 90)

Diese Selbsteinschätzung seiner Redeweise trifft, wie ich gleich zeigen werde, nicht zu, doch zeigt sie Othellos Selbstwahrnehmung: Er ist ein Fremder aus dem Land der Barbaren⁴⁴ und ein Soldat, der ungeübt ist in den schönen Künsten.⁴⁵ Othello versteht sich zunächst als Fremder und Venezianer. Dies stellt für ihn keinen Widerspruch dar, doch unter Iagos Einfluss und nach Desdemonas Ermordung sind diese beiden Rollen nicht mehr zu vereinbaren. In Desdemonas Ermordung kommt eine weitere Dimension von Othellos Grenzgängertum zum Vorschein: Ein Grenzgänger kann nämlich auch jemand sein, der sich anders als die anderen verhält und Normen und moralische Grenzen

to be defused by Othello: these recall the moment of Jesus’ arrest in Gethsemane […]. Jesus’ response to Peter’s rash attack on the high priest’s servant – ‘Put your sword away!’ […] is reproduced in Othello’s elegant, stately command: ‘Keep up your bright swords, for the dew will rust them’ […]. Similarly, Jesus’ refusal to hide so that his companions might go free is echoed in Othello’s declaration: ‘Not, I; I must be found/My parts, my title, and my perfect soul/Shall manifest me rightly’ […]. Othello is identified with Jesus, suggesting not only a positive image of virtue epitomized in a ‘perfect soul’, but also a religious affiliation as a Christian convert in Venice“ (Smith, Barbarian Errors, S. 136).Vgl. auch William H. Matchett, der in dem Vers „Keep up your bright swords, for the dew will rust them“ eine Umformung und Verbesserung eines Verses aus King John sieht (Matchett, Shylock, Iago, and Sir Thomas More, S. 217).  Immerhin bedeutet ‚Barbar‘ ja auch ‚der unverständlich Stammelnde‘ (siehe Stichweh, Der Fremde, S. 25; vgl. auch Smith, Barbarian Errors, S. 133).  Vgl. auch Shakespeare, Othello, Kommentar des Herausgebers zu 1.3.82.

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überschreitet:⁴⁶ Othellos Verhalten im zweiten Teil des Stückes wird von seiner monströsen Eifersucht – im Drama treffend „green-eyed monster“ (3.3.169) genannt – gesteuert und deswegen ermordet er Desdemona und bringt sich dann selbst um. Othello ist zu diesem Zeitpunkt des Dramas mehr Monster als Mensch, er handelt animalisch und nicht mehr menschlich. Nicht zuletzt setzt er sich schließlich in seiner letzten Rede unmittelbar vor seinem Selbstmord mit einem Hund gleich: „I took by th’ throat the circumcisèd dog/And smote him – thus“ (5.2.354 f.). Othello überschreitet schließlich die Grenze Mensch/Tier, die ihn Iago sprachlich in seinen Beleidigungen zu Beginn des Dramas bereits überqueren lässt. Auch die Sprache Othellos trägt zu seinem self-fashioning bei. Wie bereits erwähnt, widersprechen seine „weit ausladenden Satzperioden […] die Selbstvertrauen, Ruhe und Kontrolle ausdrücken […] Othellos eigener Behauptung ‚rude am I in my speech‘“⁴⁷. Othello hat im ersten Teil des Dramas keinerlei Probleme, sich auszudrücken. Seine Sprache, die in der Forschung auch Othello music genannt wird,⁴⁸ ist kultiviert, durchdacht und poetisch. Dies liegt an der Verwendung bestimmter Stilmittel und Worte. Er verwendet gezielt Anaphern, wie etwa in seiner Lebenserzählung: „Of moving accidents […] Of hair-breadth scapes […] Of being taken“ (1.3.135 – 137), „And sold to slavery […] And portance in my travailous history“ (1.3.138 f.). Auch das Hendiadyoin, beispielsweise „unhousèd free condition“ (1.2.26) und „corrupt and taint“ (1.3.269), nutzt er oft. Außerdem bedient Othello sich umständlicher Redewendungen. Er nennt seine Augen zum Beispiel „My speculative and officed instruments“ (1.3.268). Seine Wortwahl ist gehoben. Wörter wie portance (1.3.139), antres (1.3.140) oder dilate (1.3.153) bezeichnet das Oxford English Dictionary (OED) als „chiefly poetical“⁴⁹. Iago beschreibt Othellos Sprache als „horribly stuffed with epithets of war“ (1.1.13). Diese Einschätzung ist sehr übertrieben, auch wenn Othellos Sprache sich militärischen Vokabulars bedient. So nennt er Desdemona beispielsweise „my fair warrior“ (2.1.177). Außerdem ist sein Stil im militärischen Kontext ein anderer: Othello redet dort knapp

 Siehe Becker, Demeulenaere u. Felbeck, Einleitung, S. 13; sowie Ißler, Pathologisches und Exzeptionelles, S. 267.  Fielitz, Othello, S. 51.  Die Bezeichnung wurde von George Wilson Knight geprägt, siehe Knight, Othello Music, S. 109 – 135.  Zum Beispiel: OED. † portance, n. http://www.oed.com.emedien.ub.uni-muenchen.de/view/ Entry/148120?redirectedFrom=portance#eid (letzter Aufruf: 28. 3. 2018), vgl. auch Shakespeare, Othello, Kommentar des Herausgebers zu 1.3.82.

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und ist kurz angebunden, wie es von einem Soldaten erwartet wird:⁵⁰ „look you to the guard tonight“ (2.3.1) und „never more be officer of mine“ (2.3.240). In der Frühen Neuzeit war Eloquenz eine wichtige Kategorie für die Konstruktion des intakten Subjekts und stand im Gegensatz zur Barbarei. So erklärt Ian Smith: „Social advancement, status, and power were contingent on […] disciplined linguistic performances […]. England was a performative culture, represented in a relatively small, privileged but authorized group, in the Austinian sense of using language to do something.“⁵¹ Auch Othello nutzt seine Sprache, um etwas zu tun: Er integriert sich mit ihrer Hilfe und präsentiert sich als homo rhetoricus und militärischer Diener Venedigs. Anders als ein Barbar, der unverständlich stammelt, führt Othello mit seiner Sprache cultural whiteness vor.⁵² So wird uns eine paradoxe Figur gezeigt, nämlich der Barbar, der höchst artikuliert ist und sich durch rhetorische Eloquenz auszeichnet. Da seine dunkle Hautfarbe von den Venezianern als fixiertes, unauslöschliches kulturelles Emblem verstanden wird, dient Othello Sprache als notwendiger Nachweis dafür, dass er kulturell nach Venedig gehört. Er webt ein Netz der Eloquenz, das zunächst Desdemona und dann auch den venezianischen Senat einfängt.⁵³ Doch Othellos Sprache verändert sich unter Iagos Einfluss. Je mehr er unter Druck gerät, desto kürzer werden seine Sätze, es mehren sich Fragen und Ausrufe:⁵⁴ „‘Ha’, ‘O misery!’, ‘Dost thou say so?’, ‘Nay, stay, thou shouldst be honest’, ‘Would? nay, I will!’, ‘Death and damnation! O!’“.⁵⁵ Je tiefer Iago in Othellos Bewusstsein dringt, desto mehr passt Othello seine Sprache an die von Iago an. Deswegen erfährt auch seine Bildsprache einen Wandel. Nach der Verführungsszene in 3.3 finden sich Bilder aus der Tierwelt in Othellos Sprache, die stark an Iagos Metaphorik erinnern. In Othellos „Goats and monkeys“ (4.1.255) wird beispielsweise Iagos „as prime as goats, as hot as monkeys“ (3.3.405) hörbar.⁵⁶ Othellos Sprachwandel findet seinen Höhepunkt kurz vor seinem Anfall in 4.1: Othello wechselt von Blankvers zu Prosa. Er ist zu diesem Zeitpunkt der Handlung die einzige Figur, die noch nicht in Prosa gesprochen hat, wodurch diese Um-

      

Vgl. auch Fielitz, Othello, S. 52. Smith, Barbarian Errors, S. 132; Hervorhebung im Original. Siehe Smith, Barbarian Errors, S. 132 f. Siehe Smith, Barbarian Errors, S. 139. Siehe Honigmann, Introduction, S. 79 f. Honigmann, Introduction, S. 80. Siehe auch Fielitz, Othello, S. 53.

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stellung umso auffälliger erscheint.⁵⁷ Seine Sprache besteht nun außerdem zum Großteil aus Wiederholungen einzelner Wörter: Er verwendet beispielsweise in acht Zeilen das Wort lie fünfmal, das Wort handkerchief dreimal und die Wörter confess beziehungsweise confession viermal. Außerdem finden sich verwirrte Fragen („Lie with her? Lie on her? […] Lie with her? […] Handkerchief – confessions – handkerchief?“ [4.1.33 – 35]) und Sätze ohne Syntax: „Pish! Noses, ears, and lips! Is’t possible? Confess? Handkerchief? O, devil!“ (4.1.39 f.).⁵⁸ Nach seinem Anfall erlangt er seine Eloquenz nie ganz zurück. Manchmal scheint sie aber noch durch und hat eine Klimax in Othellos letzter Rede, die ich bereits vorgestellt habe. Othellos Sprachzusammenbruch spiegelt seinen mentalen Zusammenbruch wider. Frühneuzeitlichen rhetorischen Handbüchern wie John Hoskins Directions for Speech and Style (1599) zufolge, stehen mentale Stabilität und rhetorisches Können in einem direkten Zusammenhang:⁵⁹ „Yet cannot his mind be thought in tune whose words do jar, nor his reason in frame whose sentences are preposterous; nor his fancy clear and perfect whose utterance breaks itself into fragments and uncertainties.“⁶⁰ Othello stilisiert sich durch seine eloquente Sprache als Venezianer. Nach Iagos Verführung passt sich seine Sprache seinem verwirrten Selbst an. Othello wird zum unverständlich Stammelnden, zum Barbaren. Weder gebildete Venezianer noch das Publikum können ihn jetzt noch verstehen.⁶¹ Der Othello der ersten Hälfte des Dramas passt ziemlich genau auf Georg Simmels Beschreibung des Fremden. Othello ist eben nicht „der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern […] der [Fremde], der heute kommt und morgen bleibt“⁶². Das Heute ist zu Beginn des Dramas freilich schon vorbei. Othello ist schon länger in Venedig. Außerdem ist er „innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises fixiert […], aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, dass er nicht von vornherein in ihn gehört“⁶³. Dementsprechend könnte man den Ortswechsel von Venedig nach Zypern als einen Aspekt

 Siehe Bradshaw, Misrepresentations, S. 224: „[…] in poetic-dramatic terms that measures the catastrophic descent“ (Hervorhebung im Original).  Siehe Shakespeare, Othello, Kommentar des Herausgebers zu 4.1.33 – 40.  Vgl. auch Smith, Barbarian Errors, S. 131.  Hoskins, Speech and Style, S. 2. Vgl. auch Smith, Barbarian Errors, S. 131.  Vgl. auch Smith, Barbarian Errors, S. 132– 134.  Simmel, Exkurs, S. 509.  Simmel, Exkurs, S. 509.

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der Tragödie von Othello und Desdemona interpretieren.⁶⁴ Ebenso wie der Fremde nach Simmels Bestimmung bringt auch Othello Neues mit sich in die venezianische Gesellschaft. Simmel zufolge trägt der Fremde „Qualitäten, die aus [dem räumlich fixierten Umkreis] nicht stammen und stammen können, in ihn hinein“⁶⁵. Als Beispiel seien hier Othellos – aus venezianischer Sicht – fantastische Erlebnisse aus seiner travailous history genannt. Im Verlauf des Stückes wird deutlich, dass Othello sich unter Iagos Einfluss verändert und nicht mehr der eingegliederte Fremde Simmels ist. Er überschreitet eine weitere Grenze, nämlich die zwischen zwei Typen des Fremdseins und wird durch Iagos Intrige zum Fremden, der „für jede Ordnung ein Fremdkörper“ bleibt, wie Waldenfels ihn beschreibt.⁶⁶ Wie bereits erwähnt, definiert Othello sich stark über seine Rolle als herausragender Soldat im venezianischen Dienst. Diese Identifizierung mit seinem Dienst an Venedig führt zu einer Überidentifizierung: Othello selbst ist „nahezu nichts, das soziale Selbst [ist] nahezu alles […].“⁶⁷ Dies hilft ihm bei seiner Integration. Als er zum ersten Mal aus seiner – ihn bis dahin definierenden – Rolle als Soldat im Dienste Venedigs heraustritt und Desdemona heiratet, als er also die Grenzen verschiebt, fällt es bereits einigen Venezianer schwer, ihn zu akzeptieren. Als er am Ende des Dramas vollständig aus der ihm vorgegebenen Rolle herausfällt, können ihn auch die Obersten Venedigs nicht mehr akzeptieren oder inkludieren. Othellos Leben als Grenzgänger scheitert.

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 Eine ausführliche Interpretation dieses Ortwechsels würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Näheres etwa bei Klein, Kartographische Repräsentation, S. 192 f.  Simmel, Exkurs, S. 509  Waldenfels, Grundmotive, S. 33.  Waldenfels, Topographie, S. 22.

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Manuel Förg, Katharina-Luise Link

Antikes Gedankengut und frühneuzeitliche Kosmologie als Grundlage ärztlichen Handelns Liminalität in Rodrigo de Castros Medicus-politicus (1614)

1 Einleitung An Leben und Werk des 1546 in Lissabon geborenen Arztes Rodrigo de Castro (David Namias) lassen sich in vielfacher Hinsicht Beobachtungen vornehmen, die ihn sowohl biographisch als auch hinsichtlich seines schriftstellerisch-wissenschaftlichen Wirkens als Grenzgänger verschiedener Sphären erscheinen lassen. Als Spross einer alteingesessenen kryptojüdischen Familie gelangte de Castro nach Studienjahren in Coímbra, Évora und Salamanca – wie viele sephardische Juden, die im Laufe des 15. Jahrhunderts vor einem zunehmend judenfeindlichen Klima auf der iberischen Halbinsel geflohen waren – zu Beginn der 1590er-Jahre nach Hamburg, wo er sich rasch einen Namen machen konnte und schließlich eine florierende Praxis in der Nähe der Kirche St. Petri führte.¹ Der Ausbruch einer ansteckenden Epidemie, an der im Laufe des Jahres 1596 immer mehr Personen erkrankten und starben, veranlasste ihn im selben Jahr zur Veröffentlichung seiner Erstschrift, in der er die gegenwärtige Krankheit als ‚Pest‘ definierte und präventive Maßnahmen seitens der Stadtverwaltung zur Eindämmung der Seuche forderte.² Besonders schillernd ist de Castros Umgang mit seiner jüdischen Religion, der zum ersten Mal mit dem Tod seiner Frau Catarina de Castro (Ribka Rodrigues) im Jahr 1602 greifbar wird. Diese war, wie aus einer Erwähnung in seiner frauenheilkundlichen Schrift De universa mulierum medicina (erschienen 1603) hervorgeht, nach der Geburt eines Sohnes an einer Lochienmetra, d. h. ei-

 Zur Biographie Rodrigo de Castros und seinem familiären Hintergrund vgl. Kayserling, Geschichte; Schoeps, Arztfamilie; Studemund-Halévy, Benedictus und Rodrigo de Castro; Studemund-Halévy, Familie de Castro. Die Geschichte der sephardischen Juden in Hamburg, die um das (per Konvention festgelegte) Jahr 1590 begann, ist mittlerweile in einer Vielzahl von Publikationen aufgearbeitet. An dieser Stelle sei exemplarisch auf Böhm, Sephardim und Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon, besonders S. 9 – 48, sowie Schaser, Bürgerrecht, verwiesen.  De Castro, Tractatus brevis de natura et causis pestis, 22 f. https://doi.org/10.1515/9783110605389-012

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nem Stau des Wochenflusses, im Kindbett verstorben.³ Sie wurde auf dem Friedhof der Kirche St. Maria Magdalena bestattet, worüber sich der dortige Pastor beschwerte, der sie des Judentums verdächtigte.⁴ De Castro ließ sich dadurch nicht abhalten, mit den Kirchenvorstehern über den Erwerb einer Grabstätte für sich und seine gesamte Familie zu verhandeln, was ihm 1604 zugestanden wurde, als er schließlich seine Mutter in einem Grab im Chorraum der Kirche bestattete und die Gebeine seiner Frau dorthin umbetten ließ. Im Schreiben des Geistlichen Ministeriums an den Senat vom 13.04.1604 wird diese Praxis insofern kritisiert, als man vom „spanischen Doktor“ Rodrigo de Castro nicht wisse, welcher Religion er und seine Familie angehörten; man sei sich aber sicher, dass er der wahren – d. h. der lutheranischen – Religion nicht angehöre.⁵ De Castro lebte wohl zunächst nach außen hin als Katholik und ließ seine Kinder taufen; dies brachte ihm bisweilen die Kritik von (neidischen) Zeitgenossen ein, die ihm vorwarfen, er gebe sich nur deswegen für getauft aus, um sich Zugang zur Behandlung wohlhabender Patienten zu verschaffen.⁶ Dennoch scheint sich de Castro im Laufe seines Lebens zunehmend deutlich dem Judentum zugewandt zu haben: 1612, als der Hamburger Rat in einem Kontrakt offizielle Niederlassungsbedingungen für Juden aushandelte, firmierten de Castro und seine Familie unter den bereits ansässigen 125 Hamburger Juden, denen im selben Atemzug zugestanden wurde, ihre Toten nach Altona zu bringen; dort entwickelte sich in der Folge ein jüdischer Friedhof, der erst im Jahre 1869 endgültig geschlossen wurde.⁷ Als de Castro im Jahr 1627 starb, hatte er nicht nur für sich selbst verfügt, in Altona bestattet zu werden, sondern auch die Gebeine seiner Frau ein weiteres Mal umbetten lassen; noch heute ist das Grab der Familie de Castro auf diesem Friedhof erhalten.

 De Castro, De universa mulierum medicina, 1603, Bd. 1, lib. 3, cap. 17, S. 98 und de Castro, De universa mulierum medicina, 1603, Bd. 2, lib. 2, cap. 11, S. 300 f.; zu de Castros frauenheilkundlicher Schrift vgl. zuletzt Santos Pinheiro, Medieval Sources; insgesamt lassen sich bis 1689 mehrere Auflagen ermitteln, wobei der Titel in der zweiten, 1617 erschienenen Auflage zu De universa muliebrium morborum medicina geändert wurde.  Dies geht aus dem Protokoll der Oberalten vom 03.07.1602 hervor: Staatsarchiv Hamburg, 611– 3_II A I Nr. 5: Protokoll der Oberalten als Vorsteher des Gottesklosters, später Heiligen-GeistHospitals und Marien-Magdalenen-Klosters 1599 – 1603.  Staatsarchiv Hamburg, 611– 3_II A I Nr. 5: Protokoll der Oberalten als Vorsteher des Gottesklosters, später Heiligen-Geist-Hospitals und Marien-Magdalenen-Klosters 1599 – 1603, Protokoll der Oberalten vom 03.07.1602.  Vgl. Meyer, Geschichte, S. 471; ebenso Schaser, Bürgerrecht, S. 106 mit Anm. 21 (Verweis auf Meyer ebd.).  Zur Geschichte des jüdischen Friedhofs in Altona vgl. Freimark, Jüdische Friedhöfe, S. 118 – 120 (mit kompaktem Überblick über Quellen und Forschungsliteratur).

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Diese hier nur schemenhaft umrissenen ‚Übergangszonen‘ mögen genügen, um die biographische Vielschichtigkeit Rodrigo de Castros zu zeigen. Im Folgenden soll de Castros Haupt- und Spätwerk, die 1614 gedruckte Schrift Medicuspoliticus sive De officiis medico-politicis tractatus im Fokus stehen. Anhand einer Analyse zweier für die Interpretation des Werkes zentraler Elemente – zum einen der Rezeption antiker, insbesondere medizinischer Autoren sowie zum anderen de Castros Konzept der menschlichen Natur anhand seiner Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie – soll der Frage nachgegangen werden, wie der ursprünglich aus der Ethnologie stammende, von Victor Turner für einen Schwellenzustand von Gruppen oder Individuen gegenüber der Sozialordnung geprägte Begriff der Liminalität⁸ für das Verständnis des Medicus-politicus fruchtbar gemacht werden kann. Liminalität wird hier nicht im soziologisch-ethnologischen Sinne verstanden, sondern – im Wortsinne – als Schwellenraum, in dem sich de Castros Werk im Spannungsfeld zwischen antiken, jüdischen und christlichen Autoren entfaltet.

2 Das Werk Medicus-politicus sive De officiis medico-politicis tractatus Rodrigo de Castros Medicus-politicus erschien 1614 beim Verleger Georg Ludwig Frobenius in Hamburg. Auf insgesamt 277 Seiten wird in diesem Traktat das medizinisch-wissenschaftliche Manifest des zu diesem Zeitpunkt auf das Alter von 70 Jahren zuschreitenden Arztes formuliert. Wie aus der praefatio hervorgeht, ist der Medicus-politicus zwei bedeutenden Hamburger Ratsherren, dem Syndicus Vinzenz Moller⁹ sowie dem Bürgermeister Hieronymus Vogeler, gewidmet; Letzterer hatte 1607 eine Reise an den spanischen Königshof unternommen, korrespondierte mit diesem und war offenbar mit den Verhältnissen in Spanien und Portugal vertraut.¹⁰ De Castro fasst sein Anliegen folgendermaßen zusammen: Daher habe ich meine bisherigen Studien zurückgestellt und widme mich der Frage, welche Tugenden der Arzt umarmen und welche Fehler er fliehen soll. Ich gehe nicht auf alle Tu-

 Victor Turner entwickelte seine Gedanken anhand ethnologischer Beobachtungen; vgl. die grundlegende Publikation Turner, Betwixt and Between. Eine konzise Zusammenfassung findet sich in Turner, Liminalität und Communitas. Zur Übertragung von Turners Konzepten der Liminalität auf Körpermetaphern und medizinische Vorgänge vgl. Guldin, Körpermetaphern, S. 168– 174.  Zur Geschichte dieser im frühneuzeitlichen Hamburg einflussreichen Familie vgl. Moller, Familie.  Poettering, Handel, S. 107, mit Verweis auf Kellenbenz, Unternehmerkräfte, S. 21.

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genden und Fehler ein, sondern nur auf die, welche mir für den Arzt speziell wichtig sind. Ich ermahne an reinere Sitten und stelle Regeln auf, die Ärzte einhalten sollen; ich decke manche Betrügereien auf, durch die zweifellos diese unsere Arbeit hassenswert wird.¹¹

De Castros Ziel ist die schriftliche Fixierung korrekten ärztlichen Verhaltens gemäß der ärztlichen Standesethik. Zweierlei Motive werden hierfür benannt: einerseits der öffentliche Nutzen („publica utilitas“), andererseits die ärztliche Ausbildung seiner Söhne, von denen zwei ebenfalls Ärzte wurden.¹² In der Forschung wurde häufig die offensichtliche Assoziation des politisch tätigen bzw. um das Gemeinwohl besorgten, engagierten Arztes betont und auf die biographischen Umstände des in Hamburg auch um gesellschaftlich-politische Anerkennung ringenden de Castro bezogen.¹³ Im ersten der insgesamt vier Bücher umfassenden Schrift werden unterschiedliche Schulen der Medizin und ihre Herkunft beschrieben; ebenso wird das Fach der Medizin innerhalb der Wissenschaften verortet. Das zweite Buch handelt von den wissenschaftlichen Disziplinen, die ein idealer Arzt beherrschen müsse. Im umfangreichsten dritten Buch thematisiert de Castro ausführlich Cautelen, deren Berücksichtigung dem Arzt von Nutzen ist – etwa bezüglich der Visite, der Harnschau oder der Prognose. Das vierte und letzte Buch wirkt prima vista wenig kohärent: Es handelt von der Praxis der Liebestränke, von Zauberei, beschreibt Makro- und Mikrokosmos, ferner werden gutachterlich-forensische Aufgaben des

 De Castro, Medicus-politicus, praefatio, o. Seite: „Itaque orsus ab ejusdem studiis, et genere disciplinae, ad medico virtutes amplexandas, fugiendaque vitia me confero: nec tamen in omnes virtutum, aut vitiorum locos egredior, sed in eos duntaxat, qui maximè videntur medicis peculiares: tunc deinde mores candidiores moneo, et statuta medicis servanda propono, ac fraudes detego quorundam, quibus haud dubiè odiosus noster hic labor erit.“ Sämtliche Übers. stammen (mit leichten Modifikationen) von Franz J. Schmidt.  De Castro, Medicus-politicus, praefatio, o. Seite: „Porro id in hac jam ingravescente aetate mihi faciendum putavi, tum ut publice utilitati consulerem, tum quia liberos habeo, quos in eadem professione, Deo auxiliante, erudiri decrevi.“ Einer der Söhne, Benedictus de Castro (Baruch Namias; 1597– 1684), musste sich in den 1630er-Jahren heftiger Ressentiments gegen jüdische Ärzte erwehren, woraufhin er unter dem Pseudonym Philotheo Castello eine wütende Replik formulierte.  Zu den Bezügen zum jüdisch-hispanischen Hintergrund vgl. David-Peyre, Medicus Politicus. In der jüngeren Forschung wurde der Fokus stark auf das von de Castro formulierte Arztideal gelegt; vgl. Arrizabalaga, Medical Ideals, besonders S. 109 – 115. Zum Ideal des Arztes bei de Castro vgl. ferner Eckart, Medicus Politicus sowie Eckart, Anmerkungen; Barbara Elkeles konnte im Vergleich mit anderen Werken ärztlicher Standesliteratur zeigen, dass in de Castros Schrift „die Themen und Topoi der deontologischen Literatur wohl am vollständigsten dargestellt sind“ (Elkeles, Arzt, S. 134). Zuletzt hat Mariacarla Gadebusch Bondio den politischen Anspruch de Castros herausgearbeitet; vgl. Gadebusch Bondio, Arzt.

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Arztes erörtert.¹⁴ Das Schlusskapitel bildet schließlich ein Exkurs zur Nützlichkeit der Musik bei der Therapie.¹⁵ Dennoch lässt sich ein Konnex zwischen den einzelnen Kapiteln ermitteln: In den Makro-und Mikrokosmos-Analogien offenbart sich ein Konzept der menschlichen wie göttlichen Natur, deren Kenntnis es dem Arzt ermöglicht, wirksame Therapien, etwa eine auf analogen kosmischen Prinzipien basierende Musiktherapie, durchzuführen. Genuine Voraussetzung dieser Erkenntnismöglichkeit ist wiederum die intime Kenntnis zentraler Werke der Medizin, insbesondere der antiken Autoritäten, denen de Castro in differenzierter Darstellung Raum gewährt.¹⁶

3 Die ideale Bibliothek des Arztes Im zweiten Buch findet sich zwischen der Präsentation der für einen Arzt fundamentalen Disziplinen, beispielsweise Dialektik, Anatomie, Kräuterkunde oder auch Philosophie, ein Kapitel über den literarischen Kanon des idealen Arztes, den dieser in einer Privatbibliothek besitzen und am besten auswendig beherrschen solle.¹⁷ Einleitend mahnt de Castro: Wer als künftiger Arzt an der Schwelle zur Kunst der Medizin steht und nach Anrufung Gottes zum Gipfel der Medizin zu kommen sich bemüht, darf sich nicht beliebigen Autoren zuwenden, sondern nur, wie schon gesagt, den anerkanntesten. Diese aber sind jene, die eine lange Reihe von Jahren bestätigt hat, Griechen, Lateiner und Araber. Davon werden die Griechen als Eltern der ganzen bei uns existierenden Medizin angesehen, insofern sie diese erfunden, gefördert, geschmückt und auf bewundernswerte Weise vervollständigt haben.¹⁸

 Dieser Aspekt des Werkes wurde in der Forschung bereits thematisiert (vgl. z. B. Schleiner, Medical Ethics, S. 73), jedoch noch nicht erschöpfend hinsichtlich seiner Wirkmächtigkeit, etwa auf die de Castro zitierenden Quaestiones medico-legales des Paolo Zacchia (9 Vol., 1621– 1651), untersucht.  Vgl. hierzu David-Peyre, Medicus-Politicus.  Dabei nennt er – im Idealfall – die Quelle eines Zitates mit mehreren Angaben (Autor, Werk, Buch/Kapitel) im Text oder in der Randglosse. Häufig führt er jedoch nur eine Angabe an oder lässt sie ganz weg; mitunter paraphrasiert er auch nur ohne seine Quelle anzugeben.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 84– 92; Titel: „Quinam auctores sint evoluendi, et qualis debeat esse medici bibliotheca“, zu deutsch: „Welche Autoren zu wälzen sind und wie die Bibliothek eines Arztes beschaffen sein soll“. Vgl. hierzu die summarischen Vorarbeiten von Arrizabalaga, Medical Ideals, S. 118 f.; Cardoso, Biblioteca.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 84: „Sistat se jam oportet in artis medicae limine futurus medicus, et divino numine implorato si ad summum medicinae fastigium pervenire contendit, non quoslibet scriptores amplectatur, sed (uti diximus) probatissimos: Ii verò illi sunt, quos longa temporum series approbavit, Graecos, Latinos, atque Arabes: quorum Graeci totius

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De Castro rekurriert auf einen etablierten Kanon medizinischer Literatur, der seine Legitimation aus dem Alter der Schriften speist, die in diesem langen Zeitraum auch nicht (gänzlich) widerlegt wurden (die Schriften der ältesten von ihm zitierten Griechen sind 1614 bereits über 2.000 Jahre alt!).¹⁹ Den Griechen räumt er dabei die Vorrangstellung der europäischen Medizin ein. Dies ist chronologisch richtig und darüber hinaus lag die antike Medizin auch nach Hippokrates und seinen Schülern im Hellenismus, in der Römischen Kaiserzeit und der Spätantike fast ausschließlich in den Händen gebürtiger Griechen. Dessen ist sich de Castro durchaus bewusst, wie die nun folgende Aufzählung²⁰ der seiner Ansicht nach unentbehrlichen Griechen (im Sinne von Griechisch Schreibenden) zeigt. Er nennt Hippokrates, Platon, Aristoteles, Theophrast von Eresos, (Pedanios) Dioskurides,²¹ Galen,²² Aretaios von Kappadokien, Oreibasios von Pergamon, Alexander von Tralleis, Paulos von Ägina, Aëtios von Amida sowie Johannes Zacharias (Aktuarios).²³ Von diesen zwölf Gelehrten hebt er Hippokrates und Galen besonders hervor.²⁴ Nach einer äußerst knappen Paraphrasierung ihrer Leistung gipfelt sein Lob in der Aussage: „Wenn wir es genau nehmen, brauchten wir nur Galen und Hippokrates als medizinische Autoren zu erwähnen.“²⁵

medicinae, quae apud nos extat, parentes censentur, quippè qui illam invenerunt, provexerunt, ornârunt ac miru(m) in modum locupletârunt.“  Cardoso, Biblioteca, S. 161.  Eine chronologische Übersicht der aufgezählten griechischen, lateinischen und arabischen medizinischen Autoren findet sich in der Appendix. Für Details zu Leben und Werk der Ärzte und Autoren sei auf die Artikel in Leven, Antike Medizin und die dort angegebene weiterführende Literatur verwiesen.  De Castro spezifiziert hier nicht, welchen Dioskurides – noch dazu in abgekürzter Form – er meint. Da er jedoch in seiner thematischen Ordnung im Bereich Herbaria einen Dioskurides anführt (S. 88), dürfte er Pedanios Dioskurides meinen, dessen „Arzneimittellehre das wichtigste Zeugnis antiker Pharmazie darstellt.“ Vgl. Stamatu, Dioskurides.  Möglicherweise kannte de Castro die Originaltexte samt den lateinischen Übersetzungen aus dem Original, die nicht den Umweg über die arabische Rezeption genommen hatten; zu erstgenannten zählt die sogenannte Aldine, eine bei Aldus Manutius in Venedig erschienene Übersetzung des Niccolò Leoniceno, die auch in der Bibliothek der Universität Salamanca vorhanden gewesen sein dürfte. Im Gegensatz dazu war die Universität von Toledo zu dieser Zeit noch der griechisch-arabistischen Tradition verpflichtet. Vgl. hierzu Baader, Galen.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 84: „Hipp. dico. Platon. Arist. Theoprast (sic!). Diosc (sic!) Galen. Aret. Oribasiu(m). Alexand. Trallan. Paul. At(que) Aetium, et ex rece(n)tioribus, Actuarium.“ Für eine Übersicht der Lebensdaten s. Appendix.  Dies entspricht dem neo-hippokratischen Trend der Medizin in der Renaissance, in dessen Tradition auch der Medicus-politicus steht; vgl. auch Giglioni, Reality and Metaphors, S. 49 f.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 85: „et si rectè loqui velimus, Galenum tantùm at(que) Hipp. medicinae auctores debeamus appellare.“

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Im Folgenden nennt er die seiner Meinung nach wichtigsten lateinischen Autoren, sechs an der Zahl, nämlich Celsus, Scribonius Largus, Plinius den Älteren, Quinctius Serenus Sammonicus (auch Quintus Serenus genannt), Caelius Aurelianus sowie Theodorus Priscianus.²⁶ De Castros Selektion ist thematisch sehr breit, da neben Celsus’ und Plinius’ allgemeinen bzw. historisierenden Abrissen mit den Werken des Scribonius Largus und des Quinctius Serenus Sammonicus zwei Rezeptsammlungen stehen. Die spätantiken Autoren Caelius Aurelianus und Theodorus Priscianus wiederum rekurrieren auf Werke des Soranos von Ephesos. De Castro räumt wegen seiner „einzigartigen und gerüsteten Lehre“ Celsus „den ersten Platz“ unter den Lateinern ein, die ihm den „Namen eines lateinischen Hippokrates“ eingetragen habe.²⁷ Die moderne Forschung schätzt das Werk des Celsus vor allem wegen seiner Verweise auf die wenig überlieferte hellenistische Medizin, hält ihn aber weder für einen Arzt noch für einen medizinischen Fachautor, sondern für einen Enzyklopädisten, da seine medizinischen Abhandlungen die einzigen erhaltenen Bücher einer mindestens 26 Bücher umfassenden Enzyklopädie über diverse Themen sind.²⁸ Der spätantike Theodorus Priscianus wird heutzutage nicht zum literarischen Kanon antiker Medizin gezählt, sondern ist weitgehend unbekannt. Angesichts anderer lateinischsprachiger, auf dem medizinischen Feld tätiger Autoren verwundert de Castros Entscheidung, ihn in den Kreis der anerkanntesten Autoren aufzunehmen. Theodorus Priscianus’ therapeutisches Lehrbuch Euporista wurde erstmals 1532 vom Baseler Verlag Froben herausgegeben.²⁹ Ein Spross der Familie Frobenius, die wohl ursprünglich im Fränkischen heimisch war, ließ sich schließlich in Hamburg nieder. Dieser Verleger, Georg Ludwig Frobenius,³⁰ gab 1603 die Hamburger Ausgabe von de Castros Erstlingswerk De universa mulierum medicina und elf Jahre später die erste Ausgabe des Medicus-politicus heraus. Möglicherweise war de Castro aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehung der Verlagshäuser mit dem Werk des Theodorus Pricianus besonders vertraut und sprach ihm solche Bedeutung zu.

 De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 85: „Ex latinis medicinae scriptoribus commendantur inprimis Cornelius Celsus, Scribonius Largus, Plinius Secundus, Quintus Serenus, Caelius Aurelianus, Theodorus Priscianus […].“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 85: „[…] inter quos Celsus primum sibi vendicat locum, propter singularem et succinctam doctrinam, quae ipsi Latini Hippocratis nomen dedit.“  Vgl. Oser-Grote, Celsus; Sallmann, Celsus.  Der Verlag wurde von Johann Froben 1491 gegründet und nach seinem Tod 1527 von seinem Sohn Hieronymus Froben fortgeführt. Dieser verlegte die Werke mehrerer antiker Autoren, z. B. von Plinius d. Älteren.  Beneke, Georg Ludwig Frobenius.

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Die Aufzählung der arabischen Autoren umfasst Avicenna (= Ibn Sina), Averroes, Rhazes, Avenzoar (= Ibn Zuhr), Mesue (= Johannes Mesue senior) und Johannes Serapion.³¹ Dabei weist de Castro keinem von diesen eine herausgehobene Stellung zu; aus seinen folgenden Ausführungen zu den Kritikern der arabischen Medizin könnte jedoch eine gewisse Präferenz von Avicenna herausgelesen werden. Dabei gerät das normative Ideal der antiken Medizinschriftsteller und allen voran Galens erstmals ins Wanken. Nachdem er sich allgemein gegen die Kritiker der arabischen Medizin gewandt³² und postuliert hatte, dass auch diese des ewigen Gedächtnisses („aeterna memoria“) würdig sei, schreibt er: Wir sind nicht so sehr der einzigen Autorität des Galen verhaftet, dass wir auf seine Werke schwören möchten wie jene es tun, die alle Araber als Barbaren verachten. Die wahren Philosophen und Ärzte müssten doch soviel Freiheit haben, dass sie nach Art der Affen sich von allem das Beste aussuchen könnten. Es gibt nämlich Leute, die sagen, es sei gleich, ob jemand Grieche, Araber, Jude oder Lateiner sei, Hauptsache, dass er die Wahrheit sage, denn sie lehren nicht Religion, sondern Medizin.³³

Die „Freiheit der Wissenschaft“ schließt nach de Castro auch die in diesem Kapitel erstmals erwähnten Juden ein. Die Positionierung jüdischer Ärzte dürfte de Castro nicht intentionslos vorgenommen haben; vielmehr dürfte er ‚die Juden‘ bewusst angeführt haben, um den zu dieser Zeit – nicht nur in Hamburg – gegenwärtigen antisemitischen Ressentiments, die auch jüdische Ärzte nicht verschonten, zu begegnen.³⁴ Trotz seiner Wertschätzung der galenischen Leistungen und dessen umfangreichen Werkes, vom dem de Castro eine Selektion trifft,³⁵ und des zunächst uneingeschränkten Lobes mahnt er zur Vorsicht im Umgang mit Galens Thesen. Etwas widersprüchlich zur einleitend formulierten Gültigkeit der ‚Alten‘ ist sich de Castro sehr wohl der Tatsache bewusst, dass Galens Thesen überholt sein können:

 De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 85: „Arabum insuper scriptorum usus est valde necessarius, Avicennae inprimis, Averrois, Rhazae, Abenzoaris, Mesuae, et Serapionis, qui potissimum commendandi sunt, tùm ab optimâ doctrinâ, tùm à rebus multis, at(que) optimis medicamentis, quorum nobis auctores extiterunt.“  S. auch Cardoso, Biblioteca, S. 163.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 85 f.: „Non igitur ita unius Galeni auctoritati simus addicti, ut in ejus verba jurare videamur, quod faciunt ij, qui omnes Arabes ac barbaros contemnunt: siquidem veris philosophis ac medicis ea libertas esse debeat, ut apum more optima quae(que) eligant. Perinde enim est, quis dixerit, sive Graecus, sive Arabi, sive Hebraeus, sive Latinus fuerit, modo verum dixerit: non enim religionem docent, sed medicinam.“  Vgl. hierzu Arrizabalaga, Medical Ideals, S. 123 f.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 86 f.

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Galen sei nicht unfehlbar, sodass es durchaus sein könne, dass seine Thesen später widerlegt wurden.³⁶ Galens Erkenntnisse seien als Produkte seiner Zeit und der Anlässe zu werten. Die Neigung Galens, aber auch anderer (antiker) Autoren, Andere zu widerlegen und zu schmähen,³⁷ solle man zurückweisen und dem nicht weiter Beachtung schenken.³⁸

An dieser Stelle wird deutlich, dass de Castro den Vätern der antiken Medizin, allen voran Galen, unbestritten eine normative Funktion verleiht, aber gleichzeitig die Liminalität zwischen der Antike und seiner Gegenwart erkennt und betont. In dieser liege ein teils beträchtlicher Erkenntnisgewinn, der die in der Antike gelegten Grundlagen vertieft. Dies korrespondiert mit der zeitgenössischen Beurteilung insbesondere Galens.³⁹ An diesen chronologischen bzw. historischen Abriss schließt de Castro eine thematische Kategorisierung antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher, also mehr oder minder zeitgenössischer, Autoren an. Hierzu zählen u. a. Anatomie, Chirurgie, Kräuterkunde, Naturgeschichte und spezielle Krankheiten.⁴⁰ Die Phi-

 Dies gilt insbesondere für anatomische Erkenntnisse, die Andreas Vesal durch seine Beteiligung an Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische (im Gegensatz zum arabischen Umweg) als Veterinäranatomie entlarven konnte und damit auch die Erkenntnisse seiner eigenen Lehrer revidierte (Baader, Galen, S. 214).  Galen ist beispielsweise bekannt für das Diffamieren der Anhänger der medizinischen Schule der Methodiker oder zeitgenössischer Ärzte.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 87 f.: „primum (quod supra innuimus) ne existimet quispiam, Galenum nunquam falli, et propterea in ipsius verbis quasi oraculis jurandum esse, si praesertim à posteriore aliquo auctore solidis rationibus id elevatur, de quo agitur. Alterum ne deterreatur medicus, quotiescunque animadvertit, Galenum sibi contraria scribere, qui enim variis temporibus at(que) ob varias occasiones tot scripsit, in quibusdam sibi interdum contrariari necesse est: quo in casu exploranda semper erit potior ac verior ipsius sententia, quaeque pluribus in locis legitur, et rationi magis consona videtur. Tertiò rejicienda semper esse pleraque convicia, et acerbiora verba, ac inutilia, in quae plerumque prolabitur, alios refutandi libidine at(que) pruritu, quo fere semper laborâsse videtur: quod in cunctis scriptoribus rejiciendum semper est, et peregrina theoremata opinionesvè, si quae apud ipsos reperuntur.“  Baader, Galen, S. 214 (ähnlich S. 226): „[…] Zeugnisse einer humanistischen Beschäftigung mit Galen im Abendland, die durch die neue, nämlich differenziertere und kritische Haltung gegenüber dem Werk dieses Autors den Weg zur Ablösung der Autorität der Alten, also auch der Galens, durch die Autorität der Natur frei machte.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 88 – 90. A. Cardoso weist darauf hin, dass de Castros Aufzählung Mängel aufweise, wie das Fehlen von Fabricio d’Aquapedente oder von Garcia de Orta zeige (Cardoso 2012, 164 f.). Letzterer wird von de Castro zwar nicht im Kontext der idealen Bibliothek genannt, aber er erwähnt ihn an anderer Stelle: de Castro, Medicus-politicus, lib. 3, cap. 22, S. 194.

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losophie, die er zuvor als für den idealen Arzt wichtige Disziplin hervorgehoben hatte,⁴¹ fehlt in dieser Kategorisierung. Neben Studium und Kenntnis der medizinischen Fachliteratur sei es aber für den Arzt aus zweierlei Gründen ebenso notwendig, allgemein literarisch bewandert zu sein, zum einen, um allgemein die Medizin zu bereichern, zum anderen, um auch durch seine Gelehrsamkeit den häufig von hochrangigen und gelehrten Personen umgebenen Patienten zu gefallen.⁴² Diese allgemein bildende Literatur scheidet er in drei Bereiche, nämlich Dichtung, Ackerbau und Geschichte, wobei er Letztere wiederum in antike und neuere Geschichte unterteilt. Als unentbehrliche Dichter nennt er Homer, Vergil und Lukrez;⁴³ für den Bereich Ackerbau führt er Cato den Älteren,Varro, Palladius und Columella an.⁴⁴ Zu den wichtigsten antiken Geschichtsschreibern zählt de Castro Herodot, Strabon, Diodoros Siculus, Livius, Tacitus, Justin und Plutarch.⁴⁵ Es folgt eine Aufzählung der seiner Ansicht nach wichtigsten Vertreter der neueren Geschichte, die Werke über bestimmte Völker bzw. Länder verfassten, nicht zuletzt über die Neue Welt. Die Auflistung wird von einem Verweis auf das Buch der Könige sowie die Makkabäerbücher beschlossen: [E]t ex neotericis Thuanus de historia Gallica,⁴⁶ Ioannes Mariana de Hispanica,⁴⁷ Saxo Grammaticus de Danica,⁴⁸ Sleidanus de Germanica,⁴⁹ Tracagnota de Italica,⁵⁰ Emanuel Meteranus de Belgica,⁵¹ Paulus Jovius de rebus Turcicis,⁵² Petrus Bizarus,⁵³ et Ioannes

 De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 1, S. 53 – 57.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 91: „Sunt insuper alii autores, ad quos divertere interdum liceat, non uti civi, sed veluti peregrino. […] Quibus succisivis horis operam dare erit utilissimum, tùm ad ornandam ditandam(que) medicinae facultatem, tùm ut apud aegros, quibus praesunt interdum viri principes, consulares, aut litterati, ea, quae olim contigêre, hodiernis actionibus possis accommodare.“  Homer: spätes 8. Jh. v. Chr., Ilias und Odyssee; Publius Vergilius Maro: 70 – 19 v. Chr., v. a. für die Aeneis bekannt; Titus Lucretius Carus: 1. Jh. v. Chr., De rerum natura.  Marcus Porcius Cato (der Ältere): 234– 149 v. Chr., De agri cultura; Marcus Terentius Varro: 116 – 27 v. Chr., Rerum rusticarum libri III; Palladius Rutilius Taurus Aemilianus: Ende des 4. oder 5. Jh. n. Chr., Opus agriculturae; Lucius Iunius Moderatus Columella: 1. Jh. n. Chr., De re rustica.  Herodot: ca. 485 v.Chr. – ca. 424 v.Chr.; Strabon: ca. 62 v.Chr. – ca. 24 n.Chr.; Diodoros Siculus: 1. Jh. v.Chr.; Titus Livius: 59 v.Chr.–17 n.Chr.; Cornelius Tacitus: ca. 55 n.Chr. – ca. 120 n.Chr.; Marcus Iunianius Iustinus: spätes 3./frühes 4. Jh. n.Chr.; Plutarch: ca. 45 n.Chr. – ca. 120 n.Chr.  Jacques-Auguste de Thou (1553 – 1617).  Juan de Mariana (1536 – 1624).  Saxo Grammaticus (ca. 1140 – ca. 1220).  Johannes Sleidanus (1506 – 1556).  Michele Giovanni Tracagnota (1508 – 1566).  Emanuel van Meteren (1535 – 1612).  Paolo Giovio (1483 – 1552).  Pietro Bizzarri (1525 – 1586).

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Thomasius Minadous⁵⁴ de historia Persica, Barrus,⁵⁵ et Petrus Maffeus⁵⁶ de Indica, ne non Damianus de Goes,⁵⁷ et Petrus Martyr,⁵⁸ Michael Neander⁵⁹ de populis septentrionalibus, Iosephus de historia Iudaica: et novi orbis historia à variis autoribus scripta ac relationes universales Ioannis Boteri,⁶⁰ inprimis verò historia Regum et Machabaeorum.⁶¹

Aus dieser Aufzählung sticht „Iosephus de historia Iudaica“ hervor. Bei diesem handelt es sich um einen antiken Historiker, nämlich den im 1. nachchristlichen Jahrhundert lebenden Flavius Iosephus.⁶² Dieser passt zwar thematisch zu Abhandlungen über verschiedene Völker und Länder, doch chronologisch fällt er völlig aus der Reihe. Eventuell platzierte de Castro diesen jüdischen Autor, dessen Werke sich fast ausschließlich mit der Geschichte der Juden unter Fremdherrschaft befassten – Iosephus selbst wurde im Jüdischen Krieg unter Kaiser Vespasian gefangen genommen –, absichtlich an dieser Stelle. Durch die chronologische Inkongruenz musste „Iosephus de historia Iudaica“ dem gebildeten Leser ins Auge stechen; zudem könnte er damit erneut auf die aktuelle Situation der Juden in Europa angespielt haben. Hierzu passt auch die Nennung der Makkabäerbücher am Ende seiner Aufzählung, die eigentlich nur „neoterici“ beinhalten sollte: Das Sujet der Makkabäerbücher, in denen die Auflehnung der Juden im 2. Jahrhundert v. Chr. gegen die den Römern in Judäa vorangegangene Herrschaft der Seleukiden beschrieben wird, deckt sich in Teilen mit Flavius Iosephus’ Werk. De Castro schließt das Kapitel mit Hinweisen dazu ab, wie die Menge an medizinischer und allgemeinbildender Literatur zu lernen und im Gedächtnis zu behalten sei.⁶³ Essentiell seien hierfür drei Dinge: Erstens solle der angehende Arzt ein doppeltes Tagebuch führen, in das er zum einen die „loci communes medicinae“, zum anderen Sentenzen der übrigen Autoren eintragen sollte. Zweitens soll man diese Notizen häufig lesen, damit sie durch stete Wiederholung ins Gedächtnis eingehen. Und drittens – um diesen Effekt zu verstärken – solle man sich auch häufig mit anderen über die notierten Schlüsselstellen unterhal-

 Giovanni Tommaso Minadoi (1540/45 – 1615/18).  João de Barros (1496 – 1570).  Giovan Pietro Maffei (1533 – 1603).  Damião de Góis (1502– 1574).  Petrus Martyr von Anghiera (1457– 1526).  Michael Neander (1529 – 1581); vgl. Hoche, Michael Neander. De Castro meint vermutlich den Mediziner und Polyhistor, nicht den gleichnamigen und zeitgenössischen Pädagogen.  Giovanni Botero (ca. 1544– 1617).  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 91.  Für einen knappen Überblick zu Flavius Iosephus (37/38 – 100 n.Chr.) s. Wandrey, Iosephos Flavios.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 2, cap. 9, S. 91 f.

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ten. Angesichts der zahlreichen ein paar Wörter oder Verse umfassender Zitate beispielsweise antiker Dichter im Medicus-politicus ist leicht vorstellbar, dass de Castro selbst ein solches Tagebuch angefertigt hatte, aus dem er zitierte.

4 Das Konzept des Mikro-, Meso- und Makrokosmos im Medicus-politicus De Castros umfangreiche Bildung schlägt sich insbesondere in seinen Überlegungen zur Analogie eines gesunden menschlichen Körpers mit einem wohlgeordneten (Stadt‐)Staat und dem gesamten Kosmos nieder.⁶⁴ Diese führt er in Kapitel 4– 6 des letzten Buches des Traktats aus. Das relativ abrupt einsetzende vierte Kapitel führt die Überschrift „Corpus humanum miram cum coelo ac mundo inferiori similitudinem obtinere“ („Der menschliche Körper besitzt eine wundersame Ähnlichkeit mit dem Himmel und der unteren Welt“).⁶⁵ Bereits eingangs postuliert de Castro, der Körper trage das schönste Bild der gesamten unteren und oberen Natur in sich, sodass sich im menschlichen Mikrokosmos der gesamte Makrokosmos spiegle.⁶⁶ Dieser aus der Antike bekannte und vielfach rezipierte Topos wird mit jüdischer Mystik verknüpft: In der Kabbalistik dominiere die Auffassung, der Mensch sei nach dem Bild der Welt gemacht worden.⁶⁷ Anschließend wechselt er in die Zahlensymbolik, mit der unterschiedliche Qualitäten verbunden werden. Seine erste Referenz ist die Zahl Vier: Es gebe in der niederen Welt beispielsweise vier Elemente, vier Säfte, vier Lebensalter, vier Teile des Tages, vier Jahreszeiten oder vier Winde. Die folgende Aufzählung von Analogien orientiert sich ebenfalls am „mundus inferior“: Unsere Körpermasse („corporis moles“) repräsentiere den Erdenglobus, ihre Haare und Haut seien mit verschiedenen Farben geschmückt, was in der Natur Blumen und Kräutern entspreche; die Muskeln seien die Gebirge; die Leber, von der die Venen entsprängen, ähnelten Flüssen und Meer, die Knochen den Felsen, die Harnblase einer Quelle; ebenfalls seien im menschlichen Körper Mineralien wie Salz und Quecksilber

 Zur Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie in der Frühen Neuzeit und ihren antiken Vorbildern vgl. allgemein Norford, Microcosm; Finck, Minor Mundus; speziell zu de Castro vgl. Gracia Guillén, Judaísmo, S. 384; Giglioni, Reality and Metaphors, S. 53 – 56.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 4, S. 231– 235.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 4, S. 231: „Nam et corpus nostrum universae superioris ac inferioris naturae imaginem pulcherrimam sustinet, ac prae se fert, ita ut in exiguo hoc microcosmo totus vastissimus lateat macrocosmus.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 4, S. 231: „Censent enim Cabalaei ad mundi imaginem hominem factum esse.“

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vorhanden. De Castro wechselt die Bezugsgrößen von einzelnen Organen und Körperteilen hin zum gesamten Menschen sowie auf eine wissenschaftliche Referenzebene: Dieser ähnele – nach nicht näher präzisierten „Philosophen“ – einem umgekehrten Baum („arbor inversa“), dessen Wurzeln den Nervenbahnen entsprächen.⁶⁸ Das Bild der „arbor inversa“ geht im Kern auf Platon und Aristoteles zurück und war unter anderem dem berühmten portugiesischen Arzt Petrus Hispanus vertraut.⁶⁹ Neben dem „mundus inferior“ findet auch der Himmel Entsprechung im menschlichen Körper. De Castro präzisiert zunächst seine Kosmologie: Die Planeten seien von einer doppelten Bewegung charakterisiert: eine universelle, die von Sonne und Mond gesteuert wird, und eine (planeten‐)spezifische. So sei es auch im menschlichen Körper: Das Herz – gleichgesetzt mit der Sonne – durchströme aus der Mitte der Brust mit seiner natürlichen Wärme („nativus calor“) alle über- und untergeordneten Körperglieder; das Gehirn hingegen entspreche dem Mond und mäßige und modifiziere gegebenenfalls überschüssige Wärme.⁷⁰ Das zugrunde liegende Modell, das enge Parallelen zu Paracelus’ (den de Castro an anderer Stelle scharf kritisiert) Analogien von Makro- und Mikrokosmos aufweist, wird konsequent weiterentwickelt: Es werden die seit Galen geläufigen Vorstel De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 4, S. 232: „Tota verò corporis moles globum hunc terrestrem repraesentat: extima enim cutis, pilis et variis coloribus ornata, ipsius terrae superficiem floribus et herbis circumvestitam: musculi montium cacumina: et quid similius cum mari, in quod flumina omnia tendunt, aut ab ipso derivantur, quam jecur, à quo omnes venae oriuntur, et per universum corpus disseminantur, ut ab iis singulae partes nutrimentum suscipiant, non aliter quam à fluminibus terra irrigata, humore(que) perfusa, quaecunque in ipsa producuntur, vegetantur ac nutriuntur: ossa tibi pro lapidibus sunt: fons vesica: et si Chymicis credas, nec mineralia in homine desunt, sal, mercurius, ac sulphur: universus verò homo arbori inversae à Philosophis assimilatur, cum cujus radicibus nervi magnam similitudinem habere videntur: denique ut in terrae globo insensibilia sunt, viventia et sensitiva, ac locomotiva, ita quidem in homine naturales facultates in singulis partibus corporis: vegetativa verò in jecore ac venis: in cerebro sensitiva et locomotiva.“  Vgl. Platon, Timaios, 90a–b; Aristoteles, De longitudine et brevitate vitae, 6 (467b1– 2); bei Petrus Hispanus findet sich diese Aussage in einer Passage aus seinem Kommentar zu Aristoteles’ De animalibus. Vgl. Petrus Hispanus, Questiones super libro de animalibus, fol. 272rb und 277ra.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 4, S. 232 f.: „Ut insuper Solis calor terram, ita nativus calor humanum corpus vegetat ac fovet: Utque ille terrae omnes facultates ad actiones praeparat, et excitat, ita hic corporis humani vires omnes facit, ut in actionem producantur: et ut Sol militae coelestis dux est, ac semper juvenis, semperque renascens, motu suo cuncta perfundit; ita cor humanum totius coproris columen est, et pulsante vitalique facultate tam subjectas quàm superpositas partes perfundit atque modificat: sicut quemadmodum illius motu mundus carere non potest; ita neque arteriarum humanum corpus: Utque illius caloris praesentia rebus terrestribus confert, absentia nocet; ita praesentia spiritus vitalis corpori nostro commoda est, absentia valde nociva: utque Solis aestum temperat Luna.“

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lungen des „spiritus vitalis“ (Herz) und „spiritus animalis“ (Gehirn) angeführt, die wie Strahlen von Sonne und Mond auf die verschiedenen Organe und Glieder des Körpers verteilt werden. Im anschließenden fünften Kapitel⁷¹ wird erneut eine modifizierte, da breiter angelegte Analogie entworfen, die in Anlehnung an die Spätantike auf jüdischkabbalistische Traditionen oder auch auf Avicennas/Ibn Sinas Vorstellungen rekurriert: De Castro greift das Modell eines dreigeteilten Universums auf, das sich im menschlichen Körper wiederfinde: Dabei entspreche – bildlich von oben nach unten – erstens die Sphäre Gottes und der Engel dem Kopf, zweitens die himmlische Sphäre dem Bereich vom Kinn bis zum Nabel, sowie drittens die sublunare Sphäre, d. h. die irdische Welt, dem Körperabschnitt vom Nabel bis zu den Füßen.⁷² Dieselbe Dreiteilung finde sich auch in der Vorstellung des biblischen (Jerusalemer) Tempels, der in das unreine Atrium (sublunare Sphäre), die Aula (himmlische bzw. heilige Sphäre) und das Adyton (Sphäre Gottes und der Engel) geschieden werden könne. De Castro widmet diesen unterschiedlichen und (nur zum Teil systematisch) ausgeführten Analogien zwischen dem Körper des Menschen – Mikrokosmos – auf der einen Seite und der Welt/dem Himmel/dem Universum – Makrokosmos – auf der anderen Seite ungewöhnlich viel Raum: Ein nach den Gesetzen der Natur eingerichteter, gesunder Körper im Kleinen folgt den kosmischen Gesetzen des großen Ganzen. Damit deutet de Castro bereits implizit an, was er an späterer Stelle weiter ausführen wird (s. unten): Ein kranker Körper ist ein aus den Fugen geratener Mikrokosmos, der vom idealen Arzt nach universell geltenden Maßstäben wieder in die rechte Ordnung gebracht werden kann. Doch bevor er diesen Gedanken formuliert, wird im sechsten Kapitel⁷³ über das Scharnier der „natura hominis“ die „natura rei publicae“ evoziert. Es folgt erneut eine Reihe von Analogien, indem nun der Körper mit dem Staatswesen gleichgesetzt wird.⁷⁴ Eine gut konstituierte „civitas“ verkörpere den „hervorra-

 De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 5, S. 231– 235; Titel: „De triplici mundo, et quod uniuscuiusque in homine pulcherrima reperiatur imago“, zu deutsch: „Von der dreifachen Welt und dass man von jeder im Menschen ein schönes Abbild findet“.  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 5, S. 235: „Sed et illud summâ dignum admiratione, quod cum tres numerentur mundi, archetypus Angelicus invisibilis seu intellectualis: coelestis comprehendens coelestes sphaeras: et corruptibilis seu elementaris: tres etiam in homine partes videre licet, superiorem nimirum, hoc est, caput: mediam, quae à collo ad umbilicum protenditur: tertiam, quae ab umbilico extenditur ad pedes.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, S. 238 – 242; Titel: „Corpus humanum mirificam cum Rebpublicâ benè ordinatâ similitudinem repraesentare“, zu deutsch: „Der menschliche Körper besitzt eine wunderbare Ähnlichkeit mit einem wohlgeordneten Staat“.  Hier greift er auf das Gedankengut des klassischen Philosophen Aristoteles zurück, der in seiner Politik ein recht reichhaltiges Reservoir an Körper-Staat-Metaphern entwickelt hat.

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genden Typus eines gesunden Körpers.“⁷⁵ In de Castros Körper-Staat-Analogie entsprechen die Stadtmauern der Haut, der Mund dem Stadttor, die Körperöffnungen Kanälen, die sie vom Unrat reinigen. Im höchsten und wehrhaftesten Teil der Stadt soll sich der Souverän aufhalten, wie sich das Gehirn im Schädel gleich einer Burg befinde. Die Gedächtnisfunktionen sind Sekretäre, Soldaten repräsentieren die Vernunft, die spontane Wallungen etwa des Herzens aufhalten, das zudem vom Ort des Verlangens, der Leber, durch das von Gott eingefügte Zwerchfell getrennt wird.⁷⁶ Weitere Organe entsprechen diversen Handwerkszünften. Er gelangt dadurch zu dem Fazit: Man sagt also mit Recht, dass die Konstitution unseres Körpers einen bestens verwalteten Staat darstellt, und dass die Städte selbst nach dem Beispiel eines menschlichen Körpers gegründet seien, da die Natur selbst an Zeit und Würde der Kunst vorausgeht.⁷⁷

Nun wird die stets durchschimmernde Vorstellung von Gesundheit und Krankheit eingeführt – zunächst in Form der Körper-Staat-Analogie. Herrsche der Souverän gut und fülle jeder Teil im (Stadt‐)Staat die ihm angestammte Aufgabe korrekt aus, so sei der Staat gesund; andernfalls trete das Gegenteil ein.⁷⁸ Analog ist ein Körper

 De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, S. 238: „Inter quae omnia evidentissimum exemplum nobis ante oculos ponit probè constituta civitas; nam haec corporis humani bene valentis egregium typum prae se fert: idcirco Aristoteles civitatem ad hominis exemplum constituendam esse docet.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, S. 238 f.: „Cingitur civitas moenibus, ut hostium incursiones arceantur: circumdatur corpus extima cute, quae ipsum tuetur ab injuriis externis. Redditur civitas inexpugnabilis, minime(que) insidiis obnoxia si una tantum porta reliquatur, excipiendis commeatibus pervia, plures vero canales, ad expurganda recrementa: similiter os unicum corpori humano inditum fuit, per quod ingrederentur, quaecun(que) ad ejus partes alendas pertinerent, sermo(que) egrederetur ad explicanda animi sensa, plures vero meatus, per quos excernerentur, quae inutilia essent. Optima civitas unico sed prudentissimo, justissimo(que) et clementissimo Principi subdita esse debet, qui à civium commercio semotus, fidis stipatoribus custoditus in sublimi ac munitissimâ urbis parte se contineat, ut inde cives contueri, et si tumultus oriatur, eum facile sedare possit: ita in homine ratio ipsa caeterarum facultatum Imperatrix in cerebro sublimiori corporis parte, veluti in arce consistens, subditis membris imperat, eisque vivendi leges imponit: ejus verò stipatores sensus externi sunt, qui excubias facientes, si quid perceperint, quod aut rationi, aut subjectis membris nocere possit, illico sensui communi renunciant, qui quasi dux quidam rationi conjunctus est.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, S. 240: „Merito igitur dictum fuit corporis nostri constitutionem optimè gubernatam civitatem repraesentare, immo vero civitates ipsas ad exemplum corporis humani conditas esse, cùm artem natura ipsa tempore et dignitate antecellat.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, S. 240: „Praeterea quemadmodum si in civitate Princeps, ut par est, dominetur, cives et milites oboediant, et opifex unusquisque suo rectè fungatur munere, salus Reipublicae constat, labefactatur verò si contrarium accidat.“

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unter der Herrschaft der Vernunft gesund, wenn aber untergeordnete Organe und Körperteile die Herrschaft an sich reißen, krank: Wenn aber entweder der Verstand dem Begehren weicht oder die Erregbarkeit mit diesen gegen den Verstand konspiriert oder von den Teilen des menschlichen Körpers einer oder mehrere ihre Funktionen vernachlässigen, müssen notwendig verschiedene Arten von Krankheiten entstehen, deren Heilung auf die gleiche Weise geschieht, wie die Krankheiten des Staates geheilt zu werden pflegen.Wenn es sich um leichtere Affekte handelt, werden die Täter mit Fesseln, Ruten im Zaume gehalten oder mit Verbannung, bei größeren mit dem Strick, dem Beil oder dem Feuer. So heilen leichtere Affekte des Körpers mit leichten Hilfsmitteln wie Diät und Säften; schwere und rebellische beenden wir mit Aderlass, Entschlackung, Schwitzen und schließlich dem Eisen und Schröpfen. Wie zur Festigung des Staates und zur Bestrafung von Verbrechern Gesetze aufgestellt wurden, so ist uns zur Erhaltung der körperlichen Gesundheit und zur Vertreibung von Krankheiten die Medizin gegeben worden.⁷⁹

Nach de Castro ist Vermittler der Medizin selbstverständlich der Arzt, der mittels auf Überlegung und Vernunft basierender Vorschriften den aus den Fugen geratenen Körper wiederherstellen kann. Er benutzt zur Veranschaulichung das Bild von einem in stürmischer See treibenden Schiff, das zwar den Kräften der Natur ausgesetzt ist, durch kundige Matrosen und Steuermänner dennoch auf Kurs gehalten werden kann. Ein Arzt kann demgemäß nur mithilfe, nicht gegen die Natur heilen: Er soll kommen, um das anzuwenden, was das Wüten der Krankheit besänftigt und die verschlechterten Strebungen des Kranken regiert, um mit Hilfe der Natur die Krankheit zu überwinden und das Schiffchen des menschlichen Körpers zu retten und den wütenden Sturm der Krankheiten und die ungeheuren Regengüsse der Symptome vorübergehen zu lassen.⁸⁰

 De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, S. 240: „Si verò aut ratio ipsa cedat cupiditatibus, aut irascibilis facultas cum his adversus rationem conspiret, aut ex partibus corporis humani una vel plures perperam obeant suas functiones, necessum est, ut varia morborum genera oriantur, quorum curatio eadem ratione fit, quâ curari solent reipublicae aegritudines. Quippe ut delicta leviora vinculis virgis, aut exilio coercentur, in graviora autem laqueo, securi, aut flammâ animadvertitur: sic exiguos affectus corporis leviusculis praesidiis, ut victus ratione, et julepiis curamus, contumaces verò atque rebeelles, sanguinis missione, purgatione, sudoribus, et ta(n)dem ferro, cauterioque exterminamus. Et ut ad confirmandam rempublicam puniendos(que) homines facinorosos, leges fuerunt inventae: ita ad conservandam corporis valetudinem, expellendosque morbos, è coelo nobis delapsa medicina est.“  De Castro, Medicus-politicus, lib. 4, cap. 6, 241 f.: „Morbi verò et symptomata instar tempestatis sunt, quibus insurgentibus medicus et assistentes in subsidium vocantur, non ut impediant aut temporis momento tollant morbum ipsum, quod solius naturae opus est, sed ut adhibeant ea, quae morbi furorem sedent, et depravatos aegrotantis appetitus gubernent, quoad tandem adjuta

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Im Kosmos de Castros ist somit alles universell gültigen Gesetzen unterworfen. Zentraler Bezugs- und Fluchtpunkt ist eine von Gott geschaffene Natur, die zwar nach eben jenen Gesetzen modifizierbar, in keinem Fall aber grundsätzlich veränderbar ist. Doch was bedeutet dies für die Disziplin der Medizin – und letztlich für das Konzept des ‚Medicus-politicus‘? De Castro nutzt die Kosmos-Analogien, um die Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz und damit die Grenzen der ärztlichen Intervention aufzuzeigen. Diese kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich an den universellen Gesetzen der Natur orientiert. Aus dieser Grundhaltung heraus erklärt sich auch die vornehmlich im ersten Buch vorgebrachte Kritik an überkommenen medizinischen Schulen: Sie gehen von falschen Prämissen aus, verschließen sich neuen Erkenntnissen oder generieren, wie die scharf kritisierten Anhänger des Paracelsus, falsche Hypothesen, und sind somit a priori zum Scheitern verurteilt.⁸¹ Ins Positive gewendet affirmiert de Castro aber auch die überzeitliche Gültigkeit von Lehrmeinungen unterschiedlichster Genese – Antike, Christentum, Judentum und andere –, wenn sie die universelle Natur korrekt wiedergeben.⁸² Vor diesem geistigen Hintergrund wird schließlich das (nirgends kompakt definierte) Ideal des Medicus-politicus entwickelt. Die auf den ersten Blick eingängige und in jedem Fall wichtige Deutung eines politisch engagierten Arztes verstellt möglicherweise den Blick auf die weiteren Bedeutungsebenen des Begriffs politicus. Neben anderen hat Willibald Steinmetz das frühneuzeitliche Bedeutungsspektrum des Begriffes politicus bzw. ‚Politik‘ herausgearbeitet.⁸³ Folgende zwei Aspekte scheinen uns bei diesem Begriff im Hinblick auf de Castros politischen Arzt wichtig zu sein: – Das Adjektiv politicus beschreibt spätestens seit Ende des 16. Jahrhunderts Betätigungsfelder, die die Öffentlichkeit betreffen, und dient somit zur Abgrenzung von privaten oder geistlichen Handlungsspielräumen.⁸⁴ Somit sind die im Titel genannten „officia medico-politica“ Ausdruck einer der Öffentnatura morbum superet, et humani corpusculi navicula servetur, saevamque illam morboru(m) tempestatem, et immanes symptomatu(m) nimbos evadere queat.“  Diese Haltung spiegelt sich auch in de Castros Mahnung zur Vorsicht im Umgang mit den Erkenntnissen antiker Ärzte wider; s. oben.  Damit dürfte im Übrigen auch z. B. die in diesem Genre als befremdlich empfundene (und damit zumeist übergangene) Passage des Nutzens von Musik im Medicus-politicus zu erklären sein, die den Traktat abschließt: Sie ist nach de Castros Auffassung deshalb nützlich, weil in ihren Harmonien kosmische Prinzipien greifbar werden.  Für eine Zusammenfassung und Diskussion des Forschungsstandes mit weiterführender Literatur vgl. Steinmetz, Neue Wege.  Vgl. Steinmetz, Neue Wege, S. 29 f.

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lichkeit geschuldeten Pflicht, in der gewisse ethische Standesansprüche an den Arzt gestellt werden. Im Laufe der französischen Hugenottenkriege bzw. Konfessionskriege wurde der Begriff ‚Politik‘ bzw. ‚politisch‘ mit einer starken zentralen, konfessionsneutralen Königsgewalt verbunden.⁸⁵ Dies könnte vor den religiösen Spannungen, denen nicht nur de Castro selbst, sondern auch seine Söhne in Hamburg ausgesetzt waren, als Appell zu einer möglichst neutralen, konfessionsübergreifenden Heilkunde gesehen werden, deren Rahmenbedingungen insbesondere die Hamburger Ratsherren gewähren müssen.⁸⁶

Eingebettet in diese geistesgeschichtlichen Entwicklungen erhält Rodrigo de Castros Ideal eines ‚Medicus-politicus‘ eine andere – oder zumindest eine weitere – Bedeutung neben dem ‚politischen‘, im Sinne von politisch aktiven, Arzt. Durch die Analogien demonstriert er, dass der Arzt nicht als, sondern wie ein Politiker agieren solle. Die beiden Disziplinen Politik und Medizin sind insofern vergleichbar, als der Makrokosmos guten politischen Regierens dem Mikrokosmos medizinischen Heilens entspreche. Die liminale Zone (oder das Scharniergelenk) bildet dabei die Natur: Die ihr zugrunde liegenden Analogien ermöglichen erst den Vergleich von Kosmos und Mensch, Mensch und Staat. Der ‚Medicus-politicus‘ kennt – nicht zuletzt aufgrund seiner Ausbildung und seines (Allgemein‐) Wissens – diese Analogien und wendet sie auf seine eigene Kunst, die Medizin, an.

5 Resümee Rodrigo de Castros idealer Arzt nimmt eine Schwellenposition ein, indem er Gedankengut aus diversen Disziplinen kennt und fruchtbar macht – und dabei sowohl unvoreingenommen ist, beispielsweise gegenüber der arabischen oder jüdischen Medizin, als auch wissenschaftskritisch nicht stur an mittlerweile überkommenen (antiken) Erkenntnissen festhält. Aufgrund dieses Wissens, das ihn von Ärzten unterscheidet, die einer bestimmten medizinischen Schule anhängen oder medizinische Erkenntnisse aus ethnischen/religiösen Gründen ab-

 Vgl. Weber, Erfindung, S. 354 f.  Ganz im Sinne von Steinmetz, Neue Wege, S. 30: „Ein ,Politiker‘ sein, sich ,politisch‘ zu verhalten, das hieß im Zeitalter der religiösen Bürgerkriege, Ständekämpfe und innerstädtischen Parteizwiste, dass man einen Standpunkt jenseits der Bindung an eine Konfession oder ein ständisches oder sonstiges Gruppeninteresse suchte.“

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lehnen,⁸⁷ kann er eine Schlüsselrolle zwischen Medizin und Politik einnehmen. Doch auch Rodrigo de Castro selbst bewegt sich in einer liminalen Zone, der sich in Hamburg als Fremder und noch dazu einer anderen als der dort dominierenden Religion Angehörender einen beruflichen und gesellschaftlichen Platz erarbeitet hatte und diesen behaupten musste. Möglicherweise half ihm bei seiner Integration gerade das Wissen weiter, das er im Medicus-politicus transportierte und dem idealen Arzt ans Herz legte.

6 Appendix: Die nach de Castro wichtigsten griechischen, lateinischen und arabischen Ärzte bzw. medizinischen Autoren Hippokrates

ca.  – / v. Chr.

Platon

/ – / v. Chr.

Aristoteles

 –  v. Chr.

Theophrastos von Eresos

ca.  –  v. Chr.

Plinius der Ältere

/ –  n. Chr.

Aretaios von Kappadokien

. Jh. n. Chr.

Celsus

. Jh. n. Chr.

Pedanios Dioskurides

. Jh. n. Chr.

Scribonius Largus

. Jh. n. Chr.

Galen

 – ca.  n. Chr.

Quinctius Serenus Sammonicus (auch Quintus Serenus genannt)

. – . Jh.

Oreibasios von Pergamon

ca.  – / n. Chr.

Caelius Aurelianus

um 

Theodorus Priscianus

./. Jh.

 Man könnte de Castro mit Arrizabalaga, Medical Ideals, S. 123 auch unterstellen, diesen breiten geistigen Horizont aus anderen Motiven als rein wissenschaftlichen zu postulieren: „In this context (sc. Anti-Semitism), De Castro’s strong alignment with the Hippocratic-Galenic-Avicennian medical tradition may have been not only a consequence of his university education in mid-sixteenth-century Salamanca, but also a strategy by him to reinforce before the Hamburg political authorities the probity of the Sephardic medical elite’s understanding and practice of medicine.“

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Aetios von Amida

. Hälfte . Jh. n. Chr.

Alexander von Tralleis

ca.  – ca.  n. Chr.

Paulos von Ägina

. Jh. n. Chr.

Mesue (= Johannes Mesue senior)

ca.  – ca. 

Johannes Serapion

. Jh.

Rhazes

 – 

Avicenna (= Ibn Sina)

ca.  – 

Avenzoar (= Ibn Zuhr)

 – 

Averroes

 – 

Johannes Zacharias (Aktuarios)

./. Jh.

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Cloister und Closet

Liminalität in Margaret Cavendishs The Convent of Pleasure (1668) [W]hat Woman was such a Chymist as Paracelsus? Such a Physician as Hipocrates or Galen? Such a Poet as Homer? […] wherefore Women can have no excuse, or complaints of being Subjects, as a hinderance from thinking; for Thoughts are free, […] for we are not hindred from studying, since we are allowed so much idle time that we know not how to pass it away, but may as well read in our Closets, as men in their Colleges [.] ¹

In dieser Passage aus The Worlds Olio aus dem Jahre 1655, einem Frühwerk Margaret Cavendishs, klingt ein Gedanke an, den Cavendish immer wieder aufgreifen wird: Frauen denken, lesen und lernen allein in closets, Männer gemeinsam in colleges. Ein closet, oder auch ein cabinet, war ein teils geschlossener, teils offener Raum in Adelshäusern, meistens wurde darin geschrieben oder gelesen. Den adeligen Frauen bot sich hier ein privater Raum, in dem sie kreatives Potenzial entfalten konnten. Doch die literarischen Tätigkeiten in diesem Bereich sind nicht unbedingt nach innen gerichtet oder ‚nur‘ Zeitvertreib, wie es in der oben zitierten Passage anklingt. Nicht zuletzt schrieben die Frauen hier auch Briefe, und diese hatten häufig die wichtige gesellschaftliche Funktion, die adelige Familie nach außen hin zu repräsentieren. Daran sieht man, dass die vermeintliche Abgeschlossenheit des ‚geschlossenen‘ Raumes – closed/closet – gar nicht existiert. Closets verräumlichen den liminalen Status von Frauen in der Gesellschaft: Sie sind weder ‚drinnen‘ noch ‚draußen‘; weder richtig ausgeschlossen noch richtig eingebunden. Ein closet oder auch ein cabinet ist ein Raum, wo sich das ‚Private‘ und das ‚Öffentliche‘ überlagern. Es ist ein Ort der Kommunikation, an dem Abmachungen getroffen oder Gesuche formuliert werden. Noch heute wird Politik mit privaten Räumen assoziiert, man denke beispielsweise an das Kabinett eines Regierungschefs. Auch die räumliche und metaphorische Nähe zu bed-chambers, wo gerade im 17. Jahrhundert Politik gemacht wurde, ist zu betonen.²  Cavendish, The Worlds Olio, ‘The Preface to the Reader’, o. P.  Zum closet siehe Sanders, ‘The Closet Opened’, hier: S. 129 f.; Straznicky, Privacy, Playreading, And Women’s Closet Drama, hier: S. 1. Vgl. außerdem Jürgen Habermas’ Problematisierung der synchronen Verwendung des Begriffs der Öffentlichkeit. In seinem Konzept von repräsentativer Öffentlichkeit im 17. Jahrhundert ist Öffentlichkeit keine sich sozial konstituierende Sphäre, https://doi.org/10.1515/9783110605389-013

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Cavendish beschreibt in mehreren ihrer Texte, wie viele Stunden sie im closet verbringt und Texte diktiert oder selbst schreibt. Hier wurden ihre Werke aber auch gelesen, selbst ihre Dramen, die nie auf Bühnen inszeniert wurden. Diese Dramen heißen closet-Dramen. Closet-Drama ist ein Begriff, mit dem man seit dem 19. Jahrhundert englische Dramen bezeichnet, die zum Lesen gedacht sind. Das galt vor allem für Dramen von Frauen, die vor 1660 nicht auf englischen Bühnen inszeniert wurden,³ aber auch für Dramen männlicher Autoren, die zwischen der Schließung der öffentlichen Theater 1642 und deren Wiedereröffnung 1660 entstanden sind. Der Begriff closet drama beschreibt ein Paradox: Die öffentlichste der literarischen Gattungen, das auf einer Bühne vor Zuschauern aufgeführte Drama, wird mit einem Raum assoziiert, dessen Geschlossenheit gerade keinen Zuschauer zulässt. Dennoch erreichten diese Dramen durch Druck und Veröffentlichung der Texte ein Publikum. Cavendish veröffentlichte 19 solcher ClosetDramen. The Convent of Pleasure, um das es im Folgenden gehen soll, ist in ihrer letzten Dramensammlung aus dem Jahre 1668 enthalten.⁴ Wann genau das Stück entstanden ist – ob vor oder nach der Wiedereröffnung der Theater – wissen wir nicht. In jedem Fall blieb es höchstwahrscheinlich unaufgeführt. Trotzdem müssen wir uns beim Lesen die Inszenierung vorstellen, also eine ‚innere Bühne‘ im Kopf errichten.⁵ Cavendish ist sich dramatischer Mittel durchaus bewusst und sie gibt in einem ihrer Vorworte strikte Anweisungen, dass ihre Dramen laut und schauspielerisch zu lesen sind, selbst dann, wenn man alleine ist: „[W]hen as a Play is well and skillfully read, the very sound of the Voice that enters through the Ears, doth present the Actions to the Eyes of the Fancy as lively as if it were really Acted.“⁶ sondern die öffentliche Repräsentation von Herrschaft. Auf das closet übertragen bedeutet dies, dass adelige Frauen (oder Männer) hier repräsentative Funktionen einnehmen konnten – oder eben auch nicht. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 58 – 60.  Zur Problematisierung des Begriffs closet drama im Zusammenhang mit Bühnenautorinnen siehe Williams, ‘Why may not a Lady Write a Good Play?’, S. 97.  Cavendish, Plays, Never Before Printed, S. 1– 54.  „Cavendish’s writing is acutely conscious of ‘Fancy’s’ power to substitute the scene of the mind for the theatre which is so transposed, and transposed twice over, from open-air stage to private room, from private room to a closet theatre of the mind.“ Tomlinson, ‘My Brain the Stage’, S. 135.  „I must trouble my Noble Readers to write of one thing more, which is concerning the Reading of Playes; for Playes must be read to the nature of those several humours, or passions, as are exprest by Writing: for they must not read a Scene as they would read a Chapter; for Scenes must be read as if they were spoke or Acted. Indeed Comedies should be read a Mimick way, and the sound of their Voice must be according to the sense of the Scene; and as for Tragedies, or Tragick Scenes, they must not be read in a pueling whining Voice, but a sad serious Voice, as deploring or complaining: but the truth is there are as few good Readers as good Writers; […] but when as a Play is well and skillfully read, the very sound of the Voice that enters through the Ears, doth present

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Viele von Cavendishs Dramen imaginieren einen weiblichen, abgeschlossenen Raum, in dem Frauen denken, forschen, reden und Kunst machen können und damit öffentliches Interesse erregen.⁷ Sie betrachtet somit, wie Marta Straznicky zusammenfasst, „the tensions and points of contact between public and private realms in a way that simultaneously involves retreat and engagement in public culture.“⁸ So auch in The Convent of Pleasure: In diesem Drama beschließt Lady Happy, sich und 20 andere adelige Jungfrauen ‚einzuklostern‘ – sie benutzt das englische Wort incloister.⁹ Cloister bedeutet Kloster, genau wie das titelgebende convent, und beide bezeichnen einen abgeschlossenen Raum. Lady Happy möchte sich einklostern, um sich vor Männern und der Heirat zu schützen. Denn beides bringe Frauen nur Leid. Deswegen gründet sie den Convent of Pleasure, das ‚Kloster der Freuden‘. Darin gehen sie und die anderen adeligen Jungfrauen sinnlichen Vergnügungen nach: Sie essen, sie tanzen, sie singen, sie verkleiden sich und spielen Rollenspiele. Nur Sex mit Männern gehört nicht zu den erlaubten Freuden. Der zu erwartende Sündenfall erscheint aber bald in Form eines Prinzen, der als Prinzessin verkleidet ins Kloster eindringt und an den Rollenspielen der Frauen teilnimmt. Am Ende fliegt seine Verkleidung auf und er heiratet Lady Happy. Die Heirat erfüllt die Komödienkonvention, das Ende ist dennoch ambivalent. Der Prinz droht Lady Happy mit Gewalt, damit sie ihn heiratet; das ‚Happy End‘ verschlägt der zuvor so eloquenten Lady Happy die Sprache: Fast den gesamten letzten Akt über ist sie stumm. Das Kloster, Lady Happys Haus mitsamt Garten und Ländereien, ist streng von der Außenwelt abgegrenzt. Es gibt nicht mal ein „grate“,¹⁰ ein Gitterfenster in der Klostermauer, durch das die heiratswütigen Männer die Jungfrauen beobachten könnten. Durchlässig ist diese Grenze nur für den Prinzen, der allerdings nur einmalig eindringen kann, sowie für eine Figur namens Madam Mediator. Madam Mediator kann, wie ihr Name schon verrät, zwischen Außenwelt und Kloster vermitteln. Sie berichtet sowohl den Männern als auch den verheirateten Frauen außerhalb des Klosters alles, womit sich Lady Happy und ihre Damen the Actions of the Eyes of the Fancy as lively as if it were really Acted; but howsoever Writings must take their Chance, and I leave my Playes to Chance and Fortune, as well as to Censure and Reading.“ Cavendish, The Convent of Pleasure and Other Plays, S. 262 f.  Abgeschlossene weibliche Räume oder Gemeinschaften finden sich etwa in The Female Academy, Youths Glory, and Deaths Banquet und Bell in Campo. Alle enthalten in Cavendish, Playes.  Straznicky, Privacy, Playreading, And Women’s Closet Drama, S. 3.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 218. Alle in diesem Aufsatz folgenden Angaben aus The Convent of Pleasure beziehen sich auf diese von Anne Shaver herausgegebene Ausgabe aus dem Jahr 1999.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 223.

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innerhalb des Klosters beschäftigen. In diesen Szenen zeigt sich auch, dass gerade durch den Rückzug aus der Gesellschaft Neugier und Interesse der Außenwelt geweckt werden. Es entstehen im Drama also zwei Räume, die durch eine Grenze getrennt sind und denen man leicht Gegensatzpaare zuordnen kann.¹¹ Zum Kloster gehören die Attribute ‚happy‘, ‚Freude‘, ‚weiblich‘, ‚häuslich‘ und ‚abgeschlossen‘. Zur Außenwelt dementsprechend ‚unhappy‘, ‚Leid‘, ‚männlich‘, ‚nicht häuslich‘, ‚offen‘. Schwierig wird diese Trennung beim Gegensatzpaar ‚natürlich‘ – ‚künstlich‘, denn sowohl ‚Natur‘ als auch ‚Kunst‘ und ‚Künstlichkeit‘ sind im Convent of Pleasure von Bedeutung.¹² Lady Happy weiht ihr Kloster der Göttin Natur bzw. einer Naturreligion: „Wherefore, if the gods be cruel, I will serve Nature; but the gods are bountiful, and give all, that’s good, and bid us freely please our selves in that which is best for us[.]“¹³ Über die Götter, die man als Platzhalter für einen christlichen Gott lesen kann, erfahren wir nicht viel.¹⁴ Sie interessieren sich nicht für die Belange der Menschen – hier wird die Nähe zu Epikur in Cavendishs Spätwerk deutlich –, stehen aber über der Natur.¹⁵ Die Natur verfügt über eine gewisse Souveränität. Sie ist die Schöpferin der Sinne und ihr liegt nichts mehr am Herzen als die sinnlichen Freuden der Menschen. Lady Happy beruft sich auf die Göttin Natur, um ihre alternative Gesellschaft zu begründen und sich als absolutistische Herrscherin über das Kloster zu inszenieren. Sie ist „Votress to Nature“, „Lady-Prioress“ (Klostervorsteherin) und „chief Confessor“ (Beichtvater)¹⁶ und ihre Klosterdamen müssen ihr ein Glaubensbekenntnis schwören.¹⁷ Zwar wird die Göttin Natur nach dem gemeinsamen Glaubensbekenntnis nicht mehr thematisiert, aber im Kloster werden die Bewohnerinnen von einer nicht-personifizierten Natur umsorgt, fast wie von einer guten Mutter. Die „Natur innerhalb des Klosters“ erscheint wie eine Art magisches Schlaraffenland. Essen,

 Vgl. Lotman, Die Struktur Literarischer Texte, S. 313.  Für Artifizialität als Performance im Gegensatz zu Natürlichkeit in The Convent of Pleasure siehe: DeRosa, ‘What Have I On a Petticoat?’, S. 277 f.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 220.  Fitzmaurice, Paganism, Christianity, and the Faculty of Fancy in the Writing of Margaret Cavendish, S. 78.  „The gods Epicurus had envisioned in antiquity were completely absent from the governance of an eternal universe – it would cause them too much trouble. The God Cavendish pictured in her later works delegates authority to a female deity, Nature, who is better fitted to generate the universe.“ Sarasohn, The Natural Philosophy of Margaret Cavendish, S. 36.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 223.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 224.

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Trinken und sinnliche Freuden gibt es in solchem Überschuss, dass sie den Klosterdamen förmlich in Augen, Ohren, Nase und Mund fliegen: […] Each Season shall our Caterers be, To search the Land, and Fish the Sea; To gather Fruit and reap the Corn, That’s brought to us in Plenty’s Horn; With which we’l feast and please our tast, But not luxurious make a wast. Wee’l Cloth our selves with softest Silk, And Linnen fine as white as milk. Wee’l please our Sight with Pictures rare; Our Nostrils with perfumed Air. Our Ears with sweet melodious Sound, Whose Substance can be no where found; Our Tast with sweet delicious meat, And savory Sauces we will eat: Variety each Sense shall feed, And Change in them new Appetites breed. Thus will in Pleasure’s Convent I Live with delight, and with it die. ¹⁸

In diesem Lied voller Erntedank-Topoi offenbart sich die freigiebige Natur, es steht aber auch in der literarischen Tradition der berühmten court masques der Stuartkönige. Zur Tradition der masques, einer Form höfischer, dramatischer Unterhaltung, gehören gemeinsame Lieder und aufwendige Bühnenbilder und -konstruktionen.¹⁹ Letztere klingen auch inhaltlich in dem Lied an, wenn von „Pictures rare“ oder schönen Klängen die Rede ist, die auf magische Weise von nirgendwo her zu kommen scheinen.²⁰ Der Umgang der Klosterdamen mit der Natur bzw. mit ihren Ernteprodukten ist betont unausbeuterisch: Es wird nur das genommen, was die Natur freiwillig gibt – das, was also selbst vom Baum fällt. Dass die Damen durchaus in Luxus leben und auch Seiden- oder Wollstoffe keine reinen Naturprodukte sind, wird dabei verschwiegen. Der Überschuss an Nahrung und sinnlichen Freuden scheint ‚natürlich‘ vorhanden zu sein. In anderen Textpassagen wird aber deutlich, dass die Frauen auch über technisches Wissen verfügen, um die Natur, die den

 Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 221. Kursivierung im Original.  Oxford English Dictionary: masque, n. http://www.oed.com/view/Entry/114656?rskey= JcAKMr&result=1 (29.03. 2018). Zur masque siehe außerdem Orgel, The Illusion of Power; Butler, The Stuart Court Masque and Political Culture und Britland, Drama at the Courts of Queen Henrietta Maria.  Shanahan, Natural Magic in The Convent of Pleasure, S. 153.

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Rhythmus der Jahreszeiten vorgibt, künstlich zu verbessern und noch nutzbarer oder angenehmer zu machen. Es gibt beispielsweise Wasserleitungen, um die Schlafzimmer der Damen mit Wasser zu versorgen²¹ und auch im Klostergarten, in dem alle Bäume gestutzt werden und in dem es kein Unkraut gibt, werden „Ponds, Rivolets, Fountains and Springs“ durch Filteranlagen und Pumpen betrieben und frisch gehalten.²² Die Frauen verfügen über Macht und Wissen, die Natur mit technischen Mitteln zu verändern. Pumpen und Zisternen mögen zwar zur männlichen Domäne des Wissens der Zeit gehören, doch das Kloster präsentiert sich auch als Raum, in dem häusliches Wissen, beispielsweise über Medikamente und das Zubereiten von Speisen, floriert. Etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kann dieses Wissen nicht mehr ohne Weiteres als weibliches Wissen verstanden werden, denn die wachsende Professionalisierung der Medizin löste mehr und mehr diese traditionell weiblichen Bereiche ab, beispielsweise auch das Feld der Geburtshilfe.²³ Die Frauen und Lady Happy verfügen hier über alle Domänen des Wissens, doch statt in einem Labor manifestiert es sich in einem Haus und statt männlicher Wissenschaftler in lebensfernen Experimenten sind es Frauen, die es sich in ihrem Alltag zunutze machen und mit diesem Wissen die Natur beherrschen können.²⁴ Als Herrscherin über die Natur inszeniert sich Lady Happy auch in zahlreichen Spielen, die sie mit ihren Klosterdamen aufführt. Diese Spiele, etwa eine Pastorale oder eine Neptun-Allegorie, gehören zur höfischen Theatertradition der Stuarts und sind wie bereits erwähnt den court masques nachempfunden. Mit solchen allegorischen Spielen demonstrierten die Stuarts ihre Legitimität und Macht, auch dann noch, als diese schon so gut wie verloren waren. Neben diesen Spielen, die sich mühelos in einen höfischen Kontext einordnen lassen, gibt es ein Spiel – das sogenannte Spiel im Spiel –, das in diesem Zusammenhang Fragen aufwirft, da es inhaltlich wie formal nicht in diesen Kontext passt. Dieses Spiel im Spiel nimmt fast den gesamten dritten Akt ein und steht so direkt im Zentrum des fünfaktigen Dramas, also – so kann man zugespitzt formulieren – im innersten Inneren des Klosters. Es besteht aus einem Prolog, einem Epilog und neun Einzelszenen, die oft nur wenige Zeilen umfassen. Es handelt sich hier um Einzelszenen, da sie keine zusammenhängende Handlung aufwei-

 „In the Summer I have […] Cisternes placed neer our Beds-heads, wherein Water may run out of small Pipes made for that purpose[.]“ Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 224.  Vgl. Shanahan, Natural Magic in The Convent of Pleasure, S. 152.  Sawday, The Body Emblazoned, S. 230.  Vgl. Sarasohn, The Natural Philosophy of Margaret Cavendish, S. 4 f. Zum Labor im Haushalt siehe außerdem Shanahan, From Drama to Science.

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sen. Sie stellen aber inhaltlich ein einheitliches Bild vom Leben und den Leiden verheirateter Frauen dar. Es ist eine Geschichte, die von Schwangerschaft und Geburt erzählt, von der ökonomischen und emotionalen Not, eine Familie zu versorgen, die hier auch die Frauen tragen müssen; von Ehen mit grausamen oder gleichgültigen Ehemännern, von sexueller Belästigung und Vergewaltigung und immer wieder von Totgeburten und sterbenden Kindern. Das Spiel im Spiel stellt die kollektiv leidvollen Erfahrungen des Frauseins dar und endet in einer durch und durch materialistischen Kritik der prekären Stellung der Ehefrauen in einem patriarchalischen System.²⁵ Der Epilog, der unmittelbar an die letzte Szene anschließt, fasst zusammen: „Marriage is a Curse we find,/Especially to Women kind:/From the Cobler’s wife we see,/To Ladies, they unhappie be.“²⁶ Neben der im Drama ständig wiederholten Formel, dass Frauen in der Ehe unglücklich sind, ist hier die Formulierung „[f]rom the Cobler’s wife […] To Ladies“ aufschlussreich. Die Gruppe der dargestellten Frauen im Spiel im Spiel ist heterogen, es werden Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen gezeigt. Dagegen steht die homogene Gruppe der Klosterdamen, die jung, unverheiratet, kinderlos, jungfräulich und vor allem adelig sind. Cavendish arbeitet in ihren Dramen oft mit der kontrastiven Gegenüberstellung von Frauen. Neben jede strahlende Heroine, die sich durch Redekunst oder militärisches Geschick in der Öffentlichkeit beweisen kann, stellt sie eine Frau, die an ihren privaten, häuslichen Sorgen zugrunde geht. Die Szenen zwischen öffentlicher und häuslicher Handlung sind typischerweise abwechselnd im Dramenverlauf angeordnet. Im Spiel im Spiel werden die Probleme der Frauen aber geballt präsentiert. Durch diese Wiederholung und Aneinanderreihung immer derselben Probleme, entsteht ein Eindruck der Unausweichlichkeit, der sie umso erdrückender und dringlicher wirken lässt. Außerdem handelt es sich hier nicht um Einzelschicksale: Alle Frauen, ob jung, alt, von niedrigem Stand oder adeliger Geburt, tragen die Last, eine Familie zu erhalten, auf ihren Schultern. Von den neun Szenen des Spiels im Spiel handeln drei von Problemen in der Schwangerschaft und im Kindbett, sodass auf fast jede Szene über das alltägliche Leben der Frauen eine Szene folgt, in der die körperlichen und emotionalen Leiden von Geburten thematisiert werden. Durch diese abwechselnde Struktur wird verdeutlicht, dass eine Schwangerschaft ein immer wiederkehrendes einschneidendes Ereignis im Leben der Frauen ist. Gerade diese Momente, die Schwangerschaft und Entbindung betreffen, finden nur unter Frauen im Privaten statt. Auch wenn in den Regieanweisungen kein Ort angegeben ist, lassen sie sich

 Vgl. Andrea, Coming Out in Margaret Cavendish’s Closet Dramas, S. 235 f.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 233. Kursivierung im Original.

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im Gegensatz zu den anderen Szenen des Spiels im Spiel, die oft auf der Straße stattfinden, dem Bereich von bed-chambers oder closets zuordnen. Der Vorgang der Geburt musste wegen seiner Verbindung zu Geschlechtlichkeit und körperlichen Ausscheidungen, aber auch aufgrund von Scham, Ekel und Angst vor Krankheiten in Bezug auf weibliche Körper in der Frühen Neuzeit im Verborgenen bleiben. Das Schlafzimmer wurde zu einem dunklen und abgeschotteten Geburtszimmer – birthing chamber –, zu dem nur Frauen Zutritt hatten.²⁷ Geburten waren in allen gesellschaftlichen Bereichen ein nicht darstellbares Thema. So sind sie auch in ihrem Ursprungssinn ‚obzön‘ – von obscaena (offstage) – von der offenen Bühne fernzuhalten. Sie müssen unsichtbar bleiben. Doch in einem geradezu revolutionären Moment²⁸ macht Cavendish Geburten auf der Bühne sichtbar (auch wenn diese de facto ‚nur‘ eine Lesebühne ist). In drei kurzen Szenen zeigt sie körperliche Leiden während der Schwangerschaft und bei der Geburt: Enter a Lady and her Maid. Lady. Oh, I am sick. Maid. You are breeding a Child, Madam. Lady. I have not one minutes time of health. Ex.²⁹

Hier geht es um Morgenübelkeit, wahrscheinlich zu Beginn der Schwangerschaft. „Oh, I am sick“, gesprochen von einer schwangeren Frau, impliziert Erbrechen. Die Schwangerschaft wird in den beiden Aussagen der adeligen Frau als Krankheit charakterisiert und wahrgenommen – eine Wahrnehmung, die der zeitgenössischen Erfahrung und Beschreibung des schwangeren Körpers sicherlich entspricht.³⁰ Aufschlussreich ist auch die Formulierung „You are breeding a Child“. Die grammatikalische Verlaufsform bezeichnet einen aktiven Prozess, den die werdende Mutter ausführt. Das Kind wird vom Körper der Mutter aktiv ‚produziert‘. Im Gegensatz zur stark rezipierten Vorstellung von Aristoteles über den Vorgang der Zeugung, bei der der Körper der Frau der ‚passive Stoff‘ ist, der nur vom aktiven Prinzip des Mannes zu seiner Form kommt und eine Seele erhält, generiert der Körper der Frau bei Cavendish also Leben in einem aktiven Prozess.³¹

 Paster, The Body Embarrassed, S. 163.  Williams, ‘Why may not a Lady Write a Good Play?’, S. 103.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 230.  Vgl. Paster, The Body Embarrassed, S. 184.  Vgl. Aristoteles, Über die Zeugung der Geschöpfe, S. 100 f. Zur Rezeption des aristotelischen Zeugungs- und Geschlechtermodells in der Frühen Neuzeit siehe Laqueur, Making Sex, S. 29 – 30.

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Insofern steht das auf den ersten Blick unauffällige „you are breeding“ im größeren Zusammenhang von Cavendishs naturphilosophischen Auffassungen. Bei Cavendish werden neue Lebensformen durch die Natur, genauer gesagt durch ihr weibliches Naturkonzept, generiert. Und diese Natur ist bei Cavendish sich selbst bewegende und verändernde Materie.³² Cavendish bejaht dieses materielle Potenzial des weiblichen Körpers. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass sie im Spiel im Spiel jeglichen körperlichen oder geistigen Beitrag von Männern zur Geburt ausklammert. Männer kommen schlechterdings nicht vor. Die schwangeren Frauen werden in ihrem körperlichen Krisenzustand zwischen Leben und Tod nur in Begleitung von anderen Frauen dargestellt:³³ Enter one Woman meeting another. 1 woman. Is the Midwife come, for my Lady is in a strong labour? 2 woman. No, she cannot come, for she hath been with a Lady that hath been in strong labour these three days of a dead child, and ‘tis thought she cannot be delivered. Enter another Woman. 3 woman. Come away, the Midwife is come. 1 woman. Is the Lady deliver’d, she was withall? 3 woman. Yes, of life; for she could not be delivered, and so she died. 2 woman. Pray tell not our Lady so: for, the very fright of not being able to bring forth a Child will kill her. Exeunt. ³⁴

Auch wenn hier keine gebärende Frau auf der Bühne zu sehen ist, wird sie im Dialog doch deutlich evoziert. Besonders interessant ist das makabre Wortspiel „[The Lady is deliver’d] of life; for she could not be delivered, and so she died.“ Es funktioniert auch im Deutschen: ‚Vom Leben entbunden sein‘ – eine Mutter gebiert Leben in Form eines Kindes auf Kosten ihres eigenen Lebens. Der Körper der Frau ist die Scheide zwischen Leben und Tod. Dabei sind es keine transzendenten Mächte wie Gott, die über Leben und Tod entscheiden. Einzig Juno, die Göttin der

Zu Cavendishs Rezeption und Umdeutung frühneuzeitlicher Vorstellungen von Geschlecht und Körper siehe Walters, Margaret Cavendish, S. 37– 87.  Eine Trennung zwischen Form und Stoff schließt Cavendish vehement aus: „I admire Aristotle makes the Principles of Nature, Matter, Form and Privation, and leaves out the chief, which is Motion; for were there no Motion, there would be no variety of figures: besides, Matter and Form are but one thing; for wheresoever is matter, there is also Form or Figure […]“ Cavendish, Observations upon Experimental Philosophy, S. 385.  Foucault bezeichnet Orte der Geburt als Krisenheterotopien, da sie „solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden.“ Foucault, Von anderen Räumen, S. 321 f.  Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 232.

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Geburt,³⁵ wird um Hilfe angefleht. Doch die Figuren schieben auch den Tod von Kindern nicht auf göttliches Eingreifen oder Providenz, vielmehr erscheint Tod als kontingentes Ereignis. Es sind Frauen, speziell gebärende Frauen, die isoliert in einem liminalen Stadium zwischen Leben und Tod dargestellt werden, ohne den Beistand von Männern oder Göttern. Cavendish bietet im Spiel im Spiel auch keinen Trost in einer christlich geprägten Vorstellung eines Nachlebens oder in der Unsterblichkeit der Seele. Der Kampf der Frauen um Leben und Tod im dritten Akt, der Klimax des Dramas, löst das traditionelle Tragödienelement des Zweikampfes oder der Schlacht ab: Cavendish stellt den Tod von Frauen im Kindbett neben den Heldentod. So deutet sie zwar nicht direkt die (männliche) Überbetonung des Todes um, aber zumindest weist sie Frauen einen Platz in der Ökonomie des Todes zu: „Cavendish’s early and surprisingly critical perspective on women’s contribution in birth attempts to rebalance the unequal honor system in seventeenth-century England by which men gain notoriety and ensure their legacy after death by going to war while women’s labour and suffering goes largely unnoticed.“³⁶ Bemerkenswert wie diese Szenenfolge in ihrer Entstehungszeit an sich schon ist, macht ihre Stellung innerhalb des Gesamtstücks sie noch interessanter: Der Convent of Pleasure repräsentiert ein utopisches, weibliches closet. Dagegen wird mit dem Spiel im Spiel ein ganz anderes closet gestellt, in dem sich das reale Leben der Frau in der Gesellschaft offenbart. Der unerschöpflich freigiebigen, angenehmen Mutter Natur des Klosteridylls steht in hartem Kontrast die leidvolle Natur der Mutterschaft gegenüber. Und diese Natur ist es, die das Leben der Frauen in der Gesellschaft bestimmt. Neben Schwangerschaft und dem Gebären von Kindern als wiederkehrende Krisen zeigen die Szenen des Spiels im Spiel darüber hinaus auch, dass es die Frauen sind, die die ökonomische und emotionale Last aller Familienmitglieder zu tragen haben. Das Kloster der Freuden kann als utopisches closet gelesen werden, in dem die Frauen in üppigen Gärten lustwandeln, philosophieren und ihre teils homoerotischen Spiele aufführen. In dieses wird ein zweites – man könnte sagen: Binnen-closet – implantiert, in dem Frauen sich unter Schmerzen im Wochenbett winden. Diese Einbettung zeigt letztendlich die unlösbare Spannung zwischen der Realität der Frauen und dem Ideal einer feminozentrischen, utopischen Gesellschaft.

 Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 231 f.  Wright, Darkness, Death, and Precarious Life in Cavendish’s Sociable Letters and Orations, S. 52 f. Zur Inversion der Bedeutung von Leben und Tod bei Cavendish vgl. außerdem Sarasohn, The Natural Philosophy of Margaret Cavendish, S. 146.

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Mit dem Spiel im Spiel bricht der Ernst ins Kloster ein. Das Kloster wird zum liminalen Raum, der einschließt, wogegen er sich abgrenzen will. Es wird zu einem Raum zwischen Utopie und Dystopie. Der Convent of Pleasure präsentiert sich als Selbstermächtigungsphantasie, in der Elemente einer protofeministischen Geschlechterpolitik mit Elementen absolutistischer Stuart-Ideologie verwoben sind. Das Spiel im Spiel erscheint dagegen wie eine Warnung, eine pessimistische Zukunftsvision für Lady Happy und die anderen Klosterdamen. Es ist auf Lady Happys Prämisse gegründet, dass die Frauen nur unverheiratet im Kloster ‚happy‘ sein können – im Spiel im Spiel hingegen wird das Wort ‚unhappy‘ zweimal wiederholt. Lady Happy muss tatsächlich am Ende den Prinzen heiraten. Gemäß der Botschaft des Spiels im Spiel wird sie durch dieses konventionelle happy ending zwangsläufig unhappy. Schon allein durch die Namensänderung nach der Heirat wird sie dann nicht mehr ‚Lady Happy‘ sein. Das Kloster wird somit auch in temporaler Hinsicht zum Ort des Übergangs für Lady Happy, wo sie von der widerspenstigen Jungfrau zur braven und im Schlussakt tatsächlich stummen Ehefrau wird. Die Bewertung dieser Wandlung bleibt jedoch ambivalent, unter anderem durch die Frage der Autorschaft. Möglich ist, dass der letzte Akt gar nicht von Cavendish selbst, sondern von ihrem Ehemann, „Written by my Lord Duke“,³⁷ verfasst wurde. Möglich ist auch, dass Margaret Cavendish diese Verfasserangabe einfügte, um einen von ihr geschriebenen Textteil von sich selbst zu distanzieren. Unverkennbar ist, dass die zuvor so eloquente Lady Happy am Ende (genau wie die meisten der intelligenten und wortgewandten Heldinnen in den Komödien Shakespeares) nichts mehr zu sagen hat. Ob dies die patriarchale Ordnung, die auch in der Ideologie des Stuart-Absolutismus fest verankert ist, affirmiert oder als schlechte, veränderungsbedürftige gesellschaftliche Realität kritisiert, bleibt offen.

Literaturverzeichnis Quellen Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe. Hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn 1959. Cavendish, Margaret: The Worlds Olio. London 1655. Cavendish, Margaret: Playes. Written by the Thrice Noble, Illustrious and Excellent Princesse, The Lady Marchioness of Newcastle. London 1662.

 Cavendish, The Convent of Pleasure, S. 244.

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Cavendish, Margaret: Observations upon Experimental Philosophy. To which is added, the description of a New Blazing World. London 1668. Cavendish, Margaret: Plays, Never Before Printed. Written by the Thrice Noble, Illustrious and Excellent Princesse, The Duchess of Newcastle. London 1668. Cavendish, Margaret: The Convent of Pleasure. A Comedy. In: The Convent of Pleasure and Other Plays. Hrsg. von Anne Shaver. Baltimore, London 1999. S. 216 – 247. Cavendish, Margaret: The Convent of Pleasure and Other Plays [Vorwort]. In: The Convent of Pleasure and Other Plays. Hrsg. von Anne Shaver. Baltimore, London 1999. S. 262 f.

Sekundärliteratur Andrea, Bernadette: Coming Out in Margaret Cavendish’s Closet Dramas. In: In-between. Essays & Studies in Literary Criticism. Margaret Cavendish 9 (2000). S. 219 – 241. Britland, Karen: Drama at the Courts of Queen Henrietta Maria. Cambridge 2006. Butler, Martin: The Stuart Court Masque and Political Culture. Cambridge u. a. 2008. DeRosa, Robin: ‘What Have I On a Petticoat?’. The Convent of Pleasure and the Reality of Performance. In: In-between. Essays & Studies in Literary Criticism. Margaret Cavendish 9 (2000). S. 275 – 286. Fitzmaurice, James: Paganism, Christianity, and the Faculty of Fancy in the Writing of Margaret Cavendish. In: God and Nature in the Thought of Margaret Cavendish. Hrsg. von Brandie R. Siegfried u. Lisa T. Sarasohn. Farnham, Burlington, VT 2014. S. 77 – 92. Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Jörg Dünne u. Stephan Günzel. Frankfurt am Main 2006. S. 317 – 329. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt am Main 1990. Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge, Mass., London 1990. Lotman, Jurij M.: Die Struktur Literarischer Texte. München 1986. Orgel, Stephen: The Illusion of Power. Political Theater in the English Renaissance. Berkeley u. a. 1975. (A quantum book). Paster, Gail K.: The Body Embarrassed. Drama and the Disciplines of Shame in Early Modern England. Ithaca 1993. Sanders, Julie: ‘The Closet Opened’. A Reconstruction of ‘Private’ Space in the Writings of Margaret Cavendish. In: A Princely Brave Woman. Essays on Margaret Cavendish, Duchess of Newcastle. Hrsg. von Stephen Clucas. Aldershot 2003. S. 127 – 140. Sarasohn, Lisa T.: The Natural Philosophy of Margaret Cavendish. Reason and Fancy during the Scientific Revolution. Baltimore 2010. (Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science). Sawday, Jonathan: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London, New York 1995. Shanahan, John: From Drama to Science. Margaret Cavendish as Vanishing Mediator. In: Literature Compass 5/2 (2008). S. 362 – 375.

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Anna Sebastian

Konfessionalisierung als Schwellenphänomen? Zum Einfluss der Übersetzungen Richard Bakers auf Andreas Gryphius’ frömmigkeitsgeschichtliche Position

1 Liminalität und Konfessionalisierung Beschäftigt man sich mit der Konfessionalisierung, so scheint sich die Frage nach ihrer Liminalität geradezu aufzudrängen, und zwar sowohl in historischer als auch in systematischer Perspektive (Interkonfessionalität, Transkonfessionalität). Der von der Reformation angestoßene Übergang von einer größtenteils einheitlichen Amtskirche mit nur innerkonfessionellen Differenzen zu einer Aufspaltung des Christentums in verschiedene Konfessionen, die sich wiederum in unterschiedliche geistige Strömungen unterteilen lassen, stellt dabei einen der bedeutendsten Prozesse von Grenzziehung in der Frühen Neuzeit dar, und zwar gerade im Sinne desjenigen Grenzbegriffs, der von der Liminalitätsforschung vorgeschlagen wird: „Denkt man Grenzen nicht als Linien, sondern als GrenzRäume, also Zonen des Übergangs, dann ‚ist die Grenze nicht nur der Ort der Unterscheidung und der Abgrenzung‘, sondern auch Raum des ‚Übergangs, der Annäherung und der Mischung‘.“¹ Ein großer Teil der bisherigen Konfessionalisierungsforscher sah in der Auseinandersetzung mit der Konfessionsbildung eine lineare Grenzziehung zwischen dem stark interiorisierenden Protestantismus und dem als äußerlich, ritualorientiert verstandenen Katholizismus. Jedoch wird diese Ansicht mittlerweile durch Untersuchungen zu theologischen, literarischen, künstlerischen und politischen Phänomenen relativiert, bei denen sich zeigen lässt, dass die Grenzen der sich heranbildenden Konfessionen sich in die eine oder andere Richtung überwölben oder gemeinsame Grenzen nach außen hin definiert werden, d. h. eine Annäherung in Grenzräumen stattfindet. Dabei werden oft Handlungsräume konzipiert, in denen aus pragmatischen, theologischen oder politischen Gründen eine gemeinsame konfessionelle Identität trotz differierender Positionen angestrebt wurde.

 Parr, Liminale und andere Übergänge, S. 12. https://doi.org/10.1515/9783110605389-014

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Ein interessantes Beispiel hierfür stellt das im Folgenden zu erläuternde Erbauungsbuch Meditations and Disquisitions upon the Lords Prayer Sir Richard Bakers und seine Übersetzung durch den Barockliteraten Andreas Gryphius dar. Der Schlesier vertrat einerseits als Syndikus die Interessen der evangelischen Stände Glogaus gegenüber dem Habsburger Katholizismus;² andererseits zeigt seine Baker-Rezeption, dass Gryphius eine Form von Gewissheit im Glauben suchte, ohne auf den ersten Blick heterodoxen Input zu scheuen. Es gilt mithin im Folgenden zu untersuchen, ob Gryphiusʼ frömmigkeitsgeschichtliche Position als eine konfessionell liminale gelten kann.³

2 Protestantische Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert 2.1 Konfessionalisierung und Frömmigkeitsgeschichte In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und der Konfessionalisierung lässt sich eine starke Pluralisierung der theologischen Ansichten und geistigen Strömungen erkennen.⁴ Nachdem die Reformation auf reichsstädtischer, kommunaler und landesfürstlicher Ebene im Heiligen Römischen Reich zu zahlreichen Konflikten geführt hatte und auch der Sieg im Schmalkaldischen Krieg auf Seiten des Kaisers die Reformation nicht an ihrer Ausbreitung hindern konnte, wurde im Augsburger Religionsfrieden 1555 erstmals die staatsrechtliche Legalisierung der Confessio Augustana vorgenommen. Obwohl der fragile Frieden zunächst die Probleme im Reich eindämmen konnte, führten unklare Formulierungen in dem reichsrechtlichen Friedensschluss zum Verlust der ausgleichenden Funktion und zu einer erneuten konfessionellen Verhärtung. Neben hegemonialen Auseinandersetzun-

 Lentfer, Die Glogauer Landesprivilegien; Bach, Andreas Gryphius als Glogauer Syndikus.  Die Frage nach Andreas Gryphius’ theologischer Lebenswelt und Konzeption stellt sich in der Forschung jeher als problematisch dar. Betrachtet man den Forschungsstand, dann wird klar, dass sich die meisten Forscher die „Eigenart des Gryphius durch den Nachweis einer besonders kühnen geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Stellung“ zu erläutern versuchten. Innerhalb dieses Kontextes sind wiederum drei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens die Frage nach der Beziehung Gryphius’ zum Luthertum als der Konfession, der er zugehört, zweitens die Frage nach einer überkonfessionell-irenischen Einstellung und drittens die Frage nach dem Verhältnis zur Mystik des 17. Jahrhunderts. Vgl. Krummacher, Der junge Gryphius und die Tradition, S. 15.  Pollack, Religion und gesellschaftliche Differenzierung, S. 161.

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gen waren vor allem die konfessionellen Streitigkeiten der Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg.⁵ Neben den andauernden politischen Krisenherden des 16. und 17. Jahrhunderts entstammt aus der Problematik der Verwirklichung der lutherischen Theologie eine Frömmigkeitsbewegung, die die Anzahl der geistigen Strömungen begünstigte. Die Offenbarung Gottes und deren Vermittlung an den Menschen waren dabei die zentralen Kern- und Konfliktpunkte. Für die lutherische Theologie wurde die Bibel gemäß dem Grundsatz sola scriptura als zentrale Quelle Gottes und Medium des Glaubens verstanden, an deren ‚äußerem‘ Wort sich die Essenz des göttlichen Geistes bindet. Durch die Ablösung des katholischen Denkmodells der Werkgerechtigkeit, in der dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen wird, selbst das Vermögen zur Rechtfertigung aus eigener Kraft zu besitzen, d. h. durch fromme Tätigkeiten und eigene Werke die Gnade Gottes und die Vergebung der Sünden zu erlangen, verfestigte sich die Vorstellung, dass der Mensch nur durch den Glauben an den Tod Christi am Kreuz als heilsvermittelndes Geschehen (sola fide) die Gnade Gottes erhalten könne, welche allein den Menschen erlösen kann (sola gratia). Zentrales Moment von Luthers Rechtfertigungslehre ist folglich, dass der Glaube nicht an die Stelle der Werke tritt, was diesen selbst zum reinen Werk degradieren würde, sondern dass dieser vielmehr als Verzicht auf das eigene Rechtfertigungsprinzip und das Vertrauen auf die göttliche Gnade verstanden wird. Der Glaube steht dabei in einem wechselseitigen Verhältnis mit dem Wort, das im Zweifelsfall stets den Vorrang hat.⁶ Dies bedeutete gleichzeitig, dass aus dem Gesetz allein, also den Zehn Geboten des Alten Testaments, keine Rechtfertigung möglich ist. Damit einhergehend entwickelte sich eine Art Zwang zur akademischen Hermeneutik, deren Ziel es war, den ‚inneren‘ Sinn des ‚äußeren‘ Bibelwortes zu erschließen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Die lutherische Theologie war, anders als die katholische Tradition, sehr eng an das Bibelwort im literalen Sinne gebunden, was dazu führte, dass sich alle anderen Autoritäten der mittelalterlichen Theologie, wie Kirchenväter, Konzilien und die heidnisch-antike Philosophie, vor dem Wort der Bibel zu legitimieren hatten. Auch eine individuelle Offenbarung aus einer anderen Quelle, wie z. B. der Natur oder dem Menschen selbst, war damit ausgeschlossen. Das Christentum sollte auf Grundlage der Bibel reformiert und damit in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Elemente wie das Papstamt, die Marien- und Heiligenverehrung sowie Mönchsorden, der Zölibat,

 Brecht (Hrsg.), Der Pietismus, S. 113 ff.  Lohse, Luthers Theologie, S. 278.

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der Ablass etc. konnten damit nicht mehr legitimiert werden. Entgegen des vierfachen Schriftsinns galt es für den Exegeten, nur eben jenen literalen, buchstäblichen Sinn als solchen zu erarbeiten, dem eine neue unbekannte Bedeutung als Grundlage des Glaubens und Lebens beigemessen wurde.⁷ Als heilsgeschichtlich relevant wurden ausschließlich Christus und die Verheißung seines Todes verstanden. Mit der Verbindung von Christi Person und Werk gehören bei Luther Christologie und Soteriologie unlöslich zusammen.⁸ Luthers Christologie weicht in den Grundzügen nicht von derjenigen der Alten Kirche ab, jedoch hatte er diese strenger interpretiert und entwickelt. In Bezug auf die Zwei-Naturen-Lehre wurde die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur nach alexandrinischer Tradition betont. Als Teil der Trinität entfaltete sich die Gotteslehre bei Luther jedoch nicht innerhalb der traditionellen Lehre, sondern kam gar nicht erst gesondert vor. Der Frage einer Gotteserkenntnis mithilfe der Vernunft und einer Gotteserkenntnis aufgrund der Offenbarung stand die Frage nach der wahren Natur Gottes entgegen. Aufgrund der fehlenden Erkenntnisfähigkeit des geschöpflichen und gefallenen Menschen waren vor allem die göttlichen Eigenschaften der Allmacht, der Wille Gottes und die Freiheit ins Zentrum gerückt.⁹ Ein weiterer essentieller Baustein der Gotteslehre ist die Bestimmung der prima causa, in der Gott als diejenige Instanz bestimmt wird, die die Welt geschaffen hat und regiert.¹⁰ Gerade aber die Offenbarungsfrage betreffend, ist das genuin Neue bei Luther die Unterscheidung zwischen deus absconditus und deus revelatus. Gottes Wirken bleibt verborgen und kann nicht letztgültig erkannt werden, jedoch ist die äußere Gestalt, in der es verborgen wird, für unser Begreifen und Denken fassbar. „Darum ist der Glaube ein ‚Erkennen‘ im Verborgenen.“¹¹ Jedoch hatte Luther weder eine eigene Erkenntnistheorie entwickelt, noch die verstandesmäßige Erkenntnis komplett aus seiner Theologie gestrichen. Die Ratio des Menschen wurde als das größte und wichtigste Geschenk Gottes an den Menschen verstanden, denn sie befähigt diesen, eine Vorstellung von Zeit zu entwickeln, gibt ihm die einzigartige Stellung zwischen den Engeln und den Tieren und macht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus. Jedoch wird im Rahmen der Gotteslehre unter der Ratio vor dem Sündenfall nur ein Erkennen verstanden, nicht aber eine Verstandesfähigkeit.¹²

 Wels, Manifestation des Geistes, S. 13 f.  Lohse, Luthers Theologie, S. 239.  Lohse, Luthers Theologie, S. 228.  Lohse, Luthers Theologie, S. 230 f.  Lohse, Luthers Theologie, S. 233.  Lohse, Luthers Theologie, S. 215.

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Theologisch konnte die Lehre zwar als Befreiung von der gesetzlichen kirchlichen Reglementierung gesehen werden, jedoch war ihre praktische Umsetzung im christlichen Leben ein Problem, das sich im individuellen und gesellschaftlichen Kontext stellte. Luthers Theologie selbst fehlte nie der Praxisbezug, jedoch hatten sich einige Konflikte über die genauen Inhalte ergeben.¹³ Nach der Konkordienformel 1577, die innerlutherische Lehrstreitigkeiten bereinigt hatte, konnte die lutherische Orthodoxie entwickelt werden. Jedoch korrespondierte die extreme Verwissenschaftlichung der lutherischen Lehre einem Erfahrungsdefizit des religiösen Lebens. Letzteres wird als „Frömmigkeitskrise“ des nachreformatorischen Protestantismus bezeichnet. Ohne Reglementierung war eine christliche Lebensführung unterbestimmt.¹⁴ Gegenüber der Schriftgläubigkeit entwickelten sich in der lutherischen Reformation daher spiritualistische Strömungen, die den Geist Gottes in der Welt, dem Menschen sowie der Natur zu finden meinten und einen Zugang zum göttlichen Geist jenseits des biblischen Wortes postulierten. Die Erkenntnis der Offenbarung Gottes und des Geistes wurde bei einigen durch das Anstreben einer direkten Verbindung von Mensch und Gott, der unio mystica, zu erreichen versucht, während andere sie durch prophetische Offenbarungen und Visionen verwirklicht sahen.¹⁵ Durch die Priorisierung des Geistes stand der Spiritualismus gegen die Autorität der Bibel als Erkenntnismedium.¹⁶ Die Formen des Spiritualismus teilten sich dabei in gemäßigte und radikale Formen. Während radikale Formen wie die Kabbala, Alchemie oder Magie die Extraktion des göttlichen Geistes bzw. die menschliche Erleuchtung mit unorthodoxen Mitteln herbeizuführen gedachten und deshalb Randerscheinungen blieben, konnten sich gemäßigte Formen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft etablieren. Wo Spiritualisten wie Thomas Müntzer, Caspar von Schwenckfeld, Sebastian Franck, Valentin Weigel und Jakob Böhme außerhalb der Kirche als Individualisten und Separatisten agierten, schuf Johann Arndt mit seiner theologischen Schrift Vier Bücher vom wahren Christentum eine solche gemäßigte Form, die im Laufe des 17. Jahrhunderts den Eingang in die Universitäts- und Schultheologie fand und durch ihre Reformation der gelebten Frömmigkeit den Spiritualismus in das Luthertum integrierte. Gerade die Tatsache, dass Arndt

 Procopé, Mohr u. Wulf, Erbauungsliteratur, S. 51. Die wohl berühmteste Auseinandersetzung ist bereits die zwischen Luther und Melanchthon, die sich in Folge der Reformation und der theologischen Bestimmung der Confessio Augustana ergeben hatte (vgl. Diestelmann, Luther oder Melanchton?).  Brecht (Hrsg.), Der Pietismus, S. 115 f.  Wels, Manifestation des Geistes, S. 31.  Reventlow, Bibelautorität und Geist der Moderne, S. 121.

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durchgehend Mitglied der Amtskirche blieb, begünstigte seinen Einfluss auf die lutherische Theologie maßgeblich.¹⁷ Aus diesen Kernveränderungen des Luthertums ging der Pietismus, die bedeutendste religiöse Reformbewegung innerhalb des kontinentaleuropäischen Protestantismus nach der Reformation, hervor.¹⁸ Anders als in den radikalen Formen des Spiritualismus stand für diese gemäßigte Form nicht die unmittelbare Erleuchtung, sondern die praxis pietatis, also eine gelebte Praxis des Glaubens, im Mittelpunkt. Umzusetzen war diese gelebte Frömmigkeit in Gebet, Meditation und asketischen Lebenswandel, welcher vor allem durch Verinnerlichung und Individualisierung zu erreichen war.¹⁹ Durch die Weiterentwicklung der Lehre Arndts förderten u. a. Johann Gerhard und Johann Valentin Andreae die neue Glaubensbewegung, die sich durch deren Schüler innerhalb der lutherischen Kirche weiterverbreiten konnte. Um die Lücke zu füllen, welche die lutherische Orthodoxie mit ihrer akademischen Hermeneutik in der Glaubenspraxis geschaffen hatte, entstanden bereits früh die ersten Werke der Erbauungsliteratur, die das religiöse Erfahrungsdefizit auszugleichen versuchten. Vor allem um 1620 erfuhr die Gattung der Erbauungsund Andachtsliteratur einen enormen Aufschwung durch die Arndt-Rezeption.

2.2 Ursprung und Rezeption der Gattung: England Ein besonderes Phänomen der Erbauungsliteratur im Heiligen Römischen Reich war dabei, dass die meistrezipierten Werke hauptsächlich Übersetzungen aus dem Englischen waren.²⁰ Grundlage der Massenübersetzungen englischer Erbauungsliteratur in Deutschland waren die Beziehungen zwischen den beiden Territorien im ausgehenden 16. Jahrhundert. Als maßgebend für das Entstehen von Erbauungsliteratur in England gilt die geistige Strömung des Puritanismus, die als „selbstständige, aktive geistige Kraft zu verstehen ist, die auf der Grundlage eines von der Bibel geprägten Christentums Lösungsversuche kirchlicher, kultureller und sozialer Probleme unternahm“²¹. Aufgrund der konfessionell

 Wels, Manifestation des Geistes, S. 38 f.  Wels, Manifestation des Geistes, S. 7 ff.  Breul, Waczkat u. Schneider, Pietismus, Sp. 12.  Die Verbreitung der Frömmigkeitsbewegung im 17. Jahrhundert zeigt sich vor allem anhand geistlicher Literatur, insbesondere der Erbauungsliteratur, welche aufgrund der sich erhöhenden Alphabetisierung des Volkes am Büchermarkt einen Marktanteil von rund 44 % erreichte. Vgl. Martino, Barockpoesie, S. 110.  Brecht (Hrsg.), Der Pietismus, S. 12 f.

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ständig wechselnden Lage hatten ins Exil geratene englische Reformhumanisten sich Anfang der zweiten Hälfe des 16. Jahrhunderts in konfessionsverwandte Gebiete wie den Niederlanden, der Schweiz und Teilen des reformierten Deutschlands niedergelassen und waren erst nach der Wiedereinführung des Protestantismus in England mit der Begründung der Anglikanischen Kirche 1559 in ihre Heimat zurückgekehrt. Wegen Konflikten mit der Staatskirche formierte sich die Gruppierung der Puritaner, die an einer vollständigen Durchführung der protestantischen Reformation im Reich interessiert waren und die konfessionell kompromissbereite Regierung Elisabeths I. ablehnten. Da sie sich jedoch nie in der Regierung etablieren konnten, wandten sie sich alsbald stärker der Pastoraltheologie zu. Um dem Wunsch nach aktiver Seelsorge jedes Einzelnen nachzukommen, entwickelte sich daraus rasch die Gattung der Erbauungsliteratur, die zur religiösen Selbstexaminierung anhielt.²² Über die Verbindung der Puritaner in die reformiert-calvinistischen Gebiete des Heiligen Römischen Reiches nahm die Rezeption der englisch-puritanischen Erbauungsliteratur ihren Anfang. Die auf Verinnerlichung und Glaubenspraxis bezogenen Inhalte konnten die Bedürfnisse der nachreformatorischen Erfahrungsdefizite des gläubigen Lebens erfüllen.²³ Die große Beliebtheit der bekanntesten Werke des Puritanismus ist aus deren auf das Subjekt des Glaubens abzielendes Profil sowie aus ihrem handbuchartigen Charakter zu erklären, der sie zu einer Anleitung in die religiöse Selbstexaminierung und Religionspraxis machte. Damit trafen sie ins Herz der Frömmigkeitskrise. Was jedoch die Drucklegung dieser Schriften maßgeblich begünstigte, war die Bearbeitung der Texte im Sinne der Confessio Augustana sowie der Druck in den lutherischen Städten ab den 1630er Jahren. Um 1660 ließen diese Editionen langsam die Grenzen von reformierter und lutherischer Literatur verschwimmen und somit gewannen die

 Greyerz, England im Jahrhundert der Revolutionen, S. 82. Da in den Augen der Puritaner nur eine ausgewählte Gruppe an Menschen für die Ewigkeit bei Gott bestimmt war, konnte man sich durch extreme Verinnerlichung und einem außerordentlich christlichen Leben selbst beweisen, dass man zu diesen gehörte. Vgl. Damrau, The Reception of English Puritan Literature, S. 3 f.  Durch die fundamentale Spaltung des deutschen Luthertums und der englischen Kirche fand die Rezeption der englischen Erbauungsliteratur zunächst vor allem in den Ländern der theologisch gleichgesinnten Partner Englands, wie den Niederlanden, der Schweiz und den reformierten Territorien des Heiligen Römischen Reiches, statt. Da die Puritaner in England nie eine Mehrheit im Staat für ihre kirchenpolitischen Anliegen fanden und seit 1593 gesetzlich verfolgt wurden, entwickelten sich die reformierten Länder zu Druckorten für puritanische Schriften, wie beispielsweise Basel, Hanau und Oppenheim. Studien zum Vordringen der Erbauungsliteratur innerhalb des Verlagsprogramms dieser Orte unterstützen diese These zur Entwicklung. Vgl. Sträter, Rezeption der englischen Erbauungsliteratur, S. 3 – 5.

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Übersetzungen der englischen Erbauungsliteratur weiter an Zahl und Umfang.²⁴ In diese Zeit lässt sich auch die Übersetzung der Schriften Richard Bakers durch Gryphius datieren.

3 Richard Bakers Erbauungsbuch und seine Übersetzung 3.1 Kontexte der Entstehung und seine Übersetzung Beschäftigt man sich näher mit dem Verfasser der Meditations and Disquisitions upon the Lords Prayer, Richard Baker, so sind die Erbauungsschriften nicht die signifikantesten Werke, die der Engländer verfasste, jedoch die zahlreichsten. Sir Richard Baker (1568 – 1645) schrieb eine große Anzahl an Andachtsschriften, die hauptsächlich während seiner Gefangenschaft im Fleet Prison entstanden.²⁵ Die bestehende Forschungsliteratur zu Baker und der Übersetzung durch Gryphius beschränkt sich in diesem Feld auf die Betrachtung der sprachlichen Elemente in Bezug auf pietistische Literatur²⁶ und der Frage nach der Übersetzungsgrundlage, mit der Gryphius gearbeitet hatte.²⁷ Hans Kuhn thematisiert in seiner Forschung die Problematik der Verfasserschaft Gryphius’ bei den anderen Übersetzungen Bakers, die nach seinem Tod publiziert wurden,²⁸ sowie sprachliche Aspekte der Übersetzung selbst.²⁹ Jedoch fehlt eine genauere Betrachtung inhaltlicher Aspekte in Bezug auf die Beziehung von Gryphius zu den BakerSchriften. Forscher wie beispielsweise Blake Lee Spahr zählen die Übersetzungen zwar zum Gesamtkorpus der Arbeit des Dichters, jedoch geht dieser dabei so weit, zu sagen, dass niemand, der nicht aus einer wissenschaftlichen Notlage heraus agiert, das Buch jemals auch nur komplett durchgelesen habe.³⁰ Vor dem Hin-

 Sträter, Rezeption der englischen Erbauungsliteratur, S. 11 f.  Powell, Einleitung, S. VIII.  Damrau, The Reception of English Puritan Literature, S. 89 f.  Sträter, Sir Richard Baker und Andreas Gryphius, S. 87– 89, sowie detaillierter Kuhn, Gryphius als Übersetzer.  Kuhn, Hier starb Gryphius, S. 51– 55. Zu den anderen übersetzten Werken zählen Betrachtungen über die sieben Buß-Psalmen, Betrachtungen über die sieben Trost-Psalmen, Betrachtungen über den 1. Psalm Davids (Glückseligkeit des Gerechten), Die Unsterblichkeit der Seelen (GeheimGespräch oder Pfeiler der Gedanken) und Betrachtungen auf Jedweden Tag der Wochen, die alle 1687 erstmalig in einem Sammelband gedruckt erschienen.  Kuhn, Gryphius und die Fremdwörter, sowie: Kuhn, Andreas Gryphius am Schreibtisch.  Spahr, Andreas Gryphius, S. 138.

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tergrund konfessionalisierungsgeschichtlicher Interessen ist diese Situation selbstverständlich ein Mangel, liefern Gryphius’ Übersetzungen doch wie kein zweites seiner Werke ein Beispiel der außerordentlich komplexen diskursgeschichtlichen Verflechtungen seiner Zeit. Den Werken Bakers in ihrer englischen Version wurde in der Vergangenheit ebenfalls sehr geringes Forschungsinteresse gewidmet, da dessen Erbauungsliteratur meist, gerade wegen seiner geringen Rezeption, als weniger einflussreich galt.³¹ Obwohl der Herausgeber der Gesamtwerkausgabe Gryphius’ konstatierte, dass „eine Geschichte des Pietismus im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts sich auch mit den Schriften Sir Richard Bakers befassen [müsste], was bisher nicht geschehen ist“³², so liegt die Relevanz der Schrift wohl weniger in ihrer Wirkung auf die Frömmigkeitsgeschichte im Allgemeinen als vielmehr in ihrer Wirkung auf ihren berühmten Übersetzer im Besonderen. Geboren wurde Richard Baker in Sissinghurst, Kent, als Sohn eines Juristen und Enkel des Finanzministers von Heinrich VIII., Sir John Baker. Ab 1584 studierte er in Oxford mit Zeitgenossen wie John Donne, einem englischen Schriftsteller, und seinem Zimmergenossen Henry Wotton, einem späteren Diplomaten und Dichter. Nach seinem Studienabbruch in Oxford strebte er einen juristischen Abschluss in London an, der ihm nach seinen Reisen 1594 genehmigt wurde. Anschließend wurde er 1593 Mitglied des Parlaments und zehn Jahre später von König Jakob I. zum Ritter geschlagen. Ab 1620 bekleidete er das Amt des High Sheriff of Oxfordshire. Nach der Hochzeit mit Margaret, der Tochter von Sir George Mainwaring of Ightfield, verschuldete sich Baker, da er für die Ausgaben seines Schwiegervaters bürgte, weswegen er nach der Pfändung seines Grundbesitzes seine restlichen Lebensjahre im Fleet Prison in London verbrachte. Dort begann seine produktive Phase, die durch den Besitz seiner privaten Bücher und durch den Zugang zu einer Druckmaschine begünstigt bzw. überhaupt ermöglicht wurde. Insgesamt erschien die originale Baker-Schrift Meditations and Disquisi-

 Dazu Sträter, Rezeption der englischen Erbauungsliteratur, S. 32: „Hier ist die Bedeutung Bakers stark überschätzt. Gegenüber der Fülle von Ausgaben des ‚Sonthom‘ und der ‚Praxis Pietatis‘, hinter der Vielzahl der Übersetzungen von Schriften Baxters, Halls und Perkins‘ lassen die beiden Baker-Ausgaben mit ihrem jeweils einzigen Nachdruck ihren Verfasser zurücktreten in die hintere Reihe der englischen Autoren, deren Erbauungsschriften im 17. Jahrhundert in Deutschland verbreitet wurden, – und für das 18. Jahrhundert ist keine deutschsprachige BakerAusgabe nachweisbar.“  Powell, Einleitung, S. X.

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tions upon the Lords Prayer viermal: 1636, 1637, 1638, 1640.³³ Am 18. Februar 1645 starb Baker in Haft.³⁴ Es ist davon auszugehen, dass Andreas Gryphius bereits in den vierziger Jahren von Richard Bakers Werken erfahren hat.³⁵ Gryphius hatte sich während des Dreißigjährigen Krieges zwischen 1638 und 1644 in Leiden, dem Zentrum protestantischer Exilakademiker aus Deutschland, aufgehalten. In diesen Jahren hatte er die niederländische Sprache erlernt und war mit englischer Kultur in Berührung gekommen, die aufgrund der calvinistischen Prägung, vor allem durch die Nähe des niederländischen Pietismus zum englischen Puritanismus, dort verwurzelt war.³⁶ Zudem waren die Niederlande ebenfalls von der Erbauungsliteratur der Puritaner aus England erfasst worden. Erst durch die Übersetzung ins Niederländische war Bakers Werk Gryphius zugänglich. Der englische Text war zuvor von Jan de Brune übersetzt worden, der einen Teil seiner Jugend bei seinem Onkel Franciscus Junius in England verbracht hatte und deswegen des Englischen völlig mächtig war. Kuhn schätzt in seiner Betrachtung der niederländischen Übersetzung die Vergrößerung der Textmasse vom Englischen ins Niederländische auf ca. 30 Prozent.³⁷ Die Brücke vom englischen Original über die niederländische zur deutschen Fassung erscheint gerade in Bezug auf die hermeneutische Vorgehensweise Probleme aufzuweisen. Gryphius’ Übersetzung muss von Bakers Text schon wegen der Veränderungen des Textumfanges im ersten Übersetzungsschritt abweichen. Eine rein wörtliche Übersetzung würde darüber hinaus sprachlich-stilistisch beim Rezipienten „schwer- oder unverständlich tönen; sie muss durch Umschreibungen ersetzt oder durch erklärende Zusätze verständlich gemacht werden.“³⁸ Kuhn kann jedoch plausibel aufzeigen, dass dergleichen Erweiterungen verhältnismäßig wenig in der deutschen Übersetzung existieren. Die nachweisbaren Textzuwächse sind nicht inhaltlicher Natur, sondern präzisieren meist kurz das bereits Gemeinte.³⁹ Was die Änderungen betrifft, so zeigt sich, dass der größte Anteil der

 Powell, Einleitung, S. XV. Neben seinen zahlreichen Andachts- bzw. Erbauungsschriften interessierte sich der Engländer auch für Geschichte, weswegen er 1643 sein Werk A Chronicle of the Kings of England from the Time oft the Roman Government unto the Death of King James veröffentlichte, das über seinen Tod hinweg elf Auflagen erfuhr und welches ihm den Namen ‚Baker, the Chronicler‘ einbrachte. Vgl. Martin, „Baker, Sir Richard (c. 1568 – 1645)“ [http://www.oxford dnb.com/view/article/1131, Zugriff: 11.07. 2018].  Martin, Baker, Sir Richard (c. 1568 – 1645).  Powell, Einleitung, S. VII.  Wallmann, Pietismus-Studien, S. 40.  Kuhn, Gryphius als Übersetzer, S. 348.  Kuhn, Gryphius als Übersetzer, S. 348.  Kuhn, Gryphius als Übersetzer, S. 349.

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Textänderungen durch die Konzeption der im Vaterunser formulierten Bitten zu erklären ist. Gryphius zählt sieben Bitten, weil er die Bitten ‚Führe uns nicht in Versuchung‘ und ‚Erlöse uns von dem Übel‘ als getrennte Bitten betrachtet; Baker hatte diese zusammengefasst und deshalb nur sechs Bitten gezählt. Wie aber kann das Werk Bakers überhaupt Einfluss auf die konfessionelltheologischen Konzeptionen des Übersetzers Andreas Gryphius nehmen? Italo Michele Battafarano bestimmt das Übersetzen und Vermitteln im Barock folgendermaßen: „Übersetzen ist die historisch erste und die qualitativ höchste Form der Interpretation, wenn es nicht mechanisch verstanden wird.“⁴⁰ Dass die Übersetzertätigkeit für Gryphius nicht nur darin bestand, wird bei der Betrachtung seiner Lebensumstände und der paratextuellen Selbstzeugnisse schnell deutlich. Über die Beschaffung des Werkes schreibt Gryphius in seinen Paratexten bereits, dass Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau ihm das Buch nicht ohne Mühen aus dem Ausland besorgt und zudem selbst in den Übersetzungsprozess eingegriffen habe. Die Übersetzung ist aufgrund der mangelnden Quellenlage auf einen unbestimmten Zeitraum zwischen dem Aufenthalt in Leiden und dem Publikationsdatum des Werkes zu datieren. Die einzig genauere Datierung, die man aus Präzisionsgründen über die Übersetzungsphase treffen kann, ist eine Textpassage, in der Gryphius seine Übersetzungstätigkeit ausdrücklich erläutert. Der seit 1650 als Syndikus der Glogauer Landesstände angestellte Literat eröffnet dem Leser darin einen Blick auf seine eigene Lektüre und Übersetzungstätigkeit von Bakers Werk:⁴¹ Ich meinen Theils bekenne daß ich dise Lust so ich auß dem Uberlesen und Verdolmetzschen dises Wercks in mir empfunden/weit allen Ergetzungen der Erden vor gezogen/so hat mir auch die wenige Arbeit/die ich zu keiner andern Zeit/als in denen von mir erkornen Ruhe und Nachtstunden bey andern unablaessigen und verwirreten Geschaefften hirauff wenden koennen/statt einer liblichen Erquickung in vilem und hohen Kummer gedinet/und meine Seele von der Erden zu Gott gefuehret. (13/22– 29)

Die „Unablaessige[n] und verwirrende[n] Geschäfte“ verweisen auf Gryphius’ Amt als Syndikus, in dessen Rahmen er die herausfordernde Aufgabe hatte, die Interessen der Landesstände des Fürstentums Glogau gegenüber den zentralisti-

 Battafarano, Übersetzen und Vermitteln, S. 15.  Zitiert wird nach dem folgenden Muster: (Seitenzahl/Verszahl). Als Textgrundlage für die Untersuchung wird die Transkription in der Edition von Szyrocki und Powell verwendet: Gryphius, Die Übersetzungen der Erbauungsschriften Sir Richard Bakers. Der Originaldruck erschien 1663 unter dem Titel Richard Bakers Engelländischen Ritters Frag-Stück und Betrachtungen über Das Gebett des Herren. Verdolmetschet durch Andream Gryphius in Breslau und Leipzig.

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schen Bestrebungen Habsburgs juristisch und diplomatisch zu vertreten.⁴² Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass die Übersetzung erst nach der Aneignung der niederländischen Sprache begonnen worden sein konnte. Dieses erste Selbstzeugnis lässt also bereits darauf schließen, dass es sich bei der Übersetzung um mehr als eine mechanische Tätigkeit, nämlich um einen hoch emotionalen Prozess handelte. Dies alleine kann noch als ein Demutsgestus verstanden werden, durch den sich Gryphius als treuer Diener Gottes zu stilisieren vermeint.⁴³ Jedoch wird die Wertschätzung des Werkes auch textintern in der Vorrede unter Anleitung mehrerer Argumente aufgebaut. Deshalb sollen im Folgenden zunächst die Vorrede und die Leserzuschrift genauer analysiert werden.

3.2 Aufbau und Inhalt des Erbauungsbuches 3.2.1 Zuschrift und Leservorwort Der Übersetzung der Meditations and Disquisitions upon the Lords Prayer geht nach dem Titelbild (2) und Titelblatt (3) eine Widmung des Werkes von Andreas Gryphius an die Ehefrauen wichtiger Adeliger und Amtsträger voraus und zwar auch an Maria Hoffmann, die Frau Christian Hoffmanns von Hoffmannswaldau.⁴⁴ Die einleitenden Worte der Zuschrift an die Adressaten aus der Widmung umfassen zunächst allgemeine christologische Überlegungen. In für die Erbauungsliteratur seit dem Mittelalter typischer Weise wird Christus als „der Mittler zwischen Gott und Menschen/der Mann/der Herr/Gott und Mensch/unser Erloeser Jesus/in seinem Lehr=Ambt als ein Prophet“ (7/2– 4) stilisiert, der dem Menschen neben „hohen und unschaetzbaren Wolthaten“ (7/1) das „unermaeßlichste[n] und unvergleichlichste[n]“ (7/5) Geschenk gegeben hat, nämlich nicht nur die Eröffnung des göttlichen Willens, sondern auch Anweisung und Lehre, „wie wir unsern Willen/Verlangen und Begehren Gott eroeffnen/und was wir bitten/ von ihm dem Koenige aller Koenige erlangen moegen“ (7/6 – 9). Es handelt sich dabei um das „heilige[n] Gebett daß Er uns vorgeschriben/so wunderbar vollzogen/daß nicht unbillich aller (von seinem bluttigen Soehn=Opfer an) folgender

 Kaminski, Andreas Gryphius, S. 13.  Schlüsse über die Beweggründe der Übersetzungstätigkeit beruhen selbstverständlich immer auf Annahmen, weswegen sich das folgende Kapitel zur Aufgabe macht, diese zu plausibilisieren.  Die genaue Adresse lautet: Hedwig Freiin von Dyhern, Gemahlin des Oberamtskanzlers des Herzogtums Ober- und Niederschlesiens Georg Abraham Freiherr von Dyhern, deren Schwester Ursula und schließlich Maria Hoffmann von Hoffmannswaldau (vgl. 5 – 6).

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Zeiten sinnreicheste Gemuetter darueber/durch inbruenstige Verwunderung bestuertzet/sich zugleich erfreuen und entsetzen muessen“ (7/9 – 14). Mit den ersten Zeilen formuliert Gryphius die Grundlagen seiner Überlegungen. Christus ist gemäß der lutherischen Orthodoxie der Versöhner zwischen Gott und dem Menschen. Nach hermeneutisch-theologischem Prinzip ist das Vaterunser, als Teil der Bibel, eine Offenbarung des göttlichen Willens und dessen Geheimnisse für den Menschen und gleichzeitig ein Medium, mit dem der Mensch seine Bitten Gott eröffnen kann. Durch das Studium des Gebets, das die „sinnreichesten Gemuetter“ (7/12) in Verwunderung, Entsetzen und Freude versetzt, weil es so „wunderbar vollzogen“ (7/10) ist, ist es dem Menschen möglich, die Geheimnisse Gottes, die er dem Menschen offenbart, durch das Gebet des Herren zu begreifen, denn die „Siben Bitten des heiligen Vater unsers“ sind „die Siben Seulen [sind] auff welche die Weißheit Gottes ihren Baw gegruendet“ (7/15 f.). In seinen Überlegungen beschäftigt sich Gryphius in einem zweiten Schritt mit dem Umgang und der Rezeption des Gebets Gottes, indem er beschreibt: „Unnoetig ists weitlaeufftiger darzuthun/wie hoch die seligsten Lehrer/und standhafftesten Bekenner des Namens Jesu/dise Beilage/die der Herr/seiner gelibtesten Braut/der streittenden Kirchen/auf Erden hinterlassen geachtet: Wie geschaefftig sie gewesen/die sonderbaren Geheim=nuessen diser Wortte zu ergruenden: Sie reden annoch mit geschlosse=nem Munde.“ (7/23 – 29). Selbst beste Theologen und Bekenner der Lehre Jesu waren demnach für Gryphius nicht erfolgreich in der Ergründung der hinter den Worten des Vaterunsers liegenden Weisheiten. Die Schriften dieser Theologen „schalle[n] […] durch die Welt“ (7/29 f.) und werden irdisch damit belohnt, als „Lob=Psalm und Dank=Lid“ (7/31) zu enden, jedoch wurde eine vollkommene Eröffnung und ein Verstehen der Geheimnisse Gottes nicht ermöglicht. Das Oxymoron des Redens mit geschlossenem Mund impliziert, dass eben jener essentielle Sinngehalt der Wahrheiten nicht ausgesprochen und erklärt wurde. Als Problematik eröffnet sich Gryphius des Weiteren die „Miß=gunst des Teuffels/welcher in disen Zeiten der letzten Gedult der Heiligen/sich mit vorhin unerhoeretem Eyver bemuehet/auch dises Werk der hoechsten Weißheit zu verlaestern“ (8/34– 36). Da er „den gesegneten Samen des Weibes […] dessen Schlangentrettende Ferse [er] nicht verletzen kann“ (8/37 f.), verhöhnt er dessen „Meisterstuecke“ (8/38). Es wird deutlich, dass der Teufel nicht Jesus, den er bspw. bereits in der Versuchung Jesu in den drei synoptischen Evangelien des NT (Mt 4, 1– 11 bzw. Lk 4, 1– 13) vergeblich versuchte zu verführen, selbst angreifen kann, sondern nur sein Werk auf Erden – die offenbarte Schrift und speziell das Gebet des Herrn. Nicht Gott und Teufel kämpfen einen Kampf, sondern der Mensch selbst steht gemäß der lutherischen Lehre als Instanz zwischen den

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beiden und lässt sich entweder zum Glauben und damit zur Gnade Gottes führen oder von der Sünde verführen.⁴⁵ Auch das Bild des Teufels ist typisch lutherisch, denn er wird in seinen zentralen Zielen dadurch charakterisiert, das reine Wort Gottes verfälschen zu wollen.⁴⁶ Dem Teufel gelingt dies laut Gryphius insofern, als dass er beginnt, „in dem vor wenig Jahren erbaermlich zerruetteten Koenigreich Engelland einen abscheulichen Schwarm zuerwecken. Welcher dises Denkmal und richtigste Vorschrifft des Herren Jesu gaentzlich aus dem Hertzen und Gedaechtnueß der Menschen/zu reissen/und so vil an Ihm/aus der Welt zu bannen sich unterstanden“ (8/38 – 43). Zentrales Bestreben des Teufels ist es, dem Menschen die Offenbarung Gottes zu entziehen und die im Vaterunser enthaltenen Wahrheiten in Zweifel zu ziehen, indem er das Gebet „aus der Welt zu bannen“ (8/43) versucht. Dies zeigt sich laut Gryphius daran, dass es „(wie (a) vornehme Geschichtsschreiber einhellig bezeugen) schon so weit kommen/daß man in der Haubtstadt des Koenigreichs selbst/wenig Kirchenbedinete finden/oder mit Muehe erforschen koennen/welche bey der Tauffe oder andern Geistlichen Verrichtungen gewillet gewesen/das Gebett des Herren zugebrauchen/oder oeffentlich vorzubringen“ (8/44– 49). Das Wirken des Teufels ist empirisch belegt, indem in der Kirche die Gebetspraxis des Vaterunsers in Verruf geraten ist. In die konfliktreiche Situation Englands schickt Gott den Gläubigen „ein Werkzeug/[…] und selbstes mit unvergleichlichen Gaben darzu außgeruestet/daß diser Ritter/Richard Baker/seinen verfuehreten Landesgenossen vorstellen koennen; welch eine ueberauß koestliche Perle/sich jenige mit Fuessen zu tretten unterstuenden; die dises Gebett in welchem weit mer Geheimnueß als Wortte/sich zu verwerffen nicht entsetzeten“ (8/53 – 60). Gryphius erhebt im Umfeld seiner Kritik an Gesellschaft und Kirche Richard Baker zum Werkzeug Gottes mit „unvergleichlichen Gaben“ (8/53), das „nicht nur uebermassen heilig und erbauend“ ist, „sondern auch so scharffsinnig/daß hochverstaendige Gemuetter nicht ohn Ursach zweifeln/ob einigem Menschen in solcher Schreib=Art Ihm gleich zu gehen moeglich (sintemal gewiß/daß Ihn noch kein einiger Außleger uebertroffen) in dem er nichts als eine stehts an einander hangende Verbindung anmuttigster Erfindungen/andaechtigster Gedanken/durchdringender Schluesse/und sinn=rei chester Bewegung=gruende seinem Leser vorstellet“ (8 f./61– 68). Historisch wird Baker als noch nicht übertroffene Spitze der Auslegungstradition des Gebets des Herrn dargestellt. Zwei Dinge sind dabei von essentieller Bedeutung: Bakers Ausführungen sind zum einen heilig und erbauend, gerade weil er das Werkzeug

 Lohse, Luthers Theologie, S. 270.  Lohse, Luthers Theologie, S. 271.

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Gottes ist, aber eben auch so „scharffsinnig“ (8/61), dass er rationale Verbindungen herstellen und Schlüsse ziehen kann, die den Wert des Gebets den Menschen wieder ins Gedächtnis rufen und die „schändliche“ Behandlung der Offenbarung Gottes vor Augen führen sollen. Oberflächlich formuliert Gryphius die Stellung Bakers in der Auslegungstradition als historisch unübertroffen, ohne jedoch Verbesserung auszuschließen. Sein Wortlaut lässt aber darauf schließen, dass Gryphius dabei eine bessere Auslegung für zweifelhaft hält. So schreibt er zwar in Klammern: „sintemal gewiß/daß ihn noch kein einiger Außleger uebertroffen“ (9/64 f.), jedoch ist eine systematische Einordnung Bakers an der Spitze trotz des Wortes ‚noch‘ nicht komplett auszuschließen, da er bereits impliziert, dass „hochverstaendige Gemuetter nicht ohn Ursach zweifeln/ob einigem Menschen in solcher Schreib=Art Ihm gleich zu gehen möglich“ (9/62– 64). So liegt es nahe, dass Gryphius, der sich vermutlich selbst zu diesen hochverständigen Menschen zählt, Baker als Spitze der Auslegungstradition sieht und anzweifelt, dass diese in Zukunft übertroffen werden kann. Jedoch bleibt die Formulierung uneindeutig. Weil Baker seine Betrachtungen so ideal konzipiert habe, erklärt Gryphius, sei es „[s]einem Freunde unschwer gefallen“, ihn zu überreden, „dise Ubersetzung auff [s]ich zu nehmen/und“ nun wolle er „dise Engellaendische Braut=Fackel des Sohnes Gottes auch der Deutschen Kirchen anzuenden“ (9/69 – 71). Intention der Übersetzung ist also das Zugänglichmachen der für Gryphius bisher besten Auslegung der Worte Gottes für die deutschen Gläubigen und damit das Erinnern an den Wert des Vaterunsers.Von der Erläuterung der Exzellenz und annähernden Unübertrefflichkeit Bakers kann eine direkte Verbindung zu Gryphius’ theologischen Vorstellungen gezogen werden. Nach der Widmungsvorrede und einer Erklärung des Titelbildes erläutert Gryphius im Leservorwort erneut die lange Auslegungstradition durch „unterschiedene so Geist= als Weltlichen Manns und Weiblichen Standes und Geschlechts“ (13/2 f.), „worueber dann ich nimands zu verwundern hat/sintemal die Kuertze dises Gebetts wie Tertulianus, (lib. De Oratione) welcher vilen mit seiner Außlegung voran gegangen/redet durch eine grosse und selige Selbststaendikeit der Außlegung unterstuetzet wird.“ (13/5 – 9) Das darauffolgende Zitat aus dem Werk De Oratione von Tertullian⁴⁷ postuliert dabei, dass trotz der Kürze des Gebets

 „Magnae & beatae interpretationis substantia fulta est. Qvantumqve, substrigitur Verbis, tantum diffunditur sensibus. Neqve enim tantum propria Orationis officia complexa est Venerationem Dei, aut hominis petitionem: sed omnem paenè sermonem Domini, omnem commemorationem disciplinae. UT REVERA IN ORATIONE BREVIARIUM TOTIUS EVAGELII, COMPREHENDATUR.“ (13/9 – 15).

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sein Inhalt vielfältig ist. Auch greift Gryphius abermals die Stilisierung Bakers als Spitze dieser Auslegung auf: Unter allen aber die biß anher sich unterstanden dise Wortte und Außsprüche der Ewigen Weißheit weitlaeufftiger vorzustellen/ist mir kaum jemand vorkommen der scharffsinniger in Nachforschungen und glueckseeliger in Ergruendung der verborgenen Geheimnueß dises Gebetts gewesen als Richard Baker ein Engellaendischer Ritter/dessen Fragen und Betrachtungen/hochgelehrteste und unvergleichlichste Sinnen nicht genung zu ruehmen und auszustreichen wissen. (13/15 – 22)

Erneut relativiert Gryphius jedoch seine Einschätzung mit dem Wort ‚kaum‘. Obwohl er Baker als Höhepunkt der Auslegungstradition sieht, scheint diese Formulierung darauf abzuzielen, anderen Auslegungstraditionen bzw. Erkenntnissen über das Vaterunser ihre Wahrheiten nicht abzusprechen. So wird bspw. Tertullians Aussage, die denselben Aussagegehalt über die Kürze und den Sinngehalt des Gebets wie Bakers hat, weiterhin als Wahrheit anerkannt und keine Herabstufung vorgenommen. Gleichwohl ist Baker, „dessen Fragen und Betrachtungen/hoch hochgelehrteste und unvergleichlichste Sinnen nicht genung zu ruehmen und auszustreichen wissen“ (13/21 f.), weiterhin in der Gänze seiner Betrachtungen an der Spitze der Exegese. Im Anschluss daran äußert sich Andreas Gryphius zu seinen eigenen Erfahrungen mit dem Werk, gibt Einblick in seine Lebenswelt und endet nach Informationen zu editorischen Maßnahmen über die Teilung der sechsten Bitte nach dem Vorbild Augustinus mit seiner Leservorrede. In Gryphius’ Lebensrealität, die von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges geprägt war, war der Widerstreit der Konfessionen omnipräsent. Jedoch zeigt sich deutlich, dass es sich in der Vorrede nicht um eine polemische Aufarbeitung der Konflikte handelt, welche die Differenzen, also Grenzen von Katholizismus und orthodoxem Luthertum, als zentralen Grund für die Missstände stark macht. Vielmehr setzt er diese spezifisch an einem allgemeinen Problem der Christenheit fest: der fehlenden bibel- und gebetsgetreuen Glaubenspraxis. Das Vaterunser ist dabei ein Geschenk Jesu, der zwischen Gott und dem Menschen durch seine ambivalente Natur fungiert. Es beinhaltet die offenbarten Wahrheiten Gottes und dient als Medium, um Bitten und Gebete an Gott zu richten. Die Missgunst des Teufels zielt in diesem Kontext darauf ab, dem Menschen diese Verbindung zu nehmen, indem das Vaterunser verunglimpft wird, was zeitgenössisch im Widerstreit der Konfessionen und dem Verschwinden des Gebets in der Praxis des christlichen Lebens erkennbar wird. Die bisherige Auslegungstradition konnte die Offenbarung Gottes im Vaterunser nicht deutlich machen und erst Baker, der als Werkzeug Gottes in der Welt den Wert des Gebets und dessen grundlegenden Inhalte durch Erforschung und Ergründung erklärbar macht, übertrifft diese

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Tradition. Der Zweck der Übertragung eines solchen Werkes von England ins Heilige Römische Reich besteht in diesem Kontext in der Wiedereinführung des Gebets im christlichen Leben, die Gryphius durch seine entbehrungsreiche Übersetzungspraxis auch der deutschen Kirche angedeihen lassen will. Durch diese Vorgehensweise entsteht ein interkonfessioneller Schwellenraum, der erlaubt, ohne jegliche Konfessionspolemik die differenzierenden Positionen auszuklammern und sich darauf zu konzentrieren, individuell durch die Meditation über das biblische Wort erneut zu Gott zu finden.

3.2.2 Glaubenspraxis zwischen Luthertum, Spiritualismus und Reformorthodoxie Im weiteren Verlauf des Werkes lassen sich immer wieder dem Luthertum affine Glaubensinhalte entdecken. Die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit ist dabei zentraler Bestandteil der Erläuterungen und befindet sich zunächst zwischen Glaube und Vernunfterkenntnis. Exemplarisch dafür lässt sich die rationale Erklärung der Dreifaltigkeitslehre heranziehen, in welcher Baker die Vollkommenheit der göttlichen Trias durch mathematische Überlegungen verständlich zu machen versucht: Das endlich dieser Personen mehr dann eine/aber nicht mehr denn drey sind […]. Wann ich nicht meine Gedancken alhir einzihen wolte/aus Furcht/daß in solche Geheimnueß ich aus Unehrerbittung suendigen moechte: So solt es mir nicht schwer fallen einige Beweiß= Gruende von den Welt=Weisen zu entlehnen/welche fest darauff bestanden/daß GOTT vor eine Zahl gehalten werden mueste. (61 f./495 – 504)

Unter Heranziehung von mathematischen Regeln wie Subtraktion und Multiplikation versucht Baker das Dogma der Dreieinigkeit als vollkommenste Zahl zu erklären. Die Zahlen Eins und Zwei sind unvollkommen, da erstere „kleiner bleibet/wann sie durch sich selbst vermehret/als wann sie zu sich selbst gethan wird“ und bei zweiterer „eben dasselbige darauß kommet/wann sie durch sich selbst gemehret/als wenn sie zu sich selbst gesetzet wird.“ (62/506 – 510) Die Zahl Drei jedoch erscheint Baker ideal, denn wenn man diese „durch sich selbst vermeheret/ist es ein mehrers als wenn es zu sich selbst gesetzet wird/und dises ists/ darinn die wahre Vollkommenheit einer Zahl bestehet.“ (62/511– 513) Der Mensch kann also durch diese Überlegung innerhalb seiner Wissenschaft erkennen, dass

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die Dreifaltigkeit denknotwendig ist.⁴⁸ Das Erkennen reicht jedoch nicht so weit, dass der Mensch Gott rational begreifen kann. Vollkommene Einsicht ergibt sich für den Menschen laut Baker, der sich am lutherischen Prinzip des lumen gratiae orientiert, erst nach dem Tod und mit der Ewigkeit in Gott: „Wenn wir dermaleins in dem Himmel mit der Ewikeit begabet/unsern vorigen unverstand mit einer tiffen verwunderung anspeyen werden.“ (74/894 f.) Gleichzeitig verschwimmen aber die Grenzen zu spiritualistischen Gedankenansätzen, denn die Erkenntnis des Göttlichen scheint auch in der Natur selbst möglich zu sein. So schreibt Baker: „Die Himmel erzehlen die Ehre GOttes/und die Feste erzehlen seiner Hnde Werck. Welches eben so vil gilt/als wann er gesaget htte/die Himmel verkndigen/daß ein hocherhabener GOtt sey/und die Fest ist ein trefflich Meisterstck/daß seinen Werkmeister genung=sam darthut.“ (52/ 200 – 205) Sich auf den biblischen Psalm (Ps 19, 1) berufend, dient der Himmel als „zu einem solchen Augen=scheinlichen Beweiß in der unzehligen Zahl der himmlischen Leiber/daß man darauß/als klaren Buchstaben und deutlichen Abbildungen lesen kann/das GOtt sey/und daß er aldar sey.“ (52 f./205 – 208) Zentral ist jedoch, dass „dises geffnete Buch des Himmels“ (53/209) nur dann zu lesen ist, wenn wir darauf achten. Baker verdeutlicht die Problematik darin, „daß wir vor den beredelen stummen Schrifften der Geschpffe mit blinden Augen/ und vor der Himmel klaren und hellen Ansprache mit tauben Ohren vorbey gehen […]“ (52 f./212– 214) Die Wortfelder ‚Buch‘, ‚Schrift‘ und ‚Buchstaben‘ setzen die Naturerkenntnis damit kategorial zur Erkenntnis aus der Heiligen Schrift. Die göttlichen Wahrheiten sind also für den Menschen auch ersichtlich in der Exzellenz der Schöpfung des Herren: „Denn gleich wie/wann wir ein schn und unschtzbarer Weise außgeziretes Hauß ansehen/von Stund an urtheilen/daß es nothwendig ein Schloß eines berauß ansehnlichen Frsten seyn msse.“ (54/ 264– 267) Baker stellt sich jedoch zugleich die Frage, wie „unser Verstand recht auff den Weg gebracht werden“. (105/608 f.) Denn obwohl wir die Himmel „ohn unterlaß anschauen/bringet doch die Gewohnheit des tglichen Anblicks zu wege/daß wir dises nicht sonders achten“. (105/610 – 612) Aber auch „sein Wortt aus dem Gesetz und Evangelio/in welchem das ewige Leben zu finden“ hört der Mensch oft, jedoch weil wir es „durch die ander und dritte Hand“ empfangen, „rhret [es] unsere Hertzen nicht als mit dem Nachklang“. (105/612– 615) Weder die reine Erkenntnis in der Natur, wie sie die Spiritualisten und Mystiker zu erreichen

 Vgl. die systematische These, die Erkenntnis der Trinität setze notwendig mit dem Vollzug des Satzes vom Widerspruch ein: Schmidt-Biggemann, Geschichte wissen, S. 13 f.

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versuchen,⁴⁹ noch die reine Beschäftigung mit Gesetz und Evangelium alleine kann den Menschen leiten. Wenn nun aber der Mensch weder durch die Offenbarung der Natur noch durch das Wort des Herren, das den Menschen nicht direkt erreichen kann, auf den richtigen Weg und die richtige, dauerhafte Erkenntnis Gottes kommen kann, „durch was Weise dann/kan unser Verstand recht auff den Weg gebracht werden?“ (105/608 f.) Baker beantwortet diese Frage im Sinne des frühneuzeitlichen Frömmigkeitsideals, welches grundlegend für die starke Verinnerlichung im Gebet und der Andacht plädiert. Obwohl der Mensch, weil er Gott weder direkt hören noch sehen kann, nicht vollkommen beten und Gott verehren kann, so ist dies doch der einzige Weg und damit Sinn und Zweck der Erbauungsliteratur: „Dann wie unsere Wortte dem Verstand sehr langsam nachfolgen/und unser Verstand nicht mächtig das tausendeste Theil der Göttlichen Herrlikeit zu erwegen; Also gebühret uns GOttes Namen in unseren Hertzen anzuruffen/und gleichfalls zu gedencken/daß er unbegreifflich sey/und Ihn mit unsern Zungen zu heiligen/sondern in Vergeß zu stellen/daß er unaußsprechlich sey.“ (106/650 – 655) Damit wird die Werkoffenbarung in den Kontext der Gotteserkenntnis des gemäßigten Spiritualismus integriert, welcher durch Arndt in der Reformorthodoxie der lutherischen Kirche etabliert wurde.⁵⁰ Die primäre Autorität in der Frage nach den zentralen Glaubensweisheiten ist das göttliche Wort, aber auch in der Natur ist eine Gotteserkenntnis zumindest in Ansätzen möglich. Wichtiger aber ist, dass beide Formen der Offenbarung nur durch die immer wieder zu erneuernde Andacht im tiefen Glauben zu erreichen sind. Indem das Werk in einem interkonfessionellen Duktus die Differenzen der Konfessionen ausklammert, die Grenze zwischen orthodox lutherischer Wortgläubigkeit und spiritualistischer Naturoffenbarung überwindet und einen gemeinsamen Nenner in der Fokussierung auf Andacht und Meditation findet, schafft der pietistische Ansatz einen interkonfessionellen Raum für ein gemeinsames Christentum.

4 Konfessionelle Übergangsräume In der Revision der Forschung um die Konfessionsbildung lässt sich das Konzept der Liminalität durchaus fruchtbar anwenden. Gerade am Beispiel des Erbau-

 Vgl. Vollhardt, Zweite Reformation?  Zum Einfluss Arndts auf die Theologie Gryphiusʼ: Krummacher, Andreas Gryphius und Johann Arndt.

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ungsbuches Bakers und seiner Übersetzung durch Gryphius zeigt sich auf besondere Weise, wie das sich entwickelnde Frömmigkeitsideal des Pietismus auf mehrfache Weise als grenzüberwindendes Phänomen zu sehen ist. Zum einen geschieht dies auf interkonfessioneller Ebene, indem nicht die konfessionellen Differenzen in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern eine gesamtchristlich gültige Relevanz von individueller, innerer Andacht und Meditation im Gebet bzw. das Fehlen einer solchen als Grund für die Missstände ins Zentrum gerückt wird. Die Erbauung der eigenen Person und die Übertragung einer solchen Erbauung auf den Rezipienten sind zentrale Anliegen des Werkes aber auch von Gryphius’ Übersetzungstätigkeit gewesen. Zum anderen lässt sich auch eine innerkonfessionelle Annäherung der unterschiedlichen theologischen Strömungen feststellen, in denen exemplarisch an der Erkenntnisfrage der göttlichen Wahrheit eine Art Vereinbarkeit von spiritualistischer Naturerkenntnis und lutherischer Wortoffenbarung durch den Mittelweg der individuellen Erbauung postuliert wird. So gesteht Baker in den Meditations sowohl dem biblischen Wort als auch der Schöpfung Gottes zu, dem Menschen Erkenntnisse über die göttlichen Weisheiten zu offenbaren. Gerade durch die Betrachtung der Konfessionsgrenzen als durchgängige Spielräume der Annäherung und Mischung eröffnet sich ein Blick auf eben jene Phänomene, die entgegen der Vorstellung der binären Teilung der Konfessionen eine gewissen Form der Durchlässigkeit ermöglichen und ihren gemeinsamen Nenner in der konstanten Hinwendung zu Gott durch die Erbauung finden.

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Moralität zwischen Verstand, Sinnen, Trieben und Offenbarung in der Aufklärung Friedrich Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen und die Tradition Wolffs, Rousseaus, Baumgartens und Gellerts

1 Einleitung: Von der Natur zum ‚Paladium unserer Freiheit‘ 1795 fasst Friedrich Schiller im dritten Brief seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen das Verhältnis von Mensch, Natur und Staat wie folgt zusammen: Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stillesteht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben. Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her und findet sich – in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freiheit diesen Stand wählen konnte; die Not richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte.¹

In diesen Zeilen fasst Schiller bündig die Probleme zusammen, welche die für die Aufklärung so wichtigen Staatsentstehungstheorien von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf auf moralphilosophischer Ebene bereiteten. Hugo Grotius beschreibt den Staat als Ergebnis eines natürlichen Triebs zur Gesellschaft im Menschen (appetitus societatis);² Samuel Pufendorf hält die Staatsgründung für alternativlos: Die natürliche Schwäche des Menschen, allein im Naturzustand unmöglich überleben zu können, zwingt ihn schlechterdings zur Vergemeinschaftung.³ Diese Thesen lehnt Schiller beileibe nicht ab: Für ihn ist Vergemeinschaftung nur genauso eine irreduzible und nicht zu beseitigende Notwendigkeit  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 573 f. Hervorhebung im Text.  Stiening, Natur und Staat, S. 213 – 224.  Pufendorf, De jure naturae et gentium, lib. II, cap. 3, § 14; vgl. lib. II, cap. 1, § 8. Vgl. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 39 f. https://doi.org/10.1515/9783110605389-015

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des Menschen. Sein dritter Brief setzt ein mit einer Anthropologie. Ist Schiller damit zwar eben jener Naturrechtstradition im Allgemeinen zuzuschlagen, der auch Grotius und Pufendorf angehören und die sich anders als die apriorische Rechtslehre des Contrat social Rousseaus und der Metaphysik der Sitten Kants auf Anthropologie stützt, so sind nichtsdestoweniger Modifikationen sichtbar: „[E]ben das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stillesteht, was die bloße Natur aus ihm machte.“⁴ Insoweit stimmt Schiller noch mit Pufendorf überein; denn auch dessen Naturzustandsfiktion wollte mit der Imagination eines jenseits aller kulturellen Prägung und Vergemeinschaftung stehenden Menschen nichts anderes aufzeigen als dessen Imbezillität, d. h. die Hilflosigkeit des auf sich gestellten Menschen, mithin seine Bedürftigkeit nach Gesellschaft (socialitas).⁵ Gerade darum aber kann sie nicht Ausfluss seiner Moralität sein, mithin noch nicht das, was den Menschen als Menschen auszeichnet. Ab hier also weicht Schiller von der bis in seine Zeit wirkmächtigen Lehre Pufendorfs ab: Während Pufendorf jene socialitas allein als Kompensation der imbecillitas, mithin als Mittel des bloßen Überlebens bestimmt hatte, reicht diese Ausstattung in Schillers Augen nicht mehr aus für die Bestimmung des Menschen. Dasjenige nämlich, womit die Natur den Menschen ausstattet, ist nicht allein für das Überleben ungenügend. Gerade wenn man nämlich wie Pufendorf die socialitas als Anthropologem dergestalt stärken will, dass sie zur natürlichen Notwendigkeit, der Naturzustand in Kontrast zu Hobbes zum „Friedenszustand“ wird,⁶ schlägt die Geselligkeit des Menschen von einem naturrechtlichen Gebot um in eine naturgesetzliche Gegebenheit: Sie ist immer schon vorhanden. Damit fällt die socialitas nicht in das Feld, auf dem sich Schiller – und eigentlich auch Pufendorf – bewegen wollen, nämlich dem der praktischen Philosophie. Pufendorf gelingt mithin nur, die Vergemeinschaftung als physische Notwendigkeit zu begründen, d. h. als Element der theoretischen Philosophie. Als solche können die Akte der Vergemeinschaftung und der Staatsgründung dem Menschen nicht zugerechnet werden. Nur zurechenbare Handlungen jedoch sind moralische Handlungen.⁷ Schiller fordert deshalb vom Menschen, dass dieser die Vergemeinschaftung genauso als Akt moralischer Notwendigkeit vollzieht. Die Abstraktion von der physischen Notwendigkeit gelingt dem Menschen, so Schiller, „durch Vernunft“. „Die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben“, wie Schiller sagt, ist jedoch keineswegs nur der Vernunft möglich.  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 573 f.  Vollhardt, Die Grundregel des Naturrechts.  Pufendorf, De jure naturae et gentium, lib. II, cap. 2, § 9.  Dies hatte eigentlich schon Pufendorf selbst konstatiert: „Imputari non possunt homini necessaria“ (Pufendorf, De jure naturae et gentium, lib. I, cap. 5, § 6).

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Schiller geht es in seiner Schrift schließlich um die ästhetische Erziehung der Menschen hin zur „moralischen Gesellschaft“.⁸ Dass Schillers ästhetische Briefe vor allem eine Reaktion auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft waren, ist bekannt. „Das Schöne und die Kunst“ sind relevant für die Glückseligkeit, mithin sind sie „mit dem moralischen Adel der menschlichen Natur“ eng verbunden.⁹ Nach seiner Lektüre der Kritik der Urteilskraft (1791) hält Schiller zwar unübersehbar Abstand zu einer plumpen Instrumentalisierung der Kunst als moralischer Anstalt. Gleichwohl gewinnen die Kunst und das Schöne ihre Freiheit gegenüber äußeren Zwängen gerade im Moment der Sittlichkeit: Schon 1792 hatte Schiller in Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen gerade in der „moralischen Zweckmäßigkeit“ „das Paladium unserer Freiheit“ ausgemacht, weil diese das Gegenstück zur „Naturzweckmäßigkeit“ darstellt.¹⁰ Insofern es Schiller in den ästhetischen Briefen um die Freiheit weniger als Grund des Phänomens tragischen Empfindens, sondern als Ziel einer Erziehung des Menschen geht, werden die Kunst und das Schöne – bei aller Ferne zur Regelpoetik – moralisch finalisiert. Schiller distanziert sich mithin insofern von Kants Autonomieästhetik, als deren Bestimmung des Schönen in der Kritik der Urteilskraft 1790 ausschließlich auf die Disposition des Subjekts rekurriert und damit nur die „subjective Zweckmäßigkeit“ kennt.¹¹ Für Schiller ist „unsre Glückseligkeit“ offensichtlich eine gänzlich objektive Zweckmäßigkeit. Schiller nahm einerseits dank Kant von der unterkomplexen Instrumentalisierung der Dichtung als moralischer Anstalt Abstand. Andererseits sah Schiller gegen Kants Autonomieästhetik gerade in der Sittlichkeit das Moment von sowohl menschlicher als auch künstlerischer Freiheit. Was also macht die Verbindlichkeit praktischer Normen aus, wenn die Handlung frei ist, und zwar sowohl mit Blick auf die objektive Geltung als auch mit Blick auf die subjektive Verbindlichkeit? Wie kann die Realisierung einer praktischen Norm gewährleistet werden, ohne entweder die Freiheit der Vernunftentscheidung oder die menschliche Triebausstattung unsachgemäß zu vernachlässigen – d. h. eben genau so, dass der Mensch „das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben“¹² vermag? Moralisches Wissen und Handeln in einem Raum zwischen Vernunft und Natur: Um Schillers Angebot einer Antwort auf diese Fragen ideengeschichtlich zu bewerten, gilt es im Folgenden unterschiedliche  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 575.  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 570.  Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, S. 364.  Kant, Kritik der Urteilskraft, AA XX, 2248–28.  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 573 f.

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Positionen des Aufklärungsdiskurses zu erläutern, welche die Möglichkeit der Erkenntnis und Verbindlichkeit praktischer Normen an je unterschiedlichen Stellen der menschlichen Seelenvermögen verorten: Das Spektrum solcher Positionen reicht mithin von solchen, die einen Primat des Verstandes annehmen, bis hin zu solchen, die einen Primat des Triebs behaupten. Die Mitte des Spektrums besetzen Positionen, welche die Erkenntnis und Bindungswirkung praktischer Normen zwar bereits unterhalb der rein verstandesmäßigen Erkenntnis, aber zugleich nur oberhalb der bloßen Triebebene für möglich befinden – die Theorien der sogenannten sinnlichen Erkenntnis. Ganz jenseits dieses Spektrums, wenn auch in kritischem Bezug zu demselben, stehen solche Positionen, welche die Erkenntnis und Bindungswirkung allgemeiner Normen letztlich weder durch den Verstand noch durch den Trieb noch auch durch eine zwischen denselben liegende Ebene sinnlicher Erkenntnisvermögen für möglich befinden, sondern erneut einen Primat der göttlichen Offenbarung behaupten:

Abb. 1: Quellen praktischer Erkenntnis in der Aufklärung. Grafik O.B.

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Die dargestellte Grafik deutet es bereits an: Zum einen lässt sie offen, welche spezifischen Erkenntnisvermögen im Einzelnen als obere, mithin verstandesmäßige Erkenntnisvermögen bestimmt werden, und welche spezifischen Erkenntnisvermögen im Einzelnen als untere, mithin sinnliche Erkenntnisvermögen bestimmt werden. Zum anderen lässt sie dahingestellt, ob die Grenze zwischen oberen und unteren Seelenvermögen geschlossen oder durchlässig ist, d. h. ob der Unterschied zwischen verstandesmäßiger und sinnlicher Erkenntnis kategorial oder gradual bestimmt wird. Im folgenden Punkt 2 wird die naturrechtliche Verbindlichkeitstheorie Christian Wolffs als Vertreterin derjenigen Position vorgestellt, die einen Primat des Verstandes behauptet. In Punkt 3 werden die moral sense-Theorien und JeanJacques Rousseaus Konzept der pitié als Vertreterinnen derjenigen Position erläutert, die einen Primat des Triebs behauptet. In Punkt 4 gilt es, Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik als Vertreterin einer Mittlerposition vorzustellen, indem sie der sinnlichen Erkenntnis zugleich vernünftige und appetitive Eigenschaften zuschreibt und ihr deshalb eine herausragende Rolle in der Moralerkenntnis einräumt. In Punkt 5 ist Christian Fürchtegott Gellert als neuerlicher Verfechter der Offenbarung zu erläutern. Im abschließenden Punkt 6 ist auf Friedrich Schiller zurückzukommen und auf seine liminale Bestimmung des Verhältnisses von verstandesmäßiger und sinnlicher Erkenntnis praktischer Normen.

2 Primat des Verstandes? Praktische Vernunft in der Seelenlehre Christian Wolffs Christian Wolffs Naturrechtstheorie zeichnet sich durch den Anspruch aus, das ius naturae vollständig zu säkularisieren, d. h. sowohl die Erkenntnis als auch die Verbindlichkeitswirkung der natürlichen Gesetze unabhängig von der Annahme göttlicher Setzungen zu bestimmen.¹³ Samuel Pufendorf nämlich hatte zwar die Erkenntnis des Naturrechts von der göttlichen Offenbarung unabhängig gemacht, insofern das Prinzip des ius naturae vollständig aus der Natur des Menschen vernünftig hergeleitet werden könne; er konnte sich jedoch nicht entschließen, auch die Verbindlichkeit naturrechtlicher Normen von der Annahme göttlicher Strafen unabhängig zu machen.¹⁴ Wolff hingegen versucht sich an der Bestim-

 Vgl. ausführlich Hüning, Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit.  Vgl. zu den widersprüchlichen verbindlichkeitstheoretischen Bestimmungen Pufendorfs jetzt Bach, Christian Fürchtegott Gellert, S. 216 – 222.

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mung einer sogenannten obligatio naturalis. In seinen Grundsätzen des Natur- und Völckerrechts (1754; lateinisch 1750) bestimmt Wolff Verbindlichkeit zunächst im Allgemeinen: Verbindlichkeit besteht in nichts anderem als in der „Verbindung eines Beweggrundes mit einer Handlung, es mag dieselbe eine auszuübende, oder zu unterlassende sein“¹⁵. Mit dieser Bestimmung der Verbindlichkeit durch einen Beweggrund (motivum) wird der Aspekt einer Verbindung durch äußeren Zwang aus dem Verbindlichkeitsbegriff selbst verabschiedet. Wolff folgert die Erkenntnis des Naturrechts sowie die Verpflichtung zu demselben gleichermaßen aus dessen allgemeinem Prinzip: „Die Allgemeinheit des Gesetzes der Natur“ ist dadurch gegeben, dass „das natürliche Gesetz den hinreichenden Grund in der Natur des Menschen und der Dinge selbst hat“.¹⁶ Der universale Charakter des ius naturae wird – wie auch bei Pufendorf – anthropologisch begründet; es handelt sich mithin durchaus nicht um ein Vernunftrecht im eigentlichen Sinne. Inhaltlich besteht „[d]er allgemeine Grundsatz des Rechts der Natur“ nun darin, die Handlungen auszuüben, welche die Vollkommenheit des Menschen und seines Zustandes befördern; und diejenigen zu unterlassen, welche seine und seines Zustandes Unvollkommenheit befördern; folglich, die freyen Handlungen mit den natürlichen, durch eben dieselben Endursachen nicht aber durch verschiedene zu bestimmen […]; und gleichfals alle Gefahr von uns und unserm Zustande abzuwenden.¹⁷

Die Vollkommenheit ist bei Wolff die Quelle aller praktischen Philosophie.¹⁸ Aus diesem Prinzip sind die naturrechtlichen Subnormen streng rational deduzierbar: „Aus demselben werden, durch eine beständige Verbindung von Schlüssen, alle Wahrheiten hergeleitet, welche zum Rechte der Natur gehören.“¹⁹ Indem er die menschliche Natur auf den Vollkommenheitszweck ausrichtet, verbindet Wolff rationale und triebanthropologische Voraussetzungen der naturrechtlichen Bindungswirkung: „Die Natur des Menschen ist so beschaffen, daß er dasjenige dem

 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, S. 23, § 35.  Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, S. 27, § 42.  Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, S. 28, § 43.  Wolff, Philosophia Moralis sive Ethica […] Pars quinta, f. b2v, praefatio: „Omne jus naturae & per consequens omnem quoque virtutem ex notione perfectionis deduxi, una cum naturali obligatione. Perfectionis itaque notio est fons philosophiae meae practicae, quam in systemate meo sufficienter, ut puto, evolvi & cujus foecunditatem ostendi.“ / „Ich habe das gesamte Naturrecht und in der Folge alle Tugend aus dem Begriff der Vollkommenheit deduziert, zusammen mit der natürlichen Verbindlichkeit. Der Begriff der Vollkommenheit ist daher die Quelle meiner praktischen Philosophie, die ich meinem System hinreichend, wie ich meine, entwickelt und deren Fruchtbarkeit ich bewiesen habe.“ Übers. O.B.  Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, S. 28, § 43.

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andern vorzieht, von welchem er erkennet, daß es besser sey, als das andere.“²⁰ Auf den ersten Blick scheint die Realisierung des natürlichen Rechts triebanthropologisch gewährleistet zu sein – wenn man Wolffs terminologische Verbindung der Natur des Menschen und des Vorziehens so interpretiert: D. h. der Mensch ist von Natur aus geneigt, die seiner Vollkommenheit zweckdienlicheren und insofern gebotenen Handlungen den zweckhinderlichen und insofern verbotenen Handlungen vorzuziehen. Auf den zweiten Blick zeigt sich hingegen: Dieser Akt des Vorziehens gelingt, d. h. er führt zum Vollkommenheitszweck nur dann hin, wenn der Mensch auch angemessen erkennt, welche Handlung seiner Vollkommenheit zweckdienlicher ist als andere.²¹ Was diese angemessene Erkenntnis gewährleistet, ist von der rein motivationalen Wirkung seiner natürlichen Neigung vollkommen unabhängig.Wolff stellt vielmehr deutlich fest, dass es zum Vollzug einer „richtigen Handlung“ der Angemessenheit aller Seelen- und Körperkräfte bedarf, und zwar von Seiten des Verstandes 1) ein hinlänglich bestimmter Begriff der Handlung, und ein wahres Urtheil von ihrer Güte oder Schädlichkeit […]; 2) von Seiten des Willens und Nichtwollens daß der Wille bestimmet wird, durch die innre Güte, oder das Recht das uns zukömt, das Nichtwollen aber durch das innere Uebel, oder durch den Mangel des Rechts; 3) endlich von Seiten der bewegenden Kraft eine Bewegung der Theile des Körpers, die mit den inneren Handlungen übereinstimmet.²²

Diese Übereinstimmung aller seelischen und körperlichen Vermögen hat jedoch nicht je schon Bestand und muss daher allererst vom Menschen selbst hergestellt werden. Der Mensch kann allerdings ausschließlich dann diese Übereinstimmung seiner Seelen- und Körperkräfte herstellen, wenn von einem Primat einer dieser Kräfte ausgegangen wird: Im Falle Wolffs liegt dieser Primat beim Verstand. Dieser nämlich ist bei Wolff allein fähig, seine ihm zugewiesene Aufgabe selbstständig zu bewältigen (einen „hinlänglich bestimmten Begriff der Handlung, und ein wahres Urtheil von ihrer Güte oder Schädlichkeit“ zu bilden). Der Wille hingegen kann zwar die Neigung des Menschen auf ein Ziel ausrichten und die Körperkräfte können die menschlichen Bewegungen auf dieses Ziel zubewegen. Der Wille und die körperlichen Kräfte können aber weder selbstständig dieses Ziel noch die adäquaten Mittel seines Erreichens bestimmen: Der Wille und die ihm innewohnende Trieb- und Affektstruktur haben an sich selbst keinerlei epistemischen

 Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, S. 31, § 48.  Vgl. Buchenau, Triebe, S. 17.  Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, S. 33 f., § 53.

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Charakter. Hier erweisen sich untere Seelen- und die Körperkräfte unverkennbar als vom Regiment des Verstandes abhängig. Die Hierarchie der menschlichen Seelenvermögen erläutert Wolff genauer im ersten Band seiner Philosophia Moralis (1750). Hier kann zwar nur ein kurzer Einblick in diese Struktur gegeben werden, gleichwohl macht schon eine Paraphrase Wolffs in seiner Vorrede deutlich, dass er zwar einerseits den Verstand priorisiert, aber andererseits durchaus dessen Verhältnis zu den unteren Erkenntnisvermögen berücksichtigt: Weil die verstandesmäßigen Vermögen Erscheinungen des Verstandes sind, musste zuerst seine Verbesserung erläutert werden, bevor man mit jenen fortfahren konnte. Und weil der Verstand sich erstens der Hilfe unterer Erkenntnisvermögen bedient, wie der Sinne, der Einbildungskraft und der Erinnerung, und weil der Verstand sich zweitens der Hilfe vermittelnder Erkenntnisvermögen bedient, wie ich sie zu nennen pflege, und deren Leistung im Übergang von den unteren zu den oberen Erkenntnisvermögen, also dem Verstand als dem anderen Extrem, besteht; so musste auch gezeigt werden, wie die unteren und die vermittelnden Erkenntnisvermögen zum Dienste der Vernunft verbessert werden.²³

Interessant ist nun, worin jene „vermittelnden Erkenntnisvermögen“ bestehen und welches ihr Status ist. Sie bestehen in der Aufmerksamkeit (attentio) und in der Reflexion (reflexio), die zusammen wiederum Teile des Scharfsinns (acumen) sind: Der Scharfsinn besteht nach Wolff im Unterscheiden von Merkmalen eines wahrgenommenen Gegenstandes. Weil aber immer mehrere Gegenstände gleichzeitig wahrgenommen werden, ist es zunächst notwendig, sich auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Dies ist die Aufgabe der Aufmerksamkeit (attentio) als des ersten vermittelnden Erkenntnisvermögens. Weil man nun die vielfältigen Merkmale jenes Gegenstandes gleichfalls „unterscheiden und in einem Geistesakt voneinander trennen will, ist es notwendig, dass die Aufmerksamkeit nacheinander von einem Merkmal auf das andere gerichtet wird“²⁴. Dieses Ausrichten ist Aufgabe der Reflexion (reflexio) als des zweiten vermittelnden Erkenntnisvermögens.²⁵ Entscheidend ist nun, dass Wolff den aus attentio und reflexio bestehenden Scharfsinn als „formales Verstandesvermögen“ bezeichnet (virtus bzw.

 Wolff, Philosophia Moralis sive Ethica […] Pars Prima, f. b2, Praefatio: „Quoniam vero virtutes intellectuales habitus intellectus sunt, de eo perficiendo erat ante agendum, quam ad illas contemplandum progredi daretur. Cumque intellectus utatur ministerio facultatum inferiorum cognoscendi, sensuum scilicet, imaginationis atque memoriae, tum etiam intermediarum, quas vocare soleo, & quarum ope ab istis ad superiorem, tanquam alterum extremum, intellectum nimirum, sit transitus; quomodo tam inferiores, quam intermediae in ministerium intellectus sint perficiendae ostendendum quoque erat.“ Übers. O.B.  Wolff, Philosophia Moralis sive Ethica […] Pars Prima, S. 282, § 184.  Wolff, Philosophia Moralis sive Ethica […] Pars Prima, S. 282, § 184.

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facultas intellectualis formalis).²⁶ Aufmerksamkeit und Reflexion sind selbst verstandesmäßige Vermögen und als solche vermitteln sie zwischen Verstand und unteren Erkenntnisvermögen. Wolff bricht also nicht mit seinen Bestimmungen in der Psychologia Empirica (1738), wo er die dem Scharfsinn eigene Distinktionsleistung bereits als Merkmal der oberen Erkenntnisvermögen bestimmt hatte;²⁷ vielmehr markiert er in der Philosophia Moralis die genaue Systemstelle des Erkenntnisprozesses, an welcher der Verstand und die ihm unmittelbar eigenen Vermögen das Kommando übernehmen. Nur unter der Voraussetzung eines Primats des Verstandes über die menschliche Natur ist Wolffs Schlussfolgerung in den Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts plausibel, dass der Mensch eine Verantwortung auch dafür trägt, für diese Übereinstimmung der Seelen- und Körperkräfte selbst zu sorgen. So übersteigen zwar viele Handlungen von sich aus die menschlichen Vermögen und können deshalb nicht Gegenstand einer praktischen Norm sein, weil ihre Unterlassung dem Menschen nicht zuzurechnen ist; „[e]s ist uns aber allein zuzurechnen, daß etwas nicht in unserm Vermögen stehet, wenn wir selbst Ursache sind, warum es nicht in unserm Vermögen ist“²⁸. Die menschliche Triebnatur stellt für Wolff mithin kein unter allen Umständen unüberwindliches Hindernis dar. Sie fällt unter das Regiment des Verstandes und stellt deshalb den Menschen nicht jenseits aller Zurechenbarkeit. Mehr noch: Weil der Mensch auch dafür verantwortlich ist, für die Übereinstimmung der Seelen- und Körperkräfte zu sorgen, ist auch diese Sorge selbst ein naturrechtliches Gebot: „Das Gesetz der Natur verbindet uns, uns vollkommener zu machen […], folglich auch einen übereinstimmenden Gebrauch aller Kräffte bey den Handlungen zu erhalten.“²⁹

3 Primat des Triebs? Die pitié bei Jean-Jacques Rousseau und die moral sense-Theorien Bei der Beschäftigung mit Triebtheorien der ersten und zweiten Aufklärungsgeneration gilt es sich davor zu hüten, dem Triebbegriff eine ausschließlich ara-

 Wolff, Philosophia Moralis sive Ethica […] Pars Prima, S. 279 f., §182: „Acumen est virtus intellectualis formalis. Etenim acumen est facultas in uno objecto multa distinguendi […], & exercitatione successive perficitur.“  Wolff, Psychologia Empirica, S. 33, § 55: „Facultatis cognoscendi pars superior est, qua ideas & notiones distinctas acquirimus.“  Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, S. 33 f., S. 38, § 60.  Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, S. 33, § 52.

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tionale oder gar irrationale Semantik zuzuschreiben: Schon die terminologische Vielfalt von appetitus über impetus und conatus bis zu instinctus ist ein Indiz für eine auch semantische Vielfalt des Begriffs; und tatsächlich sind historische Konzeptionen von Trieb nicht nur auf das Feld der Sinnlichkeit oder gar Pathologie eingeschränkt, sondern können auch einer an sich vernünftigen Ordnung zugeschrieben werden.³⁰ Die entscheidende Frage bleibt allerdings, ob der Trieb schlechterdings Teil einer solchen vernünftigen Ordnung ist, ohne an sich selbst rational zu sein, oder ob er selbst eine bestimmte kognitive oder gar epistemische Qualität mit Blick auf die Moral hat. Bereits für den Erfinder des Begriffs moral sense, Anthony Ashley-Cooper, den dritten Earl of Shaftesbury (1671– 1713) steht fest, dass es sich beim moralischen Sinn gar nicht um schiere Triebhaftigkeit handeln kann, weil auch er davon ausgeht, dass Moralität die Möglichkeit freier Entscheidung erfordert.³¹ Sittliche Einsicht muss mithin als Ergebnis eines Reflexionsaktes bestimmt werden: Bei einem Geschöpf, das imstande ist, sich allgemeine Begriffe von den Dingen zu bilden, sind nicht nur die äußeren Dinge, die sich den Sinnen darbieten, Gegenstände der Gemütsbewegung, sondern auch die Handlungen selbst und die Gemütsbewegungen des Mitleids, der Sorge für die eigene Art, der Dankbarkeit, sowie die jeweils entgegengesetzten Gefühle, indem sie durch Reflexion in das Bewußtsein eingebracht und dadurch zu Gegenständen werden. So daß mittels dieses reflektierten Sinnes eine andere Art von Gemütsbewegung entsteht, die sich auf eben jene Gemütsbewegungen richtet, die schon empfunden wurden und nun zum Gegenstand einer neuen Zuneigung oder Abneigung geworden sind.³²

Nicht schon die primäre Affektation hinsichtlich einer Handlung, ob wir also Lust oder Unlust verspüren, sie zu vollziehen, ist moralischer Sinn; sondern erst eine Affektation zweiter Ordnung, die dann entsteht, wenn wir uns „by reflection“ der moralischen Qualität dieser Handlung bewusst werden, ist dieser moral sense. ³³

 Buchenau, Trieb, S. 11 f.  Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, S. 10 f.  Shaftesbury, Eine Untersuchung, S. 60 (Buch I, Teil II, Sektion III); Shaftesbury, An Inquiry, S. 66 (Book I, Part II, Section III): „In a Creature capable of forming general Notions of Things, not only the outward Beings which offer themselves to the Sense, are the Objects of the Affections of Pity, Kindness, Gratitude, and their Contrarys, being brought into the Mind by Reflection, become Objects. So that, by means of this reflected Sense, there arises another kind of Affection towards those very Affections themselves, which have been already felt, and are now become the Subject of a new Liking or Dislike.“  Shaftesbury, Die Moralisten, S. 248 f. (Teil II, Sektion IV); Shaftesbury, The Moralists, S. 194 (Part II, Section IV). Vgl. Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, S. 11; Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“, S. 122.

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Instinkte wie das Tier hat der Mensch indessen ausdrücklich nicht „in entsprechendem Grad“³⁴. Dieser Position schließt sich auch Francis Hutcheson (1694– 1746) an.³⁵ Für eine in der Tat triebhafte Moralität paradigmatischer erscheint da JeanJacques Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen (1755). Denn nicht nur wurde diese Schrift dank der Übersetzung des Shaftesbury-Kenners Moses Mendelssohn (1756) im deutschsprachigen Raum stark rezipiert;³⁶ und nicht nur erweist sich Rousseau als selbst von den moral sense-Theorien beeinflusst und beeinflusst diese wiederum seinerseits (vor allem im Falle Adam Smiths);³⁷ sondern auch zeigt sich, dass seine Bestimmung des Mitleids als basaler, angeborener Tugendregung ebenso problematisch ist: Es gibt […] noch ein anderes Prinzip, das Hobbes nicht bemerkt hat und das – da es dem Menschen gegeben worden ist, um unter bestimmten Umständen die Grimmigkeit seiner Eigenliebe oder das Verlangen nach Selbsterhaltung vor der Entstehung dieser Liebe zu mildern – den Eifer, den er für sein Wohlbefinden hegt, durch einen angeborenen Widerwillen mäßigt, seinen Mitmenschen leiden zu sehen. […] Ich spreche vom Mitleid – einer Disposition, die für so schwache und so vielen Übeln ausgesetzte Wesen, wie wir es sind, angemessen ist; eine dem Menschen um so universellere und um so nützlichere Tugend, als sie bei ihm dem Gebrauch jeder Reflexion vorausgeht, und eine so natürliche, daß selbst die Tiere manchmal wahrnehmbare Zeichen davon geben. […] Dies ist die reine Regung der Natur, die jeder Reflexion vorausliegt; dies ist die Macht des natürlichen Mitleids, das die depraviertesten Sitten noch Mühe haben zu zerstören […].³⁸

Es ist ganz entscheidend, dass die pitié die Eigenliebe nicht etwa dadurch mildert, dass sie das menschliche Gemüt von der Eigenliebe weg hin auf die Nächstenliebe

 Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, S. 13 – 15.  Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, S. 76.  Edition von Ursula Goldenbaum: Rousseau, Abhandlung von dem Ursprung; Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“, S. 242– 270.  Carey, Reconsidering Rousseau; Grisworld, Smith and Rousseau; Frazer, The Enlightenment of Sympathy, S. 97– 100; Force, Rousseau and Smith.  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 140 – 145: „Il y a dʼailleurs un autre Principe que Hobbes nʼa point apperçû et qui, ayant été donné à lʼhomme pour adoucir, en certaines circonstances, la férocité de son amour propre, ou le désir de se conserver avant la naissance de cet amour, tempere lʼardeur quʼil a pour son bien-être par une répugnance innée à voir souffrir son semblable. […] Je parle de la Pitié, disposition convenable à des êtres aussi foibles, et sujets à autant de maux que nous le sommes ; vertu dʼautant plus universelle et dʼautant plus utile à lʼhomme, quʼelle précede un lui lʼusage de toute réflexion, et si Naturelle que les Bêtes mêmes en donnent quelquesfois des signes sensibles. […] Tel est le pur mouvement de la Nature, anterieur à toute réflexion : telle est la force de la pitié naturelle, que les mœurs le plus dépravées ont encore peine à détruire […].“

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richtete; im Gegenteil affiziert das Mitleid die amour propre und vermittelt auf diese Weise zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe: Selbst wenn es wahr wäre, daß das Mitleid nur ein Gefühl wäre, das uns an die Stelle dessen versetzt, der leidet […], was würde diese Vorstellung für die Wahrheit dessen, was ich sage, bedeuten, außer daß sie ihr zusätzlich Kraft verliehe? In der Tat, das Mitleid wird um so nachdrücklicher sein, je inniger sich das Tier, das zusieht, mit dem Tier, das leidet, identifiziert.³⁹

Die pitié ist eine Vermittlungsinstanz zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe gerade insofern, als das Leid des Mitmenschen als eigenes Leid mitempfunden wird – wie nahe Rousseau damit dem Begriff einer sym-pathy steht bzw. wie angemessen Mendelssohns Übersetzung Mit-leid folglich ist, tritt hier deutlich zutage. So emphatisch Rousseau seine Polemik gegen Hobbesʼ angeblich pessimistische Anthropologie auch vorträgt und so nachdrücklich er das Mitleid auch als non-reflexiv bzw. prä-reflexiv bestimmen will, so problematisch ist dennoch diese Bestimmung der pitié als „Regung der Natur“. Erstens nämlich gradualisiert der Genfer Philosoph das Verhältnis von Vernunft und Trieb überhaupt: Sowohl die Verstandestätigkeit als auch das Erkenntnisstreben bestimmt Rousseau nicht als Selbstzweck, sondern als interessegeleitet und funktional motiviert: „Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen begehren; und es ist unmöglich zu begreifen, weshalb einer, der weder Begehren noch Besorgnisse hätte, sich die Mühe geben sollte nachzudenken.“⁴⁰ Zweitens gibt Rousseau auch Hinweise auf das Verhältnis von Trieb und sinnlicher Erkenntnis: Die Leidenschaften ihrerseits beziehen ihren Ursprung aus unseren Bedürfnissen und ihren Fortschritt aus unseren Kenntnissen; denn man kann die Dinge nur vermittels der Vorstellungen begehren oder fürchten, die man von ihnen haben kann, oder aufgrund des einfachen Antriebs der Natur; und der wilde Mensch, der jeglicher Art von Einsicht und Aufgeklärtheit entbehrt, empfindet nur die Leidenschaften dieser letzteren Art.⁴¹

 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 146: „Quand il seroit vrai que la commiseration ne seroit quʼun sentiment qui nous met à la place de celui qui souffre, […], quʼimporteroit cette idée à la verité de ce que je dis, sinon de lui donner plus de force? En effet, la commiseration sera dʼautant plus énergique que lʼanimal Spectateur sʼidentifiera plus intimement avec lʼanimal souffrant.“  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 106/107: „Nous ne cherchons à connoître, que parce que nous desirons de jouïr, et il nʼest pas possible de concevoir pourquoi celui qui nʼauroit ni desirs ni craintes se donneroit la peine de raisonner.“  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 106/107: „Les Passions, à leur tour, tirent, leur origine de nos besoins, et leur progrès de nos connoissances ; car on ne peut desirer ou craindre

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Einerseits werden hier die idées von der impulsion unterschieden, insofern jene entwickelt werden, diese hingegen angeboren ist und in keiner Weise reflektiert oder auch nur wahrgenommen werden muss, um wirken zu können. Andererseits werden beide von Rousseau wiederum aufeinander bezogen: Denn die passions, die ihrerseits den Trieb affizieren, unterliegen selbst durchaus einer Entwicklung, insofern ihre Gegenstände nur dann zu Gegenständen des Begehrens werden können, wenn sie auch Gegenstände der Vorstellungskraft werden. Hinsichtlich ihres kognitiven und epistemischen Status changieren die Leidenschaften mithin zwischen den oberen Seelenvermögen, den unteren Seelenvermögen und dem Trieb, der sowohl dem verstandesmäßigen als auch dem sinnlichen Zugang entzogen ist. Dieses Changieren scheint jedoch gerade durch jene unteren Seelenvermögen möglich, weil Rousseau diese als einen den Menschen und den Tieren gleichermaßen zukommenden Seelenteil bestimmt.Von den Vorstellungen (idées) und ihrer Verknüpfung (combination) nämlich heißt es: Jedes Tier hat Vorstellungen, da es Sinne hat; es verbindet seine Vorstellungen sogar bis zu einem gewissen Punkt miteinander, und der Mensch unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom Tier nur graduell. Einige Philosophen haben sogar behauptet, daß sich ein bestimmter Mensch von einem anderen mehr unterscheide als ein bestimmter Mensch von einem bestimmten Tier. Es ist daher nicht so sehr der Verstand, der die spezifische Unterscheidung des Menschen unter den Tieren ausmacht, als vielmehr dessen Eigenschaft, ein frei Handelnder zu sein. Die Natur befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch empfindet den gleichen Eindruck, aber er erkennt sich frei, nachzugeben oder zu widerstehen […].⁴²

Mehr noch: Rousseau selbst unterscheidet nicht einmal scharf zwischen verstandesmäßiger und sinnlicher Erkenntnistätigkeit – und erweist sich insofern als von der Ästhetik Baumgartens unbeeindruckt. Nachdem er nämlich die Vorstellungen und ihre Kombination im ersten Teil dieses Zitats zunächst den Sinnen zuordnet („puis quʼil a des sens“), schreibt er sie im zweiten Teil dem Verstand zu („tant lʼentendement“). Während Rousseau mit seiner Bestimmung der Moralität

les choses, que sur les idées quʼon en peut avoir, ou par la simple impulsion de la Nature; et lʼhomme Sauvage, privé de toute sorte de lumiéres, nʼéprouve que les Passions de cette derniére espéce […].“  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 100/101: „Tout animal a des idées puis quʼil a des sens; il combine même ses idées jusquʼà un certain point, et lʼhomme ne différe à cet égard de la Bête que du plus au moins. Quelques Philosophes ont même avancé quʼil y a plus de différence de tel homme à tel homme que de tel homme à telle bête; Ce nʼest donc pas tant lʼentendement qui fait parmi les animaux la distinction spécifique de lʼhomme que sa qualité dʼagent libre. La Nature commande à tout animal, et la Bête obéït. Lʼhomme éprouve la même impression, mais il se reconnoît libre dʼascquiescer, ou de resister […].“

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durch das Momentum der Freiheit auf Immanuel Kant und dessen ausschließliche Ausrichtung der moralisch-praktischen Vernunft an der Maxime Freiheit vorauszuweisen scheint,⁴³ fällt er mit seiner Gradualisierung, ja teilweisen Nivellierung des Unterschiedes von Verstand und Sinnen hinter Distinktionsleistungen zurück, die in anderen philosophischen Schulen bereits vollzogen worden waren. Bei Rousseau ist die Freiheit nur als Inhalt menschlicher Selbsterkenntnis bestimmt, so sehr diese auch auf den ersten Blick als Erkenntnis von der Disposition des Menschen daherzukommen scheint. Bei Rousseau kann die Freiheit jedoch nicht wie bei Kant selbst Disposition moralischer Erkenntnis sein, insofern die entscheidende Voraussetzung hierfür gerade beseitigt wurde: Wie nämlich kann eine von äußeren, sinnlichen, mithin naturgesetzlichen Kausalitäten unabhängige und insofern tatsächlich freie Entscheidung, „nachzugeben oder zu widerstehen“, gewährleistet werden, wenn durch die Verunklarung des Unterschiedes von Verstand und Sinnen die Möglichkeit dieses Widerstandes erheblich erschwert wird? Die unteren Seelenvermögen bei Rousseau sind als Zwischenstufe zwischen Verstand und Trieb geschaltet, ohne über genuine, differenzbildende Eigenschaften zu verfügen: Ihnen werden Kompetenzen des Verstandes zugeschrieben wie Bestimmen, Reflektieren, Analysieren, Synthetisieren, Abstrahieren, Applizieren und zugleich Kompetenzen des Triebes wie Streben, Motivieren, Stimulieren. Dieser eigentümliche Status ist gerade für Rousseaus Konzeption der Pitié diagnostiziert worden, und zwar bereits durch den Gutachter des Discours, Charles Bonnet, im selben Jahr 1755: Ich sage nur noch ein Wort, und zwar über das Mitleid, diese Tugend, die von unserem Autor so gefeiert wird und die ihm zufolge das schönste Erbteil des Menschen im Kindesalter der Welt war. Ich bitte M. Rousseau, über die folgenden Fragen nachdenken zu wollen. Hätte ein Mensch, oder jedes andere empfindende Wesen, das den Schmerz niemals kennengelernt hätte, Mitleid, und wäre er beim Anblick eines Kindes, das man erwürgte, erschüttert?

 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V, 17124–27, 17211–22: „Es hat aber bisher ein großer Mißbrauch mit diesen Ausdrücken zur Einteilung der verschiedenen Prinzipien und mit ihnen auch der Philosophie geherrscht: indem man das Praktische nach Naturbegriffen mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriffe für einerlei nahm. […] Hier wird nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen: ob der Begriff, der der Kausalität des Willens die Regel gibt, ein Naturbegriff oder ein Freiheitsbegriff sei. Der letztere Unterschied aber ist wesentlich. Denn ist der die Kausalität bestimmende Begriff ein Naturbegriff, so sind die Prinzipien technisch-praktisch; ist er aber ein Freiheitsbegriff, so sind diese moralisch-praktisch; und weil es in der Einteilung einer Vernunftwissenschaft gänzlich auf diejenige Verschiedenheit der Gegenstände ankommt, deren Erkenntnis verschiedener Prinzipien bedarf, so werden die ersteren zur theoretischen Philosophie (als Naturlehre) gehören, die anderen aber ganz allein den zweiten Teil, nämlich (als Sittenlehre) die praktische Philosophie, ausmachen.“

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Warum weidet sich der Pöbel, dem M. Rousseau eine so große Dosis Mitleid zuspricht, mit solcher Gier am Schauspiel eines Unglücklichen, der auf dem Rad stirbt?⁴⁴

Bonnet moniert, dass Mitleid ohne einen vorausgehenden Akt der Erinnerungsund Vorstellungskraft gar nicht denkbar sei – und votiert somit eher für einen sympathy-Begriff nach Shaftesbury. Charles Bonnet widerspricht Rousseau mithin genau in dessen bereits zitierter These, man könne „die Dinge nur vermittels der Vorstellungen begehren oder fürchten, die man von ihnen haben kann, oder aufgrund des einfachen Antriebs der Natur“;⁴⁵ nach Bonnets Meinung kann sich der Trieb nur mithilfe vorausgehender Vorstellungen auf bestimmte Gegenstände richten. Wenn man folglich wie Rousseau die Möglichkeit einräumt, dass „das Mitleid nur ein Gefühl wäre, das uns an die Stelle dessen versetzt, der leidet“,⁴⁶ so ist für Bonnet die notwendige Bedingung dieser Möglichkeit die eigene Leidenserfahrung. Genau dann aber kann es sich bei der pitié nicht mehr um einen natürlichen, universalen Trieb handeln, sondern folgt dem Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen gerade nach, statt ihnen vorauszugehen.

4 Primat der Sinne? Alexander Gottlieb Baumgartens praktische Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgarten kann und muss als besonderer Ideengeber Schillers deshalb gelten, weil es ihm erstens mit seiner Theorie von der sinnlichen Erkenntnis im Allgemeinen auch um das Dichtungsvermögen im Besonderen ging. Dies geht nicht nur aus dem überlieferten ersten Teil seiner Aesthetica (1750/ 1758) hervor, sondern auch aus seiner Dissertation von 1735. Damit unterschiede

 Abgedruckt in Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 458/459: „Je ne dis plus quʼun mot; cʼest sur la pitié, cette vertu si célébrée par notre Auteur, et qui fut selon lui, le plus bel appanage de lʼhomme dans lʼenfance du monde. Je prie M. Rousseau de vouloir bien réfléchir sur les questions suivantes. Un homme, ou tout autre être sensible, qui nʼauroit-il de la pitié, et seroit-il ému à la vûe dʼun enfant quʼon égorgeroit? Pourquoi la populace, à qui M. Rousseau accorde une si grande dose de pitié, se repaît-elle avec tant dʼavidité du spectacle dʼun malheureux expirant sur la roue?“ Hervorhebungen im Text.  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 106/107: „on ne peut desirer ou craindre les choses, que sur les idées quʼon en peut avoir, ou par la simple impulsion de la Nature.“ Hervorhebung O.B.  Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 146: „la commiseration ne seroit quʼun sentiment qui nous met à la place de celui qui souffre.“

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sich Baumgarten noch nicht hinreichend vom Earl of Shaftesbury, der gleichfalls dichtungstheoretische Überlegungen angestellt hatte und mit diesen insbesondere auf Christoph Martin Wieland stark wirkte.⁴⁷ Als besonderer Ideengeber Schillers darf Baumgarten gleichwohl zweitens deshalb gelten, weil es ihm ebenso wie jenem um das besondere Potenzial sinnlicher Erkenntnis mit Blick auf moralisches Wissen ging. Auch wenn Baumgarten den zweiten Teil seiner Aesthetica, nämlich die praktische Ästhetik, nicht mehr publizieren konnte, so wird doch schon aus ihrem ersten Teil, der theoretischen Ästhetik, sowie aus seiner Metaphysik von 1739 deutlich, (a) welche Rolle das sinnliche Erkenntnisvermögen mit Blick auf moralisches Wissen, (b) welche Rolle das Dichtungsvermögen innerhalb der sinnlichen Erkenntnisvermögen und (c) welche Rolle somit das Dichtungsvermögen mit Blick auf das moralische Wissen besitzen. Als Alexander Gottlieb Baumgarten 1750 und 1758 in zwei Bänden den ersten Teil seiner Aesthetica veröffentlicht, setzt er nicht nur einen Meilenstein, der ihn in der Philosophiegeschichte als den Begründer der Ästhetik als systematischer Wissenschaft berühmt machen sollte, sondern er lässt im Rahmen dieser Ästhetik auch keinen Zweifel daran, dass Dichtung, um als schön gelten zu dürfen, in der Wahl ihrer Gegenstände nicht frei ist. Ungewohnt polemisch nämlich heißt es: „Die Schönredner,Wortklauber und unbedeutenden Kleinkrämer sind Zwerge des Helikon, Kriechtiere des Parnass.“⁴⁸ Mit einer gefeilten Darstellung ist es mithin nicht getan; für die Ebene des Dargestellten gilt, dass dasselbe nicht in Kleinigkeiten bestehen darf, wenn der Dichter nicht für ein Kriechtier des Musenbergs angesehen werden will. Dieser Satz fällt im Abschnitt über „die absolute ästhetische Wichtigkeit“, in dem Baumgarten die anthropologischen und pädagogischen Voraussetzungen bestimmt, die im erkennenden Subjekt vorhanden sein müssen, um die wahrnehmbare Bedeutung der Dinge selbst (die „magnitudo aesthetica“)⁴⁹ angemessen erkennen zu können. Wer entweder nicht die Anlage oder die Ausbildung – oder schlimmer noch: beides – nicht besitzt, dessen sinnliche Erkenntnis ist unfähig der Wichtigkeit; er hat keine ästhetische Wichtigkeit. Wer folglich schlecht dichtet, der dichtet schlecht, weil er Dinge unangemessen gewichtet; und er gewichtet sie unangemessen, weil er sie unangemessen erkennt. Baumgarten stimmt daher Horaz zu, der in seiner Ars poetica konstatiert, dass die „richtige Einsicht sowohl das Prinzip als auch die Quelle des Schreibens“ ist.⁵⁰ Baumgarten spitzt Horazʼ Bestimmung jedoch zu: Prinzip und Quelle des Schreibens ist die richtige Einsicht in die praktische Philosophie. Dass Dichtung    

Vgl. Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“, S. 312– 315. Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 337, § 359. Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 153, § 177. Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 339, § 361.

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vor allem der praktischen Philosophie, d. h. der Lehre von den freien Handlungen des Menschen, besonders eng verbunden ist, folgt bei Baumgarten nur zum einen Teil aus der Prämisse, dass Dichtung sich nun mal vor allem mit menschlichen Handlungen beschäftigt. Zum anderen Teil folgt die besondere Affinität der Dichtung zur praktischen Philosophie aus dem spezifischen Verhältnis der sinnlichen Erkenntnis zum moralischen Wissen überhaupt. Das ist der Grund dafür, dass Baumgarten schon in der theoretischen Ästhetik (1750/1758) immer wieder auf praktische und somit auch poetische Aspekte zu sprechen kommt, obwohl er einen eigenen Teil für die praktische Ästhetik vorgesehen hatte,⁵¹ vor dessen Niederschrift er jedoch 1762 starb. Wäre es Baumgarten dort vor allem um die Praxis der Ästhetik gegangen, so ging es ihm schon in der theoretischen Ästhetik um die praktischen Momente sinnlicher Erkenntnis überhaupt. Für Baumgartens Verwissenschaftlichung der Ästhetik ist selbstverständlich die Annahme grundlegend, dass, obwohl verstandesmäßige und sinnliche Erkenntnis eigentlich unterschieden sind, es überhaupt so etwas gibt wie einen Erkenntniswert der Sinne, der über einen bloßen Informationswert, über einen bloßen Zufluss äußerer Daten hinausgeht. Baumgartens ‚Lehrer‘ Christian Wolff ⁵² und ebenso der Wolff-Schüler Johann Christoph Gottsched hatten gegenüber der Sinnlichkeit den Vorbehalt, sie sei begrifflich undeutlich. Baumgarten führt hingegen die folgende Distinktion ein: Sogenannte klar-deutliche Vorstellungen (repraesentationes clarae distinctae) gehören den oberen Erkenntnisvermögen an, weil sie die Merkmale eines Gegenstandes nicht nur umfassend, also quantitativ erfassen, sondern auch qualitativ, also die Merkmale an ihnen selbst.⁵³ Die sogenannten klar-verworrenen Vorstellungen (clarae confusae) hingegen gehören den unteren Erkenntnisvermögen an, weil sie die Merkmale eines Gegenstandes eben nur quantitativ erfassen.⁵⁴ Immanuel Kant wird die Sinnlichkeit mit dem Argument in Schutz nehmen, dass sie gar nicht begrifflich deutlich sein kann, sondern eine genuin eigene Form der Deutlichkeit besitzt, nämlich die anschauliche Deutlichkeit. Sinnliche Anschauungen – so Kant – können durchaus distinkt sein.⁵⁵ Baumgarten scheint nun gerade dem Wolff-Gottsched-Lager zuzuschlagen zu sein, insofern auch er die sinnlichen Erkenntnisse durch ihre Undeutlichkeit definiert. Sinnliche Vorstel-

 Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 11.  Baumgarten hat Wolff sehr genau zur Kenntnis genommen, aber weder ist er in Halle auf ihn getroffen noch kann er systematisch umfassend als sein Schüler gelten: vgl. Aichele, Allzuständigkeit oder Beschränkung?, S. 163 – 165.  Baumgarten, Philosophische Betrachtungen, S. 15, § 14  Baumgarten, Philosophische Betrachtungen, S. 17, § 15.  Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 47– 50.

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lungen, wenn sie nicht obskur sind, so Baumgarten, sind höchstens klar-verworren, oder wie er es auch häufig nennt: extensiv klar. Was Kant jedoch zum Maßstab seiner Unterscheidung oberer und unterer Erkenntnisvermögen machen wird, nämlich nicht Deutlichkeit und Verworrenheit, sondern Begrifflichkeit und Anschaulichkeit, findet sich bei Baumgarten so nicht wieder: Zwar sind auch bei ihm verstandesmäßige bzw. in seinen Worten ‚logische Vorstellungen‘ nicht anschaulich. Sinnliche Vorstellungen können sich aber durchaus durch einen bestimmten, wenn auch minderen Grad der Begrifflichkeit auszeichnen – bzw. durch einen minderen Grad dessen, was Kant als Begrifflichkeit verstünde. Dies bei der Baumgarten-Lektüre herauszuarbeiten, fällt deshalb nicht leicht, weil Baumgarten selbst die Terminologie ‚begrifflich‘ in diesem Zusammenhang gar nicht verwendet. Man muss also bei der Baumgarten-Interpretation behutsam mithilfe einer historischen Semantik operieren, vor allem mithilfe einer historischen Onomasiologie. Dass sich sinnliche Erkenntnis nämlich in der Sache bei Baumgarten durch das auszeichnet, was wir von Kant als ‚begrifflich‘ kennen, soll ein bestimmtes Beispiel aus Baumgartens Aesthetica illustrieren, und zwar Paragraph 426: Gemeinsam ist den logischen und ästhetischen Überlegungen die Tugend, […] die im Durchschauen dessen besteht, was bei jedem Gegenstand wahr und unverfälscht, was jeweils übereinstimmend ist (die Übereinstimmung mit dem Satz des Widerspruchs), was folgerichtig ist (die Übereinstimmung mit dem Satz des Gegründeten), und woraus jeder Gegenstand entsteht und was die Ursache für ihn ist (die Übereinstimmung mit dem Satz des zureichenden Grundes).⁵⁶

Genau hier setzt Baumgarten nichts Geringeres als den sinnlichen Aspekt des Rationalen selbst voraus: „ästhetische Überlegungen“ (meditationes aestheticae) können auch Prinzipien, Gründe und Ursachen von Dingen erfassen. Bereits ästhetische Überlegungen erfassen mehr als nur den Gegenstand in seiner Merkmalsfülle und mehr auch als nur die Tatsache, dass er irgendwie mit anderen Gegenständen in einer raumzeitlichen Nachbarschaft steht. Ästhetische Überlegungen als solche können bereits erfassen, worin diese Nachbarschaft genau besteht, welches genau die Relationen sind, worin der Gegenstand gründet, ob der Gegenstand folgerichtig ist oder nicht. Und dies können die ästhetischen Überlegungen ausdrücklich, obwohl sie sich darauf beschränken, „dieselben mit den Sinnen und dem Analogon der Vernunft auf geschmackvolle Weise anschauend zu erkennen.“⁵⁷

 Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 405 f., § 426. Hervorhebungen o.B.  Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 405 f., § 426.

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Wie oben gezeigt, war diese Operation der Merkmalswahrnehmung von Wolff den sogenannten vermittelnden Erkenntnisvermögen zugeschrieben worden, die selbst Teil der verstandesmäßigen Vermögen sind. Für den Wolffianer ebenso wie für den Kantianer wäre die Einsicht in solche Zusammenhänge auf Sinnesebene gar nicht möglich: Dort haben wir z. B. nur ein optisches Ereignis, das wir auf visueller Sinnesebene von anderen unterscheiden können und das wir in einzelne visuelle Ereignisse, also Merkmale, unterteilen können. Wir können aber nicht schon auf Sinnesebene erkennen, ob es sich dabei um Wesensmerkmale handelt oder nur um akzidentielle Merkmale. Für Baumgarten aber ist genau diese Einsicht bereits auf Sinnesebene möglich, wenn zumindest Verursachung, Kohärenz und Folgen eines Gegenstandes erkannt werden können. Es gibt nur eine Einschränkung, nämlich die, dass wir die Einzelmerkmale eines Gegenstandes eben nicht im Einzelnen, sondern simultan und deshalb eben verworren (confuse) wahrnehmen.⁵⁸ Erst eine Operation des Verstandes, nämlich das Aufschlüsseln der Einzelmerkmale des Gegenstandes, d. h. seine Analyse, würde diese Verwirrung beheben und uns darüber unterrichten, inwiefern jedes Einzelmerkmal wesentlich ist. Der Verstand operiert mithin immer analytisch. Die sinnliche Erkenntnis hingegen besticht für Baumgarten durch einen immer schon synthetischen Charakter. Die sogenannte ‚Verworrenheit‘ (confusio) ist für Baumgarten daher ein keineswegs negativ konnotierter Begriff. Von Vorteil ist eine solche verworrene, aber immerhin simultane Erkenntnis nämlich vor allem bei moralischen Gegenständen. Der Baumgarten-Forscher Clemens Schwaiger arbeitet im Wesentlichen zwei Vorteile der sinnlichen Erkenntnis heraus: Erstens bleibt im Moment einer heiklen Handlungsfrage gar nicht die Zeit, erst lange zu analysieren, um die Situation in ihre Einzelmerkmale aufzuschlüsseln, ihre Probleme zu verorten und so Lösungen zu entwickeln. Die sinnliche Erkenntnis besticht mithin dank ihrer Simultanität durch Rechtzeitigkeit,⁵⁹ während verstandesmäßige Erkenntnis durch ihren sukzessiven Charakter immer das Risiko der Verspätung mit sich führt. Damit hat man es noch nicht eigentlich mit moralischem Wissen zu tun, sondern zunächst mit einem pragmatischen Aspekt. Ihren für Baumgarten tatsächlich moralischen Vorteil erhält sinnliche Erkenntnis zweitens durch ein weiteres ihr eigentümliches Moment, nämlich ihre Lebhaftigkeit (vividitas).⁶⁰ Gerade weil die sinnliche Erkenntnis sich nicht durch bloße Begrifflichkeit auszeichnet, sondern durch das synthetische

 Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 48 f.  Vgl. Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 74– 77.  Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 229, § 255. Vgl. Schwaiger, Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 77.

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Vor-Augen-Stellen der Merkmalsvielfalt stets anschaulich bleibt, besitzt sie im Unterschied zur Verstandeserkenntnis eine facultas appetitiva: Sie ist nicht tot wie die Verstandeserkenntnis, sondern motiviert zum Handeln.⁶¹ Stefanie Buchenau erläutert diesen von Schwaiger angedeuteten Zusammenhang noch präziser: Sie erörtert, inwiefern es die extensive Klarheit an ihr selbst ist, die zu Handlungen motiviert. Dass nämlich die sinnliche im Unterschied zur verstandesmäßigen Erkenntnis nicht zwischen wesentlichen und akzidentiellen Merkmalen eines Gegenstandes differenzieren kann, ist nur scheinbar ein Nachteil. Dass eine vollkommene sinnliche Erkenntnis immer alle Relationen eines Gegenstandes erfassen kann, ist in moralischer Hinsicht ihr Vorteil. Denn die Vielfalt der Merkmale und der Zusammenhänge eines Gegenstandes besteht mitunter ja auch in seinem gegenwärtigen Zusammenhang mit dem erkennenden Subjekt. Wird also der Gegenstand sinnlich, d. h. umfassend, extensiv-klar erkannt, so wird neben all seinen Merkmalen auch sein Bezug zum erkennenden Subjekt erkannt.⁶² Damit sind dem sinnlich erkennenden Subjekt, das eine moralische Norm oder eine Handlungssituation erkennt, im Unterschied zum verstandesmäßig erkennenden Subjekt zugleich auch die Bedingungen gegenwärtig, unter denen es (und kein anderes Subjekt) in dieser bestimmten Situation (und in keiner anderen) handeln soll. Mir geht es um einen dritten moralischen Vorteil der sinnlichen Erkenntnis bei Baumgarten. Selbstverständlich ist der ästhetische Charakter moralischen Wissens bei Baumgarten nicht zu überschätzen: Baumgarten beschäftigt sich explizit und intensiv mit der Frage, ob das Naturrecht auch von Atheisten erkannt werden kann.⁶³ Gerade in dieser Beschäftigung kann man genau beobachten, wie Baumgarten deutlicher noch als viele seiner Vorgänger zwischen der inhaltlichen Begründung der moralischen Normen und der Begründung ihrer Verbindlichkeit unterscheidet. Hinsichtlich des Inhalts der moralischen Normen wird dabei deutlich, dass deren principium cognoscendi keineswegs die Sinne sind, sondern verstandesmäßige Urteile über das Wesen und die Bestimmung des Menschen: Baumgarten diskutiert ausdrücklich eine angebliche empirische Methode des Naturrechts und stellt dabei fest, dass die sinnliche Erkenntnis höchstens die Konventionalität gleichartiger Handlungen feststellen könne; sie könne aber nicht diejenige Verallgemeinerung leisten, die für Normen unabdingbar ist.⁶⁴ Hin-

 Baumgarten, Metaphysica, S. 217– 220, §§ 663 – 669.  Buchenau, Die Sprache der Sinnlichkeit, S. 164.  Hüning, Das Naturrecht der Atheisten; Scattola, Die Naturrechtslehre Alexander Gottlieb Baumgartens, S. 254 f.  Dies diskutiert Baumgarten in Ausgang an Köhler, der diese Frage gleichfalls schon behandelt hatte: Aichele, Die metaphysische Begründung des Naturrechtsprinzips, S. 125 f., S. 134 f.

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sichtlich der Verbindlichkeit befreit Baumgarten das Naturrecht von der Annahme göttlicher Strafen im Jenseits und argumentiert stattdessen motivational:⁶⁵ Wir werden zu normkonformen Handlungen motiviert, weil die Folgen derselben die Folgen normwidriger Handlungen letztlich überwiegen (necessitatio).⁶⁶ Wir müssen diese nur angemessen erfassen und auf die gegenwärtige Handlungssituation beziehen. Abermals scheint eine enge Verwandtschaft zu Wolff vorzuliegen, nun zu dessen Obligationstheorie. Beim näheren Hinsehen zeigen sich jedoch wieder deutliche Unterschiede. Die genannte Relationierung von gegenwärtiger Situation, Norm und erwartbaren Handlungskonsequenzen nämlich erfordert bei Baumgarten zahlreiche Vermögen: den Scharfsinn (acumen), der die Situation erfasst;⁶⁷ die Voraussicht (praevisio) auf den künftigen Zustand, der aus der gebotenen bzw. aus der verbotenen Handlung folgt;⁶⁸ das sinnliche Urteil (iudicium sensuum bzw. iudex inferior), das bereits beurteilen kann, dass die Folgen der gebotenen Handlung schön, weil gut, die Folgen der verbotenen Handlung hässlich, weil schlecht, sind;⁶⁹ und schließlich das Erwartungsvermögen (praesagitio), das uns das künftige Wohlgefallen über die guten Folgen unserer guten Handlung schon jetzt vergegenwärtigt.⁷⁰ All diese Vermögen bzw. ihre Leistungen sind bei Baumgarten untere Erkenntnisvermögen – während der Scharfsinn (acumen) bei Wolff noch ein verstandesmäßiges Vermögen gewesen war und von Voraussicht, Erwartungsvermögen und sinnlichem Urteil als eigenen, gar sinnlichen Vermögen weder in der Psychologia Empirica noch in der Philosophia Moralis die Rede war.⁷¹ Somit verwundert es nicht, dass diese Vermögen bei Baumgarten mit dieser Relationierung durchaus mehr leisten als nur irgendeine Motivation. Der ästhetische Charakter moralischen Wissens ist bei Baumgarten also auch nicht zu unterschätzen: Diese komplexe Relationierung von gegenwärtiger Handlungssituation, gebotener Handlung, künftigen Folgen usw. gelingt bereits auf Sinnesebene. Der Antrieb zur Handlung, jene facultas appetitiva, ist mit dieser Relationierung nicht gleichursprünglich, sondern der Antrieb ist ihr Effekt. In meinen Augen scheint das einer der bedeutendsten Unterschiede Baumgartens zu den schottischen moral sense-Theorien zu sein: Während es diesen mit letztlich triebförmigen Anlagen wie der sympathy um eine

 Vgl. Bach, Christian Fürchtegott Gellert, S. 234– 238.  Schwaiger, Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung, S. 225 f.  Baumgarten, Metaphysica, S. 178, §§ 573 – 575.  Baumgarten, Metaphysica, S. 186 – 191, §§ 595 – 605.  Baumgarten, Metaphysica, S. 192 f., §§ 608 f.  Baumgarten, Metaphysica, S. 193 f., §§ 610 – 612; vgl. zusammenfassend auch Baumgarten, Ästhetik, Bd. 1, S. 29 – 33, §§ 30 – 37; Mirbach, Gottsched und die Entstehung der Ästhetik, S. 122.  Mirbach, Gottsched und die Entstehung der Ästhetik, S. 118.

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Vorvernünftigkeit moralischen Wissens ging (also Trieb vor Vernunft), läuft Baumgartens Nobilitierung der sinnlichen Erkenntnis letztlich auf eine Rationalisierung moralischer Motivation hinaus (also Vernunft vor Antrieb). Das mag überraschen, hat aber seinen zureichenden Grund darin, dass Baumgarten die sinnliche Erkenntnis wie gesagt dadurch nobilitiert, dass er sie mit Kompetenzen ausstattet, die vor ihm Gottsched und nach ihm Kant ausschließlich der verstandesmäßigen Erkenntnis zuordnen.

5 Primat der Offenbarung: Christian Fürchtegott Gellerts Positivierung der Vernunft Christian Fürchtegott Gellert beginnt die Druckfassung seiner dritten moralischen Vorlesung 1769 wie folgt: „Unsere heutige Moral, (wir verstehen darunter zugleich die Wahrheiten der natürlichen Theologie und des Rechts der Natur,) hat vor der Moral der alten Griechen und Römer keinen geringen Vorzug.“⁷² Gellert möchte diesen Vorzug erläutern und dem drohenden Rückfall hinter diesen Fortschritt vorbeugen: Es geht also nicht nur gegen die Heiden der Antike, sondern auch gegen die Freigeister der Gegenwart. Denn für Gellert gilt ein striktes Ableitungsverhältnis von Gottesbegriff und Moral: „Aus falschen Begriffen von Gott müssen falsche Grundsätze in die Moral übergehen.“⁷³ Dabei möchte Gellert nicht nur anzeigen, dass die heidnischen Philosophen keine angemessene Moralphilosophie entwickelt haben, sondern auch und vor allem, dass sie gar keine angemessene Moralphilosophie entwickeln konnten: Wenn sie also auch einen wesentlichen Unterschied des Guten und Bösen erkannten: so erkannten sie doch nicht, daß dieser Unterschied in dem Willen Gottes und in seiner Herrschaft über die Menschen, als über seine Geschöpfe und Unterthanen, gegrundet sey, und leiteten ihre Tugend nicht aus dem Gehorsame gegen Gott, sondern bloß aus der natürlichen Schönheit des Guten und der natürlichen Häßlichkeit des Lasters her.⁷⁴

Gellert möchte damit vor allem die Rationalisten treffen und wirft der stoischen Tugendethik vor: „Zeno lehret uns, um uns die Tugend zu lehren, die natürlichen Triebe und Neigungen ersticken, das Vergnügen der Sinne für kein Vergnügen,

 Gellert, Dritte Vorlesung, S. 33.  Gellert, Dritte Vorlesung, S. 36.  Gellert, Dritte Vorlesung, S. 37.

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den Schmerz für keinen Schmerz halten. Also sind wir tugendhaft, wenn wir aufhören, Menschen zu seyn? Prächtige Worte!“⁷⁵ Die in Gellerts Augen fundamentale Norm aller Moral – die goldene Regel – „ist nie die Regel der sich selbst gelaßnen Vernunft gewesen.“⁷⁶ So sehr Gellert damit die Sinne gegen die Stoa in Schutz nehmen möchte: Zu einem tatsächlichen Verfechter der Sinne macht er sich dadurch nicht. Denn seine Kritik daran, dass die antiken Philosophen ihre Moral „bloß aus der natürlichen Schönheit des Guten und der natürlichen Häßlichkeit des Lasters“ herleiteten, ist eben eine Kritik daran, dass die Schönheit als ästhetische Kategorie zur Richtschnur der Moral erhoben wurde. Doch nicht nur Gellerts Würdigung der Sinne ist mit Vorsicht zu genießen, sondern auch die der natürlichen Theologie: Zwar bestimmt Gellert die natürliche Theologie einleitend als Quelle der Moral. Gleichwohl ist damit keine natürliche Theologie in dem Sinne gemeint, dass ein Gottesbegriff aus verstandesmäßiger Überlegung oder aus der Anschauung seiner Schöpfung angemessen erschlossen werden könnte, um sodann aus diesem Begriff von Gott richtige ‚Grundsätze in die Moral übergehen‘ zu lassen.⁷⁷ Gellert stellt sich mithin gegen Rationalisten und Sensualisten gleichermaßen (Shaftesbury beispielsweise bezeichnet Gellert als Freigeist und Religionsspötter)⁷⁸. Warum dies so ist, erhellt aus Gellerts Prämisse, dass der Unterschied zwischen Gut und Böse „in dem Willen Gottes […] gegrundet sey“: Das voluntaristische Prinzip – der Wille Gottes – ist nicht nur principium essendi von Gut und Böse, sondern es ist auch der allererst zureichende Grund für deren Unterschied und damit, so Gellert, ist der Wille Gottes auch principium cognoscendi von Gut und Böse. Damit aber kommt auch eine Allgemeinheit beanspruchende Moral nicht um die Offenbarung als ihre erste Quelle herum. Warum Gottes Wille indessen auch das Prinzip der Unterscheidbarkeit von Gut und Böse sein soll, nur weil es das Prinzip des Unterschieds von Gut und Böse ist, lässt Gellert an dieser Stelle unerläutert. Aus diesem voluntaristischen Prinzip folgt ein umfassender Positivismus: Gellert polemisiert nämlich implizit auch gegen ungenannte Moralphilosophen, deren Lehren er inhaltlich befürwortet und die lediglich meinen, ihre Moral- und Pflichtenlehren seien säkular, d. h. auf Vernunft und Sinnen gegründet. Auch deren Naturrechtslehren verdankten ihre Vorzüge eigentlich dem Licht der Offenbarung:

 Gellert, Dritte Vorlesung, S. 38.  Gellert, Dritte Vorlesung, S. 38.  Zum Begriff der natürlichen Religion vgl. Zurbuchen, Naturrecht und natürliche Religion, S. 30 – 33; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, S. 87– 99.  Gellert, Dritte Vorlesung, S. 47.

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Es ist offenbar, daß wir diesen Vorzug in der Moral, dem Lichte, das uns die christliche Religion angezündet hat, zu danken haben; so sehr sich auch einige Philosophen schmeicheln mögen, daß sie diese Ueberlegenheit ihrem Scharfsinne schuldig wären. Durch den Unterricht, den wir von Jugend auf in den Wahrheiten der Religion empfangen, macht unsre Vernunft dieselben sich eigen, ohne daß wirs wissen. Wir finden sie, wenn wir anfangen selbst zu denken, in unserm Gedächtnisse; und so meynen wir, daß wir sie, so wohl nach ihrem Umfange als nach dem Grade der Gewißheit, allein dem Lichte der Vernunft zu danken hatten. In der That sind auch die Sittenlehren der Religion das Sittengesetz, das die Vernunft billiget und größten Theils für ihre eigene Stimme erkennet. Aber warum waren gleichwohl diese Gesetze der Vernunft und des Gewissens in dem Verstande der größten Geister unter den Alten mit so vielen Finsternissen überzogen, oder warum fehlten ihnen einige gar in ihren Lehrgebäuden? Nachdem die Offenbarung der christlichen Religion die Vernunft wieder in ihre Rechte eingesetzet, und ihr das verlorne Licht, das sich so wohl mit den ihr zuruck gebliebnen Stralen verträgt, ertheilet hat: so schmeichelt sich unser Stolz, daß diese Verbeßrung der Moral, dieser Sieg über die abergläubischen und ungläubigen Meynungen, die Frucht unsers Fleißes, unsers Tiefsinns, und unsrer gründlichern Methode sey, und daß also der Vorzug unsrer heutigen Moral der gereinigten Philosophie angehöre. Aber die Frage bleibt stets: Was hat denn diese Philosophie so gereiniget?⁷⁹

Die übernatürliche, positive Offenbarung ist die Basis allen Wissens. Selbst diejenigen Wahrheiten, die wir für selbstevident befinden, seien lediglich frühzeitig angeeignet worden, und unser zügiges Zurückgreifen auf dieses Wissen ist nur habitualisiert. Dass wir dieses Wissen so selbstverständlich und zügig abrufen können, ist für Gellert kein Zeichen für seine natürliche Evidenz. Alles moralische Wissen ist letztlich Wissen einer positiven Offenbarung. Die frühe und grundlegende Aneignung der Offenbarungswahrheiten resultiere in dem Anschein, sie seien selbstevident in der Art, wie man sie gewöhnlich nur apriorischer Vernunfterkenntnis zuschreibt. Die gellertsche praktische Vernunft hat selbst eine vorvernünftige Ausstattung („ohne daß wirs wissen“) und lebt insofern ‚von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann‘.⁸⁰ Die Folgen für Gellerts Vernunftbegriff sind dabei dieselben wie diejenigen für seinen Begriff der natürlichen Religion: Obgleich beide dem Anschein nach natürlich und insofern überpositiv sind, hängen sie in der Tat von Setzungen ab und sind insofern selbst positiv. Gellert begreift die natürliche Theologie nicht als theoretische Grundstufe, sondern als historische Vorstufe der christlichen Theologie. Deshalb behandelt er sie systematisch nicht anders als jede andere positive Religion.⁸¹ Ebenso begreift

 Gellert, Dritte Vorlesung, S. 41 f.  Diese Formulierung ist den staatsrechtlichen Überlegungen von Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 60, entlehnt.  Gellert, Dritte Vorlesung, S. 43.

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Gellert die Vernunft und die Sinne nicht als theoretische, sondern als historische Instanzen des Wissens.⁸² Wann immer Gellert also von natürlichen, d. h. allgemeinen Bedingungen der Vernunft und der Sinne sprechen will, spricht er doch tatsächlich nur von positiven, d. h. besonderen Inhalten der Vernunft und besonderen Eindrücken der Sinne.

6 Friedrich Schiller (1759 – 1805) Schillers Ziel ist, wie einleitend erläutert, die Harmonisierung des moralischen Wollens des Menschen mit der Determination seiner Natur. Die menschliche Freiheit ist keineswegs nur von den menschlichen Trieben, sondern auch von der ‚neueren‘ Vernunft gefährdet, wie sie sich nach dem griechischen Altertum ausgebildet hat: Die Vernunft der Griechen nämlich zerlegte zwar die menschliche Natur und warf sie in ihrem herrlichen Götterkreis vergrößert auseinander, aber nicht dadurch, daß sie sie in Stücken riß, sondern dadurch, daß sie sie verschiedentlich mischte, denn die ganze Menschheit fehlte in keinem einzelnen Gott. Wie ganz anders bei uns Neuern! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinandergeworfen – aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen.⁸³

Menschliche Freiheit realisiert sich erst in der geforderten Harmonie, und diese kann nur dann hergestellt werden, wenn nicht die Vernunft regiert. Den Grund für ihre Unfähigkeit, harmoniebildend zu wirken, macht Schiller in dem in seinen Augen ausschließlich analytischen Charakter der ‚neueren‘ Vernunft aus. Insofern macht Vernunft den „neuern Menschen“ mit Notwendigkeit defizitär; denn als bloß analytisch denkendes Individuum kann der einzelne Mensch unmöglich die Menschheit vertreten: „Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere nicht wagen? Weil jenem die vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilen.“⁸⁴ Repräsentation wird mithin als synthetische Kompetenz verstanden. Die sozusagen ‚alte Vernunft‘ der Griechen zeichnete sich noch durch einen syntheti Insofern versucht Gellert nicht, „das aufklärerische Rationalitätsprinzip und lutherische Orthodoxie zu harmonisieren“ (Kramer, Poetik der Ausgrenzung, S. 32), sondern ersteres in letztere zu integrieren.  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S, 582  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 582.

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schen Charakter aus. Der analytisch denkende Mensch ist schlechterdings unfähig, jenen nur als synthetische Ganzheit möglichen „idealischen Menschen“ in sich zu erkennen und den physischen Notstaat à la Pufendorf zu überwinden, indem er als idealischer Mensch allen anderen, ebenso idealischen Menschen gleicht und deshalb mit ihnen zwanglos harmoniert. ⁸⁵ Die Einheit von Vernunft und Natur als einzig adäquater Zugang zur Welt ist nicht nur von epistemologischem Belang. Insofern nämlich allein diese Einheit dem Menschen anthropologisch angemessen ist, ist sie auch von politischer und moralischer Relevanz. Schiller übt Kritik an dem von Platon eingeführten und von Aegidius Romanus erneuerten organologischen Staatsmodell, das jeden Bürger als einzelnes Funktionselement mit spezifischen Zuständigkeiten betrachtet. Damit manifestiere sich die Vernachlässigung und Verkümmerung derjenigen „übrigen Anlagen des Gemüts“,⁸⁶ die für die jeweilige Funktion unerheblich sind: „Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet.“⁸⁷ Gute Regierung kann sich nur auf den reinen Menschen gründen und nur auf diesen beziehen. Gleichwohl will Schiller keineswegs zum Zustand der alten Griechen zurückkehren. Die Griechen mochten Wissen besessen haben, ohne stets dessen Status als begründetes Wissen reflektiert zu haben; die Einheit von Vernunft und Gefühl hatte bei den Griechen mithin vermehrt intuitive Ursachen und war zweifellos von hohem Rang. Auf ihren höchsten Rang kann diese Einheit jedoch nur dadurch gehoben werden, dass die Vernunft ihre ganz spezifischen Kompetenzen ausbildet und dennoch mit dem Gefühl kooperiert: „Dadurch allein, daß in dem Menschen einzelne Kräfte sich isolieren und einer ausschließenden Gesetzgebung anmaßen, geraten sie in Widerstreit mit der Wahrheit der Dinge und nötigen den Gemeinsinn, der sonst mit träger Genügsamkeit auf der äußern Erscheinung ruht, in die Tiefen der Objekte zu dringen.“⁸⁸

 Mit diesem Interesse, das von Überlegungen über die rechtliche Möglichkeit von Zwang absieht und indessen die Aufhebung der Notwendigkeit von Zwang anzielt, tritt Schiller schließlich entschieden aus dem Feld des rechtlichen Diskurses aus (Ebbinghaus, Die Idee des Rechts, S. 141 f.) und tritt ein in dasjenige der gesellschaftlichen Utopie, in der durch allumfassende Harmonie jede Form von Zwang obsolet werden soll: Voßkamp, Emblematik der Zukunft, S. 187, S. 318. Gerade durch das Moment der Zwanglosigkeit verweist Schiller durchaus voraus auf die romantische Utopik: vgl. Mähl, Der poetische Staat, S. 279 – 284.  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 584  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 585.  Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 587. Vgl. Heinz, Schönheit als Bedingung, S. 129.

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Der ästhetisch erzogene Mensch Schillers soll weder „der abstrakte Denker“ mit dem „kalten Herz“ sein, der „die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein Ganzes die Seele rühren“;⁸⁹ noch aber soll er hinter das „Streben nach Deutlichkeit“ des nach-antiken Menschen zurückfallen:⁹⁰ Die Vorteile der verstandesmäßigen sowie der sinnlichen Erkenntnis haben in ihrem vollen Umfang zur Geltung zu kommen und doch ganz mit einander zu harmonieren. Diese Harmonisierung der Vernunftnatur mit der Triebnatur kann in Schillers Augen nur durch die Überwindung der Kluft zwischen theoretischer und praktischer Vernunft gelingen. Diese Kluft kann weder nur mit den Mitteln der theoretischen noch nur mit den Mitteln der praktischen Vernunft erfolgen, ohne nur wieder zu einem unangemessenen Primat der einen vor der anderen zu gelangen. Im neunten Brief wird Schiller endgültig „die schöne Kunst“ als „Werkzeug“ dieser Überwindung bestimmen.⁹¹ Damit nimmt er wieder Anschluss an Aristoteles’ Bestimmung einer poietischen Philosophie als der gemeinsamen Grundlage von theoretischer und praktischer Philosophie und damit als dasjenige Wissen, das diese Überwindung leisten zu können beansprucht.⁹² Indem Schiller jedoch anders als Aristoteles nicht jedwedes artifizielle Können, sondern allein künstlerisches Schaffen als dieses Wissen bestimmt, nimmt seine politische Theorie ihren eigentümlichen, von Aristoteles genauso wie von Pufendorf unterschiedenen Charakter an. Ebenso wie der moralische Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht gewährleisten kann, lebt auch die moralische Staatstheorie und damit alle praktische Vernunft bei Schiller von Bedingungen, die sie selbst nicht begründen kann. Indem Schiller diese Begründungsleistung aller praktischen Philosophie der schönen Kunst überantwortet, gehen seine politische und ästhetische Theorie auf in einer praktischen Ästhetik. Nach zahlreichen Präzisierungen gibt Schiller im 27. und letzten Brief zu verstehen, welchem Seelenvermögen genau er diese Überwindung zutraut und es damit als das Organ der schönen Kunst bestimmt: Es ist die Einbildungskraft. Schiller unterscheidet diese nicht vom Dichtungsvermögen wie Baumgarten. Für Baumgarten ist die Einbildungskraft nur das Vermögen, vergangene Zustände zu erinnern, d. h. nach ihrem natürlichen Zusammenhang; das Dichtungsvermögen ist für Baumgarten hingegen das Verknüpfen von Vorstellungen nach einem vom denkenden Subjekt frei bestimmten Zusammenhang.⁹³ Bei Schiller nun finden diese beiden Prozesse innerhalb der Einbildungskraft statt:     

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 586. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 586. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 593. Mittelstraß, Art. Poesis. Zu diesem Problem ausführlich Kato, Aristoteles. Mirbach, Gottsched und die Entstehung der Ästhetik, S. 122.

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Wie die körperlichen Werkzeuge, so hat in dem Menschen auch die Einbildungskraft ihre freie Bewegung und ihr materielles Spiel, in welchem sie, ohne alle Beziehung auf Gestalt, bloß ihrer Eigenmacht und Fessellosigkeit sich freut. Insofern sich noch gar nichts von Form in diese Phantasiespiele mischt und eine ungezwungene Folge von Bildern den ganzen Reiz derselben ausmacht, gehören sie, obgleich sie dem Menschen allein zukommen können, bloß zu seinem animalischen Leben und beweisen bloß seine Befreiung von jedem äußern sinnlichen Zwang, ohne noch auf eine selbständige bildende Kraft in ihm schließen zu lassen. Von diesem Spiel der freien Ideenfolge, welches noch ganz materieller Art ist und aus bloßen Naturgesetzen sich erklärt, macht endlich die Einbildungskraft in dem Versuch einer freien Form den Sprung zum ästhetischen Spiele. Einen Sprung muß man es nennen, weil sich eine ganz neue Kraft hier in Handlung setzt; denn hier zum erstenmal mischt sich der gesetzgebende Geist in die Handlungen eines blinden Instinktes, unterwirft das willkürliche Verfahren der Einbildungskraft seiner unveränderlichen ewigen Einheit, legt seine Selbständigkeit in das Wandelbare und seine Unendlichkeit in das Sinnliche.⁹⁴

Indem sich in der Einbildungskraft ein „Sprung“ von einer animalisch ungeordneten Abfolge der Ideen hin zum freien, „ästhetischen Spiele“ mit denselben vollzieht, ist die Einbildungskraft mithin genau dasjenige Vermögen, in dem analytische und synthetische Betrachtung, Vernunft und Sinnlichkeit, Denken nach dem Prinzip der Freiheit und Denken in Naturgesetzen, praktische und theoretische Vernunft immer schon zusammenfallen. Die Einbildungskraft ist bei Schiller ein eigenständiges, liminales Seelenvermögen zwischen verstandesmäßiger und sinnlicher Erkenntnis.⁹⁵

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 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 664; Hervorhebungen im Text. Vgl. Feger, Schillers ästhetische Suche.  Damit ähnelt Schillers Begriff der Einbildungskraft demjenigen Fichtes, wobei dieser ebenso wie die Romantiker auf eine noch größere Eigenständigkeit dieses Seelenvermögens gegenüber der Vernunft pochen werden, statt sie ‚nur‘ als Mittlerinstanz anzusehen. Vgl. Pollock, A Further Mediation. Zum Spielbegriff Schillers vgl. Sdun, Zum Begriff des Spiels, S. 510 – 513.

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Utopische Architektur oder architektonische Utopie? Idealstaatsentwürfe zwischen faktualem Projekt und fiktionaler Strategie

1 Idealstädte: Archetypen und Architektur Im Unterschied zur literaturwissenschaftlichen Handbuchliteratur, welche vordringlich die politischen und moralischen Dimensionen von Utopien im Blick hat, werden gerade in der kunstwissenschaftlichen Definition die baulichen Aspekte hervorgehoben: „Idealstadt ist eine gestalthaft vorgestellte (oder gelegentlich gebaute), lange Zeit durch betonte Regelmäßigkeiten gekennzeichnete Stadt, die in idealer Weise die materiellen und ideellen (einschließlich der ästhetischen) Anforderungen erfüllen soll, welche auf Grund der jeweiligen Produktivkräfte eine bestimmte Gesellschaft an die Stadt stellt.“¹ Idealstädte sind realisierte bzw. realisierbare Städte, denen eine Staats- oder Sozialutopie zugrunde liegt. Der ‚ideale Charakter‘, der den Städten innewohnt, hängt eng mit ästhetischen Reflexionen zusammen, die eine urbane Umsetzung fordern. Die vernünftigen Ideale der Utopie haben auf architektonischer Ebene funktionale und ästhetische Äquivalente. Die Bedeutung dieses Aspektes der Utopie erhellt vor allem aus der Annäherung an die Wirklichkeit, die der Stadtplan suggeriert. Die architektonischen Passagen verhandeln stärker als andere Momente eines utopischen Entwurfs die Möglichkeit seiner Realisierung. Eine zugleich kunst- und literaturhistorische Analyse dieser Passagen erlaubt mithin die dringende Neubewertung des Wahrheits- und Erkenntnisanspruchs utopischer Dichtung. Aufgrund der Verbindung von ästhetischer Reflexion und utopischem Sinn erhalten die Idealstädte einen Näherungscharakter, der die angebliche Diskrepanz zwischen Utopie und Realitätskonstruktion überdenken lässt; beide Begriffe müssten sich auf den ersten Blick per definitionem gegenseitig ausschließen, schließlich gilt ‚utopisch‘  O. A., Idealstadt S. 361. Dass die Idealstadt auch in der Kunstgeschichte ein geläufiges Thema ist, zeigen beispielsweise Albrecht Dürers (1471– 1528) inselhaften Stadtplanungen, die sich als weit entfernte und isolierte Gebilde konkretisieren lassen. Vgl. auch Bauer, Kunst und Utopie, S. 99. Es wird bereits hier deutlich, dass der utopische Diskurs immer auf einem interdisziplinären Feld operiert, um die Aussagewirkung zu verstärken. https://doi.org/10.1515/9783110605389-016

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vielerorts als Synonym für ‚unrealistisch‘:² „Wir verstehen die Idealstadt als den paradoxen Realisierungswunsch einer Utopie, die Stadtgestalt als ihren sichtbaren Ausdruck. Die Beschäftigung mit Idealstädten gerät somit zur Archäologie von formgewordenen Utopien.“³

2 Architektur: Ordnung zwischen Möglichkeitsund Wirklichkeitssinn Trotzdem unterliegt der utopische Charakter der Städte keineswegs der prinzipiellen Unvereinbarkeit mit der Wirklichkeit, sondern vielmehr einer Vergegenständlichung von Möglichkeiten, die auf diesem Weg Stufen zwischen wirklicher Gegenwart und utopischer Zukunft darstellen.⁴ Daher sind Fälle zu beobachten, in denen literarische Utopien in ihrer architektonischen Konzeption auf bereits bestehende Gebäude und Stadtteile zurückgreifen. Die Konzeption und die Rezeption von Idealstädten unterliegen, wie der gesamte utopische Diskurs, zahlreichen Wandlungen und Veränderungen; nichtsdestoweniger kann die Idealstadt gesehen werden als „die räumliche und zeitliche Dimension der Utopie. Das ‚Nirgendwo‘ oder das ‚später einmal‘ ist bei der Idealstadt gesellschaftlich gefüllt. Dadurch ist die Idealstadt nicht nur ein Ort, sondern immer auch ein Staat. Sie wird zu Form und Allegorie der idealen Gesellschaft, die sie beherbergt“⁵. Zudem profitiert die Darstellung der idealen Stadt von der negativ gekennzeichneten Realität. Mittels der Utopie, die den Idealstaat und damit die Idealstadt errichten möchte, werden Lösungsvorschläge gegeben, um höhere Ziele, wie kollektive Glückseligkeit oder Ordnung zu erreichen.⁶ Diese Verbindung aus Literatur und Architektur nutzt Platon bereits in seiner Politeia, indem er den idealen Staat im Rahmen einer bestimmten Stadtkonzeption konkretisiert.⁷ Tref-

 Vgl. Kluge, Stadt in der Utopie, S. 68 f.  Kruft, Utopia, S. 10.  Vgl. Kruft, Utopia, S. 15.  Krau, Utopie und Ideal, S. 75.  Vor allem Morus plädiert dafür, dass kollektive Glückseligkeit oberste Prämisse eines funktionierenden Staates sei, die vor allem mittels Ordnung zu erreichen wäre. Aber auch andere Utopisten verfolgen die Ziele, die sich aufgrund einer Ordnung darbieten. Auch wird hier die Ordnung im architektonischen Sinne gemeint, also Entzerrung der Stadtkerne, Regulierung des Verkehrs und Senkung der Überbevölkerung.  Auch in zahlreichen anderen Schriften Platons, wie beispielsweise Kritias, Nomoi oder Timaios, findet die Ausarbeitung der Utopie mit einem idealen Stadtplan statt, dessen geometrische For-

Utopische Architektur oder architektonische Utopie?

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fend definiert Walter Kluge die Utopie hinsichtlich dieser interdisziplinären Verbindung als die „Darstellung einer alternativen Gesellschaft“; und die Utopie wählt sehr häufig die Beschreibung einer Stadt als Präsentationsform, während andererseits Stadtarchitektur in der Regel keine neutrale Bauplanung sein will, sondern urbane Gesellschaftsformen konstruiert beziehungsweise Zeugnis von ihrem Verständnis ablegt. Stadtpläne sind Weltspiegelungen; in einer idealen Stadt erleben die Bürger das Gemeinwohl, weil sie die Handlungsräume dafür vorfinden.⁸

Deutlich geht daraus hervor, dass die Konzeption einer Utopie und die architektonischen Mittel, die nötig sind, um eine Stadt zu konstruieren, im utopischen Diskurs eng miteinander verbunden sind. Die Architektur ermöglicht eine bestimmte Veranschaulichung, die auf die in der Utopie geschaffenen Neuerungen und Gegenmodelle eingeht, um diese meist in eine geometrische Ordnung einzubetten. Die Architektur markiert in den Utopien besonders sinnfällig die Aufund Umbrüche, durch die sich der utopische Entwurf auszeichnet. Dieser Umstand lässt sich deutlich in den Utopien des 16. Jahrhunderts beobachten als Versuch, eine Gegenbildlichkeit und eine Abgrenzung zu mittelalterlichen Stadtansammlungen zu schaffen. Die Motive einer geordneteren Stadt und dadurch auch eines strukturierteren Ordnungssystems sollten sich, was sie in der Umsetzung auch taten, aus dem Plan und der Konzeption ergeben.⁹ Durch straffe Organisiertheit des beschriebenen Raums bildet der Städtebau das Pendant zum geometrischen Prinzip der Symmetrie, wodurch die Städte in ihrer Planung und Anordnung der Gesellschaft allererst erlauben, nach utopischen Richtlinien zu leben und handeln: „Nimmt man hinzu, dass Gebäude und Stadt rechterdings ihren Bewohnern immer optimale Lebensbedingungen bieten müssen, wird die Verwandtschaft zwischen Architekten und Utopisten und die Möglichkeit ihrer wechselseitigen Beeinflussung noch deutlicher.“¹⁰ Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die räumliche Verwirklichung an einem ‚Nicht-Ort‘, sprich die Verlagerung an einen fiktiven Ort. In den Utopiedarstellungen der Renaissance wird die Handlung aus diesem Grund auf eine Insel verlegt, um die utopische Gesellschaft als isoliertes Gebilde darzustellen, das abgeschieden von der Außenwelt nicht in den Kontakt mit anderen Kulturen treten kann, um seinen ideal geplanten Charakter wahren zu können. Nach innen zeichnet sich die Insel durch ein in sich geschlossenes Staats- und Ordnungsmen und Strukturen mit den politischen Ordnungen korrespondieren. Vgl. Mumford, The Story of Utopias; De Bruyn, Die Diktatur der Philanthropen; Eaton, Die ideale Stadt.  Kluge, Stadt in der Utopie, S. 67.  Vgl. Krau, Utopie, S. 85.  Biesterfeld, Die literarische Utopie, S. 28.

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system aus, nach außen durch Schutz und Abgrenzung gegen Einflüsse von anderen, schlechteren Gesellschaften. So stellt die Insel als Ort der Konkretisierung der Utopie für Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731) die Verortung eines irdischen Paradieses dar, wohingegen Thomas Morus’ Utopia (1516) viel mehr den pragmatischen Vorzug der Isolation betont. Durch die räumliche Einhegung sind Struktur und Überwachung der Gesellschaft leichter möglich. Für einige Forscher gleicht die Insel in der Utopie daher einer Traumwelt oder etwas Irrealem.¹¹

3 Thomas Morus’ Utopia (1516) Diese Beobachtungen können an der Stadtarchitektur in Thomas Morus’ Utopia anschaulich gemacht werden, da der Inselstaat Utopia die Gegenbildlichkeit zu den Missständen Europas des 16. Jahrhunderts aufzeigen soll.¹² Architektonisch konzipiert Morus seine Utopie rational und zweckorientiert: The town is surrounded by a thick, high wall, with many towers and battlements. In three sides it is also surrounded by a dry ditch, broad and deep and filled with thorn hedges; on its fourth side the river itself serves a moat. The streets are conveniently laid out both with use by vehicles and for protection from the wind. […] The housefronts along each block are seperated by a street twenty feet wide.¹³

Das Gemeinwesen ist nicht als Stadtstaat organisiert, sondern besteht aus einem Bündnis aus 54 einzelnen, aber identisch aufgebauten Städten, die von Mauern umgeben werden. Die Entfernung zwischen ihnen ist auf einen Abstand von 24 Meilen festgelegt. Die Versorgung der Stadtbewohner wird aus dem die Stadt umgebenden Umland durch Ackerbau und Viehzucht bezogen. Damit greift Morus das in der Renaissance etablierte Ideal der Selbstversorgung auf. Es findet keine Verherrlichung der Stadt auf Kosten der Landwirtschaft statt, vielmehr steht die utopische Siedlungsweise in Kontrast zur städtebaulichen Realität. Anschaulich wird dies an der Hauptstadt Amaurotum, da diese rechteckig und mit Berglage konzipiert wurde, vor allem auch um die Insel zu überblicken. Das Straßensystem ist schachbrettartig aufgebaut mit je 50 Straßen, die sechs Meter breit terrassenförmig angelegt wurden und sich in regelmäßigen Abständen schneiden. Durch diese Formierung ergeben sich vier Viertel, innerhalb derer

 Vgl. Schölderle, Utopia und Utopie, S. 450 f.  Vgl. Nitschke, Staatsräson kontra Utopie?  More, Utopia, S. 119.

Utopische Architektur oder architektonische Utopie?

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Abb. 1: Utopia

jeweils 1500 Einzelhäuser angeordnet sind. Die Häuser bestehen allesamt aus Stein mit einem feuerfesten Dachmaterial, dazu Fenster aus Glas. Die Hauskom-

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plexe sind jeweils dreistöckig, da dadurch Bodenfläche gespart wird, ohne die Wohnfläche zu mindern und gleichzeitig eine Grünfläche, die für Morus obligatorisch zu einem Haus gehörte, zu gewährleisten. Dabei beherbergt jedes Haus eine Familie, die aus bis zu 16 Erwachsenen bestehen kann. Entgegen einer Gütertrennung und einem Privateigentum sind sowohl Gärten als auch die Wohneinheiten jedem frei zugänglich, was durch Schwingtüren anstelle von abschließbaren Türen demonstriert wird. Die Wohnlandschaften sind durchzogen von Sakralbauten und Marktplätzen, um den Blick in das Zentrum der Stadt freizulegen und die organisierte, geometrische Struktur der Stadt aufzulockern.¹⁴ Die Stadtbewohner sind, und das wurde nicht zuletzt auch auf den Stadtplan übertragen, rationale Menschen, die ihren affectus überwunden haben. Das Gemeinwohl, verdeutlicht durch Gemeineigentum und ein klar definiertes Sozialleben, steht im Zentrum des Interesses, weswegen alle Erzeugnisse paritätisch verteilt werden. Morus verspricht sich davon den Ausschluss jeder Art von Existenzangst und gibt gleichzeitig mit der Anordnung der Infrastruktur und der Städte eine Lösung für das Problem der Überbevölkerung und damit einhergehender Folgen. Bei zu viel Anwuchs der Bevölkerung wird nach dem Bild der Hauptstadt in ausreichender Entfernung ein Ebenbild dieser gebaut.¹⁵ Bereits Morusʼ Utopia macht mithin auf städteplanerischer Ebene Plausibilisierungsangebote: Unter bestimmten Bedingungen kann aus dem Land Nirgendwo ein Land Irgendwo werden.¹⁶

4 Tommaso Campanellas Die Sonnenstadt (1623) Die im darauffolgenden Jahrhundert entstandene Utopie des Italieners Tommaso Campanella, Die Sonnenstadt (Manuskript 1602; lat. 1623), realisiert ihren Gesellschaftsentwurf auf der am Äquator liegenden Insel Tabrobane, dem heutigen Sri Lanka.¹⁷ Die Stadt befindet sich auf einem konischen, in sieben Ringe unterteilten Hügel. Der Aspekt der Insel als Schutz bietender Raum wird bei Campanella mittels einer Ummauerung der gesamten Insel ebenso verstärkt wie ihre Isolation von der Außenwelt. In der Mitte der Insel befindet sich der Sonnentempel, der Bezug auf die symbolische Darstellung des Kosmos nimmt, das All also als Vorbild der menschlichen Behausung. Diese Zentrierung und Anordnung stellt für Campanella den idealen Stadtplan dar und greift damit die Vorstellungen    

Vgl. Kluge, Stadt in der Utopie, S. 70; vgl. Claeys, Ideale Welten, S. 117 f. Vgl. Süssmuth, Studien zur Utopia des Thomas Morus, S. 127 f. Vgl. Nitschke, Staatsräson kontra Utopie?, S. 69. Campanella, Sonnenstadt; Campanella, Città del Sole.

Utopische Architektur oder architektonische Utopie?

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Platons auf, in denen sich der Mensch dem von Gott geschaffenen Kosmos unterwirft und gleichzeitig auf die Adaption der kosmischen Ordnung in der irdischen verweist. Zwar ist der Legislator der sogenannte ‚Kosmos‘, doch obliegt allein Gott in seiner Vollkommenheit die oberste Gewalt, sodass jede Abweichung eine Sanktion hervorrufen würde.¹⁸ Der Grundriss der Stadt ist kreisförmig angelegt, entsprechend der geografischen Gegebenheiten der Insel und der als vollkommen geltenden Figur des Kreises. Die darin befindlichen Tempel und Plätze sind wegen ihres stets astronomischen Verweischarakters ebenfalls in Kreisform angelegt. Nur durch das Straßensystem werden die Kreise aufgebrochen, und zwar durch Geraden und Kreuzungen, was als Verweis auf die heidnisch-rationale Denkweise der Bewohner der Sonnenstadt aber auch als Verweis auf das Kruzifix gedeutet werden kann. Nach den geometrischen Kreisfiguren und Geraden kommt die größte Bedeutung in der Sonnenstadt der Über- und Unterordnung zu. Wie schon bei Morus ordnet sich das Individuum dem Gemeinwohl unter, was vor allem umfassende moralische Überwachung und Gütergemeinschaft belegen. Die Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, ihrer Gestalt nach als Hierokratie präsentiert, findet sich als Leitgedanke sowohl in Campanellas Metaphysik als auch in seiner Architektur. Die Anzahl der Stadtringe ist paradigmatisch, insofern die Zahl Sieben ihrer Bedeutung nach auf die Anzahl der Tage der göttlichen Schöpfung verweist, die Namen der Stadtringe wiederum auf die Planeten des Sonnensystems referieren. Im Zentrum der Stadt und damit auch in der Mitte der Weltachse befindet sich der Zentraltempel in Gestalt eines Säulenbaus. Mithilfe dieser Symbiose aus biblischer Symbolik und Architektur werden kosmologische und kosmogonische Deutungsmodelle politisch fruchtbar gemacht.¹⁹ Der deutliche Symbolismus dieses Gebäudes wird sprachlich verstärkt durch die hohe Bildlichkeit des Berichtes. Damit versucht Campanella, das Erreichen einer harmonia mundi ²⁰ durch Natur-Allegorien zu manifestieren und architektonisch aufzugreifen.

 Vgl. Garber, Von der urbanistischen Großutopie zur naturalen Kleinutopie, S. 18: „Diese Stadt ist ein gebauter Astralmythos der Gesetzlichkeit alles Geschaffenen.“  Vgl. Claeys, Ideale Welten, S. 118.  Vgl. Garber, Von der urbanistischen Großutopie zur naturalen Kleinutopie, S. 19.

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5 Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731) Ebenso muss in diesem Kontext auf die 1731 erschienene Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel eingegangen werden, die anders als Utopia und Die Sonnenstadt zwischen europäischer Erfahrungswirklichkeit und insulärem Idealstaat vermittelt, indem dessen Gründung durch europäische Auswanderer detailliert geschildert wird. Die beschriebene Seefahrt wird in einer doppelten Rahmenhandlung erzählt, zum einen die Geschichte des fiktiven Herausgebers Gisander und zum anderen durch den Ich-Erzähler Eberhard Julius, der auf der Insel Felsenburg als einzig männlicher Überlebender eines Schiffsbruchs strandete. Die Utopiereflexion des Autors findet sich bereits zu Beginn in Form einer Vorrede: Sie gibt einerseits Hinweise auf die historische Fiktionalität des Textes, d. h. der Text erhebt nicht den Anspruch, ein Urteil darüber zu fällen, dass die Insel Felsenburg tatsächlich existiert; andererseits insinuiert die Vorrede, dass es sich beim Geschriebenen gleichwohl um moralische Wahrheit handelt. Diese moralische Wahrheit besteht mit Blick auf die kohärente Darstellung tugendhafter Individuen und moralischen Handelns.²¹ Die topografischen Gegebenheiten der Insel zeichnen sich durch schwere Zugänglichkeit und Abgeschiedenheit aus, da steile Klippen und vorgelagerte Sandbänke den Weg in das Innere der fast rechteckigen Insel erschweren. Ihre Hauptstadt ist von drei Flüssen durchzogen, wohingegen die Grenzen der Stadt von Waldlandschaften umgeben sind. In die Stadtplanung miteinbezogen sind verschiedene Siedlungsräume, wie Gärten und Alleen. Den Mittelpunkt der Stadt markiert die Albertsburg, die inmitten der zwei Hauptflüsse gelegen ist. Die Inselbewohner schätzen ihre Abgeschiedenheit vor allem wegen der Ruhe und den Vergnügungen, was letztlich dazu führt, dass kein Einwohner die Insel wieder verlassen möchte.

6 Möglichkeitsdenken und Handeln an der Schwelle zum 20. Jahrhundert Dem futuristisch-avantgardistischen Ideal zur Erschaffung einer neuen Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst folgten auch Architekten, die der Überzeugung waren, dass eine Verbesserung der Welt, Gesellschaft und des Lebensstandards  Vgl. Löwe, Idealstaat und Anthropologie, S. 95.

Utopische Architektur oder architektonische Utopie?

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Abb. 2: Insel Felsenburg

durch architektonische Innovationen möglich wäre. Architektur als Instrument der Gesellschaftsformung ist damit integraler Teil der literarischen Gedankenexperimente, durch die sich Utopien auszeichnen. Es galt nicht nur, die Ziele des utopischen Programms zu formulieren, sondern auch die Bedingungen zu bestimmen, unter denen sie sich realisieren lassen; Architektur ist Teil der Konstruktion einer plausiblen Möglichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dies führt zu einer Erweiterung des Architekturbegriffs über bloße Raumerfahrung hinaus. Die programmatischen und theoretischen Texte verdeutlichen diese Erweiterung und verweisen auf den „Keim der Zukunft“²², der in die Ausarbeitungen integriert wurde. Auf Basis dessen wird aus Architektur nicht nur eine Möglichkeitsbedingung, sondern auch eine Ermöglichungsbedingung.²³ Wilhelm Voßkamp bestimmt das Möglichkeitsdenken als Bedingung für jede Form der

 Goldzamt, William Morris, S. 202.  Vgl. Schwarte, Philosophie der Architektur, S. 10 f.

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philosophischen, anthropologischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Utopie oder Dystopie und begründet dies mit dem Verweis auf Aristoteles, der das Mögliche durch Widerspruchsfreiheit bestimmt: „Das im Gegensatz zum Notwendigen stehende Mögliche: das Noch-nicht-Seiende. Es steht am Anfang jedes Werdens, Entstehens, jeder Bewegung, Veränderung und ist in den Materialursachen begründet.“²⁴ Indem Voßkamp Aristotelesʼ Möglichkeitsbegriff dergestalt mit dessen Vier-Ursachen-Lehre verknüpft, vermag er folgerichtig eine Verbindung von Möglichkeitsdenken und Utopie herauszustellen, sodass sich gerade seit dem 18. Jahrhundert ein futuristischer Zug der Utopien auszuprägen beginnt. Eine als Perpetuierung nur des Wirklichen falsch verstandene Kontinuität wird dadurch unterbrochen und die Zukunft erscheint nicht mehr als quasi-determinierte Konsequenz der Wirklichkeit, sondern als Resultat gestaltbarer Möglichkeiten.²⁵ Diese Gestaltbarkeit künftiger Möglichkeiten stärkt wiederum die Bedeutung des freien Handelns als deren Möglichkeitsbedingung und somit auch die Bedeutung der Gegenwart als desjenigen Moments, in dem die freie Handlungsentscheidung gefällt wird: „In welcher Form präsentiert sich die Zukunft in der Gegenwart? […] Heute haben wir mit extrem verunsicherten Zukunftsperspektiven zu leben, und die Verunsicherung hat ihren Grund nicht im Heilsplan Gottes, sondern im System der Gesellschaft, das sich selbst zu verantworten hat […].“²⁶ Die gesellschaftliche Zukunft kann infolgedessen nur von der Gegenwart ausgehend verhandelt werden. Wirkliche Gegenwart und mögliche Zukunft erscheinen damit nicht mehr als bloße Gegenweltlichkeit, sondern erhalten ihre Verbindung durch die Faktoren des Möglichkeitsdenkens und freien Handelns.²⁷ Der Utopiediskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts stellt ein weiteres Merkmal heraus, und zwar das der Weltbesserung. Diese Besserung erfährt unter totalitarismustheoretischen Vorzeichen eine fundamentale und normative Umkehrung. In gleichem Maße rekurriert der totalitäre Utopiebegriff auf die maßgebliche Intention der Utopie, und zwar den Versuch, mithilfe technischer Manipulation den Menschen zu seinem Glück zu verhelfen.²⁸ Folgt man der Ansicht, dass Möglichkeitsdenken eine Voraussetzung der Utopie ist, indem eine ästhetische Konstruktion des hypothetisch Möglichen im Medium der Dichtung vollzogen wird, so muss gleichwohl ein Spannungsverhältnis zwischen wirklicher Gegenwart und möglicher Zukunft vorausgesetzt werden.²⁹ Durch das Medium der

     

Seidl, Möglichkeit, Sp. 77. Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 13 f. Luhmann, Die Beschreibung der Zukunft, S. 130. Nipperdey, Funktion der Utopie, S. 362. Vgl. Schölderle, Utopia und Utopie, S. 404. Vgl. Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 22 f.

Utopische Architektur oder architektonische Utopie?

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Dichtung kann scheinbar Unvorstellbares vorstellbar gemacht werden: Die Herausforderung an den Utopisten ist die, Gesellschaftsentwürfe, die den meisten Lesern unter dem Eindruck der gegenwärtigen Wirklichkeit als unrealisierbar erscheinen, als Möglichkeit herauszustellen, und zwar als Möglichkeit, die der Wirklichkeit neben anderen alternativen Möglichkeiten durchaus innewohnt und die eben nur realisiert werden kann, wenn Bedingungen geschaffen werden, die nur ihr und nicht den alternativen, schlechteren Möglichkeiten zur Verwirklichung verhelfen.³⁰ Unter dem Eindruck dieser theoretischen Überzeugung vollzieht sich zum 20. Jahrhundert ein Disziplinenwechsel des utopischen Diskurses von der Dichtung zur Architektur. Dies zeigen die zahlreich entstandenen programmatischen Schriften der Architekten des beginnenden Jahrhunderts. Es kommt zu einer Konzentration auf den Realisierungswillen als eine der zentralen Bedingungen utopischen Gestaltens. Nicht mehr das Aufzeigen der Missstände ist hier das Hauptanliegen, sondern die Verwirklichung der Pläne.

7 Le Corbusiers Idealstadtpläne Dieser Disziplinwechsel, die Integration utopischen Gedankenguts in die Architektur, lässt sich an den theoretischen Programmschriften des schweizerischfranzösischen Architekten Le Corbusier nachvollziehen. Gerade in seinen Stadtkonzeptionen Anfang der 1920er Jahre können utopische Traditionen wiedergefunden und anhand ihrer deutlich gemacht werden, dass das utopische Denken im frühen 20. Jahrhundert eindeutig in der Architektur verortbar ist. Die schriftliche Fixierung der Pläne, wie sie Morus und Campanella in ihren Utopien vornahmen, verknüpft Le Corbusier mit einem stärkeren Verwirklichungswillen, die Pläne hinsichtlich ihrer Architektur umzusetzen. Seine Programmschrift Urbanisme sollte dabei nicht nur den Städtebau revolutionieren, sondern auch existierende Städte und Stadtteile – vor allem Paris – radikal verändern: Der Anspruch von Le Corbusiers utopischer Architektur war nicht nur Vision des Zukünftigen, sondern auch und zuerst die Revision des Gegenwärtigen. Dafür wollte er den Städtebau einer konsequenten Geometrisierung unterziehen. Le Corbusier konnte nur Gefallen an der Geraden finden, da diese ein aktives und  Eine in diesem Kontext passgenaue Definition liefert Seel, Drei Regeln für Utopisten, S. 753: „Utopien sind in Raum und Zeit unerreichbare Zustände, deren Erreichbarkeit dennoch gedacht werden kann und gedacht werden soll. Sie soll gedacht werden, um innerhalb des Wirklichen den Sinn für das Mögliche zu schärfen […]. Alle Utopien lassen ferne Möglichkeiten absehbar werden, um hier und jetzt ergreifbare Möglichkeiten sichtbar werden zu lassen.“

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bewusstes Handeln des Menschen voraussetzt und somit edel erscheint. Aus diesem Grund entwirft er ein strenges Modell von Ordnung und sieht von Unregelmäßigkeiten und Überflüssigem vollkommen ab.³¹ Trotzdem wurde Le Corbusiers Urbanisme meist als urbanistischer Funktionalismus verkannt, wobei für ihn Städtebau immer eine Suche nach zweckmäßigen Lösungen für dringliche Probleme des menschlichen Habitats war. Deswegen muss die Stadt auch als ein outil de travail und das Haus als „Wohnmaschine“ bestimmt werden.³² Hauptaugenmerk in seiner Utopie gilt dem Menschen, der die Natur durch seine Vernunft in Beschlag genommen hat. Wie auch in den Utopien von Morus und Campanella spielt das soziale Leben des Individuums eine untergeordnete Rolle, da für Le Corbusier ohnehin jedes Individuum die gleichen Bedürfnisse hat. So beginnt Urbanisme mit anthropologischen Bestimmungen, in denen Le Corbusier den Menschen zunächst von der Tierwelt abgrenzt und über die organische Natur erhebt. Nur der Mensch ist in der Lage, sich Ziele zu setzen und diese auf geradem Wege zu verfolgen, weil nur er ablenkende Gefühle und Neigungen durch seine Vernunft beherrschen kann, wohingegen das Tier – Le Corbusier wählt als Beispiel den Esel – seiner Natur und seinen Instinkten unterworfen ist und deshalb weder sich Ziele zu setzen noch diese geradewegs zu verfolgen in der Lage ist. Der Mensch bändigt seine Instinkte aufgrund der vorgefassten Ziele, weswegen er auch sein inneres Tier zu Gehorsam zwingt. Der Verstand formuliert Regeln, die sich zum einen aus der Logik, zum anderen aus der Erfahrung ergeben. Die Notwendigkeit, Städte nach Le Corbusiers Plänen zu bauen oder umzugestalten, ergibt sich für ihn aus dem Umstand, dass nicht die Gerade des Menschen, sondern das „Zick-Zack des Esels“ das Stadtbild der meisten Städte bestimmt: Resultat dessen sind geschwungene Straßen, die die Stadt lahmlegen: eine Stadt des Zufalls. „Die Wege des Esels haben Rang bekommen und werden die großen Schlagadern der Stadt. Der Tod war noch in weiter Ferne. Das Zeitalter der Maschine brach herein: Der Tod klopft an die Tür.“³³ Bislang, so Le Corbusier, wurde diese Art von Städten hingenommen und deshalb an keinerlei technischen Fortschritt angepasst. Daher führen solche Städte zu Problemen, die die Bewohner in Bedrängnis bringen. Der moderne motorisierte Verkehr erfordert „die Gerade. Die Gerade ist auch für die Seele der Städte gesund. Die Kurve ist verderblich, schwierig und gefährlich. Sie lähmt.

 Le Corbusier übt in Urbanisme vor allem Kritik an den Stadtvorstellungen des Architekten Camillo Sitte und der Gartenstadtbewegung, die eine Rückwendung in die Natur forderten.  Vgl. hierzu Pehnt, Vorwort zum Reprint, ohne Paginierung.  Le Corbusier, Städtebau, S. 81.

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Die Gerade ist da in der Geschichte des Menschen, in jeder Planung des Menschen, in jeder Handlung des Menschen.“³⁴ Was mit dem Menschen passiert, der sich im Chaos befindet, schildert Le Corbusier am Beispiel von Paris, eine Stadt, die durch und durch vom Zick-Zack des Esels geprägt ist. Deshalb ist eine strenge Geometrie und Ordnung in der Stadtkonzeption die oberste Prämisse, da, sollte sie nicht gegeben sein, die Stadt sich der menschlichen Vernunftnatur widersetzt, den Menschen behindert und dadurch weiteren Fortschritt aufhält. Indem auf diese eigentümliche Weise die äußere Fortbewegung des Menschen zur Bedingung seines intellektuellen Fortschritts gemacht wird, ist klar: Den ersten Schritt für dieses Umdenken und Umstrukturieren kann allein die Architektur schaffen, insofern Denken und Handeln mittels der Geraden und des rechten Winkels gelenkt werden. Allerdings widersetzt sich die äußere Natur der Vernunftnatur des Menschen aufgrund ihrer scheinbar chaotischen Formen und Gesetze und sorgt damit für Verwirrung bei den Menschen. Um sich die Natur deshalb zu unterwerfen, muss der Mensch sein Wissen einsetzen und eine logische Analyse vornehmen, indem er am Horizont die Horizontale abzeichnet, „eine Linie, die für uns Inbegriff der Unbeweglichkeit ist. Die Senkrechte bildet mit der Waagerechten zwei rechte Winkel.“³⁵ Ihr Schnittpunkt ist der Totpunkt aller Kräfte, die der Welt verhelfen im Gleichgewicht zu bleiben. Deshalb hat der rechte Winkel Vorrecht: „In die chaotische Natur hinein schafft der Mensch zu seiner Sicherheit eine eigene Umwelt, eine Schutzzone, die im Einklang mit dem steht, was er ist und was er denkt; […] er sich in Sicherheit fühlt; er bedarf Dinge seiner Begriffswelt.“³⁶ Die höchste Stufe, in welcher der Mensch die reinste Ordnung schafft, ist ein Kunstwerk, das die Zeit überdauert. Der Mensch stellt sich über die ihm äußere Natur:³⁷ „Die Natur ist vielfältig, fruchtbar, grenzenlos; aber der Mensch zieht aus ihr einfach Gesetze und leitet aus ihnen einfach Gleichungen ab. Menschenarbeit muss in Ordnung vor sich gehen, und Ordnung allein erlaubt die großen Werke.“³⁸ Im Zuge dessen unterscheidet Le Corbusier drei Stadien menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung: Die erste und primitivste Art des menschlichen Daseins ist die des tierhaften Menschen, der einen primären und untergeordneten Gleichgewichtszustand schafft, dabei aber in sich vollkommen ist. Eingeordnet werden in diese Gruppe unter anderem ‚Wilde‘, die sich der Geometrie bedienen

 Le Corbusier, Städtebau, S. 10.  Le Corbusier, Städtebau, S. 18.  Le Corbusier, Städtebau, S. 19 f.  Le Corbusier bezeichnet diesen Umstand als „Beschlagnahme der Natur durch den Menschen“. Le Corbusier, Städtebau, S. 17 f.  Le Corbusier, Städtebau, S. 120.

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aufgrund ihrer Menschhaftigkeit. Die zweite Art von Menschen und Gesellschaften sind die Völker, die sich bereits auf dem Weg hin zu einer Kultivierung befinden und dabei ihr primitives Dasein verlassen. Die Veränderung bringt allerdings auch den Verlust des Gewohnten mit sich, sodass sich der Mensch auf der zweiten Stufe in einem Ungleichgewicht befindet. In diesem Stadium weist er sowohl bereits ein Bewusstsein für seine Lage als auch noch eine weitreichende Unwissenheit auf. Der dritte Zustand entspricht einer Weiterentwicklung der zweiten Stufe. In diesem Stadium wird dem Menschen ein Erschaffungswillen und Verständnis für die „reinsten Formen“³⁹ zugesprochen. „Wir neigen zu höheren Befriedigungen, zu uneigennützigen, dank dem Geist der Mathematik, der uns beseelt.“⁴⁰ Alles, was der Mensch schafft, schafft er durch die Kraft seiner Hand und seines Geistes, die sich in Systemen ausdrückt. Der Mensch tritt, sobald er eine Gerade zu ziehen in der Lage ist, in ein höheres Stadium ein, denn ohne verstandesmäßige Überlegung kann der Mensch keine Gerade ziehen.⁴¹ Diese Bestimmungen unternimmt Le Corbusier zu Beginn seiner in drei Teile gegliederten Programmschrift Urbanisme und macht sie zur Grundlage seiner Stadtplanungen und Architektur. Daraufhin beschreibt der Architekt erste Konkretisierungen seines Planes, der sogenannten Ville Contemporaine; abschließend erläutert er weitere Konkretisierungen seiner Pläne mit Blick auf die Hauptstadt Paris. Hans Hildebrandt betont in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe die wesentlichen Grundsätze des Architekten: Die logische Klarheit, die diesen Bauten innewohnt, hat den Anschein des Utopischen und ist damit maßgeblich für die Wirklichkeit von morgen: „Die Rücksichtslosigkeit der privaten Interessen ruft eine verheerende Zerstörung des Gleichgewichts hervor zwischen den ökonomischen Kräften, die ständig wachsen, einerseits, und der administrativen Kontrolle und der sozialen Solidarität, die immer schwächer und mutloser werden, andererseits.“⁴² Das allgegenwärtige Ziel der Architektur soll aber sein, den Menschen zu schützen.⁴³ Sicherheit konnte jedoch im Zuge der Industrialisierung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr gewährleistet werden, da die Stadtgrenzen und die klare Stadtviertelstruktur aufgebrochen worden war, was zu einem Ordnungsverlust des urbanen Raumes führte. Le Corbusier sieht darin eine Gefahr. Er führt zwei Arten möglicher Vergemeinschaftungsprozesse vor, von denen eine auf     

Le Corbusier, Städtebau, S. 32. Le Corbusier, Städtebau, S. 32. Le Corbusier, Städtebau, S. 32 f. Le Corbusier, An die Studenten, S. 116. Vgl. Huse, Le Corbusier in der deutschen Architekturkritik, S. 59 f.

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Zufall basiert und insofern eine lose Ansammlung verschiedener Menschen darstellt, die letztlich im Chaos endet. Die andere Vergemeinschaftung besteht in einer Gruppe von Menschen in einer konstruierten Stadt, die auf Vernunft und Wissenschaften beruht.⁴⁴ Nichtsdestoweniger ist in Le Corbusiers Architektur die Stadt als eine organische Entität anzusehen. Die Stadtbeschreibung bedient sich anatomischer und biologischer Metaphorik. So steht beispielsweise die ‚Seele der Stadt‘ über bloßem Maschinismus und lässt somit eine Hierarchie erkennen. Das Mechanische steht „unter den tiefen und endgültig mit unserem Gefühlsleben verbundenen Empfindungen […], unter der Gefühlsorganisation, die das Geheimnis unseres Glücks wie unseres Unglücks umschließt.“⁴⁵ Für den Städtebau bedeutet dies, dass ihm die Aufgabe zuteil wird, vor allem in Zeiten der Verwirrung, für Glück und Unglück zu sorgen, was auch eine Erneuerung der sozialen Systeme erforderlich macht. Dabei führt der Weg weg vom Individualismus, da sich dieser als schlecht für die Stadt erweist und die allgemeine, öffentliche Ordnung stören würde, und gipfelt in einem regelrechten Gemeinschaftsgefühl. „Der Städtebau erforderte eine Einförmigkeit im Einzelnen und Bewegung im Ganzen.“⁴⁶ Dies resultiert auch in der Vergrößerung der Grünflächen, da „der Baum auf alle Fälle ein Mittel zu physischem und geistigem Wohlergehen dar[stellt].“⁴⁷ Vornehmlich funktional ist auch die Wohnarchitektur, wenn beispielsweise die Außenfassaden unverputzt bleiben. Le Corbusier möchte fünf Neuerungen etablieren: Stützen, Dachgärten, freie Grundriss- und Fassadengestaltung und Langfenster: „Les necessités actuelles de l’habitation peuvent être précisées et exigent une solution. Il faut agir contre lʼancienne maison qui mésusait de lʼespace. Il faut considérer la maison comme une machine à habiter ou comme un outil.“⁴⁸ Le Corbusier konzipiert die Wohnung nach der für das Gemeinwesen sinnvollsten und gewinnbringendsten Form, nämlich als Gruppenwohnung.Vor allem ist die 1922 entwickelte Villa Immeuble hiervon geprägt: Sie weist zugleich Züge einer Klostergemeinschaft und eines Ozeandampfers auf. Diese Vorbilder überträgt Le Corbusier auf einen Wohnungsbau, der weniger von einem Nebeneinander als einem Miteinander der Menschen geprägt ist.

    

Vgl. Le Corbusier, Städtebau, S. 74 f. u. S. 82 f. Le Corbusier, Städtebau, S. 52; Hervorhebung im Text. Le Corbusier, Städtebau, S. 67. Le Corbusier, Städtebau, S. 69. Le Corbusier, Ville Contemporaine, S. 38.

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An zahlreichen Stellen betont Le Corbusier die Umsetzbarkeit seiner in Urbanisme entwickelten Entwürfe und bestimmt für ihre Realisierung folgende Bedingungen: Es bedarf einer politischen Macht, die so ist, wie man sie sich wünscht – klarbringend, sicher und entschlossen, die besten Lebensmöglichkeiten zu verwirklichen, die auf dem Papier ausgearbeitet und eingezeichnet worden sind; eine aufgeklärte Bevölkerung, die versteht, wünscht und fordert, was Fachleute für sie ins Auge gefasst haben; eine wirtschaftliche Situation, die erlaubt, Arbeiten von denen einige beobachtet sind, in Angriff zu nehmen und auszuführen.⁴⁹

Le Corbusiers erstes fiktionales Planungsmodell zur Konkretisierung einer bestmöglichen und technisierten Stadt ist die theoretische Studie Ville Contemporaine. Hier setzt Le Corbusier seine Ansprüche an eine technisierte, moderne Stadt um. Ein Modell dieser Metropole, deren Konzeption auf dem Vernunft- und Handlungsbegriff des modernen Menschen beruht, wurde elf Jahre später im Rahmen des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) in Athen als eine Stadt ohne Vergangenheit, Glück und Tragödien vorgestellt.⁵⁰ Die neuen und grundlegenden Veränderungen lassen sich in vier Punkten zusammenfassen: Erstens sollen die Stadtzentren entlastet werden, um damit den neuen Anforderungen an die verkehrstechnischen Gegebenheiten Genüge zu leisten. Zweitens muss die Bevölkerungsdichte komprimiert werden, „um die von der Geschäftswelt verlangte Begegnung zu verwirklichen.“⁵¹ Drittens soll die Anzahl der öffentlichen Verkehrsmittel erhöht werden und der Begriff der Straße neu bestimmt werden. Dies gilt vor allem in Hinblick auf Untergrundbahnen oder Flugzeuge. Viertens müssen die Grünflächen vermehrt und vergrößert werden, denn nur durch ausreichend natürliche Umgebung kann die Stadthygiene sichergestellt werden. Darüber hinaus erlauben die Grünflächen Erholung für die arbeitenden Menschen.⁵² Um diese Stadtkonzeption zu verwirklichen, wird nach dem optimalen Terrain gesucht. Dieses Terrain muss sowohl eben sein, als auch Zugang zu einem Fluss haben. Die Bevölkerung ist unterteilt in Städter, Vor- und Halbstädter, die jeweils bestimmten Stadtteilen zugeordnet werden können. Die erste Schicht lebt und arbeitet im Zentrum, die zweite Schicht arbeitet in der Peripherie der Stadt, einer Art Fabrikzone, wohnt aber in der sogenannten Gartenstadt, weiter außerhalb des Zentrums. Die dritte Schicht arbeitet in der Geschäftscity und lebt ebenso wie die zweite Gruppe in der Gartenstadt. Zwischen    

Le Corbusier, An die Studenten, S. 127. Vgl. Hilpert, Die funktionelle Stadt, S. 119. Vgl. Hilpert, Die funktionelle Stadt, S. 87. Hilpert, Die funktionelle Stadt, S. 119 f.

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City und Industriezone befindet sich eine Peripherie, die dem organischen Denken gemäß der Frischluftzufuhr dienen soll.

Abb. 3: Grundriss der Ville Contemporaine

Die Straßen der alten Städte waren konzipiert für Kutschen, sodass Automobile und die damit verbundene Geschwindigkeitssteigerung nicht auf diesen Straßen geschehen konnte. Le Corbusier bestimmt die Straße als Verkehrsmaschine und integriert sie so in seine Theorie.⁵³ Die Straße ist Teil des Organismus der Stadt und muss daher „ein Meisterwerk des Ingenieurbaus [darstellen] und darf nicht mehr eine Arbeit des Erdarbeiters sein.“⁵⁴ Darüber hinaus muss der Verkehr in verschiedene Ebenen eingeteilt werden, um Verzögerungen und Stau zu vermeiden, indem unterschieden wird zwischen schweren Lastfuhrwerken, Pendler- und Schnellfahrzeugen. Diese Einteilung wirkt sich insofern auf den Straßenbau aus, als Last- und Zugverkehr ausschließlich unterirdisch verkehren.  Vgl. Le Corbusier, Städtebau, S. 95 u. S. 106 f. Die Ville Contemporaine ist eine Demonstration eines radikalen Konzeptes, einer Tabula rasa von Städtebaukonzeption. Hierbei setzt sich die Stadt über historische Vorgaben und demokratische Rechte hinweg und der Verkehr hat absolute Priorität. Für den Menschen bedeutet dies Erfüllung in planbarer Ordnung.  Le Corbusier, Städtebau, S. 136.

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Für Schnellfahrzeuge, die nur die Stadt durchqueren müssen, werden Straßen gebaut, die von Norden nach Süden und von Westen nach Osten verlaufen und so die Stadt symmetrisch vierteilen.⁵⁵ Der Hauptbahnhof befindet sich genau in der Mitte der Stadt, da „der Bahnhof die Nabe des Rades [ist].“⁵⁶ Auch er ist unterirdisch angelegt und wird sowohl vom Fern- als auch vom Nahverkehr angefahren. Auf seinem Dach befindet sich ein Flughafen für Lufttaxis.

Abb. 4: Ville Contemporaine (Vogelperspektive)

In der City, dem politischen Zentrum, befinden sich 24 Wolkenkratzer, in denen etwa 10.000 – 50.000 Angestellte die Regierung und Verwaltung der Stadt organisieren. Diese Gebäudekomplexe sind außerdem mit Hotels und Geschäften ausgestattet, die von insgesamt 400.000 – 600.00 „Insassen“⁵⁷ betrieben werden. In einigem Abstand zu der Stadt befinden sich die Gartenstädte, die für eine Bevölkerungszahl von 2 Millionen Menschen ausgelegt sind. Die Wohlhabenderen wohnen allerdings stets unweit des Zentrums. Im Raum zwischen Zentrum und Gartenstädten befinden sich sowohl Wälder als auch Sportanlagen. Auf diesem Boden gilt ein grundsätzliches Bauverbot. Alle Elemente der Stadt unterliegen nicht nur einer Ordnung, sondern sie bilden diese Ordnung auch ab und wirken somit auch beruhigend auf die Einwohner.⁵⁸ Ob diese Stadt ein bestimmtes politisches System bedingt, lässt Le Corbusier ungeklärt. Erst ab 1930 lässt sich eine konkrete Politisierung Le Corbusiers hin zum Nationalkonservativismus beobachten.

   

Vgl. Le Corbusier, Städtebau, S. 137 f. Le Corbusier, Städtebau, S. 138. Le Corbusier, Städtebau, S. 139. Vgl. Le Corbusier, Städtebau, S. 140 f.

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Wie die Ville Contemporaine eine theoretische Studie und schrittweise Näherung an eine Umsetzbarkeit von Le Corbusiers Utopie ist, so ist der Plan Voisin ein weiterer Schritt zur einer Realisierbarkeit, weil hier der Plan einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort zugeordnet wird, nämlich dem Paris der 1920er Jahre. Die französische Hauptstadt, geprägt vom Zick-Zack des Esels, bedarf einer gründlichen Überarbeitung, vor allem in Form einer Flächensanierung. Das dabei herausgestellte Hauptproblem geht zurück auf die Gestaltung Parisʼ durch Ludwig XIV., der die Stadt zu einer Zeit ausbaute, in der keine Autos, sondern nur Kutschen die Straßen befuhren. Die daraus resultierende Straßenbreite und die sich in kurzen Abständen kreuzenden Avenuen sind daher für die Verkehrsmittel der Moderne besonders hinderlich.⁵⁹ Zwei Neuerungen sind im Plan Voisin zu verzeichnen, zum einen die Geschäftscity mit 240 Hektar, die von der Wohncity mittels einer Untergrundbahn getrennt wird. Anders als in der ‚Ville Contemporaine‘ wird hier der Schienenverkehr im Kreis geleitet und so Sackgassen vermieden.⁶⁰ Der Plan soll zunächst auf das Zentrum von Paris angewendet werden, da die Restauration von innen nach außen Le Corbusier als die den meisten Erfolg versprechende Strategie erscheint. Quadratische Formen bestimmen darüber hinaus das Stadtbild. Die 18 Wolkenkratzer der Stadt stehen lediglich auf sogenannten pilotis, damit nur fünf Prozent der Bodenfläche genutzt werden müssen. Die dadurch gesparte Fläche kann entweder als Parkplatz oder zur Begrünung genutzt werden. Der Vorteil dieser ‚Pfahlbauweise‘ besteht im Wesentlichen in der vierfachen Erhöhung der Einwohnerzahl bei gleichzeitiger Garantie, dass weder der Verkehr behindert wird noch Wohnungsnot entsteht.

8 Utopie und Architektur: Schwellenraum von Dichtung und Wahrheit? Die Symbiose aus Architektur und Dichtung, durch die sich Le Corbusiers Utopie auszeichnet und welche die Umsetzung der idealen Gesellschaft mit architektonischen Mitteln vorsieht, zeigt, dass die Grenzen zwischen diesen beiden Diszi-

 Le Corbusier schreibt hier von einem chirurgischen Einschnitt, den er am Beispiel Paris durchführen möchte und referiert damit in hohem Maße auf sein Verständnis der Stadt als etwas Organisches. Le Corbusier, Städtebau, S. 102: „Organisieren heißt Ordnung schaffen; Geometrie hineintragen in die Natur oder in das Chaos, das sich ‚auf natürlichem Wege‘ durch die Anhäufung der Menschen in Stadtzusammenballungen bildet, heißt Chirurgie.“  Le Corbusier, Städtebau, S. 240.

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Abb. 5: Plan Voisin

plinen zugunsten einer gesteigerten Plausibilität aufgeweicht werden. Im Falle der Verschriftlichung architektonischer Entwürfe tritt die Architektur in eine Fiktio-

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nalität über, die es erlaubt, imaginäre Bauten zu planen, diese aber nicht an eine Realisierbarkeit oder statische Genauigkeit zu binden. Die freie Ponderation von Flächen und Grundrissen stellt dabei allerdings keine Verwandlung realer Bauten in literarische Imagination dar, sondern forciert eine Materialisierung von Fiktion im virtuellen Raum der in der Imagination geschaffenen Architektur.⁶¹ Die dabei entworfenen Strukturen – vor allem im Kontext städtebaulicher Programmatiken – benutzen das Medium Dichtung zur imaginären Strukturierung von Gesellschaft und Lebensorganisation. Durch die Verbindung der beiden Disziplinen Architektur und Literatur gewinnen beide eine bestimmte Konkretisierung: Die utopische Literatur verhilft der Architektur zu einer schärferen und gemeinwohlpolitischen Zwecksetzung; die Architektur wiederum steigert die Systematizität der utopischen Literatur; so eröffnen sie sich gegenseitig die Möglichkeit der Überschreitung der durch die jeweilige Disziplin gesetzten Grenzen. Die Architektur erweist sich als erläuterndes und somit konkretisierendes Moment im utopischen Diskurs. Mittels dieser Disziplin können utopische Entwürfe, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert gefasst wurden, einen vermehrt planerischen Charakter erhalten und dadurch an Realismus gewinnen. Die Stadtpläne Le Corbusiers gewinnen über die Jahre immer mehr an Realitätsnähe. Der Wunsch, die ideale Stadt nicht nur zu planen, sondern diese Pläne auch zu realisieren, existierte bereits in der Antike, war aber im Medium der Literatur selbst nicht in dem Maße umsetzbar. Die wachsende Bedeutung der Geometrie im Allgemeinen resultiert in einem Bedeutungszuwachs der Architektur im Besonderen. Natürlich gibt es Unterschiede schon in der Wahl der geometrischen Form – bei Campanella ist die Stadt kreisförmig aufgebaut, bei Morus rechteckig und bei Le Corbusier quadratisch. Le Corbusiers Bezugnahme auf die frühneuzeitliche Utopie zeigt in gewisser Weise auch ihren zeitlosen Charakter.⁶² Der Realisierung

 Vgl. Kablitz, Kunst des Möglichen, S. 18 f.: „Es versieht […] das Phänomen der Fiktion mit einem anthropologischen Akzent. Es nimmt Bezug auf die Einbildungskraft des Menschen, ohne doch in einer vermögenspsychologischen Bestimmung aufzugehen.“  Vgl. hierzu Le Corbusier, Städtebau, S. 159. „Wie leidenschaftserregend ist es dagegen, jene kommende Welt, bevor man sie beschreibt, auf dem Zeichenbrett zu organisieren, hier, wo keine hohlen Worte klingen, wo allein Tatsachen reden! Hier handelt es sich um eine genaue Erfindung, wahrhafte Systeme, lebensfähige Organismen. Alle Fragen drängen sich auf einem Punkt zusammen: Das Problem aufzustellen, zu ordnen, zusammenzufügen, zu festigen für die Dauer und noch an den unverzichtbaren Lyrismus zu denken, der allein letzten Endes die Herzen erheben und uns dem Handeln entgegentragen wird. Was in dem schwierigen Verfolg der Lösung auf dem Zeichenbrett herauskommt, ist alles andere als ein Hirngespinst. Es ist ein Akt des Glaubens an die Sendung unserer Zeit. Im tiefsten Grunde unseres Herzens: Ich glaube daran. Ich glaube an die Erfüllung in die Zukunft jenseits des Schematismus, der nur die Regel angab; ich glaube daran trotz allen Schwierigkeiten, die der Lösung der Spezialfälle im Wege stehen. Ich werde niemals zur

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seiner architektonischen Pläne entspricht sein Begriff der Utopie. Reale Bauten unterstreichen damit die – zumindest partielle – Umsetzbarkeit seiner utopischen Architektur: „Was nennen sie Utopie? Das, was auf dem Papier ist? Das, was Realisierung ist, das ist auf dem Boden; es ist notwendig, mit dem Papier zu beginnen; dann geht man auf den Boden über.“⁶³

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Thomas Morus, De Optimo Reip[ublicæ]. Statv Deqve noua insula Vtopia libellus uere aureus. Basileae: Frobenius, 1518. Bayerische Staatsbibliothek München Rar. 1862, pag. 12. urn:nbn:de:bvb:12-bsb00084068 – 8 Abb. 2: Johann Gottfried Schnabel, Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines gebohrnen Sachsens: Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe gegangen, durch Schiff-Bruch selb 4te an eine grausame Klippe geworffen worden, nach deren Ubersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefärhtin verheyrathet, aus solcher Ehe eine Familie von mehr als 300. Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, durch besondere Zufälle erstaunens-würdige Schätze gesammlet, seine in Teutschland ausgekundschafften Freunde glücklich gemacht, am Ende des 1728sten Jahres, als in seinem Hunderten Jahre, annoch frisch und gesund gelebt. Nordhausen: Groß, 1732. Bayerische Staatsbibliothek München P.o.germ. 1317 qh-1, pag. 100 (Faltblatt). urn:nbn:de:bvb:12-bsb10119649 – 7. Abb. 3: Le Corbusier, La Ville Contemporaine [Detail: Strukturplan einer Kernstadt], 1922. In: Le Corbusier, Städtebau. München 2015. Abb. 4: Le Corbusier, Die City der Stadt der Gegenwart, 1929. In: Le Corbusier: Städtebau. Hrgs. von Hans Hildebrandt. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1929, S. 140. Abb. 5: Le Corbusier, Plan Voisin: Pariser Viertel vor und nach dem geplanten Abbruch 1929. In: Le Corbusier: Städtebau. Hrsg. von Hans Hildebrandt. Stuttgart, Berlin, Lepizig 1929, S. 24.

Bewältigung der Spezialfälle eine Grundidee haben, die zu klar wäre, automatische Gebilde, die zu exakt wären.“  Comité d’Organisation, S. 27.

Utopische Architektur oder architektonische Utopie?

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Amelie Mussack

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Sophie Forst

‚Ideale Gemeinschaft‘ oder ‚Fesseln der Tradition‘? Immanuel Kants Konzeption der Urteilskraft und ihre Kritik durch die Hermeneutik

1 Einleitung: Urteil und Vorurteil Blickt man von Kants Definition von Vorurteilen in seiner Kritik der Urteilskraft ¹ auf die von Gadamer in Wahrheit und Methode ², so fällt ein grundsätzlicher Unterschied ins Auge: Während Kant im Sinne der Aufklärung dafür plädiert, sich von Vorurteilen zu befreien, damit wir diesen nicht blind unterworfen sind, spricht Gadamer von Vorurteilen als „Bedingungen des Verstehens“, die „die geschichtliche Wirklichkeit [des] Seins“ (WuM, 281) ausmachen, und gibt diesen so eine positive Bedeutung. Diese Kontroverse lässt sich mit Blick auf Kants Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft differenzierter beurteilen: Nach Kant ist bestimmende Urteilskraft die Subsumtion des Besonderen unter ein allgemeines Prinzip oder Gesetz, während bei der reflektierenden Urteilskraft ein ästhetisches Geschmacksurteil gefällt wird, indem sich ein subjektives Gefühl von Lust oder Unlust regt und sich zu diesem das Allgemeine finden soll. Das Geschmacksurteil appelliert dabei an einen sensus communis, auf den in Gedanken Rücksicht genommen wird, und urteilt so nicht nur vorurteilsfrei, sondern versetzt sich auch in andere Urteilende, um von subjektiven, privaten Bedingungen zu abstrahieren. Die hermeneutische Schule kritisiert Kant nun insofern, als sie ihm eine Subjektivierung der Ästhetik vorwirft. Der Hermeneutik Gadamers zufolge kann das Geschmacksurteil nicht nur auf subjektiven Empfindungen beruhen, die die Zustimmung Anderer miteinbeziehen, sondern es gibt keine reinen Einzelfälle, die vom sittlich-allgemeinen Vorverständnis unabhängig wären, da dieses uns immer schon durch gesellschaftliche Werte prägt und mitbestimmt. Außerdem mache Kant einen Fehler mit der Vorstellung, dass das Geschmacksurteil nach

 Kant, Kritik der Urteilskraft, wird im Folgenden KdU abgekürzt. Die Zitation folgt der Paginierung der Akademie-Ausgabe.  Gadamer, Wahrheit und Methode, wird im Folgenden WuM abgekürzt. https://doi.org/10.1515/9783110605389-017

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seinen Prinzipien nur Ausdruck einer subjektiven Lust sei. Durch den sogenannten hermeneutischen Zirkel wird diese Kritik verdeutlicht: Nach dem hermeneutischen Prozess treten wir nämlich immer mit einem Vorverständnis an die Objekte unserer Beurteilung heran. Diese Vorannahmen sind Bedingungen des Verstehensprozesses, weil die Bedeutung eines Textes, einer Darstellung oder eines Kunstwerks zum Beispiel erst durch sie zu verstehen ist und im Verlauf des Prozesses so immer wieder neue Vorannahmen bestätigt oder revidiert werden. Insofern kann es den Menschen nicht gelingen, zur Vorurteilsfreiheit zu gelangen. Das Allgemeine nämlich lässt sich nicht suchen, sondern es „besagt nichts anderes, als daß die Beurteilung des Falles den Maßstab des Allgemeinen, nach dem sie geschieht, nicht einfach anwendet, sondern selbst mitbestimmt, ergänzt und berichtigt.“ (WuM, 45) Vor dem Hintergrund der beiden Konzeptionen möchte ich zeigen, dass vermittels einer präzisen Analyse von Kants Konzept der reflektierenden Urteilskraft Gadamers Kritik entkräftet werden kann. Dazu werde ich zunächst mit der Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft beginnen und das der reflektierenden Urteilskraft zugrunde liegende ästhetische Prinzip näher erläutern (2). Anschließend werde ich Gadamers Kritik an Kant durch seinen hermeneutischen Zirkel erläutern (3), um sodann dafür zu argumentieren, dass Kants Konzeption eine innovativere und reflexivere Komponente impliziert als diejenige Gadamers (4). Ich schließe mit kritischen Bemerkungen zur Hermeneutik, durch die sich zeigen wird, dass Gadamers Modell methodisch zu konventionalistisch ist. Es bindet das Subjekt an unhinterfragbare traditionelle Inhalts- und Geltungsvorgaben und spricht insofern gegen die Prinzipien der Aufklärung.

2 Kants Konzeption der Urteilskraft 2.1 Die Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft Mit der Urteilskraft beschreibt Kant ein Vermögen, von dem er behauptet, dass es „ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft“ (KdU, 177) sei. Dabei suche sie keine eigene Gesetzgebung, sondern verfolge „ein ihr eigenes Prinzip nach Gesetzen“ (KdU, 177). Während der Verstand auf die Natur bezogen wird, funktioniert die Vernunft als ein höherrangiges Vermögen nach synthetischen Prinzipien, die a priori gültig sind. Sie bestimmt unser Begehrungsvermögen durch Freiheit, während mit der Urteilskraft das Gefühl der „Lust oder Unlust verbunden ist“ (KdU, 178). Dieses manifestiert sich in uns, wenn wir zum Beispiel

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Kunst beurteilen wollen; so regt sich in uns das Gefühl, ob das Kunstwerk gefällt oder nicht. Vor dem Hintergrund der Definition, dass Urteilskraft das Vermögen ist, „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KdU, 179), nimmt Kant die Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft vor. Er drückt damit aus, dass „Urteile unterschiedlichen Arten der Beurteilung dienen und dementsprechend auf unterschiedliche Weise zustande kommen.“³ Die Urteilskraft ist bestimmend, wenn das Allgemeine, also ein Gesetz, eine Regel oder ein Prinzip, bekannt ist und sie das „Besondere darunter subsumiert“ (KdU, 179). Das Gesetz ist ihr dabei a priori gegeben. Insbesondere am Beispiel des Rechts lässt sich die bestimmende Urteilskraft erläutern: So funktioniert das System durch die Subsumtion eines Falles unter ein allgemeines gesetzgebendes Prinzip; ein Sachverhalt wird einer Rechtsnorm untergeordnet. Diese Form der Urteilskraft stellt sich also die Frage, ob etwas unter dieses Prinzip fällt oder nicht. Da nun dieses Urteil „nicht wiederum durch eine Regel geleitet werden kann, muss die bestimmende Urteilskraft, insbesondere im empirischen Gebrauch, als eigenständiges Vermögen angesetzt werden.“⁴ Im Gegensatz zur Subsumtion steht die Reflexion: Die Urteilskraft ist reflektierend, wenn das Besondere, also der Einzelfall, gegeben ist und sich „das Allgemeine finden soll“ (KdU, 179). Im Gegensatz zur bestimmenden Urteilskraft gibt sich die reflektierende Urteilskraft „das Prinzip ihrer Reflexion selbst bzw. autonom […].“⁵ So habe ich zum Beispiel als Betrachter eines Kunstwerks eine Empfindung und frage mich, was an dem Bild schöner ist als an anderen Bildern. Also versuche ich, vom Einzelfall auf das Allgemeine zu schließen. Dabei ist es die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, dass das allgemeine Gesetz von ihr formuliert wird. Das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen kann jedoch nur auf einen übergeordneten Zweck hin beurteilt werden. So fälle ich mein Urteil, ein Kunstwerk sei schön oder angemessen, auf einen allgemeinen Zweck hin. Diese Zwecke sind nach Kant Zwecke der Natur. Dabei ist es aber nicht die reine Natur, die mir ihre Zweckmäßigkeit aufdrängt, sondern eine menschliche Betrachtung der Zwecke der Natur. So spricht Kant von einer Natur, die nach Zwecken geordnet ist, die dem menschlichen Leben zugutekommen. Dabei ist „die Zweckmäßigkeit der Natur […] ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat.“ (KdU, 181) Da die Natur selbst aber für Kant

 Wolff, Urteil, S. 619.  Seeberg, Urteilskraft, S. 622.  Seeberg, Urteilskraft, S. 623.

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stumm ist, muss der Natur eine vernünftige Zweckmäßigkeit zugrunde gelegt werden, und Natur und Vernunft müssen notwendigerweise in Beziehung zueinander gesetzt werden. Denn den Begriff der Natur könne man nur in dem Sinne gebrauchen, „um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren.“ (KdU, 181) Das bedeutet, dass Kant in die Natur eine Teleologie hineinlegt, denn ich kann nicht urteilen, dass etwas schön sei mit der Begründung, dass es eben schön sei, sondern ich muss eine Vorstellung davon haben, mit Blick auf welchen Zweck dieses schöne Objekt angemessen ist und wieso es deshalb schöner ist als ein anderes. Wenn es mir durch die reflektierende Urteilskraft folglich gelingt, das Allgemeine durch das Besondere zu finden, so beurteile ich den „Fall als zweckmäßig.“⁶ Nach Klemme kann man sagen, „dass die reflektierende Urteilskraft, indem sie ein Ereignis als zweckmäßig beurteilt, diesem Ereignis einen Sinn gibt, den es ohne die Reflexion unserer Urteilskraft nicht hätte.“⁷ So ist die Urteilskraft ein Vermögen in uns, eine Zweckmäßigkeit in der Welt zu erkennen, sodass man sagt, das Schöne ist schön, weil es den Zwecken der Natur, zum Beispiel der Vervollkommnung der menschlichen Gestalt, entspricht. Wenn ich einen Menschen demnach als schön beurteile, so sage ich laut Kant eigentlich, dass er die Naturanlagen des Menschen besser zum Ausdruck bringt als ein weniger schöner Mensch. Der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur ist dabei „weder ein Naturbegriff noch ein Freiheitsbegriff“, da er nur eine „Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung“ vornimmt und folglich ein „subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft“ ist (KdU, 184). Dieses Prinzip ist zudem nur ein regulatives, aber kein ontologisches Prinzip, weil die Natur auch dann existierte, wenn wir ihr keine Zweckmäßigkeit zusprechen würden. Im Gegensatz zur bestimmenden Urteilskraft, die eine „Zweckmäßigkeit der Handlung“ konstatiert, legt die reflektierende Urteilskraft dem zu beurteilenden Objekt „eine Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes“ zugrunde.⁸ Wenn wir durch die reflektierende Urteilskraft etwas auf eine Zweckmäßigkeit hin beurteilen, jedoch nicht direkt etwas als zweckmäßig erkennen können, so stellt sich die Frage, wie mit der Beurteilung des Schönen als einer Zweckmäßigkeit das Gefühl beziehungsweise ein Wohlgefallen zusammenhängt und wann dieses eintritt.

 Klemme, Immanuel Kant, S. 123.  Klemme, Immanuel Kant, S. 123.  Klemme, Immanuel Kant, S. 124.

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2.2 Das Geschmacksurteil Ein Gefühl der Lust regt sich in uns, wenn es der reflektierenden Urteilskraft gelingt, „die spezifischen empirischen Gesetze unter ihre Maxime der Zweckmäßigkeit zu bringen […].“⁹ Nach Brandt machen wir durch die zuvor genannte Zweckmäßigkeit der Natur, in die unser Objekt hineinpasst, „erstens Gebrauch von einer epistemischen Voraussetzung und antworten zweitens emotional mit dem Gefühl der Lust.“¹⁰ Die Reaktion des Gefühls der Lust „verdankt sich der Erkenntnisabsicht, die erfüllt wird […].“¹¹ Die „gedachte Übereinstimmung“ mit der Zweckmäßigkeit der Natur ist nämlich für „unser Verstandesbedürfnis […] unentbehrlich“, indem diese Zweckmäßigkeit mit der „auf Erkenntnis gerichteten […] Absicht übereinstimmt“ (KdU, 186). Die Natur erweise sich „als zweckmäßig für unsere Erkenntnisabsicht, Einheit im Mannigfaltigen der besonderen Naturgesetze aufzufinden.“¹² Das bedeutet, dass das reine Geschmacksurteil eine Äußerung des Gefühls der Lust oder Unlust ist, das sich in der Beurteilung einer Vorstellung als zweckmäßig für unser Erkenntnisvermögen durch die reflektierende Urteilskraft erweist.¹³ Wenn ich ein Kunstwerk beurteile, so gefällt es mir oder nicht; ich verspüre ein Gefühl der Lust, oder es regt sich das Gefühl der Unlust in mir. An dieser Stelle gilt es zu beachten, dass ich das Gefühl der Lust und Unlust ohne jegliches Interesse am Gegenstand verspüre. Kant zufolge bedeutet Interesse nämlich nur „das Wohlgefallen […], das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden“ (KdU, 204). Wenn wir aber das Schöne beurteilen wollen, so nehmen wir die Rolle eines Betrachters ein, dem nichts an der Existenz des zu betrachtenden Gegenstandes liegt. So könnte Kant zufolge auch ein Adelskritiker einen Palast für schön befinden, obwohl er an der Existenz des Adels und damit auch an der Existenz von Palästen kein Interesse hat. Er kann eben deshalb Wohlgefallen an der Schönheit des Palasts haben, da für dieses das Interesse an seiner Existenz indifferent ist. Wenn nämlich ein Geschmacksurteil mit einem Interesse am Objekt verbunden wäre, dann wäre dieses nicht „rein“, sondern „parteilich“ (KdU, 205), und zwar mit der Folge, dass es mir nicht mehr möglich wäre, das Schöne an sich zu beurteilen und der Richter des Geschmacks zu sein (vgl. KdU, 205). Laut Kant denkt man „vom Schönen […], daß es eine notwendige Beziehung auf das Wohlgefallen habe.“ (KdU, 236) Diesen Begriff einer Notwendigkeit gilt es  Klemme, Einleitung, S. XXXVIII.  Brandt, Zweckmäßigkeit der Natur, S. 46.  Brandt, Zweckmäßigkeit der Natur, S. 46.  Brandt, Zweckmäßigkeit der Natur, S. 44 f.  Vgl. Klemme, Einleitung, S. XXXVII.

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näher zu bestimmen: Er bedeutet nämlich keine „theoretische objektive Notwendigkeit“ (KdU, 236), die man a priori bestimmen könnte. Das bedeutet, dass ich mit meinem Geschmacksurteil nicht sagen will, dass jeder andere dieses subjektive Wohlgefallen an diesem Gegenstand auch mit Notwendigkeit fühlen wird. Darüber hinaus fordere ich damit keine praktische Notwendigkeit in dem Sinne, dass jeder andere nach einer praktischen Regel, die Vernunftgesetzen zugrunde liegt, das Wohlgefallen haben sollte, das sich in mir regt. Sondern es ist die Notwendigkeit eines ästhetischen Urteils: Deren Geltung ist „exemplarisch“ (KdU, 237); sie enthält eine Notwendigkeit zur Zustimmung aller nur insofern, als sie „wie ein Beispiel einer allgemeinen Regel“ (KdU, 237) funktioniert.Wir können an diese nämlich keinesfalls apodiktisch gebunden sein, da ein ästhetisches Urteil weder ein „objektives […] Erkenntnisurteil“ (KdU, 237) ist, noch kann man es analytisch aus Begriffen ableiten. Wir können es aber auch nicht synthetisch aus der Empirie herleiten, da die Erfahrung keine hinreichenden Belege schafft. Wenn ich folglich urteile, dass ein Gegenstand schön sei, will ich damit gleichzeitig ausdrücken, dass nicht nur ich diesen schön finde, sondern dass ihn zugleich auch andere schön finden müssten. Das bedeutet, dass „das Geschmacksurteil […] jedermanns Beistimmung“ (KdU, 237) sucht und ich will, „daß jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben und ihn gleichfalls für schön erklären solle“ (KdU, 237). Schaper definiert den Geschmack und dessen Vermittlung folgendermaßen: „Having taste is not like having an extra sense, nor like exercising a special intellectual power. It is the ability to respond with immediate pleasure and unclouded vision to beauty in nature and in art, and, further, to communicate this pleasure to others who are capable of sharing it.“¹⁴ Wenn ich ein Objekt schön finde, gehe ich folglich nicht davon aus, dass andere Subjekte dieses Wohlgefallen nicht teilen müssten, sondern vielmehr spreche ich mit meinem Urteil zugleich ein Sollen aus, für das ich Allgemeinheit beanspruche. Zu beachten ist allerdings, dass die subjektive Notwendigkeit des Geschmacksurteils eine ‚bedingte‘ Notwendigkeit ist: Das „Sollen im ästhetischen Urteile wird […] nur bedingt ausgesprochen“ (KdU, 237), da ihm kein unbedingtes objektives Prinzip zugrunde liegt, das auf Begriffen gründet, und man „um jedes anderen Beistimmung“ wirbt (KdU, 237). Nach Cassirer kann man nämlich „die Richtigkeit des Geschmacks […] nicht in derselben Weise wie die Bündigkeit einer logischen oder mathematischen Schlußfolgerung demonstrieren.“¹⁵ Da es aber gleichwohl eine Notwendigkeit gibt, muss dieser ein Prinzip zugrunde gelegt

 Schaper, Taste, Sublimity, and Genius, S. 371 f.  Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 400.

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werden, das einen Anspruch auf Allgemeinheit begründet und so „mit dem logischen [Urteil] die Ähnlichkeit hat“ (KdU, 211).

2.3 Der sensus communis Mit Blick auf jene Allgemeinheit und jene Zustimmung Anderer stellt sich folgende Frage: Was verbürgt die Allgemeinheit dieses Urteils? An dieser Stelle führt Kant die Überlegung eines Gemeinsinns ein. Nachdem sich herausgestellt hat, dass Geschmacksurteile eine gewisse Notwendigkeit besitzen, muss es also ein Prinzip geben, um diese zu rechtfertigen. Dieses Prinzip ist ein subjektives, „welches nur durch Gefühle und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle“ (KdU, 238). Um Erkenntnisse mitteilen zu können, müssen sich diese und unsere Urteile „allgemein mitteilen lassen“ (KdU, 238). Ohne diese „subjektive Bedingung unseres Erkennens“ (KdU, 238) könnten Erkenntnisse ihre Wirkung gar nicht erzielen: So gilt der Gemeinsinn als „notwendige Bedingung“ (KdU, 239) und Voraussetzung der Vermittlung unserer Erkenntnisse. Wenn wir einen Gegenstand als schön beurteilen, sehen wir dieses mit dem Objekt verbundene Gefühl nicht als unser „Privatgefühl“ (KdU, 239) an, sondern als ein „gemeinschaftliches“ (KdU, 239). Der Gemeinsinn will dabei ein Sollen erzeugen und kann deshalb nicht auf Erfahrung gründen: Er ist vielmehr eine „idealische Norm“ (KdU, 239), durch die man die Legitimation dazu erhält, sein Urteil, also das Wohlgefallen an einem Gegenstand, zur Regel machen zu können. Der Grund dafür liegt darin, dass das subjektive Wohlgefallen als „subjektiv-allgemein (eine jedermann notwendige Idee)“ (KdU, 239) angenommen werden kann, indem es von der Zustimmung anderer Urteilender ausgeht. Wir nehmen damit eine unparteiische Position ein bzw. versuchen, sie einzunehmen. Dabei kennen wir den Gemeinsinn nicht, sondern wir appellieren an ihn, wenn wir unser Geschmacksurteil äußern, dessen Mitteilbarkeit dieser erst möglich macht. Der sensus communis ist die „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“, der sich „in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken“ bezieht und auf diese achtet, „um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten“, d. h. um von allen „subjektiven Privatbedingungen“ (KdU, 293) zu abstrahieren, die negative Auswirkungen auf das Urteil haben und fälschlicherweise als objektiv erachtet werden könnten. So solle man, um sich auf das Urteil Anderer beziehen und sich in diese hineinversetzen zu können, auf die bloß „formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung“ (KdU 294) achten und sich von der Materie beziehungsweise der Empfindung seiner Vorstellung distanzieren, da diese „Beschränkungen […] unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise anhän-

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gen“ (KdU, 294). Klemme beschreibt dieses Prinzip folgendermaßen: „Durch die reflektierende Urteilskraft beurteilen wir die Form eines Gegenstandes als zweckmäßig, ohne dazu berechtigt zu sein, diese Zweckmäßigkeit auf einen Zweck zurück zu führen, den sich ein Wille gesetzt hat. Es ist vielmehr eine bloß formale Zweckmäßigkeit, ohne jegliche inhaltliche (materiale) Zweckbestimmung.“¹⁶ Diese „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ (KdU, 226) muss also einer formalen Zweckmäßigkeit zugrunde liegen und unterscheidet sich so von einer objektiven Zweckmäßigkeit wie einer solchen, die mit „der Vorstellung des Guten“ (KdU, 226) zusammenhängt. Mit dem Gemeinsinn beanspruche ich somit die Verallgemeinerbarkeit meines Urteils, indem ich mögliche andere Urteile miteinbeziehe. Laut Kohler erhält der Gemeinsinn so seinen Anspruch auf Intersubjektivität, denn „die angemessen ‚interesselos‘ vollzogene ästhetische Reflexion operiert nach diesem Muster, indem sie in bezug auf eine als schön zu beurteilende Sache ja allein das als Kriterium verwendet, was jedermann a priori […] als beurteilbar zugemutet werden darf: ob sich aus Anlaß einer gegebenen Vorstellung ein Zustand der ‚Lust der bloßen Reflexion’ einstellt oder nicht“¹⁷. Es ist nach Kant zwar „ein empirisches Urteil, daß ich einen Gegenstand mit Lust wahrnehme und beurteile“, zugleich aber auch „ein Urteil a priori, daß ich ihn schön finde, d. i. jenes Wohlgefallen jedermann als notwendig ansinnen darf“ (KdU, 289). Bei moralischen Urteilen ist es uns möglich nach Vernunftbegriffen und einem festen Prinzip beziehungsweise selbstauferlegten Gesetz wie dem kategorischen Imperativ zu verfahren. Das moralische Wesen ist dabei von jeglichen empirischen Motiven, so wie zum Beispiel seinen Neigungen, frei. Dadurch kann die Moral auf einem universellen und allgemeingültigen Gesetz gründen und legitimiert so die Verallgemeinerung des Sollens. Auch weil ich im ästhetischen Urteil kein Interesse an der Existenz des Objekts verfolge, kann ich folgern, „daß es einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthalten müsse“ (KdU, 211). Wenn nämlich mein Urteil auf einer Neigung oder einem Interesse gründen würde, wäre dieses so willkürlich, dass ich niemals erwarten könnte, einen Anspruch auf Allgemeinheit fordern zu dürfen. Ich gründe mein Geschmacksurteil zwar auf das Gefühl der Lust und Unlust, da ich aber von Neigungen frei bin, demnach mein Wohlgefallen nicht auf meinen „Privatbedingungen“ (KdU, 211) gründet, kann ich dieses auch bei jedem anderen annehmen und Allgemeinheit beanspruchen. So „fordere [ich] von allen anderen die Zustimmung zu meinem

 Klemme, Immanuel Kant, S. 126.  Kohler, Gemeinsinn, S. 145.

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Urteil, weil ich unterstelle, dass auch sie ein interesseloses Wohlgefallen an dem Gegenstand empfinden sollten.“¹⁸

2.4 Die drei Maximen der Denkungsart Die Überlegung des sensus communis, sich in seinem eigenen Urteil auf die Sicht anderer zu beziehen, liegt den drei Maximen der Denkungsart zugrunde, die das Prinzip eines Gemeinsinns näher bestimmen und auslegen. Die erste Maxime ist die der vorurteilsfreien Denkungsart, die dem Verstand zugeschrieben wird und den Anspruch hat, selbst zu denken. Diese ist das genaue Gegenteil zur „passiven Vernunft“ (KdU, 294), die Heteronomie verursache und deren Gebrauch zum „Vorurteil“ (KdU, 294) führe. Das fatalste aller Vorurteile sei der Aberglaube; dieser widerspricht den Prinzipien und Zielen der Aufklärung, die Kant postuliert. Aberglaube hält uns davon ab, mündig zu sein und uns selbst bestimmen zu können. Der Aberglaube fördert nämlich eine gewisse „Blindheit“ (KdU, 294), durch die man dazu veranlasst wird, sich von anderen bestimmen zu lassen. Die zweite Maxime, die der erweiterten Denkungsart, ist die der Urteilskraft, die den Urteilenden dazu auffordert, sich „an der Stelle jedes anderen [zu] denken“ (KdU, 294). Ihr Gegenteil wäre es, „borniert“ (KdU, 295) zu sein. So solle der Urteilende von seinen subjektiven Bedingungen Abstand nehmen, um von einem „allgemeinen Standpunkte“ (KdU, 295) aus sein Urteil reflektieren zu können. Somit vermittelt die Maxime der erweiterten Denkungsart zwischen dem eigenen Standpunkt und dem des Anderen. Sich in die Position Anderer hineinzuversetzen, gilt als eine Bedingung für den Anspruch auf die Verallgemeinerung meines Urteils. Die dritte Maxime der konsequenten Denkungsart, die der Vernunft zukommt, jederzeit mit sich selbst übereinzustimmen, sei nach Kant äußerst schwer zu erreichen, da ihre Ausübung insofern bedingt ist, als sie nur zustande kommt, wenn die anderen beiden Maximen geübt und befolgt werden. Laut Makkreel dient die dritte Maxime dazu, „unsere ererbten Überzeugungen auf ihre Konsistenz hin zu überprüfen“¹⁹. So können wir uns von unhinterfragten Traditionen distanzieren, um einem Ideal der Aufklärung zu entsprechen, das uns von der in der Gesellschaft verankerten Unmündigkeit befreien kann. Die drei Maximen der Denkungsart zeigen, wie wir in unseren Geschmacksurteilen auf einen sensus communis hin unsere Urteile formulieren sollten. Dabei

 Klemme, Immanuel Kant, S. 126.  Makkreel, Orientierung und Tradition, S. 416.

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können Geschmacksurteile keinem allgemeinen Begriff folgen, weil es keinen allgemeinen Begriff des Schönen gibt, von dem wir alle unsere Urteile ableiten könnten. Sondern wir steigen von einem Einzelphänomen zu einem allgemeinen Urteil auf und fällen dieses mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Dafür gibt es keine objektive Regel, sondern die Überlegung des sensus communis, wie sich aus der Sicht anderer dieser Gegenstand darstellt, wie ich unvoreingenommen ein Urteil fällen und mich dabei von Vorurteilen mit den einhergehenden Traditionen distanzieren kann. Der Gemeinsinn gilt dabei „nicht als Produkt empirisch zufälliger Mentalitätstraditionen […], sondern nur als ein gegenüber den jeweiligen Vorurteilen der gegebenen sozialen Welt kritischer Anspruch […].“²⁰

3 Die hermeneutische Kritik an Kants Subjektivierung der Ästhetik Anders als in Kants Maxime der vorurteilsfreien Denkungsart, beschreibt Gadamer in Wahrheit und Methode das „Vorurteil [als] ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird“ (WuM, 275). Mit dieser Definition versucht er darauf hinzuweisen, dass dem Begriff eines Vorurteils keine negative Konnotation zugrunde liegen muss. Gadamer sieht das Vorurteil eher als etwas zwangsläufig Gegebenes an, das uns beim Verstehensprozess hilft und dabei sogar eine konstitutive Rolle spielt. Somit kritisiert der Hermeneutiker letztlich das Postulat der Aufklärung, sich im Urteil von allen Vorurteilen zu befreien, schon seiner Möglichkeit nach, da diese Befreiung seiner Meinung nach nicht funktionieren kann. Denn seiner Ansicht nach wird sich „die Überwindung aller Vorurteile […] selber als ein Vorurteil erweisen, dessen Revision erst den Weg für ein angemessenes Verständnis der Endlichkeit freimacht […]“ (WuM, 280). So sieht Gadamer eine Diskreditierung des Begriffs des Vorurteils als Folge übersteigerter Aufklärungsforderungen. Mit dem hermeneutischen Zirkel begründet Gadamer, dass Vorurteile als eine notwendige Bedingung des Verstehensprozesses gelten. Der hermeneutische Zirkel besagt, dass wir alles, was wir lesen, selbst etwas vollkommen Entlegenes, mit einem gewissen Vorverständnis lesen. Mit diesem können wir zwar insofern falsch liegen, als es sich nach dem Lesen als irrtümliche Vorannahme erweist, dennoch gehen wir immer mit solchen Vorannahmen an Objekte unserer Beurteilung heran. Der Zirkelprozess ergibt sich dabei daraus, dass wir diese Vorannahmen entweder bestätigt sehen oder sie revidieren müssen. In diesem Konzept  Kohler, Gemeinsinn, S. 144.

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„eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht“ (WuM, 271). Es gibt zwar das Phänomen, dass man etwas Bestimmtes zum ersten Mal liest, aber in gewisser Weise geht man immer schon mit einer Vorannahme darüber an den Text. So drückt der Zirkel aus, dass der Mensch nie zur absoluten Vorurteilsfreiheit gelangen kann. Die Gesellschaft gibt nach Gadamer gewisse Prämissen und Werte vor, die unser Vorverständnis prägen. Diese Vorannahmen, mit denen wir Texte lesen, sind geprägt vom Gespräch mit anderen Menschen, von Büchern und von anderen Meinungen, die uns beeinflussen. Gadamers „Bewußtsein für die Andersheit des Textes“ ist ein „geschultes Urteilen“ (WuM, 273), das bereit sei, sich nicht vom Vorverständnis beziehungsweise „von der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung“ (WuM, 273) überwältigen zu lassen, sodass der eigentliche Sinn eines Textes verloren gehe. Eher solle man sich vom Text „etwas sagen […] lassen“ (WuM, 273). Dabei sollte man jedoch nicht eine Neutralität in dem Sinne anzustreben versuchen, dass die eigenen Meinungen nicht mehr von Bedeutung sind. Man muss sich dem eigenen Vorverständnis insofern bewusst sein, als es nicht seine Bedeutung verliert, aber zugleich die Bedeutung des Textes nicht aufhebt, sodass man ein richtiges Maß zwischen der „sachliche[n] Wahrheit“ (WuM, 274) und dem Vorverständnis finden und diese zwei Faktoren gegeneinander abwägen muss. Der Anspruch auf Objektivität erhält dadurch seine Gültigkeit, dass es „ständige Aufgabe des Verstehens“ (WuM, 272) sei, die Vorwegnahmen zu überprüfen, während man einen Text liest. Ich gehe also zum Beispiel mit meinem persönlichen Sprachgebrauch, der durch die Zeit, in der ich lebe, beeinflusst wird, an das Verständnis des Textes heran. Diesen muss ich, um den Sinn des Textes erfassen zu können, im Verstehensprozess überprüfen, indem ich ihn in Beziehung zu dem Sprachgebrauch des Textes setze: Wir haben die Aufgabe, „aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des Autors unser Verständnis des Textes erst zu gewinnen“ (WuM, 272). Mit dem Gedanken des hermeneutischen Zirkels zielt Gadamer mithin darauf ab, dass „die Unterscheidung der bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft, auf die Kant die Kritik der Urteilskraft gründet, keine unbedingte“ (WuM, 44 f.) ist. Es gibt nach Gadamer kein reines Einzelurteil des Geschmacks, das von sittlichallgemeinem Vorverständnis unabhängig wäre, sodass man erst das Allgemeine suchen müsste. Er ist vielmehr der Meinung, dass der „Einzelfall […] nie ein bloßer Fall“ (WuM, 45) sei, sondern eher ein „individueller Fall“ (WuM, 45). Nach Gadamer haben wir keinen Einzelfall, zu dem wir das ‚unabhängige‘ Allgemeine erst finden sollen, sondern wir prägen das Allgemeine und dieses prägt uns immer schon. Wir bestimmen es durch den Zirkelprozess selbst mit; es wird durch unser Urteil „ergänzt und berichtigt“ (WuM, 45).

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Darüber hinaus sieht Gadamer auch ein Problem im Hinblick auf die bestimmende Urteilskraft, die die Subsumtion des Einzelfalls unter das gegebene Allgemeine vornimmt. Dabei läge selbst hier „eine ästhetische Beurteilung vor“ (WuM, 44): Der Einzelfall könne niemals nur Fall einer bestimmten Regel sein, sondern muss immer auch noch auf etwas Anderes verweisen. Es gebe nämlich keinen Fall, der ein allgemeines Prinzip adäquat erfüllt; das sei keinesfalls realistisch. Die strenge Unterscheidung kann demnach nach Gadamer niemals so klar sein, wie Kant dies in seiner Konzeption der Urteilskraft vornimmt, da dieser ein ästhetisches Moment in der bestimmenden Urteilskraft übersehe. Gadamer kritisiert ferner, dass sich nach Kant die Bedeutung des sensus communis nur auf das ästhetische Urteil beziehe. Er vertritt hingegen die Position, dass ästhetisches Urteilen zugleich ein sittliches Urteilen ist, in dem das Einzelurteil und das allgemeine Vorverständnis schon vermittelt sind. Der Geschmack ist dabei „die höchste Vollendung des sittlichen Urteils“ (WuM, 45) und gilt als unentbehrlicher Faktor für jegliche sittliche Entscheidung. Der sensus communis sei keine „formale Fähigkeit“, sondern „immer schon [ein] Inbegriff von Urteilen und Urteilsmaßstäben, die ihn inhaltlich bestimmen“ (WuM, 37). So kann ich zum Beispiel bei der Beurteilung eines Kunstwerks schon insofern mit Vorannahmen an die Beurteilung herangehen, als ich bereits ein gewisses Vorverständnis des Schönen oder von Proportionen habe. Ich muss den sensus communis demnach nicht erst finden und mein Urteil darauf beziehen, sondern er ist schon in meinem Vorverständnis so verankert, dass er meine Urteile beeinflusst und diese dann Ausdruck verschiedener Vorannahmen sind. Derjenige, der nach Gadamer „ein gesundes Urteil hat“ (WuM, 37) und damit entscheiden kann, was recht und was unrecht ist, müsse nicht vom Besonderen auf das Allgemeine schließen, sondern er weiß bereits, „worauf es ankommt“ (WuM, 37) und nach welchen Kriterien er zu urteilen hat. Urteilskraft sei weniger eine Befähigung, sondern eher eine Forderung an andere, die zu stellen ist, weil man anderen aufgrund des allgemeinen Vorverständnisses, das jeden Menschen beeinflusst, ein gesundes Urteil zutrauen könne. Gadamer stellt die Forderung, Allgemeinheit und subjektives Empfinden stärker zusammenführen, und kritisiert Kant insofern, als es „ein subjektives Prinzip [sei], auf das er den Gemeinsinn“ (WuM, 49) reduziere. Gadamer kritisiert den Subjektivismus in Kants Konzeption der Urteilskraft, da er die Urteilskraft als ein Vermögen ansieht, das auf einem gesellschaftlichen und sozial geprägten Vorverständnis beruht. Den Geschmack bezeichnet er als „ein gesellschaftliches Phänomen ersten Ranges“ (WuM, 41). Dadurch verneint er die Annahme, dass der Geschmack auf subjektivem Empfinden und einem subjektiven Geschmacksurteil beruhe, das jedermanns Beistimmung benötige. Er stimmt Kant zwar zu, dass der Geschmack den persönlichen Neigungen entgegenstehen kann, jedoch sieht er

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dafür einen anderen Grund als Kant. Während Gadamer Kants Prinzip so beschreibt, dass man das Allgemeine erst suchen müsse, sei es nach dem hermeneutischen Zirkel nicht nötig, bei einem Geschmacksurteil nach allgemeinen Regeln abzuwägen und zu argumentieren, sondern man müsse diese nicht einmal suchen, weil der Geschmack sich dieser durch das gesellschaftlich geprägte Vorverständnis bereits bewusst sei. Guten Geschmack könne man nicht durch Nachahmung erzeugen, sondern er ergebe sich durch den Zirkelprozess: Dadurch dass ich mein Vorverständnis, das doch schon durch das Allgemeine geprägt wurde, immer neu annehme und revidiere, ergibt sich überhaupt keine Notwendigkeit, sich nach Kants Maxime der erweiterten Denkungsart in andere zu versetzen. Laut Gadamer ist es ebenso kritisch zu betrachten, dass Kant dem Geschmack jede Erkenntnisfähigkeit abspricht, da so nichts von den beurteilten Gegenständen selbst erkannt werden kann, sondern wir nur Lust und Unlust am Objekt empfinden. Makkreel paraphrasiert Gadamers Subjektivitätsvorwurf an Kant folgendermaßen: „In Gadamers Augen läßt Kants Betonung des subjektiven Gefühls seine Ästhetik zu einem unangemessenen Ausgangspunkt für die hermeneutische Philosophie werden. Da das reine ästhetische Urteil auf Begriffe über das Objekt verzichtet, ist es nur ein Urteil über die vom Subjekt empfundene Lust.“²¹ Gadamer zufolge sei Geschmack „ohne Zweifel eine Erkenntnisweise“ (WuM, 41), weshalb er sich eben auch auf andere Bereiche wie auf „Sitte und Anstand“ (WuM, 41) beziehe. Er solle nicht nur „dekorativ“ (WuM, 41) das Schöne eines Kunstwerks oder in der Natur beurteilen. Die Begründung dafür, dass der Geschmack eine eigene Erkenntnisweise darstellt, zeigt Gadamer durch das Beispiel der Mode: In der Mode geht es um einen allgemeinen Geschmack in der Gesellschaft, der veränderbar ist und sich mit der Zeit verändert. So stellt die Mode eine Norm dar, die aber genauso auch eine andere sein könnte: Ein gewisser Modetrend wird zu einer Norm beziehungsweise einem Maßstab, nach dem man sich richtet, der einer „empirische[n] Allgemeinheit“ (WuM, 42) zugrunde liegt. Diese liege auch Kants Prinzipien zugrunde, da man sich mit anderen vergleichen müsse und Rücksicht auf diese nehmen solle. Gadamer zufolge resultiere daraus nicht nur eine „gesellschaftliche Abhängigkeit“ (WuM, 42), sondern auch eine relative Bestimmung einer Norm, die genauso gut auch anders lauten könnte. Für Gadamer hat der „sichere Geschmack“ (WuM, 43) eine andere Funktion als der Geschmack, der der Mode zugrunde liegt. Der sichere Geschmack muss der Mode nicht blind folgen, sondern er weiß, wie er sich ihrem Geschmack anzu-

 Makkreel, Orientierung und Tradition, S. 409.

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passen hat und wie sich ihr Geschmack seinem anpassen kann. Man beziehe dabei „die Forderungen der Mode auf ein Ganzes, das der eigene Geschmack im Auge behält und nimmt nur das an, was zu diesem Ganzen paßt und wie es zusammenpaßt“ (WuM, 43). Demnach ist der Geschmack ein Sinn, der nicht in der Abhängigkeit der Urteile anderer besteht, sondern er strahlt eine „spezifische Freiheit und Überlegenheit“ (WuM, 43) aus. So besteht seine „Normkraft“ darin, dass er „sich der Zustimmung einer idealen Gemeinschaft“ (WuM, 43) sicher sein kann und sich so der Zwangsherrschaft eines Geschmacks entziehen kann, der den Urteilenden von anderen Urteilen abhängig macht.

4 Entkräftung der Kritik Gadamers: Zu Kants kritischer Reflexion traditioneller Werte Die zentralen Fragen, die sich durch Gadamers hermeneutisches Modell stellen, sind folgende: Welche Möglichkeiten bestehen, das gesellschaftlich geprägte Vorverständnis kritisch zu hinterfragen? Wie können wir uns von diesem reflexiv distanzieren? In der vorangehenden hermeneutischen Kritik spricht Gadamer von einer gewissen Abhängigkeit von anderen Urteilenden bei Kant, da immer auf diese Bezug genommen werden muss. Das Stichwort Abhängigkeit erinnert aber eher an eine ganz andere, die in der Hermeneutik zum Problem wird: Nämlich an die Abhängigkeit von unhinterfragten Traditionen und Normen, die unser Vorverständnis prägen. Während Kants Verständnis des sensus communis besagt, dass dieser etwas ist, worauf sich die Gesellschaft erst verständigen müsste, ist das Vorverständnis im hermeneutischen Modell immer schon von gesellschaftlichen Normen geprägt und beeinflusst. Daraus resultiert – anders als aus der kantischen Konzeption – eine Unfreiheit des Urteils. Kants Konzeption des sensus communis impliziert nämlich die Möglichkeit, sein Urteil kritisch zu hinterfragen und sich auf andere zu beziehen. Durch den intersubjektiven Standpunkt des kantischen Konzepts hat der Urteilende die Möglichkeit, bestehende Normen und Traditionen zu prüfen. Nach Kohler ist der kantische Gemeinsinn ein Vermögen, das einen kritischen Anspruch formuliert, der als „‚idealische Norm‘ […] auf der Möglichkeit einer universell intersubjektiven Gefühlsstimmung basiert, die aus anderen als aus kulturell-historisch kontingenten Quellen stammt“²². Während Gadamer also Kants Konzeption der Urteilskraft als Abhängigkeitsmodell beschreibt, ist es vielmehr seine eigene Konzeption der Urteilskraft,  Kohler, Gemeinsinn, S. 144.

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die sich durch eine Abhängigkeit von gesellschaftlichen Werten auszeichnet. Insofern weist Kants Konzeption eine innovativere Komponente auf als diejenige Gadamers, da sich im Rahmen der kantischen Urteilskraft konventionelle Werte überprüfen lassen. So wird Gadamers Kritik an einer Abhängigkeit von anderen Urteilen entkräftet und der Vorwurf der Abhängigkeit wendet sich gegen ihn selbst: Die Gefahr der Unzulänglichkeit des hermeneutischen Zirkels wird durch die Abhängigkeit von Vorurteilen begründet. Gadamer übersieht demnach nicht nur die Abhängigkeit von Vorurteilen durch sein eigenes Prinzip, sondern zudem den Aspekt der Intersubjektivität in Kants Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. Da mit dem Wohlgefallen kein Interesse verbunden ist, stellt es sich gegen Formen von Parteilichkeit und erhält so seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die drei Maximen der Denkungsart, die das Prinzip eines sensus communis erläutern, versuchen sich von subjektiven Privatbedingungen kritisch zu distanzieren. Die Maxime der vorurteilsfreien Denkungsart bietet uns die Möglichkeit zur Selbstaufklärung: Nur indem wir uns von Vorurteilen der Gesellschaft oder unseren eigenen entfernen und von diesen abstrahieren, können wir unser Urteil legitimieren und mündig werden. Die Maxime der erweiterten Denkungsart, die Einbeziehung möglicher anderer Urteile von einem allgemeinen Standpunkt aus, gewährt uns, unsere eigene Denkungsart zu erweitern und kritisch zu reflektieren. Dadurch entwerfen wir „eine mögliche Zwischenposition […], die weder von uns selbst noch von dem Anderen eingenommen wird.“²³ Auch die Maxime der konsequenten Denkungsart hindert uns daran, unreflektiert die auf Traditionen beruhenden Urteile zu übernehmen. Der sensus communis darf dabei nicht missverstanden werden: Er steht in Kants Sinne nicht für einen Gemeinsinn, der mir das Urteil vorschreibt, das in den Konventionen der Gemeinschaft verankert ist. Sondern er dient zur Orientierung sowie zur Abwägung, ob die Urteile auf Traditionen oder Vorurteilen beruhen und wie ich solche möglicherweise beschränkten Urteile verhindern kann. Dass Kant sich mit dem sensus communis nicht auf den gemeinen Urteilsbestand einer Gesellschaft bezieht, ist auch daran zu erkennen, dass er nicht behauptet, den Gemeinsinn gebe es schon, sondern vielmehr versucht er, seine Existenz zu konstruieren. Bei der Analyse der hermeneutischen Kritik stellt sich die Frage, ob und wie man gegen die Tradition urteilen kann. Es wird deutlich, dass das Erkenntnissubjekt durch dieselbe geprägt wird; wie aber kann es nach Gadamers Konzeption Freiheit erfahren und realisieren, wenn es keinen Ausgangspunkt seines Vorverständnisses erkennt, an dem es sich von der Konvention befreien und so ein

 Makkreel, Orientierung und Tradition, S. 415.

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besseres Verständnis erlangen kann? Das ist in Gadamers hermeneutischem Modell unzureichend erläutert: Nach diesem liegt dem sensus communis immer schon eine inhaltliche Bestimmung durch die Gesellschaft zugrunde. Bei Kants Modell ist das Gegenteil der Fall: Durch sein Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit erhalte ich nicht nur die Legitimation auf den Anspruch der Verallgemeinerung, sondern mein Urteil bleibt ein freies Urteil, indem ich nicht durch einen vorbestimmten Inhalt prädeterminiert werde. In diesem Sinne stimme ich Habermasʼ Kritik an der Hermeneutik zu, auch wenn sie nicht explizit mit Blick auf Kant formuliert wurde: „Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des Traditionszusammenhangs; sie kann, sobald diese Grenzen erfahren und erkannt sind, kulturelle Überlieferungen nicht länger absolut setzen. […] Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht.“²⁴ Diese Argumente laufen auf die Schlussfolgerung hinaus, dass Gadamers Kritik an einer „Subjektivierung der Ästhetik“ durch Kants Konzeption der Urteilskraft nicht zutrifft. Geschmacksurteile sind nach Kant nicht bloß Ausdruck einer subjektiv-willkürlich empfundenen Lust, sondern appellieren stets an den gut begründeten, reflexiven sensus communis, um mit Blick auf diesen Urteile zu formulieren. Im Gegensatz zu dieser Konzeption bestimmt Gadamer in seinem Werk den Status der Tradition. Laut Figal ist sie für Gadamer „das Erhellende; sie spielt Einsichten zu, die aus eigener Kraft nicht zu erlangen sind, sondern über die Grenzen des allein auf die eigene Kraft vertrauenden Denkens aufklären.“²⁵ So haben Traditionen für Gadamer eine positive Macht uns aufzuklären. Die Traditionen, die im Vorverständnis ihre Wirkung entfalten, haben aber zumeist ganz andere Folgen: Sie engen den Urteilenden in seinem Urteil vielmehr ein und gewähren ihm keine Freiheit, sich von diesen loszulösen. Dadurch, dass Gadamer „das Verhältnis zwischen Gegenwart und dem Überlieferten […] mit dem Begriff der Horizontverschmelzung“²⁶ bezeichnet, wird noch deutlicher, wie eng das Erkenntnissubjekt an die Tradition gebunden ist und dieser Bindung nicht entkommen kann. Denn traditionelle und gegenwärtige Vorstellungen verschmelzen, „ohne daß sich überhaupt das eine oder andere ausdrücklich voneinander abheben“ (WuM, 311) lässt. Nach Gadamer ist nämlich „das Verstehen […] selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“ (WuM, 295) Dabei wird der Horizont der Gegenwart von dem der Vergangenheit gebildet, sodass es keinen Gegenwartshorizont für sich

 Habermas, Zu Gadamers ‚Wahrheit und Methode‘, S. 52.  Figal, Hans-Georg Gadamer, S. 304.  Figal, Hans-Georg Gadamer, S. 305; Hervorhebung im Text.

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geben kann. Der hermeneutische Prozess droht mithin nicht nur bedingt liminal zu sein, insofern die Geltung von Vorurteil und eigenem Urteil lediglich vorübergehend in der Schwebe wären (eben solange, bis sie vermittelt wären); sondern er droht uneingeschränkt und umfassend liminal zu sein, insofern historisches Vorverständnis und gegenwärtiges Verstehen ihrer Natur nach notwendig miteinander ‚verschmolzen‘ wären. Während Kant betont, dass die Befreiung der Vernunft aus den Fesseln der Tradition notwendige Voraussetzung der Aufklärung ist, werden wir von Gadamer von neuem in diese Fesseln geschlagen, ohne dass wir seiner hermeneutischen Theorie nach die Möglichkeit dazu hätten, ihr zu entkommen und sie hinter uns zu lassen. Um eine kritische Hermeneutik darzustellen, müsste diese eine Methode entwickeln, die es ermöglicht, bestehende Traditionen zu hinterfragen, um so Urteile auch gegen dominante Werte richten zu können.

Literaturverzeichnis Quellen Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1986 (Gesammelte Werke 2). Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Heiner F. Klemme. Hamburg 2009.

Sekundärliteratur Brandt, Reinhard: Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur (Einleitung VI–IX). In: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Otfried Höffe. Berlin 2008 (Klassiker Auslegen 33). S. 41 – 58. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998. Figal, Günter: Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002). In: Klassiker der Philosophie. Von Immanuel Kant bis John Rawls. Hrsg. von Otfried Höffe. München 2008. Habermas, Jürgen: Zu Gadamers ‚Wahrheit und Methode‘. In: Karl-Otto Apel u. a.: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt am Main 1971. S. 45 – 56. Klemme, Heiner F.: Immanuel Kant. Frankfurt am Main 2004. Klemme, Heiner F.: Einleitung. In: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von dems. Hamburg 2009. S. XVII – XCVIII. Kohler, Georg: Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie (§§ 39 – 42). In: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Otfried Höffe. Berlin 2008 (Klassiker Auslegen 33). S. 137 – 150. Makkreel, Rudolf A.: Orientierung und Tradition in der Hermeneutik: Kant versus Gadamer. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 41/3 (1987). S. 408 – 420.

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Schaper, Eva: Taste, Sublimity, and Genius: The Aesthetics of Nature and Art. In: The Cambridge Companion to Kant. Hrsg. von Paul Guyer. Cambridge, New York u. Oakleigh 1992. S. 367 – 393. Seeberg, Ulrich: Urteilskraft. In: Kant-Lexikon. Hrsg. von Marcus Willaschek u. a. Berlin, Boston 2017. S. 622 – 634. Wolff, Michael: „Urteil. Einleitung in Arten des Urteils“. In: Kant-Lexikon. Hrsg. v. Marcus Willaschek u. a. Berlin, Boston 2017. S. 618 – 620.

Register Abraham, Georg 290 Abraham, Hedwig 290 Adam 58, 66 – 68, 79 f., 80 Fn. 65 Aëtios von Amida 248, 262 Al-Farabi → Farabi Alanus ab Insulis 67 f., 68 Fn. 20, 69 Fn. 22, 70 Fn. 31, 71 f., 72 Fn. 35 f., 73 Fn. 40, 74 Fn. 46, 75 Fn. 49 f., 76 Fn. 52, 77, 83, 86 f., 94 f., 95 Fn. 14, 96 – 102, 102 Fn. 26, 103, 110 f. Alari-Bonacolsi, Pier Jacopo (Il Antico) 194, 196 Fn. 55 Albertus Magnus 64 Fn. 4, 167 Fn. 1 Alexander von Hales 190 Alexander von Tralleis 248, 262 Alexandre de Paris 135 Alphonsus Bonihominis Hispanus 185 Andreae, Johann Valentin 284 Anselm von Canterbury 65 Antico → Alari-Bonacolsi, Pier Jacopo Antonius von Padua (Hl. Antonius) 167 – 169, 169 Fn. 3, Fn. 5, 170, 172, 174 – 182, 183 Fn. 32, 185 Fn. 34 f., 186, 188, 190 – 192, 195 Fn. 55, 199 – 201, 205 – 209, 211 Apollonia von Alexandria (Hl. Apollonia) 168 Aquin, Thomas von → Thomas von Aquin Aranches, Ludovicus de 159, 161 Areopagita → Pseudo-Dionysius Aretaios von Kappadokien 248, 261 Aristoteles 47, 58 Fn. 49, 93 f., 108 Fn. 38, 173 Fn. 13, 180 Fn. 25, 206, 248, 255, 256 Fn. 74, 261, 272, 327, 342 Arndt, Johann 283 f., 297 Fn. 50 Athanasius von Alexandria 169 f., 170 Fn. 6, 186 Fn. 39 Augustinus von Hippo 80 Fn. 67, 85 Fn. 83, 116 f., 120, 134 f., 136 Fn. 12, 206 f., 294 Avenzoar (Ibn Zuhr) → Zuhr / Ibn Zuhr Averroes (Ibn Ruschd) → Ruschd / Ibn Ruschd Avicenna → Sina / Ibn Sina

https://doi.org/10.1515/9783110605389-018

Baker, John 287 Baker, Richard 280, 286 f., 287 Fn. 31, 288 f., 292 – 298 Barros, João de 253 Fn. 55 Baumgarten, Alexander Gottlieb 305, 313, 315 – 317, 317 Fn. 52, 318 – 322, 327 Baxter, Richard 287 Fn. 31 Bernhard von Clairvaux 136 Fn. 12 Bernhard von Gordon 188 Fn. 44, 190 Fn. 47 Böhme, Jakob 283 Boethius, Anicius Manlius Severinus 93, 134 f., 135 Fn. 9, 135 f. Fn. 12, 138 Fn. 29, Fn. 32, 139 Fn. 34, 140 Fn. 41, Fn. 43, 141 Fn. 48, 143 Fn. 62, Fn. 64, 144 Fn. 75 Bonaventura 65 Fn. 11, 134, 136 Fn. 12 Bonifaz VIII. (Benedetto Caetani, Papst) 121, 123 – 128 Bonihominis Hispanus, Alphonsus → Alphonsus Bonihominis Hispanus Bonnet, Charles 314 f. Bonstetten, Albrecht von 202 Bosch, Hieronymus → Hieronymus Bosch Botero, Giovanni 253 Fn. 60 Brahe, Tycho 159 Brant, Sebastian 176 Brune, Jan de 288 Buddha 39, 41 Buffi da Bertipaglia, Leonardo 188 Fn. 44 Caelius Aurelianus 249 Fn. 26, 261 Calcidius 93, 135 Fn. 11 Campanella, Tommaso 338 f., 343 f., 353 Canterbury, Anselm von → Anselm von Canterbury Cantor, Petrus → Petrus Cantor Cassirer, Ernst 362 Castello, Philotheo 246 Fn. 12 Castro, Benedictus de 246 Fn. 12 Castro, Catarina de 243 Castro, Rodrigo de 243 Fn. 1, 244 – 246, 246 Fn. 13, 247 Fn. 14, 248 Fn. 21 f., 249 – 251, 251 Fn. 40, 252 f., 253 Fn. 59,

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Register

254 Fn. 64, 255 – 259, 259 Fn. 81 f., 260 f., 261 Fn. 87 Cato d. Ältere (Marcus Porcius Cato Censorius) 252 Cavendish, Margaret 265 f., 266 Fn. 5, 267 f., 268 Fn. 15, 271 – 273, 273 Fn. 31 f., 274 Fn. 36, 275 Cavendish, William 275 Celsus 249 Fn. 27, 261 Celtis, Conrad 167 Fn. 1 Chalcidius → Calcidius Chelidonius, Benedictus 205 Fn. 66 Christus → Jesus Christus Cicero, Marcus Tullius 135 Fn. 11 Cock, Jan de → Wellens de Cock, Jan Cölestin V. (Peter von Morrone, Papst) 120 – 128 Columella 252 Cornelisz, Pieter 201 Dacianus, Publius 179 Damião de Góis 253 Fn. 57 Dante Alighieri 7 Darius I., persischer Großkönig 13 Delehaye, Hippolyte 116 Derrida, Jacques 224 Deutsch, Niklaus Manuel 170 Fn. 7 Didier, Guy 188 Fn. 44 Diodoros Siculus 252 Donne, John 287 Dürer, Albrecht 167 Fn. 1, 168 Fn. 2, 169 Fn. 3, 170 – 173, 173 Fn. 13, 174, 176 Fn. 18, 177 f., 178 Fn. 20 – 22, 179 Fn. 23, 180 Fn. 24, 181 f., 185 f., 186 Fn. 39, 188, 190 Fn. 48, 191 f., 192 Fn. 51, 193 f., 194 Fn. 53, 195 Fn. 55, 196 Fn. 55, 199 Fn. 59, 200 f., 203, 205 Fn. 66, 206 Fn. 69, 207 Fn. 74, 208 – 211 Duns Scotus → Johannes Duns Scotus Eadmer 65 Elisabeth I., Königin von England 285 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 196 Fn. 56 Euagrios von Antiochia 170 Fn. 6 Eva 68, 194, 195 Fn. 55

Fabricio d’Aquapedente 251 Fn. 40 Falco, Aymar 176 Fn. 18 Farabi / Al-Farabi 48 Fn. 4, 58 Fn. 49 Fichte, Johann Gottlieb 328 Fn. 95 Ficino, Marsilio 189, 206 Flavius Iosephus 253 Fn. 62 Flüe, Niklaus von → Niklaus von Flüe Franck, Sebastian 283 Fridolin, Stephan 205 Fn. 66 Friedrich III. (Kaiser HRR) 183 Fn. 29 Froben, Hieronymus 249 Fn. 29 Froben, Johann 249 Fn. 29 Frobenius, Georg Ludwig 245 Gadamer, Hans-Georg 357 f., 366 – 373 Galen 189 Fn. 45, 190 Fn. 47, 207 Fn. 71, Fn. 74, 248 Fn. 25, 250 Fn. 33, 251 Fn. 37 – 39, 255, 261, 265 Garcia de Orta 251 Fn. 40 Geiler von Kaysersberg, Johann 183 Fn. 29, 186 Fn. 37, 189 Fn. 46, 190 f., 198, 202, 208 Gellert, Christian Fürchtegott 305, 322 – 325, 325 Fn. 82 Gerhard, Johann 284 Gerson, Johannes → Johannes Gerson Gilbertus Porretanus 93 Gilino, Conradino 183, 185 Fn. 33 Gilles Charlier 75 Fn. 49 Gilman, Sander 150, 160 f., 161 Fn. 51, 162 f. Gössmann, Elisabeth 133 Gottsched, Johann Christoph 317, 322 Grotius, Hugo 301 f. Gryphius, Andreas 280 Fn. 3, 286 – 295, 297 Fn. 50, 298 Guainerius, Antonius 183 Haggai 11, 16 Hales, Alexander von → Alexander von Hales Hall, Joseph 287 Fn. 31 Heinrich VIII., König von England und Irland 287 Heinrich von Mügeln 96, 102, 110 Heinrich von Neustadt 67 Fn. 16, 74 Fn. 47, 81, 84 Fn. 80, 87 Heinrich von St. Gallen 66 Fn. 15, 67 Fn. 16, 68 f., 71 Fn. 34, 72 Fn. 35, 73 Fn. 40,

Register

74 f., 75 Fn. 49 f., 78, 82 Fn. 73, 84 Fn. 79, Fn. 81, 85 Fn. 83, 86 f. Henricus Aristippus 135 Fn. 11 Henricus Bate 135 Fn. 11 Herbert, Thomas 229 Fn. 27 Herodot 252 Hieronymus Bosch 200 Hildebrandt, Hans 346 Hippokrates 248 f., 261 Hobbes, Thomas 302, 311 f. Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 289 f. Hoffmann von Hoffmannswaldau, Maria 290 Fn. 44 Holder-Eggers, Oswald 115 Homer 252, 265 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 316 Hoskins, John 238 Hugh (Hugo) von St. Victor 136 Fn. 12 Ibn Sina → Sina / Ibn Sina Ibn Zuhr → Zuhr / Ibn Zuhr Isidor von Sevilla 173 Fn. 13 Israhel van Meckenem d. Jüngere

208 f.

Jakob I. (James I.), König von England und Irland 287 Jakob Stefaneschi 127 f. Jeremias 65, 85 Fn. 84 Jesus Christus 39, 41, 64 Fn. 6, 66, 73 f., 74 Fn. 44, Fn. 47, 75, 81, 83 Fn. 77, 87, 136, 185, 200, 235 Fn. 43, 282, 290 – 292, 294 Jogues, Isaac 157 Johannes der Täufer 65 Johannes Duns Scotus 66 Fn. 14 Johannes Gerson 75 Fn. 49, 185 f., 190 f., 191 Fn. 49, 208 Johannes Serapion 250, 262 Johannes Sleidanus 252 Fn. 49 Johannes Zacharias (Aktuarios) 248, 262 Jojachin 10 Josua 12, 32, 37, 42 – 44 Julius II. (Papst) 193 Junius, Franciscus 288 Justin 252

377

Kant, Immanuel 302 f., 314, 317 f., 322, 357 – 361, 363 – 373 Karl II., König von Neapel 121 Karl IV. (Kaiser HRR) 102 f., 111 Kluge, Walter 335 Koberger, Anton 179 Kobusch, Theo 133, 135 f. Konrad von Würzburg 96 Fn. 19 Kristeva, Julia 234 Le Corbusier 343 f., 344 Fn. 31, 345 Fn. 37, 346 – 351, 353 Leicht, Irene 133 Leo X. (Papst) 231 Leo Africanus 230 f. Livius, Titus 252 Locher, Jakob 205 Fn. 66 Lombardus, Petrus → Petrus Lombardus Ludwig XIV., König von Frankreich 351 Luhmann, Niklas 225 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 252 Luther, Martin 244, 281 – 283 Maffei, Giovan Pietro 253 Fn. 56 Magnus, Albertus → Albertus Magnus Mainwaring of Ightfield, George 287 Mainwaring, Margaret 287 Maiolus, Simon 160 Marguerite Porete 133 – 135, 135 Fn. 9, 136 Fn. 12, 137 – 139, 139 Fn. 36, 141 f., 142 Fn. 56, 145 f. Maria (Mutter Jesu) 63 Fn. 1 f., 64 Fn. 4, Fn. 6, 65 – 67, 67 Fn. 18, 68, 71, 73, 75 Fn. 49, 78 f., 81 f., 82 Fn. 73, 83 Fn. 75 f., 84 Fn. 80, 85 Fn. 82 – 84, 86 Fn. 86, 87, 157 Mariana, Juan de 252 Matthias (Heiliger) 168 Maximilian I. (Kaiser HRR) 168 Meckenem d. Jüngere, Israhel von → Israhel von Meckenem d. Jüngere Melanchthon, Philipp 191 Fn. 49, 284 Fn. 13 Mendelssohn, Moses 311 f. Mesue (Mesue, Johannes senior) 250, 262 Meteren, Emanuel van 252 Fn. 51 Minadoi, Giovanni Tommaso 253 Fn. 54 Molanus, Johannes 186 Fn. 38 Moller, Vinzenz 245

378

Register

Morus, Thomas 334 Fn. 6, 336, 338 f., 343 – 345, 353 Moses 32, 36 – 38, 42 – 44 Müntzer, Thomas 283 Namias, Baruch → Castro, Benedictus de Namias, David → Castro, Rodrigo de Neander, Michael 253 Fn. 59 Niklaus von Flüe 202, 204 f. Nikolaus IV. (Papst) 121 Oreibasios von Pergamon

248, 261

Palladius (Palladius Rutilius Taurus Aemilianus) 252 Paolo Giovio 252 Fn. 52 Paracelsus 259, 265 Paré, Ambroise 150 Patinir, Joachim 200 Fn. 60 Pauli, Johannes 189 Fn. 46 Paulos von Ägina 248 Pedanios Dioskurides 248 Fn. 21, 261 Perkins, William 287 Fn. 31 Petrus Cantor 101, 195 Fn. 55 Petrus Hispanus 255 Fn. 69 Petrus Lombardus 195 Fn. 55 Petrus Martyr von Anghiera 253 Peutinger, Konrad 199 Fn. 59 Philipp II., König von Frankreich 74 Fn. 44 Philipp IV., König von Frankreich 126, 128 Pico della Mirandola, Gianfrancesco 180 Fn. 25, 197, 199 Fn. 59 Pico della Mirandola, Giovanni 198 Pietro Bizzarri 252 Fn. 53 Pinder, Ulrich 177 f., 178 Fn. 20 f., 189 Fn. 45 Pirckheimer, Caritas 205 Fn. 66 Pirckheimer, Willibald 178 Fn. 22, 199 Pius IX. (Papst) 64 Platon 58 Fn. 49, 93 f., 135 Fn. 11, 136 Fn. 12, 138, 140 – 142, 142 Fn. 56, 143 Fn. 65 f., 144 Fn. 75, 145, 248, 255, 261, 326, 334 Fn. 7, 339 Plinius d. Ältere (Gaius Plinius Secundus Maior) 230, 249 Fn. 29, 261

Plotin 135, 136 Fn. 12, 138 – 140, 140 Fn. 43, 141 f., 142 Fn. 56, 143 Fn. 65, 144 Fn. 75, 145 Plutarch 252 Porete, Marguerite → Marguerite Porete Pory, John 230 Prutenus, Ludovicus 172, 173 Fn. 13 Pseudo-Dionysius 135, 136 Fn. 12 Pufendorf, Samuel 301 f., 302 Fn. 7, 305 f., 326 f. Quinctius Serenus Sammonicus (Quintus Serenus) 249, 261 Radulphus von Longchamp 102 Fn. 26 Rhazes 250, 262 Richard von St. Victor 136 Fn. 12 Rousseau, Jean-Jacques 302, 305, 309, 311 – 315, 315 Fn. 44 Ruschd / Ibn Ruschd 250, 262 Sacharja 11 f., 15 Fn. 40, 25 Saxo Grammaticus 252 Schiller, Friedrich 301 – 303, 305, 315 f., 325 f., 326 Fn. 85, 327 f. Schnabel, Johann Gottfried 336, 340 Schwenckfeld, Caspar von 283 Scribonius Largus 249 Fn. 26, 261 Serubbabel 14 Sevilla, Isidor von → Isidor von Sevilla Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shakespeare, William 223 Fn. 3, 224, 231, 233 Fn. 39 Simmel, Georg 238 f. Sina / Ibn Sina 47, 173 Fn. 12, 189 Fn. 45, 190 Fn. 47, 206, 250, 256, 262 Smith, Adam 311 Sobius, Jakob 170 Fn. 6 Sokrates 135 Fn. 9, 142 Fn. 56 Soranos von Ephesos 249 Stefaneschi, Jakob → Jakob Stefaneschi Stephan von Boubon 186 Fn. 37 Stephen Langton 101 Strabon 252

Register

Tacitus, Publius Cornelius 252 Tagliacozzi, Gaspare 150, 158 Fn. 35, 161 f. Taranta, Valescus de 189 Terry, Wendy 135 Fn. 9, Fn. 12 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 293 f. Theodorus Priscianus 249, 261 Theophrast von Eresos 167, 248, 261 Thierry von Chartres 93 Thomas Chobham 101 Thomas von Aquin 47 Fn. 1, 64 Fn. 4, 116 f., 120, 124, 128, 173 Fn. 13, 183 Fn. 32 Thomas von Sulmona 121 Thou, Jacques-Auguste de 252 Fn. 46 Tracagnota, Michele Giovanni 252 Turner, Victor 8 f., 15 Fn. 39, 32, 41 f., 187, 223 Fn. 1, 245 Fn. 8 Ugolini, Bartolomeo 154 Ulsted, Max 206 Fn. 69 Ulsted, Philipp 206 f., 207 Fn. 71 Urban IV. (Papst) 120

379

Van Gennep, Arnold 8, 31 – 33, 35 –37, 39, 41 Varro, Marcus Terentius 252 Vergil (Publius Vergilius Maro) 252 Vesal, Andreas 251 Fn. 36 Vespasian, römischer Kaiser 253 Vinzenz von Valencia (Hl. Vinzenz) 179 Vogeler, Hieronymus 245 Voßkamp, Willhelm 341 f. Waldenfels, Bernhard 224, 239 Weigel, Valentin 283 Wellens de Cock, Jan 186 Wieland, Christoph Martin 316 Wilhelm von Auxerre 102 Fn. 26 Wilhelm von Conches 93 William von Saint-Thierry (Guillelmus de Sancto Theodorico) 136 Fn. 12 Wimpfeling, Jacob 190 Fn. 48 Wolff, Christian 305 – 309, 317, 319, 321 Wotton, Henry 287 Zacchia, Paolo 160, 247 Fn. 14 Zenon von Kition 322 Zidkija 10 Zuhr / Ibn Zuhr 250, 262