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German Pages 78 [89] Year 1951
BERICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU LEIPZIG Philologisch-historische Band
Klasse
97 • Heft
MARTIN
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LINTZEL
LIEBE UND TOD BEI HEINRICH VON KLEIST
1950
AKADEMIE.VERLAG-BERLIN
Vorgelegt in der Sitzung v o m 12. Dezember 1949 Manuskript eingeliefert am 25. Februar 1950 Druckfertig erklärt am 13. September* 1950
Erschienen Im Akademie-Verlag GmbH., Berlin NW 7, Sphiffbauerdamm 19 Lizenz-Nr. 156 • 100/32/50 Satz und Druok der Buchdruckerei F. Mitzlaff, Rudolstadt/Thür. (504) Bestell- und Verlagsnummer 2026/97/8 Preis : DM 3.50
Inhalt Seite Einleitung
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1. Die Familie Schrofi'enstein
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2. Penthesilea
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' 3. Die Hermannssehlacht
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4. Das Käthchen von Heilbronn 5. Der zerbrochene Krug
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6. Amphitryon
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7. Prinz Friedrich von Homburg
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8. Die Novellen
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9. Ergebnisse: Liebe und Tod in Kleists Dichtungen
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10. Der „metaphysische" Hintergrund der Liebe in Kleists Dichtungen
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11. Die psychologischen Ursachen
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.
Einleitung Im Jahre 1922 hat R U D O L F UNGER eine Studie über das Todesproblem bei- Heinrich von Klfeist veröffentlicht 1 ). Darin untersucht er die Stellung des Dichters zum Tode in seinem Leben, in seinen theoretischen Ansichten und schließlich in seinen Dichtungen, vor allem in seinen Dramen; und während er in dem, was er über die ,,Todesphilosophie" Kleists sagt, eine allmähliche und ständige Vertiefung von Kleists Gedanken nachweisen zu können glaubt, findet er in seinem Leben wie in seinem Dichten drei aufeinander folgende Stufen, die er als die Stadien und Haltungen des Dem-Tode-Geweihtseins, des Reifwerdens zum Tode und der Todesüberwindung bezeichnet; für die erste ist ihm besonders der Robert Guiskard, für die zweite die Penthesilea, für die dritte der Prinz von Homburg charakteristisch. Vier Jahre später hat sich J O S E F C O L L I N 2 ) in seiner Abhandlung: Heinrich von Kleist, der Dichter des Todes, zu demselben Thema geäußert, wobei er ausführt, daß der Gedanke des Todes, der Vernichtung zum „Träger von Kleists ganzer Dichtung" geworden ist und sie „vom Anfang bis zum Ende umkreist". Im folgenden möchte ich die Stellung, die der Tod bei Heinrich von Kleist einnimmt, unter einem andern Gesichtswinkel betrachten, als es in diesen beiden Untersuchungen geschehen ist. Ich möchte über das Verhältnis von Liebe und Tod bei Kleist sprechen, und ich 1
Vgl. R. Unger, Herder, Novalis und Kleist, Studien über die Entwicklung des Todesproblems in Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik; Deutsche Forschungen hrsg. von Fr. Panzer und J. Petersen, Heft 9 (1922), S. 88 ff. » Vgl. Euphorion, 27 (1926), S. 69 ff.
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glaube zeigen zu können, daß beide Gedanken und beide Erlebnisse bei ihm einander öng benachbart sind und zusammengehören. Es ist zwar nicht so, daß zum Tode bei Kleist immer die Liebe gehört: das Reich des Todes ist dafür bei ihm zu groß und umfassend, und er erscheint in zu vielfältigen Formen. Wohl aber kann man sagen, daß zur Liebe bei Kleist immer der Tod gehört: in vielen Fällen ist die Liebe geradezu mit dem Tode identisch, und immer steht sie zu ihm in irgendeiner Beziehung. Zu diesem Gedanken und dem, was ich darüber zu sagen habe, finden sich sowohl bei U N G E R wie bei C O L L I N gelegentlich leise Anklänge, und auch sonst mag es in der unübersehbaren Kleist-Literatur an Andeutungen in derselben Richtung nicht völlig fehlen. Aber im ganzen dürften meine Untersuchungen und ihre Resultate neu sein, und auf den ersten Blick scheinen sie im Gegensatz zu den Ergebnissen meiner Vorgänger zu stehen. In einzelnen Punkten mag dieser Gegensatz tatsächlich vorhanden und unauflösbar sein, und es mögen entweder in der etwas harmonisierenden und ethisierenden (übrigens sehr geistreichen) Betrachtungsweise von U N G E R oder in der von C O L L I N oder in meiner eigenen Fehler und Irrtümer stecken. In vieler Hinsicht aber dürfte jener Gegensatz doch nur scheinbar sein. Nicht bloß, daß man das Leben und das Werk eines Menschen und erst recht das eines so komplizierten Menschen und Dichters wie Heinrich von Kleist unter sehr vielen Gesichtspunkten betrachten kann — in Kleists Leben gibt es nun einmal noch mehr als in anderen unauflösbare Gegensätze und Widersprüche, und wenn man einen bestimmten Tatbestand in ihm nachweist, so ist damit nicht gesagt, daß daneben nicht auch ein anderer, nach den Gesetzen der Logik ihm anscheinend widersprechender Tatbestand vorhanden gewesen ist. Immerhin glaube ich mit dem, was ich vorbringe, ein wesentliches Grundelement in der Dichtung Kleists und zugleich in seinem Charakter und Leben nachweisen zu können. Ich spreche zunächst Kleists Dramen durch1) und beginne mit der Familie Schroffenstein. 1
loh zitiere Kleists Dramen ebenso wie seine Novellen und Briefe durchweg
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1. Die Familie Schroffenstein Die auffallendste Szene von Kleists Erstlingsdrama ist die berühmte Umkleidungs- oder besser Entkleidungsszene zwischen Agnes und Ottokar, die Eingangsszene des fünften Aktes. Ottokar und Agnes haben sich in einer Höhle des Gebirges getroffen ; Ottokar weiß, daß sein Vater ihren Aufenthaltsort entdeckt hat, daß er jeden Augenblick herzutreten kann, und daß er Agnes ermorden, will. Um sie zu retten, tauscht Ottokar mit seiner Geliebten die Kleider: sie soll dann in seinem Helm und Mantel davongehen, während er sich für sie opfern will. Und damit der Kleidertausch zustande kommt, spielt er ihr, selbstverständlich ohne sie den wahren Sachverhalt ahnen zu lassen, die zukünftige Brautnacht vor (Vers 2418 f. und 2434f.): Wir machen diese Nacht Zu einem Fest der Liebe, willst Du? . . . Der Tag, Die Nacht vielmehr ist nicht mehr fern. Er phantasiert ihr Hoffnungen, Wünsche und Bilder vom Hochzeitstage vor, wie der Schwärm der Gäste sich verfliegt, wie sie dann beide, von Vater und Mutter entlassen, beim Scheine nur einer Kerze die Treppe zum Brautgemach hinaufsteigen, und wie er ihr schließlich die Kleider abstreifen wird. Man hat diese Szene viel bewundert und viel gescholten. Sie hat ihre Schönheiten und sie hat ihre Peinlichkeiten; und diese dürften abgesehen von einigen Gequältheiten und Geschmacklosigkeiten in der Diktion nicht etwa daher kommen, daß die Szene zu sinnlich, sondern im Gegenteil daher, daß sie zu wenig sinnlich oder vielmehr daß ihre Sinnlichkeit im Grunde nicht ganz echt ist: es handelt sich nach der von Erich Schmidt besorgten Gesamtausgabe des Bibliographischen Instituts. Übrigens möchte ich betonen, daß ich das Material, das sich zum Beweis meiner Ansicht geben läßt, nicht ganz vollständig vorbringe. Man könnte noch viel mehr sagen. Aber man würde damit, glaube ich, kaum etwas wesentlich Neues, sondern nur eine größere Breite gewinnen.
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ja nicht um eine wirkliche, sondern nur um eine fingierte (und zwar um eine doppelt fingierte) Brautnacht. Doch gleichgültig, wie es mit der ästhetischen Bewertung der Szene steht, für unsere Fragestellung ist eben die Tatsache entscheidend, daß es bei dieser Brautnachtphantasie nicht um das geht, was sie zu sein vorgibt, sondern um den Tod. Es liegt eine merkwürdige Mischung von Sinnlichkeit, Angst und Todeserwartung über der Szene. Sie kommt in den wenigen Worten der Agnes zum Ausdruck, vor allem aber in den Reden und dem Verhalten Ottokars. Daß er weder für jetzt noch für die Zukunft wirklich an die Brautnacht denkt, sondern nur an die Rettung der Geliebten und damit an den eigenen Tod, ist dem Leser von Anfang an klar, und auf diesen Umstand wird durch die Zwischenreden Ottokars und Barnabes auch immer wieder hingewiesen. Also eine Liebesszene, deren Sinnlichkeit, und eine Entkleidung der Braut, die für den Liebhaber nicht die Erfüllung der Liebe, sondern den eigenen Tod zum Ziel hat. Ottokar spielt mit Agnes sozusagen Hochzeit, um zu sterben. Alle die sehnsüchtigen, liebevollen und etwas wollüstigen Phantasien, die in seinen Worten enthalten sind, werden von ihm gesprochen nicht in der Erwartung ihrer eigentlichen Erfüllung, sondern in der Erwartung des Todes: der Tod ersetzt die Liebe. Kleists Freund Ernst von Pfuel erzählt1), die „Auskleideszene" sei dem Dichter als erstes Stück der Familie Schroffenstein „in den Sinn gekommen". Um sie habe sich „allmählich die ganze Tragödie herumgewoben", wobei Pfuel offen läßt, ob sie Kleist „mit anderen Fäden der Erzählung" oder mit einem anderen „zufällig entdeckten Stoff zusammenspann". Diese Mitteilung ist durchaus' glaubhaft. Nicht bloß, daß die Szene, wie man wohl bemerkt hat, etwas breit und die Katastrophe hemmend dasteht, sie ist auch sehr schlecht mit dem Organismus des übrigen Dramas verbunden, ujid ihre Handlung ist ungewöhnlich mangelhaft motiviert. Sonst ist in der Familie Schroffenstein alles lückenlos begründet und miteinander verzahnt 1
Vgl. Heinrich v. Kleists Gespräche, hrsg. von F. Frlir. v. Biedermann (1911), S. 92 f.
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der Kleidertausch des fünften Aktes aber ist nach der Logik der Handlung völlig unverständlich: es gibt für Ottokar einfachere und sicherere Mittel, die Geliebte und zugleich sich selbst zu retten. Doch gleichgültig, was an Pfuels Nachricht richtig ist, die Tatsache, daß Kleist die Szene in das Drama aufgenommen hat, ohne zu merken oder ohne zu berücksichtigen, daß sie eigentlich gar nicht paßte, beweist, wie wichtig sie ihm war. So wenig die Kleidertauschszene in einem organischen Zusammenhang mit der übrigen Handlung des Stückes steht und so wenig sie sich aus dieser als notwendig ergibt, so finden sich doch zu dem, was in ihr ausgedrückt wird: daß der Tod die Liebe ersetzt, gewisse Parallelen in den übrigen Liebesszenen des Stückes, Parallelen, in denen das Motiv nun freilich eine andere und sehr charakteristische Färbung bekommt. Das Drama beginnt bekanntlich damit, daß der Liebhaber der Geliebten, wenn auch unwissentlich (da er nicht weiß, wie sie heißt und wer sie ist) den Tod schwört; mit besonderer Betonung wird hervorgehoben, daß der Schwur Ottokars nicht bloß Agnes' Vater Sylvester, sondern daß er seinem ganzen Haus, dem „Mörderhaus Sylvesters" gilt. Allerdings wird dieses Motiv dann nicht wirklich durchgeführt: ein ernsthafter Konflikt entwickelt, sich aus Ottokars Racheschwur und seiner Liebe nicht. Um so bezeichnender ist es aber, welche Rolle der Gedanke, daß Ottokar die Geliebte eigentlich ermorden müßte, trotzdem spielt. In der ersten Liebesszene des Dramas, II, 1, versucht Ottokar zu erfahren, wer seine unbekannte Geliebte ist. Und als er infolge eines Irrtums glaubt, annehmen zu können, daß sie nicht aus dem Hause seiner Todfeinde stammt, da sagt er (Vers 749f.): Mädchen! Mädchen! 0 Mein Gott, so brauch ich dich ja nicht zu morden! Darauf Agnes: „Morden?" Und als Ottokar glücklich und beruhigt sie bittet, „uneingeschränkt Vertrauen" zu ihm zu haben und ihm ihren Namen zu nennen, da kommt sie auf das Thema zurück (Vers 774): Du sprachst von Mord,
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worauf die äußerst charakteristische, die Penthesilea vorausahnende Antwort Ottokars folgt, der doch tatsächlich von Mord gesprochen hat: Von Liebe sprach ich nur. Und dann tauchen in den sich anschließenden Versen der Agnes noch einmal die beiden Begriffe auf: Von Liebe, hör ich wohl, sprachst du mit mir, Doch sage mir, mit wem sprachst du vom Morde? Ein paar Worte später, als Johann, Ottokars Halbbruder, auftritt, ist Agnes sofort wieder mit dem Gedanken bei der Hand (Vers 781): Wollt ihr mich morden? Nachdem sie dann am Schluß des zweiten Aktes durch Jeronimus erfahren hat, wer Ottokar tatsächlich ist und daß er „ihr den Tod geschworen" hat, hat sie nicht den geringsten Zweifel, daß sie wirklich von ihm getötet werden wird. Im Anfang der zweiten Liebesszene des Dramas, der ersten Szene des dritten Aktes, ist sie von dieser Vorstellung völlig beherrscht. Nachdem sie schon II, 1 bei der Trennung von Ottokar am Schluß der ersten Liebesszene angedeutet hatte, daß sie bereit sei, zu sterben, erwartet sie jetzt mit der größten Selbstverständlichkeit (es handelt sich dabei nicht um Mißtrauen, sondern um eine ganz feststehende, unumstößliche Erwartung), von dem Geliebten umgebracht zu werden. Ihre Worte, zunächst unverstanden von Ottokar, kreisen ständig um diesen Gedanken. Als ihr Ottokar dann nach einer Weile Wasser zu trinken gibt, ist sie überzeugt, daß es Gift ist, und als sie es getrunken hat, ist sie ebenso überzeugt, sterben zu müssen. Erst als Ottokar gleichfalls trinkt, sieht sie ihren Irrtum ein; doch die Auflösung des Irrtums geht bezeichnenderweise mit Worten vor sich, die an der Vorstellung des Sterbens festhalten (Vers 1333ff.): Ottokar: Agnes:
Gib mirs, (nämlich das vermeintliche Gift) Ich sterbe mit dir. (Er trinkt) Ottokar! (Sie fällt ihm um den Hals) Ottokar! 0 wär es Gift, und könnt ich mit dir sterben!
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Am Schluß der Szene, nachdem die beiden sich lange über die Zukunft, über den Zwist der Väter und darüber, wie er glücklich geschlichtet werden könne, unterhalten haben, kommen sie, wenigstens im Scherz, noch einmal auf Agnes' alte Gedanken zurück (Vers 1496 ff.): Ottokar:
Null gut; Das nächste Mal geb ich dir Gift.
Agnes: (lacht) Frisch aus Der Quelle, du trinkst mit. Das umfangreiche Zwischenstück zwischen diesen Schlußversen und den ersten der Szene, die dem Thema Gift und Mord gewidmet waren, ist von einer merkwürdig langweiligen Spitzfindigkeit und Gefühlsdürre. Etwas, das für die Liebe und die Empfindungen der Liebenden gegeneinander wesentlich wäre, findet sich hier nicht. Man kann wohl sagen, daß der Gefühlsgehalt der ganzen sonderbaren Liebesszene in den besprochenen Anfangs- und Schlußpartien ausgedrückt ist, und daß er, abgesehen von der Forderung des- unbedingten Vertrauens, die Ottokar wiederholt stellt, im wesentlichen von der Vorstellung gespeist wird, daß der Liebhaber die Geliebte tötet. Vielleicht meint man: es handelt sich in der Familie Schroff enstein um die Liebestragödie der Kinder zweier auf den Tod verfeindeter Familien; und da ist es verständlich, wenn die Liebenden sich zutrauen, daß einer den anderen ermorden muß und will. Gewiß, es mag verständlich sein, aber es ist doch alles andere als selbstverständlich ; und auffällig ist eben die völlige Selbstverständlichkeit, mit der Agnes ihrer Ermordung entgegensieht, und mit der das Mordmotiv immer wieder erscheint. Außerdem, wenn man bedenkt, wie viel andere Motive Kleist zur Verfügung standen, so bleibt bezeichnend, daß seine Helden dauernd gerade auf dieses Motiv verfallen, ein Motiv, das noch dazu für den Gang der Handlung ganz unwesentlich ist. Man sehe sich die beiden großen Liebespaare der Weltliteratur an, die gleichfalls an dem Zwist ihrer Häuser zugrunde gehen, und die bis zu einem gewissen Grade das Vorbild von Ottokar
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und Agnes sind: Romeo und Julia und Max und Thekla. Für beide Paare kommt der Gedanke, daß sie einander ermorden könnten, überhaupt nicht in Betracht. Man sieht, zu der Todesvorstellung und Todeserwartung, wie sie sich in der Kleidertauschszene fand, ist ein neues Moment hinzugetreten. Dabei hat Ottokar sehr kurz die flüchtige Vorstellung, daß er Agnes eigentlich töten müsse; Agnes hat sehr lange die sehr intensive Vorstellung, daß sie von Ottokar getötet werden müsse. Freilich will Ottokar nicht töten, und Agnes will nicht sterben. Anders verhält es sich nun, was den "Willen zum Töten und Sterben anlangt, in der zweiten Liebesbeziehung der Familie Schroffenstein, der zwischen Agnes und Ottokars Halbbruder Johann. Zunächst ist sehr merkwürdig, was über die erste Begegnung Johanns mit Agnes gesagt wird (I, 1). Johann ist in einen Fluß gestürzt, er ist halbtot, und Agnes rettet ihn; aber dabei ist sie nackt: ein nacktes Mädchen bei einem fast Sterbenden — eine stark erotische Vorstellung, in der das uns bekannte Todesmotiv oder doch ein Motiv, das ihm ganz nahe kommt, anklingt: jedenfalls erscheinen die Vorstellungen Liebe und Sterben wieder eng zusammengerückt. Und wenn dann Johann sagt, während er beschreibt, wie ihn Agnes (nun wieder bekleidet) verbindet (Vers 299f.): Still saß ich, rührte nicht ein Glied, Wie ein Taub in Kindeshand, so wird man auch da an das Motiv wieder erinnert: der Zustand des willenlosen, ohnmächtigen Hingegebenseins und damit des dem Tode Naheseins kann kaum stärker ausgedrückt werden. Indessen viel charakteristischer ist der Anfang der dritten Szene des zweiten Aktes, der einzigen Begegnung zwischen Johann und Agnes, bei der die beiden miteinander reden, und die auf der Bühne spielt1). Johann hat inzwischen (II, 1) von Ottokar erfahren, daß Agnes diesen und nicht ihn liebt; er hat darauf vergeblich Ottokar 1 Sonst kommt es nur zu der schon erwähnten ganz kurzen Begegnung II, 1, wo Johann im Hintergrund bleibt und Agnes nicht anredet; doch finden sich hier Agnes' schon zitierte Worte: „Wollt Ihr mich morden?"
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zu zwingen versucht, ihn zu töten, und nun ist er Agnes vor die Tore von Warwand gefolgt, wo es zu dem folgenden Auftritt kommt (Vers 1031 ff.): Agnes: Zu Hilfe! Zu Hilfe! Johann: (ergreift sie) So höre mich doch, Mädchen! Es folgt dir ja kein Feind, ich liebe dich, Ach, lieben! Ich vergöttre dich! Agnes: Fort, Ungeheuer, bist du nicht aus Rossitz? Johann: Wie kann ich furchtbar sein? Sieh mich doch an; Ich zittre selbst vor Wollust und vor Schmerz, Mit meinen Armen dich, mein ganzes Maß Von Gluck und Jammer zu umschließen. Agnes: Was willst du, Rasender, von mir? Johann: Nichts weiter. Mir bist du tot, und, einer Leiche gleich, Mit kaltem Schauer drück' ich dich ans Herz. Agnes: Schützt mich, ihr Himmlischen, vor seiner Wut! Johann: Sieh, Mädchen, morgen lieg ich in dem Grabe, Ein Jüngling, ich — nicht wahr, das tut dir weh? Nun, einem Sterbenden schlägst du nichts ab, Den Abschiedskuß gib mir! (Er küßt sie.) Agnes: Errettet mich, Ihr Heiligen! Johann: Ja, rette du mich, Heiige! Es hat das Leben mich wie eine Schlange, Mit Gliedern, zahllos, ekelhaft, umwunden. Es schauert mich, es zu berühren. — Da, Nimm diesen Dolch — Agnes: Zu Hilfe! Mörder! Hilfe! Johann: (streng) Nimm diesen Dolch, sag ich — Hast du nicht einen Mir schon ins Herz gedrückt? Agnes: Entsetzlicher! (Sie sinkt besinnungslos zusammen.)
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Johann: (sanft) Nimm diesen Dolch, Geliebte — Denn mit Wollust, Wie deinem Kusse sich die Lippe reicht, Reich ich die Brust dem Stoß von deiner Hand. Hier werden Dinge gesagt, die in den Szenen zwischen Ottokar und Agnes nicht ausgesprochen sind: „Wollust und Schmerz", die Geliebte das „ganze Maß von Glück und Jammer" und dem Liebhaber „tot und einer Leiche gleich", die er mit kaltem Schauer ans Herz drückt, er „ein Sterbender", Mit Wollust, Wie deinem Kusse sich die Lippe reicht, Reich ich die Brust dem Stoß von deiner Hand. Die Beziehung zwischen Johann und Agnes hat nur episodenhaften Charakter. Johann ist eine Nebenfigur, die nicht weiter ausgeführt ist:, seine Gedanken und Handlungen, seine seelische Haltung werden nicht genauer begründet. Aber man sieht sofort, daß in dem, was er in seiner Liebesraserei und Liebesenttäuschung sagt, das Motiv Liebe und Tod viel tiefer, sozusagen innerlicher gefaßt ist als in dem Verhältnis Ottokar—Agnes. Hier war der Gedanke, die Liebe durch den TW zu ersetzen, nur durch die Umstände gegeben, und beide Liebenden, erst Agnes in der Erwartung des' Giftmordes, dann Ottokar in der Erwartung des Opfertodes für Agnes, fanden sich zwar sehr rasch damit ab, aber sie ersehnten den Tod nicht an sich. Bei Johann dagegen hat sich die Liebessehnsucht wirklich in Todessehnsucht verwandelt. Liebe und Tod sind für ihn eins: von der Hand der Geliebten zu sterben ist ihm dasselbe, wie von ihr geliebt zu werden, und die Geliebte ist in seinem wahnsinnigen Gestammel für ihn zur Leiche geworden. Freilich ist Johanns Wunsch und Wille, Liebe und Tod gleichzusetzen, die Folge einer aussichtslosen Liebe und nicht von Anfang an ein Bestandteil dieser Liebe gewesen. Doch wenn man von dieser Einschränkung absieht, so kann man sagen: die kurze Szene zwischen Johann und Agnes vor dem Tore von Warwand ist bereits aus denselben Ingredienzien gemischt, aus denen sich die Penthesilea zusammensetzt.
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Penthesilea Was in der Familie Schroffenstein in Andeutungen und Vorstufen vorhanden ist, das macht in der Penthesilea das Wesentliche der Charaktere und der Handlung aus. Ich erinnere zunächst an die Katastrophe.
Penthesilea hat in
ihrem Liebesschmerz und ihrer Liebesverzweiflung von Achill die Aufforderung bekommen, sich von neuem mit ihm im Kampfe zu messen. E r will den Kampf nur zum Schein, um sich von ihr überwinden zu lassen und ihr dann nach Themiskyra zu folgen.
Doch
sie fällt vollends in Raserei und Wahnsinn und bietet alle Schrecknisse des Krieges, Hunde, Elefanten und Sichelwagen a u f : so zieht sie „dem Jüngling, den sie liebt, entgegen". E r , der ihr „voll süßer Ahndungen" genaht war, versucht zu fliehen, aber sie jagt ihm den Pfeil durch den Hals und stürzt mit ihren Hunden über ihn her. E r , in dem Purpur seines Bluts sich wälzend, Rührt ihre sanfte Wange an und ruft: Penthesilea! meine B r a u t ! was tust du? Ist dies das Rosenfest, das du versprachst? Doch sie — die Löwin hätte ihn gehört, Die hungrige, die wild nach Raub umher Auf öden Schneegefilden heulend treibt
—
Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust, Sie und die Hunde, die wetteifernden, Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte, In seine linke sie
(Vers 2662 ff.)
Was hier geschildert wird, ist, um es mit dürren Worten zu sagen, ein Lustmord, und die Gewalt der Schilderung und die Kunst des Dichters, der diese Katastrophe psychologisch begreiflich und notwendig und ihre Schilderung künstlerisch erträglich macht, ändern daran ebensowenig wie der Umstand, daß der Mord im Wahnsinn geschieht.
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Es folgt dann, nachdem Penthesilea aus der Nacht ihres Wahnsinns erwacht ist (und dieses Erwachen wird von Kleist wieder mit unnachahmlicher Schönheit und Zartheit geschildert), das Ende, der Selbstmord der Penthesilea, indem sie sich ohne äußeres Werkzeug nur durch die Kraft und den Schmerz ihrer Seele tötet (Vers 3025ff.): Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, Mir ein vernichtendes Gefühl hervor. . Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tränk es mit Gift sodann, Heißätzendem der Reue, durch und durch; Trag es der Hoffnung ewgem Amboß zu Und schärf und spitz es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust: So ! So! So! So! Und wieder! — Nun ists gut. Jammer und Reue — selbstverständlich bereut und bejammert Penthesilea ihre Tat, und es ist auch selbstverständlich, daß sie nach dieser Tat nur noch sterben kann. Aber man mißversteht sie und ihre seelische Haltung doch völlig, wenn man meint, daß sie den Mord an Achill etwa als eine Handlung des Wahnsinns, als eine ihr fremde Handlung ablehnt. Sie erkennt ihn als zu ihr gehörig vollkommen an, und nicht bloß das: sie bejaht ihn, und trotz aller Reue und allem Entsetzen stimmt sie nach ihrem Erwachen der Wahnsinnstat zu: sie wiederholt sie geradezu in ihren Empfindungen und Gefühlen, und sie sagt deutlich genug, daß ihre Tat eine Tat der Liebe gewesen ist. Nachdem Penthesilea erfahren hat, daß Achill tot ist, und nachdem sie seine verstümmelte und mit Wunden bedeckte Leiche gesehen hat, bricht sie in die Worte aus (Vers 2907ff.): Ach, diese blutgen Rosen! Ach, dieser Kranz von Wunden um Sein Haupt! Ach, wie die Knospen, frischen Grabduft streuend, Zum Fest für die Gewürme, niedergehn.
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Darauf antwortet Prothoe: Und doch war es die Liebe, die ihn kränzte! Und Meroe: Nur allzu fest! Und wieder Prothoe: Und mit der Rose Dornen, In der Beeifrung, daß es ewig sei! Wenn Prothoe sagt: „Und doch war es die Liebe, die ihn kränzte", so bestätigt sie damit nur, was bereits in den Worten der Penthesilea, wenn auch nur andeutend und im Bilde ausgedrückt, enthalten ist. Die Rosen, das sind die Blumen der Liebe, und als Blumen der Liebe gehen sie in ständiger Wiederholung und in immer neuen Bildern durch die ganze Tragödie. Mit Rosen wurde der Geliebte nach seiner vermeintlichen Gefangennahme in der großen Liebesszene des Stückes (Vers 1749 ff.) bekränzt, und das Rosenfest in Themiskyra sollte das Liebesfest sein, das die Liebenden endgültig vereinte. Wenn jetzt Penthesilea die Todeswunden Achills als „blutge Rosen", als „Knospen, frischen Grabduft streuend" bezeichnet, so werden damit nicht nur Vernichtung und Verwesung mit einer fast zärtlichen Inbrunst angesprochen, es wird auch direkt an jene Vorstellungen und Hoffnungen der Liebe erinnert; ja fast wörtlich klingt an, was Penthesilea früher in der Liebesszene zu Achill gesagt hatte (Vers 1781): Es sind die Rosen, die Gerüche streun. Sind aber die Wunden Rosen, so war es wirklich, wie Prothoe sagt, die Liebe, die den Toten damit bekränzte. Noch viel deutlicher wird das im weiteren Verlauf des Dialogs. Penthesilea weiß zunächst nicht, oder sie scheint es nicht zu wissen, daß sie es war, die Achill so furchtbar verstümmelte. Sie will wissen, wer es gewesen ist, und das drückt sie mit den Worten aus (Vers 2914f.): Das aber will ich wissen, Wer mir so gottlos neben hat gebuhlt. Töten und Verstümmeln sind also ein Buhlen. Und mit einer merkwürdigen, grauenhaften Mischung von Furcht und, man möchte fast sagen, lüsterner Hoffnung, entdecken zu müssen, daß L i n t z e I, Liebe und Tod bei Heinrich von Kleist
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sie es selbst war, die Achill verstümmelte, führt sie die Enthüllung herbei (Vers 2956ff.): Was 1 Ich? Ich hätt ihn —? Unter meinen Hunden —? Mit diesen kleinen Händen hätt ich ihn —? Und dieser Mund hier, den die Liebe schwellt —? Ach, zu ganz anderm Dienst gemacht, als ihn —I Die hätten, lustig stets einander helfend, Mund jetzt und Hand und Hand und wieder Mund —? Und obgleich sie im ersten Augenblick noch einwendet: „Ihr lügt", so nimmt sie doch rasch und ohne Widerspruch, ja lächelnd und mit einem glücklichen Entsetzen, die Entdeckung auf: „Ich zerriß ihn?" — „Küßt' ich ihn tot?" „Nicht? Küßt ich ihn nicht? Zerrissen wirklich? Sprecht!" So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, Kann schon das eine für das andre greifen. Und wie es gemeint war und gemeint ist, das sagt sie dann noch einmal in aller Deutlichkeit (Vers 2985 ff.): Du ärmster aller Menschen, du vergibst mir! Ich hab mich, bei Diana! bloß versprochen, Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin; Doch jetzt sag ich dir deutlich, wie ichs meinte: Dies, du Geliebter, wars und weiter nichts. (Sie küßt ihn) Wie manche, die am Hals des^ Freundes hängt, Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr, Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte; Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin! Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon. Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht. Sieh her: als ich an deinem Halse hing, Hab ichs wahrhaftig Wort für Wort getan; Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien.
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Bisse sind Küsse, und Töten ist Lieben, das ist der Inhalt dessen, was Penthesilea getan hat: die Tat des Wahnsinns wird nach dem Erwachen legitimiert. Aber sie ist auch schon, bevor sie geschieht, in dem, was Penthesilea denkt und fühlt, potentiell vorhanden. Ihr Wahnsinn ist nicht ein Anderssein, ein Heraustreten aus ihrem Wesen, sondern nur eine Steigerung ihres Wesens, wie es sich schon längst vor der Katastrophe zeigt. Das Gesetz des Amazonenstaates, in dem Penthesilea geboren und groß geworden ist, zwingt sie, den, den sie zum Geliebten gewinnen will, mit der Waffe zu suchen und zu überwinden (Vers 1887ff.): Sie ist mir nicht, Die Kunst vergönnt, die sanftere, der Frauen! Nicht bei dem Fest, wie deines Landes Töchter, Wenn zu wetteifernd frohen Übungen Die ganze Jugendpracht zusammenströmt, Darf'ich mir den Geliebten ausersehen; Nicht mit dem Strauß, so oder so gestellt, Und dem verschämten Blick ihn zu mir locken; Nicht in dem Nachtigall-durchschmetterten Granatwald, wenn der Morgen glüht, ihm sagen, An seine Brust gesunken, daß ers sei. Im blutgell Feld der Schlacht muß ich ihn suchen, Den Jüngling, den mein Herz sich auserkor, Und ihn mit ehrnen Armen mir ergreifen, Den diese weiche Brust empfangen soll. Aber Penthesilea denkt nicht daran, dieses Gesetz als einen Zwang und eine Last zu empfinden. Sie lebt und webt völlig darin, es ist zugleich das Gesetz ihres eigenen Innern, und wenn sie fragt (Vers 1187 f.): Ists meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben? so muß man sagen, es ist zwar nicht ihre Schuld, aber es ist ihr Wille. 2*
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Selbstverständlich will sie Achill zu Anfang nicht töten. Sie verbietet ihren Amazonen ausdrücklich, ihn zu verwunden, und als sein Leben beim Kampf mit dem Trojaner Deiphobos in ihre Hand gegeben ist, da schont sie es (Vers 167 ff.)- Sie betont immer wieder, daß sie ihn weder töten noch verletzen will. So sagt sie zu Achill, als sie ihn besiegt zu ihren Füßen wähnt (Vers 1758f.): Glaube nicht, Daß ich jemals nach deinem Leben zielte. Oder vorher zu den Amazonen (Vers 1189ff.): Was will ich denn, wenn ich das Schwert ihm zücke? Will ich ihn denn zum Orkus niederschleudern? Ich will ihn ja, ihr ewgen Götter, nur An diese Brust will ich ihn niederziehn! Oder (Vers 861 ff.): Hebt euch, ihr Frühlingsblumen, seinem Fall, Daß seiner Glieder keines sich verletze! Blut meines Herzens mißt ich ehr als seines. Nicht eher ruhn will ich, bis ich aus Lüften, Gleich einem schöngefärbten Vogel ihn Zu mir herabgestürzt; doch liegt er jetzt Mit eingeknickten Fittichen, ihr Jungfraun, Zu Füßen mir, kein Purpurstäubchen missend, Nun dann, so mögen alle Seligen Daniedersteigen, unsern Sieg zu feiern. Und sie versichert (Vers 1181 ff.): Dem Bären kauert ich zu Füßen mich Und streichelte das Panthertier, das mir In solcher Regung nahte wie ich ihm. Ja, aber zu dieser Regung und dieser Liebe, die Achill nur an ihren Busen niederziehen will, und die eher ihr eigenes Herzblut als seines vergießt, gehört eben völlig untrennbar dazu, daß der Geliebte gleich einem schöngefärbten Vogel aus der Luft herabgestürzt wird, und daß er mit geknickten Fittichen zu Penthesileas Füßen liegt.
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Und wenn sie ihm versichert, daß sie nie nach seinem Leben zielte, so setzt sie doch hinzu (Vers 1760): Zwar gern mit diesem Arm hier traf ich dich. In ihren Worten an den nach ihrer Meinung Besiegten und Gefangenen findet sich in Erinnerung an das Bild von dem aus der Luft herabgestürzten Vogel die Wendung (Vers 1769ff.): Nun denn, so wirst du dich Nicht mehr als eine junge Taube regen, Um deren Hals ein Mädchen Schlingen legt, eine Wendung, die uns übrigens aus der Familie Schroffenstein schon bekannt ist, und in der sich der Wunsch, den Geliebten willenlos und hilflos und damit todesnahe zu sehen, einigermaßen deutlich ausdrückt. Penthesilea versichert, daß sie Achill nicht töten und verletzen, sondern lieben will. Aber sie will ihn besiegen, fällen und niederwerfen, und sie kann ihn nur lieben, nachdem, oder man müßte vielleicht besser sagen, indem sie ihn besiegt, fällt und niederwirft. Reicht mir der Spieße treffendsten, o reicht Der Schwerter wetterflammendstes mir her! Die Lust, ihr Götter, müßt ihr mir gewähren, Den einen heiß ersehnten Jüngling siegreich Zum Staub mir noch der Füße hinzuwerfen. Das ganze Maß von Glück erlaß ich euch, Das meinem Leben zugemessen ist (Vers 842 ff.). Oder: Ich will zu meiner Füße Staub ihn sehen (Vers 638) und ihn Mir überwinden oder leben nicht. (Vers 654 f.) Oder: Da er vom Windzug eines Streiches muß, Getroffen, unter meines Rosses Huf, Wie eine reife Südfrucht niederfallen. (Vers 710 ff.) Wenn hier das Fällen und Niederwerfen als Vorbedingung ihrer Liebe erscheint, so daß man sich fragt, wieweit es nicht schon mit
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ihrer Liebe identisch ist, so wird diese Identität direkt ausgesprochen in den Versen (1761 f.): als du niedersankst, beneidete Hier diese Brust den Staub, der dich empfing. Und von da bis zu eigentlichen Todeswünschen gegen Achill ist dann nur ein kurzer Schritt. Als es Penthesilea nicht gelingt, ihn zu besiegen, sondern im Gegenteil sie von ihm niedergeworfen wird, da bricht sie sofort in eine Raserei aus, die dem Wahnsinn der Schlußkatastrophe ganz ähnlich ist (Vers 1170ff.): Hetzt alle Hund auf ihn! Mit Feuerbränden Die Elefanten peitschet auf ihn los! Mit Sichelwagen schmettert auf ihn ein Und mähet seine üppgen Glieder nieder! Und das in demselben Augenblick, in dem sie versichert, daß sie ihn nur an ihre Brust niederziehen und daß sie das Panthertier streicheln möchte, das ihr mit derselben Regung nahte wie sie Achill. Man sieht: die Gefühle des Liebenwollens und des. Tötenwollens gehen tatsächlich untrennbar ineinander über. Eine unauflösbare Mischung, die schön und richtig in den Versen des Achill so ausgesprochen wird (Vers 596 ff.): Brautwerber schickt sie mir, gefiederte, Genug in Lüften zu, die ihre Wünsche Mit Todgeflüster in das Ohr mir raunen. Wenn die Katastrophe der Tragödie durch einen Zufall, ein Mißverständnis herbeigeführt wird (indem Penthesilea die Herausforderung Achills falsch versteht), so wird doch niemand das Ende als eine Sinnlosigkeit empfinden. Bei der seelischen Struktur der Penthesilea kann es nur zu einer Katastrophe kommen, und wodurch sie ausgelöst wird, ist gleichgültig: ihre Liebe kann nur im Töten enden 1 ). 1 Daß Kleist selber die Sache so ansah, sagt er in dem Brief vom Herbst 1807 (an Henriette Hendel-Schütz (?) in Kleists Werken 5, Nr. 103, S. 359): „Sie (Penthesilea) hat ihn wirklich aufgegessen, den Achill, vor Liebe."
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Dieselbe Haltung wie die Amazonenkönigin zeigt aber auch ihr Gegenspieler Achill. Man hat schon öfter init Recht bemerkt, daß er eigentlich weiter nichts ist als eine ins Männliche gewandte Penthesilea. Jedenfalls gleicht er ihr auch darin, daß Liebes- und Todeswünsche gegen die Geliebte bei ihm ineinander übergehen. Wenn er sie verfolgt und trotz aller Vorstellungen seiner Freunde vom Kampf mit ihr nicht lassen will, so ist schon das nichts als (ihm zunäc st noch nicht bewußte oder nur halbbewußte) Liebe. Wie sehr in seine Verfolgungs- und Mordabsichten wirklich schon Liebesvorstellungen hineinspielen, das zeigen etwa die Verse (599 ff.): Im Leben keiner Schönen war ich spröd; Seit mir der Bart gekeimt, ihr lieben Freunde, Ihr wißts, zu Willen war ich jeder gern: Und wenn ich dieser mich gesperrt bis heute, Beim Zeus, des Donners Gott, geschahs, weil ich Das Plätzchen unter Büschen noch nicht fand, Sie ungestört, ganz wie ihr Herz es wünscht, Auf Kissen heiß von Erz im Arm zu nehmen. Kurz, geht: ins Griechenlager folg ich euch; Die Schäferstunde bleibt nicht lang mehr aus: Doch müßt ich auch durch ganze Monden noch Und Jahre um sie frein; den Wagen dort Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken, Ich schwörs, und Pergamos nicht wiedersehn, Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht, Und sie, die Stirn bekränzt init Todeswunden, Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen. Er will ihr also dasselbe tun, was ihm nachher von ihr geschieht, und selbst in den Worten, die er spricht, klingen die Worte an, die dann Penthesilea beim Anblick seiner Todeswunden sprechen soll. Schließlich wird Achill klar, daß er Penthesilea wirklich liebt, und es ist bezeichnend, daß das in dem Augenblick geschieht, in dem sie von ihm besiegt „im Staub sich vor ihm wälzt" und ihn ein „Blick der Sterbenden traf" (Vers 1128 ff.).
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Auch jetzt bleiben die Vorstellungen Lieben und Töten in engster Nachbarschaft und Beziehung. Man denke an die Worte, die Achill mit Prothoe wechselt, während die besiegte und gefangene Amazonenkönigin ohnmächtig zu seinen Füßen liegt (Vers 1513ff.): Achilles: Mein Will' ist, ihr zu tun, muß ich dir sagen, Wie ich dem stolzen Sohn des Priam tat. Prothoe: Wie, du Entsetzlicher! Achilles: Fürchtet sie dies? Prothoe: Du willst das Namenlos' an ihr vollstrecken? Hier diesen jungen Leib, du Mensch voll Greuel, Geschmückt mit Reizen, wie ein Kind mit Blumen, Du willst ihn schändlich, einer Leiche gleich —? Und mit einem plötzlichen Umschlagen der Stimmung Achills Antwort: Sag ihr, daß ich sie liebe. Prothoe: Wie? — Was war das?' Achilles: Beim Himmel, wie! Wie Männer Weiber lieben; Keusch und das Herz voll Sehnsucht doch, in Unschuld Und mit der Lust doch, sie darum zu bringen. Ich will zu meiner Königin sie machen. Man sieht, es ist dieselbe Vermischung und Verwirrung der Gefühle wie bei Penthesilea selbst: wenn Achill vom Töten spricht, so meint er Liebe, und wenn er von Liebe spricht, so steht der Gedanke aji den Mord gleich daneben. Wie die Liebe im Handeln Töten ist, so ist sie im Dulden Sterben. Alle Versuche, den Tod der Penthesilea als Folge und Sühne einer tragischen Schuld hinzustellen, scheinen mir abwegig zu sein, oder höchstens eine Nebensache, ein Nebenher neben dem Eigentlichen und Wesentlichen zu treffen. Ihr Sterben ist für sie selbst wenigstens nichts als die Ergänzung, sozusagen die andere Seite ihres Liebesmordes an Achill; wie auf den Orgasmus die Ermattung, so folgt auf ihren mörderischen Liebeswahnsinn der Tod. Und dabei ist ihr eigener Untergang von Anfang an genau so wie die Besiegung und schließlich Tötung Achills ein Ziel ihrer Liebessehnsucht.
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Penthesilea spricht zweimal von ihrem Reifsein zum Tode, und hat, wie erinnerlich, das Drama als die Tragödie des Reifwerdens zum Tode bezeichnet. Doch wenn man unter Reife etwas Geistiges und Ethisches versteht, so scheint mir von einem Reifwerden zum Tode bei Penthesilea nicht die Rede zu sein. Penthesilea überwindet weder sich selbst noch die Welt, und sie vollbringt keine sittliche Tat; sie rast nur ihre Gefühle bis zum Ende aus, und wenn sie von ihrer Todesreife redet, so meint sie das nicht anders, als wenn sie von Achill gesagt hatte, er müsse wie eine „reife Südfrucht" zu ihren Füßen niederfallen. Beidemal erscheint die Wendung von der Todesreife in einem Augenblick, in dem Penthesilea sich am Ziel'ihrer Wünsche wähnt, und in dem sie glaubt, den Peliden überwunden zu haben. Das erste Mal, als ihr nach ihrer Niederlage Achill und Prothoe vorspiegeln, sie habe gesiegt. Da ist ihre Reaktion ein ekstatischer Hymnus des Jubels, der mit den Worten endet (Vers 1674ff.): 0 laß mich, Prothoe! 0 laß dies Herz Zwei Augenblick in diesem Strom der Lust, Wie ein besudelt Kind, sich untertauchen; Mit jedem Schlag in seine üppgen Wellen Wäscht sich ein Makel mir vom Busen weg. Die Eumeniden fliehn, die Schrecklichen, Es weht wie Nahn der Götter um mich her, Ich möchte gleich in ihren Chor mich mischen, Zum Tode war ich nie so reif als jetzt. Und dann ganz zum Schluß, als sie, aus ihrem Wahnsinn erwachend, anscheinend meint, Achill nur überwunden aber nicht getötet zu haben (Vers 2864 ff.): Ich bin so selig, Schwester! Überselig! Ganz reif zum Tod, Diana, fühl ich mich! Zwar weiß ich nicht, was hier mit mir geschehn, Doch gleich des festen Glaubens könnt ich sterben, Daß ich mir den Peliden überwand. Man sieht, in beiden Fällen handelt es sich nicht bloß nicht um ethische, Welt und Ich überwindende Gesichtspunkte. In beiden UNGER
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Fällen hat auch Penthesileas Todeswunsch nichts mit einer Sühne für Achills Ermordung zu tun; er ist nicht einmal eine Folge seines Todes; die Todessehnsucht der Amazonenkönigin ist weiter nichts als der Ausdruck ihres höchsten Glücksgefühls. In dem Augenblick, in dem sie ihre Liebessehnsucht erfüllt glaubt, ist sie reif zum Tode. Ihre Todesreife ist die Kehrseite ihres Wunsches, den Geliebten zu töten; sie kann sich nur ihn mordend und selbst sterbend mit ihm vereinigen. In diesen Zusammenhang scheint mir noch etwas anderes zu gehören, nämlich die höchst merkwürdige Erzählung der Penthesilea von der Selbstverstümmelung der Amazonen. Bei der Gründung des Amazonenstaates habe Tanais, die erste Königin, um den Bogen besser spannen zu können, sich die rechte Brust abgerissen, und seitdem seien alle Amazonen diesem Beispiel gefolgt. Achills Frage (Vers 2006ff.): Und alle diese blühenden Gestalten, Die dich umstehn, die Zierden des Geschlechts, Vollständig, einem Altar gleich, jedwede Geschmückt, in Liebe davor hinzuknien, Sie sind beraubt, unmenschlich, frevelhaft?, diese Frage kann Penthesilea nur bejahen. Goethe dürfte trotz aller Mißbilligung, die seine Verurteilung der Penthesilea gefunden hat, mindestens mit seinen Einwänden gegen diese Erzählung vollkommen recht behalten: sie bleibt geschmacklos, und es scheint mir Kleist, dessen Kunst es sonst in der Penthesilea fast durchweg gelungen ist, das Heikelste und Unerträglichste erträglich zu machen, nicht gelungen zu sein, diese Erzählung ästhetisch zu b&wältigen. Doch gleichgültig, wie sich das verhält, für unsere Fragestellung ist wesentlich, daß bei dem Bewußtsein der Verstümmelung der Penthesilea und der Amazonen eine ganz* starke erotische Komponente mitspielt. Der Vorstellung oder besser dem Gefühl, daß die Liebe tödlich ist, entspricht es, daß ausgerechnet die Brust der Liebenden und Geliebten, „der Sitz der jungen, lieblichen Gefühle" (Vers 2013), verletzt und verstümmelt wird, und es
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ist denn auch bezeichnend,, daß Achill, als er Penthesilea besiegt und niederwirft (und in demselben Augenblick erkennt er seine Liebe zu ihr), ihr die Brust zerreißt. 3. Die Hermannsschlacht Die Familie Schroffenstein und die Penthesilea sind die beiden einzigen Liebestragödien, die Kleist geschrieben hat, und überhaupt die beiden einzigen Tragödien im eigentlichen Sinne des Wortes, die von ihm vollendet worden sind. Alle übrigen Dramen haben einen „glücklichen" Ausgang, insofern als ihre Helden am Leben bleiben. Aber wenn auch Ottokar und Agnes und Achill und Penthesilea die beiden einzigen. Liebespaare sind, die mit dem Tode enden, so gibt es in Kleists Dramen doch noch eine Liebesbeziehung, in der wenigstens der eine Partner sterben muß. Das ist das Verhältnis des Ventidius zu Thusnelda in der Hermannsschlacht, an dem Ventidius zugrunde geht. Dies Verhältnis ist nur skizziert; es hat ähnlich wie die Beziehung Agnes—Johann in der Familie Schroffenstein nur episodenhaften Charakter, und im übrigen fehlt ihm (anders als dieser Beziehung) so gut wie jede Tiefe. Es handelt sich nicht um Liebe, sondern um Liebelei; vor allem aber und infolgedessen handelt es sich nicht um eine wirklich tragische, sondern um eine allenfalls tragikomische Angelegenheit oder vielmehr um eine grausige Burleske. Wenn man dies alles in Rechnung stellt und gehörig abzieht, so bleibt indessen doch ein Kern übrig, der an das erinnert, was wir aus der Penthesilea kennen. ^ Thusnelda tändelt auf den Wunsch Hermanns mit dem Legaten Ventidius, um den Römer gegen die Cherusker blind zu machen und in Sicherheit zu wiegen; und dabei, von seinen Liebesschwüren geschmeichelt, verliebt sie sich wenigstens so weit in ihn, daß sie empfindlich wird, als ihr Hermann versichert, Ventidius liebe sie gar nicht ernsthaft; und als sie erfährt, daß alle Römer umgebracht werden sollen, bittet sie ihren Gatten unter Tränen, den Legaten
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ist denn auch bezeichnend,, daß Achill, als er Penthesilea besiegt und niederwirft (und in demselben Augenblick erkennt er seine Liebe zu ihr), ihr die Brust zerreißt. 3. Die Hermannsschlacht Die Familie Schroffenstein und die Penthesilea sind die beiden einzigen Liebestragödien, die Kleist geschrieben hat, und überhaupt die beiden einzigen Tragödien im eigentlichen Sinne des Wortes, die von ihm vollendet worden sind. Alle übrigen Dramen haben einen „glücklichen" Ausgang, insofern als ihre Helden am Leben bleiben. Aber wenn auch Ottokar und Agnes und Achill und Penthesilea die beiden einzigen. Liebespaare sind, die mit dem Tode enden, so gibt es in Kleists Dramen doch noch eine Liebesbeziehung, in der wenigstens der eine Partner sterben muß. Das ist das Verhältnis des Ventidius zu Thusnelda in der Hermannsschlacht, an dem Ventidius zugrunde geht. Dies Verhältnis ist nur skizziert; es hat ähnlich wie die Beziehung Agnes—Johann in der Familie Schroffenstein nur episodenhaften Charakter, und im übrigen fehlt ihm (anders als dieser Beziehung) so gut wie jede Tiefe. Es handelt sich nicht um Liebe, sondern um Liebelei; vor allem aber und infolgedessen handelt es sich nicht um eine wirklich tragische, sondern um eine allenfalls tragikomische Angelegenheit oder vielmehr um eine grausige Burleske. Wenn man dies alles in Rechnung stellt und gehörig abzieht, so bleibt indessen doch ein Kern übrig, der an das erinnert, was wir aus der Penthesilea kennen. ^ Thusnelda tändelt auf den Wunsch Hermanns mit dem Legaten Ventidius, um den Römer gegen die Cherusker blind zu machen und in Sicherheit zu wiegen; und dabei, von seinen Liebesschwüren geschmeichelt, verliebt sie sich wenigstens so weit in ihn, daß sie empfindlich wird, als ihr Hermann versichert, Ventidius liebe sie gar nicht ernsthaft; und als sie erfährt, daß alle Römer umgebracht werden sollen, bittet sie ihren Gatten unter Tränen, den Legaten
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zu schonen. Da erzählt ihr Hermann, daß Yentidius eine Locke, die er ihr geraubt, statt sie als Liebespfand zu behalten, nach Rom an die Kaiserin Livia geschickt und ihr für den Fall der Unterwerfung der Cherusker Thusneldas ganzes Haupthaar in Aussicht gestellt habe. Diese etwas groteske Absicht versetzt sie in helle Wut, und sie beschließt sofort, den Übeltäter zu töten. Gewiß, dieser Mordwunsch liegt, ganz anders als der Penthesileas, nicht in den ursprünglichen Gefühlen der Thusnelda; es ist völlig klar, daß er ihrem Rachedurst entspringt und daß es sich für sie in erster Linie um Rache und nicht mehr um Liebe handelt. Aber doch um Rache aus enttäuschter Liebe, und enttäuschte Liebe ist schließlich auch Liebe. Vor allem aber, wie geht die Rache vor sich? Thusnelda lädt den Yentidius zur Nacht zu einem Stelldichein in einen heiligen Hain, wo ihn statt ihrer eine wilde Bärin erwartet, und statt der Liebe in den Armen der Cheruskerfürstin findet er in den Armen der Bärin von Cheruska den Tod. Eine Katastrophe, die wie eine Parodie auf die Katastrophe Achills in der Penthesilea aussieht, und die auf jeden Fall (wenn a,uch reichlich verzerrt) sehr Wesentliches aus ihrem Gefühlsgehalt wiederholt. Bezeichnend ist, daß sich sogar ein wörtlicher Anklang findet. Wenn es in der Penthesilea bei der Schilderung, des Mordes an Achill durch die Amazonenkönigin heißt: Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust (Vers 2670), so heißt es jetzt von der Bärin: Sie schlägt die Klaun in meine weiche Brust (Vers 2413). Ich sagte eben: ursprünglich ist in den Empfindungen der Thusnelda gegen Ventidius von Todeswünschen keine Rede. Aber einmal, sozusagen im Hintergrunde dieser Beziehung, steht doch von ihrem Beginn als ihr Ziel die Vernichtung des Ventidius (wie aller Römer); das ist die Absicht, mit der Hermann von seinem „Thuschen" das Liebesspiel mit dem Legaten verlangt. Und außerdem besteht die Liebelei, die Thusnelda mit ihm anzettelt und sich von ihm gefallen läßt, von Anfang an darin, daß sie ihn, meist ohne daß er es merkt, irgendwie mißhandelt und kränkt, indem sie ihn verspottet und
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sich über ihn lustig macht. Zuerst, als sie im ersten Akt mit ihm zusammentrifft, wobei sie ihn als ihren angeblichen Lebensretter auf der Jagd der allgemeinen Lächerlichkeit preisgibt. Und darauf, als sie im zweiten Akt zum zweiten und letzten Male vor der Mordszene sich mit ihm begegnet, wobei sie ihn wieder mit dem Jagdabenteuer aufzieht und dann hinhält und schließlich wieder verspottet; bezeichnend ist das Lied, das sie in seiner Gegenwart singt: von dem Knaben, der den Schimmer des Mondenscheins in eines Teiches Becken fangen wollte und dessen Hand, statt ihn zu fangen, nur naß wurde, — ein Spottlied, das den Gedanken: „statt Lust der Liebe Leid" persifliert. Thusnelda ist natürlich, was den passiven Teil ihrer Haltung anlangt, weit entfernt davon, an ihrer Liebelei sterben zu wollen. Aber immerhin, bei dem grausigen Ende dieser Liebelei fällt sie wenigstens in Ohnmacht. Und merkwürdig ist, eine wie starke Rolle der Gedanke der Todesgefahr (wenn auch scherzhaft gewandt) in beiden Dialogen mit Ventidius vor der Mordszene spielt;.im ersten wird das Gespräch völlig, im zweiten wenigstens im Anfang von der Vorstellung an den „fürchterlichen Tod", dem „Ungeheuer (nämlich dem Auerochsen) zu erliegen" bestritten. Tatsächlich hat Thusnelda in ihrer Liebesgeschichte mit Ventidius weiter nichts auszustehen, als daß sie enttäuscht und ihr eine Locke abgeschnitten wird. Dies letztere ist zweifellos ein einigermaßen komisches Moment, das aber doch die Vorstellung der Beraubung und Verstümmelung einschließt. Und gerade in diesem Sinne wird es gründlich ausgenützt. In den drei Gesprächen, in denen sich Hermann mit seiner Frau (II, 8; III, 3; i y , 9) über ihr Verhältnis zu Ventidius unterhält, ist fast von nichts anderem die Rede; so, wenn es heißt, die Römer wollen Thusnelda kahl scheren wie eine Ratze, oder Ventidius wolle sich sein Schäfchen für die Schurzeit kirren, oder wenn Hermann ihr als Beispiel dessen, was ihr bevorsteht, das Schicksal einer ubischen Frau vorhält, die drei Römer In Staub gelegt urplötzlich und gebunden und der sie nicht bloß vom Haupt hinweg
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Das Haar, das goldene, die Zähne auch, Die elfenbeinernen, mit einem Werkzeug Auf offner Straße aus dem Mund genommen (Vers 1025 ff.). . Also eine Vergewaltigung, bei der statt des gewöhnlichen Ziels einer Vergewaltigung Haare und Zähne dran glauben müssen. Über Ventidius bleibt nach alledem kaum noch etwas zu sagen. Bemerkenswert ist nur noch, daß in seine an sich unechte und komische Liebe ernsthafte und wirklich echte Töne kommen in dem Augenblick unmittelbar vor seinem Tode (Vers 2357ff.): Wie mild der Mondschein durch die Stämme fällt! Und wie der Waldbach fern mit üppigem Geplätscher Am Rand des hohen Felsens niederrinnt! — Thusnelda! Komm und lösche diese Glut, Soll ich, gleich einem jungen Hirsch, Das Haupt voran, mich in die Flut nicht stürzen! Wahrer könnte auch der Graf vom Strahl nicht schwärmen, und das Bild des jungen Hirsches, der sich in die Flut stürzen will, erinnert noch dazu deutlich an dessen Worte, die er an das Käthchen von Heilbronn unmittelbar vor der Hochzeit richtet (V, 12): Der Hirsch, der von der Mittagsglut gequält Den Grund zerwühlt, mit spitzigem Geweih, Er sehnt sich so begierig nicht, Vom Felsen in den Waldstrom sich zu stürzen, Den reißenden, als ich, jetzt, da du mein bist, In alle deine jungen Reize mich. Diese Echtheit des Gefühls dicht vor dem Ende, das Ventidius in den Umarmungen der Bärin findet, rückt seine Gestalt und seinen Tod wieder, so entfernt sie ihm sonst sind, einigermaßen in die Nähe des Achill und seines Todes uhter den Küssen und Bissen der Penthesilea. So wenig sich von dem, was wir in der Familie Schroffenstein und in der Penthesilea festgestellt haben, auf den ersten Blick in der Hermannsschlacht zu finden scheint, so zeigt sich bei näherem Zusehen doch, daß auch in ihr jene eigentümliche Verwandtschaft
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von Liebe und Tod besteht. Sie mag verzerrt und spielerisch, sie mag burlesk und grausig auftreten, aber sie ist jedenfalls da. Und wenn man einmal die Szenen der Hermannsschlacht durchgeht, in denen von Liebe oder Liebelei überhaupt die Rede ist, so wird man finden, daß das Gespräch durchweg Momente zum Gegenstand hat, in denen die „Liebenden" sich entweder gegenseitig verspotten und verletzen, oder die mit Tod und Todesgefahr zu tun haben. 4. Das Käthchen von Heilbronn Es versteht sich von selbst, daß sich die Formel Liebe gleich Tod auf Kleists übrige Dramen nicht vollständig anwenden läßt, da in keinem von ihnen die Liebenden sterben. Aber das, was sich uns bisher sozusagen als Vorstufe des Todes, als das Gefühl und die Haltung gezeigt hat, die aus der Liebe und in der Liebe zum Tode hinführt, das ist auch hier vorhanden. Wenn hier die Liebe auch nicht mehr in Töten und Sterben besteht, so besteht sie doch in Wehetun und Leiden, und oft genug kommt sie Töten und Sterben sehr nahe. Vom Käthchen von Heilbronn hat Kleist bekanntlich gesagt, daß es sich zur Penthesilea verhalte wie das Minus zum Plus in der Algebra; was diese durch Handeln, das sei jene durch Hingebung1). So verhält es sich in der Tat, und Während bei Penthesilea die Liebe Töten und Wehtun ist (wenn auch das Selbstleiden keineswegs fehlt), so ist sie beim Käthchen Dulden und Sichwehtunlassen. Daß die Unterwürfigkeit, Demut und Selbstaufgabe, die völlige Willenlosigkeit in der Liebe, wie sie hin und wieder in der Familie Schroffenstein und in der Penthesilea als Ahnung vorhanden war, im Käthchen vollkommen Tatsache geworden ist, das ist wohl jedem Leser ohne weiteres deutlich. Es ist auch klar, daß beim Käthchen alles das weit über die natürliche und sozusagen übliche Selbstaufgabe und Hingebung einer Liebenden gegenüber dem Geliebten hinausgeht. Sie gehorcht ihrem Grafen aufs Wort, er mag 1
Vgl. Briefe Nr. 103 und 122.
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von Liebe und Tod besteht. Sie mag verzerrt und spielerisch, sie mag burlesk und grausig auftreten, aber sie ist jedenfalls da. Und wenn man einmal die Szenen der Hermannsschlacht durchgeht, in denen von Liebe oder Liebelei überhaupt die Rede ist, so wird man finden, daß das Gespräch durchweg Momente zum Gegenstand hat, in denen die „Liebenden" sich entweder gegenseitig verspotten und verletzen, oder die mit Tod und Todesgefahr zu tun haben. 4. Das Käthchen von Heilbronn Es versteht sich von selbst, daß sich die Formel Liebe gleich Tod auf Kleists übrige Dramen nicht vollständig anwenden läßt, da in keinem von ihnen die Liebenden sterben. Aber das, was sich uns bisher sozusagen als Vorstufe des Todes, als das Gefühl und die Haltung gezeigt hat, die aus der Liebe und in der Liebe zum Tode hinführt, das ist auch hier vorhanden. Wenn hier die Liebe auch nicht mehr in Töten und Sterben besteht, so besteht sie doch in Wehetun und Leiden, und oft genug kommt sie Töten und Sterben sehr nahe. Vom Käthchen von Heilbronn hat Kleist bekanntlich gesagt, daß es sich zur Penthesilea verhalte wie das Minus zum Plus in der Algebra; was diese durch Handeln, das sei jene durch Hingebung1). So verhält es sich in der Tat, und Während bei Penthesilea die Liebe Töten und Wehtun ist (wenn auch das Selbstleiden keineswegs fehlt), so ist sie beim Käthchen Dulden und Sichwehtunlassen. Daß die Unterwürfigkeit, Demut und Selbstaufgabe, die völlige Willenlosigkeit in der Liebe, wie sie hin und wieder in der Familie Schroffenstein und in der Penthesilea als Ahnung vorhanden war, im Käthchen vollkommen Tatsache geworden ist, das ist wohl jedem Leser ohne weiteres deutlich. Es ist auch klar, daß beim Käthchen alles das weit über die natürliche und sozusagen übliche Selbstaufgabe und Hingebung einer Liebenden gegenüber dem Geliebten hinausgeht. Sie gehorcht ihrem Grafen aufs Wort, er mag 1
Vgl. Briefe Nr. 103 und 122.
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sie zu sich rufen oder von sich schicken, und ohne daß sie weiß, warum. Sie sagt oder verschweigt, was er verlangt, und sie kniet vor ihm nieder, wenn er es will. Sie folgt ihm bei Wind und Wetter über Stock und Stein, sie schläft bei seinen Pferden oder unter dem Holunderbusch vor seinem Tore, nur um ihm nahe zu sein. Sie läßt sich von ihm mißhandeln, treten und peitschen, und er bleibt trotzdem ihr hoher Herr, und ihre Liebe bleibt unwandelbar. Und bei alledem ist nun wesentlich, nicht, daß sie liebt, obgleich sie leidet, sondern daß sie liebt, indem sie leidet — vielleicht auch, weil sie leidet. Nicht einmal setzt sie sich gegen alles das, was ihr widerfährt, zur Wehr. Sie nimmt es, als wäre es selbstverständlich, wortlos und widerstandslos hin. Ja, sie drängt sich zu immer neuen Diensten und damit zu immer neuen Demütigungen, und der Graf hat nicht ganz unrecht, wenn er (III, 13) von ihrer „hündischen Dienstfertigkeit" spricht. Käthchen stirbt nicht an ihrer Liebe. Aber der Tod steht dieser Liebe doch ganz nahe. Nicht weniger als viermal ist Käthchen nahe daran, zu sterben oder wenigstens die Welt zu verlassen, und immer ist es ihre Liebe, die sie in Todesgefahr und Todesnähe gebracht hat. Am äußerlichsten ist es der Fall, als sie von ihrer Nebenbuhlerin fast vergiftet wird. Sonst ist die Ursache der Todesgefahr stets ihre Demut gegenüber dem Geliebten, ihr Wille, sich völlig hinzugeben und aufzugeben: ihre Liebe geht in den Tod geradezu über. Als Käthchen den Grafen zum erstenmal erblickt, sinkt sie bewußtlos um, sie stürzt sich dann, als er wegreitet, aus dem Fenster vor seinem Pferd auf die Straße und liegt davon wochenlang schwer verletzt und krank darnieder, — ein Vorgang, in dem sich übrigens gewisse Parallelen zu der ersten Begegnung zwischen Penthesilea und Achill finden. In beiden Fällen handelt es sich um eine völlige Entgeisterung der Liebenden. Von Penthesilea heißt es (Vers 69 ff.), daß Glut ihr plötzlich, bis zum Hals hinab, Das Antlitz färbt, als schlüge rings um ihr Die Welt in helle Flammenlohe auf,
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und die Rede, die Odysseus an sie richtet, hört sie überhaupt nicht. Und das Käthchen steht da „das Antlitz flammend auf ihn gerichtet, als ob sie eine Erscheinung hätte" (I, 1). Der Unterschied ist freilich (wie es der seelischen Grundhaltung der beiden entspricht), daß Käthchen in Ohnmacht fällt und sich dann fast zu Tode stürzt, während Penthesilea Achill und den Griechen mit Pfeilen ihre Antwort schicken will. Als der Graf das Käthchen später von sich weist, sinkt sie zunächst (am Schluß des ersten Aktes) ohnmächtig nieder, und dann gehorcht sie, indem sie sich selbst aufgibt: sie will ins Kloster gehn (III, 1). „Die Welt, der liebliche Schauplatz des Lebens, reizt sie nicht mehr", und ihr Vater hat nicht unrecht, wenn er sagt, daß er, indem er ihrem Wunsche stattgibt, „sein einzig, liebes Kind begraben" wolle. Am bezeichnendsten schließlich ist die Berührung mit dem Tode am Ende des dritten Aktes (III, 12 ff.), als vor dem brennenden Schloß Thurneck Kunigunde, die Braut des Grafen, ein Bild und ein Futteral vermißt, und sich Käthchen in die Flammen stürzt, um es zu holen. Der Anlaß, das Bild ist ein Nichts, und Käthchens Regung, dem Grafen zu dienen, indem sie fast stirbt, um seiner Braut einen Gefallen zu tun, ist wohl der Gipfel der Selbstverleugnung und Selbstaufgabe; ja man möchte von seelischer Selbstzerfleischung und Selbstvernichtung sprechen, wenn dafür Käthchens Hingebung nicht zu passiv und sozusagen selbstverständlich wäre. Diese Haltung wird dann freilich noch überboten durch die Worte, die sie in denselben Szenen unmittelbar nach ihrer wunderbaren Rettung aus dem brennenden Schlosse zu dem Grafen spricht: Wenn du mich nur nicht schlägst, mein hoher Herr (III, 15). Für ein Nichts geht Käthchen, um dem Grafen zu dienen, das heißt, um sich in ihrer Liebe aufzugeben und zu vernichten, in den sicheren Tod, und nur ein Wunder, ein vom Himmel gesandter Engel, rettet sie. Das ist der Höhepunkt und zugleich die Krise und die Wendung des Dramas: von da an biegt es um zur glücklichen Lösung, zur Erhörung Käthchens durch den Grafen und zu ihrer Erhöhung als seine Braut. Man kann darüber streiten, ob L i n t z e l , Liebe und Tod bei Heinrieh von Kleist
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dieses Umbiegen und der versöhnliche Schluß psychologisch möglich und ob es nicht in Wahrheit ein Ausbiegen vor der eigentlichen Tragik des Käthchenstoffes ist — auf jeden Fall ist aber dafür, daß es zu dem versöhnlichen Schluß überhaupt kommen kann, wieder ein Wunder nötig, nämlich die wunderbar märchenhafte Entdeckung, daß Käthchen die Tochter nicht des Waffenschmiedes von Heilbronn, sondern des Kaisers ist. Ohne dieses Wunder wäre Käthchens Liebe hoffnungslos und damit zum Tode bestimmt; denn auch unabhängig von den Berührungen mit dem Tode, von denen eben die Rede war, ist diese Liebe an sich so angelegt, daß sie nur im Tode enden kann, und nur in einer Welt de's Wunders und des Märchens kann sie eine glückliche Erfüllung finden. Von Anfang an wird betont, daß die Standesschranken eine Ehe zwischen dem Grafen und Käthchen ausschließen, und der Graf denkt, obgleich er das Käthchen liebt, nie daran, sich über diese Schranken hinwegzusetzen. Ebenso unmöglich wie es für Penthesilea ist, Achill zu besiegen, ist es für Käthchen, den Grafen zu gewinnen. Ihre Liebe ist aussichtslos; und da sie ohne diese Liebe nicht leben kann, so muß sie im Tode enden: ihrer inneren Opfer- und Todesbereitschaft entspricht die äußere Todesnotwendigkeit, Und wenn dann doch durch das Wunder die. Rettung und die glückliche Er-, füllung ihrer Liebe möglich wird, so ist es bezeichnend, daß unmittelbar vor dem Schluß des Dramas noch einmal das Todesmotiv auftaucht. Käthchen gilt als tot, der Graf spricht vom Särge der Verblichnen, und daß man sie schon auf dem Kirchhof beigesetzt habe (V, 7 und 8): sozusagen aus dem Grabe erscheint sie als kaiserliche Prinzessin von Schwaben und als Braut. In diesen Zusammenhängen gewinnt nun ein Moment Bedeutung, das allein und für sich betrachtet wohl nicht weiter auffällig wäre: die Tatsache, daß in der einzigen großen, wirklich ausgeführten Liebesszene des Stückes, der berühmten Holunderbuschszene (IV, 2), Käthchen im Schlafe liegt. Sie spricht im Traum, und sie muß willenlos dem Grafen entdecken, was er von ihr zu wissen wünscht. Bei ihren früheren Begegnungen mit dem Geliebten, die wir auf
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der Bühne erleben, war sie das erstemal vor ihm niedergekniet und in Ohnmacht gefallen, das zweitemal hatte er sie fast mit der Peitsche geschlagen, das drittemal war sie in das brennende Schloß gedrungen und beinahe ums Leben gekommen, und jetzt muß sje ihm schlafend ihre geheimsten, ihr selbst nicht mehr bewußten Träume und Erwartungen offenbaren: nach all dem, was mit Käthchen geschehen ist, erscheint hier das Motiv der ohnmächtigen Hingabe und Selbstaufgabe und zugleich der Todesnähe in einer neuen, merkwürdigen Ausprägung. Der Tatsache, daß Käthchen an ihrer Liebe und in ihrer Liebe zum Grafen leidet, daß sie gequält und mißhandelt wird, entspricht es, daß der Graf vom Strahl sie quält und mißhandelt.
Dabei steht
von vornherein fest, daß er Käthchen liebt: es ist, mindestens seit der ersten Szene des zweiten Aktes, nie ein Zweifel daran.
Das
Mißhandeln und Quälen der Geliebten entspringt zunächst der Erkenntnis, daß ihre Liebe hoffnungslos ist, und dem Wunsche, sie deshalb von dieser Liebe zu heilen. Aber es geht doch über die Bedürfnisse, die durch diesen äußeren und sehr verständlichen und verständigen A n ^ ß gegeben sind, erheblich hinaus. Ist das MitFüßen-treten im Stall zu Strahl und das Peitschen, wovon in der Gerichtsszene (I, 2) erzählt wird, und ist später, als Käthchen das Schloß von Thurneck vor dem Überfall des Steingrafen warnt ( I I I , 6), der neue Griff nach der Peitsche wirklich nötig? Ist es nötig, daß der Graf während der Gerichtsverhandlung des ersten Aktes Käthchen vor sich niederknien läßt? Und sie muß knieen, um knieend den Richtern zu erzählen, daß er sie mit Füßen getreten und mit der Peitsche bedroht hat. Davon aber abgesehen, seine Art sie zu befragen! Gewiß, seine Fragen haben den Zweck, ihre Unschuld zu erweisen, „sie mit Triumph hier (vor den Richtern) zu erheben". Aber die Art, wie der Graf fragt, ist doch so, daß die Richter nicht unrecht haben, wenn sie einwenden: Ihr quält das Kind zu sehr Ihr sollt das Kind befragen, ist die Meinung, Nicht mit barbarischem Triumph verhöhnen. 3*
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Und im dritten Akt, als Käthchen sich herandrängt, um für Kunigunde im brennenden Schloß das Bild und das Futteral zu suchen, da schickt er sie, hin- und herschwankend zwischen dem Verlangen, sie zu retten, und dem Ärger über ihre „hündische Dienstfertigkeit" selbst in den Tod: Wohlan, so schaffs! Es ist der Törin recht! Was hatte sie an diesem Ort zu suchen? Und während Käthchen dann im Schloß in Feuer und Rauch fast erstickend sucht und nichts finden kann, ruft er ihr in seiner Wut immer wieder zu: „Such, so such." Dabei ist hier so klar wie immer, daß er sie unentwegt liebt. Als er ein paar Augenblicke später, nach dem Zusammenbrechen des Schlosses, annehmen muß, daß sie in den Flammen umgekommen ist, sagt er: Die Erd hat nichts mehr Schönes. Laßt mich sein, und unmittelbar, nachdem er vorher Käthchen sein „such! Verflucht die hündische Dienstfertigkeit!" zugerufen hat, will er selbst ihr in das Schloß nachstürzen. In dem Hin und Her zwischen Ausdrücken der Liebe und des Wunsches, weh zu tun und zu vernichten, und ift dem plötzlichen Umschlagen aus Worten des Hasses in Worte der Liebe erinnert in dieser Szene der Graf an Achill in den oben zitierten Worten'an Prothoe: Ich will ihr tun, wie ich dem Sohn des Priam tat, und dann: „sag ihr, daß ich sie liebe." Auf jeden Fall ist aber hier soviel deutlich: indem der Graf Käthchen quält, quält er sich, und wenn er Käthchen vernichtet, so vernichtet er sich selbst. 5.
Der zerbrochene Krug Die Eve im Zerbrochenen Krug ist eine derbere, niederländische und unromantische Schwester des Käthchens von Heilbronn. Statt in einer ritterlichen, phantastischen und von Träumen und Wundern
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Und im dritten Akt, als Käthchen sich herandrängt, um für Kunigunde im brennenden Schloß das Bild und das Futteral zu suchen, da schickt er sie, hin- und herschwankend zwischen dem Verlangen, sie zu retten, und dem Ärger über ihre „hündische Dienstfertigkeit" selbst in den Tod: Wohlan, so schaffs! Es ist der Törin recht! Was hatte sie an diesem Ort zu suchen? Und während Käthchen dann im Schloß in Feuer und Rauch fast erstickend sucht und nichts finden kann, ruft er ihr in seiner Wut immer wieder zu: „Such, so such." Dabei ist hier so klar wie immer, daß er sie unentwegt liebt. Als er ein paar Augenblicke später, nach dem Zusammenbrechen des Schlosses, annehmen muß, daß sie in den Flammen umgekommen ist, sagt er: Die Erd hat nichts mehr Schönes. Laßt mich sein, und unmittelbar, nachdem er vorher Käthchen sein „such! Verflucht die hündische Dienstfertigkeit!" zugerufen hat, will er selbst ihr in das Schloß nachstürzen. In dem Hin und Her zwischen Ausdrücken der Liebe und des Wunsches, weh zu tun und zu vernichten, und ift dem plötzlichen Umschlagen aus Worten des Hasses in Worte der Liebe erinnert in dieser Szene der Graf an Achill in den oben zitierten Worten'an Prothoe: Ich will ihr tun, wie ich dem Sohn des Priam tat, und dann: „sag ihr, daß ich sie liebe." Auf jeden Fall ist aber hier soviel deutlich: indem der Graf Käthchen quält, quält er sich, und wenn er Käthchen vernichtet, so vernichtet er sich selbst. 5.
Der zerbrochene Krug Die Eve im Zerbrochenen Krug ist eine derbere, niederländische und unromantische Schwester des Käthchens von Heilbronn. Statt in einer ritterlichen, phantastischen und von Träumen und Wundern
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durchzogenen Welt spielt sich ihre Liebesgeschichte in einer bäuerlichen und einigermaßen nüchternen Atmosphäre ab. Ihre Tragik ist nicht so tief und aufwühlend wie die des Käthchen, und vom Tode ist sie weit entfernt. Aber tragisch ist ihre Liebe auch. Auch sie muß an ihrem Geliebten leiden und sich von ihm quälen lassen, und ähnlich wie der Graf vom Strahl das Käthchen zum Schluß für alle Kränkungen und Beleidigungen um Vergebung bitten muß, hat Ruprecht allen Grund, am Ende des Lustspiels zu seiner Eve zu sagen (Vers 1909ff.): Wie hab ich heute schändlich dich beleidigt Wirst du dein Lebtag mir vergeben können? Sicher ist das An-der-Liebe-leiden und Gequältwerden nicht von Haus aus in Eves Charakter begründet, wie es beim Käthchen (und mit anderen Vorzeichen bei Penthesilea) der Fall ist. Bei Eve handelt es sich weniger um eine Tragik, die aus dem Inneren der Seele und der Gefühlsanlage kommt, als um eine Tragik, die sich aus der Situation ergibt. Aber in der heiklen Situation, in die sie gerät, bringt sie eine, zwar harmlosere und anders gerichtete, aber doch ähnlich unbedingte Opferbereitschaft auf wie Käthchen, und sie wird ihr von ihrem Geliebten ähnlich schlecht gedankt wie dieser. Den Verdacht und den bösen Ruf, eine „Metze" zu sein, nimmt sie, um ihren Ruprecht von der Konskription zu retten, zwar nicht ganz wort- und widerstandslos auf sich, aber sie trägt ihn doch, ohne das Wort zu sagen, das sie rechtfertigen könnte. Und vor allem: sie läßt sich von dem Geliebten, für den sie ihren guten Ruf opfert, immer wieder beschimpfen und mißhandeln, ja sie läßt sich, ähnlich wie das Käthchen vom Grafen, von ihm treten, ohne an ihrer Liebe und ihrem Geliebten irre zu werden. Wenn alles das auch, abgesehen von ihrer Liebe, durch den Zwang der äußeren Verhältnisse und die Drohungen des Dorfrichters Adam einigermaßen begründet ist und demzufolge ihre Selbstaufgabe nicht so absolut und unbedingt zu sein braucht wie die ihrer Heilbronner Schwester, so ist doch ihre Tragik in anderer Beziehung wieder tiefer. Daß der Graf sich zunächst Käthchen versagt und sie von
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sich stößt, ist äußerlich begründet; die Frage, ob er sie liebt, wird dadurch überhaupt nicht berührt, und er liebt sie tatsächlich trotzdem, und ihren wahren Wert erkennt er immer an. Wenn Ruprecht dagegen Eve quält und von sich stößt, so bedeutet das, daß er ihr nicht glaubt und vertraut, wie sie es verdient, und es bedeutet damit eine Katastrophe der Liebe an sich. Es ist doch eine völlig verzweifelte Situation, in der sie sich mit ihren rührenden Beschwörungen (Vers 1164ff.) befindet: Pfui, Ruprecht, pfui, o schäme dich, daß du Mir nicht in meiner Tat vertrauen kannst. Gab ich die Hand dir nicht, und sagte: ja, Als du mich fragtest: Eve willst du mich? Meinst du, daß du den Flickschuster nicht wert bist? Und hättest du durchs Schlüsselloch mich mit Dem Lebrecht aus dem Kruge trinken sehen, Du hättest denken sollen: E v ist brav, Es wird sich alles ihr zum Ruhme lösen, Und ists im Leben nicht, so ist es jenseits, Und wenn wir auferstehn, ist auch ein Tag. Oder (Vers 1182 ff.): Warum, o Ruprecht, sprich, warum nicht sollt ich Auf dein Yertraun hin sagen, daß du's warst? Warum nicht sollt ichs? Warum sollt ichs nicht? Wenn also trotz dieser Beschwörungen Ruprecht nicht daran denkt, ihr zu vertrauen, sondern bei dem Vorwurf der „Metze" bleibt und ihr höchstens „die Fiedel ersparen" will, so ist das die tiefste Demütigung vor der Welt und vor dem Geliebten, die für Eve möglich ist, und man fragt sich, wie ihre Liebe diese Belastung und diese Katastrophe überhaupt überstehen kann. Sie übersteht sie trotzdem, aber wenn Eve ohne Schwanken weiter liebt und sich weiter mißhandeln läßt, so ist das ein Beweis dafür, daß sie das Leiden in ihre Liebe aufnimmt, und daß es damit zu einem Teil ihrer Liebe ' geworden ist. Das Verhältnis Eves zu Ruprecht ist viel normaler, wenn man will menschlicher, als das Käthchens zum Grafen; aber mindestens
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an dieser einen Stelle, die wir eben besprachen, tritt die leidensvolle und leidensbereite Seite ihrer Liebe ähnlich deutlich hervor wie in dem romantischen Ritterdrama. Und es ist auffallend, daß denn auch an dieser Stelle, und zwar als der einzigen im Zerbrochenen Krug, im Zusammenhang mit Liebe und Vertrauen vom Tode die Rede ist: Und ists im Leben nicht, so ist es jenseits, Und wenn wir auferstehn, ist auch ein Tag. Ruprecht ist ein rechtschaffener Bauerntölpel, der tobt, weil er Grund zu haben glaubt, zu toben, und der Evchen beschimpft und mißhandelt, weil er dazu gleichfalls Grund zu haben glaubt. Über ihn ist nichts weiter zu sagen. Wohl aber wenigstens ein kurzes Wort über die Person des Stückes, an die man in diesem Zusammenhang zunächst wohl am wenigsten denkt, über den Dorfrichter Adam. Worum es im Zerbrochenen Krug und bei der Entfaltung von Adams Charakter in erster Linie geht, das ist etwas anderes als die Liebe; das ist die Enthüllung und Verspottung des Dorfrichters als ungerechter Richter, als Richter, der bei sich selbst verklagt ist und gegen sich zu Gericht sitzen muß. Aber es ist doch die Liebe, wenn auch in einer ähnlich verzerrten Form wie bei Ventidius in der Hermannsschlacht, an der Adams Ungerechtigkeit sich entzündet und an der sie demonstriert wird. Der Dorfrichter quält und martert Eve, aber er wird auch von ihr gehörig gequält und gemartert. Und wenn er mit seinen Lügen, Verdrehungen und Winkelzügen eine komische Selbstenthüllung und Selbsthinrichtung vornimmt, so nimmt er sie in erster Linie vor Eve vor, die ja über alles Bescheid weiß und alles, was er vorbringt, durchschaut; und sein komischer moralischer Selbstmord ist die Folge seiner Liebelei. 6.
Amphitryon Daß Alkmene eine tragische Gestalt ist, dies Empfinden wird sofort jeder haben, der den Amphitryon liest oder sieht, und ebenso ist klar, daß ihre Tragik aus ihrer Liebe fließt und daß in dieser Liebe
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an dieser einen Stelle, die wir eben besprachen, tritt die leidensvolle und leidensbereite Seite ihrer Liebe ähnlich deutlich hervor wie in dem romantischen Ritterdrama. Und es ist auffallend, daß denn auch an dieser Stelle, und zwar als der einzigen im Zerbrochenen Krug, im Zusammenhang mit Liebe und Vertrauen vom Tode die Rede ist: Und ists im Leben nicht, so ist es jenseits, Und wenn wir auferstehn, ist auch ein Tag. Ruprecht ist ein rechtschaffener Bauerntölpel, der tobt, weil er Grund zu haben glaubt, zu toben, und der Evchen beschimpft und mißhandelt, weil er dazu gleichfalls Grund zu haben glaubt. Über ihn ist nichts weiter zu sagen. Wohl aber wenigstens ein kurzes Wort über die Person des Stückes, an die man in diesem Zusammenhang zunächst wohl am wenigsten denkt, über den Dorfrichter Adam. Worum es im Zerbrochenen Krug und bei der Entfaltung von Adams Charakter in erster Linie geht, das ist etwas anderes als die Liebe; das ist die Enthüllung und Verspottung des Dorfrichters als ungerechter Richter, als Richter, der bei sich selbst verklagt ist und gegen sich zu Gericht sitzen muß. Aber es ist doch die Liebe, wenn auch in einer ähnlich verzerrten Form wie bei Ventidius in der Hermannsschlacht, an der Adams Ungerechtigkeit sich entzündet und an der sie demonstriert wird. Der Dorfrichter quält und martert Eve, aber er wird auch von ihr gehörig gequält und gemartert. Und wenn er mit seinen Lügen, Verdrehungen und Winkelzügen eine komische Selbstenthüllung und Selbsthinrichtung vornimmt, so nimmt er sie in erster Linie vor Eve vor, die ja über alles Bescheid weiß und alles, was er vorbringt, durchschaut; und sein komischer moralischer Selbstmord ist die Folge seiner Liebelei. 6.
Amphitryon Daß Alkmene eine tragische Gestalt ist, dies Empfinden wird sofort jeder haben, der den Amphitryon liest oder sieht, und ebenso ist klar, daß ihre Tragik aus ihrer Liebe fließt und daß in dieser Liebe
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wieder Leiden und Gequältwerden stark hervortreten. Aber wenn das auch auf den ersten Blick deutlich ist, so ist doch nicht ganz einfach, sich davon zu überzeugen, worin dieses Leiden und Gequältwerden eigentlich besteht. Alkmene, wohl die edelste und reinste Frauengestalt, die Kleist geschaffen hat, ist offenbar nicht eine von den pathologischen Erscheinungen wie Penthesilea oder Käthchen, und das Leiden in ihrer Liebe erwächst nicht wie bei diesen einfach aus der Struktur ihres Wesens, sondern aus der Situation, in die sie gestellt wird. Darin ähnelt sie der Eve des Zerbrochenen Kruges. Und auch darin, daß das Leid, das sie trifft, das Mißtrauen des Geliebten ist. Amphitryons Mißtrauen äußert sich nicht so rauh wie das des tölpelhaften, bäuerlichen Ruprecht, aber doch heftig genug, und genau so wie gegen Eve ist der äußere Schein gegen Alkmene, und genau so wie im Zerbrochenen Krug ist hier das Mißtrauen innerlich unbegründet und unberechtigt und eine tieffe Beleidigung der Liebenden. Aber während Eve trotz aller Proteste immer wieder um die Liebe und das Vertrauen Ruprechts bettelt und seine Demütigungen ertragen muß, setzt sich Alkmene mit dem ganzen Zorn ihrer beleidigten Unschuld gegen das Mißtrauen ihres Gatten zur Wehr. Dann aber kommt die Wendung, die ihr Leid und ihre Tragik noch tiefer erscheinen läßt als die Eves: der Zweifel und das Mißtrauen gegen sich selbst. Sie weiß nicht mehr, ob sie wirklich unschuldig geblieben ist; sie glaubt, als sie das I auf dem Diadem des Labdakos erblickt hat, es selbst verneinen zu müssen, und die Verzweiflung darüber führt sie dicht an den Tod heran (II, 5, Vers 1278 f.): Ich will nichts hören, leben will ich nicht, Wenn nicht mein Busen mehr unsträffich ist und (Vers 1243f.): So sei der Tod mein Los Und ewge Nacht begrabe meine Schmach, oder (Vers 1308): Zehn Toden reicht ich meine Brust. Und in ihrer Verzweiflung an sich selbst stimmt sie Amphitryon völlig zu und ist bereit, mit ihm gegen sich zu wüten.
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Gewiß, diese tragische Spannung wird schon in derselben Szene durch den Widerspruch Jupiters aufgelöst, und am Schlüsse des Stückes geht Alkmene, wie jedenfalls Jupiter und Amphitryon und die Thebaner versichern, im herrlichsten Triumph aus allen Anzweiflungen und Anfeindungen hervor. Aber ist es wirklich ein Triumph, oder ist es, wenn es schon ein Triumph ist, weiter nichts als ein Triumph, und steht nicht neben dem Triumph, daß sie von einem Gott geliebt wurde und einen Halbgott gebären darf, eine tiefe Katastrophe? Muß man sich zunächst nicht fragen (noch mehr, als man sich Eve gegenüber gefragt hat), ob eine Seele von der Reinheit und Zartheit der Alkmene das blinde Mißtrauen, mit dem ihr Amphitryon begegnet ist, jemals verwinden kann? Nun, es mag sein, und offenbar ist sie selbst der Meinung. Aber was sie noch schwerer vergessen und verwinden dürfte, das ist das Mißtrauen, das sie selbst ihrem Gatten entgegenbrachte, und die tiefe Demütigung, die sie ihm vor allem Volk, noch mehr aber vor ihm selbst und vor ihr selbst bereitet hat. Die grausige Ironie dieses „Lustspiels" ist ja, daß Alkmene, die die höchsten Begriffe von Liebe und Treue hat, und die mit einer nicht zu überbietenden Liebe und Treue an ihrem Gatten hängt, durch die Situation, in die sie der Gott geführt hat, immer wieder gezwungen wird, ihren Gatten zu verleugnen. Am deutlichsten ist das am Schluß, als sie, vom Volk befragt, wer der rechte Amphitryon sei, sich nicht dem Amphitryon, sondern Jupiter zuwendet und den eigenen, geliebten Gatten als Ungeheuer, mir scheußlicher, Als es geschwollen in Morästen nistet anredet (Vers 2240f.). Und wie setzt sie ihn herab (Vers 2247ff.): Jetzt erst, was für ein Wahn mich täuscht, erblick ich. Der Sonne heller Lichtglanz war mir nötig, Solch einen feilen Bau gemeiner Knechte Vom Prachtwuchs dieser königlichen Glieder, Den Farren von dem Hirsch zu unterscheiden! Verflucht die Sinne, die so gröblichem
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Betrug erliegen! 0 verflucht der Busen, Der solche falschen Töne gibt! Verflucht die Seele, die nicht soviel taugt, Um ihren eigenen Geliebten sich zu merken! Dieselbe furchtbare Täuschung und damit dieselbe Verleugnung und Demütigung ihres Gatten besteht aber von Anfang an und durch das ganze Stück hindurch. Die Nacht, die sie mit Jupiter im Glauben, er sei Amphitryon, verbracht hat, erscheint der Alk'mene schöner und kürzer als alle anderen Nächte (I, 4), erst seit dieser Nacht weiß sie, wie sehr sie ihren Gatten liebt (Vers .440 ff.), das heißt, als Jupiter in seiner Gestalt ihr entgegentrat. Und wenn sie dann, abermals in dem Glauben, er sei Amphitryon, Jupiter immer wieder versichert, daß sie nur ihn und nicht den anderen liebe, so verstößt sie doch mit eben den Worten, die die höchste Treue und Liebe gegen Amphitryon ausdrücken, den eigenen Gemahl. Wohl sagt sie (II, 5, Vers 1537 ff.): Läßt man die Wahl mir, . . . so bliebe meine Ehrfurcht ihm, Und meine Liebe dir, Amphitryon. Sie versichert (Vers 1551 f.): So würd ich folgen dir, wohin du gehst, Und wärs auch wie Eurydike zum Orkus. Oder (Vers 1564ff.): Wenn du, der Gott, mich hier umschlungen hieltest, Und jetzo sich Amphitryon mir zeigte, Ja — dann so traurig würd ich sein und wünschen, Daß er der Gott mir wäre, und daß du Amphitryon mir bliebst, wie du es bist. Aber alle diese Versicherungen richten sich eben nicht, wie Alkmene glaubt, an Amphitryon, sondern an Jupiter und nehmen damit nur das grausame Urteil vorweg, das sie am Schluß unwissend über den eigenen Gatten fällt. Gewiß, diese Verwechslung und Demütigung wird dadurch gemildert, daß es Jupiter ist, den sie mit ihrem Gatten verwechselt, und den sie. über ihn stellt; und sie wird weiter dadurch
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gemildert, daß dieser Jupiter, wenigstens in einigen Versen, pantheistisch aufgefaßt und in dieser Auffassung zugleich Amphitryon ist. Aber ist damit jene Verwechslung aus der Welt geschafft? Sicher nicht. Die pantheistische Auffassung des Gottes ist im Stück nicht konsequent durchgeführt und kann nicht konsequent durchgeführt werden; er ist eine Individualität, und er ist vor allem für Alkmene eine Individualität; und er erscheint im Drama als groß und edel, Amphitryon selbst aber als ziemlich klein und wenig edel. Wenn Alkmene auch Amphitryons Mißtrauen verzeihen mag, wie kann sie selbst die Demütigung, die sie dem Geliebten zugefügt hat, ertragen? Und darin, daß sie selbst ihm vor sich und vor ihm hat wehtun müssen und wehe getan hat, scheint mir für Alkmene ein viel größeres Leid und eine viel größere Tragik zu liegen als in dem Mißtrauen und der Demütigung, die sie erfahren mußte. .Daß sie am Ende des Stückes dem Tode nahe ist, sagt Jupiter, so sehr er von ihrem Triumph spricht, selbst, und in ihrem „Ach", mit dem das Drama schließt, hat man sicher nicht bloß den Ausdruck der Freude und der Erlösung, sondern zugleich und vielleicht noch mehr den Ausdruck eines tiefen Schmerzes zu sehen. Jedenfalls (was man Alkmene auf den ersten Blick am wenigsten zutraut) ihre Liebe ist tragisch und leidvoll nicht bloß im „Leiden", sondern (und zwar noch mehr) iiji Handeln, im Wehtun. Über Amphitryon und das Dienerpaar Sosias und Charis braucht man nichts weiter zu sagen. Daß Amphitryon die geliebte Alkmene ständig kränkt und sie in Angst und Verzweiflung stößt, liegt auf der Hand, und darüber, daß die Liebe zwischen Sosias und Charis, soweit überhaupt vorhanden, nur in Zank und Streit besteht, dürfte Einverständnis herrschen. 7. Prinz Friedrich von Homburg
Der Prinz von Homburg ist kein Liebesdrama, aber der Prinz selbst und die Prinzessin Natalie sind doch ein Liebespaar. Und wenn es in dem Stück auch um etwas anderes geht als um die Liebe,
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gemildert, daß dieser Jupiter, wenigstens in einigen Versen, pantheistisch aufgefaßt und in dieser Auffassung zugleich Amphitryon ist. Aber ist damit jene Verwechslung aus der Welt geschafft? Sicher nicht. Die pantheistische Auffassung des Gottes ist im Stück nicht konsequent durchgeführt und kann nicht konsequent durchgeführt werden; er ist eine Individualität, und er ist vor allem für Alkmene eine Individualität; und er erscheint im Drama als groß und edel, Amphitryon selbst aber als ziemlich klein und wenig edel. Wenn Alkmene auch Amphitryons Mißtrauen verzeihen mag, wie kann sie selbst die Demütigung, die sie dem Geliebten zugefügt hat, ertragen? Und darin, daß sie selbst ihm vor sich und vor ihm hat wehtun müssen und wehe getan hat, scheint mir für Alkmene ein viel größeres Leid und eine viel größere Tragik zu liegen als in dem Mißtrauen und der Demütigung, die sie erfahren mußte. .Daß sie am Ende des Stückes dem Tode nahe ist, sagt Jupiter, so sehr er von ihrem Triumph spricht, selbst, und in ihrem „Ach", mit dem das Drama schließt, hat man sicher nicht bloß den Ausdruck der Freude und der Erlösung, sondern zugleich und vielleicht noch mehr den Ausdruck eines tiefen Schmerzes zu sehen. Jedenfalls (was man Alkmene auf den ersten Blick am wenigsten zutraut) ihre Liebe ist tragisch und leidvoll nicht bloß im „Leiden", sondern (und zwar noch mehr) iiji Handeln, im Wehtun. Über Amphitryon und das Dienerpaar Sosias und Charis braucht man nichts weiter zu sagen. Daß Amphitryon die geliebte Alkmene ständig kränkt und sie in Angst und Verzweiflung stößt, liegt auf der Hand, und darüber, daß die Liebe zwischen Sosias und Charis, soweit überhaupt vorhanden, nur in Zank und Streit besteht, dürfte Einverständnis herrschen. 7. Prinz Friedrich von Homburg
Der Prinz von Homburg ist kein Liebesdrama, aber der Prinz selbst und die Prinzessin Natalie sind doch ein Liebespaar. Und wenn es in dem Stück auch um etwas anderes geht als um die Liebe,
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nämlich um das Verhältnis von Gesetz und Willkür, von Pflicht und Freiheit und, wie U N G E R mit Recht betont, um Todesüberwindung, so ist in das Ganze doch das Liebesmotiv hineinverwoben, und es ist wieder verbunden mit dem Todesmotiv. Dabei erscheint freilich die Verwandtschaft von Liebe und Tod hier gegenüber dem, was uns bisher begegnet ist, in einer neuen, und zwar in einer loseren Verbindung. Von einem Willen der Liebenden oder einem Zwang, unter dem sie stehen, einander zu töten und wehe zu tun, oder an der Liebe zu sterben und an ihr und in ihr zu leiden, von diesem Willen oder Zwang, der uns bald innerlicher, bald äußerlicher begründet in allen Liebespaaren der übrigen Dramen Kleists entgegentrat, ist beim Prinzen und bei Natalie nichts zu finden. Sie lieben sich sozusagen völlig „normal". Keiner von ihnen hat das Bedürfnis, den anderen zu quälen oder sich von ihm quälen zu lassen, wie das in der Familie Schroffenstein und der Penthesilea und dem Käthchen der Fall ist; und auch die äußere Situation führt sie nicht dahin, einander zu mißhandeln, wie es in der Hermannsschlacht oder im Zerbrochenen Krug oder in Amphitryon geschieht (abgesehen von dem natürlichen Schmerz, den Natalie über das Unglück ihres Freundes empfindet). Aber so unbestreitbar das alles ist, um so auffallender erscheint es, daß alle Leiden und Schmerzen, alle Ängste und Demütigungen und die Todesnäho, die der Prinz durchmachen muß, doch zu seiner Liebe und zu seiner Geliebten in einer engen Beziehung stehen. Die Vorstellungen Liebe und Tod gehen hier nicht mehr ineinander über, aber sie stehen nebeneinander. Zunächst ein äußerliches und wenig wichtiges Moment. Die einzige Liebesszene des Dramas (II, 6) geht sozusagen im Angesicht des Todes vor sich. Unter dem Eindruck der Nachricht, daß der Kurfürst in der Schlacht bei Fehrbellin gefallen ist, gesteht der Prinz Natalie seine Liebe und verlobt sich mit ihr. Viel wesentlicher ist es, daß für die Todesgefahr, in die der Prinz gerät, und die sich aus seinem Vergehen und seiner Schuld in der Schlacht ergibt, eine Ursache in seiner Liebe liegt. Seine Verliebtheit ist daran schuld, daß er den Schlachtplan, den der Feldmar-
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schall diktiert, nicht richtig aufnimmt; und in seine verliebte Stimmung ist er gekommen, weil ihm die Prinzessin, die er liebt, im Schloßpark von Fehrbellin, als er nachtwandlerisch sich dort aufhielt, den Lorbeerkranz entgegenhielt und aus Versehen den Handschuh zurückließ. Dieses Motiv ist sehr stark betont. Es tritt nicht bloß im ersten und zweiten Akt auf, sondern es wird auch im fünften, in der Verteidigungsrede Hohenzollerns, wiederholt. Deutet man den Handschuh nach psychoanalytischen Gesichtspunkten als Symbol, so tritt die starke Bedeutung, die in diesen Szenen die Liebe, das Erotische hat, noch prägnanter hervor. Aber auch wenn man das unterläßt, ist diese Bedeutung deutlich genug. So blaß die eigentliche Liebesszene des zweiten Aktes ausfällt, die Verliebtheit der Stimmung des Prinzen, sein verliebtes Träumen und Phantasieren im ersten und zweiten Akt, sind außerordentlich eindringlich geschildert. Und diese Verliebtheit, sozusagen konkretisiert in Natalies Handschuh, den er in der Hand hält, bringt den Prinzen in die Todesgefahr; das heißt, es ist die Geliebte und die Liebe, die ihn dahin führt. Merkwürdig und bezeichnend aber ist, daß der Prinz schläft und träumt, das heißt, daß er sich (ähnlich wie Käthchen in der Holunderbuschszene) in einem Zustand der Ohnmacht und Willenlosigkeit, der Todesnähe befindet, als ihm das verhängnisvolle Liebespfand in die Hände gespielt wird und als die Prinzessin ihr gefährliches und tödliches Spiel mit ihm treiben muß. Doch noch in anderer Hinsicht droht die Liebe, wenigstens in der Vorstellung des Prinzen selbst, ihn in den Tod zu stürzen. Im dritten Akt, nach der Gerichtsverhandlung und im Gefängnis zu Fehrbellin, ist er zunächst vollkommen davon überzeugt, daß ihm nichts geschehen wird. Alle Bedenken und Einwände Hohenzollerns vermögen seine Zuversicht nicht zu erschüttern. Die Tatsache, daß das Gericht getagt und das Todesurteil ausgesprochen hat, machen auf ihn nicht den mindesten Eindruck. Er ist überzeugt, daß ihn der Kurfürst begnadigen wird. Auch als ihm Hohenzollern sagt, daß der Kurfürst das Urteil zur Unterschrift hat ins Schloß bringen lassen, ist er noch nicht bekehrt. Was den Umschwung und die Erkenntnis, daß er sterben soll, herbeiführt, ist erst Hohenzollerns
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Hinweis darauf, daß der schwedische Gesandte als Preis des Friedens die Hand der Prinzessin Natalie für seinen König gefordert und daß Natalie wegen ihrer Liebe zum Prinzen abgelehnt habe; das sei der Grund, weshalb der Kurfürst dem Prinzen zürne und ihn nicht begnadige. Es ist erstaunlich: so unwahrscheinlich diese Überlegung ist und so wenig sie zum Charakter des Kurfürsten und der ganzen Handlung paßt, sie gibt den Ausschlag. Jetzt ist der Prinz, den vorher viel bessere Gründe nicht überzeugen konnten, mit einem Male völlig überzeugt: Es stürzt der Antrag ins Verderben mich: An ihrer Weigrung wisse, bin ich schuld, Weil mir sich die Prinzessin anverlobt (Vers 926 ff.). Die Liebe ist es also, die ihm nach seiner Meinung tödlich wird. Die Todesgefahr, in die er gerät, endet bekanntlich nicht mit dem Tode des Prinzen. Der Prinz von Homburg ist eine Tragödie, die ohne den physischen Tod ihres Helden auskommt, und in der die Katharsis nach Hebbels bekanntem Wort durch die bloßen Schauer des Todes, durch Todesangst und -schrecken, durch die bloße Todesnähe erreicht wird. Aber es erleidet der Prinz in diesem Drama, das „glücklich" ausgeht, doch sozusagen theoretisch oder besser in der Idee den Tod. Und zwar zweimal. Einmal, indem er sich in seiner Todesangst moralisch selbst vernichtet und aufgibt, indem er den Helden in sich kläglich sterben läßt, um das physische Leben zu retten; und dann, indem er auf das physische Leben verzichtet und sich zum Tode entschließt, wodurch er seine menschliche Würde wiedergewinnt. In beiden Fällen spielt Natalie eine Rolle. Seine Selbsterniedrigung und moralische Selbstvernjchtung vollzieht der Prinz vor ihr: vor der Kurfürstin und vor der Prinzessin bettelt er um sein Leben (III, 5). Und wie die Erinnerung an ihre Liebe es war, die ihn überhaupt von der Todesgefahr überzeugte, in Todesangst stürzte und zu diesem Schritt der Selbstdemütigung veranlaßte, so erreicht die Demütigung ihren Tiefstand, indem er auf Natalies Liebe verzichtet. Die Geliebte ist es denn auch, die seine moralische Selbstvernichtung feststellen und das härteste Urteil
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über ihn fällen muß, das in dem ganzen Drama gefällt wird, indem sie dem Kurfürsten berichtet (IV, 1 Vers 1162 ff.): In den Gemächern eben jetzt der Tante, Wohin im Mantel, schau, und Federhut Er unterm Schutz der Dämmrung kam geschlichen: Verstört und schüchtern, heimlich, ganz unwürdig, Ein unerfreulich jammernswürdger Anblick! Zu solchem Elend, glaubt ich, sänke keiner, Den die Geschieht' als ihren Helden preist. Schau her, ein Weib bin ich und schaudere Dem Wurm zurück, der meiner Ferse naht: Doch so zermalmt, so fassungslos, so ganz Unheldenmütig träfe mich der Tod In eines scheußlichen Leun Gestalt nicht an! Ach, was ist Menschengröße; Menschenruhm! Und nachher ist es wieder Natalie, in deren Gegenwart der Entschluß des Prinzen zu sterben gefaßt wird, in deren Gegenwart er mit seiner Läuterung sich zum physischen Tode entschließt. Sie ist die einzige Person des Dramas, die sowohl bei seiner Selbstvernichtung wie bei seiner Erhebung und seinem Todesentschluß, also bei beiden Arten des „Sterbens", zugeg n ist. Und wie sie ihm einst ihren Handschuh gelassen und ihn dä,mit auf den Weg der Schuld und der Selbsterniedrigung, das heißt seines „ersten Todes" gelockt hatte, so hat sie ihm jetzt den Bri< f des Kurfürsten gebracht, der die Selbstüberwindung des Prinzen und seine Hinwendung zum „zweiten Tode" herbeiführt (den BiM, den man übrigens, wenn man will, psychoanalytisch als ein d( m Handschuh entgegengesetztes Symbol deuten könnte). Und es ist bezeichnend, daß Natalie, die sich bis dahin-den Küssen des Prinz n entzogen hat, ihn in dem Augenblick küßt, in dem er den Entschluß faßt, den Tod zu erleiden. Natalie ist von den Frauengestalti n der Liebespaare in Kleists Dramen wohl die blasseste. Das ist in der Ökonomie des Prinzen von Homburg begründet. Vielleicht .,bcr auch darin, daß ihr und
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ihrer Liebe, ihrem Liebesgefühl das fehlt, was die übrigen Heldinnen Kleists haben: das Bedürfnis, Liebe und Tod zu identifizieren. Aber soweit sie in dieser Haltung und in den Gefühlen, die sie dem Geliebten entgegenbringt, von jenen anderen Heldinnen Kleists entfernt ist, in der Funktion, die sie im Drama innehat, steht sie ihnen doch merkwürdig nahe. Sie hat die Funktion, den Prinzen in die Nähe des Todes zu führen und in der Nähe des Todes bei ihm zu sein, wie sie dann nach der glücklichen Lösung die Aufgabe hat, ihm den Kranz des Sieges und der Errettung auf das Haupt zu drücken. Liebe und Tod sind im Prinzen von Homburg nicht identisch wie in der Penthesilea oder im Käthchen von Heilbronn, sondern sie stehen hier in einer ähnlichen Beziehung zueinander wie in dem Verhältnis Ottokar-Agnes in der Familie Schroffenstein, insofern, als die Liebe Todesgefahr bedeutet. Aber im Gegensatz zu Kleists erstem Drama führt sein letztes aus dem Tod und der Nähe des Todes zum Leben und zur Liebe, und man kann sagen, daß, während dort die Liebe durch den Tod ersetzt wurde, hier an die Stelle des Todes die Liebe tritt. Dort folgte im fünften Akt auf ein Liebesgespräch und die Entkleidung der Braut der Tod. Hier erwartet der Prinz im fünften Akt sein Ende; er nimmt in seinem letzten Monolog Abschied von der Welt und überläßt sich ganz der Seligk e i t des Sterbens (Vers 1830ff.): Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Du strahlst mir durch die Binde meiner Augen Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu! Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern, Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, Die muntre Hafenstadt versinken sieht, So geht mir dämmernd alles Leben unter: Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen, Und jetzt liegt Nebel alles unter mir.
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Doch statt des erwarteten Todes tritt ihm die Geliebte mit dem .Siegeskranz entgegen. Also eine Umkehrung des alten Motivs. Aber bestehen bleibt doch auch in dieser Umkehrung, daß Tod und Liebe sich ablösen und ersetzen können1). 8. Die Novellen Neben den Dramen treten in Kleists Dichtung die Novellen einigermaßen zurück. So hervorragend ihr künstlerischer "Wert ist, und so großartig sie in der Novellenliteratur ihrer Zeit dastehen, Kleist selbst hat sie immer nur als Nebensache betrachtet; und tatsächlich hat er das Eigentliche, das er zu sagen hatte, viel mehr in seinen Dramen als in ihnen ausgesprochen, zumal in den Novellen die seelische Handlung und Entwicklung nicht eigentlich ausgeführt, sondern nur angedeutet wird. Mit dieser Überlegung mag es sich rechtfertigen, daß ich mich,mit ihnen hier nur kurz befasse, obgleich sie für unser Thema keineswegs unergiebig sind. In fünf von Kleists Novellen spielt die Liebe eine Rolle: in der Marquise von 0., im Erdbeben von Chili, in der Verlobung in St. Domingo, im Findling und im Zweikampf. Tragische Spannungen, die sich aus der Liebe ergeben, sind in allen fünf enthalten, oder vielmehr die Liebe ist in ihnen allen tragisch; aber mit dem Tode der Liebenden gehen doch nur die drei mittleren der genannten Novellen aus, während die Marquise von 0 . und der Zweikampf „glücklich" enden. Unsere Formel: Liebe gleich Tod oder vielmehr gleich Töten und Gfitötetwerden läßt sich offenbar auf das Erdbeben in Chili recht x ) Das einzige Drama Kleists, über das bei unserer Fragestellung nichts zu sagen ist, ist der Robert Guiskard: in dem Fragment spielt die Liebe keine Rolle, sondern nur der Tod. Ich möchte aber doch die Vermutung aussprechen, daß Kleist mit der Tragödie eben deshalb nicht fertig geworden ist, weil hier die ihn (wie wir noch sehen werden) ganz persönlich angehende Beziehung von Liebe und Tod fehlte: der Robert Guiskard wurde durch die Penthesilea ersetzt.
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Doch statt des erwarteten Todes tritt ihm die Geliebte mit dem .Siegeskranz entgegen. Also eine Umkehrung des alten Motivs. Aber bestehen bleibt doch auch in dieser Umkehrung, daß Tod und Liebe sich ablösen und ersetzen können1). 8. Die Novellen Neben den Dramen treten in Kleists Dichtung die Novellen einigermaßen zurück. So hervorragend ihr künstlerischer "Wert ist, und so großartig sie in der Novellenliteratur ihrer Zeit dastehen, Kleist selbst hat sie immer nur als Nebensache betrachtet; und tatsächlich hat er das Eigentliche, das er zu sagen hatte, viel mehr in seinen Dramen als in ihnen ausgesprochen, zumal in den Novellen die seelische Handlung und Entwicklung nicht eigentlich ausgeführt, sondern nur angedeutet wird. Mit dieser Überlegung mag es sich rechtfertigen, daß ich mich,mit ihnen hier nur kurz befasse, obgleich sie für unser Thema keineswegs unergiebig sind. In fünf von Kleists Novellen spielt die Liebe eine Rolle: in der Marquise von 0., im Erdbeben von Chili, in der Verlobung in St. Domingo, im Findling und im Zweikampf. Tragische Spannungen, die sich aus der Liebe ergeben, sind in allen fünf enthalten, oder vielmehr die Liebe ist in ihnen allen tragisch; aber mit dem Tode der Liebenden gehen doch nur die drei mittleren der genannten Novellen aus, während die Marquise von 0 . und der Zweikampf „glücklich" enden. Unsere Formel: Liebe gleich Tod oder vielmehr gleich Töten und Gfitötetwerden läßt sich offenbar auf das Erdbeben in Chili recht x ) Das einzige Drama Kleists, über das bei unserer Fragestellung nichts zu sagen ist, ist der Robert Guiskard: in dem Fragment spielt die Liebe keine Rolle, sondern nur der Tod. Ich möchte aber doch die Vermutung aussprechen, daß Kleist mit der Tragödie eben deshalb nicht fertig geworden ist, weil hier die ihn (wie wir noch sehen werden) ganz persönlich angehende Beziehung von Liebe und Tod fehlte: der Robert Guiskard wurde durch die Penthesilea ersetzt.
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schlecht anwenden. Jeronimo und Josefa sterben an der aufgehetzten Bigotterie der Bevölkerung von St. Jago, und keiner von ihnen hat daran gedacht, dem anderen wehe zu tun. Die Situation ist also anders als in sämtlichen Dramen, die vor dem Prinzen von Homburg liegen. Aber immerhin, so weit hergeholt und unwahrscheinlich die Parallele auf den ersten Blick aussieht, es findet sich doch eben zum Prinzen von Homburg eine gewisse Verwandtschaft. Dort brachte Natalie den Prinzen, ohne es zu wollen und zu wissen, in Todesgefahr. Und hier ist die Liebe Jeronimos zu Josefa tödlich; indem er in den Klostergarten eindringt und sich mit ihr vereinigt, überantwortet er sie dem Tode: nach den bestehenden Gesetzen muß diese Vereinigung mit dem Tode bestraft werden. In der Verlobung in St. Domingo tötet Gustav die Geliebte. Das geschieht aus einem Mißverständnis, infolge eines tragischen Zufalls (der freilich nur möglich wird, weil Gustav Toni nicht genug vertraut), und das Verhältnis der Liebenden zueinander hat in seinen wesentlichen Zügen einen ganz anderen Charakter als Quälen und Leiden. Aber immerhin, ursprünglich hatte Toni die Aufgabe und den Willen, Gustav zu töten; die Liebe der beiden entwickelt sich unter ständiger Todesgefahr, und zum Schluß handelt es sich um eine Tötung aus enttäuschter Liebe. Und wenn vorher Gustav von Toni, freilich in der besten Absicht, auf seinem Bett gefesselt wurde, so taucht auch hier in abgewandelter Form wieder das uns bekannte und schon öfter erschienene Motiv der Bezwingung des Geliebten und seiner Demütigung und Willenlosigkeit auf: wenigstens Gustav faßt seine Fesselung nicht anders auf, und eben diese Tatsache ist es, die die Katastrophe herbeiführt. Außer der Geschichte der Liebe Gustavs und Tonis finden sich in der Verlobung in St. Domingo noch drei kleine, immer nur ein paar Zeilen lange Liebesgeschichten, die in die eigentliche Erzählung eingestreut sind. Eine handelt von der Mißhandlung der Geliebten durch den Liebhaber, zwei davon, daß einer der Liebenden den Tod des anderen verschuldet. In der ersten verstößt und verläßt Bertrand seine Geliebte, die Mulattin Babekan; er schwört vor Gericht gegen sie einen Meineid, und die Folge davon ist, daß sie ein Gallenfieber,
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sechzig Peitschenhiebe und schließlich die Schwindsucht bekommt. In der dritten erfährt man, daß Gustav infolge einer unvorsichtigen Äußerung vom Revolutionstribunal verfolgt, von seiner Braut aber gerettet wird, indem sie sich an seiner Stelle hinrichten läßt, wobei übrigens bezeichnend ist, daß die Gemütswallung, in die Toni diese Erzählung versetzt, sie dahin bringt, sich Gustav hinzugeben. Am weitesten kommt unserer Formel die zweite Geschichte nahe. Eine pestkranke Negerin nimmt einen Pflanzer, der sie früher einmal mißhandelt hat, zu sich ins Bett; und unter Liebkosungen und Zärtlichkeiten überträgt sie auf ihn die tödliche Krankheit. Im Findling tritt Nicolo seiner Pflegemutter Elvire im Schlafzimmer, in dem sie sich entkleidet hat, unter der Maske eines früheren, längst toten Geliebten entgegen. Sie fällt in Ohnmacht, und er bedeckt ihren Körper mit wilden Küssen; sie ganz zu besitzen wird er durch das Erscheinen seines Pflegevaters gehindert. Aber die Folge ist, daß Elvire in ein hitziges Fieber fällt, an dem sie stirbt. Hier ist der Wille Nicolos, die Geliebte zu quälen, ganz deutlich: Quälen, Mißhandeln und Lieben sind für ihn dasselbe. Es läßt sich freilich einwenden, daß man in dieser Geschichte eigentlich überhaupt nicht von Liebe reden kann. Nicolo ist ein verworfener Verbrecher, und Kleist spricht, um seine Gefühle zu bezeichnen, von Wollust und schändlicher Leidenschaft, aber nicht von Liebe. Ja, darin unterscheidet sich Nicolo allerdings sehr wesentlich von allen anderen Liebenden der Kleistschen Dramen und Erzählungen, die ihre Geliebten quälen, mißhandeln und töten. Aber ist dieser Unterschied absolut? Ist er tatsächlich nicht nur ein gradueller Unterschied, und stellt die „Liebe" .Nicolos nicht nur ein äußerstes, besonders abstoßendes und häßliches Extrem von dem dar, was sich sonst bei Kleist zeigt? Freilich besteht auch insofern ein, und hier könnte man wohl sagen, ein absoluter Unterschied, als von einer Gegenliebe Elvires keine Rede ist. Aber wenn sie Nicolo auch nicht liebt, so liebt sie doch den, der er zu sein in seiner Maske vorgibt; und das Merkwürdige ist nun, daß sie eben deshalb, weil sie in ihm eine Erscheinung des toten Geliebten sieht, sterben muß. Alles das ist in der sehr knappen und konzentrierten Novelle nur eben mit4*
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geteilt und nicht weiter ausgeführt. Man sieht aber wohl sofort, wenn Kleist die Leidenschaft Nicolos und die Gefühle der Elvire ähnlich ausführlich geschildert hätte wie die Psyche seiner Dramenhelden, so wäre, wenn auch auf anderer Ebene, so etwas wie eine Mischung der Fabeln und der Psychologie der Penthesilea und des Amphitryon zustande gekommen. Über den Zweikampf ist nicht viel zu sagen. Immerhin doch so viel, daß hier die Liebe des Kämmerers Friedrich von Trota zu Littegarde ihn dem Tode auf dem Scheiterhaufen nahebringt, und daß infolge der Liebe zu derselben Littegarde und der Liebesnacht mit Rosalie (die er mit jener verwechselte) der Graf Jakob sich dem Gottesgericht aussetzt und einem qualvollen Tode verfällt. Am ergiebigsten für unsere Fragestellung dürfte neben dem Findling die Marquise von 0. sein. Was geschieht in der Novelle? Der Graf F. vergewaltigt die ohnmächtige Marquise — ein Vorgang, der von Kleist nur angedeutet wird, der aber doch der entscheidende Motor der Handlung ist. Der Graf begeht seine Untat, wie die folgende Entwicklung ganz deutlich macht, aus wirklicher Liebe, und von einer in dieser Liebe verborgenen oder mit ihr konkurrierenden Neigung, die Geliebte zu quälen, ist weder hier noch in der späteren Handlung etwas zu merken. Aber das Sonderbare (ganz abgesehen vom Verbrecherischen) ist doch einmal, daß die Vereinigung mit der Geliebten eben erfolgt, als sie ohnmächtig, das heißt leblos ist: der Graf liebt eine so gut wie Tote, und man wird (außer an Nicolo und Elvire im Fremdling, sowie an das Schlaf- und Traummotiv im Käthchen und im Prinzen von Homburg) an die Vorstellungen aus der Familie Schroffenstein und der Penthesilea erinnert, wo von der Geliebten die Rede ist, die einer Leiche gleicht. Die Liebe zur Marquise und die Vereinigung mit ihr stürzt diese außerdem in Qualen und Verzweiflung, und sie ist nichts anderes als eine Schändung und Demütigung; eine Handlung, auf die das Bild des Schwanes paßt, von dem der Graf erzählt, daß er ihn einst mit Kot beworfen habe, worauf er still untergetaucht sei. Jene Handlung ist zwar nicht physisch aber doch moralisch, was den Ruf der Marquise und ihre Stellung
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im Leben anlangt, ein Mord. Die sich aus ihr ergebende Schwangerschaft ist eine gesellschaftliche Tötung, und zum Überfluß kommt es denn auch infolge davon beinahe noch zur physischen Tötung durch den Vater der Marquise, der seine Pistole auf sie abdrückt. Liebe und Wehtun sind hier, obgleich eigentlich der Wille dazu fehlt, wieder völlig identisch, und die Marquise hat ganz recht, wenn sie meint, daß ihr der Graf, der ihr beim ersten Anblick wie ein Engel erschien, zum Teufel geworden sei: er ist für sie tatsächlich Engel und Teufel zugleich. 9. Ergebnisse: .Liebe und Tod in Kleists Dichtungen Wenn wir uns noch einmal kurz vergegenwärtigen, wie weit die Formel Liebe gleich Tod, das heißt Liebe gleich Wehetun und Töten oder Leiden und Sterben in Kleists Dichtungen verwirklicht ist, und dabei in der Reihenfolge der Entstehung seiner Dramen vorgehen (für die Novellen steht die Zeit der Entstehung bekanntlich nicht genau fest), so ergibt sich etwa folgendes: In der Familie Schroffenstein wollen Agnes und Ottokar einander weder wehe tun noch töten, sie wollen auch nicht leiden und sterben. Tatsächlich tun sie einander auch nicht weh und töten sich nicht. Aber Ottokar wird doch einen Augenblick und Agnes wird während' der beiden ersten großen Liebesszenen fast dauernd von der Vorstellung beherrscht, daß er sie töten müsse und wolle. Und in der Entkleidungsszene des letzten Aktes ist Ottokar gezwungen (oder glaubt gezwungen zu sein), statt Agnes zu lieben selbst zu sterben. In allen Szenen wiederholt sich das Motiv, daß den Liebenden die Liebe verwehrt ist, oder daß sie glauben, sie sei ihnen verwehrt, und daß sie statt der Liebe den Tod erwarten. Johann liebt Agnes ursprünglich gleichfalls „normal". Doch als er sich verschmäht sieht, verwandelt sich seine Liebe in die Sehnsucht, von der Hand der Geliebten zu sterben. Die Geliebte will er tot und einer Leiche gleich sehn, und Wollust und Tod sind ihm eins.
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im Leben anlangt, ein Mord. Die sich aus ihr ergebende Schwangerschaft ist eine gesellschaftliche Tötung, und zum Überfluß kommt es denn auch infolge davon beinahe noch zur physischen Tötung durch den Vater der Marquise, der seine Pistole auf sie abdrückt. Liebe und Wehtun sind hier, obgleich eigentlich der Wille dazu fehlt, wieder völlig identisch, und die Marquise hat ganz recht, wenn sie meint, daß ihr der Graf, der ihr beim ersten Anblick wie ein Engel erschien, zum Teufel geworden sei: er ist für sie tatsächlich Engel und Teufel zugleich. 9. Ergebnisse: .Liebe und Tod in Kleists Dichtungen Wenn wir uns noch einmal kurz vergegenwärtigen, wie weit die Formel Liebe gleich Tod, das heißt Liebe gleich Wehetun und Töten oder Leiden und Sterben in Kleists Dichtungen verwirklicht ist, und dabei in der Reihenfolge der Entstehung seiner Dramen vorgehen (für die Novellen steht die Zeit der Entstehung bekanntlich nicht genau fest), so ergibt sich etwa folgendes: In der Familie Schroffenstein wollen Agnes und Ottokar einander weder wehe tun noch töten, sie wollen auch nicht leiden und sterben. Tatsächlich tun sie einander auch nicht weh und töten sich nicht. Aber Ottokar wird doch einen Augenblick und Agnes wird während' der beiden ersten großen Liebesszenen fast dauernd von der Vorstellung beherrscht, daß er sie töten müsse und wolle. Und in der Entkleidungsszene des letzten Aktes ist Ottokar gezwungen (oder glaubt gezwungen zu sein), statt Agnes zu lieben selbst zu sterben. In allen Szenen wiederholt sich das Motiv, daß den Liebenden die Liebe verwehrt ist, oder daß sie glauben, sie sei ihnen verwehrt, und daß sie statt der Liebe den Tod erwarten. Johann liebt Agnes ursprünglich gleichfalls „normal". Doch als er sich verschmäht sieht, verwandelt sich seine Liebe in die Sehnsucht, von der Hand der Geliebten zu sterben. Die Geliebte will er tot und einer Leiche gleich sehn, und Wollust und Tod sind ihm eins.
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Auch im Amphitryon wollen die Liebenden an sich nichts als sich lieben. Doch die tragikomische Situation führt dazu, daß sie sich, ohne es zu .wollen, auf den Tod kränken und beleidigen. Anders als in dem Verhältnis Ottokar—Agnes handelt es sich dabei nicht mehr um eine Vorstellung und eine Befürchtung, sondern darum, daß Amphitryon mit seinem Mißtrauen Alkmene wirklich in ihren reinsten Gefühlen verletzt, und daß sie ihn tatsächlich verkennt und verwirft. Dabei ist die Liebe selbst noch keineswegs zum Wehtun und Leiden geworden (wie offenbar bei Johann); aber die Liebenden tun einander weh und leiden aneinander. Ähnlich verhält es sich im Zerbrochenen Krug, nur daß hier Evchens Bereitschaft (nicht ihr Wille oder ihre Sehnsucht wie beim Käthchen von Heilbronn), zu leiden d. h. sich mißhandeln zu lassen, viel größer ist als bei Alkmene. In der Penthesilea geht dann die Gleichung Lieben gleich Töten und Wehtun und daneben auch gleich Sterben und Leiden offenbar völlig rein auf. Die Liebenden wollen einander besiegen, niederwerfen und schließlich töten, Penthesilea will auch sterben; und die Liebe Achills und der Amazonenkönigin besteht eben darin, daß sie alles das wollen: die Liebe ist der Tod. Ähnlich rein geht die Gleichung Lieben gleich Leiden und Sich-mißhandeln-lassen im Käthchen von Heilbronn auf. Käthchen leidet, indem sie liebt, und sie liebt, indem sie leidet; und es ist unmöglich, zu entscheiden, ob sie sich zum Leiden um der Liebe willen oder zur Liebe um des Leidens willen drängt: für sie ist beides dasselbe. Die Liebe des Grafen aber äußert sich weitgehend darin, daß er die Geliebte mißhandelt. In der Hermannsschlacht besteht die Liebelei der Thusnelda darin, daß sie den Ventidius kränkt und verspottet und schließlich ermordet. Ihr fehlt völlig die Leidenschaft der Penthesilea, aber die Richtung des Fühlens und Handelns ist bei ihr ähnlich wie bei der Amazone. Im Prinzen von Homburg schließlich ist die Beziehung von Tod und Liebe am losesten und fernsten. Die Liebenden wollen sich nicht wehetun und aneinander leiden wie in der Penthesilea oder
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im Käthchen oder in der Hermannsschlacht oder in der Gestalt Johanns in der Familie Schroffenstein; und sie werden auch nicht gezwungen, es zu tun, wie es im Amphitryon oder im Zerbrochenen Krug geschieht. Aber der Prinz sieht doch in Natalie (ähnlich wie Agnes in Ottokar) für'einen Augenblick die Ursache seines drohenden Todes, und tatsächlich wird ihm ihre Liebe gefährlich, und sie bringt ihn in die Nähe des Todes. Von den Novellen stehen vom Standpunkt unserer Fragestellung aus gesehen der Findling und die Marquise von 0. der Penthesilea und dem Amphitryon verhältnismäßig' nahe; auch in der Verlobung in St. Domingo kann man eine gewisse Verwandtschaft mit der Penthesilea entdecken, während das Erdbeben in Chili und der Zweikampf dem Prinzen von Homburg insofern ähneln, als Liebe und Tod in ihnen nur in einer losen Beziehung stehen, aber eben doch in einer Beziehung, da Tod und Todesgefahr durch die Liebe hervorgerufen werden. Wenn man statt meiner bisherigen, etwas umständlichen Ausdrucksweise die Termini Sadismus und Masochismus anwenden will, so kann man sagen: sadistisch ist die Liebe Penthesileas und Achills, sowie die Liebelei Thusneldas und des Ventidius, aber auch die Liebe Nicolos, des Grafen in der Marquise von 0. und, wenigstens in starkem Maße, die Liebe des Grafen vom Strahl; masochistisch ist die Liebe Käthchens und Johanns, bei dem sich freilich ein starker sadistischer Einschlag findet. In den übrigen Liebesbeziehungen wird man von einem eigentlichen Sadismus oder Masochismus des Liebenwollens und des Liebesgefühls nicht reden können. Aber hier ist, wenn man das so sagen darf, der Zustand, die Situation der Liebe sadistisch oder masochistisch oder beides, insofern als die Liebenden gezwungen werden, sich wehe zu tun. So ist es im Amphitryon und im Zerbrochenen Krug und, wenigstens was die Erwartungen und Befürchtungen Ottokars und Agnes' anlangt, in der Familie Schroffenstein, sowie endlich, wenn auch in stärkerer Abschwächung, im Prinzen von Homburg. Penthesilea und in erheblichem Maße auch Käthchen sind pathologische Gestalten (womit natürlich gegen die Echtheit ihrer Gefühle
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und die Schönheit der Dichtungen, in deren Mittelpunkt sie stehen, nichts gesagt ist). Die übrigen Kleistschen Gestalten, die wir zu besprechen hatten, wird man nicht als pathologisch zu bezeichnen haben; aber sie befinden sich mit ihrer Liebe durchweg in einer sozusagen pathologischen Situation. Nun liegt es mir völlig fern, zu behaupten, daß es sich dabei um etwas schlechthin Abnormes oder auch nur Ungewöhnliches handelt. Einmal dürfte in jeder Liebe irgendwie ein sadistisches und ein masochistisches Moment enthalten sein. Außerdem gibt es genug Tragödien und Komödien in der Weltliteratur, in denen die Liebenden sich kränken, sich wehe tun oder sich umbringen. Man denke etwa daran, daß in allen drei Jugenddramen Schillers der Gatte oder Liebhaber die Geliebte tötet; oder man denke an die Quälereien der Liebe in dem Verhältnis Adelheid—Weislingen, aber auch Minna— Teilheim, von der gezähmten Widerspenstigen oder den Dramen Hebbels und der Modernen wie Strindberg und Wedekind ganz zu schweigen. Doch wenn man diese und andere Parallelen mit dem, was sich bei Kleist findet, genauer vergleichen wollte, so würden sich erhebliche Unterschiede zeigen. Wenn Karl Moor Amalie oder Ferdinand Luise ermordet, so ist von einer Identität von Morden und Lieben wie in der Penthesilea doch nicht die Rede. Daß die Liebe in einem solchen Grade und solcher Intensität wie in der Penthesilea oder im Käthchen mit dem Tode, mit Töten und Sterben gleichgesetzt wird, das ist das Auffällige und Einzigartige. Und wenn auch sehr viel von dem, was wir sonst in unserer Untersuchung über die Todesnähe der Liebe in Kleists Dichtungen festgestellt haben, an sich und allein genommen zweifellos gar nicht auffällig wäre, so ist doch weiter auffällig und einzigartig, daß der Gefühlsgehalt der Kleistschen Liebesszenen durchweg von dieser Todesnähe gespeist ist: es gibt keine Liebesszene und kein Liebespaar bei ihm, in denen dieses Motiv nicht wenigstens anklingt. Ich wies schon darauf hin, wie sehr Agnes und Ottokar sich darin von ihren Vorbildern unter den großen Liebespaaren der Weltliteratur unterscheiden. Ist es an sich auch nichts Auffälliges, wenn die Liebe zum Tode (oder zum
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Leiden und Leidenlassen) in Beziehung gesetzt wird, so ist es sonst in der Literatur doch keineswegs die Regel. Bei Kleist aber ist es die Regel, und das ist das Auffällige. 10. Der „metaphysische" Hintergrund der Liebe in Kleists Dichtungen Wenn Liebe und Tod in Kleists. Dichtungen zusammengehören, so könnte man meinen, daß dabei die Vorstellung vom Jenseits und einer ewigen glücklichen Vereinigung der Liebenden in einer anderen Welt wichtig wäre. Aber so ist es nicht. Der Gedanke an das Jenseits taucht nur selten und dann nur nebenbei-auf; und daß es nicht so ist, entspricht nur dem, was in Kleists Dichtungen an dem Verhältnis von Liebe und Tod wesentlich ist. Da Lieben ein Wehtun und Töten oder ein Leiden und Sterben ist, so findet die Liebe ihre Erfüllung eben im Tode selbst, und an das, was nach dem Tode kommt, braucht sie nicht oder höchstens nur nebenbei zu denken. Aber so deutlich das ist, ebenso deutlich ist doch, daß in fast alle und jedenfalls in alle wesentlicheren Liebesbeziehungen in Kleists Dichtungen etwas Transzendentes und Metaphysisches hineinspielt. Die Liebe sucht bei Kleist zwar nicht das Jenseits, aber sie kommt aus dem Jenseits. Sie ist sozusagen im Himmel beschlossen, und ihr haftet etwas Überirdisches und Göttliches, jedenfalls allem irdisch Zufälligen Entrücktes, etwas Schicksalhaftes und Heiliges an. Daß in der Hermannsschlacht, wo die Liebe nur eine Episode bleibt und im übrigen vornehmlich einen diplomatisch-politischen Sinn hat, davon nicht die Rede ist, ist verständlich. Auch in dem nüchtern realistischen Zerbrochenen Krug und bei der unromantischen Eve, obgleich ihre Liebe viel bedeutsamer ist als die der Thusnelda, ist davon kaum etwas zu merken. Die Liebe zwischen ihr und Ruprecht entsteht und die Ehe wird versprochen bei der Ernte und beim Heumachen (Vers 879f.): Da sagt ich: willst du? Und sie sagte: Ach! Was du da gakelst. Und nachher sagt sie: Ja.
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Leiden und Leidenlassen) in Beziehung gesetzt wird, so ist es sonst in der Literatur doch keineswegs die Regel. Bei Kleist aber ist es die Regel, und das ist das Auffällige. 10. Der „metaphysische" Hintergrund der Liebe in Kleists Dichtungen Wenn Liebe und Tod in Kleists. Dichtungen zusammengehören, so könnte man meinen, daß dabei die Vorstellung vom Jenseits und einer ewigen glücklichen Vereinigung der Liebenden in einer anderen Welt wichtig wäre. Aber so ist es nicht. Der Gedanke an das Jenseits taucht nur selten und dann nur nebenbei-auf; und daß es nicht so ist, entspricht nur dem, was in Kleists Dichtungen an dem Verhältnis von Liebe und Tod wesentlich ist. Da Lieben ein Wehtun und Töten oder ein Leiden und Sterben ist, so findet die Liebe ihre Erfüllung eben im Tode selbst, und an das, was nach dem Tode kommt, braucht sie nicht oder höchstens nur nebenbei zu denken. Aber so deutlich das ist, ebenso deutlich ist doch, daß in fast alle und jedenfalls in alle wesentlicheren Liebesbeziehungen in Kleists Dichtungen etwas Transzendentes und Metaphysisches hineinspielt. Die Liebe sucht bei Kleist zwar nicht das Jenseits, aber sie kommt aus dem Jenseits. Sie ist sozusagen im Himmel beschlossen, und ihr haftet etwas Überirdisches und Göttliches, jedenfalls allem irdisch Zufälligen Entrücktes, etwas Schicksalhaftes und Heiliges an. Daß in der Hermannsschlacht, wo die Liebe nur eine Episode bleibt und im übrigen vornehmlich einen diplomatisch-politischen Sinn hat, davon nicht die Rede ist, ist verständlich. Auch in dem nüchtern realistischen Zerbrochenen Krug und bei der unromantischen Eve, obgleich ihre Liebe viel bedeutsamer ist als die der Thusnelda, ist davon kaum etwas zu merken. Die Liebe zwischen ihr und Ruprecht entsteht und die Ehe wird versprochen bei der Ernte und beim Heumachen (Vers 879f.): Da sagt ich: willst du? Und sie sagte: Ach! Was du da gakelst. Und nachher sagt sie: Ja.
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Immerhin, wenn Ruprechts und Eves Ehe auch nur bei der Ernte und nicht im Himmel beschlossen ist, so ist doch gerade im Zerbrochenen Krug der Hinweis auf ein Jenseits, wo sich die hier enttäuschte Liebe bewähren könnte, deutlicher als in allen anderen Dramen Kleists; in den schon zitierten Versen: Es wird sich alles ihr zum Ruhme lösen, Und ists im Leben nicht, so ist es jenseits, Und wenn wir auferstehn, ist auch ein Tag. Fehlt es aber in der Hermannsschlacht ganz, und im Zerbrochenen Krug fast, so ist das hier besprochene Motiv in allen anderen Dramen Kleists um so unverkennbarer. Im Amphitryon ist das so klar, daß man kaum ein Wort darüber zu verlieren braucht. Es ist der höchste der Götter selbst, der Alkmene liebt und sie zwingt, ihn zu lieben und an seiner Liebe zu leiden. Ihre Liebe und ihr Schicksal sind im Ratschluß der Götter beistimmt; in das, was ihr widerfährt, ragt das Transzendente und Metaphysische unmittelbar hinein, ihre Liebe wird dadurch erhöht und geheiligt, und Kleist hat dabei Vorstellungen mitspielen lassen, die an den Kult der Jungfrau Maria erinnern. Ähnlich gegenständlich und wunderbar wie im Amphitryon wird im Käthchen von Heilbronn die Liebe von überirdischen Mächten bestimmt und gelenkt; nur daß es sich diesmal nicht um die Einwirkung eines etwas katholisierten Olymps, sondern um das Eindringen der Legendenwelt des Mittelalters handelt. In Visionen und Träumen wird Käthchens Liebe beschlossen und entzündet, längst ehe sie den Geliebten körperlich sieht, und ein Cherub ist es, der ihn in der Silvesternacht mit ihr zusammenführt. Wie Käthchens Liebe längst vor ihrer Begegnung mit dem Grafen vom Strahl von himmlischen Gewalten beschlossen ist, so ist es auch Penthesilea bestimmt, Achill zu lieben, längst ehe sie ihn gesehen hat. Daß sie überhaupt lieben und kämpfen soll, ist der Wille des Kriegsgotts, den er durch den Mund seiner Priesterin hat verkünden lassen. Und daß es Achill ist, den sie lieben soll, ist der Wille ihrer sterbenden Mutter; sie hat ihr in der Todesstunde (und der letzte Wille der Sterbenden ist wohl etwas Ähnliches wie der Spruch einer
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Gottheit) den Peliden zum Gatten auserkoren: während Penthesilea durch die Ebeiien und Täler Asiens zum Skamander heranzieht, ist Achill "schon ihr einziger Gedanke und ihr ständiger Traum. Merkwürdig abgewandelt, man möchte sagen, noch halb fertig und unentwickelt erscheint unser Motiv in der Familie Sßhroffenstein. Es ist keine Gottheit und kein Engel, die Agnes mit Ottokar und Johann zusammenführen. Doch Johann erscheint sie selbst bei der ersten Begegnung wie ein rettender Engel, und „das Geschäft der Engel tat sie" (Vers 295). Ottokar aber sagt von ihrem ersten Zusammentreffen, wo er sie schlafend fand, eine Göttin schien sie „gepflegt" zu haben (III, 1); und da sie ihm ihren Namen nicht nannte und behauptete, sie sei noch nicht getauft, so taufte er sie (Vers 1267f.): Weil du ein Ebenbild der Mutter Gottes, Maria tauf ich dich. So ungeschickt dies Motiv erfunden und ausgeführt ist, was es meint, ist wohl deutlich: die Liebe als göttlichen Neubeginn. Auch im Prinzen von Homburg erscheint die Vorstellung von der Göttlichkeit und der überirdischen Bestimmung der Liebe gegenüber dem Amphitryon, der Penthesilea und dem Käthchen von Heilbronn einigermaßen abgeblaßt. Aber vorhanden ist sie, und im Gegensatz zur Familie Schroffenstein ist sie hier ebenso schön wie natürlich gestaltet. So wenig die Liebe im Prinzen von Homburg im Vordergrund steht, die Erhöhung und Vergöttlichung der Geliebten findet auch hier statt. Einmal in den Worten des Prinzen (Vers 1062 f.): Hättst du zwei Flügel, Jungfrau, an den Schultern, Für einen Engel wahrlich hielt ich dich. Und dann am Anfang und am Schluß des Dramas. Beide Male erscheint Natalie tatsächlich als Engel, der mit dem Siegeskranz (und das erstemal ist dieser Siegeskranz zugleich ein Todeskranz) dem Geliebten entgegentritt. In den Novellen taucht von unserem Motiv wenigstens im Findling und in der Marquise von 0. eine Andeutung auf, also in den beiden Erzählungen, von denen wir feststellen konnten, daß die x
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Gleichsetzung von Liebe und Tod in ihnen am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Im Findling ist die Liebe Elvires zu dem verstorbenen Colino, ihrem Lebensretter, von einer gewissen jenseitsverbündenen Mystik erfüllt; Elvire selbst erscheint fast als Heilige, und ebe» infolge ihrer Liebe zu dem Toten wird ihre Begegnung mit Nicolo so verhängnisvoll. In der Marquise von 0. tritt der Graf der Marquise als ihr Lebensretter und in dieser Eigenschaft, wie ausdrücklich gesagt wird, wie ein Engel entgegen; ihre Schwangerschaft ist aber die Folge einer Art unbefleckter Empfängnis, und ihre Gestalt und ihre Liebe erhalten daher einen eigentümlichen Hauch von Unschuld und Heiligkeit. Die Tatsache, daß in Kleists Dichtungen die Liebe etwas Göttliches und besonders Schicksalhaftes ist, scheint mir mit ihrer Todesnähe zu korrespondieren. Dadurch, daß die Liebe irgendwie mit dem Tod, oder wenigstens mit dem Leid verbunden ist, bekommt sie ein größeres Gewicht und eine größere Würde; sie greift tiefer ein, sie ist entscheidender und mächtiger, als wenn sie allein stände, sie erfaßt, durchdringt und begrenzt das Ganze des Lebens, und es geht in ihr wirklich um alles. Dem entspricht es, daß sie göttlicher Weihe, göttlichen Ursprungs und eine Tochter des Schicksals ist. 11. Die psychologischen Ursachen Woher kommt die eigentümliche Einstellung zur Liebe und ihr Verhältnis zum Tode in Kleists Dichtungen? U N G E R hat in seiner erwähnten Studie (in der die hier erörterte Einstellung freilich kein Problem war) für das, was er über die Anschauung vom Tode bei Kleist feststellte, unter anderem nach literarischen Beeinflussungen und Abhängigkeiten gesucht; vor und nach ihm haben es andere ähnlich gemacht, und es liegt nahe, danach zu suchen. Doch die Ausbeute ist gering. Am nächsten und deutlichsten ist nach U N G E R S Auffassung noch die Verwandtschaft zwischen Kleist und Novalis. Unter den Romantikern und den Dichtern, die
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Gleichsetzung von Liebe und Tod in ihnen am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Im Findling ist die Liebe Elvires zu dem verstorbenen Colino, ihrem Lebensretter, von einer gewissen jenseitsverbündenen Mystik erfüllt; Elvire selbst erscheint fast als Heilige, und ebe» infolge ihrer Liebe zu dem Toten wird ihre Begegnung mit Nicolo so verhängnisvoll. In der Marquise von 0. tritt der Graf der Marquise als ihr Lebensretter und in dieser Eigenschaft, wie ausdrücklich gesagt wird, wie ein Engel entgegen; ihre Schwangerschaft ist aber die Folge einer Art unbefleckter Empfängnis, und ihre Gestalt und ihre Liebe erhalten daher einen eigentümlichen Hauch von Unschuld und Heiligkeit. Die Tatsache, daß in Kleists Dichtungen die Liebe etwas Göttliches und besonders Schicksalhaftes ist, scheint mir mit ihrer Todesnähe zu korrespondieren. Dadurch, daß die Liebe irgendwie mit dem Tod, oder wenigstens mit dem Leid verbunden ist, bekommt sie ein größeres Gewicht und eine größere Würde; sie greift tiefer ein, sie ist entscheidender und mächtiger, als wenn sie allein stände, sie erfaßt, durchdringt und begrenzt das Ganze des Lebens, und es geht in ihr wirklich um alles. Dem entspricht es, daß sie göttlicher Weihe, göttlichen Ursprungs und eine Tochter des Schicksals ist. 11. Die psychologischen Ursachen Woher kommt die eigentümliche Einstellung zur Liebe und ihr Verhältnis zum Tode in Kleists Dichtungen? U N G E R hat in seiner erwähnten Studie (in der die hier erörterte Einstellung freilich kein Problem war) für das, was er über die Anschauung vom Tode bei Kleist feststellte, unter anderem nach literarischen Beeinflussungen und Abhängigkeiten gesucht; vor und nach ihm haben es andere ähnlich gemacht, und es liegt nahe, danach zu suchen. Doch die Ausbeute ist gering. Am nächsten und deutlichsten ist nach U N G E R S Auffassung noch die Verwandtschaft zwischen Kleist und Novalis. Unter den Romantikern und den Dichtern, die
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der Romantik nahestehen, sind Kleist und Novalis tatsächlich diejenigen, deren Dichtung am meisten Beziehung zum Tode hat, und nicht bloß zum Tode, sondern zu der Verbindung von Tod und Liebe: auch bei Novalis (wie auch sonst in der Romantik) ist die Liebe zum Tode gehörig und der Tod zur Liebe. Doch das ändert nichts daran, daß zwischen Kleist und Novalis ein grundlegender Unterschied besteht. Wohl könnte sich auch bei Kleist eine Vorstellung wie die des Novalis vom Tode als Brautnacht finden, und Novalis' Vers „Zur Hochzeit ruft der Tod" spricht Gedanken aus, wie wir sie bei Kleist immer wieder kennengelernt haben. Doch so sehr sich beide Dichter darin ähneln, daß Tod und Liebe bei ihnen identisch sind, der Sinn, die Ursachen und das Ziel dieser Identität sind bei beiden völlig verschieden. Bei Novalis handelt es sich um die Sehnsucht, im Tode zu versinken, um sich mit der verstorbenen Geliebten wieder zu vereinigen; und diese Sehnsucht ist von einer christlich gefärbten Todesmystik und Jenseitsschwärmerei erfüllt. Das, was sich uns bei Kleist als das Wesentliche gezeigt hat, die Tendenz, die Geliebte zu quälen und zu töten, fehlt völlig. Aber selbst wenn sich in diesem Punkte noch stärkere Ähnlichkeiten zwischen Kleist und anderen Dichtern nachweisen lassen sollten (an gewisse Parallelen etwa zu Schiller habe ich schon erinnert), so wäre das für die Frage nach der Herkunft von Kleists Einstellung letzten Endes belanglos. Daß eine Vorstellung, die immer wieder mit solcher Konsequenz und Intensität erscheint, wie die Vorstellung von der Zusammengehörigkeit von Liebe und Tod in Kleists Dichtungen, von außen her angeregt, übernommen und entlehnt ist, ist von vornherein sehr unwahrscheinlich. Kleist hat einmal (in einem Brief vom Spätherbst 1807, Nr. 103) gesagt, in der Penthesilea liege sein „innerstes Wesen", „der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner Seele". Die Penthesilea ist die Dichtung, in der sich die Identität von Liebe und Tod am schonungslosesten und am folgerichtigsten enthüllte. Daß es aber so ist, entspringt in der Tat Kleists „innerstem Wesen", und es läßt sich nachweisen, daß auch sonst und überhaupt jene Zusammengehörigkeit ihren Ursprung nicht in einer äußeren und lite-
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rarischen Einwirkung gehabt haben kann, sondern daß sie aus dem tiefsten Lebensgefühl des Dichters und semer seelischen Struktur selbst stammt (womit gegen die Möglichkeit einer äußeren Beeinflussung in einzelnen Momenten und Motiven natürlich nichts gesagt sein soll). Heinrich von Kleist hat sich selbst getötet, und wenn sein Selbstmord auch durch äußere Ursachen wie die Ausweglosigkeit seiner wirtschaftlichen Lage, die Katastrophe Preußens oder den Konflikt mit seinen Geschwistern mitbestimmt gewesen ist, so ist doch keine Frage, daß er einer tiefen inneren Veranlagung des Dichters entsprang. Als sein bester Freund, Ernst von Pfuel, der mit Kleist seit seiner Potsdamer Offizierszeit bekannt und befreundet war, die Nachricht von seinem Tode erhielt, äußerte er zu Brentano, er habe nie etwas anderes von Kleist erwartet 1 ). Und an Karoline von Fouqué schreibt er ein paar Wochen später: „Dagegen, daß Kleist sich überhaupt den Tod gab, habe ich nichts, gar nichts, er war so gequält und zerrüttet, daß er den Tod mehr lieben mußte als das Leben Es war gut, daß er starb, das Herz war ihm schon lange gebrochen." 2 ) Tatsächlich taucht der Gedanke an den Tod, bald in der Form der Todesfurcht, meistens aber in der Form der Todeserwartung und Todeshoffnung, schon sehr früh in Kleists Leben auf. Sehen wir zunächst seine Briefe durch, so finden wir in einem Brief an seine Braut, Wilhelmine von Zenge (vom 13. November 1800, Nr. 25), die Worte: „Wenn ich auch auf dieser Erde nirgends meinen Platz finden sollte, so finde ich vielleicht auf einem andern Sterne einen um so bessern." Denselben Gedanken wiederholt er fast wörtlich zwölf Tage später in einem Brief an seine Schwester Ulrike (Nr. 28); und noch ein dreiviertel Jahr danach äußert er ihn in einem Brief an Karoline von Schlieben abermals, wobei er freilich nicht sich selbst, sondern ihr diesen besseren Platz auf einem anderen Sterne wünscht (Nr. 45). Am 9. April 1801 schreibt er (Nr. 39) in einem Brief an Wilhelmine: „Mir flüstert eine Ahnung zu, daß mir 1 2
Vgl. von Biedermann, S. 229 f. ebenda S. 227 f. Vgl. dazu und zum folgenden Unger S. 92 ff.
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mein Untergang bevorsteht." Gegen Ende des Jahres heißt es in einem Brief an den Maler Lohse (vom 23. Dezember 1801, Nr. 53): „ 0 wenn Gott diesmal mein krankhaftes Gefühl nicht betrügen wollte, wenn er mich sterben ließe!" Und am 20. Mai 1802 (Nr. 60) schreibt er an Wilhelmine, er habe keinen anderen Wunsch, als bald zu sterben; zwei Monate später (Nr. 61) an Wilhelm von Pannwitz: „Ich bitte Gott um den Tod." Merkwürdig und auffällig ist die Gestalt, in der diese Gedanken und Wünsche in einem Brief an Kleists Stiefschwester Ulrike vom 1. Mai 1802 (Nr. 59) erscheinen. Einmal redet Kleist hier von der „seltsamen Furcht, ich möchte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet habe", und ein paar Sätze später heißt es: „Ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht und eine große Tat. Denn das Leben hat doch immer nichts "Erhabeneres als nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann." Also ein freiwilliger Tod nach der Erreichung eines höchsten Zieles und eines äußersten Glückes: man wird unwillkürlich an Penthesileas Worte erinnert, in denen sie sich im Augenblick des höchsten Glückes „ganz reif zum Tode" fühlte. In der zuletzt erwähnten Briefstelle spielt Kleist unverkennbar mit dem Gedanken an den Selbstmord. Doch der Gedanke, daß man sein Leben wegwerfen müsse, findet sich auch schon in einem Brief an Wilhelmine vom 21. Juli 1801 (Nr. 46); und wenn er anderthalb Monate vorher (am 3. Juni, Nr. 43) an dieselbe schreibt: „Ach, es ist ekelhaft zu leben", so ist der Gedanke an den Selbstmord offenbar nicht weit entfernt. Dieser Gedanke steht wohl auch schon in den. erwähnten Briefen vom November 1800 im Hintergrund, in denen von dem Finden eines besseren Platzes auf einem anderen Stern die Rede war. Auf denselben Gedanken spielt dann Kleist am 23. März 1801 (Nr. 36) an, wenn er an Ulrike von der Möglichkeit einer unwiderruflichen Verirrung schreibt, der er durch die damals geplante Pariser Reise entgehen will. Ganz deutlich wird die Absicht, sich selbst zu töten, zum ersten Male in dem Brief an Wilhelmine vom 15. August 1801 (Nr. 47) ausgesprochen: „Ich will mich nicht mehr übereilen — tue ich es noch einmal, so ist es das letztemal —
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denn ich verachte entweder alsdann meine Seele oder die Erde und trenne sie." Der Gedanke an Tod und Selbstmord tritt in Kleists Briefen seit dem Sommer 1802 unverkennbar zurück. Daß er in seinem Denken von da an eine geringere Rolle gespielt hat, ist daraus aber nicht zu schließen. Seit dem Sommer 1802 sind uns von Kleist verhältnismäßig weniger Briefe erhalten als für die Jahre 1800 und 1801; und vor allem, die erhaltenen sind, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, viel weniger persönlich, sie sind viel zurückhaltender und darum für Kleists Denken und Fühlen weniger aufschlußreich als die älteren Briefe. Immerhin, von Tod und Selbstmord ist auch in diesen späteren Briefen noch die Rede. So in dem berühmten Brief an Ulrike vom 28. Oktober 1803 (Nr. 71), in dem er ihr berichtet, daß er mit dem französischen Heer „nach England hinüber rudern" will: „unser aller VerderbeTr lauert über dön Meeren, ich frohlocke bei der Aussicht auf das unendlich-prächtige Grab." Oder in dem Brief an Rühle von Lilienstern vom 31. August 1806 (Nr. 85): „Laß uns etwas Gutes tun und dabei sterben." In einem Brief vom Juni 1807 (Nr. 93) an einen unbekannten Empfänger schließlich heißt es: „Ach, es ist ein ermüdender Zustand, dieses Leben, recht, wie Sie sagen, eine Fatigue." Und in demselben Brief erinnert Kleist an den Sommer vor drei Jahren, wo er und sein Freund Pfuel in jeder Unterredung „immer wieder auf den Tod als den ewigen Refrain des Lebens zurückkamen". Doch auch außerhalb von Kleists Briefen ist uns oft genug überliefert, daß er mit dem Gedanken an den Selbstmord umging. In seiner Jugend soll er sich mit seinem Vetter Karl von Pannwitz verabredet haben, sich zu erschießen1). Nach einer Überlieferung, die wohl auf Pfuel oder Rühle von Liliensterri zurückgeht, berichtet Bülow, Kleist habe schon etwa zehn Jahre vor seinem Tode an der Stelle, an der er sich später erschoß, gegenüber jenen beiden Freunden die Absicht des Selbstmordes ausgesprochen2). Aus der Zeit von Kleists Dresdener Aufenthalt im Jahre 1803 hören wir von 1 2
Vgl. von Biedermann, S. 30. ebenda 'S. 114.
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Selbstmordabsichten, die er gegen Karoline von Schlieben und Pfuel geäußert hat 1 ). In demselben Jahre hat er Pfuel gegenüber in Paris dasselbe vorgebracht, wie er überhaupt zu ihm sich sehr oft über Selbstmordabsichten geäußert haben muß: Pfuel sagt, daß er in Momenten des traulichsten Verkehrs häufig von dieser Absicht sprach2). Im Zusammenhang mit dem Selbstmordversuch eines Freundes (von Schlotheim) im Frühjahr 1805 heißt es von Kleist in einem gleichzeitigen Briefe, daß er „mit ihm gleich empfindet" 3 ). Im Herbst 1807 hat Kleist in Dresden offenbar den Versuch gemacht, sich mit Opium zu vergiften 4 ). Und daß er Marie von Kleist gegenüber öfter Selbstmordgedanken vorgebracht hat, geht aus seinem letzten Briefe an sie hervor (Nr. 192). Pfuels Meinung, er habe nie etwas anderes von Kleist erwartet als den Selbstmord, erscheint also völlig verständlich und bestätigt 5 ). Einen entscheidenden Grund für Kleists Sehnsucht nach dem Tode haben wir schon in Pfuels Worten kennengelernt: „Er war so gequält und zerrüttet, daß er den Tod mehr lieben mußte als das Leben." Daß es so war, geht aus allem, was wir von Kleist wissen, deutlich genug hervor, und er selbst hat es vom Anfang bis zum Schluß seines Lebens oft genug betont. So etwa am 5. Februar 1801 in einem Brief an Ulrike (Nr. 33): „Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit." Und wenige Tage vor dem Ende schreibt er an Marie von Kleist (am 12. November 1811, Nr. 192) von seinem Leben als „dem allerqualvollsten, das je ein Mensch geführt" habe. Kurz vor1
ebenda S. 88 f. und 94 ff. ebenda S. 94 ff., besonders S. 98. 8 ebenda S. 105 f. 1 ebenda S. 114. s Die Einwände, die gegen Pfuels Berichterstattung, besonders von S. Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter (1909) vorgebracht werden, scheinen mir nicht stichhaltig zu sein. Was Pfuel über Kleists Selbstmordabsichten ebenso wie über seine später zu besprechenden Doppelselbstmordabsichten sagt, dürfte durch alles, was wir sonst von Kleist erfahren, und besonders durch das, was wir aus seinen Briefen und Werken schließen können, völlig bestätigt werden. Vgl. auch Unger S. 98. 2
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her heißt es in einem Brief (vom 10. November, Nr. 191) an dieselbe: „Ich schwöre dir, es ist mir ganz unmöglich, länger zu leben; meine Seele ist so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert." Und in demselben Brief heißt es: „Die (nämlich Henriette Vogel) meine Traurigkeit als eine höhere, fest gewurzelte und unheilbare begreift." Diese festgewurzelte, unheilbare Traurigkeit wird man überall in Kleists Leben finden: es ist das Leiden am Leben, das ihn ^us dem Leben treibt. Aber man würde irren, wenn man annähme, daß es nur eine Stimmung der Traurigkeit und Verzweiflung ist, die Kleist das Ende ersehnen läßt. Tatsächlich ist er am 21. November 1811 in einem Taumel von Glück und Seligkeit in den Tod gegangen; und das Gefühl des Glücks zeigt sich auch früher immer wieder inmitten aller Verzweiflung und allem Lebensüberdruß, wenn Kleist daran denkt, zu sterben. Ich erinnere an den schon zitierten Brief an Ulrike vom 26. Oktober 1803: „Ich frohlocke bei der Aussicht auf das unendlich-prächtige Grab." Oder man denke an den Brief an Rühle vom 31. August 1806: „Komm, laß uns etwas Gutes tun und dabei sterben! Einen der Millionen Tode, die wir schon gestorben sind und noch sterben werden." — „Denke nur, diese unendliche Fortdauer !" — „Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es igt bloß ein unbegriffner!" Oder erinnern wir uns, daß er an Ulrike am 1. Mai 1802 aus der Schweiz schrieb, er wolle sterben, wenn ihm seine drei Wünsche erfüllt seien; also ein Tod im Augenblick des höchsten Glücksgefühls. Oder man denke an einen Satz wie den an den Maler Lohse vom Dezember 1801 (Nr. 53): „Ich fühle mich so friedliebend, so liebreich, wie in der Nähe einer Todesstunde." Das eine dürfte jedenfalls sicher sein: der Selbstmord ist für Kleist nicht bloß ein Ausweg und eine Flucht, sondern zugleich eine Erfüllung. Das mag mit dem Unsterblichkeitsglauben des Dichters zusammenhängen, der uns bald (worauf U N G E B großen Wert gelegt hat) als Sternen- und Seelenwanderungsglaube, bald in anderen Formen entgegentritt. Aber außerdem ist der Tod f ü r Kleist eine Sehnsucht
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gewesen, weil er für ihn ein Liebeserlebnis war, und das ist für unsere Fragestellung entscheidend. Wir wissen aus den Erzählungen Ernst von Pfuels, daß, wenn Kleist von der Absicht sprach, seinem Leben ein Ende zu machen, er diese Absicht „merkwürdigerweise immer mit dem Wunsche" äußerte, „das nicht allein zu tun" 1 ). Das „immer" mag nicht ganz richtig sein, wofür z. B. der freilich etwas unsichere Selbstmordversuch durch Gift im Herbst 1807 spricht. Doch wie dann schließlich Kleists Selbstmord tatsächlich ein Dqppelselbstmord (oder vielmehr ein Mord und ein Selbstmord) war, indem er mit sich zusammen Henriette Vogel erschoß, so hat er auch vorher oft genug nach einem Partner für einen gemeinsamen Tod gesucht. Schon die, freilich auch etwas unsicher überlieferte, Verabredung mit Karl von Pannwitz, sich das Leben zu nehmen, hat man wohl als eine Verabredung zum gemeinsamen Tode aufzufassen. Pfuel hat er offenbar sehr oft aufgefordert, mit ihm zusammen zu sterben 2 ). So auch 1803 in Paris, und die damals nach Pfuels Ablehnung auftauchende Absicht, zusammen mit dem französischen Heer im Kampf gegen England das Grab zu finden, ist ja auch nichts anderes als die selbstmörderische Sehnsucht nach einem Tode zusammen mit anderen. In dem zitierten Brief an Rühle vom 31. August 1806 findet sich gleichfalls, wenn auch mehr beiläufig, der Wunsch, mit ihm gemeinsam aus dem Leben zu scheiden: „Komm laß uns etwas Gutes tun und dabei sterben." Von Fouque nimmt man, wenn auch mit recht vagen Gründen an, daß ihn Kleist ebenfalls zu einem gemeinsamen Tode habe bereden wollen. Daß er Marie von Kleist „mehrmals gefragt habe, ob sie mit ihm zusammen sterben wolle", schreibt er in einem seiner letzten Briefe (Nr. 192) an Marie selbst. Zu Karoline von Schlieben, der Braut des Malers Lohse, hat er einmal gesagt, er wolle eine Pistole nehmen und sie und sich totschießen: „Ich kann Ihnen schon den Gefallen tun." 3 ) Und der Wunsch, mit seiner Stiefschwester Ulrike zusammen oder 1 a 3
Vgl. von Biedermann, S. 95 ff., besonders S. 98. Vgl. die vorige Anmerkung. Vgl. von Biedermann, S. 88 f. 5*
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wenigstens in ihren Armen zu sterben, klingt in seinen Briefen öfter an. Was bedeutet das alles? Man hat Kleists gemeinsamen Tod mit Henriette Yogel (um seine frühere Suche nach Todespartnern hat man sich, soweit ich sehe, weniger gekümmert) mit dem sozusagen normalen und jedenfalls verständlichen Wunsche erklärt, für den letzten Schritt einen Gefährten zu haben; nach der Einsamkeit seines Daseins habe Kleist wenigstens im Tode nicht allein sein wollen. Darüber hinaus sieht U N G E R in Kleists gemeinsamem Sterben mit Henriette einen Opfertod: er habe, um der unheilbar kranken Henriette Vogel den erwünschten vorzeitigen Tod zu ermöglichen, selbst sein Leben geopfert. Daß Kleist einen Gefährten für seinen Tod suchte, ist keine Frage. Doch damit ist noch nicht viel ausgesagt und auch nicht viel erklärt. Sein Ende aber als Opfertod zu bezeichnen, scheint mir nicht angängig zu sein. Gewiß, der Gedanke mag nebenbei auch mitgespielt haben. Aber im Ernst kann man doch nicht davon reden: für Kleist war das Leben wertlos und unerträglich, er hatte keinen größeren Wunsch, als'es zu enden; da kann man dies Ende nicht gut als Opfer betrachten. Er selbst hat, wenn auch einmal eine Wendung an den Opfergedanken erinnern mag1), seinen Tod jedenfalls ganz anders aufgefaßt. Für ihn war der Doppelselbstmord mit Henriette Vogel ein Liebeserlebnis; sein Sterben war Liebe, und das war es, nicht weil er für Henriette starb, sondern weil er mit ihr starb oder vielleicht richtiger gesagt, weil er sie und sich tötete. Diese Sachlage scheint mir völlig klar zu sein. Wenn Kleist in den letzten Briefen an seine Kusine Marie meint, seine Seele sei durch die Berührung mit der Henriettes zum Tode ganz reif geworden2), oder wenn er schreibt: „der Entschluß, der in ihrer Seele aufging, mit mir zu sterben, zog mich, ich kann Dir nicht sagen, mit welcher unaussprechlichen und unwiderstehlichen Gewalt, an ihre Brust", so hat er darin das Wesentliche seiner Beziehung zu Hen1 In dem Brief an Marie von Kleist Nr. 190. * Wobei übrigens die Erinnerung an die Penthesilea deutlich ist.
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riette ausgesprochen. Er liebte sie, weil sie mit ihm zu sterben oder wohl richtiger von ihm sich töten zu lassen bereit war, und er wollte mit ihr sterben, das heißt, sie und sich ermorden, weil er sie liebte. Jedenfalls ist diese tödliche Liebe wohl die ^glücklichste", jedenfalls die konsequenteste gewesen, und die Stunden vor seinem Tode dürften die heitersten gewesen sein, die Kleist jemals erlebt hat. Keiner seiner Liebesbriefe an seine Braut oder an andere Freundinnen atmet auch nur im entferntesten die Zärtlichkeit und Leidenschaft wie der einzige sicher bezeugte Brief Kleists an Henriette (Nr. 153)1). Und mag auch manches in seinen letzten Briefen und Äußerungen unecht klingen und objektiv unwahr sein, der Rausch von Heiterkeit und Liebesseligkeit, der aus allem spricht, was wir aus den letzten Tagen seines Lebens von ihm wissen, ist ohne Frage echt. Worum es sich bei seinem und Henriettes Tode für ihn handelte, das hat er am deutlichsten und bündigsten in den Worten an Marie von Kleist gesagt (Nr. 192), in denen er von dem „wollüstigsten aller Tode" spricht, mit dem ihm Gott sein Leben vergüte; „ich kann dir nicht leugnen, daß mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt." Ähnlich wie der letzte sind nun, glaube ich, auch Kleists frühere Anträge zu verstehen, mit einem anderen Menschen gemeinsam zu sterben. Die Frauen, von denen wir wissen oder vermuten können, daß er mit ihnen zusammen sterben wollte, hat er geliebt. Am stärksten und innigsten wohl Marie von Kleist, und am längsten und unentwegtesten, wenn auch mit starken Gefühlsschwankungen, und ohne daß ihm seine Gefühle immer klar gewesen sein dürften, seine Stiefschwester Ulrike. Der Antrag an Karoline von Schlieben, sich mit ihr zusammen zu erschießen, ist nur sozusagen nebenbei geschehen, und viel hat denn auch die Liebe zu Karoline anscheinend nicht zu bedeuten gehabt. Aber daß Kleist sie liebte (wie auch ihre Schwester Henriette, mit der er bekanntlich sogar verlobt ge1 Der Brief gehört schwerlich, wie Minde-Pouet in der Ausgabe der Briefe meint, in den Herbst 1810, sondern wohl sicher, wie A. Sauer, Kleists Todeslitanei, Prager Deutsche Studien 7 (1907), annimmt, in die letzte Zeit vor Kleists Tode.
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wesen sein soll), ist keine Frage: der einzige Brief an Karoline, den wir kennen (Nr. 45), ist ein echterer Liebesbrief als fast alle seine Brautbriefe (soweit sie uns erhalten sind). Doch wenn auch deutlich ist, daß Kleist diese Frauen geliebt hat — läßt sich die Anschauung, daß sein Wunsch, zu töten und mit einem anderen Menschen zu sterben, Liebe war, auch gegenüber den Anträgen Kleists an seine Freunde aufrechterhalten, iliit ihnen gemeinsam zu sterben (Anträge, von denen man als ganz sicher freilich wohl nur den an Pfuel ansehen kann)? Ich glaube, ja. Die Fragen, mit denen wir uns jetzt kurz befassen müssen, sind in der Kleistliteratur sehr umstritten, und man hat dabei einigermaßen zwischen den äußersten Extremen geschwankt. Man hat Kleist (abgesehen von anderen Perversitäten und Abnormitäten) für völlig homosexuell, aber auch für völlig normal gehalten. Mir scheint keine Frage zu sein, daß er, wie seine Dichtungen und seine Briefe beweisen, überwiegend normal, das heißt heterosexuell empfand. Aber ebenso halte ich es für sicher, daß' eine verhältnismäßig starke homoerotische Komponente mitspielte. In einem Brief Kleists an Wilhelmine vom 10. Oktober 1801 (Nr. 49) steht der Satz: „Dich wollte ich wohl in das Gewölbe führen, wo ich mein Kind (gemeint ist die erste Fassung der Familie Schroffenstein), wie eine vestalische Priesterin das ihrige, heimlich aufbewahre bei dem Schein der Lampe." Man sieht: hier spricht sich eine mädchenhafte, frauenhafte Empfindung aus, und eine ähnliche Umkehrung der Gefühle kann man in Äußerungen von Kleist, sowohl in seinen Dichtungen wie in seinen Briefen, auch sonst finden. Ich erinnere etwa an den höchst auffallenden Satz in einem Brief an Ulrike vom Mai 1799 (Nr. 5): „Wärst du ein Mann oder nicht meine Schwester, ich würde stolz sein, das Schicksal meines ganzen Lebens an das Deinige zu knüpfen"; eine an sich sinnlose und nur durch ein Versehen zu erklärende Wendung, in der sich Kleist, da er Ulrike als Mann wünscht, unwillkürlich als Mädchen empfindet. Oder man denke an die Verse (1296 ff.), die Agnes in der Familie Schroffenstein spricht:
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Die Krone sank ins Meer, Gleich einem nackten Fürsten werf ich ihr Das Leben nach. Das Mädchen ein nackter Fürst — es ist klar, daß hier die Geschlechter vertauscht und verwechselt sind. Etwas Ähnliches dürfte in der Kleidertauschszene im letzten Akt der Familie Schroffenstein mitspielen. Doch man braucht nicht länger nach solchen indirekten und unwillkürlichen Andeutungen und Hinweisen zu suchen. In einem Brief an Heinrich Zschokke (vom 1. Februar 1802, Nr. 55) heißt es: „Vorher aber noch ein paar Worte Geschwätz, wie unter Liebenden." Und der einzige Brief Kleists an den Maler Lohse, der uns erhalten ist (Nr. 53), ist unverkennbar ein Liebesbrief mit allen Ausbrüchen einer enttäuschten und gekränkten Liebe. Am deutlichsten aber wird, worauf es hier ankommt, in einem Brief an Ernst von Pfuel vom 5. Januar 1805 (Nr. 80): „Du, den ich immer noch über alles liebe . . . . Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei Dir schlafen können, Du lieber Junge; so umarmte Dich meine ganze Seele! Ich habe Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegst, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet . . . . Ich heirate niemals, sei Du die Frau mir, die Kinder und die Enkel" usw. 1 ). Kleist redet in diesem Briefe selbst vom „lieblichen Enthusiasmus der Freundschaft" — doch man mag hier und anderswo noch so viel auf das Konto der aus dem achtzehnten Jahrhundert überkommenen Freundschaftsschwärmerei setzen, damit ist alles das nicht abgetan. Man wird also mit einiger Vorsicht sagen dürfen: wenn Kleist mit Pfuel (oder anderen Freunden) sterben wollte, so wollte er mit einem Geliebten sterben, und die Sehnsucht nach dem gemeinsamen Tode mit dem Freunde dürfte dieselbe Wurzel gehabt haben wie die Sehnsucht nach dem gemeinsamen Tode mit einer Frau. 1
Wenn sich Kleist in diesem Brief übrigens mit dem „nackten König Richard" vergleicht, so handelt es sich dabei offenbar um ein ähnliches Bild, und er drückt darin dieselbe Empfindung und dieselbe Verwechslung der Gefühle aus wie in den eben zitierten Versen der Familie Schroffenstein.
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Die Vorstufe zum gemeinsamen Tode ist das Wehetun und das Sich-wehetun-lassen. In einem Brief an Wilhelmine vom 3. Juni 1801 (Nr. 43) erzählt Kleist bei der Beschreibung seines Besuches bei Gleim in Halberstadt den Inhalt einer Gleimschen Ode: „die ungefähr so lautet: Tod, warum entführst du mir mein Mädchen? Kannst du dich auch verlieben? Und so geht es fort. Am Ende heißt es: was willst du mit ihr machen? Kannst du doch mit Zähnen ohne Lippen wohl die Mädchen beißen, doch nicht küssen." In Wirklichkeit endet die Ode jedoch: Tod, was willst du mit dem Mädchen? Mit den Zähnen ohne Lippen Kannst du es ja doch nicht küssen. Vom Beißen ist keine Rede. Diese Vorstellung hat sich in Kleists Erinnerung von selbst eingestellt. In dem schon zitierten Brief an Pfuel heißt es: „Dein kleiner, krauser Kopf, einem feisten Halse aufgesetzt, zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das Ganze ein musterhaftes Bild der Stärke, als ob du dem schönsten jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachgebildet wärest." Man sieht, wie vorhin zur Vorstellung des Küssens die des Beißens, tritt hier zu den homoerotischen Vorstellungen, die sadistische Vorstellung vom Töten und Opfern hinzu. In dem erwähnten Brief an Lohse sagt denn auch Kleist klipp und klar: „Damals schien es mir noch süß, Dir wehe zu tun." Und an Ulrike schreibt er einmal (am 12. Januar 1802, Nr. 54): „Wie konnte ich Dich, oft in demselben Augenblicke, so innig lieben und doch so empfindlich beleidigen?" So ist es in der Tat. Kleist mußte die, die er liebte, zugleich beleidigen, zugleich kränken und mißhandeln; es war ihm „süß", den Geliebten wehezutun. Man sehe sich seine Briefe an Wilhelmine an. Ich will sie hier nicht im einzelnen durchsprechen, weil das, worauf es ankommt, zu deutlich und eindeutig und vor allem zu häufig hervortreten dürfte, als daß man es im einzelnen belegen müßte. Sie sind jedenfalls die sonderbarsten Brautbriefe von der Welt. Immer wieder
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Verletzende und demütigende, völlig unbegründete Vorwürfe und Verdächtigungen, ein ständiges Herumnörgeln, Erziehen, Verbessern, Vor-den-Kopf-stoßen, ein Umbilden- und Verwandelnwollen bei aller eigensinnigen Zärtlichkeit und Liebe; ein dauerndes Unterdrücken und geistiges Vergewaltigen der Geliebten. Und zum Schluß der einigermaßen barbarische und mit den Gründen, die Kleist selbst anführt, jedenfalls überhaupt nicht begründete Bruch. Von Juliane Kunze, mit der Kleist verlobt oder beinahe verlobt war, verlangte er (wir haben darüber zwei verschiedene Überlieferungen, die aber im wesentlichen übereinstimmen1), und Briefe sind uns nicht erhalten), daß sie ihre Korrespondenz vor ihren Pflegeeltern geheimhalte (etwas Ähnliches hatte er auch schon von Wilhelmine verlangt). Als sie sieh weigerte, war das der Grund zum Bruch. Wenn man die Erziehungsgrundsätze der Zeit berücksichtigt (aber wohl auch sonst), ein Grund, der wieder unberechtigt und ein Nichts war, in dem sich aber Kleists Verlangen nach einer seelischen Vergewaltigung der Geliebten und ihrer unbedingten Selbstaufgabe deutlich genug zeigt. Und in dem Bruch wieder eine Vernichtuftgstendenz offenbar um der Vernichtung willen. Man denke weiter an die tiefen Zerwürfnisse mit geliebten Menschen (von Wilhelmine und Juliane ganz abgesehen) wie Ulrike oder Pfuel oder dem Maler Lohse oder Luise Wieland, anscheinend auch mit den Schwestern von Schlieben; und daneben dann immer wieder die Neigung zur Verzweiflung und zur Selbstzerstörung, mag sie sich in der Vernichtung seiner Werke wie des Robert Guiskard und anderer oder in der Sehnsucht nach dem Selbstmord äußern. Es scheint mir jedenfalls, auch ohne daß ich das alles hier näher ausführe und begründe, deutlich zu sein, daß der Liebesmord und Selbstmord, mit dem Kleist sein Leben endete, schon längst in ihm angelegt war. Daß hier die tiefsten und entscheidenden Antriebe für die Auffassung der Liebe in ¿leists Dichtungen zu suchen sind, brauche 1
Vgl. von Biedermann, S. 113 ff.
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ich nun wohl nicht weiter zu sagen. Lieben war für Kleist im Leben Wehetun und Töten, Leiden und Sterben 1 ): so ist es auch in seiner Kunst zu alledem geworden. Und es ist bezeichneud, daß in den Äußerungen seiner letzten Tage, das heißt unmittelbar bevor in Kleists Leben die Identifizierung von Liebe und Tod vollendet wurde, Wendungen aus den beiden Dramen auftauchen, die in seiner Kunst jene Identifizierung am stärksten gestaltet hatten, aus der Penthesilea und dem Käthchen von Heilbronn 2 ). Man könnte vielleicht versuchen, die Art und die Intensität der Gleichsetzung von Liebe und Tod in Kleists Dichtungen mit den Schicksalen, den Erlebnissen und Umständen seines Lebens im einzelnen in Verbindung zu bringen. Es mag sein, daß sich bei einem solchen Versuch noch manches wesentliche uud merkwürdige Resultat gewinnen ließe 3 ). Doch man muß dabei vorsichtig sein. Einmal ist unser Material zu lückenhaft, als daß wir über Kleists Leben und Erleben in Einzelheiten genügend Bescheid wüßten und sicher argumentieren könnten. Außerdem spielen in diese Dinge neben dem erlebnismäßig Bedingten zu stark andere, vor allem künstlerische Gesichtspunkte und Momente hinein, als daß man aus jenem alles folgern und ableiten dürfte 4 ). Mir kam es hier jedenfalls nur auf die allgemeine Feststellung an, welche entscheidende Rolle die 1 Was selbstverständlich nicht heißen soll, daß Lieben für Kleist n u r Wehtun usw. gewesen ist. 2 Vgl. Briefe Nr. 153 und 190. 3 So hat man bei der Familie Schroffenstein an Kleists Verhältnis zu Wilhelmine, beim Käthchen an Juliane Kunze zu denken. Sehr aufschlußreich sind solche Feststellungen freilich nicht; denn für Kleist und sein Dichten sind weniger seine Beziehungen zu einzelnen Frauen wesentlich gewesen als seine Grundeinstellung zur Liebe und zu den Frauen überhaupt. 4 In den ersten fünf Dramen Kleists wird das Thema Liebe gleich Tod offenbar mit immer steigender Sicherheit und Vollendung behandelt (wobei es freilich im Zerbrochenen Krug neben dem Motiv vom ungerechten und lügenhaften Richter — ein Motiv, das für Kleist sehr wichtig war — stark zurücktritt). In der Familie Schroffenstein wird das Thema nur äußerlich und unvollkommen bewältigt; im Amphitryon und im Zerbrochenen Krug schon mit viel größerer Klarheit und Ausschöpfung seines Gefühlsgehalts,
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Gleichsetzung der Liebe mit dem Tode in Kleists Werken spielt, und daß diese Gleichsetzung in der seelischen Struktur des Dichters begründet ist. Das Genie (wie jeder Mensch) ist letzten Endes unerklärlich und unableitbar, und es liegt mir fern, anzunehmen, daß man mit dem, was ich sagte, Kleists Genie „erklären" kann. Wohl aber mag dadurch die Art, wie söin Genie und seine Kunst die Welt und die menschliche Seele erfaßte und gestaltete, verständlicher werden. Unter den großen Dramatikern der deutschen Literatur, ja vielleicht der Weltliteratur dürfte Kleist (obgleich er nur zwei Tragödien vollendet hat) der sein, der am meisten und im eigentlichen Sinne Tragiker ist, und zugleich der, in dessen Dichtungen die Auseinandersetzung mit der Umwelt und der Geschichte, mit Ideen und Gedanken, Theorien und Philosophien, kurz mit dem „Geistigen" am wenigsten hervortritt 1 ): seine Gestalten leben und handeln in erster Linie aus sich und für sich und jedenfalls ganz aus dem Gefühl heraus 2 ). Beides aber, sowohl das absolut Tragische bei Klejst wie die überstarke Betonung des Gefühls, man möchte sagen: das Eingesperrtsein im Gefühl dürfte sehr stark darin begründet sein, daß bei ihm das Liebesgefühl und das Liebeserlebnis den Tod suchten. Die Macht, die sonst lebensbejahend und aufbauend ist, war bei Kleist lebensverneinend und zerstörend. Sein Lebensgefühl an sich aber doch noch ohne die letzten Konsequenzen und sozusagen nur auf einem Umweg. Seine klassische Ausgestaltung findet es dann in der Penthesilea und, gewissermaßen mit einer Wendung um hundertundachtzig Grad, im Käthchen. In den beiden letzten Dramen steht es weniger im Mittelpunkt; immerhin ist es in der Hermannsschlacht, wenn auch als Nebenmotiv und in burlesker Verzerrung, noch deutlich vorhanden, während es im Prinzen von Homburg das Hauptmotiv in starker Sublimierung begleitet. Es ist merkwürdig, daß Kleist in dem Augenblick, in dem er in der Dichtung die Formel Liebe gleich Tod am stärksten sublimierte und überwand, ihr im Leben am nächsten kam und sie schließlich erfüllte. 1 Wie denn auch Kleist sehr wenig von außen beeinflußt ist. 2 Die ersten fünf Dramen Kleists sind rein persönliche Angelegenheiten; in den letzten beiden wendet er sich der Menschheit großen Gegenständen stärker zu. Aber man sieht wohl sofort, daß auch in ihnen das Subjektive und Kleistisch Gefühlsmäßige völlig überwiegt.
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MABTIN LINTZEL,
Liebe und Tod bei Heinrich von Kleist
war (stärker als bei andern Dramatikern) tragisch und voll tragischer Spannungen, und darum brauchte er keinen Zusammenprall mit der Welt, um ihre Gebrechlichkeit und Tragik zu erfahren. Damit aber dürfte es zusammenhängen, daß die Tragik seiner Gestalten in erster Linie in ihrem Gefühl wurzelt, und daß diese Tragik als so abgründig und unentrinnbar erscheint.
BERICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU L E I P Z I G PHILOLOGISCH-HISTORISCHE
KLASSE
Theodor Frings: Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache DM 3.—
Friedrich Weller: Zum mongolischen Tanjur DM 4.75 Walter Baetke: Die Götterlehre der Snorra-Edda DM 6.30 Carl Brockelmann: Abessinische Studien DM 6.— Wilhelm Schubart: Griechische literarische Papyri DM 13.25 Friedrich Zucker: Freundschaftsbewährung in der neuen attischen Komödie — Ein Kapitel hellinistischcr Ethik und Humanität DM 3.60 I m D r u c k oder in
Vorbereitung:
Franz Dornseiff: Verschmähtes zu Vergil und Horaz Werner Krauss: Altspanische Drucke im Besitz der außerspanischen Bibliotheken Friedrich Weiler: Tibetisch-Sanskritischer Index zum Bodhicaryavatara, 1. Heft Jakob Jatzwauk: Sorbische Bibliographie, 2. Auflage ABHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU L E I P Z I G PHILOLO-GISCH-HISTORISCHE
KLASSE
Johann Fück: Arabiya. Untersuchungen zur arabischen Sprach- und Stilgeschichte DM 29.— Friedrich Weller: Über den Quellenbezug eines mongolischen Tanjurtextes DM 19.80
Reinhold Trautmann: Die slavischen Ortsnamen Mecklenburgs und Holsteins DM 32.—
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