LichtEinfall: Tageslicht im Wohnbau 9783038216384, 9783764386344

Daylight in architecture The image of open working and living spaces flooded with light has, more than any other, beco

151 64 20MB

German Pages 232 Year 2008

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Auer, Gerhard|Dunkler wohnen
Richtig belichtet?
Modernes Wohnen
Licht, Sicht, Raum
Lichteinfall: Sehleistung und Sehkomfort
Lichtwirkungen: über den Sehkomfort hinaus
Best of: 11 Meister des Tageslichts
Literatur
Abbildungsnachweis
Zu den Autoren
Dank
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LichtEinfall: Tageslicht im Wohnbau
 9783038216384, 9783764386344

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LichtEinfall

Edition WOHNEN 3 Herausgegeben vom ETH Wohnforum, Departement Architektur, ETH Zürich

Michelle Corrodi Klaus Spechtenhauser

LichtEinfall Tageslicht im Wohnbau Mit einem Essay von Gerhard Auer

BIRKHÄUSER Basel · Boston · Berlin

Layout: Michael Klíma Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen: Illuminating: Natural Light in Residential Architecture, ISBN 978-3-7643-8636-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Ver­­­­ viel­ fältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwider­handlungen ­unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2008 Birkhäuser Verlag AG Basel ∙ Boston ∙ Berlin Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-7643-8634-4 987654321 www.birkhauser.ch

Inhalt

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Einleitung

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Gerhard Auer

Dunkler wohnen Wie das Kunstlicht uns lehrt, das Tageslicht zu lieben

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Richtig belichtet? Zum Status quo des Lichthungers

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Unersetzbares Tageslicht Das Verlangen nach Helligkeit Gewohnheiten und positive Attributierung Kunstlicht Mythos Licht Mythos Glas Überbelichtungen

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Modernes Wohnen Lichtdurchflutete Behausungen

49 51 53 55 57 61 66 74

Modern = hell Lichthygiene und Wohnreform Neues Bauen, neues Wohnen Gleiche Höhe für gleiche Menschen Grundriss und Typologie: dem Licht entgegen Verdichtung und Belichtung: Zeilen, Blöcke, Türme Im gesunden Licht: Balkone, Loggien, Terrassen Differenziert weiterbauen

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Licht, Sicht, Raum Lichterfahrung, Raumwahrnehmung und der Blick nach draußen

79 81 82

Licht und Sicht Zwischen innen und außen Aussicht: Information und Kontemplation

84 89 90 92 95 97 99 101 106 108 109 110 112 113 121 123

Vom Bedeutungsverlust des Fensters Die Raumschachtel: Diskretion im gedämpften Licht Der gerahmte Blick Die Sprengung der Box: neue Erfahrungsräume Fließende Räume: visuelle Entgrenzung und klärende Helligkeit Fensterform und Interieur Inszenierte Aussichten Endstation Glashaus Rehabilitierung des Dunklen Von der Form zur Hülle Neue Lust an der Transparenz: «The Un-Private House» Semitransparente Hüllen: verschleierter Blick und Lichtdiffusion Metamorphosen der Fassade Wiederverhüllung des Enthüllten: Sonnen- und Sichtschutz Mehrschichtigkeiten Ins rechte Licht gerückt

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Lichteinfall: Sehleistung und Sehkomfort Tageslichteigenschaften und Faustregeln für den Entwurf

129 130

133

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Gute Lichtplanung? Gegebene Situation und örtliche Kondition: Außenraumgestaltung Klimazone – Gebäudeumgebung – Sonnenorientierung – Baukörper und ­Fassade Quantitative Zielsetzungen 133 Innenraumgestaltung und zweckrationale Sichtbarmachung Zusammensetzung des Tageslichts – Lichttechnische Begriffe – Verteilung der Leuchtdichten und Übergänge 137 Faustregeln zur Innenraumgestaltung Raumhöhe, Raumtiefe – Größe und Lage der Fensterfläche – Vertikale oder horizontale Öffnungen – Abschattende Verbauung 144 Lichtpotenzierung und -optimierung Licht von einer Seite – Licht von mehreren Seiten Qualitative Zielsetzungen 158 Innenraumgestaltung und visueller Sehkomfort Licht zur Information und Wegführung 159 Lichtsteuerung und Schattierung Raummodellierung – Minderung von Kontrasten – Modulierung diffuser ­Helligkeit 165 Blendungskontrolle Physiologische Blendung durch zu hohe Leuchtdichten – Psychologische ­Blendung durch zu hohe Leuchtdichtekontraste – Silhouetteneffekt Sonnenschutz und Sonnenlenkung Einschalige Fassaden – Zwei- und mehrschalige Fassaden Tageslicht als Entwurfsmedium

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Lichtwirkungen: über den Sehkomfort hinaus Wohlbefinden, Stimmung, Erlebnis

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Die Folgen der Durchlichtung Verlust der Wohnlichkeit? Behaglichkeit: physiologisch und psychologisch Die eigenen vier Wände Pufferzonen und Übergangsräume Verhüllter Blick Schlupfwinkel Die Lichtinsel Die Wohnung als Erinnerungsraum Lichteinfall und Raumerlebnis Lichtspiel und Materialtheater

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Best of: 11 Meister des Tageslichts Wegweisende Lichtkonzeptionen

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Le Corbusier: klärendes Licht Richard Neutra: kräftigendes Licht Frank Lloyd Wright: vitalisierendes Licht Alvar Aalto: flüchtiges Licht Louis I. Kahn: puristisches Licht Luis Barragán: meditatives Licht Tadao Ando: spirituelles Licht Jean Nouvel: illusionistisches Licht Toyo Ito: atmosphärisches Licht SANAA, Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa: suggestives Licht Steven Holl: animierendes Licht

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Literatur

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Abbildungsnachweis

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Zu den Autoren

230

Dank

Einleitung

MVRDV, Wohnblock Silodam, Amsterdam, 1995–2002. Blick aus einer Wohnung auf das Hafengebiet.

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat in der Wohnbauarchitektur eine Entwicklung begonnen, die bis heute die Vorstellung von zeitgemäßem Wohnen weit mehr beeinflusst, als uns dies überhaupt bewusst ist. Wir wissen zwar mittlerweile, dass Anspruch und Wirklichkeit in der architektonischen Moderne weiter auseinander lagen, als dies lange Zeit dargestellt wurde. Vergegenwärtigen wir uns allerdings die aktuelle Wohnbauarchitektur und schenken wir den medial verbreiteten Bildern unsere Aufmerksamkeit, so ­müs­sen wir feststellen, dass viele der damaligen Forderungen nichts an ­Aktualität eingebüßt haben. Insbesondere die Vorstellung von hellen und offenen Wohnräumen hat sich wie keine andere als Sinnbild für Modernität und Zeitgeist in unseren Köpfen festgesetzt. Überall entstehen «lichtdurchflutete» Wohnungen, um unse­ ren scheinbar unstillbaren Hunger nach natürlichem Licht zu ­befrie­digen. Von diesem Trend und seinen unmittelbar wahrnehmbaren Erscheinungen geht die vorliegende Arbeit aus – von der Tatsache, dass seit einiger Zeit auch in Wohnbauten exzessive Vollverglasun­ gen zur Tagesordnung gehören. Was sich bisher vorwiegend auf ­repräsentative Firmensitze, Banken, Büros oder einige wenige Einfamilienhäuser beschränkt hat, hält nun im kommunal oder ge­ nossenschaftlich geförderten Wohnbau Einzug. Diesem Phänomen nachzuspüren, einige seiner allgemeinen Charakteristiken und subtilen Facetten ans Tageslicht zu befördern sowie aus dem Überschuss an technischem Know-how die für den Alltagsgebrauch verwendbaren Elemente auszusondern ist das Ziel dieser Arbeit. Dass dabei der Bereich des Wohnens im Vor­ dergrund steht, hat mehrere Gründe. Zuallererst: Bisherige Untersuchungen zum Thema Tageslicht haben sich immer auf die Sphäre der Bildungs- oder Arbeitswelt beschränkt und vorwiegend Fragen der Arbeitsergonomie und -hygiene behandelt. Nie aber ist dem Faktor Licht beziehungsweise Tageslicht auch nur annähernd die Bedeutung zugekommen, die es in Bezug auf den außerhäuslichen Arbeitsplatz hat. Und Letzterer hat sich immer häufiger nach Hause verschoben: ein zweiter Grund, dem Tageslicht im Wohn­ bereich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dies nicht zuletzt auch, weil Wohnen und Arbeiten zwar immer näher zusammenrücken, gerade in Bezug auf die Lichtverhältnisse aber unterschiedlichen Anforderungsprofilen unterliegen. 

Es liegt auf der Hand, dass der Umgang mit Tageslicht in der Architektur nicht mittels absoluter Größen und physikalischer ­Begriffe beschrieben werden kann. Auch nicht mittels schöner Bilder, die bahnbrechende Lichtführungen und spektakuläre Licht­ situationen als berauschendes Erlebnis darstellen wollen. Vielmehr muss Tageslicht – über seine primäre Definition als elektromagnetische Strahlung hinaus – als kulturell gewachsene Größe aufgefasst werden, die mit entsprechender Kompetenz als produktiver Faktor im Bauen eingesetzt werden kann. Gestalterische und planerische Faktoren sind dabei gleichermaßen von Bedeutung; sie bedingen sich gegenseitig und sind in jeweils sorgfältig abzuwägender Gewichtung für einen überzeugenden Entwurf verantwortlich. Wir sind der Ansicht, dass gerade bei einem derart komplexen und anspruchsvollen Thema Lösungen, die sich hauptsächlich an einer eingehenden Berücksichtigung der Nutzerseite orientieren, nur zu wenig befriedigenden Resultaten führen. Umfragen mögen zwar belegen, dass eine «helle Wohnung» ganz zuoberst bei den Wohnwünschen unserer Zeitgenossen rangiert. Eine präzisere Umschreibung dieses Wunsches scheitert jedoch schon daran, dass die Vorstellung von «hell» stark subjektiv und von den jeweiligen Verhältnissen geprägt ist. Auch die Berücksichtigung spezifischer Normen hilft hier nur wenig weiter. Patrick Gmür Architekten, in Architektengemeinschaft mit GMS Partner, Wohnund Geschäftsüberbauung James, ZürichAlbisrieden, 2003–2007. Wohnraum und Balkon einer Wohnung im Langhaus.

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Im Weiteren denken wir, dass eine Arbeit, die sich mit dem ­ hema Tageslicht im Wohnbau beschäftigt, sowohl aktuelle als auch T historische Entwicklungslinien berücksichtigen muss. Entsprechende Darlegungen und Exkurse sind daher ein wesentlicher Bestandteil der vorliegenden Arbeit, denn nur so kann dem komplexen Verhältnis zwischen Wohnraum, Mensch und Tageslicht auf sinnfällige Weise nachgegangen und der Blick für die Verbindungen, die zwischen den verschiedenen Bereichen bestehen, geöffnet werden. Wir sind uns bewusst, dass die Auswahl und Gewichtung der einzelnen Themenschwerpunkte auf eine gewisse subjektive Sicht der Dinge zurückgeht. Diese Selektion entspricht jedoch letztlich unserer Überzeugung, dass Tageslicht im Wohnbau in erster Linie dort von großer Wichtigkeit ist, wo es um Raum und dessen Stim­ mungen, Veränderungen und Wirkungen geht. Denn gerade dies macht die eigentliche Qualität eines Architekturentwurfs aus, wenn das Sensorische, Atmosphärische und Hapti­sche von natürlichem Licht in einer räumlichen Stimmung für den Menschen erfahrbar gemacht wird. Die ersten drei Kapitel beleuchten einige wesentlichen Aspekte zum Thema Tageslicht und modernes Wohnen, im vierten Kapitel werden lichttechnische Grundlagen vorgestellt und planerische Einflussmöglichkeiten aufgezeigt, um gute und abwechslungsreiche Belichtungsverhältnisse in Wohnräumen zu erzielen. Das fünfte Kapitel thematisiert Kategorien wie Behaglichkeit, Komfort und Raumerlebnis vor dem Hintergrund der Belichtungsfrage. Im letzten Kapitel werden 11 Architek­ten mit ausgeprägtem Lichtbewusstsein vorgestellt, um den Blick für den unterschiedlichen Umgang mit Tageslicht zu schärfen. Danken möchten wir an dieser Stelle all jenen, die zum Gelingen dieses Projekts beigetragen haben – in erster Linie der Velux Stiftung und der 4B Fenster AG, ohne deren großzügige finanzielle Unterstützung die ­vorliegende Publikation nicht hätte realisiert werden können. Gedankt sei im Weiteren Gerhard Auer für seinen anregenden Beitrag, den zahl­rei­chen Personen und Institutionen für die Bereitstellung von ­Bild­material sowie dem Birkhäuser Verlag, der mit seinem ein­ge­spielten Team und mit viel Engagement diesen Band 3 der ­Edition WOHNEN umgesetzt hat.

Michelle Corrodi, Klaus Spechtenhauser Juni 2008

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Gerhard Auer

Dunkler wohnen Wie das Kunstlicht uns lehrt, das Tageslicht zu lieben

Zwei Prologe Den Begriff Wohnlicht wird man schwerlich im Lexikon finden, noch weniger in einem Fachbuch und nicht einmal als Seminartitel der Architekten- oder Designerausbildung. Wohnungsentwurf und Lichtgestaltung sind zwar Lehrgebiete, aber dem Lichtgestalter ist die Wohnwelt eine Marginalie wie dem Wohnungsbauer die ­Belichtungsfrage. Im Folgenden sollen beide zusammentreffen. Zum Thema Licht Es genügt, die Lichtereignisse eines gewöhnlichen Tagesablaufs zu registrieren, um überrascht zu sein über ihre Menge und Vielfalt: Zum einen sind es die Tageslichter, besser gesagt die wechselhaften natürlichen oder kosmischen Beleuchtungsvarianten, die uns im Sonnenschein, unter heller oder grauer Bewölkung, als Morgen- und Abenddämmerungen begegnen – in Ausnahmefällen als Blitze oder Polarlichter. Zum anderen sind wir zahlreichen Kunstlichtern ausgesetzt, all jenen Innenraumleuchten, Straßenlaternen, Scheinwerfern, Verkehrssignalen, Leuchtschildern, Werbungen und Stadtdekorationen; nicht zuletzt haben sich Displays und Bildschirme als eroberungsfreudige Leuchtquellen in unserem Alltag breitgemacht, sind uns gar schon hautnah zu Leibe gerückt. Das Licht unserer Wohnwelten ist also mehr als Beleuchtung, mehr als Fenster und Glühbirne: Es ist ein Begleiter des Drinnen und Draußen, ein Medium unserer Arbeit und unserer Befindlichkei­ ten. Erst seit 150 Jahren machen Kunstlichter die Nacht zum Tag, und heute werden zum Tagesbeginn mehr davon eingeschaltet als zur Nacht. War bis vor kurzem noch von Lichthunger die Rede, ist heute Light pollution die meistgebrauchte Lichtmetapher. Hat sie schon die Wohnung erreicht? Zum Thema Wohnen Schon das Verbum macht Schwierigkeiten: Worin besteht die Tätigkeit des Wohnens? Da jedermann wohnt, sollte es einfach sein, sie zu beschreiben oder wenigstens zu illustrieren. Über die Notwen­ digkeiten von Bett und Tisch, Herd, Klo und Wasserstelle herrscht Einigkeit: Man muss nur ein Wohnmobil besteigen – die finale ­Urhütte –, um den kleinsten gemeinsamen Nenner der Behausung vor sich zu haben. Dass dieses Wohnen nach einem Schutz aus Dach und Wand, nach Tür und Fenster verlangt, gehört ebenfalls noch

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zu seinen Mindestforderungen. Doch über alles, was darüber hinausgeht, sind die Meinungen geteilt, und die Optionen, Funktionen und Konstruktionen verzweigen sich rasch ins Unendliche: Jede Wissenschaft des Wohnens scheitert an einem Kriterienchaos. In jüngster Vergangenheit – etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts – war der Wohnbau in Europa ein großes Thema für ­Massen von Wohnungssuchenden, folglich für Politiker, Humanwissenschaftler und Architekten. Ob man an der «Wohnung für das Existenzminimum», am Einfamilienhaus oder an Satellitenstädten experimentierte, an Ideen war kein Mangel, und die Verwirkli­chun­ gen waren schneller als die Erfolgskontrollen. Heute – nach der zweiten und saturierten Hälfte desselben Jahrhunderts – haben Wohn­­bautätigkeit und mit ihr die Diskurse darüber merklich abgenommen: kein Wunder bei einer Wohnfläche von über 40 m 2 pro Mitteleuropäer. Wenn jedoch der Neubau stagniert, wird umso mehr umgezogen und umgebaut. Obwohl die Stildebatten – zwischen Villa und Stadtblock – weitergehen, stehen im Zentrum der Behausungsfrage nicht mehr primär Siedlungsmuster, Stapelungsformen 14

oder Grundrisstypologien der gegebenen Erbmasse, sondern ­Umprägung und Updating. Ist das noch das Werk von Architekten oder schon die Stunde des Interior Design, der Möbelindustrie und der selbst ernannten TV-Berater? Gilt noch «my home is my castle», oder gehört zum Lifestyling nun auch jedermanns Wohn­ aus­stellungspflicht? Behausung und Belichtung: eine Evolutionsskizze Das tägliche Wechselbad zwischen Sonnen- und Elektrobestrahlung – in der Gegenwart selbstverständlich geworden – ist eine erst allerjüngste Lichterfahrung. Die Urhütte, ob sie je nach Herkunft Steingewölbe oder Holzgestell, Zelt oder Iglu war, hatte immer eine Tür aber kein Fenster: Der archaische Schutzraum braucht kein ­Tageslicht. Er muss Sicherheit bieten – den Körpern, dem Besitz und dem Feuer –, aber keinen Arbeitsplatz. Die Werkstatt als Innenraum wird erst in urbanen Kulturen gebräuchlich, und ein erstes Guckloch, immer noch vergittert, wagt man erst dort, wo Palisade oder Stadtmauer dem Wohnhaus Deckung geben. Es gibt keine schriftlichen, aber nicht wenige bauliche Zeugnisse zu einer Lichtgeschichte der Architektur (die noch nicht verfasst ist). Sie würde zwei Besonderheiten aufweisen: Bis zum 20. Jahrhun­ dert wäre darin kein Wohngebäude erwähnt und als Lichtgeberin aller anderen nur die Sonne. Tatsächlich findet man alle frühen Baulichtideen nur in der sakralen und imperialen Monumentalarchi­tek­ tur, und sie reflektieren vorwiegend kosmische Lichterscheinun­gen: die solargeometrischen Pyramiden Ägyptens und Mittelamerikas, die farbtransparenten gotischen Dome, die schattenmodulierenden Barockkirchen und die mondsüchtigen Paläste Indiens oder Japans. Vielleicht aus Mangel an dauerhafteren Überresten ist die Behausung, als «Profanbau» schon begrifflich abgewertet, nie auf vordring­ liches Interesse der Kunsthistoriker gestoßen. Mehr darüber ist eher bei Paläoantropologen oder Ethnologen zu erfahren, wenn nicht aus Mythen und Ursprungslegenden. Einer chinesischen zufol­ ge entstammt der Mensch einer Verbindung von zwei Geschlechtern: den Höhlen- und den Baumbewohnern, den Feuer- und Sonnenanbetern – zwischen Höhle und Turm, zwischen Verstecken und Überblicken bewegen sich bis heute die Wohnsehnsüchte. ­Spuren von Sonnen- und Feuerkulten reichen bis weit vor den Beginn der Baugeschichte, und es sind die profanen Herde und Lagerfeuer, an denen der Mensch seine frühesten Lichterfahrungen machte: War ihm die Sonne als Schöpferin des Tages ein Geschenk der Natur, entströmte den Herden und Lagerfeuern ein Kunstlicht, das er beherrschte – eine halbe Million Jahre vor der Erfindung von Häusern und Städten. Die Stadt, die sich auf drei Säulen gründet, dem Tempel, dem Markt und der Mauer, bietet von Anfang an ein Schutzlicht, das als Beginn der Straßenbeleuchtung gesehen werden kann: die Fackeln der Torwächter. Wenn später noch andere «öffentliche» Illuminationen hinzukommen, dann zuallerletzt in den Wohnquartieren: Dort genügte ein Nachtwächter, der laut daran erinnerte, zeitig das Feuerlicht zu löschen, bis ihn im 19. Jahrhundert das elektrische Licht überflüssig machte. Nicht anders als im dörflichen Bauernhaus brannten in der Stadtbehausung seit der Antike die Herdfeuer als primäre Leuchtquellen und sorgten für einen kurzen Abend und ein frühes Zubettgehen.

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Bei allem Variantenreichtum an Wohntypologien, auf die wir seit Erfindung der Stadt vor etwa 5 000 Jahren zurückblicken, ver­ wun­­­­dert die Konstanz ihrer natürlichen wie künstlichen Beleuchtun­ gen: Die Fensterleibungen wurden je nach Epoche stilgerecht neu umrahmt und die Lampendochte dekorativ neu beschirmt, aber Mauerloch und offene Flammen – zuletzt als Wachskerze oder Ölfunzel – blieben bis weit ins 19. Jahrhundert dieselben. Adolf von Menzels Gemälde Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci (1852) zeigt uns die Maximalbeleuchtung einer exklusiven Nacht­ gesellschaft unter bestmöglichem Kronleuchterluxus. Wenn Shakes­ peare noch unter offenem Himmel spielte, mussten auch Faust und Mephisto an vorderster Bühnenkante deklamieren, um erkannt zu werden; und Goethe kommentierte: «Wüsste nicht was sie besse­res erfinden könnten, als wenn die Lichter ohne Putzen brennten.» Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verlaufen die Tages- wie die Kunstlichtevolutionen des Profanbaus ohne Höhepunkte oder Neuigkeiten und waren deshalb auch in keinen Architekturtrakta­ten erwähnt. Für beide sollte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte ­a lles ändern: Die Ingenieure wandloser Stahlglashallen und die Tech­ niker des Glühlichts begegneten sich bei der Erfindung neuer Lichtwunderwerke. So wie die Transparenz des Londoner Kristallpalasts (1851) bei Tage erregten die ungeahnten Helligkeiten der ­artifiziellen Weißglut bei Nacht nicht nur ein Publikum, sondern auch eine architektonische Fachwelt, die freilich beide Erfahrungen noch skeptisch behandelte. Dem Stahlglasgerippe wurde zunächst eine Aufnahme in die Baukunst verweigert und der elektrischen Beleuchtung eine praktische, aber wenig ästhetische Bedeutung ­beigemessen: Verglasung und Beleuchtung revolutionierten Stadtverkehr und Kaufhäuser, Fabriken und das Nachtleben. In den Wohnungen wurden jedoch zunächst nur die Kerzen durch Gasflam­ men oder Glühbirnen ersetzt, die Kandelaber und zimmermittigen Kronleuch­ter blieben, was sie waren: dekorative Punktlichter. Nicht anders erging es dem Tageslicht. Während ihm Bahnhofshallen, Märkte und Fotoateliers gläserne Fassaden und Dächer entgegenstreckten, drapierten die Wohnungsdekorateure noch schwerste ­Vorhänge um die Fensterschlitze. Selbst die Pariser Boulevards ver­­­­ danken ihre Balkone nicht der Schaulust, sondern der Feuerpolizei. Die turbulenten Neuigkeiten der ersten Kunstlichtepoche ­waren nie vom Wohnbau angeregt, sondern von den Antriebsfedern der industriellen Revolution, die alle keine Nachtzeiten mehr un­ genutzt vergehen lassen wollten: das Militär, die Fabrik, der öffentliche Raum und das Varieté. Von deren Scheinwerfern, Flutern und Farbgirlanden konnte die Wohnung freilich nur wenig gebrauchen, und so machte nur ein Leuchtmittel dort Karriere: die ­Glühbirne. Von Edison zwar nicht erfunden, aber von ihm zur Mas­ senpro­duktion hergerichtet, um sein Elektrizitätswerk auszulasten. Mit Kanalisationen, Gas- und Wasserleitungen war ja schon jenes ­Prinzip Netzwerk eingeübt worden, das es ermöglichte, die Wohnun­ gen noch enger zu packen und ihre Bewohner bis heute zu Ab­ hängigen zu machen. Die Elektrizität, zuerst ein Luxusprodukt, für das geworben werden musste, wurde erst durch die Behausungsund Hygienekrisen der Jahrhundertwende erfolgreich. Sie machte auch Die Wohnungsfrage, Friedrich Engels’ politische Kampfschrift von 1872/1887, zum Leitmotiv einer humanitären Bauanstren­ gung. Angesichts der städtischen Hinterhäuser – und im Vergleich 16

zu ­ihren eigenen Vorderhaus-Großräumen – erkannten bürgerliche Reformer die räumliche Enge und körperliche Nähe als Krank­­ heitsursachen. Da daran nichts veränderlich schien, versprach man sich Heilung wenigstens durch die Öffnung zu Licht, Luft und Sonne (alles wohlfeile Naturgeschenke). Lichtöffnungen machten ja ­zeitgleich in der großbürgerlichen Wohnung Karriere, aus deren ­Salon man zuvor nie durchs verhangene Fenster geschaut hatte. Ein neues «Zurück zur Natur», das zuerst die Jugendbewegung und dann den Jugendstil beflügelte, brachte die Lehre des Kristallpalasts mit 50 Jahren Verspätung auch zum Wohnungsbau: Großflächige Verglasungen, Balkone, Dach- und Wintergärten gehörten bald zum Lebensstil einer Elite der Besserverdienenden, und in Mustersiedlungen, wie der Darmstädter Mathildenhöhe, stellte der Art nouveau des Wohnens auch die erste ästhetische Vermählung von Fenster­ dekor und Leuchtendesign vor, eine kurzfristige Ehe von Tages- und Kunstlichtgestaltung, die erst in jüngster Zeit vergleichbare Nachahmer findet. Denn der ornamentalen Lichtgestaltung stand bald eine zweckrationale gegenüber, die eine in der Fabrik erprobte Lichtvernunft auch in die Zimmer und Küchen des kleinen Mannes brachte: Die Entdeckung der sozial motivierten Avantgardisten, dass Raum­ knapp­heit mit Transparenz und Elektrifizierung zu kompensieren sei, gab dem folgenden Wohnungs-Modernismus Anregung und Maßstab. Und die stilistische Entrümpelung tat ihr Übriges: Geglättete und skelettierte Möbel verbrauchten weniger Raum, vorgefertigte, normierte und ornamentlose Fenster waren preisgünstiger als Handwerksprodukte. 17

Gegen Ende der 1920er Jahre waren die prägenden Wohn- und Lichterfahrungen schon gemacht, die bis in die Nachkriegszeit nur mehr oder weniger variiert werden sollten. Ohne Frage erfüllten sich die Visionen der Reformer: Indem das Wohnungsthema erstmals den Baukunst-Diskurs dominierte, wurde der Wohnbau zur Beispielsammlung von besten Entwürfen der begabtesten Architek­ ten: Antoni Gaudí und Charles Rennie Mackintosh verfassten ­Gesamtkunstwerke als transluzente Raumskulpturen, Frank Lloyd Wright sprengte die gemauerte Box, gestaltete Häuser als massige Feuerstellen, die von leichten Wand- und Dachschirmen umstellt wa­ ren. Die europäischen Meisterschulen exportierten das fließende Tageslicht ihrer weißen Scheiben-Modelle bis in die endgültige Ganz­ glastransparenz kalifornischer Villen, – während zu Hause die Utopie einer sozialstaatlichen, familiengerechten und industrialisier­ baren Wohnversorgung bis zur Monotonie vervielfältigt wurde. Die Brillanz einzelner Meisterwerke, der verführerische Bauboom des Wirtschaftswunders und ein Glaube an die Wissenschaft der Funktionalität machten gemeinsam blind gegenüber einem Grundgesetz des Wohnens: dass es sich jeder Idealisierbarkeit entzieht und damit jeder Normierung, jeder Massenproduktion, jeder sozialen Optimierung. Das gilt mehr noch für die innere als für die ­äußere Gestalt. Ein Panorama von Wohnlichtern der Spätmoderne zeigt die ­Meta­morphosen des Fensters – vom Loch zum transparenten Gerippe –, es zeigt die Metamorphosen des elektrischen Lichts – von der Glüh­birne bis zur rückstandslosen Vertreibung des letzten Schattens –, doch ihrer Lichthygiene war noch weniger Publikumserfolg beschieden als ihren formalen Diätprogrammen. Das selbstkritische Finale in den Achtzigern war keine Ernüchterung sondern eine Berauschung: In kürzester Zeit waren nicht nur die histori­ schen Lüste der Baudekoration wiederentdeckt, auch eine Utopie wurde zu Grabe getragen: die Vereinbarkeit von Lebens- und Bau­ plänen. Postmodern und posthistorisch, pluralistisch und indi­­ vidualistisch wurden jetzt nicht nur die Baustile ubiquitär, sondern auch ein Lifestyling, das sich jedem Stildiktat zu widersetzen vorgibt. Nie herrschte so viel Gleichzeitigkeit und Gleichgültigkeit in Geschmäckern wie Moden, und unser aktuelles Wohnlicht zeigt, mit dem Guckloch neben der Ganzglasvitrine, mit dem Kaminofen neben dem wandgroßen Plasmaschirm, eher neue Extasen als ­Sättigungen des Lichtappetits – aber wir entdecken auch neue Räume der Lichtflucht. Schließen und öffnen – verbergen und ausstellen Höhlenausgänge betitelt Hans Blumenberg eine Studie zur Kulturgeschichte der Neuzeit, die sich als fortgesetzte Bemühung um ­Erkenntnis und Aufklärung darstellen ließe. Überhaupt sollte der Raumschaffende die Philosophen als seine geistreichsten Stichwortgeber erkennen. Denn nicht nur in Platos Höhlengleichnis geht es um Licht und Raum: Von Empedokles bis Plotin, von Laotse bis Alhazen, von Grosseteste bis Descartes, von Newton bis Hegel, von Heidegger bis Wittgenstein, von Bachelard bis Baudrillard, von Lyotard bis Deleuze werden wir nicht zuletzt über die Irrtümer aufgeklärt, dass Räume stabil seien oder dass in Helligkeit und Trans­ parenz die Wahrheit erscheine. Dagegen begegnet uns bei E.T.A. Hoffmann ein Höhlenöffner von praktischer Intelligenz: der Rat

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Krespel, der sich ein Haus bauen lässt. Statt einen Planer zu be­ stellen, durchschreitet er ausführlich sein Grundstück, geht auf alle Grenzen zu und wieder zur Mitte zurück, um dort endlich die Lage seiner vier Wände in situ abzustecken. Dann bestellt er Handwerker, lässt sie Mauern errichten, ganz ohne Öffnungen und bis zu einer ihm angenehmen Höhe; erst zuletzt befiehlt er seinen Maurern, die Fensterlöcher hinauszuschlagen, große und kleine, hohe und niedrige, ganz wie Sonnenschein und Aussicht es ihm eingeben. Welch ein Bauherr! Zu einer Zeit, in der sich die Architek­ten mit Symmetrien und historischen Stilen abmühen, praktiziert er nicht nur einen vorzeitigen Funktionalismus, er gibt auch dem Blick der Fachleute eine neue Richtung: nach draußen. Hatte seit der Baukunst der Antike nur die Betrachtung von außen Priorität, ­bestand Raumgestaltung in der Kom-Position euklidischer Körper und ­Flächen, dann nimmt unser Diplomat (!) Krespel den erlebten, gestimmten, leiblich erfahrenen Raum der Phänomenologie vorweg. Etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts wird der erste Medientheo­ retiker, Marshall McLuhan, empfehlen, den Sehraum wie einen Hör­ raum zu begreifen: als unbegrenzte Richtungslosigkeit; Gaston Bachelard hatte ihn schon als Erlebnis bezeichnet, und allen Neu­ bestimmungen ist seither gemeinsam, dass Licht und Raum als ­dynamische Phänomene gelten, die einer synästhetischen Wahrnehmung und performativen Behandlung bedürfen. Verglasungen ­allein, wie sie in den bürgerlichen Wintergärten der Wende zum 20. Jahrhundert neben das Fensterloch treten, verändern noch kein Raumgefühl, sie sind zunächst nur Sonnenfänger für Bay Windows und Etagen-Wintergärten. Erst das Panoramafenster der Früh­ moderne – Stahlbeton machte jetzt den horizontalen Wandschlitz möglich – sollte die Sehlust aufgreifen und Ausblicke einrahmen. Der japanische Gärtner nennt das Panorama jenseits seiner Gartenmauer eine «geliehene Landschaft» und baut sie in seine Vordergrundgestaltung ein. Krespels unkonventionelle Einverleibung des Draußen dehnt das Wohngefühl – zuvor ein Synonym für Nah­ bereichserlebnisse und Introspektionen – bis zum geliehenen Horizont aus. Selbst die Volltransparenz der Glaswohnbox wird den Raum nicht mehr weiter öffnen können. Im Gegenteil: Die endgültig durchsichtige Villa ist zur Verschleierung genötigt oder zur ­Einsamkeit verdammt hinter einer eigenen Parkmauer oder Pflanzenwand, die unliebsame Einblicke verbietet – aber damit auch die Ausblicke. Die Schutzfunktion der Behausung erfüllt ein Sicherheitsbedürfnis nicht nur für Leib und Seele, sondern auch für Hab und Gut. In unsicheren Zeiten muss die Wohnung Bunker und Versteck sein: Dann verschließt sie ihre Öffnungen und löscht verräterische Lichter. Nur in der gesicherten Stadt und zu friedlichen Zeiten kann man auch in durchleuchteten Gerippen wohnen. Die philosophische Befreiung des Ich-Bewusstseins hat in jedermann dieselben Repräsentationswünsche geweckt, die zuerst nur Königen und Priestern, später den reichen Bürgern zustanden und die sich heute jeder Teilnehmer einer Talkshow erfüllen kann. Andy Warhol prophezeite schon, dass «in Zukunft ein jeder 15 Minuten berühmt» sein könne. Wie die höfischen und großbürgerlichen ­Lebensweisen es vorgeführt hatten, wurde auch das demokratisierte Wohnen als Gelegenheit zu Prestigegewinn oder gar als «demons19

trative Verschwendung» (Thorstein Veblen) zelebriert. Die biedermeierliche gute Stube endete zwar als Karikatur des Spießertums, aber die Parole «Zeige mir wie Du wohnst, und ich sage Dir, wer Du bist» war schon Werbeslogan einer Möbelindustrie, die mit der Umsatzgeschwindigkeit der Bekleidungsmode gleichziehen wollte. Mit ähnlichen Hintergedanken – «Wohnst Du noch oder lebst Du schon?» – wird derzeit die solide Wohnwand von gestern diffamiert gegen ein Lifestyling des rapiden Austauschs. Als beliebt ­gelten TV-Wohnerziehungsshows, in denen ahnungslosen Wohnstümpern ein Wohn-Outfit übergestülpt wird, das am Ende immer so erfrischend aussieht wie die Verkaufsräume von Ikea. Doch aller Exhibitionismus des Habenichts bleibt vergeblich: Wo nichts Begehrenswertes zu verbergen ist, ist auch nichts Sehenswertes ­auszustellen. Jacques Tatis Filme – von Mon Oncle bis Traffic – beschreiben zutreffender als jede soziologische Kritik die Tragiko­ mödien des demonstrativen Wohnens. Das repräsentative Ambiente bleibt zuletzt nur eine Pflicht des Prominenten, der nun freilich nicht mehr realiter und in situ zu besichtigen, zu bewundern oder zu bestehlen ist: Daheim geschützt von Bodyguards, stellt er sein

Wohnen nun in Hochglanzmagazinen oder Klatsch-Sendungen aus. Die medial gewordenen Attitüden des Versteckens und Ausstellens sind indessen nicht mehr stilprägend und vorbildgebend für eine nachhaltige Baukultur, die heute nur noch ein großes Publikum erreicht, wenn sie gelegentlich Sensationen der Schaulust zu bieten hat. Alles in allem sind dies keine beklagenswerten Befunde, stellen sie doch nur das Wohnthema in eine weniger publizitäre Nische, wo es ohne Hektik zur Besinnung kommen kann. Mit der Television fielen die Sichtgrenzen: Die letzte und raumgreifendste Öffnung bringt zugleich eine neue Leuchtquelle in die Wohnung, die in TV- und Computerschirmen sowie den noch zu erwartenden Nachfolgern zur neuen Lichtgattung heranwächst – mit einer überraschenden Konsequenz: Hat das erste Kunstlicht die Nacht zum Tag gemacht, zwingt das letzte jetzt zur Verdunkelung, macht den Tag wenn nicht zur Nacht dann doch zur perpetuierten Dämmerung. Die Fassade reagierte bereits. Ihre Transparenz ­verhüllt sie unter Schleiern zahlreicher Art: Den schon bekannten Sichtschutzgardinen und Sonnenjalousien folgten Lamellenvor­ hänge, Lochbleche, Stahlgeflechte, Glasbausteine, Mattgläser und bedruckte Scheiben. Man erinnerte sich arabischer Haremsgitter und japanischer Papierschiebetüren, rehabilitierte Ornamentgläser und Sprossendekor. Aber alle Ästhetisierungen haben dasselbe ­prosaische Ziel: den Tag zu dimmen auf einen augenfreundlichen Hintergrund für die Virtual Reality. Rezeption und Manipulation: die vier Lichter des Wohnraums Licht, ob aus natürlichen oder künstlichen Quellen, scheint den Men­ schen nur über einen Eingang zu erreichen, über das Auge. Aber unser Gehirn verteilt es sogleich auf mehrere Wirkungssektoren: Für den Raumgestalter sind dies seine Bearbeitungsebenen, und er ­sollte sie unterscheiden in eine zweckrationale, eine ästhetische, eine emotionale und eine somatische. Wenn das vorliegende Buch den ­Ma­nipulationen des Tageslichts gewidmet ist, das heißt einer Baukunst der Befensterung, sollen die folgenden vier Skizzen die Mani­ pula­tionen des Kunstlichts einschließen.

Zuerst und vorrangig verdanken wir unser Sehen der Helligkeit, einem Gebrauchslicht, das uns zu Wahrnehmungen und Tätigkeiten befähigt – also ist es lebensnotwendig. In seiner naturgegebenen Form (oder Gewalt) können wir ihm nur empfangend (oder defensiv) begegnen: Der Architekt dreht seinen Grundriss ins rechte Licht; Wandöffnungen und Fenster haben auf die Launen der Sonne zu reagieren. Beleuchtung aus künstlichem Licht wird dagegen offensiv lenkbar und zielgenauer planbar. Das offene Feuer war sein erstes ­Instrument; Ölflamme, Glühbirne und alle weiteren heißen Lichttechniken sind seine Derivate. Technisches Beleuchtungslicht ist – weil messbar und prüfbar – in Lehrbüchern und Normen aus­ führ­licher behandelt als die Tageslichtplanung, die ein dynamisches und unzuverlässiges Helligkeitsangebot zu manipulieren hat. Dennoch sind auch Befensterung und Tageslicht gebrauchstüchtig zu gestalten: Denn die zuverlässigen Sonnenläufe ermöglichen genaue Verschattungspläne und schufen eine Erfahrungs-Arithmetik ­zwischen Himmelsrichtung, Fensterdimension, Fensterlage und Raumtiefe. 21

Zum reinen Nutzlicht zählen auch die orientierenden oder infor­ mierenden Signale ohne Beleuchtungsfunktion, wie Wegweisun­gen, Pictos und nicht zuletzt der Bildschirm als neuer Star der Lichtquellen. Eine Gebrauchsanweisung für die Gebrauchslichter der Wohnung ist einfach zu formulieren und leicht zu erfüllen: Gib jeder Tä­ tigkeit ein eigenes Licht und jeweils nur das nötigste! Beleuchte keine Räume, sondern Arbeitsflächen! Vermeide Beflutungen mit gleichförmiger Helligkeit: Sie ertränken jede Wohnlust! Das nächtliche Ambiente will einer Landschaft verstreuter Lagerfeuer gleichen, keinem Großraumbüro. Dass funktionaler Lichtgebrauch unvermeidlich auch schon ästhe­ tisch oder emotional rezipiert wird, liegt in der Ambiguität ­unse­rer Lichtkonnotation begründet und in der Mehrdeutigkeit ­aller Lichtereignisse. In seiner zweiten Rolle tritt das Licht als Agent einer Lichtästhetik auf, die ebenfalls bewusster Gestaltung entspringt, aber die reine Sehhilfe überschreitet: Schattenskulpturen entstehen unter Spots oder Streiflichtern; Figur und Grund lassen sich trennen durch Leuchtdichtekontraste; eine Fassade erhält dekorative Aufwertung 22

durch ornamentale, farbige oder bewegte Kunstlicht-Illumina­ti­­ onen. Ästhetisierende Lichtgestaltung kann sich der Tageslichtphä­no­ mene bedienen, Schattenverläufe und Helligkeitsschwankungen choreografieren, einen immobilen Raum vitalisieren, sich mit Wasser, Materialien und Farben zu synästhetischer Poesie verbinden, wie im Regenbogen der Springbrunnen oder in gotischen Kirchenfenstern. Kunstlichtästhetik hat Tradition in Nachtriten und Feuerwerken; auf der Theaterbühne findet sie ihre schönsten Aufgaben, und seit der Elektrifizierung ist ihr Reichtum in Fassadendekorationen, Entertainment und Werbung kaum mehr überbietbar. In Wohnräumen, wo eine ästhetische Bearbeitung des Tageslichts dem Architekten schon besonderes Raffinement abverlangt, tritt dann der Einrichtungsdesigner zu ihm, der lieber Leuchten entwirft und folglich Kunstlicht bevorzugt. Ohne Frage ist es ein ­Dekorationsmedium par excellence: Jeder Leuchter, der mehr sein will als ein Sichtgerät, gehört in diese zweite Gattung, ob als sakra­ les oder repräsentatives, als symbolisches oder narratives, als schmückendes oder werbendes Lichtzeichen, und je weniger es zu beleuchten hat, desto tiefer kann es sich ins Halbdunkel zurück­ ziehen, wo die Magie ihren Sitz hat.

Als Faustregel der ästhetisch-dekorativen Wohnlichter gibt es nur die Warnung vor dem Überfluss, der – alltäglich genossen – rasch zum Überdruss führt. Als genaues Gegenüber zum ästhe­tischen Raffinement an der Dämmerungsgrenze gehört das verschwen­­de­ rische Festlicht dennoch zur selben Familie. Es braucht keine Übertrei­bung zu fürchten, keinen Kitsch zu scheuen: Denn Üppigkeit kann hier nichts verderben, weil die Würze in der Kürze des Auftritts liegt. Die dritte, diesmal suggestive Macht des Lichts wirkt am Rand des Bewusstseins: dort, wo unsere Gefühle von Lichterscheinungen ­erregt werden, sei es von Sonnenuntergängen, Stadtbränden oder Discoflashlights. Vom atmosphärischen oder Stimmungslicht ist heute viel die ­Re­de – besonders schwärmerisch in den Werbebroschüren der Leuch­ tenindustrie, die unser Gefühlsleben zu bereichern verspricht – aber ein Fachwissen über den atmosphärisch gestimmten Raum existiert praktisch nicht. Seit die Atmosphäre (der globale Atemraum) vom meteorologischen Fachbegriff zur Metapher wurde – zuerst in der Poesie der letzten Jahrhundertwende, dann in Heideggers Philo­ sophie des «gestimmten Raums» –, geistert sie nicht zu Unrecht auch im Jargon der Raumplaner: Wer würde nicht gerne jene unplan­ baren Lichterscheinungen der Natur oder der Kunst, die unsere Gemütsbewegungen auslösen, in den Griff bekommen? Einerseits kann das jeder Laie: Mithilfe einer Kerze auf dem Esstisch gelingt immer das kleinstmögliche Beispiel einer Lichtstimmung; und das Feuerwerk liefert ein Stimmungslicht der größtmöglichen Dimen­­­ sion. Was aber sind seine Ingredienzien? Zum einen ist oft veritables Feuer im Spiel – und im häuslichen Kamin beweist es sich immer wieder als atmosphärestiftendes Medium par excellence. Oft sind es Naturerlebnisse (Gewitterblitz oder Regenschleier, Vulkan­aus­ bruch oder Mondschein, Meeresleuchten oder Polarlicht), die wir als atmosphärisch bezeichnen, und es liegt nahe, alles künstliche Stimmungslicht als Imitationsversuch von Naturereignissen zu ­deuten. Einer anderen Interpretation folgend, ist die Mehrzweck-Metapher aber nicht bloß Großraum-Naturerscheinungen zuzuschreiben, sondern entströmt jedem Ereignis, jedem Raum und sogar jedem Ob­ jekt als quasi auratische Anmutung. Dann wäre jede Situation und jeder Moment von einer spezifischen Atmosphäre gekennzeich­ net, inklusive der Stimmung des Rezipienten – was sie endgültig der Rekonstruierbarkeit entzöge. Die weitgreifendste Analyse des Atmosphärischen gibt uns Gernot Böhme, der es mit dem «Charakter» eines Raums gleichsetzt, den wir gewohnt sind, in Attributen zu benennen, wie eng oder weit, lastend oder erhebend, ernst oder festlich, erhaben oder kleinlich, erregend oder langweilig, gemütlich oder elegant, herrschaftlich oder kleinbürgerlich usw. Er konstatiert – und das scheint mir als Rat an den Raumgestalter nützlich –, dass diese Stimmungen nicht architektonisch objektivier­ bar sind und nur in leiblicher Anwesenheit zu erleben, weil sie «zwischen den objektiven Qualitäten einer Umgebung und unserem Befinden vermitteln». Licht, Farbe und Ton, aber auch Materialien, Geometrien und Proportionen seien zu einer bewussten Erzeugung von Atmosphären einsetzbar, was den Gestalter aber in die Nähe des Bühnenbildners und Innendekorateurs versetze. Es ist einsichtig, dass das Theater, ein Fest oder zirzensische Großveranstaltungen, 24

weil sie ihr Ambiente stimulieren wollen, sich um AtmosphärenImitate bemühen, und das kann mit dem Einsatz von Feuer, Rauch, Blitzen, Wasserschleiern und wagnerianischem Sound durchaus ­gelingen – aber wohl kaum in einer Wohnung: Je diskreter sich dort die künstlichen Lichter der ersten und zweiten Art verhalten, je geistreicher die Fenster auf die Tageslichter reagieren, desto sicherer werden sich Stimmungen von selbst einfinden – als Geschenke der Natur oder des Zufalls. Ein viertes, somatisches Licht schließlich erreicht nur noch unseren Leib. Erst seit kurzem wissen Dermatologen, dass auch unsere Haut ein lichtverarbeitendes Organ ist, und Neurologen entdecken, dass ein nennenswertes Quantum an Informationen, die unser ­Auge aufnimmt, nicht bloß dem Sehen dient, sondern vielmehr ­unseren Hormonhaushalt wie unsere vegetativen und chronobio­lo­gi­schen Kreisläufe reguliert. Jenseits bewusster Sinneswahrnehmungen auf uns einwirkend, erscheint das somatische Licht als Faktum außer25

halb gestaltbarer Zugriffe. Den Lichtgestalter sollte dennoch beun­­ ruhigen, dass wir noch zu wenig wissen über die potenziellen Untaten der Kunstlicht-Bestrahlung: Einigen positiven Befunden, wie etwa die Erfolge antidepressiver Lichtduschen in Skandinavien, stehen mehr Katastrophenmeldungen über psychische und physische Beschädigungen unter permanentem Kunstlicht ­gegenüber. Obgleich sich die Heilserwartungen an «Licht, Luft, Sonne» der Wohn­ reformer um 1900 noch auf keine medizinische Wissenschaft berufen konnten, scheint ihre Ahnung sie nicht betrogen zu haben: 100 Jahre später entdeckt die Gehirnforschung, wie deren Imitate und Surrogate dem menschlichen Körper zusetzen. Gegenwärtig ist die Sonne, nachdem sie als hygienische Botschaft ausgedient hat, zwar zur Hoffnungsträgerin der Energiewirtschaft aufgerückt, und riesige Beweisstücke solarer Autarkie schmücken jedes fortschrittliche Hausdach. Aber solare Wissenschaft würde sich Scheuklappen aufsetzen, wäre sie nur an der Stromquelle, nicht aber an der Heilquelle interessiert. Die Gestalter zukünftiger Lichträume – heute noch hilflos angesichts der physiotherapeutischen Herausforderung – werden sich neu motiviert den Naturlichtern (oder Naturdunkelheiten) zu­ wenden müssen: jetzt als einer subkutan wirkenden Gesundheitsfür­ sorge. Und welches Labor wäre hierzu geeigneter als die Wohnung? Progressive Dämmerungen Nicht wenige Europäer waren überrascht, als die UNESCO 1992 ihren Sternenhimmel zum gefährdeten und schützenswerten Allgemeingut erklärte: gefährdet, weil über den Ballungsräumen nur noch 3% der Sterne sichtbar waren, Tendenz immer noch fallend. Auch für zwei Drittel der Amerikaner ist die Milchstraße unsichtbar

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geworden – und das ist nicht nur ein ästhetisches Problem der ­Hobby-Astronomen: Die Kunstlichtglocken über allen Ballungsgebieten bedrohen nachhaltig Insekten-, Vogel- und Säugetierpopulationen ganzer Regionen. Unser deutsches Wort Lichtverschmutzung ist eine verharmlosende Übersetzung der weltweit dokumentierten Light pollution. Der Sieg über die Sonne, so der Titel einer russischen Oper, die Malewitsch 1913 zu seinem schwarzen Quadrat inspirierte, das heißt die seit 150 Jahren im Übermaß verfügbare technische Helligkeit, hat wie alle Techniken zuvor das Leben fraglos beque­mer und die Welt kontrollierbarer gemacht. Die ge­netische Lichtprägung des Homo sapiens aber, der seit mindestens einer halben Milli­on Jahre das Feuer kennt (aber die Dunkelheit respektierte), ­wird von einem Jahrhundert Nachtkolonialismus nicht wesentlich umgeformt sein: Unser schlafbedürftiger Körper ahnt auch ohne die chronobiologischen Forschungserkenntnisse etwas von seiner sola­ ren Abhängigkeit. Auf Neuigkeiten befragt, kann das Kunstlicht zwar rasante gebrauchstechnische Fortschritte vorweisen, die heute vorrangig der Energieersparnis gewidmet sind, sich aber freilich weiterhin im vordergründigen Gebrauch für Werbungen, Dekorationen oder ­Entertainment des öffentlichen Raums erschöpfen. Nun melden sich aber zukunftsträchtige Lichtaufgaben aus der Ökologie, der Medizin, der digitalen Bildkommunikation und nicht zuletzt aus der Kor­ respondenz mit solaren Energieschöpfungen. Nicht zufällig sind es lauter Anforderungen, die eher Dimmung und subtilere Tönung verlangen: Neue Forschungsgebiete der Dämmerung kündigen sich an. Die Euphorien der Sonnenimitation und die vorwissenschaftlichen Lichtheilungslegenden haben sich mittlerweile als gefährliche Irrtümer erwiesen: insbesondere weil das Auge nur als ein Ins­ trument des Sehens bekannt war. Dass Belichtungen nicht nur menschenfreundlich sind, wusste man zwar schon von der Folter des Schlafentzugs oder der Gewalt von Scheinwerfern. Aber Zweifel am Segen ziviler Beleuchtungen traten erst auf, als Schichtarbeiter und Kaufhauspersonal über Schlaflosigkeit und nervöse Störungen klag­ten. Schon alarmierender – aber noch nicht erklärbar – waren die Langzeitwirkungen einer fensterlosen Modellschule im New York der siebziger Jahre, an deren Schülern eine überdurchschnittli­ che Häufung psychischer, physischer und intellektueller Defizite zu ­be­obachten war. Seit 1987 gibt es mit der sogenannten MelatoninHypothese einen Erklärungsversuch, seit 2001 aber, mit der Ent­ deckung neuer Vorgänge zwischen Auge und Gehirn, den Beweis: Auch der Mensch kann zum Opfer der Lichtvergiftung werden. Ein kurzer Exkurs dazu ist hier unvermeidlich – zu zwei Tatsachen und einer Konsequenz: Zu den bisher im Auge bekannten Rezeptoren (Stäbchen für die Helligkeit und Zapfen für die Farben) ist seit 2001 ein dritter ­c rypto­cromer Lichtdetektor entdeckt, der seine Informationen nur an die Zirbeldrüse und den Suprachiasmatischen Nucleus (SCN) weitergibt, einen multifunktionalen Hormonkontrolleur, auch Moderator körperlicher Tages- und Jahresrhythmen. Dieser reagiert nur auf die kurzwellige Hälfte des Sonnenspektrums (vulgo: auf bläuliches Licht). Kurzwelliges Kunstlicht kann nun aber den SCN täuschen – und damit unsere Körperfunktionen fehlleiten. 27

Nicht wenige der hormonalen und vegetativen, also dem Bewusst­ sein entzogenen Steuerungen der Säugetiere sind circadian ­ ge­taktet, das heißt mit Hell-dunkel-Phasen des Sonnenumlaufs syn­ chronisiert. Der Tageshelligkeit ist die Aktivitätsphase, dem ­Nachtdunkel die Schlafphase zugeordnet. Die Befolgung dieses genetischen Programms garantiert unser Wohlergehen. Probleme und Gesundheitsrisiken beginnen mit dem Ungehorsam: Kurzwelli­ ges Kunstlicht, in Nachtphasen verabreicht, aktiviert die Stress­ hormone zur biologisch falschen Zeit. Die Auswirkungen wurden bisher unterschätzt: Wie jetzt nachgewiesen, sind nicht bloß ­«nervöse Störungen» die Folge, sondern Körperschäden, Depressionen und Krebs. Die Konsequenzen wären einfach: die Arbeit ins Tageslicht zurückzuverlegen, weniger Kunstlicht zu emittieren und wenn schon, dann nur langwelliges. Aber wie allen Katastrophen, die erst durch massive Werbung ins Bewusstsein einer Mehrheit gelangen, wird es auch der photonischen ergehen. Wer will heute schon hören, dass morgen tief greifende Lichtkorrekturen in Stadt- und Verkehrsräumen, in Büros, Kaufhäusern und Werkhallen notwendig werden? 28

Bevor der globale Kunstlicht-Totalitarismus aber einmal als Krise an­ erkannt sein wird, wäre die Wohnung schon als schutzwürdiges Lichtbiotop privat zu verteidigen. Nicht nur gegen die Bedrohung durch Wohnberater, mehr noch gegen die eigene Lichtvergessenheit des Bewohners. Wo, wenn nicht in den eigenen vier Wänden, können wir die Strahlendosis selbst bestimmen, das schädliche Leuchtstofflicht zurückweisen? Wo sonst können wir bei jedem Griff zum Schalter fragen, ob er jetzt schon bedient werden muss? Unsere Wohnung profitiert einmal mehr von ihrer technischen Rückständigkeit: Noch erlauben wir uns das warme Glühlicht, noch gibt es das Fenster, das dem Bewohner die Freiheit gibt, seinen circadianen Tageslicht-Gefühlen nachzugeben. Je weniger er dabei auf die Ersatzlichter vertraut, desto sparsamer wird er sie einsetzen, umso auf­ merksamer wird er mit Wandöffnungen umgehen, vielleicht eine Feuerstelle einrichten und seinen Balkon als einen Ort begreifen, von dem aus er die kostenlosen Kontakte zu Lichtnatur und Licht­ kosmos aufrechterhalten kann. Die geläufige Bezeichnung des Menschen als Augentier, nur weil ihn vorgeblich 80% seiner Informationen über den Sehsinn erreichen, erzeugt Missverständnisse: nicht nur weil dabei Information nicht näher definiert ist, sondern auch weil Platzbedarf und Re­ präsentanz unserer Sensorien im Gehirn ganz anders ausfallen. Dort stehen die über Hand und Haut gewonnenen Informationen an ­erster Stelle, dann folgen Gehör und Geschmack; erst dann kommt der Sehsinn, er beansprucht weit weniger Hirntätigkeit: Warum schließen wir wohl die Augen bei so vielen Anlässen, die höchste Konzen­tration und Sensibilität in Anspruch nehmen – oder die höchsten Genüsse bereiten? Die Wohnung wird – wenn ihre Schutzund Repräsentationsleistungen, ihre kommunitären und familiären Funk­tionen sich als austauschbar erweisen würden – doch noch ein ­Versprechen einlösen können: Rückzugsnische zu sein für ein unge­störtes Genießen, das jenes konspirativ-gedämmte Licht ­benötigt, an das wir uns aus allen Situationen und Erfahrungen des Lust­ge­winns erinnern dürften.

Richtig belichtet? Zum Status quo des Lichthungers

Unersetzbares Tageslicht Es gibt heute kaum jemanden, der die Bedeutung des Tageslichts sowie dessen günstigen Einfluss auf den Organismus und die ­Psyche des Menschen in Abrede stellen würde. Gerade in letzter Zeit scheint die visuelle Sensibilität in Richtung des natürlichen Lichts noch einmal gestiegen, obwohl nach wie vor einiges an Unklarheit herrscht über das Zustandekommen von Lichtwirkungen. Neben den vielen Halbwahrheiten, die kursieren, gibt es folgende gesicherten Erkenntnisse: Tageslicht bestimmt mit seinen gesetzmäßigen Schwankungen das Zeitempfinden des Menschen (Jahreszeiten, Tag­Nacht- oder Circadian-Rhythmus) und ist von entscheidendem Einfluss auf den Hormonhaushalt. Ebenso hat das Tageslicht die evo­ lutionsgeschichtliche Entwicklung des Sehorgans beeinflusst: Die höchste Leistungsfähigkeit des Auges wird bei Tageslicht erzielt, und die Bewertung einer spezifischen Beleuchtungssituation basiert ­immer – unbewusst oder bewusst – auf einem Vergleich mit den bei Tageslicht gemachten Erfahrungen. Bekannt ist zudem, dass die Lebendigkeit und Veränderlichkeit des natürlichen Lichts, seine sich stetig wandelnde Intensität bei den Strahlungsrichtungen und die breite spektrale Zusammensetzung Qualitäten sind, die unser Wohlbefinden maßgeblich bestimmen und erwiesenermaßen zu besseren mentalen Leistungen führen bei einer gleichzeitigen Reduk­tion von Ermüdungserscheinungen. Eine ständig wechselnde Belichtung wirkt indessen nicht nur stimulierend, sondern trägt auch zur ­visuellen Aufwertung der Sehumgebung bei. So ändert sich das Erscheinungsbild der objektiven Umwelt vom Morgen bis zum Abend, vom heiteren Sonnentag bis zum farblosen Grau des trüben Novembernebels. Nicht zuletzt stellt das in den Raum einfallene Tageslicht auch einen Bezug zur Außenwelt her, ein auf psychologi­ scher Ebene bedeutsamer Faktor, der bei der Beurteilung von Raumsituationen stark ins Gewicht fällt.

Gigon / Guyer Architekten, Wohnhäuser Diggelmannstraße, Zürich-Albisrieden, 2005–2007. Wohnbereich und Balkon.

Das Verlangen nach Helligkeit Wirft man heutzutage einen Blick auf die Wohnungsannoncen in mitteleuropäischen Tageszeitungen, so springt einem vor allem eins ins Auge: Die meisten der dort angepriesenen Objekte werden als hell oder gar lichtdurchflutet beschrieben. Ähnliches manifestiert sich auch in Untersuchungen zu den sogenannten Wohnbedürfnissen, die mit einer gewissen Regelmässigkeit von Soziologen

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Tageslicht vermittelt grundlegende Informationen über Witterung, Jahres- und ­Tageszeit. Seine Lebendigkeit bestimmt den Lebensrhythmus und das Wohlbefinden des Menschen.

erhoben werden und dann als Anhaltspunkt für den Wohnungsbau gelten sollen. Hier belegt das Kriterium «hell» oder «sonnig» immer einen der vordersten Ränge bei der Nennung der wichtigsten Wohnungseigenschaften. Auch wenn es heute kaum mehr so erscheint – dieses Verlangen nach taghellen Räumen ist relativ neu. Erst vor wenigen Genera­ tionen in uns geweckt, geriet es in der Folge zu einem scheinbar unerlässlichen Anspruch, dessen rigorose Erfüllung nach wie vor eines der vordergründigsten Ziele zeitgenössischer Wohnbauten dar­ stellt. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein sogenanntes Grundbedürfnis, wie es uns seitens der Anthropologie zum Beispiel mit dem Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit attestiert wird. Während ein Gefühl von Sicherheit essenziell für die Selbstidenti­ fikation des Menschen ist, stellen lichtdurchflutete Räume hingegen nicht jenes Must dar, als das sie gemeinhin präsentiert werden. Schließlich haben wir Jahrhunderte in relativ dunklen Behausungen gewohnt und offensichtlich keinen größeren Schaden genommen, weder physisch noch psychisch. Zwar können unterschiedliche und hinlänglich helle Lichtverhältnisse dazu beitragen, den menschlichen Organismus anzuregen, allerdings wird derselbe Effekt bereits mit einem kurzen Aufenthalt im Freien erzielt. Nach wie vor gibt es in der Medizin unterschiedliche Ansichten darüber, wie viel natürliches Licht ein Organismus täglich braucht, damit es zu keinen biophysischen Störungen kommt. Tatsächlich erweisen sich die Bedürfnisse und Ansprüche, die an die Wohnverhältnisse gestellt werden, vielmehr als ein Produkt der Gesellschaft und der Erfahrungen, welche die Individuen in ihr machen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich die Forderung nach mehr Licht als ein unbewusst verinnerlichtes Wahrnehmungsund Handlungsmuster, das ohne die Einbettung in den ökonomi­ schen und sozialen Lebenszusammenhang, aus dem heraus es ­entstand, nicht vollständig zu begreifen ist. Der Ruf nach Helligkeit ist eng mit einer veränderten Wahrnehmung und einem neuen ­Verständnis von Raum verknüpft. Er ist das kulturelle Produkt einer Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts, die mit der Vergangenheit gebrochen hatte, und entsprang der Vorformulierung eines vermeintlichen Gemeinschaftsbedürfnisses, das es zu befriedigen galt. Die Durchsetzung des modernen Wohnens und dessen Einfluss auf die heutigen Wohnformen lassen sich nicht ohne einen Blick auf die Erziehungsanstrengungen der Protagonisten des Neuen Bauens ausreichend begründen. So greift etwa die in den 1920er Jahren zum Schlagwort avancierte Forderung nach «Licht, Luft, ­Sonne» auf Begrifflichkeiten zurück, die aus den Hygienewissenschaften übernommen wurden. Während die Architekten der Moderne vor allem das Licht und die Sonne ins Zentrum ihrer Bemühungen stellten, hatte dagegen im 19. Jahrhundert vielmehr die Luft im Vor­ dergrund gestanden. Damals war es das Übel schlechter Luft, der man eine pathologische Wirkungsweise zuschrieb. Die einzelnen Begriffe haben im Zuge der Propagierung einer modernen Ästhetik eine neue Gewichtung erfahren. Ein Umstand, der heute ganz in Vergessenheit geraten ist. Das Aufreißen der Fassade – als wichtigstes Merkmal modernen Wohnens – ist nicht zuletzt auch als Kompensationshandlung zu verstehen, mit der man trotz der im Zuge des propagierten Minimal­ standards massiv geschrumpften Raumverhältnisse eine ausrei­ 33

chende Belichtung zu erreichen suchte. In diesem Zusammenhang muss auch der in den 1920er Jahren vollzogene Wechsel von­ ste­hen­ den zu liegenden Fensterformaten gesehen werden: Die baukostensenkende Reduktion der ehemals gängigen Raumhöhe von über drei Metern erforderte die Überprüfung der hochformati­gen Fenstertypen. Eigentlich ein Proportionsproblem und damit ­eine Frage der Ästhetik, waren die Bemühungen groß, allein wissen­schaftlichobjektiv zu argumentieren: Mit der Begründung, das ­hori­zontale Fenster böte eine bessere, weil gleichmäßigere Lichtver­teilung, wur­ de das liegende Format der Klientel schmackhaft ­gemacht. Gleichzeitig entwickelte sich das Fenster immer mehr vom Licht­ spender zum Aussichtsfenster: Mit steigendem Lebensstandard nahm der entgrenzte Ausblick aus dem Band- oder Panoramafenster einen wichtigen Stellenwert ein, was ebenfalls zu einem kontinu­ ierlichen Ansteigen des Fensterformats beitrug.

Zeitgemäßes Wohnen in hellen und offe­ nen Räumen in den 1930er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Max Ernst Haefeli, Haus Koellreuter, ­Küsnacht, Kt. Zürich, 1931–1932. ­Wohn­­raum. Kuhn Fischer Partner Architekten, Wohnanlage mit Gewerberäumen ­Limmatwest, Zürich-West, 1997–2002. Wohnraum.

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Georges-Henri Pingusson, Latitude 43, Saint-Tropez, 1930–1932. Ausblick von ­einer Wohnung über die Bucht von ­­­ Saint-Tropez.

Worin aber liegen die Gründe dafür, dass der Glasanteil an den Fassaden bis in unsere Tage so beträchtlich angewachsen ist? ­Mittlerweile ertragen wir nicht nur die teilweise undifferenzierte Verglasungswut ohne größeren Widerstand, sondern fördern sie noch durch unser Verlangen nach möglichst hellen Räumlichkeiten. Und der architektonische Mainstream versucht, uns mit immer neuen Reizen entsprechend zu bedienen. Tatsächlich scheint sich das ­Bedürfnis nach Helligkeit im Raum mit zunehmendem Tageslichtangebot nur noch zu steigern. Warum diese Zunahme? Gewohnheiten und positive Attributierung In der Physik gibt es das sogenannte Konstanzgesetz, das in seiner weiteren Auslegung eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt: Das Helligkeitsbewusstsein ist relativ: «Das Gedächtnis ist nicht in der Lage, Absolutwerte von Helligkeit, Kontrast, Farbe, Abmessungen und Zeit zu speichern. Deshalb gibt es keinen absoluten Maß­­ stab für Raum und Zeit.»1 Die Wahrnehmung ist ein kontinuierlicher und zumeist unbewusster Vorgang, wobei bei einer Raumbeurteilung wesentlich ist, dass der Helligkeitseindruck allein im Vergleich zu einer bekannten Situation eingeschätzt werden kann. «Die Konstanzgesetze sind schon lange bekannt, neu ist lediglich, dass sie erlernt werden müssen und der erlernte Zustand durch weitere ­Sinneserfahrung stetig erneuert und gefestigt werden muss. Die Maß­ stäbe bleiben nur erhalten, wenn sie ständig neu erfahren werden.»2 Eine Erklärung für den heute ungebrochen gültigen Konsens darüber, dass eine bedürfnisgerechte Wohnung möglichst hell zu sein hat, liegt folglich in der Tatsache begründet, dass sich unsere Lichtwahrnehmung verändert hat. Offensichtlich verlangen wir nach lichtdurchfluteten Räumen, weil wir es nicht anders kennen, weil wir so aufgewachsen sind und weil es uns unter der medialen Berieselung tagtäglich vorgelebt wird. Letztlich eben deshalb, weil die von zahlreichen Seiten und über Jahrzehnte in uns implementierte Gleichung hell = besser mit der entsprechenden Reaktionszeit – Wohnen ist konservativ – endlich wirksam geworden und auf frucht­ baren Boden gefallen ist. Daneben spielen weitere Einflussgrößen mit hinein; zum Beispiel die Auffassung, dass Tageslicht «gesund» sei. In einer Gesellschaft, in der das Thema Gesundheit das Zeitalter der Information und des Wissens bald ablöst, wird dem Tageslicht –

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Endkontrolle von Fluoreszenzleuchten in den Philips-Werken in Roosendaal, Niederlande, 1950er Jahre. Arkadij Šajchet, Lenins Glühbirne, 1925. – Bauern in der sowjetischen Provinz werden von den neuen Errungenschaften der ­Elektrizität beglückt. Elektrisches Licht als Standard für alle. Die Verlängerung des Tags in die Nacht fördert Geselligkeit und Familienzusammenhalt.

A.H. Steiner, Wohnkolonie Heiligfeld III und Wohnhochhäuser am Letzigraben, ­Zürich, 1950–1956. Wohnraum einer ­4-Zimmerwohnung mit Mustermöblierung in einem Wohnhochhaus. – Modernes, lichtdurchflu­ tetes Wohnen in den 1950er Jahren.

vom Energiesparpotenzial einmal abgesehen – auch durch seine ­posi­­tive Attributierung ein immer größerer Stellenwert zuteil. Schließlich verbringen immer mehr Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit in Gebäuden, Autos, Zügen oder Flugzeugen und damit in künstlichem Klima, was den verstärkten Wunsch nach Natur, Wetter, Sonne und Tageslicht nach sich ziehen mag. Gleichzeitig schreiben wir bestimmten Kunstlichtquellen negative Auswirkung auf unsere Gesundheit zu: Konsens besteht etwa darin, dass ­Leucht­stoffröhren ein unnatürliches und daher «ungesundes» Licht geben. Solche Verknüpfungen mentaler Konzepte müssen nicht ­ mit den naturwissenschaftlich begründbaren Tatsachen übereinstim­ men. Allein der Glaube oder subjektive Erfahrungswerte bestimmen unsere Bewertung des Wahrgenommenen. Kunstlicht Einer der wichtigsten Faktoren, der unsere Lichtwahrnehmung ­beeinflusst hat, ist das Kunstlicht, das uns durch seine permanen­te Verfügbarkeit an ein hohes Helligkeitsniveau gewöhnte. So wur­­den ab 1900 künstliche Lichtquellen immer effizienter und der elektrische Strom immer billiger. Schon bald konnten nicht mehr nur noble Villen oder öffentliche Gebäude, sondern auch ein Großteil aller Wohnungen damit versorgt werden. Die neuen künstlichen Beleuchtungsmöglichkeiten verlängerten den Tag in die Nacht

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­ i­nein, verwandelten die Zentren der Städte in illuminierte Ku­ h lissen und werteten die guten Stuben in ihrer Funktion als Zentren familiärer Häuslichkeit auf. Metropolen wie Berlin, Paris oder New York nahmen im Zeichen von Leuchtreklamen und Neonschrif­ ten ein völlig neues Gesicht an. Es war die Geburtsstunde eines Prozesses, der künstliche Lichteffekte zu einem wesentlichen Faktor moderner Architektur deklarierte und dabei sowohl von der ­raumbildenden Kraft des Lichts ausging als auch von den neuen beleuchtungstechnischen Möglichkeiten profitierte, um Architektur ins richtige Licht zu setzen. Technologischer Fortschritt und wirtschaftliche Prosperität verhalfen dem Kunstlicht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu noch mehr Bedeutung. Allerorts entstanden Bauten, welche die natürliche Belichtung völlig außer Acht ließen, um mit künstlichem Licht den hintersten Winkel jedes Raums auszuleuchten. Dunklen Räumen und Bereichen begann ein eher rückständiger Charakter anzuhaften. Die Konsequenz dieses Lichtdursts liegt auf der Hand, nämlich dass man sich mit den beinahe unbeschränkten Möglichkeiten künstlichen Lichts auch ein Stück öder Schatten­ losigkeit einhandelte. Die mystisch-geheimnisvolle Atmosphäre des Dunkels oder Halbdunkels wurde höchstens noch in sakralen ­Bauten als Kontrapunkt des hellen, «göttlichen» Lichts akzeptiert. Mythos Licht Licht hat seit jeher universale Bedeutung bei den Religionen aller Zeiten und Völker. Licht wird mit Geburt, Schöpfung und Erlösung gleichgesetzt. Wenn sich auch das Paradies – egal ob Himmel, Olymp oder Walhalla – seiner örtlichen Bestimmbarkeit stets entzo­ gen hat, eines war klar: Es ist von unendlich-ewiger Helligkeit bestimmt, seine Strahlkraft offenbart sich jeden Tag von Neuem, und auch bei bewölktem Himmel kann es dramatisch durch die Wol­ kendecke dringen und «als Abgesandter des den Menschen unmit-

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Ladislav Žák, Villa Hain, Prag-Vysocˇ any, 1932–1933. – Faszinierender Tag-Nacht­Effekt auch im Wohnbau.

telbar nicht zugänglichen göttlichen Licht-Äthers» (Wolfgang Schivelbusch) neue Lebenskraft schenken. Erinnert sei an die zahlreichen Darstellungen der Verkündigung Mariä oder, etwas pro­ faner, an Siegfried, wie er vom mythischen Licht entrückt, in Fritz Langs gleichnamigen Film von 1924 im Wald kurz innehält und auf einen neuen Schub göttlicher Kraft wartet. An der hochgradig religiös-symbolischen Bedeutung des Lichtstrahls änderte sich auch nach der wissenschaftlichen Erforschung des Lichts durch Sir Isaac Newton zu Beginn des 18. Jahrhunderts wenig. Wie Werner Oechslin unterstreicht, bedienten sich Künstler, welche die Newtonsche Erfindung verherrlichten, angestammter Darstellungsverfahren, um nun «das profane Ereignis mit der Aura des Göttlichen zu umgeben».3 Mit der Verwissenschaftlichung von Licht gesellte sich zur religiös-mystischen Symbolik des Lichtstrahls eine neue Bedeutungsebene: Er wurde zum Wahrzeichen der Aufklärung. Über 200 Jahre später sollte schließlich die Errungenschaft des Kunstlichts dem Lichtstrahl ein neues, ganz profanes Einsatzfeld eröffnen, das von der Taschenlampe über den Autoscheinwerfer bis zum an den Himmel projizierten Werbeslogan reicht. Bald auch ­haben sich Ausstellungen, Sportereignisse, Jubiläumsfeiern, Theater­ inszenierungen und nicht zuletzt Propaganda- und Selbstdar­ stellungsanlässe totalitärer Regime die enorme Eigenwirkung des Scheinwerferlichts zu Nutze gemacht, nicht ohne dabei mit den ­h istorischen Bedeutungsebenen des Lichts zu spielen. So waren die von Reichsarchitekt Albert Speer inszenierten Licht-Dome und Strahlenbündel fixer Bestandteil der nationalsozialistischen Monumental-Ästhetik, die den allmächtigen Führer in ein verklärtes, göttliches Licht rücken sollte. Ebenfalls gottgleiche Züge scheint 39

Göttlicher Lichtstrahl: Siegfried wartet auf neue Kraft, bevor er von Hagen hinterrücks beim Trinken an einer Quelle ermordert wird. Filmstill Siegfrieds Tod aus Fritz Lang, Die Nibelungen, 1. Teil: Siegfried, 1924.

auch Stalin anzunehmen, wenn er im Rahmen der Elektrifizierungs­ kampagne in der UdSSR der 1930er Jahre als kolossaler Walter über hell oder dunkel dargestellt wird. Und die Architektur? Spätestens der bewusst sachliche Gestaltungsansatz der modernen Bewegung mag nahelegen, das sym­ bolische Bedeutungsrepertoire von Licht über Bord zu werfen und dieses möglichst rational und funktional zu behandeln. Die Sache war jedoch anders: Auch die Moderne scheute sich nicht, viel Licht – künstlich oder natürlich – mit einer aufgeklärten, fortschritts­ orientierten Haltung gleichzusetzen. In dem Maße, wie Licht der Durchleuchtung diente, sollte es in einem übertragenen Sinne wirksam gegen geistige Verunreinigung sein. Über diese aufkläreri­ schen Heilsphantasien hinaus waren einige Vertreter der Moderne aber durchaus an der Kultivierung des Lichts als einem faszinieren­ den und vielfältigen Medium interessiert. So gab es inmitten der Helligkeitskulte eine Handvoll Architekten, die den Gegenkräften des Dunkeln nachspürten und mit den verschiedenen Bedeutungsschichten, Symbolwerten und Erscheinungsformen des Lichts zu spielen suchten. Berühmt geworden ist Le Corbusiers Beschreibung von Architektur als «das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper».4 Kompetenz und Regelhaftigkeit allein machen noch keine Architektur aus, es braucht die poetische Kraft von natürlichem Licht, um die Baukörper zu beleben und plastisch zur Geltung zu bringen. Diese Maxime löste Le Corbusier freilich erst in seinem Spätwerk ein, «in which light plays a decreasinlgy ‹objective›, and increasingly symbolic, mysteri­ ous, poetic role, delineating and intensifying volume, space and ­architectural meaning».5 Natürliches Licht mag auch heute noch, in einer weitgehend ­säkularisierten und digitalisierten Gesellschaft, zu faszinieren. Es hat 40

seine historischen Konnotationen bewahrt, hat nichts von ­seiner auratischen Kraft eingebüßt, auch wenn es physikalisch erklärbar und künstlich reproduzierbar geworden ist. Dennoch steht in den meisten Architekturentwürfen vorwiegend die Lichtpoten­ zierung im Vordergrund, soll das Tageslicht angesichts unserer be­ schränk­ten Ressourcen in erster Linie der Raumflutung und Beleuchtung die­nen. Vor dem Hintergrund forcierter Kunstlicht­­­­ szenarien und öder Einheitsilluminationen sind es gerade Bau­ künstler wie Alvar Aalto, Louis I. Kahn oder Luis Barragán, die daran ­erinnern, den Gestaltungs- und Erlebniswert des Lichts in den Archi­tektur­entwurf mit einzubeziehen.

Licht und Strom im Zeichen totalitärer Macht: Tok vkljucˇ en [Der Strom ist eingeschaltet]. Stalin auf einer Doppelseite der Zeitschrift SSSR na strojke [Die UdSSR im Aufbau]. Benno von Arent, Arthur Reiche, Beleuchtung der Säulen Unter den Linden in Berlin anlässlich des Besuchs von Mussolini im September 1937.

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Ebenso kann auch im Zuge einer übermäßigen Fokussierung auf das Spektakel leicht die Übersättigung drohen: Wo einst die Post­ moderne in bester Absicht mit Veredelungen und Verkünstelungen der Oberflächen gegen den Schrecken der Leere angetreten ist, sind es heute postrationale Konstrukteure, die sich bisweilen einer Überfülle an Lichtbotschaften bedienen. Nur wenige vermögen es, eine eigene Lichthandschrift zu entwickeln, in der das ­Tageslicht als eigentlicher Baustoff fungiert.

Gigon / Guyer Architekten, Wohnhäuser Diggelmannstraße, Zürich-Albisrieden, 2005–2007. – Glas wird wieder vermehrt wegen seiner sichtbaren Qualitäten geschätzt.

Mythos Glas Ähnlich wie beim Licht lässt sich auch der Erfolg des Glases – als Sinnbild für eine moderne Baugesinnung schlechthin – nicht allein auf dessen funktionalen Bestimmungszweck als Tageslicht­spender zurückführen; seine Attraktivität verweist vielmehr auf «innere Zusammenhänge, auf die strahlende und zugleich eisige Dimension des Materials und auf dessen Mythos». 6 Glas scheint, wie kein ­anderes Baumaterial, ein großes Potenzial an philosophi­schen und ideologischen Bedeutungen in sich zu bergen. Mit seinen spezifi­ schen Eigenschaften der Transparenz und Härte, Durchsicht und Undurchdringlichkeit ist es seit jeher von der Aura des Faszinieren­ den, Wunderbaren, ja gar Sublimen umgeben. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Übersetzung von Glas in den romanischen Sprachen dem Wortsinn von veritas (Wahrheit) an­ nähert: «die Glaskugel der Wahrsager und die Transparenz der Auf­ klärung, Vorsehung und Abwehr, freie Sicht und Hindernis, die Metapher für Melancholie und die für Reinlichkeit.»7 Es erstaunt also nicht, dass sich auch die Architektur im Laufe der Baugeschichte dieses Spektrums an Referenzen und Bedeutungen bediente und Glas jenseits seiner Funktion als bloßen Belichter zum Einsatz brachte. Am eindringlichsten formulierte dies wohl zu Beginn des 20. Jahr­hunderts Paul Scheerbart in seinen Architekturvisionen, in denen er eine allumfassende Umweltgestaltung mit farbigem Glas fordert: «Hoffen wir, dass die Glasarchitektur den Menschen auch in ethischer Beziehung bessert. Mir erscheint dieses gerade als ein Hauptvorzug der glänzenden, bunten, mystischen, großarti­ gen Glaswände zu sein.»8 Ebenso apostrophierte auch die Architek­ tur der Moderne mit ihrem symptomatischen Glaseinsatz weit mehr als nur physikalische Eigenschaften. Mit der von ihren Vertre­ tern geforderten «nackten» und «ehrlichen» Architektur wurde das Gebot der Aufrichtigkeit auch auf das Material übertragen. Transparenz wurde zum Sinnbild für eine neue Baugesinnung, die gemein­ hin die neuen Tugenden der Offenheit, Freiheit und ­Gleichheit verkörperte, also eine dezidiert demokratische Haltung wider­spie­ geln sollte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Hannes ­Meyers Erläuterungen zu seinem Wettbewerbsbeitrag für das Völ­ker­ bundgebäude in Genf (1927), bei dem Glas eine tragende Rolle spielt: «Keine Winkelgänge für die Winkelzüge der Diplomaten, son­dern offene Glasräume für die öffentlichen Unterhandlungen öffentlicher Menschen.»9 Die aufklärerische Komponente der Moder­ne im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die sich in der Auffassung von Bauen als gemeinschaftsbildendem, sozialrelevantem Akt widerspiegelt, fand in der offenlegenden, enthüllenden Eigenschaft von Glas ihr adäquates Ausdrucksmittel. In neuen, gut ­belichteten archi­tek­ tonischen Räumen sollte jeder Einzelne das Gefühl bekommen, am gemeinsamen Projekt der Moderne zu parti­zipieren.

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Aus heutiger Perspektive mögen solche Feststellungen pathetisch und überholt klingen, sie sind jedoch bezeichnend für den Opti­mismus und die Aufbruchstimmung zu Beginn des letzten Jahr­ hunderts. Die Kongruenz von Theorie und Praxis war jedoch schon damals von Widersprüchlichkeit geprägt. Denn was mochte das großzügig verglaste Haus Tugendhat in Brno mit einer spezifisch demokratischen Baugesinnung zu tun haben? Und dass Transparenz – Einsicht und Durchsicht implizierend – durchaus auch zum Signifikant für visuelle Kontrolle werden konnte, davon zeugen die bereits im 19. Jahrhundert entstandenen Entwürfe für Straf­ anstalten, die ganz aus Glas sein sollten. Wenn nun seit einigen Jahren Kristallpaläste ihre Wiederauferstehung feiern und die Glasfassaden unzähliger Banken und Firmen­ sitze das Bild der heutigen Innenstädte prägen, dann hat freilich auch dies nichts mit Demokratie zu tun. Auch dann nicht, wenn Sir Norman Foster dem Berliner Reichstag eine Glaskuppel aufsetzt. Vielmehr handelt es sich um Bauten, bei denen sich der Glaseinsatz schon längst ästhetisch verselbstständigt hat. Die Transparenz unserer Zeit ist nicht mehr dieselbe wie jene unserer realitätsgläubigen Vorfahren. Glas, seiner Aufklärungspflicht entledigt, wird heute wieder bildhaft eingesetzt; das heißt als Erlebniswert oder als Mittel der Suggestion. Überbelichtungen Glasarchitektur ist noch keine Lichtarchitektur, auch wenn es manchmal scheint, als sei die Lichtproblematik im Entwurf mit dem Anbringen von ausreichend Fensterfläche gelöst. Wenn im Folgen­ den von Defiziten die Rede ist, dann nicht von allfälligen Be­ lichtungsmängeln, sondern eher von einer allgemeinen Ignoranz gegenüber den Gestaltungsmöglichkeiten des Lichts überhaupt. Zwar gibt es Protagonisten nuancenreicherer Baukunst – ihre Lichtund Schattenspiele haben jedoch wenig Einfluss auf den Mainstream, der nach wie vor lieber der bekannten Gleichung des Industrie­ zeitalters mehr Licht = besseres Licht folgt.

Die Nachfrage nach Wohnraum ist als Materialisierung eines vielfältigen Anforderungsprofils zu verstehen, dessen Ausformung ­abhängig ist von den Werten und Normen der Gesellschaft. Auf der anderen Seite ist das Angebot an Wohnraum das Ergebnis eines ­Investitionsentscheids, dessen bauliche Umsetzung meist innerhalb eines restriktiven finanziellen Rahmens erfolgt. Die Entschei­ dungsgewalt liegt in der Regel beim Bauherrn oder Investor. Er ent­ scheidet im Allgemeinen über Aussehen, Qualität und Substanz des Wohnbaus und lässt sich hierin, neben den ökonomischen Aspek­ ten, meist von eigenen Wohnvorstellungen leiten: Bauen ist sehr stark an Konventionen gebunden. Man lehnt sich nur ungern aus dem Fenster, denn sich auf Neues einzulassen ist mit Unsicherheit verbunden und stellt – zumindest solange das Angebot die Nachfrage diktiert – ein unnötiges Risiko dar. Der Markt versucht, auf sogenannte Trends zu reagieren, weshalb der heutige Umgang mit Tageslicht vielfach von einer undifferenzierten Übernahme gleichgeschalteter Vorstellungen zeugt. Die mediale Vermittlung bestimmter Bilder von Architektur spielt dabei eine wesentliche ­Rolle – und zwar gleichermaßen bei Bewohnern und Bauträgern. In einer Zeit der Dominanz von Bildern ist es nur mehr die logische 44

Claudia König, Werner Larch, Haus D., Wien-Hietzing, 2003–2004. Wohnraum. – Vielfältig und variantenreich eingesetzte Gestaltungsmittel führen zu einer differenzierten Lichtführung.

Konsequenz, dass die ursprüngliche Dialektik des Fensters als Spender von Licht einerseits und Aussicht andererseits zugunsten Letzterer aufgehoben wurde. Mangelnde Plastizität und räumliche Spannung sind oftmals das negative Resultat solcher Entwurfs­ maximen. Wohin die Reduktion auf das Zweidimensionale führen kann, thematisiert der Architekt und Architekturtheoretiker ­Juhani Pallasmaa: «Die meisten Bauten, die in der internationalen Presse der letzten Jahre angepriesen wurden, sind von Narzismus und Nihilismus gekennzeichnet. Es wird Zeit, dass die Vormachtstellung des Visuellen endlich aufgebrochen wird zugunsten einer Re-Sensualisierung, Re-Erotisierung, Re-Verzauberung der Welt.» Und im Gegenzug: «Dabei fällt der Architektur die Aufgabe zu, die innere Welt zurückzubringen. Denn anstatt dass wir durch den architektonischen Raum unser Hier-Sein in der Welt erfahren, ist die Architektur zur Kunst des gedruckten Bildes ­verkommen und hat ihre Plastizität und Materialität verloren.»10 Für Pallasmaa geht die Vernachlässigung der Plastizität mit einer Entzauberung der Welt einher. Diese Kritik lässt sich ausbauen und weiterführen auf die Forderung nach einem Architekturentwurf, bei dem wieder der Raum im Vordergrund steht und damit die Tiefenwirkung – ­deren Bedeutung für das Erleben einem in Zeiten schattenloser Ausleuchtung erst wieder vor Augen geführt werden muss. Zudem muss sich das, was einem allfällig konsultierten Lichtplaner aus visuell-ergonomischen Gründen als Nonplusultra ­erscheint, nicht zwangsläufig mit den Vorstellungen des Ruhe suchen­ den, wohnenden Menschen decken. Wohnen impliziert eine enge Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt, denn einerseits ist die Wohnumwelt für den Menschen prägend, und andererseits ­gestaltet der Bewohner diese auch. Dabei sind die Handlungsspielräume, die eigenen Gestaltungs- und Personalisierungsmöglichkeiten, von zentraler Bedeutung. Oftmals werden diese allerdings durch restriktive Grundrisslösungen eingeengt. 45

Richard Neutra, Haus Nesbitt, Los Angeles, CA, 1942. Wohnraum.

Es reicht nicht aus, Tageslichtplanung aus nur einem Blick­ winkel zu betrachten, will man der Komplexität der Thematik nur annähernd gerecht werden: Bauen entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren und sollte nicht an lichttechnischen oder energetischen Kennzahlen gemessen werden. Vielmehr sollte sich der Entwurf als ein offener Prozess gestalten, in den bezüglich der Frage nach der Befindlichkeit des Menschen in dem ihm zu­ gestandenen Raum Antworten aus allen relevanten Bereichen einflie­ ßen. Eine undogmatische Synthese verschiedener Ansätze scheint sinnvoll, denn der Mensch braucht mehr als Vernunft und Logik, um sich lebendig und wohl zu fühlen. Die Poesie des Raums meint eben nicht nur das Vorhandensein von vier Wänden, sie umfasst den Wunsch nach einem stimmungsvollen, abwechslungsreichen Ambiente, das uns den Aufenthalt darin angenehm macht. Ein Wohn­­haus ist in erster Linie ein Lebensraum, der hinsichtlich der Tageslichtausbeute beziehungsweise der natürlichen Belichtungsverhältnisse 46

große Variationen zulässt. Es bleibt also die Aufforderung zu mehr Experimentierfreude und Wagemut in der Wohnbauplanung – einem Bereich, der wie Richard Neutra es einst formulierte, mehr Sensibilität als andere einfordert und gerade deshalb unsere volle Aufmerksamkeit verdient: «Wohnungsarchitektur, vielleicht mehr als irgendetwas anderes, ist eine unermessliche, unerschöpfliche Kunst. Aber es ist keine ­lebensferne, abstrakte Kunst, die zur Schau gestellte ‹interessante Konstruktionen› oder ‹pure Formen›, gläserne Würfel und andere geometrische Gebilde zu ihrem Idol macht; oder aber mit Licht, Schatten und Farben als Selbstzweck manipuliert und sie als Motive ihrer Konzeption zugrundelegt. Hier, mehr als anderswo, gilt die Tatsache, dass unsere Kunst zutiefst mit dem menschlich Erfühlba­ ren, dem Sinnlichen und Gedanklich-Versponnenen, und der ­Gesamtheit unserer seelischen Vorgänge, höchst verantwortlich zu tun hat. Wohnungssuche ist im Grunde nur die Suche nach dem langwährenden und bleibenden Glück.»11

1 Heinrich Kramer, «Die menschliche Wahrnehmung», in: Ingeborg Flagge (Hrsg.), Jahrbuch Licht und Architektur 1998, Darmstadt: Verlag Das Beispiel, 1998, S. 8–11; 9. 2 Ibid. 3 Werner Oechslin, «Licht: ein Gestaltungsmittel zwischen Vernunft und Gefühl / Light: a Means of Creation between Reason and Emotion», in: Daidalos, Nr. 27, 1988, S. 22–31, 34–38; 23. 4 «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.» (Le Corbusier-Saugnier, Vers une architecture, Paris: Crès, 1923, S. 16). Hier zit. nach der dt. Ausgabe: 1922. Ausblick auf eine Architektur, Berlin: Ullstein, 1963 (Bauwelt Fundamente 2), S. 38. 5 Harris Sobin, «Masters of Light: Le Corbusier», in: AIA Journal, vol. 68, no. 11, 1979, S. 56–59; 58. 6 Michael Erlhoff, «Bauen mit Glas. Bloß Glas – der klärende Widerspruch», in: Baumeister, Jg. 89, Nr. 1, 1992, S. 11. 7 Ibid. 8 Paul Scheerbart, Glasarchitektur, Berlin: Der Sturm, 1914; Neuausgabe, mit einem Nachwort von Mechthild Rausch, Berlin: Gebrüder Mann, 2000, S. 88. 9 Hannes Meyer, Hans Wittwer, «Ein Völkerbundgebäude für Genf 1927», in: ­Bauhaus, Jg. 1, Nr. 4, 1927, S. 6. 10 Juhani Pallasmaa, Architekt und Architekturkritiker, im Rahmen des Sym­ posiums Architektur und Wahrnehmung in Frankfurt, Nov. 2002, zit. nach: ­ Werk, Bauen + Wohnen, Jg. 90/57, Nr. 3, 2003, S. 69. 11 Richard Neutra, Mensch und Wohnen / Life and Human Habitat, Stuttgart: Alexander Koch, 1956, S. 314.

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Modernes Wohnen Lichtdurchflutete Behausungen

Sigfried Giedions Programmschrift ­Befreites Wohnen, 1929. Fotovorlage und Umschlag (Terrasse der Rotachhäuser von Max Ernst Haefeli, Zürich).

Modern = hell Die Kultur- und Architekturgeschichtsschreibung hat mitsamt ­ihren visuellen Strategien wesentlich dazu beigetragen, eine ganz bestimmte Vorstellung von moderner Gestaltung zu generieren. So nimmt die Gleichsetzung modern = hell ihren Ausgangspunkt in der Wahrnehmung, Akzeptanz und Wertschätzung der Erzeugnisse der klassischen Moderne, samt der von Aufbruchstimmung und Lebenslust, sozialem Reformwillen und kulturellen Experimen­ ten geprägten Zeitepoche der 1920er und 1930er Jahre. Im Anschluss daran werden auch heute noch Produkte mit dem Prädikat «modern» versehen, bestechen sie durch konstruktive Klarheit und formale Reduktion, strotzen vor Funktionalität und graziler Leichtigkeit. Stets scheinen sie von einer Aura des Hellen, Erleuchteten, Transparenten umgeben. Auch – oder gerade – für Wohnbauten trifft dies besonders zu: die Villen Le Corbusiers, Mies van der Rohes Haus Tugendhat, die eleganten Westcoast-Villen auf den berühmten Aufnahmen von Julius Shulman. Sie alle sind durch einen großzügigen Einsatz des Werkstoffs Glas geprägt, der offe­ ne, helle, von Licht durchströmte Innenräume zu inszenieren hilft. Diese Wohnikonen sind es – wohlgemerkt durchwegs Villenbauten für die Oberschicht und nicht die vielfach gerühmten Großsiedlungen in Frankfurt, Wien oder Amsterdam, die weit traditionelle­ ren Gestaltungsansätzen verpflichtet waren –, die auf Jahrzehnte hinweg unser Bild von weltoffenem, urbanem und zeitgemäßem Wohnen geformt haben. Dies ist umso erstaunlicher, hat doch der tatsächliche Anteil moderner Bauten in den 1920er und 1930er ­Jahren nur zwischen fünf und zehn Prozent am gesamten Neubauvolumen betragen. Demgegenüber scheinen die dunklen Seiten der Moderne stets weit weniger Beachtung gefunden zu haben, obwohl die Rückkehr zu einem vielschichtigen Licht-Schatten-Spiel gerade für die ­A rchitektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wesentliches Charakteristikum ist. So findet die mystisch verklärende Wirkung von Licht allenfalls in Sakralbauten wie Le Corbusiers berühmtem Kirchenbau Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (1950– 1955) oder dem Dominikanerkloster Sainte-Marie-de-la-Tourette in Eveux-sur-l’Arbresle (1953–1960) Beachtung. Seine Villa Shodhan im indischen Ahmedabad (1955–1957), ein Meisterwerk unter ­seinen expressiv geformten, skulpturalen Bauten des Spätwerks,

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Lichtdurchflutete Ikonen moderner ­Wohnhausarchitektur: Ludwig Mies van der Rohe, Haus Tugend­ hat, Brno/Brünn, 1928–1930. Ansicht vom Garten. Pierre Koenig, Case Study House No. 22 (Haus Stahl), Los Angeles, CA, 1959–1960.

das Licht und Farbe, helle und dunkle Bereiche zu einem grandiosen Raumerlebnis synthetisiert, hat sich dagegen weit weniger im kollektiven Baugedächtnis verankert.

Le Corbusier, Villa Shodhan, Ahmedabad, Indien, 1951–1956. Wohnraum.

Nicht nur eine selektive Architekturgeschichtsschreibung hat unser heutiges Bild von modernem Wohnen wesentlich geprägt. Tat­säch­ lich war die Vorstellung von lichtdurchfluteten Wohnungen ein zentraler Programmpunkt bei den Vertretern der modernen Architekturbewegung auf dem Weg zu einer umfassenden Reform des Wohnens. Geprägt von der Parole «Licht, Luft, Sonne» sollten nach dem Ersten Weltkrieg zeitgemäße Behausungen entstehen – und zwar nicht für die gesellschaftliche Elite, sondern für die breite Masse. Gerade die gesundheitsfördernde Bedeutung, die natürlichem Licht zugeschrieben wurde, entwickelte sich zum progressi­ven Faktor bei der Konzeption von Grundriss, Baukörper und Siedlungs­­ anlage. Tageslicht wurde bei der richtigen Orientierung von Räumen und Gebäuden, der Herausbildung adäquater Be­bauungs­muster und Siedlungstypologien sowie der Gestaltung der peripheren ­Außenwohnräume von Haus und Wohnung zu einem entscheiden­ den Faktor. Lichthygiene und Wohnreform Als sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts sozialreformerische Kreise für eine Verbesserung der Wohnbedingungen der Arbeiterschaft einzusetzen begannen, waren es vor allem die wohnungshygie­ nischen Missstände, die angeprangert wurden. Die zahlreichen Schriften der Ärzte, Gesellschaftskritiker, Politiker und später auch Architekten waren sich inhaltlich meist ähnlich. Ein breiter Konsens bestand darin, dass schlechte, stickige und dunkle Behausun­gen zu Krankheit, Arbeitsscheu oder Depression führten. Aufgrund dieser Sichtweise waren deshalb die Bemühungen ganz auf die Abwendung von schlechter Luft gerichtet. Als Träger pathogener Übel galt ihr die Hauptsorge. Die Luft – und nicht, wie wir wohl als Erstes annehmen würden, das Licht – war es denn auch, die bei der Ermittlung der adäqua­ten Wohnungsgröße von Arbeiterwohnungen eine zentrale Rolle spielte. Heute wundern wir uns über die vergleichsweise stattlichen Raumhöhen von 3 Metern und mehr, die selbst im Falle der überwiegend spekulativ errichteten Mietskasernen für die ­A rbeiterschicht beibehalten wurden. Anders als bei den bürgerli­ chen Etagenwohnungen, wo die Raumhöhe ein Gradmesser der ­sozialen Distinktion war und Zeugnis vom wirtschaftlichen Status ihrer Bewohnerschaft geben sollte, dürfte dies im Falle der Arbeiter­ wohnungen auch aufgrund der Notwendigkeit zur Bereitstellung einer ausreichenden Sauerstoffmenge erfolgt sein. Man vergegenwär­ tige sich, dass zu jenen Zeiten bisweilen sechs und mehr Personen zusammengepfercht in einem Raum und auf wenigen Quadrat­ metern miteinander leben mussten. Bei dieser heute kaum mehr vor­ stellbaren Wohndichte war ausreichend Luft zum Atmen letzten Endes von nationalökonomischer Bedeutung, denn schließlich muss­ te ja die Arbeitskraft erhalten bleiben. Tatsächlich galt seit Mit­te des 19. Jahrhunderts die vom deutschen Arzt Max von Petten­kofer im Zusammenhang mit dem Luftaustausch von Räumen formu­ lierte Faustregel von 10 m 3 Luftraum pro Erwachsener und 5 m 3 pro Kind. Diese später gesetzlich fixierten Anforderungen an eine

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Arthur Wragg, Schau – die Sonne! – ­Direkte Sonnenlichteinstrahlung war in den dicht bebauten Blockrändern der groß­ städtischen Arbeiterbezirke eine Seltenheit.

zweckdienliche Arbeiterwohnung unterlagen in ihrer baulichen Umsetzung in der Regel einem strengen Kostenrahmen. Und da die Flächenausdehnung aufgrund der städtebaulich vordefinierten Blockrandbebauung eingeschränkt blieb, war es bisweilen kostengünstiger, den vorgeschriebenen Luftraum durch eine größere Raumhöhe zu erzielen. Wie aus historischen Schilderungen hervorgeht, wurde die Feuch­ tigkeit der Wohnungen als eigentliches Hauptproblem betrachtet und ebenfalls mit einer unzureichenden Luftversorgung beziehungsweise Ventilation in Verbindung gebracht. Nicht selten wurden Wohnungen aus Profitgier in noch nicht ausgetrocknetem Zustand vermietet, oder Lage und Größe der Wohnung ließen kaum Möglichkeiten der Durchlüftung zu. Wenn nun vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Forderungen nach ausreichend Licht immer lauter wurden, dann war dies – entgegen dem späteren Bedeutungsgehalt – in erster Linie mit der Hoffnung verknüpft, so der krankheitsfördernden Feuchtigkeit beizukommen. Das eindringende Licht sollte im Sinne einer austrocknenden Strahlung regu­lie­ rend auf die modrigen Stuben einwirken. Auf einen solchen Zusammenhang verweist etwa eine Publikation des Basler Wohnungsvermietervereins von 1891, der eindringlich dazu aufforderte, «das trockenste (sonnigste), luftreichste (größte) und ruhigste ­Zimmer» als Kinderstube zu verwenden, da «in engen, dumpfen, luftverschlechterten und überfüllten Wohn- und Schlafräumen» mit Vorliebe gefährliche Kinderkrankheiten brüteten. Gleichzeitig schrieb man dem Sonnenlicht eine Krankheits­ keime abtötende Wirkung zu, hinter der man das Ozon vermutete, das sich angeblich aus Sauerstoff und Sonnenlicht bildete. Abge­ sehen von den zu dichten Wohnverhältnissen, die als Hauptursache für eine Ansteckung galten, schien eine schlechte Belichtung den todbringenden Krankheitsverlauf sowie die schnelle Ausbreitung der Bazillen zu begünstigen. In zahlreichen Schriften wurde daraufhin beharrlich auf die vermeintlich antibakterielle Funktion des Lichteinfalls hingewiesen – eine Argumentationsweise, die sich für Generationen im allgemeinen Gedächtnis festsetzen sollte. Das Beharren der Wohnreformer auf einem günstigen Raum­ klima, das dem Abgleiten Bedürftiger in unsittliches Verhalten positiv entgegenwirken sollte, kündete am Ende des 19. Jahrhunderts von einer weiteren Akzentverschiebung: Neben der Bekämpfung bedrohlicher Krankheitsquellen ging es nun vermehrt auch um eine gesellschaftliche Prophylaxe. Sauberkeit und Reinlichkeit in der Wohnung – immer in Assoziation mit dem bürgerlichen Leitbegriff der Moralität – wurde zu einem wichtigen Anliegen der Reformer. Und einfallendes Tageslicht damit zur conditio sine qua non; schließlich musste der Schmutz erst einmal sichtbar gemacht werden, wie etwa aus der Passage eines ärztlichen Ratgebers zu gesundem Wohnen aus den 1890er Jahren deutlich wird: «Wo auf Tischen oder am Boden, an Wänden, Fenstern oder auf Möbeln Staub, Schmutz, Flaum und Spinngewebe zu beobachten, da greife die emsige und umsichtige Hausmutter sofort nach ihrem Handwerkzeuge der Reinlichkeitspflege, nach Besen, Wischer und feuchtem Lappen, um jene Feinde der Luftreinheit und des Anstandes zu beseitigen.» Fortan sollten sich die Assoziationsketten von Schmutz als schlecht, unsittlich, krank, asozial und Reinheit als tugendhaft, unschuldig, gesund tief ins Bewusstsein der Menschen eingraben. 52

Hugo Höppener, Bade in Licht, Luft & ­Sonne, 1901.

Um 1900 hatte sich die Wissenschaft der Hygiene, die in sich die Ge­­biete der Bakteriologie und Sozialmedizin vereinigte, als an­ erkannter Teil der Gesundheitsmedizin etabliert. In den folgenden Jahren setzte nun zum einen eine allgemeine Popularisierung des Wissens um die Entstehung und Vermeidbarkeit von Krankheiten in der breiten Bevölkerungsschicht ein. Zum anderen hatte die ­Beschäftigung mit der Gesundheit – neben dem Postulat einer fami­ liengerechten Wohnung – Hochkonjunktur in den Reformerkreisen, deren Diskussionen und Gesetzesentwürfe jeweils von den neusten Erkenntnissen aus der physiologischen Hygienewissenschaft genährt wurden. Licht und Luft wurden bald zu ihrer wichtig­ sten Forderung, auch wenn diese vor dem Ersten Weltkrieg kaum gesetzlichen Niederschlag in den Bauordnungen finden sollte. Waren die treibenden Kräfte und Hauptinitiatoren der Hygiene­ bewegung und der damit verbundenen erzieherischen Volksaufklärung bis zu jenem Zeitpunkt vor allem engagierte Sozialhygieniker, Politiker oder Beamte gewesen, wussten seit den 1920er Jahren ­vermehrt auch die Architekten der Moderne die Wissenschaftsgläubigkeit ihrer Zeit für eigene Zwecke zu nutzen. Die wissenschaftlich legitimierte Forderung nach «Licht, Luft, Sonne» eignete sich ausgezeichnet, um die programmatischen Ideen und ästheti­schen Prinzipien des Neuen Bauens breitenwirksam zu propagieren. Neues Bauen, neues Wohnen Gegen Ende der 1920er Jahre konnte sich die moderne Architektur als ernst zu nehmende Kraft etablieren: Ausstellungen in ganz ­Europa präsentierten mit großem Erfolg neue Architektur und zeit­ gemä­ßes Wohnen, die Großstädte füllten sich mit dynamischen ­Geschäfts- und Bürogebäuden im neuen Stil, das aufgeklärte Bürger­ tum gab sich zeitgeistbewusst und ließ sich nunmehr moderne ­Domizile ­errichten, die ersten glücklichen Menschen durften in neue Siedlungs­anlagen mit standardisierten und rationalisierten Wohnungsgrundrissen einziehen. Selbst in Übersichtswerken fand die moderne Bewegung ihren Platz. Darüber hinaus sollte mit der Grün­dung der Congrès internationaux d’architecture moderne (CIAM) 1928 im westschweizerischen La Sarraz ein neues, internationales Podium für die Diskussion aktueller Themen und zu­ künftiger ­Lösungen im Bauen entstehen. Eines der zentralen Anliegen des Neuen Bauens bestand in einer umfassenden Reform des Wohnens. Letztere sollte Sinnbild für ein neues Leben sein, denn mit dem gesellschaftlichen und politi­ schen Wandel nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich auch der soziale Anspruch an das Bauen geändert. Ein Großteil der modern gesinnten Architekten, Planer und Theoretiker verband neue Wege im Bauen mit einer gesellschaftlich und politisch fortschrittlichen ­Haltung und hatte den Anspruch, auf aktuelle Anforderungen und Problemstellungen entsprechende bauliche Antworten zu liefern. Dass das Schwergewicht für viele auf dem sozial orientierten Wohnungsbau lag, erstaunt nicht, waren doch viele Länder Europas nach dem Ersten Weltkrieg von akuter Wohnungsnot betroffen. Die schlechte wirtschaftliche Lage erforderte zudem ein rationelles, günstiges Bauen – Typisierung, Normierung und Vereinheitlichung der Form wurden dabei zu den wegweisenden Richtlinien. Mit ­Einfachheit, Sachlichkeit und Schlichtheit als neuen gestalterischen Maximen wurden aber auch ethisch-moralische Vorstellungen für

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Ein Mercedes-Benz-Modell (Typ 8, 38 PS, Stuttgart 200, Roadster) vor dem Doppel­ wohnhaus von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in der Stuttgarter Weißenhof­ siedlung. Werbefotografie, 1928. – Spätes­ tens dann, wenn zeitgenössische Architek­ tur als Hintergrund für Automobilwerbung dient, dürften ihre Protagonisten das Ziel erreicht haben.

eine zukünftige, humanere und demokratische Gesellschaft verknüpft, die Katastrophen wie den Ersten Weltkrieg nie mehr zulassen sollte. Neues Wohnen in neuen Bauten sollte wesentlich dazu beitragen, einen neuen, aufgeklärten, sozialkompetenten, ja gar «geistigen Menschen» zu entwickeln. So ließ etwa eine zeitgenössi­ sche Publikation über die neue Baugesinnung verlauten: «Diese Häuser, die so leicht und anspruchslos gestaltet sind, erscheinen in der Tat als Erzieher zu einer neuen Geistigkeit. Während sie darauf angelegt sind, ihren Bewohnern die reinsten und gesündesten ­Lebensquellen zu erschließen, fordern sie auf der anderen Seite eine gewisse Askese, [den] Verzicht auf mancherlei ungeistige Behaglichkeit und Einfügung in die Gesellschaft.»1 Dabei waren sich die Protagonisten des Neuen Bauens durchaus darüber im Klaren, dass sich solch ein Programm nicht von heute auf morgen durchsetzen ließ – schon gar nicht bei den breiten Massen. In der Folge ging man mit nie mehr erreichtem Elan daran, eine Art Erziehung zur Wohnkultur zu forcieren und mittels zahlreicher Publikationen, Veranstaltungen und Ausstellungen einem breiten Publikum die neue Architektur und entsprechende Wohnkonzepte vorzu­ stellen. Die zwischen 1927 und 1933 von den jeweiligen Werkbundsektionen veranstalteten Ausstellungssiedlungen über neues Wohnen, der Film Die neue Wohnung von Hans Richter (1930), Publikationen wie Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin von Bruno Taut (1926) oder Befreites Wohnen von Sigfried Giedion (1929) zählen zu den bemerkenswertesten dieser Unternehmungen. 54

Umgestaltung der Wohnung nach den ­Vor­stellungen der Protagonisten des Neuen Bauens: Schlichtheit und formale Klarheit anstelle von Überladenheit und dekora­ tiver Ornamentik. Befreites Wohnen in der Werkbundsied­ lung Neubühl, Zürich, 1928–1932. Werbe­ aufnahme für Wohnbedarf-Aluminium­ möbel von Marcel Breuer. In der Tür die Frau des Fotografen, Lita Finsler.

Gleiche Höhe für gleiche Menschen Als Wegbereiter in eine bessere Zukunft sollte die schlichte, funk­tio­ nale Ästhetik der neu entstehenden Wohnbauten auch Ausdruck sozialer Gleichheit sein. Bei allem ideologischen Hintergrund stand man aber auch vor einem sehr realen Problem: der Finan­zier­bar­ keit. Im Zuge des öffentlich geförderten Wohnungsbaus, der in den 1920er Jahren in Form kommunaler und gemeinnütziger Wohn­ baugesellschaften eine dominierende Stellung erreicht hatte, musste es vor allem darum gehen, die Baukosten zu senken. Dies ließ sich – von einer Steigerung der Produktivität mittels Standardisierung und Rationalisierung des Bauprozesses einmal abgesehen – allein mit Einsparungen an Material und Ausstattung der Wohnungen erreichen. Die logische Konsequenz solcher Restriktionen musste zwangsläufig zu einer Minimierung der Wohnraumfläche führen und schließlich zu einer Senkung der bis dahin üblichen Raumhöhe. Entsprechend ergab sich in der im Zuge der akuten Wohnungsnot vordringlich geführten Diskussion um die «Wohnung für das Existenzminimum» eine Verlagerung des vormaligen Interesses für die Raumhöhe auf die Raumfläche, denn wer wollte angesichts der winzigen Wohnflächen überhaupt noch über Fragen einer angemessenen Raumproportionierung sprechen. Obendrein – und das war wohl essenziell – hatte man zwischenzeitlich auf hygienischem Gebiete entdeckt, dass der Luftwechsel und nicht, wie bisher an­ge­ nommen, die Luftmenge der entscheidende Faktor für ein gesundes Raumklima war – womit sich die Raumhöhe definitiv als ver­nach­

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läßigbare Größe erwies. Walter Gropius definierte die «Frage ­nach dem Wohnungsminimum» als die «nach dem elementaren minimum an raum, luft, licht, wärme, die der mensch braucht, um bei der vollentwicklung seiner lebensfunktionen durch die behausung keine hemmungen zu erfahren [...]» und verkündete – unter Berufung auf Hygieniker –, «dass der mensch, beste belüftungs- und besonnungsmöglichkeiten vorausgesetzt, vom biologischen standpunkt aus nur eine geringe menge an wohnraum benötigt, zumal wenn die­ ser betriebstechnisch richtig organisiert wird [...].»2 Das Gebot an die Adresse der Architekten war klar: Vergrößert die Fenster, spart an Wohnraum! Damit nahm das kontinuierliche Aufreißen der Fassade, technisch durch die moderne Skelettbauwei­ se erst möglich geworden, seinen Lauf. In der Folge bildeten minimierte Raumhöhen von 2,4 Metern keine Ausnahme mehr, etwa in der Werkbundsiedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen. Der redu­ zierten Raumhöhe, im Neubühl waren ursprünglich sogar nur 2,3 Meter geplant, hielt man die Größe der totalen Fensterflächen entgegen, die mit durchschnittlich 38% der Bodenfläche die mitt­­­­ler­ weile gesetzlich verankerte Vorgabe von 10% bei Weitem übertraf. Entsprechend wurde nach Fertigstellung der Siedlung hervorge­ho­ ben, dass «alle Fenster bis unter die Decke geführt [sind], also günstige Belichtung der Raumtiefe, trotz Reduktion der lichten Raumhöhe auf 2,40 m».3 Bereits 1919 hatte man in vier Versuchsbau­ ten in Basel «zaghaft zum erstenmal die Minimalmasse der neuen Bauordnung angewendet – 2,30 m l[ichte] Höhe!»4 Die reduzierte Geschosshöhe war damals noch eine kleine Sensation, wie das ­Ausrufezeichen des Autors vermuten lässt. Derweil sollte sich in der­ selben Weise, wie sich der Wohnraum verkleinerte, dessen Bezug zum Außenraum vergrößern: Wo kein direkter Zugang zum Garten bestand, wurde dies mit großen Fensterscheiben kompensiert. In demselben Maße, wie die Architekten Anspruch darauf er­­­ hoben, die Wohnungsfrage wissenschaftlich zu lösen, mutierte die Lichthygiene zur verbindlichen Norm des Neuen Bauens. Die Lage von Wandöffnungen wurde nur mehr nach funktionalen Ge­ sichtspunkten auf den wohnenden Menschen ausgerichtet, um so ­eine ­vor­geblich optimale Helligkeit zu erzielen. In Wirklichkeit aber mündete das Lichtideal der Moderne in die Maxime je heller, desto besser.

Veränderung der Raumproportionen und der Fensterflächen 1800/1933: sinkende Raumhöhe, neue Fensterform, ansteigen­ der Fensterflächenanteil.

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Orientierung der Raumbereiche des ­Wohnens gegen die Himmelsrichtungen.

Grundriss und Typologie: dem Licht entgegen Auch wenn der Wohngrundriss im Laufe der Zeit immer wieder Ausgangspunkt für kleinere und größere Reformen gewesen ist – an den wesentlichen Prinzipien seiner Disposition hat sich seit den 1920er Jahren bis heute vergleichsweise wenig geändert. Noch immer stützt sich eine Vielzahl der auf dem freien Markt entstehenden Wohnungsgrundrisse auf tradierte Muster und Argumente, obwohl diese in der Zwischenzeit viel von ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren haben. Derweil zeigt das Gros der heute erfolgreich agie­ renden Entscheidungsträger wenig Bereitschaft, die Beaten tracks zu verlassen und einen von der Norm abweichenden Weg zu beschrei­ ten. Nach wie vor hält man sich an die Raumeinteilung des Neuen Bauens, die das Schlafen, Wohnen, Kochen und Essen in Einzelakti­ vitäten zerlegte und diesen jeweils einen speziellen Nutzraum ­beziehungsweise eine bestimmte Himmelsrichtung zuwies. So hatte Schlafen tunlichst nach Osten, Wohnen und Essen indessen nach Süden oder Westen zu erfolgen, während man sich bezüglich der Lage des Eingangs- und Erschließungsbereichs etwas flexibler zeig­ te und für die Positionierung des Wirtschaftsbereichs (Küche) auch eine Nordausrichtung in Kauf nahm. Diese bis heute gültige Maxime der Grundrissgestaltung war das Resultat einer heftigen Kritik an den bestehenden Arbeiterwoh­ nungen. Hatte die gründerzeitliche Geschossbauweise in der An­­ einanderreihung einzelner, einheitlich großer Raumeinheiten be­standen, begann sich nun im Zuge eines optimierten, nach taylori­s­­ tischen Gesichtspunkten organisierten Wohnablaufs eine funktionale Grundrissanordnung durchzusetzen. Dahinter stand die Einsicht, dass sich eine solche positiv auf die Physis der berufstätigen Hausfrau auswirken und allfällige Ermüdungserscheinungen mindern würde. Gleichzeitig richtete sich das Augenmerk der Wohnreformer auf eine ausreichende Versorgung der Räumlichkeiten mit Tageslicht. Kann bis zu diesem Zeitpunkt bereits eine gewisse Sensi­

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bilisierung für die Lichtthematik festgestellt werden, ergab sich zwischen 1920 und 1930 eine weitere Akzentverlagerung von Belich­ tungs- auf Besonnungsfragen. Tageslicht beziehungsweise die ­direkte Sonneneinstrahlung avancierte zum Maßregler für den Wohn­­ bau. Entsprechend sollten Grundriss, Orientierung, Gebäude­höhe und Abstände zur Nachbarbebauung sicherstellen, dass jede Wohnung auch im Winter ein Mindestmaß an direkter Besonnung erhielt. Während beim frei stehenden Einfamilienhaus durch die individuelle Gestaltung von Baukörper und Grundriss auf die spezifischen Anforderungen der Orientierung adäquat eingegangen werden konnte, gestaltete sich dies bei der Kombination von mehreren Wohn­­­ einheiten weitaus schwieriger. Die Herausforderung für den ­A rchitekten lag dabei in der Wahl eines geeigneten Erschließungssystems, das nicht nur hinsichtlich der Wohnungsbesonnung, ­sondern auch in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit zu bestehen hatte. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem übergeordneten Kontext der Siedlungsform reifte indessen die Erkenntnis, dass es dazu eines radikalen Wandels des bisherigen städtebaulichen Leitbilds zugunsten einer offenen Bebauungsweise bedurfte. Erste Impulse für neue Bebauungsweisen und eine allgemeine Verbesserung der Wohnbedingungen gingen bereits von der engli­ schen Gartenstadtbewegung aus, die seit der Jahrhundertwende auch auf dem Kontinent Fuß gefasst hatte. Zwar orientierte sich die Gartenstadtidee an kleinstädtischen und ländlichen Vorbildern und zielte – im Sinne einer genossenschaftlichen Organisation – auf die Schaffung sozial und ökonomisch autarker Lebensgemeinschaf­ ten ab. Ihr Modell der zonierten Trennung der verschiedenen Funktionsbereiche sowie die lockere Bebauung mit Reihenhauszeilen, Einzel- oder kleinen Mehrfamilienhäusern blieb allerdings nicht ohne Einfluss auf den späteren Siedlungsbau und die Möglich­ keiten innerstädtischer Auflockerung. Im Zuge der umfangreichen Wohnbauprogramme der öffentlichen Hand zu Beginn der 1920er Jahre erschien einer Vielzahl mo­ dern gesinnter Architekten ein offener, einheitlicher Siedlungsbau als Erlösung aus der gründerzeitlichen Blockbebauung mit ihren ge­ sundheitlichen und sozialen Mängeln. Man hatte eine Bauweise in Zeilen vor Augen, zu deren Durchsetzung das bisherige Straßenraster aufgegeben werden musste. Stattdessen erfolgte die Anlage und Erschließung der Wohnbauten nur mehr nach dem Gesichtspunkt der optimalen Besonnung. Durch den Siedlungsbau in Zeilen sollte nicht nur eine gesunde, sondern auch demokratische Wohnkultur geschaffen werden; demokratisch insofern, als jeder Bewohner unter gleich guten Bedingungen wohnen konnte. Darüber hinaus entsprach das Prinzip der seriellen Reihung eines optimierten Grundmusters auch den Anforderungen an die Wirtschaft­ lichkeit. In der Folge begann sich die Zeile in den Stadterweiterungs­ siedlungen des Neuen Bauens immer mehr durchzusetzen – ein Pro­ zess, der sich allerdings weit weniger linear und uniform vollzog, als dies heute den Anschein erwecken mag und der durchaus auch orts­typische Lösungsvarianten hervorgebracht hat. Mitte der 1920er Jahre begann unter den Architekten und ­T heoretikern eine intensive Auseinandersetzung über die richtige 58

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Ernst May, Zeilenbauschema, 1930. – Strickte Ausrichtung der Wohnbauten in Nord-Süd-Richtung.

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Gründerzeitliche Blockrandbebauung, ­Berlin, um 1900.

Orientierung von Gebäude und Raum im zeilenartigen Reihenhaus- und Geschosswohnbau. Insbesondere die sozialdemokratisch organisierten Großsiedlungen in Deutschland sowie zahlreiche städtebauliche Reformprojekte entstanden vor dem Hintergrund solcher Diskussionen. Schon bald gehörte es auch zum guten Ton, sein Wohnbauprojekt mit Besonnungs-, Belichtungs- und Ver­ schattungsdiagrammen zu begleiten, die richtige Raum- und Gebäu­ de­orientierung quasi wissenschaftlich zu belegen. Es erstaunt nicht, dass sehr bald die Meinungen in zwei grundlegende Positio­ nen kul­minierten: auf der einen Seite die «Südsonnler», die in erster Linie für die bestmögliche Besonnung der Wohnung im Winter ­plädierten, auf der anderen Seite die «Ost-West-Sonnler», die darauf abzielten, grundsätzlich keinen Gebäudeteil ohne direkte Be­ sonnung zu lassen. Das heißt, alle Räume – nach Otto Haesler sogar Treppenhäuser und Kellerabteile (!) – sollten mindestens einmal pro Tag direkte Sonnenbestrahlung haben, sei es auch noch so wenig. Beide Fraktionen untermauerten ihre Haltungen mit mehr oder min­der gewichtigen Argumenten und suchten nach immer weiteren, möglichst wissenschaftlichen Begründungen für das je­ weilige Prinzip. Gleichzeitig wurden vereinzelt Stimmen laut, die grundsätzli­che Kritik an der mechanischen Anwendung von Orientierungs- und Bebauungsprinzipien übten. Ihren Verfechtern wurde vorgeworfen, entwurfsrelevante Parameter wie die Lage des Baugrundstücks, Wind- und Wetterverhältnisse oder auch spezifische Anforderun­gen an das Programm und ästhetische Kriterien bei der Gestaltfindung gänzlich außer Acht zu lassen. Der Kritiker Adolf Behne etwa ­stellte nicht nur die stadträumlichen Qualitäten einer rigiden Zeilen­ bauweise in Frage, sondern monierte auch einen Entwurfsprozess, bei dem die Wohnung zum bestimmenden Ausgangspunkt gemacht wurde: «Der Zeilenbau will möglichst alles von der Wohnung her lösen und heilen [...]. Der Mensch hat zu wohnen und durch das Wohnen gesund zu werden, und die genaue Wohndiät wird ihm bis ins einzelne vorgeschrieben. Er hat, wenigstens bei den konsequentesten Architekten, gegen Osten zu Bett zu gehen, gegen ­Westen zu essen und Mutterns Brief zu beantworten, und die Wohnung wird so organisiert, dass er es faktisch gar nicht anders ­machen kann.»5 59

Walter Schwagenscheidt, Diagramm «An­ ordnung der Räume nach der Sonnen­ bahn», 1930. – Obwohl dieses viel beach­ tete Diagramm eine Ost-West-Orientierung der Wohnung nahelegt, wandte sich Schwagenscheidt stets gegen eine allzu ­rigide Anwendung eines bestimmten Sche­ mas bei der Orientierungsfrage.

In den 1950er Jahren konnte sich schließlich die offene Zeilen­bau­ weise im mehrgeschossigen Wohnungsbau als gängiges Modell durchsetzen, das insbesondere in Neubauquartieren und kriegs­zer­ störten Stadtvierteln zur Anwendung kam. Nach wie vor galten die vom Neuen Bauen ausgearbeiteten Muster und Vorgaben als Richtschnur; derart verbissen und intensiv wie vor dem Krieg wurde die Orientierungsfrage aber keineswegs mehr diskutiert. Abgesehen von einer wachsenden Skepsis gegenüber doktrinären Konzepten lag dies vor allem daran, dass die Berücksichtigung der Orientierungsfrage im Planungsprozess längst auf breiter Ebene akzeptiert wurde. Sie gehörte nun genauso selbstverständlich zum Standard wie etwa die Ausstattung von Wohnbauten mit Einbauküchen, Parkgaragen oder Liftanlagen. Gleichzeitig hatte sich der Aspekt der Besonnung und Orientierung von seiner «Bindung an das Prinzip der Gleichheit und Kollektivität des neuen Bauens»6 gelöst. In der Folge kam es zu einer zunehmenden Differenzierung und Individualisierung der Bauten, sowohl in Bezug auf Grundriss und Baukörper als auch im Hinblick auf die Bebauungsstruktur. Insgesamt reflektiert die Vielfalt der ab den 1950er und 1960er Jahren ausgearbeiteten Lösungen eine kritische Verarbeitung der Vorkriegs­ tendenzen; sei es im Bemühen um eine weiterführende Ent­wick­ lung oder auch im Entwurf dezidierter Gegenmodelle. Nebst einem freieren Umgang mit der Zeilenbauweise setzte die Einführung neuer Wohnbautypen willkommene Akzente und führte zu einer Gliederung und Auflockerung der Stadt. Ab Ende der 1950er Jahren gewann das punkt- oder scheibenförmige Wohnhochhaus im städtischen Kontext rasch an Bedeutung, während in Stadtrand- und Agglomerationsgebieten dagegen vermehrt Terras­ senhäuser zum Einsatz kamen. Städtebau wurde immer mehr zu ­einer «Collage aus den gängigen Typologien des Wohnbaus, die in den jeweils benötigten Portionen und fein säuberlich nach Sorten getrennt zu immer neuen und doch sich meist sehr ähnlichen Quartieren zusammengefügt werden, durch die ‹das Grün hindurch60

fließt›».7 Oft endete allerdings die strikte Trennung von Wohn-, Arbeits-, Erholungs- und Verkehrsbereichen – im Sinne der Charta von Athen – in Verbindung mit einem rigoros durchgesetzten Bauwirtschaftsfunktionalismus auch in öden Schlafstädten und ­ei­nem erhöhten Verkehrsaufkommen, das der breitflächigen Zer­sie­ delung Vorschub leistete.

A.H. Steiner, Wohnkolonie Heiligfeld III und Wohnhochhäuser am Letzigraben, ­Zürich, 1950–1956. Situation, Ansicht. – Die von Alfred Roth als «großzügigste neuere Quartierbebauung in der Schweiz» gewürdigte Anlage zeichnet sich durch ­eine generelle Auflockerung der Siedlungs­ strukturen, eine sorgfältige Orientierung der Wohnbauten und die Differenzierung der Gebäudehöhen aus.

Verdichtung und Belichtung: Zeilen, Blöcke, Türme Seit den 1950er Jahren war immer häufiger auch die Rede von verdichteten Wohnformen. Damit sollte ein möglichst wirtschaftli­ches sowie ressourcenschonendes Bauen erreicht und in sozialer Hinsicht der gemeinschaftsbildende Faktor gefördert werden. Experi­ mentiert wurde sowohl im Geschosswohnbau als auch mit der ­Fügung von Einfamilienhäusern zu größeren Gesamtanlagen. Die hoch verdichtete Flachbauweise ist in zwei unterschiedlichen ­Siedlungsformen zu unterscheiden. Neu waren Wohnanlagen aus eingeschossigen Gartenhofhäusern, die oftmals auf einer recht­ eckigen oder winkelförmigen Grundrissform basierten und deren Anordnung im Versatz oder in der Reihung zur Bildung von Innen­ höfen führte. Dies kam nicht nur dem Wunsch nach einem wohnungsbezogenen Außenraum entgegen, sondern sorgte gleichzeitig für eine ausreichende Besonnung der zum Hof gewandten Räume. Daneben wurde die niedrige Zeilenbauweise wiederentdeckt und weiterentwickelt, wobei die besonnungstechnisch optimierte Anlage von zwei- oder mehrgeschossigen Reiheneinfamilienhäusern im Zentrum der Bemühungen stand. Während die Bestrebungen, kostengünstigen und Platz sparenden Wohnraum für Arbeiterfamilien zu erstellen, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vornehmlich zu einer rigiden Zeilenbebauung geführt hatten, versuchte man nun, diese freier zu gestalten. In den 1950er Jahren entstanden zahlreiche Projekte, die mit Ausstülpungen und Vorsprüngen im Grundriss arbeiteten oder das Abdrehen, Staffeln und Versetzen der Baukörper vorsahen – immer mit dem Fokus, eine möglichst ­g ünstigste Belichtungssituation für alle Räume zu schaffen. Darüber hinaus wurden Aspekte wie Raumüberhöhungen oder Niveau­

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differenzierungen thematisiert, die bislang eine eher unterge­ ordnete Rolle gespielt hatten. Vermehrt gab es Architekten, die mit über­raschenden Lösungen aufwarteten. Gerade bei Wohnungen mit mehreren Ebenen wie etwa im Reihenhaus ergaben sich durch das Einbeziehen der Dachfläche zu Belichtungszwecken zahlreiche Möglichkeiten, den Lichteinfall und das Raumerlebnis beträchtlich zu steigern. So konnte der Versatz von Dachschrägen oder die Kombination von Oberlichtern mit doppelgeschossigen Wohnräumen zu einer deutlich verbesserten Tiefenbelichtung führen und gleichzeitig auch für eine Aktivierung von sonst unattraktiven Grundrissbereichen sorgen.

Atelier 5, Siedlung Halen, Herrenschwanden bei Bern, 1955–1961. Jørn Utzon, Wohnsiedlung Kingohusene, Helsingør, Fredensborg, 1958–1960. ­Situation. Ulrich Löw, Theodor Manz, Atriumsiedlung In den Gartenhöfen, Reinach, Kt. BaselLandschaft, 1959–1960. Grundriss eines Atriumhauses, Atrium mit Blick gegen den Wohnraum.

Weiter gefasst, umschloss der Begriff der verdichteten Wohnform aber auch jene Mehrfamilienhäuser, bei denen sich von der einfachen Geschosswohnung bis hin zu komplexen Raumgefügen auf mehreren Ebenen eine Vielzahl standardisierter Wohneinheiten ­neben- und übereinanderreihten. Allerdings überwog auch im hohen Geschossbau noch lange Zeit die aus Vorkriegszeiten bekannte lineare und ungegliederte Gebäudeform, die sich aus der Stapelung identischer Geschosse ergab. Dabei kamen vorwiegend konven­ tionelle Spännererschließungen zur Anwendung, bei denen eine begrenzte Wohnungszahl über ein gemeinsames Treppenpodest ­erschlossen wird. Während ein Zweispänner die Orientierung der Wohnungen nach mindestens zwei Himmelsrichtungen erlaubt, muss dagegen bei einem Drei- oder Mehrspänner für mindestens eine Wohnung eine nur einseitige Orientierung in Kauf genommen werden. Bei der Erstellung einer größeren Anzahl an Wohneinheiten mit tieferen (und gleichzeitig schmaleren) Grundrissen wurde deshalb eher auf eine Außen- beziehungsweise Laubengangerschlie­ ßung zurückgegriffen, da sie für alle Wohnungen eine zweiseitige Belichtung ermöglicht, allerdings auf Kosten der Privatsphäre. Eines der bekanntesten Beispiele für den Anspruch an ein gemein­ schaftliches Wohnen im Geschosswohnbau ist Le Corbusiers Unité d’habitation in Marseille (1945–1952). Eingebunden in ein umfassendes Konzept von Wohnen und Sozialeinrichtungen, wurden hier Maisonette-Wohnungen unterschiedlicher Größe gebaut. 62

Dank einer Innengangerschließung auf jedem dritten Geschoss ­entstand dies, was heute ein «Durchwohngrundriss» genannt wird; eine Wohnung, die sich zumindest auf einer Etage quer zur Ge­ bäudeachse nach beiden Gebäudeseiten orientiert.

Arne Jacobsen, Kettenhausanlage Søholm I, Klampenborg, 1946–1950. Grundriss Ober- und Untergeschoss, Schnitt, Blick vom Wohnzimmerbalkon auf den Ess­ platz. – Ensemble mit fünf schmalen, ver­ setzt angeordneten, zweigeschossigen Häusern. Vertikale Raumdifferenzierung durch den bis zum aufsteigenden Pultdach reichenden, gegen den Gartensitzplatz verglasten Essplatz, vom dem eine Treppe zum großen Wohnraum im Obergeschoss führt. Durch die versetzte Anlage des ­Pultdachs werden Essplatz und Wohnraum über ein hoch liegendes Fensterband ­zusätzlich belichtet.

Als Alternative zur horizontalen Reihung von Wohneinheiten bot sich schon bald die Vertikale an. Bereits 1930 war Walter Gropius an­ lässlich des 3. CIAM-Kongresses in Brüssel der Frage nach den Vor- und Nachteilen von Flach-, Mittel- oder Hochbauweise nachgegangen. Dabei erörterte er jeweils deren Eignung im Hinblick auf Wirtschaftlichkeit, städtebauliche Aspekte sowie den Freiflächen­ anteil und Besonnungs- beziehungsweise Verschattungsgrad. ­Gropius kam zum Schluss, dass das Wohnhochhaus gegenüber den anderen Bebauungstypologien am günstigsten abschneidet, da es «viel luftiger, sonniger und distanzierter» sei und ein «höchstmass von Grünflächen» sichert, in dem «vor allem die kinder ihren trieb zum spielen und lärmen unbehindert ausleben» können. Auch «ist es günstiger in bezug auf die kostenverteilung, hygienischer und hauswirtschaftlicher zentralanlagen.» Den einzelnen Landesgruppen der CIAM empfahl er sodann, «in den ländern dafür [zu] kämpfen, dass der bau von wohnhochhäusern in gang kommt». 8 Während die von ihm selbst zu jener Zeit entworfenen Projekte für Bebauungen mit Wohnhochhäusern nie realisiert wurden, trug sein Appell Früchte: 1932–1934 wurde in Rotterdam der Wohnblock De Bergpolder (Brinkman & van der Vlugt, Willem van Tijen) ­gebaut – quasi als Prototyp des Wohnhochhauses. 63

Walter Gropius, Projekt für ein Scheiben­ wohnhaus, 1931.

Tatsächlich aber gewann das Wohnhochhaus erst ab Mitte der 1950er Jahre an Bedeutung, und zwar in punkt- oder scheibenför­ miger Ausführung. Seine Vorteile, städtebauliche Transparenz bei gleichzeitig hoher Wohndichte zu erzielen, passten gut ins Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt. Bei punktförmigen Hochhäusern wurde zumeist versucht, eine möglichst große Anzahl kleinerer Wohnungen rund um einen zentralen oder nordseitig gelegenen Erschließungskern anzuordnen. Allerdings musste ab ­einer bestimmten Geschosszahl die Erschließungsfläche aufgrund von Sicherheitsbestimmungen nahezu verdoppelt werden; Aufwendungen, die sich nur bei einer größeren Anzahl Wohnungen rech­ne­ ten. Bei allzu großen Gebäudetiefen aber verschlechterten sich wiederum die Belichtungsverhältnisse der nur einseitig orientierten Wohnungen. Allein die Wohnungen in den privilegierten Ecklagen profitierten immer von einer zweiseitigen Belichtung.

Carl Auböck, Carl Rössler, Adolf Hoch, Wohnblöcke, Vorgartenstraße, Wien­Leopoldstadt, 1959–1962. Axonometrie. – Gleiche Bedingungen für alle: Orientierung der Wirtschafts- und Nebenräume gegen Norden, Ausrichtung der Wohn- und ­Aufenthaltsräume gegen Süden. Bei allen Wohnungen öffnen sich die Wohnräume mit vergrößerter Verglasung gegen Süden und sind durch loggienartige Balkone ins Freie erweitert. Letztere sind zudem als natürlicher Sonnenschutz gedacht, indem sie die im Sommer steil einfallende Mit­ tagssonne abhalten. Gleichzeitig gewähren sie bei flacherer Sonnenbahn im Winter dem Sonnenlicht direkten Einlass.

Harry Seidler, Victoria Tower Apartments, Potts Point, Sydney, 1962. Ansicht, Grund­ riss Wohngeschoss. – Achtgeschossiges Apartmenthaus mit je vier Wohneinheiten pro Geschoss. Jedes Apartment ist zwei­ seitig belichtet und mit einem großen Aus­ sichtsfenster entweder gegen Westen auf den Hafen oder gegen Osten auf einen Park orientiert.

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Dem latenten Konflikt zwischen Ökonomie, Wohnform und Hochhausgestalt suchte man unter anderem mit der Ausbildung von Hochhäusern in Scheibenform mit lang gestrecktem Grundriss und einem gangartigen Erschließungssystem beizukommen. Bei die­ sem Gebäudetyp – dessen prominentester Vertreter, die Unité d’habitation von Le Corbusier mit ihren ineinander verkeilten, zwei­ seitig orientierten Maisonette-Wohnungen, bereits erwähnt wurde – kam noch einmal das Prinzip einer demokratischen Lichtverteilung zum Zug. Unabhängig davon, ob die Wohnungen über einen innen oder außen liegenden Gang erschlossen wurden, die Orientierung war bei allen gleich. Dabei wurde bei größeren Wohnungen meist zu­ gunsten einer West-Ost-Orientierung entschieden, bei kleineren dagegen für eine Südorientierung. Mit der Zeit prägten großformatige, in ihrer Volumetrie wenig differenzierte Wohnblocks die Peripherien der Städte. Wirtschaftliche und baukonstruktive Überlegungen rechtfertigten solche Wohnbauten als pragmatisches Mittel, um die nach wie vor steigende Wohnungsnachfrage der Boomjahre abzudecken. Gleichzeitig mehrten sich aber auch Ansätze, die geschlossenen, oft monoton wir­ kenden Baukörper in ihrer Kompaktheit aufzubrechen und ihnen mehr Plastizität zu verleihen. Die Versuche liefen dabei in unterschiedliche Richtungen. Eine Sonderstellung nahmen die Terrassen­ häuser ein, bei denen sich durch eine geschossweise Rückstaffelung günstigere Besonnungsverhältnisse für die einzelnen Wohnungen ergaben als bei vertikal geschichteten Geschossbauten. Daneben kam es vor allem bei den punktförmig erschlossenen Wohnbaublöcken zu einer Auflösung der linearen Grundrissdisposition. Durch die meist expressiven, in den Außenraum greifenden Formen entstanden Wohnungen, die über neue räumliche Charakteristiken und Qualitäten gerade auch in Bezug auf die Versorgung mit Tageslicht

Fritz Stucky, Rudolf Meuli, Terrassen­ häuser, Zug, 1957–1960.

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verfügten. Bekannte Beispiele sind die Wohnhochhäuser Romeo & Julia in Stuttgart-Zuffenhausen (1959, Hans Scharoun) oder Alvar Aaltos fächerartiges Wohnhochhaus Neue Vahr in Bremen (1958– 1962). Besonders konsequent demonstrierte Otto H. Senn das ­Abweichen vom Rechteck und die Qualitäten eines polygonalen Grundrisslayouts: im Wohnhaus an der Interbau 57 in Berlin (1957) und später beim Hochhaus Hechtliacker in Basel (1962–1965, mit Walter Senn). Bei beiden Wohnbauten bilden jeweils der Wohn-/ Essbereich zusammen mit dem Balkon eine von zwei Seiten belichte­ te Gebäudeecke. Trotz einer teilweise nicht optimalen Orientie­ run­g einzelner Räume sowie der Lage der Nasszellen im Innern der Wohnung zeigt sich ein wesentlicher Vorteil solcher Lösungen: Alle Wohnungen sind mindestens nach zwei Himmelsrichtungen orientiert.

Modulation von Grundriss und Baukörper: Alvar Aalto, Wohnhochhaus Neue Vahr, Bremen, 1958–1962. Otto H. Senn, Wohnhaus, Interbau 57, Berlin-Hansaviertel, 1957. A.H. Steiner, Wohnhochhäuser am Letzi­ graben, Zürich, 1950–1956.

BKK-2, Wohnanlage Sargfabrik, Wien­Penzing, 1993–1996. Hofbereich.

Im Zuge der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Ausrichtungsfrage und unter dem Leitbild der aufgelockerten Stadt war allerdings der Ort selbst beziehungsweise der städtebauliche Kontext zu einer vernachlässigten Größe geworden. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erkannte man nun zusehends die stadträumlichen Defizite, die sich aus der Neutralität eines alles verbindenden, öffentlichen Grünraums ergeben hatten – nämlich der Verlust einer Differenzierung zwischen öffentlichen Begegnungsstätten und halbprivaten Rückzugsräumen. Das Ende der Hochhauseuphorie in den 1970er Jahren ging einher mit einer neuen Hinwendung zum Außenraum als sozialem Raum und damit mit dem Bemühen, Gebäudeformen zu entwickeln, die solche Raumbezüge unterstützen. Anstelle der Fokussierung auf solitäre Baukörper wie Scheibenoder Punkthäuser und deren Besonnungsqualitäten für die einzelnen Wohnungen wurden Letztere wiederum mehr in funktionale Abhängigkeit zu den stadträumlichen Bedingungen gestellt. Mit der Rückkehr zu einem raumbildenden Städtebau erfuhr auch die innerstädtische Blockbauweise eine Renaissance. Nach Jahren der Parität aller Gebäudeseiten kehrte man bei deren Grund­riss­ anlage zu einer Differenzierung von Vorder- und Rückseite zurück, wobei jetzt – anders als in der Gründerzeit – nicht mehr die Straße den bestimmenden Bezugsraum abgab, sondern vielmehr die ruhige­ re Seite zum Innenhof. Auf die Frage der Raumorientierung war die neue Suche nach Urbanität insofern von Einfluss, als nun die ein­ zelnen Funktionen des Wohnens nicht mehr aus­schließlich nach der optimalen Besonnung geordnet wurden, sondern auch nach Kriterien wie etwa der Beziehung zu den öffentlichen oder privaten Außenräumen. Was sich damit abzuzeichnen begann, nämlich die Einsicht, dass die Orientierungsfrage ein integrativer Bestandteil eines übergeordneten, komplexen Anforderungsprofils ist, hat über die Jahre eine Vielzahl interessanter Projekte her­vorgebracht, welche die Frage der unterschiedlichen Orientierungsbedingungen und Außenraumzuordnungen ideenreich zu beantworten wissen. Im gesunden Licht: Balkone, Loggien, Terrassen Für potenzielle Hauskäufer zählt der Garten nach wie vor zu den wichtigsten Faktoren, und ebenso nimmt bei Umfragen zu Wohnwünschen im Geschosswohnbau der private Außenraum stets einen der obersten Ränge ein. Offensichtlich scheint der Mensch getrieben von ewigen Gärtnerlüsten und Freiluftwohnen. Welche Lösun­

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Freiluftwohnen in der Werkbundsiedlung Neubühl, Zürich, 1928–1932. – «Wir brau­ chen heute ein Haus, das sich in seiner Struktur im Gleichklang mit einem durch Sport, Gymnastik, sinngemäße Lebens­wei­ se befreiten Körpergefühl befindet: leicht, lichtdurchlassend, beweglich» (Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, 1929).

gen aber kann der Geschosswohnbau anbieten, um jene Freiräume zu ersetzen, die eben die Qualität eines frei stehenden Einfamilienhauses ausmachen? Wo kann sich der urbane Pflanzenfreund ausrei­ chend Erdfläche anlegen, um Blumen, Büsche oder gar Bäume wuchern zu lassen? Das Stichwort heißt hier Hochgarten. Seit es Städte gibt und mit ihnen emporwachsende Stadthäuser, ist auch die Vegetation mit ihnen in die Höhe gestiegen; vom spärlichen Hinterhofgarten in Trögen und Wannen bis auf Dächer und Vorkragun­ gen jeglicher Art. Zu Zeiten des Neuen Bauens noch eine technische und ökonomische Herausforderung, ist die Bewohnbarkeit des Flachdachs als Terrasse heute dank entsprechender Baumaterialien und Dichtungstechniken längst zum Standard geworden – und hat damit eine vielversprechende Alternative geschaffen zum jahrelang applizierten Blumenfenster als dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Hausgärtnerei. Die maßgebliche Einleitung zu einer Ausdehnung des Wohnraums kam einmal mehr von den Protagonisten des Neuen Bauens: Tages- und Sonnenlicht sollte nicht nur durch großzügig dimen­ sionierte Glasscheiben in die Wohnräume einströmen können, sondern dank eines unmittelbar angrenzenden Außenraums auch direkt auf den Körper einwirken. Solche Inseln der Rekreation – beim Einzelwohnhaus vor allem der eigene Garten oder die Terrasse, im Geschosswohnbau hingegen Balkone, Loggien und später auch Wintergärten – gewannen im Laufe der Zeit zunehmend an Be­ deutung, um dem modernen Zeitgenossen den geeigneten Platz für ausgedehnte Luft- und Sonnenlichtbäder oder Freiluftturnen zu bieten. Begriffe wie Naturnähe, Gesundheit, Schönheit und Jugend tauchten in den einschlägigen Publikationen und Manifesten auf, begleitet von Fotografien und Skizzen, die zum unverkrampften und freien Leben auf den Balkonen und Terrassen einluden. Seit Ende der 1920er Jahre entstanden Baukörperkompositionen aus aneinandergeschobenen Kuben, deren stilverpflichtende Flachdächer unverhohlen zum Freiluftwohnen aufforderten. Und auch progressive Hauskonzepte im Geschosswohnbau sorgten mit der An­­ bringung von Balkonen oder Loggien binnen Kurzem für eine ­entsprechende architektonische Geste im Kleinen. Einst ausschließlich dem Auftritt der Noblen vorbehalten und dem bürgerlichen Drang zur Selbstdarstellung verpflichtet, erfuhr der Balkon mit

Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Projekt für Immeubles-villas (Appartement-Wohn­ blöcke), 1922–1925. – Prototyp für jene Ver­ suche, das zweigeschossige Reihenhaus samt Garten in die Vertikale zu stapeln.

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Herman Hus, «Mali neboticˇnik» [Kleiner Wolkenkratzer], Ljubljana, 1931. – Effekt­ volle Betonung der Gebäudeecke durch abgerundete Balkone.

der Generation der Wohnreformer eine radikale Umwertung: Er mutierte vom Standplatz des elitären Voyeurs zu einem Instrument der Licht-, Luft- und Sonnenhygiene für jedermann. Damit war der Balkon das erste Attribut des bürgerlichen Wohnens, das der Ar­ beiterwohnung addiert wurde, «die erste Grenzüberschreitung aus dem minimierten Interieur, das erste periphere Element der Etagenwohnung» (Gerhard Auer). Allerdings war das Anforderungsprofil von Anfang an überfrachtet: Alles, was bisher im privaten Wohnhaus bis an Nachbars Gartenzaun ohne Einschränkung ausge­ lebt werden konnte, sollte – auf wenige Quadratmeter reduziert – auch der Balkon ermöglichen. Er musste Gemüse- und Blumengarten, Sonnenterrasse, Gartenlaube und Kinderspielplatz sein und, frei von Einblicksmöglichkeiten, dennoch eine ausreichende Sicht auf die Umgebung gewähren. Unter der strengen ästhetischen Kontrol69

Balkon, 1950er Jahre. – Derartige Minimal­ lösungen eignen sich allenfalls als zu­ sätzliche Abstellfläche für Bierkisten oder ­Abfalleimer. Balkonidylle in den 1950er Jahren.

le des Architektenauges wurde ein Mindestmaß an Freiraumersatz definiert. Dabei tat die in der Neufert’schen Bauentwurfslehre vorgeschlagene Minimalnormierung schon bald ihr Übriges, um für Jahre überzeugende Balkonlösungen im Geschosswohnbau mehrheitlich zu verhindern. Meist boten entsprechende Lösungen nicht einmal ausreichend Platz für einen Liegestuhl, und zu Zeiten des Baubooms ab den 1960er Jahren wurden unterdimensionierte Band­ muster-Balkone zum Markenzeichen für einen gedanken- und ­gesichtslosen Stapelwohnbau. In der Folge reduzierte sich der Balkon – seines eigentlichen Sinnes beraubt – vielerorts nur mehr auf eine (allerdings durchaus willkommene) Abstellfläche für Fahrräder, Bierkisten oder Abfalleimer. Noch heute gibt es ausreichend Exem­ plare, die vom überstrapazierten Begriff des Balkons zeugen. Eine bessere Karriere als die Balkonplattform machte von Anbe­ ginn an dessen eingehöhlte Schwester, die Loggia. Als baulich eingefasster Freiraum, dem lediglich die Verglasung fehlt, ist sie ihrem Wesen nach dem Innenraum ähnlicher als dem Außenraum. Die ­innere Fensterfront beschirmend und gleichzeitig einen umfassen­den Ausblick gewährend, schafft sie einen intermediären Raum, der zwischen den beiden Welten vermittelt. Gegenwärtig ist die Loggia insbesondere bei Apartments und Maisonette-Wohnungen weit verbreitetet und erstreckt sich bisweilen über die ganze Außen­fassa­ de. Mit ihren applizierten Licht-, Sicht- und Witterungs­technolo­gien, wie etwa den Schiebeläden, hat sie wesentlich zur Metamorphose der Fassade beigetragen und bestimmt derzeit das äußere Erscheinungsbild im Geschosswohnbau. Aufgrund der belichtungstechnischen Mängel, die bei allzu tiefen Balkonen oder Loggien in den darunter liegenden Wohnungen auftraten, wurde bei einigen Projekten auf wohnungsnahe Außenräume zugunsten einer gemeinschaftlich genutzten Dachterrasse verzichtet. Erst vergleichsweise spät und nicht zuletzt auch als Ergebnis der Kritik an den «unmenschlichen» Hochhausbauten wurden die Möglichkeiten des terrassierten Wohnhauses ausgelotet. Dieser Typ, der den Bewohnern nicht nur einen privaten Außenraum, sondern auch den direkten Kontakt zu Sonne, Regen und Wind erlaubt, war bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gedanklich vorbereitet und in einigen Exemplaren realisiert worden. Um 1900 70

Vladimír Fischer, «Švédský du˚m» [Schwe­­ disches Haus], Mietshaus für Fritz Schmeer, Brno/Brünn, 1909–1910. Fassade mit vor­ gesetzten Loggien. Max Schönenberg & Partner, Wohnbau Am Eschenpark, Zürich-Neu-Oerlikon, 2003–2004. – Trendiges Stadtwohnen hin­ ter einer Loggiafassade mit Schiebeläden.

hatten die Pioniere des Stahlbetonbaus wie Hennebique, Perret und Sauvage entsprechende Projekte ausgearbeitet, die Terrassen als vollwertigen Außenraum vorsahen. Bald darauf wurde das Terrassenhaus als zukunftsträchtiges Modell gehandelt, das die Idee der Gartenstadt in die Vertikale zu übertragen vermochte. Entsprechend zahlreich sind die vorgeschlagenen Projekte aus reformwilligen ­A rchitektenkreisen: Bereits 1900–1905 entwarf Tony Garnier mit seiner Cité industrielle eine Vision für eine Stadt aus terrassierten Häusern. 1914 folgte der italienische Futurist Antonio Sant’Elia mit seinem Projekt für eine Città nouva. Eng verwandt damit sind auch die Konzepte von Henri Sauvage für seine Immeubles à gradins, die er bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu entwickeln begann und von denen zwei in Paris realisiert werden konnten. Ebenso widmete Adolf Loos seine Aufmerksamkeit den Möglichkeiten des Ter­ 71

Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Immeuble Clarté, Genf, 1930–1932. Blick von der Dachterrasse auf Genf und den Genfer See. – Die Dachterrasse der Moderne als Ort der Körperertüchtigung und der Son­ nenanbetung. Le Corbusier, Unité d’habitation, Marseille, 1945–1952. Dachterrasse. Henri Sauvage, Terrassiertes Wohngebäude (Immeuble à gradins), Rue des Amiraux, Paris 18 e, 1922–1926.

rassenhauses. Bereits 1912–1913 ordnete er im Haus Scheu in WienHietzing jedem der beiden Obergeschosse eine Terrasse zu und gelangte derart zu der für Terrassenhäuser typischen abgetreppten Form des Baukörpers. Mit ihrem Faible für das Flachdach entwickelten auch die Protagonisten des Neuen Bauens entsprechende Dachphantasien und Terrassengestaltungen – etwa J.J.P. Oud, ­Hugo Häring, Richard Döcker oder Le Corbusier mit seinem Projekt für die Wohnanlage Durand in Algier (1933–1934). Zum favorisierten Wohntyp wurde das Terrassenhaus schließlich bei den Wohn-Utopisten der 1950er und 60er Jahre, die in ihren Projekten mit Trichter-, Container- und Kegelformen stets vom ­Terrassentyp ausgingen. Als Meilensteine terrassierten Wohnens dür­ fen schließlich zwei Pionierprojekte gelten: die Siedlung Halen 72

Atelier 5, Siedlung Halen, Herrenschwanden bei Bern, 1955–1961. Wohneinheiten mit Dachterrasse. Walter Jonas, Projekt für eine Raumstadt mit Intrahäusern, 1958–1960.

bei Bern (Atelier 5, 1959–1961) und die Habitat flats von Moshe ­Safdie an der Weltausstellung in Montreal 1967. Beide, heute von Grün förmlich überwuchert, wurden zum Ausgangspunkt für zahlreiche Terrassenhauslösungen, insbesondere auch in der Schweiz, wo Raumknappheit und Topografie die idealen Voraussetzungen für terrassierte Wohnbauten bilden. Trotz der bekannten Schwach­ stellen (Integrationsschwäche im städtischen Gefüge, Monotonie der Schichtung, schwierige Belichtung der tiefen Grundrisse, problematische Rück-/Innenseite, energietechnisch problematische Oberflächengröße) sollte die Bauform des Terrassenhauses, gerade weil sie konkurrenzlos viel Außenraum anzubieten hat, variantenreich umzusetzen ist und auch in städtischen Agglomerationsgebieten ­eine tatsächliche Alternative zur planlosen Einfamilienhauszersiede­ lung bietet, wiederum vermehrt beachtet werden. Differenziert weiterbauen Zeile oder Block? In den 1920er Jahren war das eine ideologische Frage. Heute dagegen wird die Auseinandersetzung mit dem städti­ schen Raum durch die gestalterischen Aspekte der Raum­bildung ­geprägt. Auf die Frage der Raumorientierung ist dies ­insofern von Einfluss, als nun die einzelnen Funktionen der Wohnung nicht mehr ausschließlich nach der optimalen Besonnung ­geordnet werden. Sowieso geht man heute bei der Gestaltung von Wohngrundrissen von ganz anderen Prämissen aus. Eine funktiona­le Unterscheidung der einzelnen Räume mag zu Zeiten der Moderne aufgrund der ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbe­dingungen gerecht­ fertigt gewesen sein. Heute, da der Lebensstandard allgemein ­gestiegen ist und eine Pluralisierung der Lebensstile stattgefunden hat, wird stattdessen immer mehr Nutzungsneu­tralität eingefordert, um den sich ständig ändernden Wohnbedürfnissen gerecht zu werden. Zusammen mit einem der maßgeblichen Kri­terien für Wohnqualität, der Hinwendung der Wohnung zum priva­ten Außen­ raum, führt dies zur Ausarbeitung von Grundrisslayouts und räumlichen Lösungen, welche die Orientierungs- und Belichtungsfrage flexibel auslegen. Ein anderer Punkt in diesem Zusammenhang ist das Streben nach einem vermeintlich optimalen, hellen Lichtwert. Noch immer gehen viele Planer davon aus, dass die Raumbelichtung möglichst homogen ausfallen sollte. Indessen ist die Veränderung die Wirklich­ keit der Lichtnatur; längst ist bekannt, dass jede Lichtstabilität ­unnatürlich ist und allein der Wechsel uns belebt. Anstelle norm­

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In der Stadt weiterbauen: BKK-2, Wohnanlage Sargfabrik, Wien­Penzing, 1993–1996. Hofbereich mit Kamin der ehemaligen Sargfabrik, Grundriss. – Mehrflügelige und sehr dichte Bebauung, die unterschiedlich definierte Freiräume und Gemeinschaftseinrichtungen umfasst, die auch vom umliegenden Quartier ge­ nutzt werden können. Orientierung der über Laubengänge erschlossenen und von den Bewohnern individuell gestalteten Maisonetten in Nord-Süd-Richtung und Anbindung an einen privaten Außenraum (Balkon, Terrasse).

Häuserzeile Scheepstimmermanstraat, Amsterdam-Borneo Sporenburg, Borneo eiland, 1999–2001. Axonometrie des Hau­ ses Nr. 18 von MVRDV, Ansicht. – ­Neues Wohnen in ­einer ehemaligen Hafen­anlage: Trotz indivi­dueller Gestaltung der einzelnen Häuser mit komplexen Außenraumbe­ zügen wird die Einheit der Reihe gewahrt.

Burkhalter + Sumi Architekten, Mehr­ familienvilla, Zürich-Witikon, 1998–2002.

gerechter Helligkeit sollte deshalb gerade die Vielseitigkeit und Veränderlichkeit des Lichts als eine besondere Qualität in jeden Ent­ wurf mit einfließen. Dies macht allerdings eine frühzeitige und gründliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Belichtungsverhältnissen, wie dem wechselnden Sonnenstand und Schattenverlauf, erforderlich. Was das Sonnenlicht anbelangt, steht heute vor allem dessen psy­ chische Wirkungsweise im Vordergrund. Der physische Ursprung der Raumbesonnung hat dagegen im Zuge optimierter wohnungshygienischer Standards längst an Bedeutung verloren. Andererseits erscheint mit der Ökologie, die – ähnlich wie die Hygiene zur Zeit der Moderne – heute als Trägerdisziplin fungiert, die Frage nach der richtigen Orientierung von Bauten wieder in einem neuen Licht, nicht zuletzt wegen eines steigenden Wohnflächenverbrauchs und Energiekonsums. Im Gegensatz zu früher geht es weniger um die Quantität denn um den richtigen Zeitpunkt der Sonneneinstrahlung. Allerdings ist es heute ebenso falsch wie schon um 1930, aus der Optimierung eines einzelnen Aspekts heraus die strikte Einhaltung einer bestimmten Gebäudeorientierung einfordern zu wollen. So ist es nach neueren Erkenntnissen offenkundig, dass die vollständige Ausrichtung und Öffnung eines Gebäudes nach Süden nur dann energetisch effektiv ist, wenn sich dessen Standort mindestens 700 Meter über Meer befindet. Genauso wenig lässt sich auch in Bezug auf die Baukörper­­­mo­­ dulation eine allgemeingültige Aussage treffen. Bereits in der ­Ent­­wurfs­phase sieht man sich mit wesentlichen Zielkonflikten konfrontiert: Während für einen niedrigen Wärmebedarf ein kompaktes Volumen erforderlich ist, verfügt ein gegliederter Baukörper oft­mals über wesentliche Vorteile hinsichtlich des Tageslicht­ange­ bots. Inwiefern es sich also bezahlt macht, wenn mittels Aus­kerbung, Auffächerung oder Rundung des Baukörpers die Fassaden­abwick­ lung vergrößert wird, muss von der jeweiligen konkreten ­Situ­ation abhängig gemacht werden und liegt letztlich im indi­vi­du­ellen ­Ermessen. 76

Von großem Einfluss auf die Fassadengestalt ist zudem die Bereitstellung ausreichend attraktiver Außenräume. In einer Zeit, da Arbeiten zunehmend flexibilisiert und Freizeit zur immer wichtigeren Bestimmungsgröße für das Wohnen wird, stellt der un­ mittelbare Zugang zu einem privaten Außenraum ein essenzielles Kriterium dar. Der Verzicht auf regelhafte Gebäudequerschnitte zugunsten einer Differenzierung nach Wohnlagen begünstigt dabei die Entwicklung von Wohnformen, mit denen die Qualitäten des Wohnens im Eigenheim auf den Geschossbau übertragen werden können. Tatsächlich scheint heute – nicht zuletzt in Erinnerung ­ent­sprechender typologischer Vorarbeiten – das Bewusstsein für die Randbereiche der Wohnung wiederum geschärft. Und damit auch die Überzeugung, dass es gerade das individuelle Gestaltungspotenzial dieser Übergangszonen zwischen innen und außen ist, welches das Wohnen erst richtig wohnenswert macht. Freiluftwohnen also nicht bloß für die Länge einer Zigarette oder den kurzen Griff ins ­Kräutergärtchen, sondern als tatsächliche Erweiterung des Wohn­zimmers.

1 Fritz Wichert, «Die neue Baukunst als Erzieher», in: Das neue Frankfurt, Jg. 2, H. 11/12, 1928, S. 233–235; 235. 2 Walter Gropius, «Die soziologischen Grundlagen der Minimalwohnung (für die städtische Industriebevölkerung)», in: Internationale Kongresse für Neues Bauen (Hrsg.), Die Wohnung für das Existenzminimum. Einhundert Grundrisse, Stuttgart: Julius Hoffmann, 31933, S. 13–23; 19. 3 «Die Werkbundsiedlung Neubühl in Zürich Wollishofen», in: Das Werk, Jg. 18, Nr. 9, 1931, S. 257–279; 260–261. 4 Hans Bernoulli, «Neuere Basler Wohnhausbauten», in: Das Werk, Jg. 9, Nr. 9, 1922, S. 113–122; 113. 5 Adolf Behne, «Dammerstock», in: Die Form, Jg. 5, H. 6, 1930, S. 163–166; 164. 6 Peter Faller, Der Wohngrundriss, Ludwigsburg: Wüstenrot-Stiftung – Stuttgart – München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2002, S. 93. 7 Ibid. 8 Walter Gropius, «Flach-, Mittel- oder Hochbau?», Vortrag am 3. CIAM-Kongress in Brüssel, Nov. 1930, abgedruckt in mehreren Publikationen, hier zit. nach: Das neue Frankfurt, Jg. 5, H. 2, 1931, S. 22–34; 34 bzw. 33.

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Licht, Sicht, Raum Lichterfahrung, Raumwahrnehmung und der Blick nach draußen

Meili Peter Architekten, Staufer & Hasler Architekten, Wohnhaus, Kino und Bistro RiffRaff, Zürich, 1999–2002.

Licht und Sicht Die Umwertung, die das Tageslicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr, hatte weitgreifende Folgen für den Wohnraum und seine Schnittstelle zur Außenwelt, das Fenster. Natürliches Licht galt nun nicht mehr als aggressiv oder schädlich, im Gegenteil, es wurde ihm beinahe der Status eines Allheilmittels attestiert. Bisher gängige Fensterverhüllungen sollten als Relikte eines lichtfeindlichen Zeit­ alters verschwinden. Stattdessen bestimmten nun gute Lüftungsmög­ lichkeiten und der ungehinderte Tageslichteinfall sowie das steigende Bedürfnis nach einer freien Sicht in die Umgebung das Anfor­ derungsprofil an das Fenster. Dieser Wunsch nach Licht und Sicht führte zu angeregten und teilweise kontroversen Diskussionen über die grundlegenden Funktionen des Fensters und zu neuartigen ­Lösungen mit entsprechenden Auswirkungen auf den Innenraum und das äußere Erscheinungsbild von Gebäuden. Die Kultivierung der Aussichtsfunktion, die einmal mit dem Bay Window oder ­Erkerfenster ihren Ausgang genommen hatte, fand ihre Fortsetzung in immer größer werdenden Wandöffnungen; bis zu jenem Punkt, da die Unterscheidung, was denn nun Fenster oder Wand sei, nicht mehr schlüssig zu klären war. Den Faktor Aussicht umgab allerdings von Beginn seiner ­Kultivierung an immer auch ein Hauch von Exklusivität und Luxus. Eine geeignete Gebäudelage und die Verwendung des kostspieligen Werkstoffs Glas waren entscheidend und schränkten entsprechen­ de Umsetzungen – bis auf wenige Ausnahmen – auf Villenbauten, Einfamilienhäuser und Geschosswohnbauten für gehobene Ansprü­ che ein. Le Corbusier etwa entwickelte großes Interesse daran, ­seine Häuser als eigentliche Sehmaschinen zu entwerfen. Demgegen­ über reduzierte sich der Faktor Aussicht im gängigen Geschoss­ wohnbau auf die Anbringung sogenannter Panoramafenster, wobei es hier – anders als bei der gut betuchten Klientel – weniger um ­einen splendiden Ausblick oder Bildeffekt ging als vielmehr um die virtuelle Verlängerung des knapp bemessenen Wohnraums in den Außenraum. Diese gesellschaftliche Differenzierung, die bis zu einem gewissen Grad auch in einem unterschiedlichen Maß an Auf­ geschlossenheit für Veränderungen im Wohnraum wurzeln mochte, zeigt gleichzeitig auch die Grenzen der sozialreformerischen Kon­ zepte der Moderne auf. Im Sozialwohnungsbau etwa, der strenge­ ren ökonomischen Rahmenbedingungen unterlag, mussten gewisse

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Während früher Innenräume als in sich ­abgeschlossene Körper begriffen wurden, in die Licht durch partiell gesetzte Loch­ fenster einfiel und von üppigen und vorwie­ gend dunklen Stoffdraperien gedämpft wurde, entwickelte sich der Wohnraum im Lauf des 20. Jahrhunderts immer mehr zum hellen, offenen Bereich mit fließenden Grenzen und großzügigem Lichteinfall. Wohnung, Berlin-Steglitz, um 1890. Otto Senn mit Rudolf Mock, Wohnhaus Zossen, Basel, 1935–1938. Wohnraum. Richard Neutra, Case Study House No. 20 (Haus Bailey), Pacific Palisades, CA, 1947– 1948. Wohnraum. Lacaton & Vassal, Wohnanlage, Floriac, Gironde, 1999–2002. Visualisierung.

Kompromisse in Kauf genommen werden. Dies bedeutete zunächst: Licht für alle – Sicht für wenige. Heute ist diese Unterscheidung längst aufgeweicht. Oder doch nur scheinbar? «Wand versus Öffnung ist das Grundthema jedes architektonischen Raumes; es weist über rein funktionelle Erforder­ nisse hinaus. Das Verhältnis von Wand und Öffnung ist gleichsam der Parameter für den sozialen, kulturellen und technischen Stan­ dard, den ein Gebäude besitzt oder den es beschwörend zu beanspru­ chen sucht.»1 Zeitgemäße Wohnarchitektur aber impliziert mehr denn je riesige Fensterflächen. Allerdings zeigen sich immer mehr Be­ wohner erstaunlich flexibel: Man hat sich mit den wechselnden ­Moden und dem avantgardistischen Design arrangiert. Geändert hat sich zugleich auch der Anspruch an das, was man sehen will. In einer Zeit, da die Städte wieder regen Zulauf erfahren, steht bei wahren «Urbaniten» die Aussicht auf eine mehr oder weniger span­ nende Stadt- oder Industrielandschaft ebenso hoch im Kurs wie der einst unverbaute Blick in die Natur. Zwischen innen und außen Als Schnittstelle zwischen innen und außen hat das Fenster ein be­ achtliches Anforderungsprofil zu erfüllen. Neben der Versorgung des Innenraums mit Tages- und Sonnenlicht muss das Fenster auch die Belüftung sicherstellen sowie den Kälte- und Wärmeaus­ tausch regulieren. Ebenso spielt es bei der Kontrolle über die Zu­ gänglichkeit zur Außenwelt eine zentrale Rolle. Uns interessieren vor allem jene Faktoren, die mit der visuellen Durchlässigkeit des Fensters zusammenhängen: das Fenster einerseits als Spender von Tageslicht und andererseits als Öffnung, die einen visuellen Aus­ tausch zwischen innen und außen ermöglicht. Die Dialektik dieser beider Faktoren hat das Fenster über Jahrhunderte geprägt – weit über grundlegende technische und gestalterische Probleme wie Sonnen- oder Blendschutz hinaus, die im Spannungsfeld von Licht und Sicht gelöst werden müssen.

Klassisches, hochrechteckiges Fenster mit Haupt- und Vorfenster sowie Sprossenein­ teilung.

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Paul Wolff, Winken, um 1936. – Das Fens­ ter als Ort der visuellen Kommunikation. Michael Sowa, Februar. – Fenster geben Informationen über das, was sich außer­ halb der eigenen vier Wände abspielt.

Meili Peter Architekten, Staufer & Hasler Architekten, Wohnhaus, Kino und Bistro RiffRaff, Zürich, 1999–2002. Arbeitstisch mit Blick in den Innenhof. – Der Blick nach draußen als temporäre Ablenkung.

Bauen bedeutet Grenzziehung; damit verbunden ist die Unter­ scheidung zwischen innen und außen. Jedes Element zwischen ei­nem Innen und einem Außen stellt einen doppelten Bezug her; es lässt sowohl Trennung als auch Verbindung entstehen, ist Unterschei­ dung und Übergang, Grenze und Durchlass. Das Fenster markiert also in erster Linie einen Grenzbereich, der «zwischen drinnen und draußen, Geborgenheit und Gefahr, Vertrautem und Fremdem, zwischen Endlichkeit und Weite, Verhaftetsein und Freiheit, Wirk­ lichkeit und Illusion»2 vermittelt. Je nach Gestaltung und Ausfor­ mulierung dieser Schwellensituation gibt das Fenster einen Hinweis auf den Charakter und Wertgehalt des Universums, das sich da­ hinter befindet. Mit anderen Worten: Die Größe der Öffnung sowie die Art und Menge ihres Tageslichteinlasses ist zugleich auch ein differenzierter Gradmesser für die unterschiedlichen individuellen oder gesellschaftlichen Wert- (und Wohn-)Vorstellungen, die in ­Abhängigkeit des kulturellen Kontexts bestehen. Aussicht: Information und Kontemplation Seit dem 20. Jahrhundert erweist sich im westlichen Kulturraum die Aussicht als eigentliche Schlüsselfunktion des Fensters. Sie ist in der subjektiven Wertschätzung eines Raumumfelds für den Nutzer von großer Bedeutung. Dabei muss nicht einmal die Möglichkeit zu einem schweifenden Rundblick auf ein Postkartenidyll gegeben sein – bereits der flüchtige Blick durch ein kleines Fenster aus dem abgeschlossenen Wohnrevier reicht aus, um zum Wohlbefinden im Raum beizutragen. Zum einen liegt dies an den faktischen In­ formationswerten, die der Blick in den Außenraum liefert. Dahinter steht nicht zuletzt das biologisch begründbare Sicherheitsbedürfnis des Menschen, sich über seine Umwelt informieren zu wollen.

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Was für Wetterverhältnisse sind heute? Wer nähert sich dem Haus? Mit wem spielen die Kinder? Fragen, die im Wohnalltag eine ­wichtige Rolle spielen. Selbst dann, wenn – wie im Falle eines Ober­ lichts – kein direkter Sichtkontakt zur Landschaft besteht, tragen variierende Licht- und Wetterverhältnisse im Tagesverlauf oder auch die Wahrnehmung von Geräuschen sowie Wärme- und Kälteein­ wirkungen durch das Fenster zur Verankerung in der Wohnumwelt bei. Fehlen hingegen diese Informationen, etwa in einem fenster­ losen Raum, wird die Situation schnell als unnatürlich und bedrü­ ckend empfunden. Neben dieser eher funktionalen Ebene gibt es aber auch noch eine weitere, emotionale, bei der sich die Außenwelt sozusagen zum Kontrapunkt der eigenen Lebensrealität verwan­ delt. So kann der Ausblick in eine Umgebung, die sich wesentlich von den eigenen vier Wänden unterscheidet, nicht nur temporäre Ablenkung bieten, sondern auch eine stimulierende oder entspannen­ de Wirkung zeigen – etwa beim kurzen Blick auf eine belebte Stra­ ße oder einen stimmungsvollen Sonnenuntergang. Vom Bedeutungsverlust des Fensters In der Gegenwartsarchitektur ist das Fenster zum Fossil des Bau­ ens geworden. Die Architektur ist durch die Tendenz gekennzeich­ net, Fenster in eine Wand zu verwandeln. Dies bleibt nicht ohne Einfluss auf den Wohnzustand, denn während das Lochfenster «von innen besehen, überschaubare, erträgliche Teile aus der Wirklich­ keit heraus[schneidet], mit denen ein Dialog möglich wird»,3 rückt die Glaswand die Außenwelt unvermittelt in die Nähe. Anders als das traditionelle Fenster, das ein Auge in die Welt sein, gleichzei­ tig aber auch Schutz und Geborgenheit bieten will, scheint heute vorwiegend die Bildhaftigkeit und damit die visuelle Durchsicht im Vordergrund zu stehen: Bewohnen als eine Technik des Betrach­ tens. Die Hereinnahme der Umwelt, der ganzen äußeren Welt ins Innere des Raums, findet allerdings dort ihre profane Grenze, wo die Welt die Anstrengung nicht mehr lohnt. Während einst «große Aus­ sichtsfenster mit unbehinderten Panorama-Möglichkeiten» für ein Gefühl von «Entspannung, Behagen und Erleichterung» (Richard Neutra) beim Menschen sorgen sollten, versperrt heute die heranrü­ ckende Betonwelt die Aussicht. Letztere aber impliziert in den meisten Fällen auch Einsicht, weshalb der Mensch seit mehr als ei­ nem halben Jahrhundert damit beschäftigt ist, diesen «Mangel» zu beheben. Sinnfällig wurde in diesem Zusammenhang zur Gestalt des Fensters bemerkt: «Einerseits kann es nicht groß genug und weit genug sein, wie das Panoramafenster der sechziger Jahre, ande­ rerseits wird es verschleiert und verhängt. Von außen mit Pflanzen, von innen mit Vorhängen.»4 Noch immer sind wir ängstlich in den Exhibitionen unserer Häuser, denn die mentale Übung braucht offensichtlich sehr viel mehr Zeit als die praktische. Da, wo die größtmögliche physische Öffnung den Wandanteil zugunsten einer völlig andersartigen Innen-Außenbeziehung zu­ rückdrängt, geht die ursprüngliche Funktion des Fensters als Mittler zwischen dem natürlichen Tageslicht und den gebauten Räumen verloren. Belichtung wird zu einer unbestimmten und diffusen Größe, die – paradoxerweise – nur durch eine Verhüllung der ange­ strebten Aussicht gesteuert werden kann. Der moderne Bauwille hebt sich sozusagen selbst auf, und in überbelichtet-öder Schatten­ losigkeit geht der taktil-sensualistische Reichtum des Interieurs

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Bonnard+Woeffrey, Wohn- und Atelier­ haus, Monthey, Kt. Wallis, 2002–2003. – Fenster oder Wand? Blumenfenster. – Kaum hatten sich große Fenster auch im Wohnbereich etabliert, wurden sie flugs schon wieder mit Pflan­ zen und Gardinen dekoriert.

­ nter, wie ihn einst der Architekt und Kulturtheoretiker Adolf u Loos wie kein anderer zu erzeugen vermochte. Bei Loos, der stets Wohnkomfort und Behaglichkeit als vor­ran­ giges Anliegen betrachtete, sind die Fenster ganz auf die Be­ dingungen des jeweiligen Innenraums beziehungsweise auf ihre Bedeutung als Lichtspender zugeschnitten. Dort, wo keine Fenster benötigt werden, dürfen auch große geschlossene Wandflächen ent­ stehen. Mit der beinahe ausschließlichen Konzentration auf die Lichtfunktion des Fensters und der damit einhergehenden Reduk­ tion der Bildhaftigkeit des Interieurs kann dessen Materialität in fühlbarer Sinnlichkeit hervortreten. Loos mag heute gemeinhin als Vorkämpfer einer sachlich-funktionalen Architektur gelten, in Bezug auf die Bedeutung, die er der richtigen Belichtung der In­ terieurs und des Fensters beimaß, blieb er jedoch ganz dezidiert den bürgerlichen Wohnvorstellungen des 19. Jahrhunderts verhaftet.5 In einer wenig beachteten Passage in seinem Buch Urbanisme hielt kein geringerer als Loos’ Berufskollege Le Corbusier retrospek­ tiv fest: «Loos versicherte mir eines Tages: ‹Ein Kulturmensch 85

sieht nicht mehr zum Fenster hinaus; sein Fenster besteht aus Matt­ glas; es ist da, um Licht zu spenden, nicht um den Blick hinaus­ schweifen zu lassen.›»6 Diesem Grundsatz entspricht die Gestaltung der Fenster und ihres unmittelbaren Umfelds in den Loos’schen ­Interieurs. Fast durchweg sind die Fenster mit Vorhängen versehen oder gar in Opakglas ausgeführt, was einerseits den Blick nach ­außen behindert und andererseits einen äußerst dezenten Tageslicht­ einfall zur Folge hat. Zudem scheint die räumliche Organisation und die Disposition der Einbaumöbel meist den direkten Zugang zum Fenster zu behindern. Oft sind beispielsweise ein Sofa oder Sitznischen darunter platziert, sodass die darauf sitzende Person der Außenwelt den Rücken zukehren und sich dem Raum zuwenden muss. Noch 1930–1932 platzierte Loos in seinem Doppelwohnhaus in der Wiener Werkbundsiedlung, das mit seinem doppelgeschos­ sigen, großzügig verglasten Wohnraum wahrlich den neuesten Trends zu folgen schien, eine exponierte Sitzecke auf der Galerie, auf der man wiederum mit dem Rücken gegen das große Fenster sitzt. Es sind die Abgeschlossenheit des Raums und die ­Introvertiertheit des Blicks, welche die Loos’schen Vorstellungen ei­nes behaglichen, ­gemütlichen, komfortablen Wohnumfelds ausmachen. Während sei­ ner gesamten Schaffenszeit distanzierte sich Loos von den damals aufkommenden Forderungen nach unein­geschränkter und unmittel­ barer Sichtbarkeit. Der Innenraum sollte eine intim-vertraute, ­ge­gen außen abgeschottete Bühne für das ­Privatleben abgeben, wäh­ rend eine Überschneidung mit dem städti­schen Leben seiner ­Ansicht nach einem zivilisierten urbanen Verhalten zuwiderlief. Dem­­ entsprechend begriff er das Fenster als bewusste Barriere ­zwischen innen und außen und reduzierte es praktisch auf seine Funktion als Tageslichtspender. Dieser Maxime folgte auch die Gestaltung des Bay-Window-artigen Erkers im ­Speisezimmer der Wohnung Kraus in Wien (1905).

In den Interieurs von Adolf Loos bewirken dem Innenraum zugewandte Sofas und Sitznischen unter dem Fenster, dass man der Außenwelt den Rücken zukehrt: Wohnung Eisner, Plzenˇ/Pilsen, 1929–1930. Speisezimmer. Wohnung Brummel, Plzenˇ/Pilsen, 1929. Schlafzimmer. Wohnung Kraus, Wien, 1905. Erkerfenster im Speisezimmer.

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Und trotzdem: Der Ausblick aus dem privaten Wohnumfeld in die Umgebung wurde auch bei Loos ein Thema, wie das Landhaus Kuhner in Payerbach (1929–1930) beweist. Hier öffnete er die Wohnhalle mit einer dreiflügeligen Fensterwand in die alpine Umge­ bung des Semmeringgebiets. Darüber hinaus findet sich in der 1931 erschienenen Loos-Monografie von Heinrich Kulka eine An­ sicht des Herrenzimmers in ebendiesem Landhaus mit einem unver­­­­ hüllten Blick in die Umgebung.7 Damit lieferte Loos zwei ­veritable Panoramafenster, welche die introvertierte Raumatmos­phäre ­gänzlich aufbrechen. Der Innenraum wird derart optisch erwei­ tert – ein typisches Anliegen der Moderne, dem Loos in seinen ­Interieurs bisher mit gezielt eingesetzten Spiegeln und Niveauunter­ schieden Rechnung getragen hatte. Allerdings wurde das Haus Kuhner auch in alpiner Landschaft errichtet und nicht in dem für die Loos’schen Bauten sonst so charakteristischen städtischen Umfeld. Was lag also näher, als für den geplagten Städter den Blick auf die alpinen Schönheiten regelrecht in Szene zu setzen.

Adolf Loos, Landhaus Kuhner, Payerbach, Niederösterreich, 1929–1930. Wohnhalle. Fotomontierte Manipulation des Ausblicks: In der Loos-Monografie von Heinrich Kulka (Adolf Loos. Das Werk des Architekten, Wien: Schroll, 1931) öffnet sich das Herren­ zimmer im Landhaus Kuhner zum Tal hin (oben), während der tatsächliche Ausblick weit weniger spektakulär gegen den Hang geht (unten).

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Wohnung, Berlin-Steglitz, um 1890. – Die Wohnung des Bürgertums als gegen außen geschützter Rückzugsraum.

Die Raumschachtel: Diskretion im gedämpften Licht Veränderungen in der Auffassung von Architektur, ihrer Gestalt und Funktion sind genauso wie neuartige Raumkonzeptionen keine Erfindungen, sondern ergeben sich aus der Wechselwirkung zwi­ schen Architektur und einem bestimmten kulturellen und ge­sell­ schaftlichen Kontext. Otto Friedrich Bollnow hielt 1963 in Mensch und Raum fest, «dass es verschiedene Formen des Raumgefühls gibt, und dass diese aufs engste mit dem gesamten Lebensgefühl des Menschen zusammenhängen.» Tatsächlich aber offenbart der Blick auf die letzten 150 Jahre Baugeschichte, dass sich Veränderun­ gen in der Gesellschaft nicht nur auf die Wahrnehmung und Ge­ staltung der Raumumwelt beschränkten, sondern sich immer auch in einer besonderen Beziehung zur Schnittstelle Fenster und zum Verhältnis von Belichtung und Ausblick manifestierten. Dass Fenster auch einen interessanten oder gar spektakulären Ausblick ermöglichen sollen, ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Für die bürgerlichen Wohnwelten des 19. Jahrhunderts war dies in der Regel kein Thema. Damals wurde Architektur in erster Linie als ein technisches Formproblem angesehen, bei dem es darum ging, den für eine Bauaufgabe angemessenen stilistischen Ausdruck zu finden. Im Nachhinein von den Architekten der Moderne als leere Fassadenarchitektur diskreditiert, stand zu jener Zeit das ma­ terielle Erscheinungsbild des Gebäudes im Zentrum des archi­ tektonischen Interesses, während sich die dahinter liegenden Räume den Anforderungen an das Äußere zu fügen hatten. Der zentrale gedankliche Hintergrund der bürgerlichen Wohnwelt war ein gegen außen geschützter Rückzugsraum unter dem Primat des Privaten. Als Hort familiären Handelns und repräsentativer Selbstdarstellung bildeten die bürgerlichen Wohnwelten den Gegenpol zur anony­ men, öffentlichen Welt der Arbeit mit genau definierten sozialen Ver­ haltensregeln. Angesichts des Bestrebens, den intimen Wohnbereich möglichst abzuschirmen, erschienen Fenster gleichsam als Schwach­ stelle, durch die ein Außenstehender Einblick in das Wohnungs­ innere erhaschen oder aber ein Zuviel an Tageslicht die beschauliche Atmosphäre stören könnte. Die stehenden Fensterformate, einge­ klemmt zwischen Pfeilern und Mauervorlagen, waren deshalb ­vorzugsweise mit mehreren Vorhangschichten verhüllt, um sie har­ monisch in das eklektizistische Wohn-Gesamtkunstwerk des ­Spätbürgertums einzufügen.

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Derart entwickelte sich das Fenster gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts zur «höchst differenzierten Lichtschleuse» (Wolfgang Schivelbusch) mit Vorhängen und Gardinen im Innern und mit Ja­ lousien, Rollos, Markisen und Läden an der Fassade. Im Vorder­ grund stand nicht der Einlass, sondern die Abwehr des als aggressiv und blendend empfundenen Lichts. Tageslicht sollte allein indirekt und damit diskret und gedämpft ins Wohnungsinnere gelangen, um so die wohnliche Atmosphäre des Raums nicht zu stören. Auch setzte man alles daran, den materiellen Wert der sorgsam komponier­ ten Wohnungseinrichtung zu erhalten. In diesem Sinn wurde ­etwa – wie vermehrt in zeitgenössischen Schilderungen zu lesen – die Ausrichtung einer Wohnung gegen Norden durchaus als «Glück» empfunden, da dadurch die «Sachen nicht verschießen» konnten.

Bay Window an einem Wohnhaus, ­Amsterdam-Zuid.

Der gerahmte Blick Als erstes Anzeichen für das beginnende Bedürfnis nach Ausblick können die Landschaftsbilder im bürgerlichen Wohnbereich be­ trachtet werden, die eine Sicht aus einem Fenster suggerierten. Auf Dauer schien diese Sublimation jedoch nicht zu funktionieren, denn der Wunsch nach einem realen Ausblick aus den eigenen vier Wänden begann die gut behütete Abgeschlossenheit schon bald aufzuweichen. Eine Entwicklung in diese Richtung war bereits im 18. Jahrhundert mit der Einführung des Bay Windows in der angel­ sächsischen Architektur erfolgt, das bald zum verbreiteten Fassaden­ merkmal avancierte. Über die Vorzüge, die dieses im Vergleich zum konventionellen, hochrechteckigen Fensterformat bot, schrieb M.H. Baillie Scott: «Das bay-window oder Erkerfenster bietet den Vorteil einer Raumerweiterung und zugleich einer erweiterten, mehrseitigen Lichtzufuhr, z.B. nach Süden und Westen, Norden und Osten zugleich. Es dient auch als Fenstersitzplatz und ‹Aus­ lug›.»8 Später sollte Josef Frank auch auf die psychologisch angeblich vorteilhafte Wirkung dieses Fenstertyps hinweisen: «Ich würde wohl Wert darauf legen, dass ein jeder Wohnraum womöglich Fens­ ter nach allen Weltgegenden hat, um in ihm das Gefühl der Ein­ sperrungen zu mindern. Dies ist fast immer zu erreichen, und wenn nicht, so lässt es sich durch kleine Ausbauten symbolisch andeu­ ten; das war der Sinn des bay-windows.»9 Ansonsten waren die Öffnungen so angeordnet, dass sie in der Blickrichtung eines zentral im Raum stehenden Betrachters lagen. Derart konnte sich der Mensch, ohne sich im Raum zu bewegen, im Raum ein Bild von der Außenwelt verschaffen. Nicht zuletzt spie­ gelte sich in dieser statischen Raumerfassung der Geist der Zeit; ­einer Zeit, in der sich der Mensch als Zentrum des Universums betrach­ tete. Der geschlossene Charakter des Innenraums mit den ­wenigen Wanddurchbrüchen mochte zwar die visuelle Freiheit beschränken, die Begrenzung des Gesichtsfelds ermöglichte jedoch den beruhi­ genden Gedanken eines Zurücktretens von der Welt. Die Öffnung des Wohnbereichs, wie sie die Vertreter der Moder­ ne propagieren sollten, ist indessen von der Kunst viel früher vor­ gezeichnet worden. Bis heute ist das Sujet der Fensteröffnung als ein Ort des menschlichen Austauschs, als stiller Vermittler von Aussich­ ten und Einsichten ein beliebtes Motiv der Literatur und vor allem der Malerei geblieben. Immer wieder versinnbildlichen Darstel­ lungen von Fenstern – mit oder ohne Menschen – das Träumeri­sche, Märchenhafte oder Kontemplative des Ausblicks. Das Fenster

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Caspar David Friedrich, Frau am Fenster, 1822. Öl auf Leinwand, 44 x 37 cm. Nationalgalerie, Staatliche Museen zu ­Berlin. – Das Fenster als Ort der Kon­ templation.

rückt die Welt in die Ferne, schafft gleichzeitig gebührende und ­bewusste Distanz. Es ist die inspirierende «Grenze zwischen zwei antithetischen Räumen, dem Ort des Sichbefindens und dem Ort der Sehnsucht» (Bruno Reichlin). Tatsächlich fallen die meisten Fens­ terbilder in eine Zeit, da die Vorstellungen von Wohnkultur noch durch eine weitgehende Abschottung gegen außen gekennzeichnet sind. So erlebte die Malerei des 19. Jahrhunderts, besonders die deut­ sche Romantik und das spätromantische Biedermeier, eine eigent­ liche Hochblüte an Fensterszenarien. Als willkommene Referenz dienten dabei die zahlreichen Interieurdarstellungen, die das nieder­ ländische Genrebild des 17. Jahrhunderts mit viel Liebe zum Detail und effektvollen Darstellungen des einströmenden Tageslichts ­her­vorgebracht hatte. Diese Szenerien zeigen meist eine oder meh­re­ re Personen, vorzugsweise Frauen, die in stiller Tätigkeit versunken, sich nahe an der natürlichen Lichtquelle des Fensters aufhalten. Während die Poesie jener Bilder vor allem auf der Ordnung, der Stil­ le und der subtilen Behandlung des Lichts beruht, sollte in den spä­ teren Reminiszenzen vielmehr die Vielfalt der Empfindungen der fensternah postierten Personen zum Ausdruck kommen: das Fenster als ein Ort der Verinnerlichung und der Reflexion; als ein Platz des einsamen Menschen, der hier seinen Gedanken und Gefühlen wie Heimweh, Fernweh und Sehnsucht freien Lauf lässt oder einer heimlichen Liebe nachhängt. 91

Joseph Paxton, Crystal Palace, Weltausstel­ lung, London, 1851. Innenraum des nach der Weltausstellung abgebrochenen und 1852–1854 in Sydenham wieder errichte­ ten Gebäudes.

Die Sprengung der Box: neue Erfahrungsräume Als bauliches Gegenstück zur Festung des Privaten hatten sich im 19. Jahrhundert neue Gebäudetypen wie Bahnhöfe, Markt- und Aus­ stellungshallen oder Passagen in leichten Glas- und Eisenkonstruk­ tionen zu einem öffentlichen, autonomen Lebensraum ent­­wi­ckelt. Es muss wohl die Wirkung dieser vergleichsweise freien – befrei­ enden – Raumatmosphäre gewesen sein, die Walter Benjamin später veranlasste, die Passagen als «Hohlform» zu bezeichnen, aus der die «Moderne gegossen» wurde. Obwohl lichterfüllte Räume mit glä­ sernen Fassaden vorerst nur für öffentliche Bauten opportun ­schienen, deutete dies bereits auf den Beginn einer allgemeinen Wahr­­ nehmungsänderung hin, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts weite Lebensbereiche erfassen und sich letztlich auch in einer veränderten Raumkonzeption niederschlagen sollte. Insbesondere zwei Entwicklungen haben dabei die Beziehung von Mensch und Umwelt und damit die Vorstellung von Raum ­­im 19. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst. Zum einen ist dies die Eisen­ bahn, mit deren Erfahrung einer neuen Dimension von Geschwin­ digkeit auch eine Irritation des bisherigen Raum-Zeitgefühls einherging. Nicht nur, dass Orte, die bisher räumlich weit entfernt waren, näher zusammenrückten, auch der Reiseraum wurde in der Wahrnehmung dynamisiert und verwandelte sich so in eine ra­ sche Abfolge unscharfer und flüchtiger Bilder. Zum anderen aber führten die bautechnischen Entwicklungen aus dem Ingenieurbau, die bei den erwähnten Publikumsbauten zur Anwendung kamen, zu einem Wandel der bis dahin geltenden architektonischen Werte. Mit dem neuen Gebrauch von Eisen als Trag- und Glas als Füll­ material schwand der bisher übliche Raumeindruck der Begrenzung durch festes Mauerwerk zugunsten einer imaginären Grenze aus Glas. Gleichzeitig gewann die Konstruktion an Dominanz und wur­ de nun zum wesentlichen Träger des architektonischen Ausdrucks. Ein Beispiel, das Maßstäbe setzen sollte, war Joseph Paxtons ­Crystal Palace an der Weltausstellung 1851 in London. Das fast 600 Meter lange Gebäude wurde nicht nur aufgrund seiner klaren und rationalen Lösung der Bauaufgabe mittels der neuen Materialien Eisen, Glas und etwas Holz zu einem Epoche machenden Bau­ werk, sondern auch wegen seiner neuartigen Raumwirkung. Noch um die Jahrhundertwende hielt ein Autor über diesen Raum, der die Besucher zu «staunender Bewunderung seiner Eigenart» führte, fest: «Dieser Raum hatte etwas Befreiendes. Man fühlte sich in ihm geborgen und doch ungehemmt. Man verlor das Bewusst­ sein der Schwere, der eigenen körperlichen Gebundenheit.» Vor allem das Fehlen des vertrauten Helldunkels hinterließ offensichtlich ­einen einschneidenden Eindruck. Die Präsenz eines einzigen, unge­ glieder­ten und kontrastlosen Lichtraums vermochte das Raum­ gefühl und die Orientierung erheblich zu irritieren und machte das Abschätzen von Dimensionen zu einem ungewissen Spiel: Die schattenlose Helle förderte beim Besucher Assoziationen mit einem grenzenlosen Raum.

Es war schließlich die noch junge Kunstwissenschaft im ausge­ henden 19. Jahrhundert, die die Architektur nicht mehr nur auf der Grundlage von klassischen Prinzipien zu beurteilen, sondern ­vielmehr deren eigentliches Wesen im Raum zu ermitteln suchte. Die­­­ se Hinwendung zum Raum bedeutete gleichzeitig auch eine Ab­ 92

Adolf Loos mit Karel Lhota, Villa Müller, Prag-Strˇešovice, 1928–1930. Wohnhalle, Ansicht von Nordosten.

grenzung von der Architektur als Fassadenkunst, wie sie für den Historismus kennzeichnend gewesen war. Begünstigt wurde solches durch die neuen Theorien der Wahrnehmungsphilosophie. In ih­ nen war aufgezeigt worden, dass es keine objektive Wirklichkeit gab, sondern dass sich die Wirklichkeit dem Betrachter immer nur ­«hausgemacht» darstellte: Nicht den Dingen selbst kamen also emo­ tionale Qualitäten zu, sondern es war das Subjekt, das ihnen diese zuschrieb. Entsprechend forderte der Kunstwissenschafter August Schmarsow in seiner 1894 erschienen Schrift Das Wesen der archi­ tektonischen Schöpfung eine Architekturgestaltung «von innen» he­ raus, die von den physiologischen und psychologischen Prämissen des Betrachters ausging und damit die Raumwirkung auf das Subjekt zum Thema machte. Die Thematisierung des Raumgedankens sollte auch in der ­architektonischen Praxis nicht ausbleiben. Anstelle der klassischen Repräsentationsgesten begann man sich vielmehr auf die «Inner­ lichkeiten» der architektonischen Gestaltung zu konzentrieren und damit auf Fragen über die Beziehungen und Verknüpfungen zwi­ schen bestimmten Raumstrukturen und allgemeinen Verhaltens­ weisen. Gleichzeitig wurden Werte wie Wohnatmosphäre oder Raumstimmung thematisiert, der Hintergrund für den Versuch von Adolf Loos, mit den Mitteln der Architektur das Wahrnehmungs­ potenzial neuer Raumformen zu erforschen. Zu diesem Zwecke ­ar­­beitete er mit offenen Raumbeziehungen und Differenzierungen in der Raumhöhe, um im Zusammenspiel mit der Lichtführung und einer detaillierten Materialisierung ein verstärktes Raumempfin­ 93

den zu evozieren. Anstelle der gewohnten Aneinanderreihung ­geschlossener Raumzellen, die einzeln durchschritten wurden, plan­ te Loos den Gang durch das Haus als Abfolge eines komplexen, ­in­einander verzahnten Raumgefüges. Dieses entwickelte sich mittels Niveaudifferenzen und versetzter Geschossebenen kontinuier­lich in die Höhe. Die damit erreichte vertikale Raumkontinuität («Raumplan») zeugt indessen von einer Neuerung in der Raumauf­ fassung – von der Zerstörung des schachtelförmigen Wohnraums des 19. Jahrhunderts.

Theo van Doesburg, Die elementaren Ausdrucksmittel der Architektur, Zeichnung, vor 1925.

Der Erste Weltkrieg hatte grundlegende Zweifel an den beste­ henden Wahrnehmungs- und Weltordnungsprinzipien aufkommen lassen. Scheinbar stabile Koordinaten waren ins Wanken gekom­ men, und damit begannen sich auch die Voraussetzungen gestalte­ rischer Arbeit zu ändern. Die sich in der Vorkriegszeit bereits abzeichnende Tendenz in der Malerei zu einer radikalen Abstraktion beziehungsweise Reduktion der Kunst auf ihre elementarsten ­Gestaltungsmittel sollte auch in der Architektur zu einem Paradig­ menwechsel führen. Unter anderem konstituierte sich 1917 mit der niederländischen De Stijl-Bewegung eine Gruppe, die ihre Ab­ grenzung nicht mehr in einer übersteigerten Innerlichkeit suchte, sondern im Gegenteil in einer klaren Abkehr vom Individuellen ­zugunsten des Allgemeinen. Man wollte eine Kunst von wissen­ schaftlicher Exaktheit, die allein den Prinzipien Wahrheit, Objekti­ vität, Ordnung und Klarheit verpflichtet war. Ihre Maxime lag in einer konsequenten Denaturierung der Form, was sich nicht nur gegen eine formalistisch-individuelle Ästhetik richtete, sondern auch danach strebte, die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt beziehungsweise Gesellschaft neu zu ordnen. In der Architektur – als einem der Brennpunkte der De Stijl-Diskussionen – führte dies zu stark abstrahierten Räumen mit ausgeprägt kompositorischen Qualitäten. Gebäude wurden nicht mehr als in sich geschlossene Kör­ per begriffen, sondern ergaben sich nun aus einer Vielheit von

Gerrit Thomas Rietveld, Haus Schröder, ­Utrecht, 1924. Ansicht von Süden, Ober­ geschoss mit Wohn­bereich.

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Hans Scharoun, Haus Schminke, Löbau, 1930–1933. Wintergarten.

­ lächen, aus deren Zusammenwirken sich der Rauminhalt formierte. F Von innen heraus dynamisch dekomponiert, erweckten sie den ­Eindruck eines sich ausdehnenden, horizontalen Raumkontinuums, das sich mit dem Außenraum verzahnte. Mit dieser neuen, offenen Architektur, die keinerlei Trennung mehr zwischen innen und ­außen vornahm, gehörte auch das traditionelle Fenster der Vergan­ genheit an. Stattdessen wurde es zu einer offenen Fläche deklariert, die als gleichwertiges Element mit den raumdefinierenden Wandund Deckenscheiben kontrastierte. Fließende Räume: visuelle Entgrenzung und klärende Helligkeit Aus modernistischer Sicht war Architektur nun keine Formgestal­ tung mehr. Wo bisher Konventionen oder mitunter auch irrationale Entscheidungsgründe die Gestaltfindung bestimmt hatten, sollte sich der architektonische Ausdruck nur mehr «mechanisch» ergeben; gewissermaßen von «innen» heraus, aus den funktionalen und konstruktiven Anforderungen des Grundrisses. Durch die kons­truk­ tive Entwicklung des Skelettbaus konnte die bisher in der Massiv­ bauweise gültige Einheit von Lastabtragung und Raumabschluss der Außenwand aufgehoben werden. Dies bescherte der Grundriss­ organisation große Freiheiten. Die ehemals fest umrissenen Raum­ zellen wichen so einem kontinuierlichen Ineinandergreifen unterschiedlicher Raumzonen, sodass gleichsam der Eindruck eines fließenden Raums entstand. Fortschrittliches Wohnen wurde nun mit einer Öffnung nach außen gleichgesetzt und die Aufhebung der Trennung von innen und außen zum erklärten Ziel der modernen Architektur. Der Eindruck der Schwere und jedweder Massen­wir­ kung gehörte fortan zu den architektonischen Tabus. Die allgemeinen Entmaterialisierungstendenzen zielten auf eine Befreiung vom 19. Jahrhundert und damit gegen die Kultur des überheizten Zim­ mers mit seiner satten und überladenen Be­häbigkeit. Ehemals ­wertgeschätzte Eigenschaften wie Dekor oder die Erzeugung einer gemütlichen Stimmung wurden als Frivolitä­ten ab­gelehnt. Sie ­wider­sprachen den Prinzipien der um Objektivität und Authentizi­ tät bemühten Moderne. Der von repräsentativen Ob­lie­genheiten befreite Grundriss bot eine offene, informellere ­Struktur, die den Nutzer zum Tätigwerden animieren beziehungsweise selbiges dank der funktionalisierten Raumanordnung er­leichtern sollte.

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Ludwig Mies van der Rohe, Haus Tugend­ hat, Brno/Brünn, 1928–1930. Wohnbe­ reich mit großflächiger Verglasung gegen den Garten, Ansicht vom Garten.

Raumhohe oder -breite Öffnungen und Schlitze versprachen ei­ nen authentischen Miteinbezug der Umwelt und drängten den Wandanteil zugunsten einer visuellen Entgrenzung zurück. Gleich­ zeitig kam mit dem latenten Wechsel von offenen und geschlossenen Flächen Bewegung in die bisher statische Raumwahrnehmung des Betrachters. Im Gegensatz zur traditionellen Architektur, deren Anlage auf Blickachsen und Perspektivpunkte ausgelegt war, basier­ te die Raumkonzeption der Moderne auf einer Multiplizität von Beobachtungsperspektiven. Dabei spielte die Bewegung eine wesent­ liche Rolle. Dem Betrachter erschlossen sich die bisweilen mehr­ deutigen Raumkonstellationen erst über die Zeit, die er benötigte, um diese zu durchschreiten. In der Folge wurde die Inszenierung des Weges durch das Gebäude beziehungsweise der sich ständig ver­ ändernde Standpunkt des Betrachters zu einem für die Raum­ gestaltung relevanten Thema. Entsprechend interessierte auch das Licht hier weniger als ein Phänomen von atmosphärischer Wirkung denn als eine funktionale, zweckgerichtete Größe, die der Sicht­ barmachung architektonischer Strukturen diente. Meistens wurde es auch im Sinne eines moralisch-energetisch wirksamen Licht­ flusses betrachtet – als eine reinigende Helligkeit, von der man an­ nahm, dass sie keimtötend wirkte. Das Licht der Moderne erschien also keinesfalls mehr nur als passiver Belichter; vielmehr war es ­eine aktive Kraft, die hereinströmte und sich nahezu ungehindert im Raum ausbreitete und von deren Lebendigkeit und Eindringlich­ keit man sich einen belebenden Effekt auf den Bewohner erhoffte. 96

Fensterform und Interieur Hinter dem zunehmenden Bedürfnis nach «Schaufenstern» verbarg sich ein Wandel der Wohnvorstellungen, der zu Beginn der 1920er Jahre in einen innenarchitektonischen Diskurs über die Wahl des richtigen Ausschnitts mündete – etwa bei der episodenhaften Kon­ troverse zwischen Auguste Perret und Le Corbusier, bei der die Frage im Raum stand, ob eher ein senkrecht stehendes oder waag­ recht liegendes Fensterformat zu bevorzugen sei.10 Während Perret am Hochformat festhielt, sah Le Corbusier dagegen im Langfenster das geeignete Medium, um den neuen baulich-räumlichen Kon­ zepten Ausdruck zu verleihen.

Huis van Brienen, Herengracht, Amsterdam, 1728. Hochrechteckiges Fenster auf die Herengracht. Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Villa Le Lac (Petite Maison), Corseaux bei Vevey, 1923– 1924. Bandfenster mit Blick auf den ­Genfer See.

Ausgangspunkt für die polemischen Auseinandersetzungen in der Zeitschrift Paris Journal war die Form der Öffnungen bei der Villa Le Lac (Petite Maison) in Corseaux bei Vevey am Genfersee, die Le Corbusier 1923–1924 für seine Eltern errichtet hatte. Auguste Perret machte sie zum Anschauungsbeispiel für seine Kritik an «falschen» Fensterformen, die Le Corbusier neuerdings verwende. Er schaffe «gequälte Fensterformen, indem er die Fenster zu sehr in die Länge oder in die Breite zieht», was zwar von außen durchaus originell sei, das Innere samt seiner Relation zur Außenwelt jedoch unvorteilhaft verändere und vor allem zu einer schlechten Belich­ tung mit Tageslicht führe. Vielmehr habe ein Fenster in anthro­ pomorpher Analogie aufrecht wie ein Mensch zu sein und dadurch einen stützenden Rahmen zu bilden. Während das Langfenster «zum Anschauen eines ewigen Panoramas verurteilt», rege das tra­ ditionelle Vertikalfenster unsere Sinne an, «indem es uns einen vollständigen Raum [un espace complet] erblicken lässt: Straßen, Garten, Himmel». Demgegenüber verteidigte Le Corbusier sein Langfenster («fenêtre en longueur») in allen Belangen. Als Erstes wies er den Vor­ wurf, das Langfenster gebe zu wenig Licht, entschieden zurück, denn es gehe ihm ja gerade darum, «so viel Licht wie möglich» in den Innenraum zu bringen. Der Forderung Perrets, ein Fenster habe in Analogie zum Menschen vertikal zu sein, begegnete Le Corbusier, indem er das Langfenster mit der waagrechten Ausrichtung des Sehsinns rechtfertigte. Des Weiteren sei das Langfenster auch der adäquate Ausdruck für neue Konstruktionsmethoden wie zum ­Beispiel Stahlbeton, wodurch größere Spannweiten und somit brei­ tere Öffnungen möglich werden. Zudem komme das Langfenster den modernistischen Forderungen nach einer möglichst engen Ver­ 97

bindung von innen und außen sehr entgegen. Das Langfenster bilde die Landschaft als solches ab, sachlich, klar und unverfälscht: «Das 11 m lange Fenster lädt die gewaltige Natur zu Gast – ihre Unverfälschtheit, ihre Einheit –, den vom Sturm aufgewühlten See oder die strahlend friedliche Landschaft.»11 In seiner Analyse sucht Bruno Reichlin die Eigenschaften ­ und Besonderheiten, die für den einen oder anderen Fenstertyp spre­ chen, auf den Punkt zu bringen. Hinsichtlich dessen Abbildungs­ qualität urteilt er über das klassische Hochfenster: «Weil das Vertikalfenster dem Blick gestattet, nach unten zu den ersten und nächsten räumlichen Ebenen – Straße und Garten –, in der Hori­ zontale zu den mittleren und tieferen Ebenen – gegenüberliegende Häuser, Bäume, hügeliger Hintergrund – und nach oben in die ­unbegrenzte Tiefe des Himmels zu schweifen, zeigt es einen Bildaus­ schnitt von maximaler perspektivischer Tiefe und großer Vielfalt und Abstufung in Bezug auf Dimension, Farbigkeit und Helligkeit der Landschaft.»12 Geboten wird also ein hoher Grad an Infor­ mation von der Außenwelt und eine anregende visuelle Abwechs­ lung. Demgegenüber schreibt Reichlin über das Langfenster, dass es «das Wahrnehmen und richtige Einschätzen der Raumtiefe der ge­ sehenen Landschaft» verringere, indem es den Blick auf eine mittle­ re Ebene mit nur wenig räumlicher Tiefe reduziere. Dies werde zudem durch die große Distanz der vertikalen Fensterbegrenzun­gen unterstützt, die somit praktisch aus dem natürlichen Sehfeld ver­ schwinden. Die Folge sei eine unmittelbare Präsenz der Umgebung, die quasi an der Fensterscheibe «klebe». Oder anders formuliert: Während die klassische Befensterung mit Hochfenstern eine Abge­ schlossenheit des Innenraums erzeugt, in welcher der Mensch die Kontrolle über das ganzheitlich erfasste Szenario behält, wird beim Langfenster dagegen die angestammte Schutzhülle, oder, mit ­ Walter Benjamin, das «Futteral» des privaten Menschen aufgeweicht. In diesem Falle bezwingt die Außenwelt das Interieur, indem sie dieses mit ihrer Allgegenwart dominiert. Was nun die Belichtungseigenschaften des Langfensters betrifft, so ist aus objektiver Sicht Perrets Kritik, es gebe «kein Licht», ­weder falsch noch richtig. Vielmehr muss bei beiden Fensterforma­ ten von grundsätzlich unterschiedlichen Belichtungsverhältnissen ausge­gangen werden. Tatsächlich sorgt das traditionelle Vertikalfens­ ter für ein gutes Eindringen des Tageslichts bis tief in den Innen­ raum. Das Alternieren von Fenster- und Wandflächen sowie die tra­ditionelle Unterteilung in Haupt- und Vorfenster, Ober- und Un­ terfenster, Fensterkreuz und Fensterflügel, Fensterbank und ­Fenstersturz führen zudem zu einem abwechslungsreichen Spiel un­ terschiedlicher Hell- und Dunkelbereiche. Licht und Schatten wechseln sich nuancenreich ab, lenken den Blick von in Dunkelheit gehüllten und nur schemenhaft erkennbaren Objekten über diskret belichtete Stellen bis hin zu ungeschützt hellen Bereichen. Gegen­ über dieser vergleichsweise kontrastreichen, die sinnlich-plastische Wahrnehmung des Innenraums unterstützenden Belichtungsform hüllt das horizontale Langfenster vor allem die fensternahen ­Bereiche parallel zur Fassade in ein wenig moduliertes Einheitslicht. Entsprechend der jeweiligen Intensität des Tageslichteinfalls vari­ iert dieses zwischen grell und diffus. In der Folge erscheinen gerade in Fensternähe die Objekte und Raumzonen gleichwertig belichtet, was ihnen einen sachlichen Charakter verleihen mag. 98

Lois Welzenbacher, Haus Heyrovsky, ­Thumersbach bei Zell am See, 1931–1932. Blick aus dem Wohnraum über die Terrasse auf Zell am See.

Inszenierte Aussichten Das zunehmende Zurückdrängen der geschlossenen Wand diente nicht nur dem Lichterleben und einer Öffnung zur Umwelt; in ambi­ tionierten Wohnhausprojekten setzte man bald auch auf eine ­ge­zielte Beeinflussung des Wohnens. Anders als bei großflächigen Verglasungen – wie etwa am Bauhaus in Dessau oder der Van NelleFabrik in Rotterdam – ging es hier um ein bewusstes Durchbrechen der Mauerhülle an einer ganz bestimmten Stelle zur Erzeugung eines aktiven Blickvorgangs in die Umgebung. Intendiert wurde ein spezifisches Sichterlebnis, dem mitunter auch die wohnliche Aus­ stattung der Räume untergeordnet wurde. Man richtete sich nun di­ rekt auf das Bild aus, das sich einem durch große, sprossenlose Panoramafenster bot – Fern-sehen also avant la lettre. In besonderen Fällen konnte es vorkommen, dass das gesamte Haus auf solch eine Aussicht hin ausgerichtet und entsprechend ge­ staltet wurde. Der Österreicher Lois Welzenbacher führte dies mit seinen im alpinen Raum entstandenen Wohnhäusern zu kaum mehr überbietbarer Meisterschaft. Er schrieb diesbezüglich: «Es war darauf zu achten, dass durch leicht bewegliche Öffnungen, durch geschickte Raumkombinationen Ausblicke und Durchblicke ge­ schaffen werden, welche das Gefühl unmittelbarer Verbundenheit mit dem großen Raum der Natur vermitteln. Ich öffne den Bau nach Osten, Süden, Westen, um gleichsam eine Allgegenwart der verschwenderisch schönen Landschaft zu schaffen. [...] Beim Durch­ schreiten der Räume bietet sich die Landschaft in ständig wech­ selnden Ausschnitten dar.»13 Erlebnishafte Vielfalt, ständig variierende Ansichten und Aus­ sichten von Architektur und Umgebung waren auch die Eckpfeiler der Architekturauffassung von Le Corbusier. Er verstand das Haus als Anlage einer Erlebnissphäre, bei deren dynamischer Wahrneh­ mung – der berühmten «promenade architecturale» – es bestimmte Blicke und Aussichten einzufangen galt. Mittel hierfür waren die Fenster, die ähnlich der Linse eines Fotoapparates unterschiedliche Motive und Sinneseindrücke festhielten und damit das Gebäude zu einer eigentlichen Sehmaschine ausbildeten. Längst stand das ­Interieur nicht mehr in Opposition zur äußeren Welt; vielmehr war es diese, die in den Wohnbereich eingeschrieben und integriert wurde: Die Architektur domestiziert die unmittelbare Umgebung.

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Architektur domestiziert die Umgebung: Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Villa Le Lac (Petite Maison), Corseaux bei Vevey, ­ 1923–1924. Blick vom Garten auf den Genfer See. Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Villa Savoye, Poissy, 1928–1931. Terrasse.

Richard Neutra, Haus Wise, San Pedro, CA, 1957. Wohnraum mit Blick auf den Pazifik (folgende Doppelseite).

Endstation Glashaus Während in Europa die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ­vielerorts zu pragmatischen Architekturen des Wiederaufbaus zwan­ gen, konnten die Visionen der Moderne jenseits des Atlantiks ­weiter gedeihen. Dafür verantwortlich waren in erster Linie Persön­ lichkeiten wie Walter Gropius, Marcel Breuer oder Ludwig Mies van der Rohe; die europäische Architektenelite also, die sich nach einigen Umwegen in den USA traf und ihre Ideen und Konzepte ­einer modernen Architektur mitbrachte. Spätestens seit der weg­ weisenden, 1932 von Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson organisierten Ausstellung The International Style im Museum of Modern Art in New York war modernes Bauen auch in den USA gesellschaftsfähig geworden. Zudem hatten bereits zuvor Archi­ tekten aus Europa wie Richard Neutra oder Rudolph M. Schindler das amerikanische Publikum für die Ideen der europäischen ­Moderne mit Erfolg zu sensibilisieren vermocht. So wurde etwa die Westküste der USA ab den 1940er Jahren zu einem Eldorado für großflächig verglaste Wohnhäuser, wie wir sie heute dank der ­inszenierten Fotografien von Julius Shulman kennen. Es erstaunt nicht, dass die Emanzipation des Fensters gerade in den USA einen weiteren Höhepunkt erreichte. Allein die Vor­ stellung von Fenster als lochartiger Öffnung der Fassade scheint hin­ fällig, vergegenwärtigt man sich zwei Glashäuser, die sozusagen die Quintessenz modernistischen Bauwillens reflektieren und schon längst zu Insignien der Architektur des 20. Jahrhunderts geworden sind: das Farnsworth House in Plano, IL (1946–1951) von Ludwig Mies van der Rohe und das für sich selbst errichtete Glass House in New Canaan, CT (1949) von Philip Johnson, einem Freund und Mitstreiter von Mies. Es gibt weder Wände, noch Loch-, Band-, Pano­­ rama- oder sonstige Fenster, nur eine einzige Hülle aus Glas. ­Ähnlich wie einst das Haus Tugendhat in Brno (1928–1930) von Mies wurden auch diese beiden Bauten ausgiebig diskutiert und kriti­ siert. Ihr Einfluss auf spätere Wohnarchitekturen sollte bedeutend sein, sei es nun, dass man bewusst an das Konzept «Glashaus» anzu­ knüpfen suchte oder aber eine kritische Gegenposition einnahm.14

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Richard O. Spencer, Haus Spencer, Malibu, CA, 1955.

Wäre es nach den expressionistischen Träumereien gegangen, hätten diese in den gläsernen Bauten der Nachkriegszeit nun endlich ihre reale Erfüllung gefunden. Tatsächlich aber weist das von Paul Scheerbart zu Beginn des Jahrhunderts viel besungene «Paradies auf der Erde» mit seiner vollkommenen Durchsicht und programma­ tisch inszenierten Verschmelzung von Innen- und Außenraum ­unübersehbare Tücken auf. Neben die grundsätzliche Verunsiche­ rung des Bewohners – befindet er sich nun in einem Innen- oder Außenraum? – tritt eine visuelle, bei der das vermeintlich totale Sicht­ erlebnis zu einem ständigen Vexierspiel aus Spiegelungen und Re­ flexionseffekten wird. Dies kann mitunter sehr anregend, aber auch irritierend sein; insbesondere dann, wenn zu den Spiegelungen und Reflexionen noch Bewegungen im Außenraum dazukommen. Selbst Philip Johnson musste feststellen: «I can’t work in a glass­ house. There are too many squirrels running around.»15 104

In einem Aufsatz über die Arbeiten Dan Grahams unterstreicht Jeff Wall die trügerische Transparenz von Glas im Sinne von Un­sicht­barkeit.16 Sehr subtil beschreibt er darin die bei Tag und bei Nacht unterschiedliche Beziehung des Glass House von Philip John­son zu seiner Umgebung und das damit zusammenhängende ­Wechselspiel von Transparenz, Spiegelungen und Lichteffekten. Bei Tag vermag die Reflexion der Glaswand die umliegende Land­ schaft zu spiegeln und das Innere vor Blicken von außen abzu­­­ schirmen. Von innen bleibt der Blick in die Umgebung je nach Licht­­­­­ verhältnis­sen an­nähernd erhalten; bei zusätzlicher künstlicher Belichtung des Innenraums nehmen allerdings die Spiegelungen und Reflexio­nen desselben an der Glashaut zu. Die verstärkte Spie­ gelkraft der inneren Glasfläche kann so das Abbild des Interieurs und Bewohners über die Landschaft schieben. Damit verliert der in­ tendierte Blick von innen nach außen insgesamt an kontrollierter Gerichtetheit, er ist der Dynamik der wetterbedingten Ungewiss­ heit unterworfen.

Philip Johnson, Glass House, New Canaan, CT, 1949. Johnson am Schreibtisch, Ansicht, Innenraum. – ­Johnsons lakoni­scher Kom­ mentar angesichts der Spiegelungen im Glas: «I can’t work in a glass­house. There are too many squirrels running around.»

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Philip Johnson, Glass House, New Canaan, CT, 1949. Ansichten bei Tag mit Spiegelun­ gen der Umgebung und bei Nacht.

Eine überraschende Änderung der Raumstimmung erfährt das Gebäude in der Nacht durch das Kappen der optischen Bezüge zwischen Wohnraum und Natur: «Nachts, wenn sich die Natur ­zurückzieht und nur Schwärze und Abwesenheit hinterlässt, wird sie in ihrer Unsichtbarkeit und Leere zum Auge. […] Die Kom­ bination aus leichtem Schrecken, das das Verschwinden des Natur­ schauspiels auslöst, der Verspiegelung des Inneren und der daraus resultierenden Umkehrung der Asymmetrie führt dazu, dass die Angst in ihrer altbekannten Form von ‹Angst vor der Dunkel­ heit› zurückkehrt.»17 Der Mechanismus des Glashauses verdreht sich in sein Gegenteil: «Nachts wird der einsame Pavillon zur längst verlassenen Gruft schauriger Erzählungen, und die theoretische Unsichtbarkeit des Bewohners und seine Abscheu vor Spiegelungen weisen auf seine Verwandtschaft mit dem Vampir hin.»18 Was also bleibt jenen, die sich fürchten und der Sicherheit der gläsernen Grenze nur ein mangelndes Vertrauen entgegenzubringen vermö­ gen, als letzter Ausweg noch bestehen? Das Zuziehen des Vorhangs: In ihm trifft «die Transparenz der Moderne auf ihre profanen Schranken».19 Rehabilitierung des Dunklen Negativer Bestandteil der Nachkriegsarchitektur war ein im Namen des Internationalismus verfolgter Bauwirtschaftsfunktionalismus, der vielerorts in einer Banalisierung der klassischen Moderne mün­ dete. Die überall auftauchenden Vorhangfassaden der kommerziel­len Gebrauchsarchitektur mit ihrer Tendenz zu Fadheit und schatten­ loser Überbelichtung prägten immer mehr das Bild der Städte. Ent­ sprechend ging Ernst Bloch 1959 in Das Prinzip Hoffnung mit der funktionalistischen, eindimensionalen und entsinnlichten Archi­ tektur abstrakter Raster und Volumen hart ins Gericht: Er charak­ terisierte die neue Architektur als «Lichtkitsch» sowie «reisefertig» und «abfahrtwillig» – als drückte sie einen Abschied aus. Im Inne­ ren «hell und kahl wie Krankenzimmer», wirkten die Bauten im Äußeren «wie Schachteln auf bewegbaren Stangen». Die Befreiung der Architektur vom Muff und Zierrat des 19. Jahrhunderts be­ schrieb er insgesamt als einen zweifelhaften Fortschritt und gab vor, nun «nicht mehr verhüllt-, sondern dezidiert-seelenlos zu sein». Im Gegenzug beförderte das Unbehagen an der Ausdruckslosigkeit der gläsernen und nach rein rational-objektiven Gesichtspunkten

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or­ganisierten Architektur den Wunsch nach einer Zurücknahme des Zuviel an Transparenz. Die Moderne hatte – vor allem aus ideo­ logischen Gründen – vornehmlich Glas als Baumaterial eingesetzt, um damit ideale Hüllen für ideal erträumte Menschen zu erschaf­ fen. Gerade diesem Ansinnen wollte man nun Einhalt gebieten, um neben dem Verlust der Alltagstauglichkeit auch gegen die sinnli­ chen Defizite anzugehen, die der gläsernen Architektur angelastet wurden. In der Folge wurden der formale Ausdruck und das ­a ffektive Raumerlebnis des Betrachters wieder zu einem wichtigen Thema in der Architektur. Louis I. Kahn etwa stand als Architekt genau auf der Trennli­ nie zwischen den Postulaten der Moderne und jenem, das die ­nachfolgende Postmoderne kennzeichnete. So vertraute Kahn einer­ seits auf die Kraft seines geometrischen Formvokabulars, benutzte ­Rasterstrukturen und stabilisierende Achsen. Andererseits aber standen seine dekorlosen, sich einander durchdringenden Körper sowie seine offenen Raumkonzeptionen ganz im Zeichen eines ­modernen Raumgefühls. Die perforierte Box, von der man sich in der Moderne verabschiedet hatte, wurde von Kahn rehabilitiert: Er umgab den fließenden Raum wieder mit Barrieren, um ihn in ein stabilisierendes Gleichgewicht der Ruhe zu überführen. Mit der Zurücknahme des Zuviel an Transparenz erfolgte auch eine Rück­ kehr zum Lochfenster. Dieses freilich war größer und von raffi­ nierterem Zuschnitt als seine Vorläufer und vermittelte zwischen

Louis I. Kahn, Haus Margaret Esherick, Chestnut Hill, PA, 1959–1961. Eingangs­ bereich. Louis I. Kahn, Norman Fisher House, ­Hatboro, PA, 1960–1967. Blick von der ­Küche gegen den Essbereich.

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Lichthunger und Geborgenheitsbedürfnis. Dabei verschafften die großen und glatten Flächen seiner monolithischen Baukörper den wechselnden Tageslichtverhältnissen viel Resonanzraum. Durch Fensterbänder und Schlitze wurde das Tageslicht in ausrei­ chender Menge ins Gehäuse eingeschleust. Jenseits modernistischer Zweckgerichtetheit diente es hier nicht mehr nur zur Belichtung oder Ausleuchtung der Räume, sondern als ästhetisches Element, das die Architektur in ihrer Gestalt verändern konnte. Das Licht war dazu da, um die Wahrnehmung der räumlichen und tektonischen Ordnung zu steigern. Überdies machten wandernde Sonnenspuren und Schattenwürfe sowie stufenreiche Hell-dunkel-Kontraste die Zeit im Raum erfahrbar und bescherten dem Betrachter von mor­ gens bis abends unterschiedlichste Stimmungen. Von der Form zur Hülle Seit den 1960er Jahren war der zunehmende Bruch mit den moder­ nen Entwurfsprinzipien nicht mehr von der Hand zu weisen. Die nachfolgende Postmoderne wartete mit einem großartigen For­ menreichtum und einer bildhaften Architektursprache auf. Ver­ antwortlich für diesen Paradigmenwechsel waren vor allem auch die allgemeinen Popularisierungs- und Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft. So hatte die Pop-Art mit ihrer Verabschiedung von der abstrakten, gegenstandslosen Malerei bereits für eine ent­ scheidende Wende in der Kunst gesorgt. Sie ließ Motive des Alltags, der Konsumwelt und der Werbung einfließen. Dieses Interesse an der unmittelbaren Kommunizierbarkeit führte in der Architektur zur Wiederentdeckung von historischen oder anonym erstellten Bauten, denen man im Vergleich zu den Gebäuden der Moderne eine größere Kommunikationskraft attestierte. Hintergrund solcher Überlegungen war nicht zuletzt auch ein verändertes Verhältnis ge­ genüber dem Nutzer. Hatte der Architektur der Moderne ein sozi­ aler Moralismus innegewohnt, der nach dem Prinzip «alle Menschen sind gleich» den Akzent auf Repetition und Gleichartigkeit setzte, ließ die Postmoderne dieses avantgardistische Selbstverständnis nun hinter sich. Anstelle des autoritären Aktes trat eine an den diver­ sifizierten Wünschen der Bewohner orientierte Planung. Dabei ­liefen die postmodernen Ausbruchsversuche aus der modernisti­ schen Tradition in die unterschiedlichsten Richtungen; jedes Mittel war recht, sofern es nur stilistische Abwechslung versprach. Nach drei Jahrzehnten, in denen sich die Architekturdiskussion vorwiegend auf Formprobleme konzentriert hatte, ergab sich in den 1990er Jahren eine erneute Akzentverlagerung von der Form auf die Oberfläche. Heute erscheint Architektur zunehmend als eine veredelte, neutralisierende Hülle, die sich den wandelnden Nutzungs­ anforderungen möglichst flexibel anzupassen sucht. War der Fokus der Moderne allein auf das Architekturobjekt und dessen funk­tionale Strukturierung gerichtet, findet in Zeiten entprogram­ mierter Raumformulierung das Entwerfen einen neuen Zugang zum ­Städtebau. Die Stellung des Baukörpers und dessen kulturelle Verankerung in seinem jeweiligen Kontext sind heute zu den ­wichtigsten Determinanten für die Fassadengestaltung geworden. Daneben haben technologisch indizierte Fusionen zwischen ­Trägersystem und Oberfläche sowie die postmoderne Entdeckung des ästhetischen Eigenwertes von Materialien zu einem Status­ wechsel der Baustoffe geführt.

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Buchner Bründler Architekten, Lofthaus, Colmarerstraße, Basel, 2000–2002. ­Straßenfassade.

Neue Lust an der Transparenz: «The Un-Private House» Im Zusammenhang mit der gesteigerten Sensitivität für die Ge­ bäudehülle und die Materialien ist auch eine neue Lust an der Trans­ parenz in der Architektur erwacht. Die verheerenden Missgriffe des Funktionalismus sowie ein nach dem Erdölschock einsetzendes Bewusstsein um die ökologischen Implikationen hatten dem groß­ flächigen Glaseinsatz wohl für kurze Zeit Einhalt geboten: Tatsäch­ lich aber ist die im 20. Jahrhundert in den Menschen geweckte Sehnsucht nach mehr Licht gerade in den mittel- und nordeuropä­ ischen Ländern ungebrochen geblieben. Mit den großen Fort­ schritten in der Materialtechnik und insbesondere Glastechnologie erlebt die Transparenz seit Ende des letzten Jahrhunderts einen ­erneuten Boom, diesmal scheinbar von durchschlagenderer Kraft als zu Zeiten der Moderne. Die Gründe dafür sind allerdings nicht ­allein technischer oder ästhetischer Natur, sondern wiederum auch als ein Hinweis auf das gewandelte Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt zu werten. Sichtbarkeit und Offenheit, viel beschwore­ ne Maximen der Moderne, sind heute selbstverständlich geworden. Allerdings ist der vor nicht allzu langer Zeit noch verbotene Blick auf das Intime, Private, Verborgene längst zur banalen und er­ müdenden Alltagserscheinung geworden. Transparenz, einst ein mo­ ralisch und ideologisch aufgeladenes Schlagwort, scheint heute mehr denn je auf eine materialspezifische Eigenschaft reduziert zu

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sein, auf ein «Spiel, in dem vorgezeigt wird, was nicht mehr über­ rascht». 20 Die Zunahme des Privaten (oder Privatisierten) und der stetig voranschreitende Zerfall aller klar definierten Bereiche des öffentlichen Lebens – bereits in den 1970er Jahren von Richard Sennett erörtert 21 – sind schließlich bedeutsame Faktoren geworden, wenn es um die gestalterische Lösung des Übergangs von Innenzum Außenraum geht. Was vormals noch eine klare Trennlinie be­ zeichnete, ist nunmehr zu einer durchlässigen Membran geworden. Vor dem Hintergrund solch einer Betrachtung entpuppt sich auch die Tendenz bei einer neuen Generation von Stadtbewohnern, das private Leben im gläsern gefassten Raum öffentlich zu machen, als von Narzissmus bestimmte Allüre und mag allenfalls noch durch die maßstäblich unorthodoxe Applikation des Werkstoffs Glas zu irritieren: «Die Baupläne und tatsächlich gebauten Häuser gewinnen ihre Wirkung radikaler Modernität aus den ungewöhn­ lichen Effekten, die die Integration großer Glasflächen auf die Vor­ stellung von ‹Privatleben› hat.»22 Die Bewohnerschaft der gläsernen Wohnräume, die sich als dezidiert urban und fortschrittlich dekla­ riert, indem sie die Verhüllung des privaten Lebens als spießbürger­ lich verurteilt und stattdessen im «Un-Private House»23 logiert, folgt in letzter Konsequenz bürgerlich-konventionellen Paradigmen des Wohnens. Repräsentation und Selbstdarstellung eines be­stim­m­ ten Lebensstils und Geschmacks sind dabei die zentralen Fak­toren und die Glaswand das Medium, um diese nach außen zu trans­ portieren. Was wir längst schon aus anderen Bereichen der Architek­­ tur kennen, hat auch die Sphäre des Wohnens erreicht: Die Fenster als solches sind verschwunden und in einer gläsernen ­Fassade aufge­ gangen. Diese ist zum Screen, zum Medienträger geworden, auf dem sich – je nach Position des Betrachters – der Lifestyle der Bewoh­­­ ner oder die Urban landscape des aufgewerteten Trendquartiers ­abzeichnet. Semitransparente Hüllen: verschleierter Blick und Lichtdiffusion Andererseits scheint man auch diese völlige Sichtbarkeit wieder zu­ rücknehmen zu wollen. So präsentiert sich in einer Zeit, da statt ­realer Durchsicht immer mehr auch intermediäre Zustände zwischen Exhibition und Vermummung gefragt sind, die semitransparente Fassade als eine neue Option. Während man im Zuge der von der Moderne eingeforderten Materialehrlichkeit und visuellen Objekti­ vität um möglichst dünne Glashäute und eine Offenlegung des konstruktiven Systems bemüht war, zeichnen sich heute die Projek­ te oft durch komplexe Fassadenschnitte mit einer Vielzahl von ­Materialien und Zwischenräumen aus. Neue materialtechnische Er­ rungenschaften ermöglichen es, dass gläserne Außenhäute heute sämtliche Schutzfunktionen von Isolation, Schalldämmung, Klimaund Sonnenschutz bis hin zur Energieerzeugung übernehmen ­können. Überdies bietet die semitransparente Hülle die Gelegenheit zur Grenzziehung zwischen innen und außen und ­liefert damit dem von der Postmoderne in die Mündigkeit entlasse­nen Nutzer ­jene Alltagstauglichkeit, die ihm die Transparenz der Moderne schuldig blieb. Gesucht wird keineswegs mehr eine vollkommene Ab­ schottung oder Einkapselung wie im 19. Jahrhundert, sondern ein ­abgeschirmter Bereich, der dem Individuum den ­partiellen Rückzug aus der Wachstumswelt und ihrer Überfülle an Reizen ermöglicht. Anders als die großen Panoramafenster der ­Moderne schaffen

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die heutigen Membranen, Schirme, Filter oder Sichtgitter eine ­gewisse Distanz zwischen Betrachter und Objekt. Während sich die transluzenten Materialien dem visuellen Ansturm von außen ent­ gegenstellen, erlauben sie es dem Bewohner im ­Innenraum, sich zeit­ weilig aus dem Raumkontinuum zu entfernen. Ebenso zerlegen Gitter und Schleier die Außenwelt in wechselnde Ausschnitte oder reduzieren sie im Extremfall auf ein konturloses Schema. Dabei trüben sie nicht nur den Scharfblick, sondern sie fun­gieren gleich­ zeitig auch als ein Weichzeichner des Lichts.

SANAA (Kazuyo Sejima & Ryue Nishizawa), Haus M, Tokio, 1996–1997. Innenhof. Henke & Schreieck, Wohnbau der ÖBV, Wien-Hernals, 1990–1993. Loggia einer Maisonette-Wohnung. Baumschlager & Eberle, Wohnanlage ­Sebastianstraße, Dornbirn, Vorarlberg, 1999–2001. Fassadenhaut aus mit ­Siebdruck belegten und verschiebbaren Glasscheiben.

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Die Verwendung semitransparenter Glasmaterialien, translu­ zenter Plastikverkleidungen oder einer unendlichen Anzahl an ­perforierten Materialien bringt Räume hervor, die sich vom schat­ tenlosen Licht moderner Räume stark unterscheiden. Ihre Vorgänger finden sich etwa in den opaleszierenden Schirmwänden traditio­ neller japanischer Häuser, den illusionistischen Filterungs- und Ver­ schleierungseffekten des Jugendstils oder auch bei Frank Lloyd Wright und Pierre Chareau, die im Gegensatz zu ihren Kollegen auf Eintrübungen durch Farbgläser und Glasbausteine setzten. Dem Lichteinfall wird damit nicht mehr eine «reinigende» und Klarheit schaffende Bedeutung zugeschrieben, und ebenso wenig soll er sich nicht nur in ästhetischen Attraktionen erschöpfen. Stattdessen ist man heute vielmehr um die Schaffung einer Atmosphäre be­ müht, bei der direkte Akzentbeleuchtungen und insbesondere auch indirekt in den Raum einstrahlendes Licht zum Teil eines sinn­ lichen Raumerlebnisses werden. Dabei sind die Mittel der Lichtdra­ maturgie vielfältig. Opake, durchscheinende Wände lassen das Licht gedämpft erscheinen. Sie tauchen das Innere in eine wolkige Transluzenz und verleihen ihm ein blasses traumhaftes Glühen. Zugleich erzeugen sie scheinbar die Diffusion des Materiellen und sorgen damit für weiche Formen und feinstoffliche Erscheinungen, welche die intuitive Sinneswahrnehmung ansprechen. Sind es ­dagegen Schirme, Schotten oder Jalousien, an denen sich das Licht schattenwirksam und kleinmaßstäblich bricht, zeitigen diese von geheimnisträchtigen Nuancierungen bis hin zu narrativen Lichtund Schattenbildern ganz unterschiedliche Effekte, mit denen die ­subjektive Imaginationskraft erregt wird. Metamorphosen der Fassade Seit den 1990er Jahren haben die Fortschritte in der Materialtech­ nologie sowie ein verändertes Architekturverständnis der Trans­ parenz neuen Auftrieb verschafft. Der Minimalismus und mit ihm die Aufforderung, zu einer neuen Einfachheit zurückzukehren, schien vielen Architekten eine adäquate Antwort zu sein auf die ver­ wirrende Stil- und Formvielfalt vergangener Jahre. Man zelebrierte eine neue Materialverliebtheit, die nicht selten von einem ver­ schwenderischen Glaseinsatz begleitet wurde. Dieser Trend zu redu­ zierten Kisten mit raumhohen Verglasungen – von Kenneth Frampton als «Null-Grad-Architektur» bezeichnet – hat in den letz­ ten Jahren auch den Mainstream erfasst – bis hin zum sozialen Wohnbau; hier allerdings oft in einer Weise, die von schwindender Gestaltungskraft und einem verarmten Formrepertoire zeugt. ­Abgesehen von ästhetischen Defiziten und der Frage nach der sozi­ alen Akzeptanz geht es bei diesen Glaskisten aber auch um ­bautechnische Schwierigkeiten, die sich trotz zahlreicher material­ technischer Errungenschaften ergeben. So ist ein ganzes Arsenal von Verteidigungsmaßnahmen notwendig, um die blanke Glashülle gegen die zahlreichen Umwelteinwirkungen und Witterungsein­ flüsse wirksam abzuschirmen. Dabei handelt es sich um so profane Erfordernisse wie Sonnen-, Blend-, Sicht- oder Einbruchschutz. Zwar kann diesen Anforderungen teilweise mit Maßnahmen im In­ nenraum begegnet werden, etwa mittels Jalousien, Vorhängen oder Gardinen jeglicher Art; die Frage nach der Regulierung der direkten Sonnenlichteinstrahlung, eine der wichtigsten Forderun­gen für ein behagliches Raumklima, bleibt jedoch trotz energie­opti­

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mierter Gläser bestehen. Die im Zuge der heutigen Ressourcenund Umweltproblematik neu definierten Ziele und Methoden zur Klimaregulierung in Gebäuden konzentrieren sich dabei darauf, den Bedarf an endlichen Energiequellen zu reduzieren. Anders als früher, als die Fassadengestaltung vielmehr von der beruhigenden Gewissheit um die technischen Konditionierungsmöglichkeiten ­bestimmt war, besteht heute die Dringlichkeit, die Hülle in Abhän­ gigkeit vom Außenklima auszubilden. Seit geraumer Zeit greift man deshalb gerne und vermehrt wieder auf baulich unabhängige sekundäre Steuerungselemente in der Fassade zurück, um das Strahlungsangebot an vorderster Front zu reduzieren und damit die Anforderungen an die Gebäudetechnik merklich zu senken. Da, wo einst Le Corbusiers Brise-soleil als eigenständiges Bauelement von einem Prozess kündigte, bei dem die Außenhülle des modernen Gebäudes im Dienste der Klimaregelung allmählich wieder kom­ plexer wurde, bescheren uns heute die pragmatischen Applikationen der Sonnenlichtabwehr nicht zuletzt auch die Möglichkeit, jenseits von stilistischen Ismen und willkürlich geschaffenen Formen wie­ der eine eigene architektonische Sprache zu entwickeln. Wiederverhüllung des Enthüllten: Sonnen- und Sichtschutz Waren die Baukörper nach den Maximen der modernen Archi­ tekturbewegung nach «Licht, Luft, Sonne» endlich aufgerissen und aufgegliedert, die Räume mit vielen Fenstern oder großflächigen Verglasungen dem Tageslicht und zur Umgebung hin geöffnet, ge­ wann ein Charakteristikum der Fassade zusehends an Bedeutung, das durch das Fenster selbst hervorgerufen, durch dieses allein aber nicht bewältigt werden konnte. Mit der Notwendigkeit zur An­ passung des Fensters an das unterschiedliche Strahlungsangebot des Tages- und Sonnenlichts, an den natürlichen Tag-Nacht-Rhyth­ mus und an die individuellen Bedürfnisse nach Sicherheit und Abge­ schlossenheit standen die Architekten der Moderne folglich vor

Marcel Breuer, Haus Grieco, Andover, MA, 1954–1955. Fassade mit vorgesetztem ­L amellenrost.

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einem Dilemma: Eben erst hatten sie den Baukörper von Ornament und Dekor befreit, so sahen sie sich nun gezwungen, diesen wie­ derum mit Sonnen- und Blendschutzvorrichtungen zu verunstalten. So schrieb Flora Steiger-Crawford rückblickend: «Rudi [= Rudolf Steiger] wusste vom Zett-Haus, wie schwierig es war, bei großen Fenstern, die bis zur Decke reichen sollten, einen Sonnenschutz an­ zubringen, ohne die Ästhetik des Baus zu stören.»24 Dieser ­Umstand aber sollte sich zu einem äußerst fruchtbaren Stimulus entwickeln, um auf unterschiedlichste Art mit dem Thema Sonnen- und ­Blendschutz umzugehen. Bezeichnend ist, dass es dabei schon bald nicht mehr nur um einen optimalen Sonnen- und Blendschutz ging, sondern dass sich dieser Faktor zusehends verselbständigte. Bestimmte architektonische Lösungen wurden – durchaus im Sinne einer neuen Ornamentik – zu tragenden Ausdruckselementen der Fassade und somit auch einer bestimmten ästhetischen Haltung. Es spricht für sich, wenn Aladar und Victor Olgyay in ihrer wichtigen Publikation über Sonneneinstrahlung und Beschattung als pro­ grammatisches Motto ein Statement von Marcel Breuer platzieren: «The sun control device has to be on the outside of the building, an element of the facade, an element of architecture. And because this device is so important a part of our open architecture, it may de­ velop into as characteristic a form as the Doric column.»25 Was den Sonnenschutz anbelangt, kamen bei den modernen Bauten traditionelle Formen wie zweiseitige Klappläden oder vertikale Schiebeläden vorerst aus Gründen ihrer «Un-Modernität» überhaupt nicht in Frage. Zudem war deren Praktikabilität bei größeren ­Fens­tern und den neu in Mode gekommenen Bandfenstern wesent­ lich eingeschränkt. Mit Ausnahme jener Architekten, die den ­Sonnen- und Blendschutz einfach negierten und auf Lösungen im Gebäudeinneren vertrauten, setzte man nun entweder auf flexible Konstruktionen wie Rollläden oder Jalousien oder aber auf eine fixe Integration des Sonnenschutzes in die Architektur. Was fixe Kons­ truktionen betrifft, sollten diese in Form von Vordächern, horizon­ talen und vertikale Blenden, Brises-soleil, Loggien und ­Balkonen oder auch fest montierten Lamellen schon bald zu bestim­menden Elementen der Fassadengestaltung werden. Zu einer frühen Meisterschaft im Umgang mit vor Sonne schüt­ zenden Vordächern hatte es Frank Lloyd Wright bereits in seinen zwischen 1893 und 1910 entstandenen Prairie Houses gebracht. In den Häusern Martin, Buffalo, NY (1904), Robie, Chicago, IL (1908) oder Gale, Oak Park, IL (1909) verband er Sonnenschutz und ­architektonisches Programm organisch zu einem kohärenten Aus­ druck. Während die weit auskragenden, flach geneigten Dächer auf den niedrig proportionierten Bauten die horizontale, sie umge­ bende Landschaft widerspiegeln sollten, schufen sie auf der anderen Seite reizvolle, vor der Sonneneinstrahlung geschützte Außenbe­ reiche. Eine fruchtbare Inspiration in der Wright’schen Architektur fanden ein paar Dekaden später auch jene Architekten, welche die zahlreichen eleganten Wohnhäuser insbesondere an der West­ küste der USA projektierten. Neben dem großzügigen Einsatz von Glas wurden hier unterschiedliche Arten von vor- und auskragen­ den Dachkonstruktionen zu einem charakteristischen Gestal­ tungsmittel. Sonnenschutz und architektonischer Ausdruckswille gingen einmal mehr eine enge Beziehung ein. 114

Pierre Koenig, Case Study House No. 22 (Haus Stahl), Los Angeles, CA, 1959–1960.

Zu der wohl bekanntesten Form von fixem Sonnenschutz aber mutierten im 20. Jahrhundert fest installierte Lamellen und Sonnen­ brecher (Brises-soleil), als deren «Erfinder» Le Corbusier zeichnet. Bereits Anfang der 1930er Jahre hatte er mit externen Sonnen­ schutzkonstruktionen bei Projekten in heißen Klimaregionen zu ex­ perimentieren begonnen (Villa in Karthago, Wohnhausanlage in Barcelona, Bauprojekte in Algier). In eindrücklichster Form kamen die Sonnenbrecher schließlich bei der Unité d’habitation in ­Marseille (1945–1952) zum Zug. Eine Rasterstruktur überzieht Ost-, Süd- und Westfassade des in Nord-Süd-Richtung orientierten Wohnkomplexes. Das Alternieren von zurückspringenden Berei­ chen, Brüstungsbändern und Brises-soleil bestimmt ganz wesentlich das plastische Erscheinungsbild der Fassade und tritt in Beziehung zu der mit biomorphen Betonskulpturen bestückten Dachland­ schaft. Der Brise-soleil mag auf den ersten Blick nicht zuletzt dank seiner fast archaischen Einfachheit als perfekte Lösung bestechen: 115

Le Corbusier, Unité d’habitation, Marseille, 1945–1952. Durch vertikale und hori­ zontale Brises-soleil plastisch akzentuierte ­Fassade, Brises-soleil im Ladengeschoss und in der Loggia ­einer Wohneinheit.

«The brise-soleil is one of his [= Le Corbusiers] most masterly in­ ventions, one of the few last structural innovations in the field of en­ vironmental management that we have seen», schreibt 1969 Reyner Banham. 26 Dies trifft im Einzelfall beziehungsweise bei einer ­optimalen Ausrichtung gegen die Sonnenbahn wohl zu. Gerade bei der Unité sind die Brises-soleil allerdings in gleicher Ausführung gegen Osten, Süden und Westen angebracht, was den tatsächlichen Besonnungsverhältnissen in keiner Form Rechnung trägt. Nur die Wohnungen an der schmalen Südseite – sie sind von April bis September großzügig beschattet und erhalten im Winter bis zu acht Stunden Sonnenlicht – können von der Funktionalität der Sonnen­ brecher profitieren. Die Bemühungen um optimalen Sonnenschutz sind hier offensichtlich auch von ästhetischen Fragen überlagert: Le Corbusier hatte wohl eher den plastisch-skulpturalen Gesamtaus­ druck seines in Sichtbeton gehaltenen Gebäudes vor Augen als ­einen differenzierten Umgang mit unterschiedlichen Tageslicht­ qualitäten. Insgesamt illustriert das Beispiel der Unité die Grenzen, die dem fix montierten Sonnenschutz aufgrund seiner Nicht­Adaptierbarkeit an tageszeitliche und saisonale Schwankungen des Sonnenverlaufs auferlegt sind. 117

Zum eigentlichen Tummelfeld in Sachen Sonnenschutz sind in der ­Architektur des 20. Jahrhunderts aber flexible Konstruktionen an der Fassade geworden. Aufgrund der Typenvielfalt – das Spek­ trum reicht von Rollläden und Lamellenstoren über Markisen, Klapp-, Falt- und Schiebläden bis zu elaborierten Varianten (zum Beispiel Isolierverglasung mit integrierter Lamellenstore) – bieten sich unterschiedlichste Gestaltungsmöglichkeiten an. Trotz ­a n­fänglicher Vorbehalte erfreuten sich auch zu Zeiten des Neuen Bauens insbesondere Rollläden und Markisen zunehmender ­Beliebtheit, ­dies nicht zuletzt dank ihrer relativ diskreten und fein­ gliedrigen Konstruktionsweise, die es erlaubte, sie auch nachträglich auf der ­Fassade anzubringen. Auch hier erfolgte die erfolgrei­che ­Integration dieser Bauelemente in das architektonische Pro­gramm, um den Bauten einen bestimmten Ausdruck zu verleihen: Wer wollte mit den meist blau-weiß gestreiften Sonnen­markisen nicht den befreienden Aufenthalt außerhalb der vier Wände an einem sonnenverwöhnten Ort oder an einer mediterranen Strandprome­ nade assoziieren?

Entwurf für ein Inserat zur besseren ­Vermietung der 6-Zimmer-Einfamilienhäu­ ser der Werkbundsiedlung Neubühl, ­Zürich-Wollishofen (1928–1932). Brinkman & van der Vlugt, Haus ­Sonneveld, Rotterdam, 1929–1933.

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Riegler & Riewe, Wohnbau, Graz-Strass­ gang, 1992–1994. Fassade mit Schiebe­ läden.

Heute sind im Wohnbau auch die alten Klapp-, Falt- und Schie­ beläden wieder in Mode – nicht zuletzt, da sie der Gestaltung des Sonnenschutzes eine kinetisch-spielerische Dynamik ver­leihen. Die endgültige Renaissance des Schiebeladens hat wohl der viel beach­ tete Wohnbau in Graz-Strassgang (1992–1994) von ­Riegler & Riewe besiegelt. Hier sind es horizontale Schiebeläden vor den franzö­si­ schen Fenstern der Ost- und Westfassade, die das ­Äußere des Ge­ bäudes ganz wesentlich bestimmen. Im Inneren sind alle drei Raum­­schichten durch zahlreiche Öffnungen (Schiebe- oder Falt­tü­ ren) miteinander verbunden und offerieren vielfältige Nutzungs­ möglichkeiten, was auch mittels der Schiebeläden nach außen transportiert wird: Die gegen Osten aus Streckmetall ausgebildeten und gegen Westen mit einem Nylon­gewebe überzogenen Läden ­ermöglichen eine individuelle Regu­lierung des Tageslichteinfalls so­ wie der Ein- und Ausblicke. Tageslicht spielt dabei – durch die ­jeweilige Position der Schiebeläden moduliert und dosiert – eine entscheidende Rolle. Eine Spur verspielter als Riegler & Riewe konzipierten Herzog & de Meuron die Faltladen-Konstruktion am Wohn- und Geschäfts­ haus Schützenmattstraße in Basel (1991–1993). Die Straßenfassade des auf der schmalen und tiefen Parzelle errichteten Gebäudes, ­des­sen Wohnungen sich um einen südlich gegen das Nachbargrund­ stück geöffneten Innenhof gruppieren, ist vollständig verglast. Vor diese Glasfassade ist eine Vorhangkonstruktion aus gusseiser­nen, in ihrer Musterung an Kanaldeckel erinnernden Faltläden gesetzt. Diese sind individuell auffaltbar und verleihen dem Gebäude immer wieder neue Erscheinungsformen: Offene und geschlossene Läden 119

Herzog & de Meuron, Wohn- und Ge­ schäftshaus, Schützenmattstraße, Basel, 1991–1993. Ansicht von der Straße. Henke & Schreieck, Wohnbau der ÖBV, Wien-Hernals, 1990–1993. Fassade mit Schiebeläden.

führen in ihrem Wechselspiel zu einer reizvollen Modulation der Fassade, wobei die wellenartigen Lichtschlitze über die Stockwerke hinweg immer neue vertikale Verbindungslinien beschreiben. Bei geschlossenen Läden im Sonnenlicht wirkt das Gebäude hinge­ gen abgeschlossen, vermittelt einen introvertierten Charakter. Ein fast zauberhaftes Bild bietet sich nachts, wenn Licht aus den Woh­ ­­nun­gen wie durch eine textile Fensterbekleidung nach außen fällt. Durch einen dynamischen und fast künstlerischen Einsatz von Sonnenschutzelementen erzeugen die Architekten hier verschiedene Aggre­gatszustände eines Gebäudes und tragen derart auch wesent­ lich zur Lebendigkeit des unmittelbaren städtischen Umfelds bei. 120

Wiederum horizontale Schiebeläden sind es, die den Wohnbau in der Frauenfelderstraße in Wien-Hernals (1990–1993) von Henke & Schreieck prägen. Die individuell anpassbaren Läden vor den Maiso­ nette-Wohnungen des Südflügels der Anlage leisten auch hier – ­ wie in Graz-Strassgang – mehr als bloßen Sonnenschutz. Sie stehen für ein Raumprogramm, das gegen die Beengtheit und Starrheit normierter Lösungen ein Höchstmaß an Öffnung und Flexibilität setzt. Die angebotene offene Struktur kann von den Bewohnern nach eigenen Wünschen reguliert werden – auch im großzügig bemes­ senen Übergangsbereich zwischen innen und außen. Vorgeschaltete Loggien formen zusammen mit Jalousien und den Schiebeläden mehrere Schichten von Filtern zwischen Öffentlichkeit und Privat­ heit. Individuell moduliert und je nach gewünschter Raumstim­ mung dosiert, wird dabei das Tageslicht zum entscheidenden Faktor. Auch im Hofbereich wird dem Lichteinfall besondere Aufmerk­ samkeit zu Teil: Die Maisonette-Wohnungen sind hier mittels ­glasüberdachter Laubengänge erschlossen, die gegen oben zurück­ gestaffelt sind, um mehr Licht und Luft einzulassen. Es sind dies gerade die räumliche Wandelbarkeit und Offenheit, die sich auch in den Detaillösungen widerspiegelt, kombiniert mit einer durch­ dachten, vielfache Bezüge zur bestehenden baulichen Umgebung herstellenden Architektur, welche die Qualität dieses Wohnbaus ausmachen. Mehrschichtigkeiten Eine weitere Möglichkeit zur Licht- und Sichtabwehr liegt in der Ausbildung einer zweiten Fassadenschicht, die – ähnlich wie Balko­ ne oder andere Auskragungen aus der Fassade – ebenfalls als ­natürlicher Sonnenschutz dienen kann. Wie wenig es braucht, um Mehrschichtigkeit erfahrbar zu machen, zeigt Egon Eiermanns ­eigenes Wohnhaus in Baden-Baden (1962). Die großen Glasflächen sind hier nur ein Teil der schichtweise aufgebauten Fassadenkons­ Egon Eiermann, Haus Eiermann, BadenBaden, 1962. Balkon mit beweglichen Sonnenschutzsegeln.

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Baumschlager & Eberle, Wohnanlage ­Mitterweg, Innsbruck, 1996–1997. Außen­ haut aus Eichenholzlatten. Baumschlager & Eberle, Wohnen am ­Lohbach, Innsbruck, 1997–2000. Gebäude­ haut mit Klappläden aus Kupfer.

truktion. Eine vorgesetzte, feingliedrige Stahlkonstruktion, an der weiße Sonnensegel aufgehängt sind, definiert einen Übergangs­ bereich, dessen Boden aus Balkonplatten mit in kreisförmigen ­Öffnungen eingelassenen Blumentöpfen besteht. Jalousien und ein­ fache Leinenvorhänge ergänzen die Sonnensegel und ermöglichen einen subtilen Umgang mit Licht und Schatten. Mit einfachsten Mit­ teln erzeugt Eiermann eine räumlich erfahrbare, zweite Fassaden­ ebene und schafft einen differenzierten, individuell gestaltbaren Übergang zwischen innen und außen. Die Regelung unterschiedli­ cher Tageslicht-Intensitäten trägt dazu entscheidend bei. Sicher das auffälligste Merkmal der Wohnanlage Mitterweg in Innsbruck (1996–1997, Baumschlager & Eberle) ist die raffinierte Außenhaut aus Eichenholzlatten. Sie umhüllt, regelmäßig durchbro­ chen von Öffnungen, die Wohnblöcke in balkontiefem Abstand. Durch die versetzt angeordneten Öffnungen entsteht eine Art geo­ metrisches Muster, das den Bauten eine sachlich-urbane Note ­verleiht, gleichzeitig aber durch den Baustoff Holz die lokale Tradi­ tion respektiert. Darüber hinaus formt der Eichenholzrost ­einen umlaufenden Außenraumbereich, der an der Nord- und Südseite schmaler ist und somit den rechteckigen Baukörper im Grundriss zu einem Quadrat erweitert. Während die schmaleren Balkonbereiche als Gang oder Abstellfläche genutzt werden können, sind auf der West- und Ostseite eigentliche Freiraumzimmer vorgelagert. Den Übergang zwischen Außenbereich und Umgebung markiert der Ei­ chenholzrost als halb durchlässige Membran, die durchaus als ­pointierter Beitrag zum Thema Transparenz zu verstehen ist. Aus-, Durch- und Einblicke ergeben sich je nach Standort immer wieder neu, die feinen Eichenholzlatten können schließlich auch als Filter für das einfallende Tageslicht dienen, das durch die Vertikal­ fens­ter tief in den Wohnbereich vordringen kann. Mit einfachen Mitteln ist hier eine spannende und abwechslungsreiche Mehrschich­ tigkeit entstanden, die wesentlich zur hohen Wohnqualität am ­Mitterweg beiträgt. Eine Wohnqualität im Übrigen, die auch die Wohnanlage «Wohnen am Lohbach» (Hötting-West, Innsbruck, 1997–2000) der gleichen Architekten aufweist. Anstelle des Holz­ rasters sind es hier horizontale Klappläden aus Kupfer, welche die umlaufende Balkonzone umfassen und die Fassade vollständig abschließbar machen. Im Vordergrund steht das individuelle Be­ spielen dieser ­äußeren Gebäudehaut je nach Wunsch der Bewohner. Ins rechte Licht gerückt In verschiedenen Entwürfen aus jüngerer Zeit zeigt sich das große Fenster als wesentliches Merkmal. Dabei wird der Anteil der Wand bisweilen auf ein Minimum reduziert, denn Abstraktion und for­ male Reduktion haben sich in weiten Kreisen als Inbegriff einer mo­ dernen, fortschrittlichen Wohnkultur etabliert. Diese Haltung hat zu einem eigentlichen Bedeutungsverlust des Fensters als traditio­ nellem Raumgestaltungs- und Gliederungselement geführt; mit der Konsequenz, dass dessen Reduktion auf bloße Glasflächen meist in einer nivellierten, spannungslosen Raumausleuchtung resultiert und das natürliche Privatheitsempfinden untergraben wird. Ent­ sprechend scheint es lohnenswert, sich wieder auf das zurückzube­ sinnen, was das Wohnhaus eigentlich ist, nämlich primär ­Territorium und Hülle für die Privatsphäre des Menschen. Dessen Aufgabe liegt neben dem Beherbergen im Regulieren und Schützen vor der

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MVRDV, Wohnhaus, Amsterdam-Borneo Sporenburg, Borneo eiland, 1999–2000.

umgebenden Außenwelt. Andernfalls mag gerade in Zeiten wie heute, da die Umwelt von hohen Bebauungsdichten und einer allge­ meinen visuellen Überfrachtung bestimmt ist, umso mehr ­gelten, was bereits eine frühe Kritik am übermäßigen Glaseinsatz der Mo­ derne bemängelt: «Wer die Möglichkeit hat, ein nach außen voll­ ständig umgestülptes Haus längere Zeit zu bewohnen, kann die Folgen solcher Einseitigkeit und Übertreibung am eigenen Leibe leicht erfahren. Dann wird man gewahr, dass einem das ewige Zwie­ gespräch mit der Außenwelt, einem immer gleich bleibenden splen­ diden und anspruchsvollen Alpen- und Seepanorama in gewissen Wetterlagen und Seelenstimmungen geradezu furchtbar auf die Nerven geht.»27 Heute besteht umso mehr die Notwendigkeit, wieder über jene Eigenschaften nachzudenken, die eine gute Fassade ausma­ chen – insbesondere über eine nützliche Dimensionierung der Öff­ nungsgröße, die sich gerade im Wohnbau nicht allein in guten (Aus-)Sichtbedingungen erschöpft, sondern auch in einem austarier­ ten Lichteinsatz. Im Gegenzug kann eine einheitliche und damit undifferenzierte Behandlung des wechselseitigen Verhältnisses zwi­ schen Licht und Sicht zu unliebsamen Folgeerscheinungen führen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Bemerkung von ­Hermann Czech, dass «unser übliches Wandfenster [...] eher ein Beispiel von unbewältigtem Tageslicht» sei, da es gerade die hellsten und dunkelsten Stellen in einem Raum aufeinanderprallen lässt. Durch die große Helligkeit erzwinge es geradezu das Hinaussehen, was mitunter einer beachtlichen Belastung nahekommen könne. 28 Czech weist darauf hin, dass dieses Dilemma bereits 1921 Bruno Taut thematisierte, indem er «Fenster, einheitlich ausgebildet, in ­ihrer Anordnung unterschieden als Fenster zur Beleuchtung des Raumes und solche zum Hinaussehen» forderte, ferner 1927 Walter Gropius, der eine «Trennung von Belichtung, Belüftung und Aus­ sicht» vorschlug. Zwar handelt es sich bei den Vorschlägen von Taut und Gropius einmal mehr um Ansichten ausgewiesener Moder­ nisten, sie können aber heute noch zu einem überlegten und den Verhältnissen angepassten Einsatz von Fenstern anregen. Allgemein­ gültige Erfolgsrezepte, die unabhängig von lokalen Verhältnissen und individuellen Ansprüchen zur Anwendung gelangen, sind ­dabei wenig praktikabel, und nur allzu oft scheint sich gebaute Archi­ tektur in der Applikation großflächiger Verglasungen über eine ­intelligente Lösung des Wechselspiels zwischen Licht und Sicht hin­ wegmogeln zu wollen. Ein Rückblick auf die Architekturkonzepte der Vergangenheit hat indessen nicht nur die wechselhafte Rolle der Lichterschei­ nungen vor Augen geführt, sondern soll gleichzeitig auch Anlass sein, um für die Zukunft dezidiert mehr Lichtfreiheit zu postulie­ ren. Gerade im Wohnbau, wo keinerlei Notwendigkeit für gleich­ geschaltete Belichtungssituationen besteht, kann das Wagnis eines Zuviels wie auch eines Zuwenigs an Licht risikolos eingegangen werden. Dabei wird die unterschiedliche Quantifizierung des Lichts genauso wie der Umgang mit variierenden Öffnungsarten für einen fokussierten, entgrenzten oder verschleierten Blick zum Spiel­ raum für Innovation. Zudem bleibt zu hoffen, dass sich die Archi­ tekten wieder vermehrt dem gestalterischen Potenzial des Materials Glas zuwenden. Noch immer wird der Baustoff – ganz in der ­Manier der Moderne – häufig auf das Phänomen der Transparenz 124

reduziert und infolgedessen eingesetzt, um Raumgrenzen zu ­eliminieren. Nur wenige zeitgenössische Beispiele mit flächende­ ckender Verwendung von Glas demonstrieren dagegen die notwen­ dige Sensibilität, um mit den Eigenschaften des Materials zu spielen: mit glasspezifischen Effekten wie Verzerrung, Irritation, Spiegelung oder Verfärbung. Andere Bauten wiederum gehen von einer sinnvollen und ausgewogenen, vielleicht auch überraschen­ den Kombination von Glas mit anderen Materialien aus oder ­m ischen verschiedene Glasarten und -qualitäten. So können span­ nende, gut belichtete Räume entstehen, die nicht nur von den unsichtba­ren, sondern auch von den sichtbaren Qualitäten von Glas ­bestimmt sind. Auch an den Verdikten der Moderne gegen das Ornament und der Postulierung und Verherrlichung konstruktiver Ehrlichkeit ­haben die Architekten lange Zeit schwer getragen; aber nach Epo­ chen erzwungener Askese sind sie heute damit beschäftigt, das ­Dekor neu zu definieren. So erweisen sich die auf Fassaden applizier­ ten Sonnen- und Sichtschutz-Konstruktionen längst als wesent­ licher Bestandteil des architektonischen Ausdrucks. Seien es fixe Bauteile oder bewegliche Steuerungselemente, sie alle scheinen ­gegenwärtig beflügelnd auf das Baugeschehen zu wirken und ­ver­leihen damit dem Tageslicht auch über seine Funktion als Licht­­ spender hinaus eine ganz zentrale Rolle in Bezug auf die Fassa­ dengestaltung.

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1 Adolf Krischanitz, «Loch und Wand», in: Günther Uhlig, Niklaus Kohler, ­Lothar Schneider (Hrsg.), Fenster. Architektur und Technologie im Dialog, Braun­ schweig/Wiesbaden: Vieweg, 1994, S. 75. 2 Kyra Stromberg, «Das Fenster im Bild – das Bild im Fenster / The Window in the Picture – The Picture in the Window», in: Daidalos, Nr. 13, 1984, S. 54–63; 54. 3 Günther Uhlig, Jan A. Wolff, «Vier Spots aus der Kulturgeschichte von Fenster und Tür», in: Günther Uhlig, Niklaus Kohler, Lothar Schneider (Hrsg.), Fenster. Architektur und Technologie im Dialog, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1994, S. 20–33; 20. 4 Ibid. 5 Vgl. hierzu Beatriz Colomina, Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambridge, MA – London: The MIT Press, 1994, v.a. S. 233ff. und 283ff. 6 «Loos m’affirmait un jour: ‹Un homme cultivé ne regarde pas par la fenêtre; sa fenêtre est en verre dépoli; elle n’est là que pour donner de la lumière, non pour laisser passer le regard.›» (Le Corbusier, Urbanisme, Paris: Crès, 1925, S. 174). Hier zit. nach der dt. Ausgabe: Städtebau, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1929, S. 150–152. 7 Heinrich Kulka, Adolf Loos. Das Werk des Architekten, Wien: Schroll, 1931, Abb. 250. 8 M.H. Baillie Scott, Häuser und Gärten, Berlin: Wasmuth, 1912, S. 36. 9 Josef Frank, «How to plan a house», zit. nach Johannes Spalt, Hermann Czech (Hrsg.), Josef Frank 1885–1967, Ausstellungskatalog, Hochschule für angewandte Kunst, Wien, 1981, S. 156–167; 163. 10 Vgl. Bruno Reichlin, «Für und wider das Langfenster. Die Kontroverse Perret – Le Corbusier / The Pros and Cons of the Horizontal Window. The Perret – ­Le ­Corbusier Controversy», in: Daidalos, Nr. 13, 1984, S. 65–78. 11 «La fenêtre de 11 mètres introduit l’immensité du dehors, l’infalsifiable unité d’un paysage lacustre avec tempêtes ou calmes radieux.» (Le Corbusier, Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme, Paris: Crès, 1930, S. 130). Hier zit. nach der dt. Ausgabe: Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Berlin: Ullstein, 1964 (Bauwelt Fundamente 12), S. 126. 12 Reichlin, «Für und wider das Langfenster», op.cit., S. 72. 13 Lois Welzenbacher, «Der geöffnete Wohnraum» [1935], zit. nach: August Sarnitz, Lois Welzenbacher. Architekt 1880–1955, Salzburg – Wien: Residenz, 1989, S. 169– 171; 171. 14 Vgl. Bettina Köhler, «Phantom Glashaus. Das ‹Un-Private› als zeitgemäße städti­ sche Lebensform – ein widersprüchliches Verlangen», in: Werk, Bauen + Wohnen, Jg. 89/56, Nr. 10, 2002, S. 20–25. 15 David Whitney, Jeffrey Kipnis (Hrsg.), Philip Johnson. The Glass House, New York: Pantheon Books, 1993, S. 123. 16 Jeff Wall, «Dan Grahams Kammerspiel» [1982], in: Gregor Stemmrich (Hrsg.), Jeff Wall. Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit – Essays, Interviews, ­A msterdam – Dresden: Verlag der Kunst, 1997 (Fundus 142), S. 89–187. 17 Ibid., S. 156–157. 18 Ibid., S. 159. 19 Uhlig, Wolff, «Vier Spots aus der Kulturgeschichte von Fenster und Tür», op.cit., S. 20. 20 Susanne Hauser, «Transparenzen. Ein Essay», in: Johanna Rolshoven (Hrsg.), Hexen, Wiedergänger, Sans-papiers. Kulturtheoretische Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes, Marburg: Jonas, 2003, S. 143–156; 149. 21 Richard Sennett, The Fall of Public Man, New York: Alfred A. Knopf, 1974, dt. Ausgabe: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main: Fischer, 1983. 22 Wall, «Dan Grahams Kammerspiel», op.cit., S. 132. 23 So der Titel einer von Terence Riley kuratierten Ausstellung im Museum of ­Modern Art (vgl. den Katalog: Terence Riley, The Un-Private House, Ausstellungs­ katalog, New York: The Museum of Modern Art, 1999). 24 Flora Steiger-Crawford 1899–1991, Zürich: gta, 2003, S. 108. 25 Aladar & Victor Olgyay, Solar Control & Shading Devices, Princeton, NJ: ­Princeton University Press, 1957, S. 3. Das Zitat stammt aus Marcel Breuer, Sun and Shadow, London – New York – Toronto: Longmans, Green & Co., 1956, S. 117. 26 Reyner Banham, The Architecture of the Well-tempered Environment, London: The Architectural Press, 1969, S. 158. 27 Theo Schmid, «Die Entwicklung des individuellen Wohnraumes», in: Bauen + Wohnen, Nr. 1, 1947–1948, S. 55–56. 28 Hermann Czech, «Mehr Licht» [1964], in: Ders., Zur Abwechslung. Ausgewählte Schriften zur Architektur Wien, Wien: Löcker, 1996, S. 19–21; 20.

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Lichteinfall: Sehleistung und Sehkomfort Tageslichteigenschaften und Faustregeln für den Entwurf

Ulrich Löw, Theodor Manz, Atriumsiedlung In den Gartenhöfen, ­Reinach, Kt. BaselLandschaft, 1959–1960. Blick vom Wohnraum in das Atrium.

Gute Lichtplanung? Wann ist ein Gebäude gut belichtet? Im ersten Moment ist man ­versucht zu sagen, dass dies wohl im Falle einer maximal ausgeleuch­ teten Raumfläche zutrifft. Allerdings führt dieser Ansatz zu ­großflächigen Verglasungen, was wiederum die Gefahr von Blen­ dungsproblemen, einer zu schlechten Verteilung der Helligkeit oder exzessiven Wärmegewinnen beziehungsweise -verlusten in sich birgt. Tatsächlich erfordert die schlüssige Klärung der Frage nach einer guten Belichtung einen Blick auf den erweiterten Kontext der Lichtgestaltung. Genauso wie die Architektur den drei Werte­ kategorien Gebrauchswert, Gestaltwert und Erlebniswert ver­ pflichtet ist, stehen dem Lichtentwurf ebenfalls mehrere Ebenen der Lichtwahrnehmung gegenüber: eine zweckrationale oder funkt­ ionale, eine ästhetische, eine emotionale sowie eine somatische.1 Die Rolle des Lichts geht also weit über die Aufgabe der Belichtung hinaus. Vielmehr muss es auch jenseits von Funktionalität und Ob­ jektivität befriedigen, etwa als skulpturierender Beleuchter oder Generator bestimmter Atmosphären und Empfindungen. Dabei sind die Übergänge zwischen den einzelnen Ebenen absolut ­fließend, ebenso wie auch die Methodik und das Sachwissen des Archi­tekten in demselben Maße schwinden, je weiter man sich von der zweck­rationalen Ebene entfernt. Bevor nun im nächsten Kapitel mit Fragen zur Ästhetik und Raumwirkung des Lichteinfalls gewissermaßen unsicheres Terrain beschritten wird, geht es hier um die pragmatische Seite der Be­ lichtung und damit um eine gebrauchstüchtige Befensterung, die den Anforderungen an die Arbeitshelligkeit, das Sicherheitsempfinden und die Orientierung nachkommt. Ein gutes Gebrauchslicht macht die Dinge eben nicht einfach nur sichtbar, sondern lenkt den Blick, steuert die Wahrnehmung und richtet die Aufmerksamkeit auf ­Details. Es verleiht Objekten Gestalt und setzt Räume und Formen zueinander in Beziehung. Analog dazu kann bei der funktionalen Architekturbeleuchtung noch einmal differenziert werden zwischen quantitativen und qualitativen Zielsetzungen, die es zu erfüllen gilt. Während Erstere auf die Sehleistung oder eine zweckrationale Sichtbarmachung fokussieren und damit auf Dinge wie geeignete Beleuchtungsstärken, Helligkeitsoptimierungen und eine homogene Verteilung der Leuchtdichten, sind Letztere vor allem auf den ­visuellen Sehkomfort ausgerichtet. Dieser beinhaltet qualitative

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­ spekte wie etwa die Wegführung, die Lichtrichtungs- und A ­S chattenkontrolle sowie einen effizienten Schutz vor Blendungser­ scheinungen. Insgesamt werden also die für die Tageslichtversorgung eines Raums maßgeblichen Einflussgrößen zur Sprache kommen. Gegebene Situation und örtliche Kondition: Außenraumgestaltung Die Tageslichtplanung ist – neben nutzungsbedingten Anforderun­ gen oder Restriktionen an die Raumhelligkeit – vor allem von der Verfügbarkeit des Tageslichts abhängig. Dies wird von den natürli­ chen Gegebenheiten wie Klimazone und Gebäudeumgebung ­bestimmt und lässt sich über die Ausrichtung, Gebäudeform und Raumdimensionierung sowie die Außenraumgestaltung beein­ flussen und optimieren. Der Schlüssel für eine gute Tageslichtaus­ beute liegt daher in der Prüfung der klimatischen Verhältnisse beziehungsweise der Tageslichtbedingungen vor Ort, um sich bereits in einem frühen Entwurfsstadium mit den Randbedingungen für die Baukörper- und Fassadengestaltung vertraut zu machen. Die solare Einstrahlung trifft auf zwei Wegen auf die Erdoberflä­ che: Zum einen als direkte Strahlung von der Sonne und zum ­an­deren als diffuse Einstrahlung vom Himmel. Bei Ersterem handelt es sich um ein sehr energiereiches Licht, das sich gut umlenken und fokussieren lässt. Im Übermaß kann es allerdings in Räumen schnell zu Überhitzungen führen, was entsprechende Sonnen- be­ ziehungsweise Wärmeschutzmaßnahmen erforderlich macht. Diffuse Strahlung tritt dagegen bei bewölktem oder bedecktem Himmel auf und wird allgemein für Sehaufgaben als sehr angenehm emp­ funden. Dieses Licht ist deshalb ideal für die Tageslichtversorgung von Innenräumen. In der Regel aber sind es beide Komponenten, die an der Raumbelichtung beteiligt sind. Klimazone In Abhängigkeit von der geografischen Lage können das Tageslicht­ angebot und damit auch die Anforderungen an die Tageslichtpla­ nung stark variieren. Zur Vorhersage des Tageslichteinfalls und des passiven solaren Wärmegewinns ist die Bestimmung des Sonnen­ verlaufs von grundlegender Bedeutung. So kann anhand des Breiten­ grads und der Tages- und Jahreszeit für jeden Standort zu jedem Zeitpunkt der jeweilige Sonnenstand eruiert werden, was erste Aus­ sagen über den Einfallswinkel der Sonnenstrahlung und die zu erwartende Sonnenscheindauer zulässt. Eine andere wichtige Ein­ flussgröße ist der vorherrschende meteorologische Himmels­ zustand, der je nach Klimazone zwischen diffus, klar und bedeckt variiert. Orte in den nordeuropäischen Ländern zum Beispiel zeichnen sich durch kürzere Winter- und längere Sommertage aus. Sie sind hinsichtlich des Tageslichtangebots also größeren saisonalen Schwankungen unterworfen als Orte in Mitteleuropa. Aufgrund des allgemein tieferen Sonnenstands weisen sie vor allem im Winter ein Defizit an (Sonnen-)Licht und Wärme auf. Aus diesem Grund steht in diesen Breitengraden meist eine Maximierung des Tages­ lichteinfalls im Vordergrund. Dabei ist es gut zu wissen, dass sich der für den Norden typische bedeckte Himmel um den Zenit herum am hellsten ausnimmt. Die dort ausgewiesenen Leuchtdichten fallen rund dreimal höher aus als jene des Horizonts. In nördlichen ­Zonen oder Küstenregionen kann deshalb mittels eines Decken­

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oberlichts viel mehr Tageslicht ins Gebäude geholt werden, als dies bei einer gewöhnlichen Seitenbelichtung der Fall ist. 2 Je näher der Standort dagegen am Äquator liegt, desto mehr Licht steht zur Verfügung. Orte in Südeuropa etwa erhalten im Ver­ gleich viel mehr Tageslicht, weil die Sonne hier höher am Himmel steht. Auch die saisonalen Schwankungen fallen viel geringer aus. Das vorrangige Ziel liegt hier vor allem in einer Beschränkung des Tageslichteinfalls, um vor Überhitzung zu schützen. Bei klarem Himmel, wie er für den Süden typisch ist, befinden sich die hellsten Bereiche um die Sonne herum und entlang des Horizonts.3 Für die Tageslichtplanung in Mittel- und Nordeuropa ist der diffuse Himmelszustand maßgebend, da die Sonne an 55% der Ta­ gesstunden durch Wolken verdeckt ist. Das Tageslichtangebot ­besteht hier vorwiegend aus der diffusen Lichtstrahlung des bedeck­ ten Himmels und wird je nach Wetterlage um einen gewissen An­ teil an direkter Sonnenlichteinstrahlung ergänzt. Da ein besonn­ter Fleck gegenüber einer diffusen Belichtung etwa fünf- bis zehnmal so hell erscheint, müssen auch hierzulande unbedingt Strategien zum Sonnenschutz in die Planung mit einfließen. Dagegen liefert der Himmel – dessen Helligkeit in mitteleuropäischen Breitengraden stark variiert – zu jeder Tagesstunde ein sanftes und blendfreies Licht. Dieses kommt von allen Seiten und ist auch für den Lichtein­ fall auf Nordfassaden verantwortlich. Gebäudeumgebung Neben den klimatischen Bedingungen spielen auch die Umgebung beziehungsweise Faktoren wie der Grad der Verbauung eine ­we­­sentliche Rolle für das Tageslichtangebot am jeweiligen Ort. Haupt­­­ ursache für düstere Räume ist die Verschattung durch die Nach­ barbebauung, das Gelände selbst oder die umliegende Vegetation. Besonders nachteilig kann sich die Verschattung durch gegenüberlie­ gende Gebäude auswirken, da für die Tageslichtausbeute der ­Him­melsanteil maßgebend ist, der durch das Fenster sichtbar ist. Wird dieser durch allfällige Bauten reduziert, wirkt sich das ent­ sprechend negativ auf die Lichtverhältnisse im Innenraum aus. Früh­ zeitige Studien der Umgebungsbedingungen klären über das mögliche ­Tageslichtpotenzial des Grundstücks auf und erlauben entsprechen­de Rückschlüsse für eine geeignete Gebäudeform und Grund­risslösung.4 Sonnenorientierung Sofern die Möglichkeit besteht, die Gebäudeorientierung frei zu wählen, sollten die einzelnen Vor- und Nachteile, wie sie sich aus der Stellung des Baukörpers ergeben, gegeneinander abgewogen werden. Je nach Ausrichtung der einzelnen Gebäudeflächen zur Himmelsrichtung fällt die Sonneneinwirkung unterschiedlich aus, wie auch die Lichtverhältnisse im Innenraum entsprechend ihrer Raumlage differieren. Während Südlicht sehr intensiv und dynamisch wirkt und die Plastizität von Formen hervorhebt, erscheint Nord­ licht dagegen konstanter und kühler. Letzteres eignet sich des­halb gut für eine helle und gleichmäßige Raumausleuchtung – ohne ­Gefahr der Überhitzung oder Blendung. In Bezug auf die solare Ein­ strahlung (sowie die zu erwartenden Wärmegewinne) wird im ­A llgemeinen eine Ausrichtung der Hauptfassade nach Süden und Norden empfohlen, die gegenüber derjenigen nach Osten und

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Schematische Darstellung der Sonnenbahn im Jahresverlauf. – Je nach Jahreszeit unterliegt das Tageslichtangebot in Mittelund Nordeuropa großen Schwankungen.

­ im Sommer, was Sonnenschutzmaßnahmen schwieriger gestaltet, so­ fern gleichzeitig der Ausblick gewahrt bleiben soll. Fenster in der Südfassade können dagegen aufgrund des hohen Sonnenstands im Sommer leicht durch kleine Auskragungen beschattet werden. Im Winter erhalten sie trotz des tieferen Sonnenstands ausreichend direkte Sonneneinstrahlung – vorausgesetzt, das Problem der Blendung ist tolerierbar und der solare Wärmegewinn erwünscht. Allerdings muss an dieser Stelle relativiert werden, dass eine entspre­ chende Baukörperausrichtung und Fassadengestaltung neueren Erkenntnissen zufolge energetisch nur für Gebäude in Höhenlagen ab 700 Metern über Meer sinnvoll ist. Aufgrund häufiger Bewöl­ kungslage und hoher Nebeldichte in den Wintermonaten wiegen die im Flachland zu erwartenden Strahlungsgewinne die durch eine entsprechende Gebäudeform und Südausrichtung entstehenden Mehraufwendungen nicht auf. Hier ist es besser, mittels einer kom­ pakten Bauweise auf eine Minimierung der Wärmeverluste zu setzen. Daneben gibt es auch Überlegungen, die Hauptfassade eines Gebäudes nach Südosten auszurichten, damit der solare Wärme­ gewinn früher eintrifft; dann nämlich, wenn die Außen­ und Gebäudetemperatur noch niedriger ist. Dies mindert im Sommer das Risiko des Überhitzens, verstärkt allerdings auch die Blendungs­ problematik. Baukörper und Fassade Mit der Gebäudeausrichtung und Strukturierung des Baukörpers werden die Haupteinfallswinkel des Tages­ und direkten Sonnen­ lichts sowie die bauliche Verschattungssituation festgelegt. Die Komponenten, über die sich der Lichteinfall in den Innenraum ins­ gesamt steuern lässt, sind Gebäudehöhe und Gebäudetiefe, die Modulation des Baukörpers beziehungsweise der Fassade und natür­ lich die Anlage der Fensteröffnungen. Bei der Disposition von

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30°

H

2H

30°-Regel für einen Raum mit seitlicher Belichtung.

­ ebäudehöhe und -tiefe muss bedacht werden, dass nur jene Punk­ G te im Raum Licht erhalten, die innerhalb eines von der Oberkante des Fensters in die Raumtiefe gezogenen Winkels von 30° fallen. Als Faustregel für seitliche Raumbelichtungen gilt deshalb, dass Tages­ licht bestenfalls in eine Raumtiefe dringt, die etwa zweimal der Distanz vom Boden bis zur Oberkante des Fensters entspricht. Für die im Wohnbau gängigen Raumhöhen von 2,7 Metern sind das 4,6 Meter. Ein frei stehendes Gebäude kann also bei einer Standard­ raumhöhe maximal bis zu einer Tiefe von etwa 10 bis 12 Metern ­natürlich belichtet werden – vorausgesetzt, beide der sich gegen­über­ liegenden Gebäudefronten weisen einen ausreichend großen Fens­ terflächenanteil auf. Neben der Gebäudedimensionierung können Quantität und Qualität des Tageslichteinfalls auch durch die Modulation des Bau­ körpers verbessert werden. Mit der Auffächerung, Staffelung oder Einkerbung des Baukörpers besteht die Möglichkeit, die Oberfläche des Gebäudes zu vergrößern und damit den Fassadenanteil, der zur Befensterung zur Verfügung steht. Ein anderer Weg liegt in der Einführung von Lichthöfen oder Atrien, die zweiseitige Belich­ tungssituationen schaffen und damit die Belichtung tiefer Grund­ risse begünstigen. Dabei bleiben Zielkonflikte leider nicht aus, denn während ein reich gegliederter Baukörper große Vorteile hin­ sichtlich des Tageslichtangebots bietet, erweist sich für dessen ­Wärmebedarfsrechnung ein kompaktes Volumen (möglichst kleines Verhältnis zwischen Gebäudeoberfläche und Volumen) als weitaus günstiger. Ebenso wirken sich große Raumhöhen zwar positiv auf die Tageslichtverhältnisse aus, erhöhen aber gleichzeitig die Wärmeverluste und Baukosten. In welchem Maße schließlich die Fensteröffnungen das Gebäude mit Tageslicht versorgen, hängt von deren Größe, Lage und ­Beschaffenheit sowie vom Einfluss abschattender Objekte ab. Ab­ gesehen von benachbarten Gebäuden und der Vegetation, können sich auch Teile der eigenen Gebäudehülle nachteilig auf die Raum­ helligkeit auswirken. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Auskragungen wie Balkone oder andere Fassadenteile den Weg des Lichts vom Himmel auf die Nutzfläche im Raum verstellen.

Quantitative Zielsetzungen Innenraumgestaltung und zweckrationale Sichtbarmachung Zu Beginn der planerischen Betrachtungen ist es am einfachsten, von der quantifizierbaren Charakteristik des Tageslichts in einem Raum auszugehen und daraus auf die ästhetischen Konsequenzen zu schließen. Vorweg soll deshalb erst einmal geklärt werden, wie das Tageslicht beziehungsweise welche seiner Anteile vom Him­mel auf einen bestimmten Punkt im Raum treffen. Zusammensetzung des Tageslichts Um die Tageslichtverhältnisse in einem Innenraum zu bestimmen, wurde mit dem sogenannten Tageslichtquotienten (TLQ) eine ­Kenn­größe für die Raumhelligkeit geschaffen. Er gestattet es, die Be­ leuchtungsverhältnisse in einem Raum mit denjenigen draußen zu vergleichen. Dies erweist sich als zweckmäßig, denn bei der Sicht nach außen dienen einem die Helligkeit des Himmels und allfällig

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Tageslichtquotient (%)

beschienener Umgebungsflächen als Referenzgrößen zur Beurtei­ lung der eigenen Raumhelligkeit. Der TLQ ist also ein Durch­ schnittswert, der mit der subjektiven Raumbeschreibung ganz gut korreliert. Er setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Der Himmelslichtanteil (SC) – jener Ausschnitt des Himmels, der durch das Fenster sichtbar ist – strahlt direkt in den Raum ein und stellt, je nach Einfallswinkel, meist den Löwenanteil an der Raumhelligkeit.5 Der Außenreflexionsanteil (ERC) ist jener Anteil an der Belich­ tung, den das Gebäudeumfeld leistet, indem es das Tageslicht indi­ rekt durch Reflexion an der externen Verbauung in den Raum leitet. Der Beitrag extern reflektierender Oberflächen kann gerade im dichten, urbanen Umfeld von Bedeutung sein, zum Beispiel dann, wenn der sichtbare Himmelslichtanteil durch die Höhe der Nach­ bargebäude sehr reduziert ist. Der Außenreflexionsanteil fällt in einem sehr tiefen Winkel in den Raum – nahe der Horizontalen –, was ihn in tiefere Raumzonen dringen lässt als das direkt einfal­ lende Tageslicht. Der Innenreflexionsanteil (IRC) resultiert aus der Reflexion der ersten beiden Anteile an den inneren Oberflächen. Das heißt, dass das unterhalb der horizontalen Arbeitsfläche eindringende Licht von Boden, Decke und Innenwänden noch einmal reflektiert wird, ­weshalb es sich relativ uniform auf den ganzen Raum verteilt.

Distanz zum Fenster (m)

Der Tageslichtquotient im Innenraum setzt sich aus drei Komponenten zusammen, deren Anteil je nach Raumtiefe variiert. SC = Himmels­lichtanteil, ERC = Außenreflexionsanteil, IRC = Innenreflexionsanteil. Der TLQ gibt an, wie groß der Prozentsatz der Tageslichtbeleuchtung an einem bestimmten Punkt im Innenraum ist und zwar in Bezug auf die Tageslicht­beleuchtung im Freien. Für Arbeitsplätze ist ein TLQ von 5 bis 10% wünschenswert.

Je nach Raumtiefe beziehungsweise Entfernung vom Fenster v­ ariiert die anteilsmäßige Zusammensetzung der drei Komponenten. So ist in einem Standardraum in Fensternähe primär das direkte Himmelslicht wirksam, in Verbindung mit einem gewissen Anteil an extern reflektiertem Licht. Diese beiden Komponenten beschrei­ ben, auf ­hohem Niveau beginnend, mit zunehmender Raumtiefe ­eine stark abfallende Kurve. Die Kurve der dritten Komponente des intern reflektierten Lichts hingegen bewegt sich von Anfang an auf einem relativ tiefen Niveau; dafür weist sie aber auch einen bis in die Tiefe von etwa 5 Metern relativ konstanten Wert auf. Letzteres verdeutlicht die wichtige Rolle des durch die Raumober­flä­chen ­reflektierten Lichts für tiefe Räume, denn dieses macht in den hinte­ ren Raumzonen den größten Anteil der natürlichen Aus­leuchtung aus – sofern die Materialwahl eine solche unterstützt.

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Lichttechnische Begriffe Gute Sichtbarkeit ist nicht einfach nur eine Frage hinlänglicher ­( Tageslicht-)Belichtung, sondern steht auch in direktem Zusammen­ hang mit der Physiologie des Auges. Für die meisten Raumkon­ zepte steht das Niveau der Beleuchtungsstärke im Vordergrund, das heißt eine ausreichende Helligkeit. Diese wiederum variiert je nach Alter der Nutzer, der Art der Sehaufgabe sowie den Reflexions­ eigenschaften der Raumoberflächen. Weitere Aspekte für gute ­Sehbedingungen sind zudem die Gleichmäßigkeit der Raumbelich­ tung, ein genügender Anteil an gerichtetem Licht, um das räumliche Sehen zu erleichtern, sowie die Begrenzung von Blendungser­ scheinungen. Sämtliche Kriterien sind normative Forderungen, die in den DIN 5034 und 5035 festgehalten sind. 6 Bei der auf die Sehleistung beziehungsweise eine zweckrationale Sichtbarmachung ausgelegten quantitativen Lichtplanung ist die Beleuchtungsstärke E in Lux (lx) das zentrale Kriterium. Aller­ dings können die gesetzlich festgelegten Forderungen zur Einhaltung ­bestimmter Grenzwerte den Entwerfer bereits in arge Verlegenheit bringen, handelt es sich bei der Beleuchtungsstärke doch um eine Größe, die den auf eine Fläche einfallenden Lichtstrom beschreibt und nur in der Lichttechnik gemessen werden kann. In der Praxis sollte man sich deshalb in Bezug auf die Einhaltung von Be­ lichtungsvorgaben keinen zu großen Illusionen hingeben, denn im normalen Alltag ist der Unterschied zwischen einer Lichtstrom­ stärke von 600 lx und einer von 800 lx für das Auge kaum wahrnehm­ bar. Dazu kommt, dass die Belichtungsstärke des Tageslichts im Laufe des Tages größeren Schwankungen unterworfen ist. Für das Auge ist die Beleuchtungsstärke selbst also gar nicht wahrnehmbar. Licht gewinnt seine optische Präsenz erst, wenn es von der Ober­ fläche eines Gegenstandes reflektiert und auf der Augennetzhaut ­abgebildet wird. Dies macht die Leuchtdichte L in Candela (Cd)/m 2 zur ­eigentlichen Grundlage der visuellen Wahrnehmung – wir ­empfinden sie als die tatsächlich wahrgenommene Helligkeit. Ihr rechneri­scher Wert wiederum kann nur mit Hilfe des spezifischen Reflexionsgrads eines belichteten Objekts ermittelt werden. Das heißt, dass die Leuchtdichte oder eben die «Helligkeit», die wir seh­ en, letzten Endes bestimmt wird durch die Beleuchtungsstärke E sowie die Reflexionseigenschaften p einer angestrahlten Oberfläche. Bei der natürlichen Raumbelichtung entspricht das direkt vom Himmel kommende Tageslicht der Beleuchtungsstärke, die von den Oberflächen, auf die es im Raum trifft, reflektiert wird. Diese Innenreflexionen des Lichts können zusätzlich zu einer Erhöhung der Lichtmenge um etwa 10–20% in der mittleren Raumtiefe ­f ühren.7 Helle Oberflächen haben dabei einen höheren Reflexions­ grad als dunkle, sie leiten mehr Licht weiter. Die Beleuchtung im Wechselspiel mit der Architektur ist somit von der Materialwahl geprägt. Die Lichtwirkung des gesamten Raums lässt sich dement­ sprechend über die Materialeigenschaften wie Reflexion oder Trans­ mission beziehungsweise den Streuungsgrad beeinflussen. Letzterer bestimmt, ob ein Material eher als Lichtstreuer (zum Beispiel bei matten Oberflächen wie Putz: Abgabe diffuseren Lichts) oder als Lichtlenker (zum Beispiel bei spiegelnden Oberflächen wie Glas: Ab­­ gabe eher gerichteter Lichtstrahlung) wirkt. Eine Betrachtung der aus den Objektoberflächen resultierenden, unterschiedlichen Leuchtdichten bietet die Möglichkeit, die tatsächlichen Helligkeits­

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verhältnisse im Raum zu ermitteln. Für die Planungsarbeit gilt in erster Linie einmal die Faustregel, je schwieriger die Sehaufgabe und je geringer die Reflexionsgrade der Materialien, umso höher muss die Beleuchtungsstärke des Tageslichteinfalls in den Raum sein. Dabei ist es oft erstaunlich, inwieweit Baustoffe als Lichtschlucker fungieren. So kann es zum Beispiel passieren, dass ein Raum, ­dessen Wände aus rotem Ziegelstein bestehen und einen sehr nied­ rigen Reflexionsgrad von 25% aufweisen, im Vergleich zu einem weiß verputzten mit einem Reflexionsgrad von 85% trotz Er­rei­chen der empfohlenen Beleuchtungsstärke sehr dunkel oder unan­ genehm wirkt. Vor allem in Fensternähe sollte deshalb auf gro­ße Flä­chen mit dunklen Farben verzichtet werden, da diese die ­Ein­dringtiefe des Tageslichts verringern und im Zusammenspiel ­ mit hellen Flächen auch Blendung verursachen können. 8 Insgesamt gibt es also zwei Möglichkeiten, die wahrgenomme­ne Helligkeit eines Raums oder architektonischen Elements zu be­ einflussen: mittels der Belichtungsintensität und der Wahl der Oberflächenbeschaffenheit von Materialien. Während diese beiden Komponenten für den Bühnenbildner gängige Hilfsmittel dar­ stellen, wird dagegen in der Architektur nur selten von ihnen aus­ reichend Gebrauch gemacht. Verteilung der Leuchtdichten und Übergänge Für den professionellen Lichtplaner stehen meist jene Aspekte der Raumbelichtung im Vordergrund, die es ihm erlauben, optimale Sicht- und damit Arbeitsbedingungen zu schaffen. Abgesehen von möglichen Blendungserscheinungen ist ein Zuviel an Licht meist außer Frage gestellt. Allein die Blendung verweist somit das allgemei­­ ne Streben nach Helligkeit in gewisse Schranken. Aus Sicht des Lichtplaners stehen für die lichttechnische Beurteilung eines Raums Kriterien wie die Beleuchtungsstärke, die Lichtverteilung und die Gesamtbeleuchtung im Vordergrund, ergänzt um weitere Aspekte wie einen ausreichenden Blend- und Sonnenschutz sowie Sichtbezug nach außen. Neben der Höhe der Beleuchtungsstärke, das heißt ­ der Menge an einfallendem Tageslicht, ist vor allem dessen gleichmä­ ßige Verteilung im Raum von Bedeutung. Aber auch die Gesamt­ beleuchtung ist wichtig: So muss für eine ausreichende Helligkeit (Leuchtdichte) aller Raumoberflächen gesorgt werden, und zu ­gro­ße Leucht­dichteunterschiede sollten vermieden werden. Eine gute, das heißt gleichmäßige Lichtverteilung im Raum ist gemäß den Planungsregeln dann gewährt, wenn der maximale TLQ (meist in Fensternähe) nicht viel mehr als etwa das Sechsfache des kleinsten Wertes in der dunkelsten Raumzone beträgt.9 Für die Praxis erweist sich diese Empfehlung allerdings als wenig prakti­ka­ bel. Selbst wenn man mit einem entsprechenden Messgerät die TLQ an den verschiedenen Standorten überprüft, so gelten die eru­ ierten Werte nur für die spezifisch untersuchte Raumstelle. Sie ­verändern sich in Abhängigkeit ihrer Lage zur Fensteröffnung mit jedem Schritt. Bei einer Beurteilung der Gesamtbeleuchtung liegt der Fokus dagegen auf der Helligkeitsverteilung in den unterschiedlichen Raum­ zonen. Wie vorhin erwähnt, sind für die zweckrationale Sicht­ barmachung die unterschiedlichen Leuchtdichten der im Raum wahrgenommenen Objektoberflächen maßgebend. Sie werden auf der Netzhaut als ein eigentliches Leuchtdichtemuster abgebildet.

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Ob nun ein Objekt gut erkennbar ist, hängt unter anderem davon ab, ob ein ausreichender Leuchtdichtekontrast zwischen dem Objekt und seiner Umgebung besteht.10 Andererseits dürfen sich die Leuchtdichten im Blick- oder Gesichtsfeld des Betrachters aber auch nicht zu stark voneinander absetzen, da sonst die optische Wahr­ nehmung wiederum durch Blendungserscheinungen gestört wird. Empfehlungen lauten dahingehend, auf eine gewisse örtliche Gleich­ mäßigkeit der Leuchtdichten zu achten beziehungsweise auf maxi­ male Leuchtdichtekontraste: Damit der Blick nicht abgelenkt wird, muss der Bereich einer Sehaufgabe oder eines Objekts heller aus­ fallen als die Umgebung. Dennoch sollte der Kontrast zwischen den Leuchtdichten im unmittelbaren Blickfeld (sogenanntes Infeld) und jenen der nahen Umgebung das Verhältnis von 3 : 1 nicht über­ steigen. Für das Gesichtsfeld (sogenanntes Umfeld) ist der emp­ fohlene Kontrastbereich zur größeren Raumumgebung mit einem Verhältnis von 10 : 1 definiert. Gerade bei direkter Sonnenein­strah­ lung können diese exemplarischen Werte aber deutlich überschritten werden. Interessanterweise scheint allerdings die Kontrastakzep­ tanz von Nutzern bei einer Raumbelichtung mit ­Tageslicht ungleich höher zu sein, als dies bei Kunstlichteinsatz der Fall ist. Faustregeln zur Innenraumgestaltung In welchem Maß Fensteröffnungen den jeweiligen Innenraum mit Tageslicht versorgen, hängt in erster Linie von den Raumab­mes­sun­ gen, der Lage und Größe der Öffnungen, den Reflexions­­eigenschaf­ ten der Oberflächen sowie vom Einfluss zusätzlich verschattender ­Objekte im Außenraum ab. Raumhöhe, Raumtiefe Für die Tageslichtversorgung eines Raums ist das Verhältnis von der Raumhöhe zur Raumtiefe von elementarer Bedeutung. So ist der maximale Lichtstrom, der zur Belichtung zur Verfügung steht, ab­ hängig von der lichten Raumhöhe. Die Frage nach der Raumhöhe wiederum steht als Teil der Proportionsproblematik in enger Verbin­ dung mit jener nach der geeigneten Raumtiefe. Aufgrund der res­ triktiven Handhabung von Raum- beziehungsweise Gebäude­höhen ist es heute vor allem Letztere, die bei der Planung in den Vorder­ grund rückt. Die Dimensionierung der Baukörpertiefe wird damit zur lichttechnisch wichtigsten Einflussgröße für eine gute Tages­ lichtbelichtung. Historisch betrachtet war diese einfache Regel hin­ reichend bekannt, denn vielfach weisen größere Bauten mit ihren Innenhöfen, Erkern oder Vorsprün­gen ein reich ge­gliedertes Volu­ men auf. Bei seitlicher Raumbelichtung gilt für die Festlegung der Raumtiefe die weiter oben beschriebene Faustregel. Zu beachten ist zudem, dass die Tageslichtmenge mit zunehmender Entfernung vom Fenster rapide abfällt. Während der Tageslichtquotient in Fens­ ternähe meist einen sehr hohen Wert von vielleicht 10% aufweist, fällt er in einer Tiefe von 2 Metern ­bereits auf einen Wert von etwa 2–3% ab, um sich schließlich bei circa 6 Metern Raumtiefe auf ein Minimum einzupendeln.11 Diese Regel hat im Übrigen nichts zu tun mit dem Sonnenstand, sondern ­bezieht sich allein auf die Licht­ versorgung des Raums durch den Him­­­­mel. Sie gilt deshalb für alle Himmelsrichtungen und Jahreszeiten – allerdings nur, wenn der Weg des Lichtstrahls vom Himmel zur Nutzfläche nicht durch Nach­ bargebäude oder Teile des eigenen Gebäudes verstellt ist.

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Tageslichtquotient (%)

Auch für eine erste Überprüfung der Raumausleuchtung durch ein Deckenoberlicht kann die 30°­Regel herangezogen werden. Hier ist davon auszugehen, dass alle Raumzonen, die im Radius eines Öffnungswinkels von 30° unterhalb des Oberlichts liegen, mit aus­ reichend Licht versorgt werden. Daraus ergibt sich ein Bereich, der so breit ist wie die Raumhöhe plus Oberlichtbreite. Insbesondere die Fläche unmittelbar unter der Öffnung wird dabei von der Licht­ quelle Himmel sehr gut erreicht und fällt entsprechend hell aus.12 Gerade bei tiefen und wenig hohen Gebäuden stellen Oberlichter eine geeignete Maßnahme dar, um die Ausleuchtung von Innenräu­ men stark zu verbessern.

Bei nur einseitiger Belichtung nimmt der Tageslichteinfall mit zunehmender Raumtiefe rasant ab. Während Orte in Fensternähe meist einen sehr hohen Tageslichtquotienten von über 10% aufweisen, fallen die Werte in einer Raumtiefe von 2, 3 Metern bereits deutlich geringer aus.

Luis Barragán, Haus Gálvez, Colonia Chimalistac, Mexico City, 1955. Oberlicht im Wohnbereich. – Die sturzlose Anbringung eines Bandfensters direkt unter der Decke gewährt in Bezug auf Menge und Verteilung den besten Lichteinfall.

Distanz zum Fenster (m)

Größe und Lage der Fensterfläche Die Größe und Art einer Öffnung wird selten ausschließlich durch die notwendige Lichtmenge bestimmt. Oft sind es Faktoren wie Material und Konstruktion, die Forderung nach optischer Ab­ schirmung, Einschließung und Lüftung des Raums und insbeson­ dere auch Ansprüche an das Erscheinungsbild eines Gebäudes, die bei der Dimensionierung und Ausbildung von Fenstern eine zent­ rale Rolle spielen. Die quantitativ besten Belichtungswerte gerade auch in tieferen Raumzonen erhält man allerdings mit einem möglichst hoch in der Wand liegenden Fenster, das im optimalen Fall sturzlos unter der Decke liegen sollte. Bei nur einseitigem Lichteinfall ist für eine gute Raumausleuchtung ein Fensterflächen­ anteil von etwa 30% im oberen Drittel der Fassade notwendig. Das Format ist dabei weniger von Bedeutung. Im Standardfall einer einseitigen Raumbelichtung lassen sich mit einer Fensterfläche von etwa 40–50% der Wandfläche gute Tageslichtwerte im Raum erzielen (das heißt einen TLQ von etwa 2% und mehr in einer Raumtiefe von 3 Metern).13 Ein Verglasungsanteil von weniger als 20% gilt dagegen aus lichtplanerischer Sicht als kritisch.14 Im Gegenzug ist eine weitere Erhöhung des Fensterflächenanteils auf Werte zwischen 50–60% akzeptabel, bringt aber in belichtungs­ technischer Hinsicht keine Verbesserung mehr. Bereits ab 65% Fensterflächenanteil ergeben sich indessen Probleme beim sommer­ lichen Wärmeschutz. Nimmt man den gegenwärtigen Trend zu vollflächigen Verglasungen, entpuppt sich dieser bisweilen als Quel­ le für thermisches Unbehagen: Fensterflächen, die unterhalb der Schreibtischhöhe von 80 Zentimeter liegen, tragen kaum etwas zur Raumbelichtung bei, wohl aber zur Kühllast des Gebäudes. Sie sollten, sofern sie nicht aus anderen Gründen unbedingt erforder­

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Tageslichtquotient (%)

Distanz zum Fenster (m)

Einfluss der Fensterposition Die Grafik zeigt dreimal denselben Fenstertyp, allerdings in unterschiedlicher Anbringungshöhe. Der unterschiedliche Kurvenverlauf der TLQ macht dabei deutlich, dass das am höchsten in der Wand positionierte Fenster die beste Lichtverteilung gewährt – hier fällt die Differenz zwischen dem höchsten und tiefsten im Raum erreichten Wert am geringsten aus.

Tageslichtquotient (%)

Einfluss der Fensterform Von drei unterschiedlich proportionierten Öffnungen, die alle denselben Fensterflächenanteil aufweisen, generiert jene den besten Tageslicht-Kurvenverlauf, die im Vergleich zu den anderen den größten Glasanteil im oberen Wandbereich aufweist. Hier ist es das annähernd quadratische Fensterformat, das gegenüber dem Bandfenster in einer Raumtiefe von 3–5 Metern einen fast doppelt so hohen TLQ gewährt.

Distanz zum Fenster (m)

Weichlbauer, Ortis, Wohnsiedlung, St. Bartholomä, Steiermark, 1992–1995. Wohnraum. – Bei nur einseitiger Raumbelichtung werden gute Tageslichtwerte erzielt, wenn die Fassade einen Glasanteil von etwa 40– 50% aufweist. Bei einer Raumhöhe von 3 Metern ist eine Fensterfläche von 30– 40% ausreichend, sofern sie sich im oberen Wandbereich befindet. Ob eine weitere Vergrößerung des Fensterflächenanteils belichtungstechnisch noch zusätzlich etwas bringt, ist immer auch vom Raumtyp und von dessen Grundriss abhängig.

Von visuell-ästhetischen Gründen einmal abgesehen, erweisen sich bodentiefe Ganzverglasungen nicht als sinnvoll: Tatsächlich trägt jene Fensterpartie, die sich unterhalb einer Arbeitshöhe von 85 cm befindet, kaum etwas zur Raumbelichtung bei, wohl aber zur Kühllast des Gebäudes.

lich sind, eher vermieden werden. Auf jeden Fall aber gilt: Je größer ein Fenster, desto wichtiger sind die Wahl einer geeigneten Ver­ glasung sowie die Anbringung eines effektiven Sonnen­ und Wärme­ schutzes.

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Skizzen von Le Corbusier zur Illustration, dass das Bandfenster mehr und besseres Licht gebe als das traditionelle Hochfenster – und zugleich die logische Konsequenz einer modernen Baugesinnung sei.

Vertikale oder horizontale Öffnungen In den Fünf Punkten zu einer neuen Architektur weiß Le Corbusier die angeblichen belichtungstechnischen Vorzüge des Bandfensters ­gegenüber dem traditionellen Hochfenster zu rühmen: «Die Räume sind auf diese Weise von Wand zu Wand gleichmäßig beleuchtet. Experimentelle Versuche haben ergeben, dass ein so beleuchteter Raum achtmal stärkere Beleuchtungsintensität aufweist als derselbe mit Hochfenstern und gleicher Fensterfläche. Die gesamte Ge­ schichte der Architektur dreht sich ausschließlich um Maueröffnun­ gen. Der armierte Beton bringt auf einmal durch das Langfenster die Möglichkeit der maximalen Beleuchtung.»15 Tatsächlich ist eine solche pauschalisierende Aussage auch in Bezug auf den hier von ­ Le Corbusier skizzierten Fall falsch. Das von ihm dargestellte Band­ fenster auf Brüstungshöhe gewährt zwar eine gute und gleichmä­ ßige Lichtverteilung längs zur Fassade, nicht aber ausreichend Licht in der Raumtiefe. Ebenso unzutreffend wie die gezeichneten Be­ lichtungseigenschaften ist auch seine Beteuerung, dass das horizon­ tale Fensterband achtmal stärkere Beleuchtungswerte im Raum zeitige. Eine solche Behauptung, die weder differenziert noch ein­ grenzt, auf welche Punkte im Raum sie sich bezieht, impliziert dem Laien, dass mit einem liegenden Fensterformat gleichsam der ganze Raum achtmal heller erscheinen muss. In Wirklichkeit muss die Entscheidung für ein Hoch- oder Bandfenster von Fall zu Fall überprüft werden. Selbst bei gleichem Fensterflächenanteil fällt die Lichtverteilung im Raum je nach Lage der Öffnung in der Wand sehr unterschiedlich aus. Immerhin zeigt die Simulation englischer Planer, dass zuweilen zwei hoch­ formatige schmalere Fenstertypen mit einem undurchsichtigen ­Bereich dazwischen zu einer besseren Gesamtbeleuchtungssituation führen als ein in mittlerer Höhe liegendes Bandfenster mit identi­ schem Verglasungsanteil.16 Im Gegensatz zu Letzterem befindet sich nämlich bei den Hochfenstern ein größerer Anteil der Fensterflä­ che im obersten Wandbereich. Dies wirkt sich positiv auf die Licht­ verteilung aus, das Licht dringt nicht nur in tiefere Raumzonen, es fällt auch gleichförmiger ab.

In diesem Beispiel mit Südausrichtung ­bieten die beiden Hochfenster im Vergleich zum Bandfenster eine gleichmäßigere Raumbelichtung in die Tiefe, da ein größerer Teil der Fensterfläche im höheren Wandbereich liegt. Insgesamt ist eine gute Belichtung aber weniger vom Format, als vom Öffnungsanteil oberhalb der Arbeitsfläche abhängig (horizontale Achse: Entfernung vom Fenster in m, vertikale Achse: Beleuchtungsstärke in Lux).

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Neben der Funktion der Raumbelichtung stellen Ausblick und optischer Kontakt zur Umgebung ein wesentliches Komfortkri­ terium dar. So müssen die Art der Tätigkeit und Hauptblickrichtung im Raum bei der Dimensionierung und Wahl der Anbringungs­ höhe eines Fensters ebenfalls mitberücksichtigt werden. In der DIN 5034 führt die Hauptblickrichtung einer sitzenden Person zur Empfehlung, die Unterkante eines Ausblick-Fensters 90 Zenti­­ meter über der Bodenfläche anzusetzen, die Oberkante hingegen auf einer Höhe von etwa 2,2 Metern. Für die Verglasung ergibt sich daraus eine Mindesthöhe von 1,3 Metern zuzüglich der Rahmen­ breite oben und unten. Die Breite einer Öffnung ist dabei mit ­m indestens 1 Meter zu bemessen. Für gewöhnlich bevorzugen Be­ wohner breitere Fensterformate,17 insbesondere dann, wenn sich ihnen eine interessante Aussicht auf nahe liegende Objekte oder Aktivitätszonen bietet.

Skizzen zur Lichtverteilung unterschiedlicher Fensterzuschnitte von R.G. Hopkinson: «A high window gives better light pene­ tration than a long low window for the same area of glass.»

Weichlbauer, Ortis, wohnDNA, Gratkorn, Steiermark, 1998–2001. Innenraum, Ansicht, verschieden positionierte Fenster. – Am ganzen Baukörper kom­men differenzierte Fenstermodule zum Einsatz, die sich in Anbringungshöhe und Format nach der Raumnutzung bezie­hungs­weise der ­Tätigkeit des Bewohners richten.

Küche

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Kinderzimmer Elternschlafzimmer Arbeitszimmer Wohnzimmer

Essplatz

Alfred & Emil Roth und Marcel Breuer, ­Doldertalhäuser, Zürich, 1932–1936. Wohn­ atelier Alfred Roth, Doldertal 19. – Belichtungstechnisch besonders ergiebig sind Oberlichtbänder (allerdings machen diese einen guten Sonnenschutz erforderlich). Ein weiteres Fenster auf Sichthöhe sorgt für die nötige Aussicht.

Die Platzierung eines Fensters sollte auf jeden Fall wohl über­ legt erfolgen, wobei komplexe Situationen mit variierenden Motiven gegenüber statischen Sujets zu bevorzugen sind. Die bloße Sicht auf den Himmel – wie es bei hoch liegenden Bandfenstern und Ober­ lichtern oftmals der Fall ist – stellt allein keinen ausreichend inter­ essanten Betrachtungsgegenstand dar. Fensterformate, die den Blick auf den Horizont freigeben, sind dagegen attraktiver. Um gute Belichtungsverhältnisse zu erzielen und gleichzeitig Blendungserscheinungen zu minimieren, kann es hilfreich sein, Licht- und Aussichtsfunktion auf zwei unterschiedliche Fensterfor­ mate zu verteilen. Breite Oberlichtbänder sorgen nicht nur auf­ grund ihrer effektiveren Deckenbelichtung für eine gleichmäßige und helle Raumausleuchtung, sie erweisen sich auch dann als ­sinnvoll, wenn es darum geht, die Lichtquelle aus dem direkten Blick­ feld des Bewohners zu bannen. Der fehlende optische Bezug zur Umgebung wird dafür mit einem entsprechend dimensionierten Aussichtsfenster auf Augenhöhe kompensiert. Gerade für Tätig­ keiten, die ein eher kontrastloses Ambiente erfordern, erweist sich eine solche Kombination als äußerst zweckmäßig. Abschattende Verbauung Unabhängig von der Befensterung kann die Tageslichtausleuchtung eines Raums durch außen abschattende Objekte stark beeinträch­ tigt werden. Neben Nachbargebäuden und der Vegetation trifft dies auch auf die eigene Gebäudehülle zu, so beispielsweise, wenn ­horizontal über der Öffnung auskragende Bauteile wie Balkone und Lamellen oder auch opake Fassadenteile den Weg des Lichtstrahls vom Himmel auf die Nutzfläche behindern. Insbesondere im Falle von gegenüberliegenden Gebäuden reduziert sich gerade im hinte­ren Raumbereich der Lichtanteil massiv. Für eine erste Überprüfung der baulichen Verschattungssituation erweist sich hier folgende Faustregel als geeignet: Wird der Abstand A zum Nachbargebäude ins Verhältnis gesetzt zu dessen Gebäudehöhe H, lässt sich anhand des daraus resultierenden Faktors der Beeinträchtigungsgrad ­bestimmen. Werte von A : H, die größer sind als 2,7, stellen keine Beeinträchtigung dar, Werte über 2 kaum. Werte um 1 und darunter weisen dagegen auf eine starke Beeinträchtigung hin. Für Räume, die an einen Innenhof oder ein Atrium grenzen, gilt dieselbe Regel. Eine seitliche Verbauung durch benachbarte Bauten oder die eigene,

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Bei der Wahl des geeigneten Fenstertyps ist es wichtig, dass die Umgebungssituation in die Planung miteinbezogen wird. Die wichtigste Einflussgröße für die Lichtverhält­ nisse an einem bestimmten Punkt im Raum ist der durch das Fenster sichtbare Himmelsanteil beziehungsweise der Einfalls­ winkel der direkten Lichtstrahlung vom Himmel. SC = Himmels­­lichtanteil, ERC = Außenreflexionsanteil, IRC = Innenreflexionsanteil. Baumschlager & Eberle, Wohnanlage, ­Nüziders, Vorarlberg, 1995–1996. Auskragende Wintergärten an der Südfassade. – Unabhängig von der Befensterung kann die Raumbelichtung durch äußerlich abschattende Objekte stark beeinträchtigt werden.

winkelförmige Gebäudeanlage nehmen ebenfalls viel Licht, aber nur im vorderen Raumbereich. Hier muss beachtet werden, dass in der Ecke eines winkelförmigen Grundrisses jeweils die ersten ­ 8–10 Meter der Fassade schlechter belichtet sind. Auch Balkone oder feststehende, horizontal über dem Fenster angebrachte Verschattungssysteme fungieren vor allem an trüben Tagen als Lichtschlucker. Unter rein lichtplanerischen Gesichtspunk­ ten sollten Balkone im Geschosswohnbau deshalb nicht größer als unbedingt notwendig ausfallen oder möglichst über geschlosse­nen Flächen der darunter liegenden Wohnungen angeordnet werden. Hier sind die verschiedenen Interessenlagen gegeneinander abzuwä­ gen. Nicht unterschätzt werden dürfen ferner scheinbar simple E­ingriffe in die Fassadenhaut. Dies kann zu unangenehmen Über­ raschungen in der Raumbelichtung führen. So geschehen etwa bei einer Wohnblocksanierung in Deutschland, bei der die bestehen­ den Balkone aus energetischen Gründen verglast wurden. Diese Maßnahme führte zu einer massiven Reduktion des einfallenden ­Ta­geslichts, und man staunte nicht schlecht, als man um 30–45% v­er­ minderte Werte feststellen musste.18 Um es zum Schluss noch einmal auf einen einfachen planerischen Punkt zu bringen: Eine gute Raumbelichtung ist neben einer aus­ reichenden Raumhöhe vor allem vom Anteil der Fensterfläche oberhalb der Arbeitsfläche beziehungsweise dem Anteil im oberen Wandbereich abhängig – die Fensterform spielt dabei weniger eine Rolle. In der Praxis ist es wichtig, dass bei der Wahl des geeigne­ ten Öffnungstyps unbedingt die reale Umgebungssituation in die Planung miteinbezogen wird. Nur so lassen sich die für die Licht­ 143

verhältnisse im Inneren bestimmenden Faktoren wie der sichtbare Himmelsanteil und der spezifische Einfallswinkel in den Raum korrekt eruieren. Lichtpotenzierung und -optimierung Die Nutzung von Tageslicht in der Architektur ist ein subtraktiver Prozess, da nur ein Teil des Tageslichts in das Innere des Gebäudes gelangt. Oftmals aber hätte ein weiterer Zugewinn an Tageslicht sowie eine verbesserte Verteilung nicht nur eine Steigerung der zweckrationalen Sichtbarmachung zur Folge, sondern würde auch für eine Einsparung an Strom für Kunstlicht sorgen. Im folgenden Abschnitt sollen deshalb Wege zu einer Optimierung der Beleuch­ tungsstärken skizziert werden. Ausgehend von einer einseitigen Raumbelichtung bis hin zu mehrseitigen Belichtungssituationen wird anhand unterschiedlicher Beispiele gezeigt, wie sich der Ta­ geslichteinfall ins Gebäudeinnere mit einfachen, aber effektiven ar­ chitektonischen Maßnahmen erhöhen und steuern lässt.

Sonne

Licht

Sonnenschutzprisma

Tageslichtquotient Bezug nach außen

Optimale Tageslichtnutzung dank Umlenksystem: Tageslicht mit hohem Zenitlicht­ anteil fällt durch ein Oberlicht auf einen Spiegel, der dieses in den Raum lenkt. Gleichzeitig verlängert das innere Umlenksegment an der Decke die Lichteinstrahlung bis in den hinteren Raumbereich. Das untere Fenster dient allein der Aussicht – der Bildausschnitt ist derart gewählt, dass auch von außen keine störenden Leuchtdichten (etwa durch spiegelnde Nach­ bargebäude, Schnee usw.) ins Gesichtsfeld kommen.

Licht von einer Seite Optimum: hoch liegendes Bandfenster – Geht man vom einfachsten und wohl auch häufigsten Fall aus, einer einseitigen Raumbelich­ tung, werden die quantitativen Zielsetzungen des Lichtplaners am besten mit einem ausreichend breit dimensionierten Bandfenster ­erreicht, das möglichst ganzseitig über die Wandfläche gezogen und ohne Sturz an der Decke angeschlagen ist. Mit dieser Fensteran­ ordnung lässt sich nicht nur die maximal erreichbare Beleuchtungs­ stärke ausschöpfen, auch die Licht- und Helligkeitsverteilung im Raum fällt so am homogensten aus. Wird darüber hinaus die Wand­ fläche um ein zusätzliches Fenster auf Sichthöhe ergänzt, ist auch für die notwendige Aussicht gesorgt. Dass eine derartig optimierte Fensteranordnung durchaus auch bei Wohnräumen ihre Berechti­ gung haben kann, beweist die smarte Lösung des sogenannten ­Keyhole window von Louis I. Kahn. Im doppelstöckigen Wohnraum des Haus Esherick ist die Innenwand der Nordostfassade mit einem großen Bücherregal verstellt, während das darüber platzierte, de­ ckenbündige Fensterfeld für einen gleichmäßigen Lichteinfall sorgt. Ein in der Mitte angebrachtes, vertikales Schlitzfenster ergänzt das Oberlichtband zu einer T-Form und gewährt Lüftung sowie Ausblick. Diese Doppelform beziehungsweise -funktion des Fens­ ters – ein oft verwendetes Motiv bei Kahn, das er je nach Orien­ tierung und Nutzungsart des Raumes zu variieren weiß – kommt

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Louis I. Kahn, Haus Margaret Esherick, Chestnut Hill, PA, 1959–1961. Nordwestseite des Wohnraums mit Keyhole-­ Fenster. – Das liegende, deckenbündige Bandfenster sorgt für einen reichen Lichteinfall, das stehende Format auf Augen­ höhe gewährt die Sicht nach außen.

der Lesetätigkeit entgegen und schafft gleichzeitig einen ruhigen Pol im Aufenthaltsraum. Bei Bedarf kann das schießschartenartige Fenster auch geschlossen werden, womit das Bücherregal zur hohen Wand mutiert und der Raum einen introvertierten Charakter erhält. Lichtumlenkung (indirektes Licht über Reflexion) – Bis ins 20. Jahrhundert glaubte man, dass lediglich das direkt vom Himmel kommende Tageslicht die Lichtverteilung und Lichtmenge im Raum bestimmt. Heute hingegen ist bekannt, dass die Reflexion des Lichts an den (hellen) Umgebungsflächen in mittleren Raumzonen zu einer Erhöhung des Tageslichtquotienten um etwa 10–20% führt. Dies ist auch der Grund, weshalb man in der modernen ­Lichtplanung vor allem den Innenreflexionsanteil zu maximieren sucht. Wie bereits erläutert, ist Letzterer relativ konstant im Raum wirksam und kann angesichts des zur Raummitte massiv abfallen­den Lichtflusses ein wichtiger Faktor zur Minderung starker Hell­dunkel-Kontraste sein. Im Normalfall sind es insbesondere die Wandflächen, die zur ­Be­lichtung tieferer Raumzonen beitragen. Meist erhalten sie direk­tes Himmels- oder auch Sonnenlicht und werden, sofern sie ­ge­eignete Reflexionseigenschaften aufweisen, zu einer sekundären Licht­ quelle, die Licht in den Raum abstrahlt. Bei offenen Grund­rissen, wo nur wenige Innenwände an der Innenreflexion beteiligt sind, wird 145

dagegen die Decke zur Hauptreflexionsquelle. Dies bedingt aller­ dings, dass sie einen hellen Anstrich erhält und frei von Balken oder Ähnlichem gehalten wird.19 Die Belichtung der Decke findet nur ­indirekt statt; in erster Linie über den Boden, der das einfallende Tageslicht an die Decke reflektiert sowie über den Außenreflexions­ anteil. So kann ein entsprechend materialisierter Außengrund zur wichtigen Reflexionsquelle werden, mit der sich via Decke Ein­ fluss auf die Lichtverhältnisse im Innenraum nehmen lässt. Richard Neutra beispielsweise nutzte in vielen seiner Projekte ein der ­verglasten Hausfassade vorgelagertes Wasserbecken, um die wech­ selnden Lichtstimmungen des Himmels einzufangen und in den Raum zu lenken. Ihm selbst ging es dabei allerdings weniger um eine Erhöhung der Raumausleuchtung denn um den ästhetischen ­ Effekt der Reflexionen. Eine andere Möglichkeit, bei der die Decke als wichtige sekun­ däre Lichtquelle miteinbezogen wird, ist die Ausbildung der Fenster­ laibung als 20–30 Zentimeter breite Brüstung. Hell gestrichen, reflektiert diese einen Teil des einfallenden Tageslichts an die Decke, von wo aus es blendfrei nach unten in den Raum abgestrahlt wird. Diese altbewährte, im Zuge der glatten Fassade der Moderne in Ver­ gessenheit geratene Maßnahme hilft nicht nur die Tageslichtver­tei­ lung zu verbessern, sondern auch Blendungen zu kontrollieren.

Miller & Maranta, Renovation der Villa Garbald (Gottfried Semper, 1862–1864) und Erweiterung zu einem ETH-Seminarzentrum, Castasegna, 2002–2004. ­Erweiterungsbau Roccolo. – Je nach Farbund Materialausführung können die ­Wände zur Belichtung tieferer Raumzonen beitragen – umso mehr, wenn sie ­direkt besonnt werden. Richard Neutra, Haus Chuey, Los Angeles, CA, 1956. Ansicht von Südosten. – Die ­reflektierende Qualität einer Wasserfläche, und sei sie noch so klein, kann zur Steigerung des Tageslichts genutzt werden.

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Lightshelfs an einem Wohn- und Geschäfts­ haus in Zürich-Seefeld.

Nach demselben Prinzip funktioniert die professionalisierte ­ ariante des sogenannten Lightshelf, das zum integrierten Bestand­ V teil der Fassadengestaltung werden kann. Hier sorgt ein horizon­ tales, glattes und hell gestrichenes Profil dafür, dass das Tageslicht gegen die Decke gelenkt wird. Die Eindringtiefe des Tageslichts lässt sich damit auf eine Distanz von über 5 Meter erhöhen, was etwa der 2,5-fachen Strecke vom Boden bis zur Fensteroberkante ent­ spricht (statt der üblichen 1,5 bis 2-fachen). Gleichzeitig schützen die Lightshelfs den fensternahen Bereich vor direk­ter Sonneneinstrah­­ lung. Die besten Ergebnisse erzielen sie auf der Südseite, in Brei­ tengraden, wo der klare Himmel vorherrscht. Über die Anordnung der Fensteröffnungen und den Mitein­bezug reflektierender Oberflächen kann also Einfluss auf die Belichtungs­ stärke und Lichtverteilung im Raum genommen werden. Dieser Spielraum wird indessen solange begrenzt bleiben, wie eine im Ver­ hältnis zur Raumtiefe nur geringe tageslichttechnisch wirksame Höhe der bauliche Normalfall bleibt. Um wirkliche Fortschritte bei der natürlichen Raumbelichtung zu erzielen, sind – insbesondere, was den mehrgeschossigen Wohnbau anbelangt – neue Lösungs­­­ ansätze gefragt. Bisher bleibt die Frage, wie diese aussehen könnten, allerdings dem Innovationsgeist einzelner Vorreiter überlassen. Abschrägung von Sturz und Brüstung – Aus Sicht des Licht­ planers kann die Ausbildung der Geschossdecke als eine sich nach außen verjüngende oder anhebende Konsole bereits eine einfache, aber effektive Möglichkeit darstellen, um den Tageslichteinfall ­wesentlich zu begünstigen. Durch eine entsprechende bauliche Maß­ nahme wird der Raum zur Fassade hin höher und lichter, was den hellen Zenitlichtanteil beim einfallenden Tageslicht erhöht und dieses bis zu 6 Meter tief in den Raum eindringen lässt. 20 Schon zu Beginn der 1930er Jahre hatte Alvar Aalto für die nach Süden aus­ gerichteten Patientenzimmer seines Sanatoriums in Paimio eine ana­ loge Lösung vorgesehen. Ganz im Geiste der Moderne, die an die heilende Wirkung eines licht- und sonnengetränkten Umfelds glaub­ te, sollten die nach oben wegknickenden Geschossplatten ein ­tieferes Eindringen der Licht- und Sonnenstrahlen ermöglichen – im günstigsten Fall bis zum Kopfende des Krankenbetts. Die Aus­ führung dieses mit Sorgfalt durchdachten Details scheiterte allerdings aus Kostengründen.

Deckenbestrahler und Sonneneinstrahlung in Patientenzimmer. – Eine der zahlreichen funktionalen Skizzen Aaltos zur Lichtführung in den Krankenzimmern – ausgehend von den Bedürfnissen eines liegenden Raumnutzers.

Alvar Aalto, Tuberkulosesanatorium, ­Paimio, Finnland, 1928–1933. Schnitt NordSüd durch den Patiententrakt (Vorprojekt). – Wie der Schnitt aus einem frühen Planungsstadium belegt, hatte Aalto ursprünglich vorgesehen, die Enden der Geschossdecken in den Patientenzimmern nach oben hin wegzuknicken, um so einen tieferen Lichteinfall zu ermöglichen.

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querkraft, Wohnhaus LEE, Wien-Favoriten, 2001–2004. Wohnraum mit Überzug, Schnitt im Fassadenbereich, Fassade mit Geländergrafik (Lichtwitz /Büro für visuelle Gestaltung). – Ein minimaler Eingriff in den Gebäudequerschnitt führt zu einer Verbesserung des Lichteinfalls. Die 45 cm über der Bodenfläche der Wohnungen angeordneten Balkonplatten dienen im Innenraum als Sitzbank oder Abstellflächen, unter denen die Heizkörper Platz finden. Außen können Sonnenschutzelemente darunter angebracht werden, ohne dass sie im Innenraum sichtbar sind.

Dass ein entsprechender Ansatz zur Verbesserung des Licht­ einfalls durchaus auch im Rahmen des (ökonomisch) Möglichen liegt, macht ein Beispiel aus dem zeitgenössischen Wohnungsbau deutlich. Das junge Wiener Architekturbüro querkraft erreicht mit der Ausführung von Überzügen an Stelle konventioneller Unterzü­ ge eine verringerte Beschattung der Fensterflächen durch die aus­ kragenden Balkone. Gleichzeitig wird ein tieferer Lichteinfall in die Innenräume gewährt. Auf die Belichtungsqualität wirkt sich zudem unterstützend die auf den Überzügen angebrachte breite Fenster­ bank aus. Sie reflektiert das einstrahlende Sonnenlicht direkt in den Raum. Spiel mit der Raumhöhe: Maisonette-Typ – Von einer Hinweg­ setzung über das traditionelle Verständnis des architektonischen Raums als Stapelung getrennter, autonom gegliederter Geschosstran­ chen zeugt das Wohn­ und Atelierhaus Thonik von MVRDV in Amsterdam. Zwar werden die Gründe für diesen gestuften Raum­ querschnitt wohl kaum lichtplanerischer Natur gewesen sein, dennoch korreliert die Bodenabsenkung zur Raummitte hin mit dem Verlauf des einfallenden Tageslichts. Ebenfalls mit der herkömmlichen Schichtung gebrochen haben die Architekten von archiguards. In ihrem Ferienhaus in Wien­ Döbling, das unter massivem Kostendruck entstand, lässt die Niveau­ differenz in der trennenden Geschossdecke die beiden Raumkörper sich miteinander verschränken. Die beiden Ebenen erfahren dabei eine überraschend wohnliche Großzügigkeit. Der Raumgedanke entstand hier nicht aus einer Spielerei, sondern infolge funktionaler Notwendigkeit. Er entwickelte sich aus den Gegebenheiten des Orts, einer Hanglage. So erhöht die breite Raumstufe vor dem ge­ rahmten Landschaftsfenster im Obergeschoss nicht nur die Drama­ tik des Raums (und die Lichtreflexionen), sondern macht auch für das Untergeschoss Sinn, wo sie ein Licht spendendes Fenster­ band umfasst. 149

MVRDV, Wohn- und Atelierhaus Thonik, Amsterdam, 1998–2001. Ansicht, Innenraum Obergeschoss, Schnitt. – Raumquerschnitte können so geformt sein, dass sie von vornherein der Charakteristik des Tageslichteinfalls Rechnung tragen. Hier nimmt die Raumhöhe des Erdgeschosses in Halbmeterschritten von 4 m auf 2,5 m ab, während sie in der darüber liegenden ­Ebene entsprechend ansteigt. Ein Plus neben der Belichtung stellt auch die schnittspezifische räumliche Vielseitigkeit dar.

archiguards, Ferienhaus, Wien-Döbling, 2000–2002. Wohnbereich im Ober- und Übergangsbereich auf die Terrasse im ­Untergeschoss, Schnitt Nord-Süd. – ­Raffiniertes Ausnützen der Hanglage anstelle von konventioneller Schichtung.

MVRDV, Zweifamilienhaus, Utrecht, 1995– 1997. Straßenfassade, Innenraum und ­vertikale Raumabwicklung. – Aus der ­mäandrierenden Verklammerung zweier Wohnungen resultieren schmale Raumschichten. Die Lichtverhältnisse profitieren von den partiellen Raumentwicklungen in die Höhe.

Le Corbusier, Unité d’habitation, Marseille, 1945–1952. Schnitt durch ineinander ­verschachtelte Duplex-Wohneinheiten um zentralen Erschließungsgang, zweigeschos­ siger Wohnraum mit Loggia und Brise­soleil. – Ungeahnte Möglichkeiten bietet aus lichtplanerischer Sicht der Typ der ­Maisonette, da er das Spiel mit der Höhe erlaubt.

Delugan Meissl Associated Architects, Kallco Wienerberg City Lofts, Wien­Favoriten, 2002–2004. Schnitt. – Ausführung eines zusätzlichen Geschosses auf der Nordseite durch dreidimensionale ­Verschachtelung unterschiedlicher Wohneinheiten.

Bei einem Zweifamilienhaus in Utrecht, einem weiteren Ge­ bäude von MVRDV, wurden alle konventionellen Ansätze horizon­ taler und vertikaler Teilung über Bord geworfen. Durch die dreidimen­sionale Verklammerung der beiden Wohnungen erschei­ nen diese nicht nur größer, als es die Quadratmeterzahl vermuten lässt, auch die Lichtverhältnisse im Innenraum profitieren von den partiellen Raumentwicklungen in die Höhe. Obwohl es sich bei den hier erläuterten Beispielen um einzelne Häuser handelt, ließe sich ihr Prinzip durchaus auch auf den Ge­ schosswohnbau übertragen: etwa durch einen differenzierten ­Umgang mit der Deckenhöhe. Wird die obere Etage einer Duplex­ wohnung wie etwa bei Le Corbusiers Unité d’habitation in ­Marseille als Galerie ausgebildet und überragt den darunter liegenden Raum nur zum Teil, dann profitiert die Wohnung vom Lichteinfall über die doppelte Geschosshöhe, die sich aus der räumlichen ­Verklammerung ergibt. Allerdings muss auch hier auf ein günstiges Verhältnis von Raumhöhe zu Raumtiefe geachtet werden. Fallen die Wohneinheiten dagegen wie bei Le Corbusiers Lehrstück sehr tief und schmal aus, sind nur die Raumzonen unmittelbar vor dem Fenster ausreichend hell beleuchtet. Den lichttechnischen Beschränkungen durch standardisierte Raum- beziehungsweise Gebäudehöhen zu trotzen wussten schließ­ lich Delugan Meissl in ihrer Wohn- und Bürozeile am Wienerberg. Durch die Überhöhung der Wohnräume nach Süden auf 3,38 Meter wird die Belichtung der Mittelzone in der circa 14,5 Meter tiefen ­Zeile optimiert. Die Raumhöhen der Schlaf- und Nebenräume im nordseitigen Gebäudetrakt sind dagegen auf 2,38 Meter begrenzt, was bei gleicher vorgegebener Gebäudehöhe die Ausführung eines zusätzlichen Geschosses erlaubt. Die Raumhöhendifferenzie­ rung, die auf die kontrastierenden Belichtungseigenschaften der Nord-Südzeile Bezug nimmt, führt hier zu einer eindeutigen Zonie­ rung in Tag- und Nachtbereiche. Je nach Standpunkt kann dies den Wohnungen als Qualität oder Nachteil ausgelegt werden. Insgesamt liegt das Potenzial von im Schnitt konzipierten Wohn­ bauten nicht nur in verbesserten Belichtungswerten, sondern auch in deren differenzierten räumlichen Eigenschaften, was der Ein­ seitigkeit und Monotonie der üblichen gestapelten Massenware ent­ gegenwirkt. Licht von mehreren Seiten Optimum: zweiseitige Befensterung – Wie bereits erwähnt, bleibt die erreichbare Belichtungstiefe bei nur einseitiger Belichtung und insbesondere bei bedecktem Himmel sehr begrenzt. Mit der ­A nordnung mehrerer Fenster kann dem Problem einer ungleichmä­ ßigen Raumausleuchtung (= Lichtverteilung) begegnet werden. So bleibt bei mehrseitig belichteten Räumen ein vergleichsweise grö­ ßerer Anteil im mittleren Bereich der Beleuchtungsstärke. Bereits die Anbringung einer zusätzlichen Öffnung reicht deshalb aus, um den Kontrast zwischen hellen und dunklen Raumzonen zu redu­ zieren. Licht, das mindestens von zwei Seiten in den Raum einfällt, verbessert die Wahrnehmung von Konturen maßgeblich. Soll die Lichtverteilung im Raum möglichst gleichmäßig ausfallen, ist eine symmetrische Verteilung der Fenster zu bevorzugen. Aus Sicht des Lichtplaners erweist sich daher ein Raum, der von zwei gegen­ überliegenden Öffnungen oder gar seitens aller vier Raumwände

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Je nach Aufteilung der Öffnungsfläche, de­ ren Anteil in jedem der vier Beispiele 15% beträgt, fällt die Lichtverteilung anders aus. Letztere ist am gleichmäßigsten, wenn die Öffnungen symmetrisch an­gebracht werden. Bei nur einseitig belichte­ten Räumen vermag schon die Anbringung eines ­zusätzlichen, kleinen Fensters in der Rückwand das allgemeine Belichtungs­niveau und die Lichtverteilung im Raum stark zu verbessern. In der Regel sind also viele klei­ ne Tageslichtöffnungen günstiger als eine große (horizontale Achse: Ent­fernung vom Fenster in Meter, vertikale Achse: ­Beleuchtungsstärke in Lux).

Licht erhält, als optimal belichtet. Im Normalfall, da keine speziel­len visuellen Anforderungen an das Umfeld bestehen, dürfte dies aber weniger von Bedeutung sein. Insbesondere im Wohnbau ist auch der Lichteinfall durch Fenster an der direkt angrenzenden Wandfläche nicht nur völlig ausreichend, sondern kann im Gegenteil sehr reizund stimmungsvoll sein, weil nicht nur die Lichtmenge, sondern auch die Lichtqualität auf beiden Seiten unterschiedlich ausfällt. Eine gute Belichtung erfordert also keineswegs ausschließlich große Öffnungstypen. Größere Fassadenabwicklungen – Was nun die Gebäudeform anbelangt, liegt die logische Konsequenz der Forderung nach mehr­ seitiger Belichtung in einer Vergrößerung der Fassadenabwicklung. Soll tatsächlich ausreichend Außenfläche für die Aufnahme von ­Tageslicht zur Verfügung stehen, muss der Baukörper durch Ecken oder einspringende Winkel derart gegliedert werden, dass das Licht möglichst von zwei verschiedenen Seiten in den Raum einfal­ len kann. Allerdings – es wurde bereits an anderer Stelle erwähnt – bedingt dies einen größeren Anteil an Fassade im Verhältnis zum Gebäudevolumen, als die optimierte Wärmebedarfsrechnung es zulässt, und ist daher in Relation zu setzen zu den allfälligen Mehrkosten für die Wärmeerzeugung. Bei der Grundrissgestaltung von Wohnbauten sollte also darauf geachtet werden, dass jeder Raum so angelegt wird, dass er zu­­­min­ dest auf zwei Seiten an den Außenraum grenzt. Ist der Baukörper 154

Lux Guyer, Villa Boveri, Zürich, 1931–1932. Musikzimmer im Dachgeschoss, seitliche Nische nach Süden. – Fenster auf zwei Seiten geben einen besonderen Reiz, weil nicht nur die Lichtmenge, sondern auch die Lichtqualität auf beiden Seiten stets verschieden ist.

Buchner Bründler Architekten, Lofthaus, Colmarerstraße, Basel, 2000–2002. Badezimmer mit beschichteter Glaswand. – Licht von zwei Seiten dank Verglasungen im Innenraum.

nicht allzu tief, bietet es sich an, die Räume quer zur Gebäudeachse anzuordnen und damit nach beiden Gebäudeseiten hin zu orien­ tieren.21 Für größere Wohnbauten ist die Auffächerung oder Einker­ bung des Baukörpers oder das Versetzen einzelner Geschosse eine beinahe unumgängliche Maßnahme, will man belichtungstechnisch zweckmäßige Ecksituationen schaffen. Dabei kann sich das Neben­ einanderlegen von kleinen und großen Räumen als hilfreich er­ weisen. Problematischer gestaltet sich hingegen die Belichtung sehr tiefer Grundrisse – wobei sich auch hier zweiseitige Belichtungs­ situationen schaffen lassen. Lichtdurchlässige Bauteile – Eine entsprechende Raumbelichtung kann auch durch indirekte Beleuchtung erreicht werden, indem man zum Beispiel das Tageslicht mittels verglaster Wand- oder Tür­ partien aus einem angrenzenden, außen liegenden Raum weiter­ leitet. Wenngleich das indirekte Licht, durch ein innen liegendes Fenster, den TLQ im Raum kaum erhöht, so ist mit dieser Maßnah­ me dennoch eine bessere Lichtverteilung zu erreichen. 22 Spiel mit der Raumtiefe: Atrium-Typ – Ein anderer Ansatz­ punkt liegt in der Gebäudetypologie: Atrien oder Innenhöfe stellen für mehrstöckige, großflächige Gebäudegrundrisse ebenfalls eine Möglichkeit dar, mehrseitig belichtete Räume zu schaffen. Obwohl es sich um eine traditionelle Typologie handelt, kommt sie im Wohnbau hierzulande kaum mehr zur Anwendung – wahrschein­ lich auch deshalb, weil erst bei extremer städtebaulicher Enge der Verzicht auf Fernsicht von Bewohnern akzeptiert wird. Im Ver­ gleich zum Atrium bleibt der offene Innenhof ohne die klima­ tischen Vorteile einer Überdachung – und somit ein größerer Anteil der Fassade dem Außenklima ausgesetzt. Im Gegenzug braucht aber auch keine Reduktion des Tageslichteinfalls hingenommen zu werden, wie dies bei gedeckten Atrien der Fall ist; hier mindert die Dachverglasung die einfallende Belichtungsstärke und demzufol­ ge das Tageslichtpotenzial für die atriumseitig angrenzenden ­Räume.23 Während also bei Innenhöfen die Tageslichtausbeute erheb­ lich höher ausfällt, sind dagegen mit Atrien im Winter nützliche Temperaturgewinne zu erzielen. 24 Grundsätzlich aber gilt in beiden Fällen, dass die lichttechnische Effektivität vor allem von der Höhe und dem Durchmesser des Lichthofs abhängig ist sowie vom Reflexionsgrad des opaken Fassadenanteils, die diesen begrenzen. 25 155

Steidle Architekten, Wohnsiedlung, MainzLerchenberg, 1990–1994. Schnitt, Grundriss Regelgeschoss, Ansicht. – Schaffung zweiseitiger Belichtungssituationen durch Lichthöfe: Bei großen Parzellentiefen kann dies eine geeignete Maßnahme darstellen, um angrenzenden Räumen einen zweiseitigen Lichteinfall zu ermöglichen. Für eine wirksame Nutzung des Tageslichts sollte die Höhe des Innenhofes allerdings weniger als dessen doppelte Breite betragen. Zudem muss dem Problem der Beschattung hohe Priorität beigemessen werden.

Für Wohnzwecke eignen sich im Normalfall nur Atrien oder Lichthöfe von nicht allzu großer Höhe oder solche, die eine ausrei­ chend weite Lichteintrittsfläche aufweisen (Mindestverhältnis von Breite zu Höhe = 2 : 3). Gebaute Beispiele basieren oftmals auf einem nicht gerechtfertigten, planerischen Optimismus hinsichtlich des erreichbaren Tageslichtpotenzials. 26 Bei einem Entwurf, der auf ­Tageslichtoptimierung ausgelegt ist, muss für die Planung des Licht­ hofs große Sorgfalt aufgewendet werden. So sollte zum Beispiel der Verglasungsanteil der Fassaden von unten nach oben hin abneh­ men, denn gerade die unteren Geschosse sind infolge des größeren Verbauungswinkels davon abhängig, ihr Tageslicht über Reflexion zu erhalten. Wenn nun aber die Atriumswände der oberen Geschosse über großzügige Verglasungen verfügen, wird der durchschnittliche Reflexionsgrad der Atriumswände reduziert – schließlich weist Glas lediglich einen Reflexionsgrad von 15% auf. Je mehr Glas also, desto weniger Reflexionsstrahlung, wie sie für die Belichtung der unteren Räume so wichtig wäre. Eines der wenigen Gebäude, bei dem dieses Gebot eine sinn­ gemäße Umsetzung erfahren hat, ist das Wohn- und Geschäftshaus in der Schützenmattstraße in Basel von Herzog & de Meuron. Hier sorgt die sich nach unten kaskadenartig verjüngende Wand auf der Nordost- und vor allem Südostseite des Hofs für eine ausrei­ chende Reflexionsfläche. Dies kommt nicht nur dem gesamten Innen­ hof zugute, sondern dient infolge der Mehrfachreflexion letztlich auch der Belichtung der einzelnen Wohnungen, die ihr Licht über das Atrium erhalten. Im Gegenzug profitieren die tiefer gelegenen Ebenen von dem nach unten ansteigenden Fensterflächenanteil, ­womit der Lichteinfall in diesen Geschossen begünstigt wird. Über­ haupt trägt ­die ganze Grundrissdisposition der Charakteristik des Tageslicht­ein­falls Rechnung. So wird aus dem Schnitt ersichtlich, dass die ­Geschosse auf der Nordwestseite nach oben hin gestaffelt zurückversetzt sind. Der Bau zeugt von einer differenzierten ­Planung, die bis ins Detail auf eine optimale Tageslichtversorgung ausgerichtet ist. Ein vorbildliches Beispiel, um zu beweisen, dass Tages­lichtplanung auch in ästhetischer Hinsicht höchsten Ansprü­ chen ge­­­­nügen kann. 156

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Herzog & de Meuron, Wohn- und Geschäftshaus, Schützenmattstraße, Basel, 1991–1993. Schnitt Nordwest-Südost und Nordost-Südwest, Ansicht Innenhof und Wohnung, Grundriss 2. Obergeschoss. – Der lange Baukörper besteht aus U-förmig angelegten Grundrissen, die ein Atrium dreiseitig umschließen. Mit abnehmender Stockwerkzahl weitet sich dieses in der Breite, ebenso wie auch die Geschosse auf der Nordwestseite nach oben hin gestaffelt zurückversetzt sind, um so das Tageslichtangebot für die unteren Wohnungen zu verbessern. Die sich nach unten kaskadenartig verjüngende Fassadenfläche bietet dem Licht vor allem im oberen Bereich ausreichend Reflexionsfläche.

Qualitative Zielsetzungen Innenraumgestaltung und visueller Sehkomfort Wenngleich eine hohe Beleuchtungsstärke die zweckrationale Sicht­ barkeit unterstützt – visueller Sehkomfort und ein angenehmes Ambiente müssen damit noch lange nicht erreicht werden. Einer der Doyens der Tageslichtplanung, Christian Bartenbach, beschreibt den Menschen als ein visuelles Wesen, das entscheidungs- und ver­ haltensrelevante Informationen zu etwa 80% über das Auge auf­ nimmt. Licht kann dabei die räumliche Orientierung unterstützen, indem es Raumzonen kennzeichnet, architektonische Strukturen hervorhebt und sie in einen funktionellen Zusammenhang stellt. Gu­te Tageslichtplanung zeichnet sich dadurch aus, dass über die Lichtverhältnisse im Raum dem Nutzer exakt das Maß an Informa­ tion bereitgestellt wird, das seine Aufmerksamkeit lenkt und den Wahrnehmungsprozess begünstigt. Licht zur Information und Wegführung Durch stärkere und schwächere Beleuchtung entsteht eine Informa­ tionshierarchie, die den Blick auf helle Zonen oder Objekte lenkt und entsprechend eine dunklere Umgebung bedingt. Wie bereits erwähnt, sind nicht nur die Planung des Lichteinfalls, die Anordnung oder Ausbildung der Fensteröffnungen wichtige Gestaltungsmittel, sondern auch die Wahl von Oberflächentexturen und Farben. ­Während ein zu knapper Informationsgehalt möglicherweise dazu führt, dass der Raum langweilig erscheint und Sehaufgaben er­ schwert werden, kann dagegen ein Zuviel an Information Konfusi­ on und Ermüdungserscheinungen hervorrufen.

Christian Matt, Einfamilienhaus, Bregenz, 2000–2003. – Licht hilft nicht nur bei der Wegführung, es ermöglicht auch, aus ­Beengtheit Weite zu schaffen.

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Für die Informationsverarbeitung spielt die Qualität des Lichts eine größere Rolle, als man zumeist glaubt. Oft versucht man ­ver­ge­bens, schlechte Sehbedingungen durch eine Vergrößerung der Lichtmenge zu korrigieren. Wer etwas nicht gut zu sehen glaubt, ver­ langt meist nach mehr Licht. Dass aber die Quantität nicht so ­wichtig ist wie die Qualität und eine helle Raumausleuchtung die Wahrnehmung längst nicht zu erleichtern braucht, veranschaulicht folgendes Bild: Werden zwei helle Wandflächen, die im rechten Winkel zueinander stehen und zusammen eine Ecke bilden, gleich­ mäßig beleuchtet, kann es sich ergeben, dass beide Seiten gleich hell erscheinen. Dadurch wird unter Umständen die Kante ausgelöscht. Schwächt man dagegen das eine Licht ab, sodass es zu einem we­ sentlichen Unterschied kommt zwischen der Beleuchtung der beiden Flächen, dann kann die Kante deutlich hervortreten – auch bei sehr schwacher Beleuchtung. Das Beispiel zeigt, wie eine kontrast­ arme Lichtatmosphäre Konturen verflachen lässt, und illustriert ­damit die Bedeutung des Schattens als Komplize von Licht. Erst die Abstufung zwischen hellen und schattigen Flächen gibt Auskunft über die Plastizität von Körpern. Die Art, wie etwas beleuchtet wird, ist von fundamentaler Bedeutung und unterstützt das Denken, Handeln und Wohlbefinden im Raum. Ziel einer guten Lichtge­ staltung muss deshalb der visuelle Sehkomfort sein. Dieser ist das Ergebnis einer gelungenen Komposition ausreichender Helligkeit und visueller Attraktivität. Abgesehen vom Faktor der Aussicht ­resultiert diese in erster Linie aus Kriterien wie dem Grad der Schattigkeit und der Leuchtdichteverteilung beziehungsweise der Leuchtdichtekontraste im Raum. Gegenüber der quantitativen Lichtplanung, wo die zweckrationale Sichtbarmachung und damit die Beleuchtungsstärke im Vordergrund stehen, gibt es beim ­Konzept der qualitativen Lichtplanung kein vorrangiges Kriterium. Wichtig ist neben diesen Kriterien aber in jedem Fall auch die ­Begrenzung möglicher Blendungserscheinungen (sowie ein ausrei­ chender Sonnenschutz), da vor allem diese den Sehkomfort be­­­ einträchtigen.

Licht und Schatten bestimmen die Wahrnehmung von räumlicher Plastizität.

Lichtsteuerung und Schattierung Im Zusammenhang mit der quantitativen Lichtplanung wurde da­ rauf hingewiesen, dass die Gleichmäßigkeit der Lichtverteilung ein essenzielles Kriterium für gute Sichtbarkeit darstellt. Vor dem Hintergrund der physiologischen Raumwahrnehmung, die letzt­ lich den qualitativen Sehkomfort eines Betrachters ausmacht, muss ­diese Forderung allerdings etwas relativiert werden. Erkenn­bare Kontraste bilden die Grundlage und Voraussetzung unserer räumli­ chen Wahrnehmung – eine gewisse Schattigkeit steigert die Plas­ tizität eines Raums und der darin befindlichen Objekte. Schatten entstehen dort, wo aus geometrischen Gründen kein oder nur wenig Licht hinfallen kann. Bei Objekten wird zwischen Eigenschatten und Schlagschatten unterschieden. Ersterer liegt auf dem Gegenstand selbst; alle Flächen eines Körpers, die nicht ­direkt beleuchtet werden, liegen im Eigenschatten. Der Schlagschat­ ten wird dagegen vom Objekt auf die Umgebung geworfen. Er ­entsteht, wenn von Lichtöffnungen gerichtetes Licht auf ein Objekt fällt. Mithilfe des Schlagschattens kann etwas über die Lage der Lichtquelle, aber auch über die Beziehung der verschiedenen Ob­ jekte untereinander ausgesagt werden.

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Der Begriff der Schattigkeit umschreibt ­die Verteilung des Lichteinfalls sowie die ­Fähigkeit einer vorhandenen Belichtungs­ situation, körperliche Formen wieder­ zugeben. Die Schattigkeit ist eine wichtige Komponente der Sehleistung, wird aber häufig nicht unter diesen Begriff subsumiert – wohl weil sie schwer zu beschreiben und zu messen ist.

Für den Lichtverlauf und die Art der Schattenbildung ist vor allem die im Raum dominierende Lichtrichtung entscheidend – wes­ halb die Unterscheidung zwischen gerichtetem und diffusem Licht ein zentrales Kriterium qualitativer Zielsetzungen darstellt. Gerichtetes Licht geht von einer Punktquelle aus, zum Beispiel von der Sonne, und entsteht in Innenräumen durch kleine Öffnun­ gen. Im Gegensatz zum diffusen Licht des bedeckten Himmels sorgt es für Schatten und Reflexe im Raum. In Fensternähe ent­ste­ hen meist Schatten mit scharfen Abrisskanten, die mit zunehmen­der Entfernung einen sanfteren Verlauf nehmen. Vorteil der direkten Lichtstrahlung ist eine vergleichsweise hohe Beleuchtungs­stärke, was die Wahrnehmung der Körperlichkeit von Gegen­ständen erhö­ hen und das räumliche Sehen unterstützen kann. Im Vergleich zur Beleuchtungsintensität des bedeckten Himmels weist jene des direkten Sonnenlichts eine gut fünf- bis zehnmal höhere Beleuch­ tungsstärke auf. Gerade bei Sonnenschein und nur einseitigem Lichteinfall können deshalb auch harte Kontraste entstehen, welche die Information über Objekte und Details reduzie­ren. Bei der Nut­ zerbeurteilung von Wohnräumen genießt die ­Besonnung – als Para­ meter untrennbar mit den Tageslichtverhältnis­sen im Innenraum verbunden – gleichwohl einen hohen Stellenwert. Diffuses Licht geht dagegen von großen leuchtenden Flächen aus wie zum Beispiel dem bedeckten Himmel oder reflektierenden Außen- und Innenwänden. Vor allem die Raumoberflächen sind in ihrer Eigenschaft als Sekundärstrahler, das heißt als Ursache des Indirektanteils der Innenraumbeleuchtung, für das Beleuchtungs­ niveau entscheidend. Aufgrund der starken Streuwirkung zeichnet sich diese Belichtungsart durch eine gewisse Homogenität aus. Bei Lichtstrahlung aus mehreren Richtungen werden Kontraste gemil­ dert beziehungsweise ausgeglichen. Störende Reflexionen durch glänzende Oberflächen oder unerwünschte Schattenbildung werden weitgehend vermieden (ein Grund übrigens, weshalb Fotografen immer mit reflektiertem Licht arbeiten). Allerdings sind bei diffusem Licht hohe Beleuchtungsstärken nur mit beträchtlichem Aufwand zu erreichen. Raummodellierung Über die Anordnung und Oberflächenstrukturen von Öffnungsund Begrenzungsflächen kann Einfluss genommen werden auf das Verhältnis von direkten und indirekten Lichtwirkungen und damit auf die Raummodellierung. Indes bestehen in der Tageslichtpla­ nung keine Standardvorgaben, die Hinweis darauf geben, was eine gute Modellierung ausmacht oder welche Maßnahmen diese

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Die durch das kleine Fenster einfallende, gerichtete Lichtstrahlung lässt die Textur der Wand reliefartig hervortreten und teilt die Fläche in präzis wahrnehmbare Lichtund Schattenpartien. Luis Barragán, Haus Gilardi, Tacubaya, ­Mexico City, 1975–1977. Galerie. – Das durch das Schlitzwerk einfallende ­Ta­ges- oder Sonnenlicht wird von diesem gebrochen und gefiltert und – von der rückwärtigen Wand noch einmal reflektiert – als diffuse Lichtstrahlung an den Raum abgegeben. Harte Schatten werden vermieden.

unterstützen. Gerade beim Wohnen aber gibt es kein eigentliches Gut oder Schlecht, sondern es herrscht eine gewisse Lichtfreiheit, die ­allein von den Bedürfnissen und Wohnwünschen der Bewohner dik­tiert wird. So kann jede Belichtungssituation durchaus ihren Reiz haben und die Kombination unterschiedlicher Lichteffekte ei­ ne wünschenswerte Abwechslung in die Wohnlandschaft bringen. Ein paar Gedanken dazu, inwiefern sich das Verhältnis zwischen ­Öffnungs- und Wandanteil auf die Lichtverhältnisse und Schatten­ bildung im Raum auswirkt und wie sich diese mittels einfacher ­architektonischer Eingriffe in die eine oder andere Richtung mani­ pulieren lassen, lohnen allemal. Nicht zuletzt sind sie auch als ­A nregung gedacht, sich der Konsequenzen bestimmter Entscheide bereits im Voraus bewusst zu werden. Minderung von Kontrasten Eine ausnehmend schatten- und damit kontrastreiche Situation ent­ steht, wenn in einem vierseitig von Wänden umschlossenen Raum Licht allein durch ein relativ kleines, mittig in der Wandfläche an­ge­ setztes Fenster scheint. In einem solchen Fall, da das Licht rela­tiv gebündelt eindringt und ähnlich der Wirkung eines Scheinwerfers einen bestimmten Ort im Raum lokalisiert, sind die Unterschiede zwischen den Leuchtdichten sehr groß. Anbringung einer zweiten Öffnung – Eine Schattenaufhellung beziehungsweise Kontrastminderung kann hier erreicht werden, in­ dem der Anteil der Diffusstrahlung im Raum erhöht wird. Eine der effizientesten Maßnahmen, um dies zu erreichen, besteht in der Anbringung einer weiteren Öffnung. Im Idealfall wird diese in der angrenzenden Wand platziert, möglichst so, dass das Licht der einen Seite die jeweils benachbarte Wandfläche erhellt. Mit der ­geschickten Anordnung einer Nebenlichtquelle lässt sich im Übrigen nicht nur der Diffusanteil steigern, sondern auch das allgemeine Helligkeitsniveau im Raum, was sich ebenfalls egalisierend auf den bestehenden Kontrast zwischen heller Fenster- und dunklerer Be­ grenzungsfläche auswirkt. Bei mehrseitig belichteten Räumen bleibt ein größerer Raumanteil im mittleren Bereich der Beleuch­

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Le Corbusier, Cabanon Le Corbusier, ­Roquebrune-Cap Martin, Côte d’Azur, 1951–1952. Ausblick auf Roquebrune. – Lichteinfall durch eine einzige, konzentrier­ te Lichtquelle, was eine starke Schatten­ bildung zur Folge haben kann: Ein Großteil der plastischen Raumwirkung geht dadurch im Halbdunkel des Raums verloren. Lichteinfall von zwei Seiten in einem Raum im Palazzo Salis, Bondo, Bergell, 1765–1774.

Carlo Scarpa, Gipsoteca Canoviana, ­Possagno, 1955–1957. Eckfenster. – Eine Lösung, die jeden Gegenlichteffekt vermei­ det: In diesem Beispiel wird das – für einmal nach innen ­gestülpte – Eckfenster der Moderne zur gleichmäßig strahlenden Lichtquelle. Die senkrecht aufeinander­ treffenden Wände wirken dabei als Lichtverteiler.

tungsstärke, wobei bereits ein kleines Fenster auf der Rückseite ausreicht, um Kontraste wirkungsvoll zu senken. Wenn also irgend­ wie möglich, sollten Ecksituationen unbedingt ausgenutzt und mit Öffnungen versehen werden, um das Tageslicht aus verschiede­ nen Richtungen in den Raum zu leiten. Wandschnittfenster statt Lochfenster – Sofern keine Möglichkeit besteht, einen Raum über mehrere Öffnungen zu belichten, kann ein weiterer planerischer Kniff zur Erhöhung des Diffusanteils und damit zu weicheren, schattenfreieren Lichtverhältnissen beitragen. So werden zum Beispiel durch das Verlegen des Fensters aus der Wandmitte hin zur Kante die flankierenden Seitenflächen zu reflek­ tierenden Leuchtkörpern, die das auf sie fallende Tageslicht als ­Diffusstrahlung in den Raum abgeben. Lichtumlenkung mittels Reflexionsfläche – Eine andere Option bietet der Einsatz von beweglichen Läden, die an der Fensterkante im Innenraum angeschlagenen werden. Diese fungieren als Re­ flexionsfläche, über die das Licht diffus in den Raum strahlt. Eine zu­ sätzliche Unterteilung der Läden in verschiedene Felder erlaubt es, die Lichtdosis stufenweise zu regulieren. Lichtbrechung – Überdies trägt auch vor allem in südlicheren Gegenden die Verwendung von außen montierten Lichtbrechern oder weit auskragenden Dachvorsprüngen zu einer Kontrastminde­ rung im Innenraum bei, da durch sie der Direktanteil der Licht­ strahlung stark reduziert wird. 162

Luis Barragán, Haus Prieto López, Jardines del Pedregal, Mexico City, 1950. Diele. – Bei diesem Prinzip des Durchbruchs bis zur Ecke wirkt die Wand als diffus strahlender Reflektor.

Luis Barragán, Haus und Atelier Barragán, Tacubaya, Mexico City, 1947–1948. Schlafzimmer-Eckfenster im Obergeschoss. – ­Innen angebrachte Fensterläden, ein häufiges Bauelement in der traditionellen Architektur Mexikos, ermöglichen eine gesteuerte Mischung direkter und indirekter Strahlung. E. Maxwell Fry, Government Press, Chandigarh, Indien, 1956. Bewegliche Sonnenschutzlamellen aus Aluminium an der Südwestfassade. – Ein System, das vor allem in Gegenden mit hoher Sonnenwahrschein­ lichkeit von Interesse ist.

Modulierung diffuser Helligkeit Eine sehr diffuse Umgebungshelligkeit tritt dagegen in Räumen auf, die beispielsweise von semitransparenten Scheiben begrenzt wer­ den, die das eindringende Licht filtern. Hier dominiert die indirekte Lichtstrahlung und damit ein weiches Licht, das beim ­Betrachter den Eindruck fließender Formen erzeugt und den Raum schwerelos wirken lässt. Gegen unerwünschte Diffusionserscheinungen ist die partielle Einführung von geschlossenen Fassadenflächen geeig­ net, die als Schattengeber wirken. Ihre Anordnung sollte darauf ­angelegt sein, einer gleichmäßigen und großflächigen Bestrahlung von Oberflächen im Innenraum entgegenzuwirken, weil solche den Modulierungseffekt ganz allgemein untergraben. Eine weitere Steigerung erfahren die Leuchtdichtekontraste, wenn das Wandele­ ment zusätzlich perforiert wird.

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Paul de Ruiter, Forschungsgebäude Mercator 1, Katholische Universität Nijmegen, Niederlande, 1996–1998. – Die großflächi­ ge, gleichmäßige Raumausleuchtung wirkt der Schattenbildung entgegen, die Plastizität schwindet.

Perforation – Eine etwas unorthodoxe Lösung zeigt ein Wohn­ block in Paris, bei dem sich der Architekt anstelle einer einzigen Glasfront für die Einführung unterschiedlich breiter Wandschlitz­ fenster entschied, die für höhere Kontraste und mehr Konturen im Raum sorgen und selbst in den unteren Geschossen noch einen reichen Lichteinfall gewähren. Auch wenn diese optisch ansprechen­ de Lösung hier in erster Linie gewählt wurde, um unliebsame ­Einblicke zu verhindern und die Privatsphäre zu schützen, illustriert dies doch sehr schön eine der vielfältigen Möglichkeiten, um dem sonst recht einfallslosen Einerlei im Wohnbau mit austarierten Lichtverhältnissen zu begegnen.

Franck Hammoutène, Wohnblock, Rue Raymond Aron, Paris 13e, 1998–2000. Ansicht und Innenraum. – Wandschlitzfenster sorgen für höhere Kontrastwerte und mehr Konturen im Raum. Kazuyo Sejima & Associates, Y-House, Katsuura, Chiba, Japan, 1993–1994. Esszimmer. – Die schwarze Oberfläche ab­ sorbiert das großflächig einfallende Licht.

Absorption – Eine weitere, recht einfache Methode, um den ­ iffusanteil im Raum zu verringern, liefert im Übrigen die Absorp­ D tionswirkung lichtschluckender Materialien oder Farben, wie zum Beispiel schwarzer Anstrich, Schiefer oder Sichtbackstein; dies geht also einher mit dem Einsatz von Oberflächen, die einen ­geringen Reflexionsgrad aufweisen. Ganz allgemein aber lassen sich angenehme Belichtungssituationen schaffen, indem man sich mehrerer Lichtquellen mit unter­schied­ lichen Verteilungscharakteristiken bedient und demzufolge mit ge­ richteten und diffusen Lichtkomponenten balanciert. Ent­sprechend 164

sollte ein Belichtungskonzept verfolgt werden, das Licht aus direk­ ten Quellen schöpft, diese mit internen Reflexionen kombiniert und damit ein gutes Gleichgewicht schafft zwischen dem allgemei­ nen Helligkeitsniveau und einzelnen Lichtakzenten im Raum.

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Direktblendung (1) und Reflexblendung (2).

Blendungskontrolle Blendung ist eine Art visueller Lärm, der die Sehkraft beein­ trächtigt. Im Zusammenhang mit dem Tageslichteinfall ist vor allem die Blendungsproblematik zu erwähnen, deren Begrenzung ­ebenfalls ein wesentliches Merkmal qualitativer Lichtplanung dar­ stellt. Auch wenn Bereiche mit erhöhter Helligkeit die Aufmerksam­ keit lenken und eine kontrastreiche Lichtführung zur Schaffung eines ab­­­­wech­slungsreichen Ambientes beiträgt, können zu hohe Leucht­dichten oder zu große Leuchtdichteunterschiede im Gesichts­beziehungsweise Blickfeld die Wahrnehmung empfindlich stören. Zur Unterscheidung der Blendsituationen und deren Wirkungs­wei­ sen sind verschiedene Begrifflichkeiten gebräuchlich. So werden Blendungserscheinungen zum einen nach der Art ihrer Entstehung differenziert, das heißt danach, ob der störende Lichtstrahl direkt oder über eine reflektierende Oberfläche indirekt ins Auge fällt: Direktblendung wird unmittelbar durch die Blendlichtquelle ver­ ursacht, etwa die Sonne oder eine helle Himmelspartie. Für die Blendung ist der Blendwinkel von entscheidender Bedeutung, das heißt der Winkel, dessen Scheitel im Auge liegt und dessen Schenkel zur Sehaufgabe und zur Blendquelle weisen. Diese Art der Blen­ dung lässt sich naturgemäß am einfachsten reduzieren, wenn man die Lichtquellen (sprich Fensteröffnungen) so anordnet, dass sie mög­ lichst weit von der häufigsten Blickrichtung entfernt liegen. Reflexblendung entsteht hingegen indirekt durch Spiegelung der Blendlichtquelle an glänzenden Oberflächen. Bekannteste Bei­ spiele hierfür sind Reflexe, wie sie auf Wasserflächen, Gläsern, ­Lacken, Polituren, aber auch auf Kunstdruckpapier oder auf Bild­ schirmen entstehen. Die Reflexblendung kann durch eine Reduktion der auf die Oberflächen einstrahlenden Beleuchtungsstärken ­be­ziehungsweise durch eine geeignete Lichtstärkeverteilung mittels großflächiger, diffus strahlender Lichtquellen verringert werden. Zum anderen wird häufig auch die Differenzierung zwischen physiologischer und psychologischer Blendung vorgenommen. Wäh­ rend die physiologische Blendung durch sehr hohe Leuchtdichten einer Fläche im Gesichtsfeld verursacht wird und zu einer objektiven Verringerung der Sehleistung führt, ist dagegen von psycholo­gi­scher Blendung die Rede, wenn die Sehleistung durch ungünstige – zu hohe – Leuchtdichtekontraste im Sichtbereich beeinträchtigt wird: Ohne dass eine objektive Überreizung vorliegt, wird diese Blendung als Belästigung empfunden. Physiologische Blendung durch zu hohe Leuchtdichten Physiologische Blendung (engl.: Disability glare) entsteht dann, wenn sich im Gesichtsfeld eine unabgeschirmte Lichtquelle befindet, zum Beispiel eine zu helle Fensterfläche. Gerade bei größeren ­Verglasungen kann die Sehstörung mitunter signifikant sein, weil sich die Augenadaption des Nutzers innerhalb des Gesichtsfeldes auf Zonen unterschiedlicher Helligkeit einstellen muss. Eine der ­größten Triebfedern für das Auftreten physiologischer Blendung ist die Sonne. Zwar ist im Wohnbau die Blickrichtung selten festge­

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Vollflächige Verglasungen können Störun­ gen in den optischen Wahrnehmungs­ abläufen (etwa Blendungserscheinungen durch zu hohe Leuchtdichten im Ge­ sichtsfeld) verursachen und damit den visu­ ellen Komfort beeinträchtigen.

legt, dennoch kann hier die Sonnenlichteinstrahlung in Aufent­ halts- oder Arbeitsräumen stören und Blendung damit zum Thema werden. So zum Beispiel im Zuge des Bauens mit der Sonne, wo ­eine großflächige Verglasung der Südfassade dafür sorgen soll, dass die Strahlen der tief stehenden Wintersonne weit in die Räume ­eindringen, um so dem Gebäude zu einem Wärmegewinn zu verhel­ fen. Aber auch bei Ost- und vor allem Westfassaden besteht ­er­hebliche Blendungsgefahr, weshalb hier neben einem guten Sonnen­ schutz immer auf zusätzliche Blendschutzmaßnahmen zu achten ist. Im Gegensatz zum Sonnenschutz, für den sich in bestimmten Fällen auch eine starre Konstruktion an der Außenfassade als ­ausreichend erweist, sollte der Blendschutz unbedingt individuell bedienbar sein. Sinnvollerweise werden außen liegende Sonnen­ schutzmaßnahmen deshalb immer mindestens um einen innen liegen­ den Blendschutz wie etwa Jalousien ergänzt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Störungs­ effekt bei direkter Sonnenlichteinstrahlung aufgrund deren positi­ ver Konnotation geringer auszufallen scheint als bei künstlichen Blendquellen und zudem abhängig von der Fenstergröße ist. Unter­ suchungen haben gezeigt, dass bei einem kleinen Fenster der ­Blendungseffekt als weniger störend empfunden wird. Bei mittlerer Fenstergröße hingegen besteht ein großer Kontrast zwischen Blendquelle und der Umgebungsfläche, was zu einem größeren Blen­ dungseffekt führt. Bei wandgroßen Fenstern wiederum bleibt der Kontrast zu Umgebungsflächen vergleichsweise schwach, weil das Adaptionsvermögen des Auges den Blendungseffekt reduziert. Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Toleranzgrenze bei Blen­ dung durch Sonnenlicht wohl dann am höchsten ausfällt, wenn der Verglasungsanteil etwa 40–55% der Wandfläche beträgt.27 Blendung infolge zu hoher Leuchtdichte kann schon beim Blick durch das Fenster auf den diffusen Himmel eintreten. So kann der vom Innen­ raum aus sichtbare Himmel ebenfalls als allgegenwärtige Blend­ quelle auftreten, die selbst bei Bewölkung einen noch sehr hohen Eigenleuchtdichtewert aufweisen mag. Sogar die reflektierenden Wandflächen benachbarter Gebäude können hohe Leuchtkraft ent­ wickeln, sofern sie von der Sonne angestrahlt werden. 166

Luis Barragán, Haus und Atelier Barragán, Tacubaya, Mexico City, 1947–1948. Wohnraum. – Ein von zwei Trennwänden abgeteilter Raum als Beispiel, wie mit einfachen planerischen Mitteln nicht nur die potenzielle Störlichtquelle abgemildert, sondern auch noch die atmosphärische Raumstimmung gesteigert wird.

Es versteht sich von selbst, dass die erste und wirksamste ­ aßnahme zur Verhinderung von physiologischer Blendung in der M ­Eliminierung der Blendlichtquelle aus dem direkten Sichtbereich des Betrachters bestehen muss. Schließlich ist der Blickwinkel des Beobachters zur Lichtquelle eine der ausschlaggebenden Größen, die Direktblendung verursacht. Will man dem Raum also nur über ein einziges Fenster Licht zuführen, sollte die Öffnung zumin­ dest möglichst weit oberhalb der Augenhöhe und zur Nordseite hin angebracht werden. Tatsächlich entschärft werden kann die Blen­ dungsproblematik aber nur dann, wenn man darauf achtet, dass die Sicht auf den offenen Himmel oder andere potenzielle Blendquel­ len wie hochreflektierende Außenflächen (auch Schnee und ­Was­ser­oberflächen!) auf ein Minimum reduziert wird. Von Vertikal­­­Jalousien oder Vorhängen einmal abgesehen, kann hier der Ein­satz eines abschirmenden Bauelements Abhilfe schaffen, sei es die ­A nbringung eines außen liegenden beweglichen Blendschutzes oder eines Screens. Abschirmung durch einen Screen – Ein anregendes Beispiel für den Einsatz eines solchen Screens liefert das Atelierhaus von Luis Barragán, in dem der Architekt ein großes, hell leuchtendes Fenster mittels einer im Nachhinein errichteten, niedrigen Trennwand überwiegend abgeschirmt hat und damit die störende Helligkeit aus dem Gesichtsfeld verbannt. Mit dem abgeteilten Bereich zwischen Wohnraum und Bibliothek entsteht so ein Ort, der die Konzentra­ tion fördert und als Arbeitsplatz dient. Die etwas unorthodoxe ­Lösung einer Erkersituation soll ferner illustrieren, dass der potenziellen Blendungsproblematik durchaus auch mit Einfallsreichtum zu begegnen ist: Anstelle eines voll­ ständig verglasten Bay Windows wurde hier die Frontseite verschalt, womit der Raum in erster ­Linie – und ohne Blendungsgefahr – über indirekt einstrahlendes Tageslicht versorgt wird.

Klassische und unorthodoxe Lösung: Verglaster Erker (kadawittfeldarchitektur, ­Seniorenwohnhaus St. Nikolaus, Neumarkt am Wallersee, Salzburg, 1999–2001), ­Erker mit verschalter Frontseite (Armin ­Kathan, Martin Schranz, Erich Strolz, Wohn­haus, Höttinger Au, Innsbruck, 1995–1996).

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Raum- beziehungsweise Gebäudegeometrie – Eine weitere Möglichkeit, um hohe Leuchtdichten im Gesichtsfeld zu vermeiden, liegt in der Ausbildung einer geeigneten Raumgeometrie bezie­ hungsweise in der versteckten Anlage einer Fensteröffnung. In die­ sem Fall soll noch einmal ein Beispiel von Luis Barragán zum Zuge kommen, bei welchem er sich eines L-förmigen Grundrisses bedient und dessen kleine Ausbuchtung zur Hofseite mit einem Fenster versieht. Damit nutzt er die Nischensituation zur seitlichen Belichtung des langen Raumkörpers, während die Lichtquelle selbst dem Blick des Betrachters verborgen bleibt.

Luis Barragán, Haus und Atelier Barragán, Tacubaya, Mexico City, 1947–1948. ­Arbeitszimmer neben dem Atelier. – Der ­ L-förmige Grundriss schafft eine nischenartige Ausbuchtung, die zur seitlichen ­Belichtung genutzt wird. So bleibt die Licht­ quelle dem Betrachter verborgen.

Psychologische Blendung durch zu hohe Leuchtdichtekontraste Bei der psychologischen Blendung (engl.: Discomfort glare) wird das Sehvermögen infolge zu hoher Leuchtdichtekontraste im Gesichts­ feld gestört. Dies ist dann der Fall, wenn stark voneinander differie­ rende Leuchtdichten unmittelbar nebeneinander auftreten. So erscheint uns etwa eine befensterte Innenwand gerade um die Fens­ terkante herum am dunkelsten. Ein anderes Beispiel für psycho­ logische Blendung kann beim Blick auf den Arbeitstisch entstehen, sofern dort ein weißes Blatt Papier auf dunklem Untergrund zu ­liegen kommt. Zwar bleibt in diesen Fällen das Sehvermögen weit­ gehend erhalten, bei längerer Einwirkung aber führt psychologi­sche Blendung zu Ermüdungserscheinungen und herabgesetzter Leis­ tung. Sollen optische Arbeitsbedingungen ergonomisch stabil gehal­ ten werden, gilt es im Raum kontrastarme Leuchtdichteverhältnisse zu schaffen. Dabei ist eine Feinabstimmung zwischen dem eigent­ lich zu bewertenden Objekt und dessen Umgebung wesentlich. Wie schon im Zusammenhang mit den quantitativen Zielset­­zun­ gen erläutert, geht man in der spezifischen Lichtplanung für ­A rbeitsplätze von einer bestimmten Sehaufgabe aus, die den soge­ nannten Nahbereich determiniert. Anhand der Sehaufgabe er­fol­gen eine Abstimmung mit den umgebenden Raumoberflächen und ­damit eine Zweiteilung der visuellen Umgebung. Entsprechend wer­ den mit den Begriffen Infeld und Umfeld zwei unterschiedliche ­optische Wahrnehmungsfelder differenziert, die in einem wechsel­

Le Corbusier, Cabanon Le Corbusier, ­Roquebrune-Cap Martin, Côte d’Azur, 1951–1952.

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3: 1

1 : 10

1 : 10

Leuchtdichteverhältnisse: Die zulässigen Kontraste der Flächenhelligkeiten nach ­Etienne Grandjean.

seitigen Dialog zueinander stehen.28 Eine stabile, das heißt blendfreie Wahrnehmung ist aus ergonomischer Sicht nur dann gewährleistet, wenn der Kontrast zwischen den Leuchtdichten des nahen Blick­ felds (Infeld) und jenen der weiteren Umgebung (Umfeld) in einem erprobten Verhältnis steht: Der maximale Kontrast zwischen Seh­ aufgabe und näherem Umfeld sollte nicht größer als 1 : 3, zwischen Sehaufgabe und fernem Umfeld nicht größer als 1 : 10 sein. 29 An­ gesichts der Tatsache, dass die Einhaltung dieses Werts in der Reali­ tät eher illusorisch ist, sei an dieser Stelle auf eine weiterführende englische Publikation verwiesen, die festlegt, dass zumindest das Verhältnis zwischen Lichtquelle und Umgebung nicht mehr als 20 : 1 betragen soll, auf jeden Fall aber ein maximaler Kontrast der Leuchtdichten im Innenraum das Verhältnis von 40 : 1 nicht über­ schreiten dürfe.30 So weit die Theorie. Abschrägung der Laibung – Um aber noch einmal auf das für die Praxis relevante Beispiel eines Fensters zurückzukommen, dessen helle Fläche sich bei nur einseitiger Raumbelichtung stark von der dunklen Wand absetzt: Eine einfache planerische Möglichkeit, um dem großen Kontrast entgegenzuwirken, besteht in der Ausführung einer tiefen, zur Fensterebene hin abgeschrägten ­Laibung. Diese Maßnahme schafft eine Zone mittlerer Helligkeit, die den Blendungs­ effekt reduziert oder ganz zum Verschwinden bringt. Ansonsten können Sehbehinderungen durch zu hohe Leucht­ dichteunterschiede ebenso behoben werden, wie bereits im ­Abschnitt «Minderung von Kontrasten» erläutert. Eine Kontrastmilderung lässt sich demnach durch eine Erhöhung des allgemeinen Belich­ tungsniveaus beziehungsweise durch Abschattung erreichen, welche wiederum über eine Erhöhung des Diffusanteils im Raum funk­ tioniert. Hier noch einmal zur Erinnerung: Wandschnittfenster statt Lochfenster – Sind Öffnungen anstatt in der Wandmitte am Rand oder in einer Raumecke angeordnet, so überflutet das einströmende Licht die Flächen der angrenzenden, zur Fensterwand lotrecht stehenden Wand. Die angeleuchtete Fläche wird ihrerseits zur Lichtquelle und steigert die diffuse Ausleuchtung des Raums.

Johannes Kaufmann, Haus PAVI, Bad ­Waltersdorf, Steiermark, 2001–2002. Wohnraum. – Abgeschrägte Laibungen ver­ ringern die Blendung durch zu große Leuchtdichtekontraste um die Fensterkanten herum.

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Licht von zwei Seiten – Eine der effizientesten Möglichkeiten, um übergroße Helligkeitsunterschiede zwischen benachbarten Zo­ nen im Raum zu vermeiden, liegt in der Anbringung eines zweiten Fensters. Dieses, möglichst in der rechtwinklig angrenzenden Wand platziert, setzt das allgemeine Belichtungsniveau im Raum herauf. Das Licht der einen Seite erhellt zudem jeweils die andere Seite und verringert so den Kontrast zwischen den Wänden und hellen Fensterflächen. Diffundierung – Schließlich können auch außen liegende Licht­ brecher, die über einer Öffnung montiert sind, abschattend wirken und dazu beitragen, die Leuchtdichte der Fensterfläche her­ abzusetzen.

Der Silhouetteneffekt entsteht, wenn die Leuchtdichte des Hintergrundes im Vergleich zu jener des betrachteten Objekts viel höher ausfällt.

Silhouetteneffekt In diesem Zusammenhang sei auch auf den sogenannten Silhouetten­ effekt hingewiesen, der bei nur einseitig belichteten Räumen auf­ tritt. Steht vor dem Fenster ein Mensch oder auch ein Gegenstand, ist nur dessen Silhouette erkennbar. Die Problematik besteht darin, dass das Objekt von hinten belichtet wird, womit auf der unbe­ leuchteten, dem Betrachter zugewandten Seite ein verdunkelnder Eigenschatten entsteht. Dieser hüllt Form und Textur in eine diffuse Schattigkeit, was einerseits die Modellierung untergräbt und an­ dererseits auch einen starken Kontrast zur hellen Fensterfläche im Hintergrund setzt. Besonders unangenehm ist dies, wenn es sich um Gesichter handelt. Augen- und Nasenschatten des Gegenübers sowie die durch das Gegenlicht auftretenden Blendungserschei­ nungen können die Verständigung negativ beeinflussen. Um dem entgegenzuwirken, muss – sofern keine zweiseitige Be­ lichtung möglich ist – die indirekte Lichtstrahlung verstärkt ­werden, also jener Teil der Raumbelichtung, der durch Innenrefle­ xionen entsteht. Dementsprechend ist dieses Vertikal-Licht vor allem in der Raumtiefe wirksam, fällt aber im Vergleich zu den hori­ zontalen Beleuchtungsstärken um einiges schwächer aus. Letztere sind selbstredend vornehmlich in der Nähe des Fensters zu finden. Hier dominiert das direkte Himmelslicht aus den helleren, zenit­ nahen Himmelsregionen die Raumbelichtung, weshalb die Bestrah­ lung der horizontalen Flächen in diesem Bereich besonders stark ausfällt. Dies erklärt auch, warum sich der Silhouetteneffekt vor allem bei Personen und Gegenständen, die sich unmittelbar vor dem Fenster befinden, viel stärker ausnimmt, als dies bei tiefer im Raum gelegenen Standorten der Fall ist. Sonnenschutz und Sonnenlenkung Die Sonneneinstrahlung beeinträchtigt nicht nur den visuellen Seh­ komfort durch auftretende Blendungserscheinungen, sondern schlägt vor allem auch mit einer hohen thermischen Belastung zu Buche. Diese latente Gefahr der Überhitzung macht einen guten Sonnenschutz unabdingbar. Dabei kann über eine geeignete Gebäu­ deform und optimierte Beschattungsmaßnahmen großer Einfluss auf ein behagliches räumliches Umfeld genommen werden. Es ist deshalb unumgänglich, das unterschiedliche Strahlungsangebot für die verschiedenen Fassadenorientierungen zu kennen. Während die Sonnenbahn in unseren Breiten im Winter nur von Süd-Ost nach Süd-West reicht, ist sie im Sommer länger; von Nord-Ost bis ­­ Nord-West. Aufgrund des sich ändernden Sonnenstands fällt zu­

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dem auch die Intensität der Sonnenstrahlung auf die Gebäudeteile je nach Jahreszeit unterschiedlich aus. Ein gut funktionierender Sonnenschutz muss diesen Aspekten Rechnung tragen. Demzufolge sind die Fenster entsprechend ihrer Orientierung unterschiedlich zu behandeln. Während dies vormals durch sogenannte Verschat­ tungsdiagramme geschah, die zeichnerisch ermittelt wurden, über­ nehmen heute Computerprogramme diese Arbeit. Sie erlauben es, den Schattenwurf in kürzester Zeit für jeden Raum und jedes Fens­ ter zu jeder Tages- oder Jahreszeit darzustellen. Nordfenster zeitigen einen sehr gleichmäßigen Lichteinfall und minimale Wärmegewinne. In der Heizperiode besteht allerdings auch die Gefahr von Wärmeverlusten und damit verbunden, Behag­ lichkeitseinbußen. Hier sind Sonnenschutzmaßnahmen nur für frühe Morgen- und späte Nachmittagsstunden erforderlich. Südfenster gewähren allgemein hohe Beleuchtungsstärken im Raum, diese können im Tagesverlauf aber stark variieren. Generell lassen sich Sonnenschutzmaßnahmen relativ einfach, das heißt ­unkompliziert und wirksam durchführen. Ost- und Westfenster erweisen sich dagegen im Hinblick auf die Ausführung effektiver Sonnenschutzmaßnahmen eher als proble­ matisch. Entsprechende Maßnahmen sind auf beiden Seiten zu er­ greifen, wobei vor allem im Westen mit großen Wärmegewinnen zu rechnen ist. Auch deshalb sollte man hier großflächige Vergla­ sungen besser vermeiden. Bei der Anordnung des Sonnenschutzes gibt es heute eine Vielzahl von Möglichkeiten, die sich zu wenigen typischen Fassadenvarianten zusammenfassen lassen. Zu diesem Zweck wird im Folgenden ­zwischen einschaligen und mehrschaligen Fassaden unterschieden.

Intensität der Sonneneinstrahlung (W/m2 )

Flachdach im Sommer Südwand im Winter Westwand im Sommer

Ostwand im Sommer Südwand im Sommer

Ostwand im Winter

Globalstrahlung im Sommer

Westwand im Winter

Globalstrahlung im Winter

Uhrzeit (h)

Für die Ausführung und Position des Sonnenschutzes ist die Dauer und Richtung der einfallenden Sonnenstrahlung entsprechend der unterschiedlichen Jahres- und Tageszeiten maßgebend. Im Sommer ­erzielen die West- und Ostfassaden höhere Gewinne als Südfassaden, im Herbst und Frühling ist es umgekehrt. In Bezug auf den Sonnenschutz sind Nord-Südorientierungen deshalb unproblematischer.

Sommer

Winter

Zeit

Winkel

Stärke

Orientierung

morgens

flach

mittel

Ostfassade

mittags

steil

stark (v.a. Dach)

Südwand, wenig Strahlung

abends

flach

intensiv

Westfassade

gering, da kurz

Ostfassade

flach

intensiv und lang

Südfassade

gering, da kurz

Westfassade

morgens mittags abends

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Einschalige Fassaden Bei einschaligen Fassaden, die lediglich aus der Verglasungsebene und einem zusätzlichen Sonnenschutz bestehen, gilt es zu diffe­ renzieren zwischen außen oder innen liegenden Maßnahmen bezie­ hungsweise zwischen Lösungen, die in die Fensterebene selbst integriert sind. Wärmetechnisch am günstigsten ist der außen liegen­ de Sonnenschutz: Er erreicht einen höheren Wirkungsgrad als ein innen liegender, weil die Wärme, die durch die Absorption der Sonnenstrahlung entsteht, außerhalb des Gebäudes bleibt. Schließ­ lich muss auch der außen liegende Sonnenschutz noch einmal ­unterteilt werden in fixe oder bewegliche Konstruktionen, die un­ terschiedlichen Wartungsaufwand verlangen.

Le Corbusier, Textilfabrik Claude et Duval, Saint-Dié-des-Vosges, 1946–1950. Fassade mit vorgehängtem Brise-soleilRaster. – Ab den 1930er Jahren ergänzte Le Corbusier mit seiner «Erfindung» des Brise-soleil das Instrumentarium der modernen Architektur um ein neues ­Element: Der starre, der Fassade vorgesetz­ te Sonnenschutzrost stellt seither eine sehr kostengünstige, war­tungsfreie und dauerhafte Lösung insbeson­dere für Südost- bis Südwestfassaden dar.

Fixe Sonnenschutzvorrichtungen sind vor allem in Form von ­Dachvorsprüngen, Balkonen, auskragenden Bauteilen, Brises-soleil oder fest montierten Lamellen bekannt. In den meisten Fällen ­wer­den sie zu markanten Elementen der Fassadengestaltung, die den ­architektonischen Gesamtausdruck des Gebäudes wesentlich ­prägen. Vordächer – Gerade im Zusammenhang mit energiebewusstem Bauen hat heute die Bedeutung des Vordachs wieder zugenommen. Dieses kann, bedingt durch die verschiedenen Einfallswinkel der Sonnenstrahlen zu verschiedenen Jahreszeiten, die Sonne im Sommer vom Rauminneren fernhalten, im Winter aber als Wärme­ spender einlassen. Brises-soleil oder fixe Lamellen – Bei den sogenannten Brisessoleil handelt es sich um fixe Lamellenstrukturen, die der Fassade vorgeblendet werden und so ein direktes Eindringen der Sonnen­ strahlen verhindern. Bei Südfenstern etwa können kleine horizonta­le Auskragungen dafür sorgen, dass im Sommer, wenn der Sonnen­ stand hoch ist, eine Direktbestrahlung der Öffnungen ausbleibt. Für Fenster der Ost- und Westfassaden gelten dagegen vertikal verlau­ fende Verschattungselemente als ideal, da sie die Sonnenstrahlung nicht nur brechen, sondern gleichzeitig auch einen Teil des Lichts in den Raum reflektieren. Ebenso lassen sich Roste aus Stahl verwen­ den, bei denen Ausrichtung und Abstand in Abhängigkeit vom Zeitraum zu wählen sind, in dem der Sonnenschutz wirksam sein sollte. Während der Vorteil solcher Installationen ganz ­allgemein in einem ungestörten Sichtbezug vom Innen- zum Außen­raum liegt und auch Materialfragen und Windexposition nicht ins Gewicht fal­ len, erweisen sich fixe Sonnenschutzmaßnahmen insofern als ­un­zureichend, als auf tageszeitliche und saisonale Schwan­kungen des Sonnenverlaufs nicht reagiert werden kann. Zudem ist zu beach­ ten, dass bei einem fest montierten horizontalen Sonnen­schutz ­immer auch der für die Raumbelichtung wesentlichste, weil hellste zenitale Himmelslichtanteil abgeschirmt wird. Bewegliche Systeme bieten indes einen effektiveren Sonnenschutz als fixe Konstruktionen, weil sie sich den verschiedenen Wetterund Jahreszeitenverhältnissen anpassen lassen. Allerdings fallen mit ihnen auch mehr Unterhaltskosten an. Zu den beweglichen Sonnen­ schutzmaßnahmen gehören der klassische Klappladen, der Roll­ laden, Lamellen-Jalousien und Markisen, Sonnensegel, Gewebe- und Gitterstoffe sowie verschiebbare Fassadenelemente wie Paneele und Gitterroste. 172

Flora Steiger-Crawford, Rudolf Steiger mit Peter und Martin Steiger, Haus Steiger, ­Zürich, 1959. – Nutzung der auskragenden Dachflächen als stati­scher Sonnenschutz; dieser ist zugleich wesentli­cher Teil des ­architektonischen Ausdrucks.

Markisen und Lamellen-Jalousien – Markisen sind einfach und wirksam: Sie erreichen die Ausblendung des Sonnenlichts, indem sie von außen vor dem Fenster für einen Schattenwurf sorgen. Die Wärme wird dabei hervorragend aus dem Raum abgehalten, wäh­ rend er gleichwohl noch sehr hell erscheint. Ebenso bleibt zu­mindest im unteren Fensterteil der Ausblick vollständig erhalten. Insgesamt lassen sich Markisen gut in die Architektur integrieren, aller­ dings sind sie sehr windanfällig und als Blendschutz eher ungeeignet. Der Fassade vorgesetzte Jalousien mit verstellbaren horizon­talen Lamellen ermöglichen dagegen eine genaue Lichtsteuerung. Das Son­­ nenlicht lässt sich hier komplett ausblenden oder gegen die ­Decke lenken, um es in der Raumtiefe nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu konventionellen Markisen und Storen gewähren Jalousien zwar einen gewissen Blendschutz, dafür besteht aber auch nur ein­ geschränkter Ausblick. Außerdem sind außen liegende Jalousien ebenfalls windanfällig. Verschiebbare Fassadenelemente – Als Moment der Bewegung in der Statik des Baukörpers funktionieren der Fassade vorgehäng­te, lichtdurchlässige Gitterroste, metallene oder hölzerne Klappläden (als Urform aller mobilen Manipulatoren und bis heute vielfach ­variiert) oder auch mit Nylongewebe bespannte Schiebeelemente, die je nach Ausbildung gleichzeitig als Sonnen- und Blend- bezie­ hungsweise Sichtschutz einsetzbar sind. Diese Vorrichtungen kön­ nen individuell reguliert und an die unterschiedlichen Licht- und 173

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Sichtbedingungen angepasst werden. Gleichzeitig sind sie auch Ausdruckselement der Fassade und geben Auskunft über die inneren Zustände des Wohnens. Fallarm-Markise an einem Wohnhaus, ­Zürich. KGP Kyncl Architekten, Wohn- und Geschäftskomplex Puls 5, Zürich-West, 2001– 2004. Schiebeelemente vor der Fassade.

Innen liegende Sonnenschutzmaßnahmen sind allgemein weniger wirkungsvoll, weil mit der einfallenden Lichteinstrahlung auch die Wärme in den Raum gelangt. Diese wiederum muss abgeleitet werden. Gebräuchliche Systeme sind Lamellenstoren, Rollos, Screens, Jalousien und Vorhänge. Textile Materialien – Textile Materialien stellen eine preiswerte Möglichkeit des Sonnenschutzes dar, die überdies auch einfach zu warten und zu reinigen ist. Sie sind vor allem als Ergänzung zu einer außen liegenden Konstruktion geeignet, wobei sie die Blend­ schutzfunktion übernehmen können. Falls nur ein innen liegender Sonnenschutz möglich ist, sollten unbedingt helle Farben ver­ wendet werden, um die Sonnenwärme nach außen zu reflektieren. Falls außen liegende Sonnenschutzvorrichtungen aus gestalte­ rischen Gründen nicht möglich sind, kann mittels entsprechender Konzeption und Organisation des Baukörpers eine Eigenverschat­ tung erreicht werden. Möglichkeiten bestehen hierbei in der ent­ sprechenden Ausbildung von Gebäudeflügeln, Balkonen, Arkaden oder auch in der Anbringung tiefer Fensterlaibungen. In der Fensterebene selbst angelegte Lösungen wie etwa Sonnen­ schutzgläser, deren Beschichtung die Wärmestrahlung im Infrarot­ bereich ausfiltrieren, kommen seit den 1970er Jahren zum Einsatz. Genauso wie Lichtlenkglas-Systeme, die den Zwischenraum von Doppelglasscheiben nutzen, um darin lichtreflektierende Profile

Christian Matt, Wohnhaus, Bregenz, 2000–2003. Ansicht, Wohnraum. – Um den intendierten baulichen Charakter einer Fassade zu erhalten, sind innen liegende Sonnensegel eine Lösung. Allerdings ­bieten sie keinen befriedigend­en Wärmeschutz. Helle Farben, welche die einfallen­ de Strahlung nach außen reflektie­ren, ­erzielen hier die besten Resultate.

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aufzunehmen, sind sie allerdings aufgrund der hohen Kosten im Wohnungsbau bisher noch wenig verbreitet. Im Zuge der großen ver­ glasungstechnologischen Fortschritte ist allerdings zu erwarten, dass diese Produkte bald günstiger werden und damit auch Innova­ tionen wie etwa elektrografische Verschattungseffekte und anderes mehr in dieses Marktsegment Eingang finden. Zwei- und mehrschalige Fassaden Eine andere Option stellen zwei- beziehungsweise mehrschalige Fassaden dar, bei denen vor dem eigentlichen Raumabschluss noch eine zusätzliche Ebene angeordnet wird. Solche Fassaden sind zwar technisch aufwendiger und kostspieliger als konventionelle Hül­­len, weisen aber bezüglich Energiehaushalt und Sonnen­beziehungsweise Tageslichtkontrolle sehr gute Eigenschaften auf. Mehrschichtigkeiten – Bei zwei- oder mehrschaligen Fassaden wird eine zweite Verglasung vor der eigentlichen Gebäudehülle ­angeordnet. Damit entsteht ein Zwischenraum, der entweder mit der Raumluft oder mit der Außenluft in Verbindung stehen kann. Der Sonnenschutz wird in diesem Zwischenraum untergebracht. Sol­ che Lösungen eignen sich insbesondere für Gebäude, die natürlich belüftet werden sollen, aber wegen ihres Standortes oder ihrer ­Höhe Lärmimmissionen oder Windangriffen stark ausgesetzt sind. Verräumlichung der Fassade – Eine Verräumlichung der Fas­ sade schafft Puffer- oder Übergangszonen, die zwischen Hell und Dunkel vermitteln und damit eine bessere Sonnen- und Blendungs­ kontrolle (Kontrastblendung!) gewähren.

Insgesamt bedeutet ein konstruktiver Sonnenschutz also mehr als nur ein reine «Lichtabwehr»; er soll nicht nur vor Überhitzung schützen, sondern auch eine individuelle, bedarfsgerechte und ­lösungsorientierte Ausdrucksform zeitigen.

Georg W. Reinberg, Peter Thalbauer, Wohn­ bau (Bauteil 4), Thürnlhofstraße, WienSimmering, 2005–2006. Loggia. – Die zweite Verglasung definiert einen privaten Außenraumbereich.

Tageslicht als Entwurfsmedium Bis heute ist die Beleuchtung von Arbeitsstätten das eigentliche Hauptgebiet aller baurelevanter Betrachtungen zur Tageslichtpla­ nung geblieben. Nur allzu oft scheint sich diese in der Erfüllung ­einer vorgeschriebenen Mindestbeleuchtungsstärke oder eines be­ stimmten Tageslichtquotienten zu erschöpfen – Größen, die in Wahrheit wenig über die in einem Raum tatsächlich wahrgenomme­ ne Helligkeit besagen. Ebenso selten wird in der einschlägigen ­Literatur ausreichend Nachdruck auf qualitative (oder gar gestalte­ rische) Zielsetzungen der Lichtplanung gelegt (vor allem auch in Bezug auf den Wohnbau), obwohl deren Einhaltung für die Sicht­ bedingungen im Innenraum genauso essenziell ist wie die be­ stehenden quantitativen Forderungen. Hauptkriterium für eine wahrnehmungsorientierte Lichtplanung kann indessen nicht die An­ zeige eines Messinstruments sein, sondern allein der Mensch und die Art und Weise, wie die Beleuchtung seinen visuellen An­ sprüchen gerecht wird. Obwohl bereits die Kenntnis weniger grundlegender Fakten und Zusammenhänge ausreichend ist, um der Forderung nach einem bewussten Lichtentwurf nachzukommen, ist das Wissen um einfa­ che, aber gezielte Manipulationen von Lichtwirkungen bei den ­A rchitekten oftmals wenig ausgeprägt. Noch immer meinen viele, die Lichtproblematik im Entwurf mit der Anbringung von aus­

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BEHF Architekten, Wohnbau, Kollmayergasse, Wien-Margareten, 2002–2004. Übergang auf die Terrasse. – Die Verräumlichung der Fassade schafft Puffer- oder Übergangszonen.

reichend Fensterfläche gelöst zu haben. Bisweilen wird die Beschäf­ tigung mit lichttechnischen Belangen auch eher als lästige Pflicht angesehen denn als kreative und gestalterische Herausforderung: Dort, wo es unumstößliche Vorgaben zu erfüllen gilt, überlässt man sie lieber einem professionellen Lichtplaner oder Ingenieur. In den meisten Fällen hat dieser als nachfolgender Erfüllungsgehilfe zu agieren, der auf die Vorgaben des Architekten aufbauen muss. Eine solche Trennung erweist sich oft als verhängnisvoll, denn der Lichtentwurf kann nicht nachgeliefert werden, sondern ist nur ­parallel zur Gebäudekonzeption zu denken. Selbst die aufwendigs­ ten Tageslichtsysteme bleiben nutzlos, wenn bei der architekto­ nischen Planung grundlegende Fehler begangen werden wie etwa eine ungünstige Raum- und Fensterdimensionierung, die Wahl «fal­ scher» Materialen oder gar eine allfällige Eigenverschattung durch auskragende Gebäude- und Bauteile. Gefordert ist deshalb eine Lichtplanung, die als integraler ­Bestandteil des architektonischen Gesamtentwurfs für eine visuelle Umgebung sorgt, die den Menschen nicht nur bei seiner Tätigkeit und in seinen Ansprüchen an eine behagliche, stimulierende Raum­ umwelt unterstützt, sondern auch seine ästhetischen Bedürfnisse berücksichtigt und zugleich auf die Wirkung der Architektur ­bedacht und abgestimmt ist. Allein die Kombination von ausrei­chen­ dem Wissen über den Sehvorgang und den Aufbau visueller Ein­­­ drücke mit entsprechender gestalterischer Kompetenz kann hier zu wirklich befriedigenden Lösungen führen.

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1 Diese Kategorisierung folgt einer Einteilung, wie sie Gerhard Auer in seinen lichttheoretischen Schriften vornimmt (vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band). 2 Bei bedecktem Himmel ist die Tageslichtausbeute, die durch ein Deckenoberlicht auf eine (horizontale) Fläche fällt, etwa zwei- bis dreimal höher als bei seitlicher ­Belichtung. 3 Die dunkelsten Partien befinden sich an jenen Stellen, die im 90°-Winkel zur ­S onne liegen. 4 Der sichtbare Himmelsanteil lässt sich wie folgt bemessen: Von einem Referenz­ punkt am Fenster aus wird eine Gerade nach oben gezogen; ebenso vom Referenz­ punkt zur Oberkante der Verbauung. Der Winkel, der sich zwischen den beiden Ge­ raden ergibt, beschreibt den sichtbaren Himmelsanteil. Im Übrigen ist der Effekt, den Verbauungen auf den Elektrizitätsverbrauch haben können, erstaunlich hoch: So kann ein Verbauungsanteil von 30° im Gesichtsfeld einen Anstieg des Energie­kon­ sums von 38% zur Folge haben (vgl. Nick Baker, Koen Steemers, Daylight ­Design of Buildings, London: James & James, 2002, S. 46). 5 Mit dem Himmelslichtanteil sind die Verhältnisse unter diffusem Himmel gemeint (Streustrahlung des bedeckten Himmels). 6 Die Mindestanforderungen sind als quantitative und qualitative Gütemerkmale festgehalten. Nach DIN 5035 definiert sich die Güte einer Beleuchtung über folgende Kriterien: Beleuchtungsniveau, Helligkeitsverteilung, Blendungsbegrenzung, Licht­ richtung und Schattigkeit, Lichtfarbe und Farbwiedergabe (wobei Letzteres für die Planung mit Tageslicht nicht relevant ist). 7 Fehlt allerdings die primäre Lichtversorgung vom Himmel, bekommt man auch durch Reflexionen alleine kaum Licht in die Räume (vgl. Udo Dietrich, «Tageslicht. Eigenschaften und einfache Planungsregeln», in: Detail Praxis: Tageslicht – Kunstlicht. Grundlagen, Ausführung, Beispiele, München: Edition Detail, 2005, S. 16–41; 23). 8 Empfehlungen für den Reflexionsgrad p von Decken, Wänden, Böden und Möbeln: Decke > 80%; Wände > 50–70% (falls die Wand mit einem Fenster bestückt sein sollte, eher noch heller); Böden 20–40%; Möbel 25–45%. Allgemein sind matte Oberflächen gegenüber glänzenden zu bevorzugen, da Erstere eine bessere Lichtver­ teilung gewähren. 9 Die Formel für die Gleichmäßigkeit der Lichtverteilung im Innenraum TQL min / TQL max < 1 : 6 bezieht sich auf Seitenbelichtung. Bei der Belichtung durch ein ­Deckenoberlicht gilt hingegen das Verhältnis < 1 : 2. Achtung: Die Lichtverteilung (= Gleichmäßigkeit der Beleuchtungsstärke) bezieht sich auf das Verhältnis der ­T LQ untereinander und darf nicht verwechselt werden mit der Helligkeitsvertei­ lung, welche die Leuchtdichteunterschiede beschreibt und das Verhältnis von 1 : 10 bzw. 1 : 3 nicht überschreiten sollte. 10 Maßgebend sind zudem Objektgröße und Adaptionszustand des Auges (ein Grund dafür, dass bei schlechter Beleuchtung infolge des niedrigen Adaptions­ zustands des Auges auch eine sehr große schwarze Schrift auf weißem Hintergrund nicht mehr lesbar ist). 11 Während für Büroräume im Allgemeinen ein durchschnittlicher TLQ von 3–5% gefordert wird (auf jeden Fall aber ein Mindestwert von 1–2,5%), sehen Empfehlun­ gen, die den Wohnungsbau betreffen, im Allgemeinen einen TLQ von 1,5% vor bzw. einen Mindestwert von 0,5%. Für Küchen ist dagegen von einem TLQ von 2% bzw. von einem Mindestwert von 0,6% auszugehen (Angaben nach Baker, Steemers, Daylight Design of Buildings, op.cit., S. 61). 12 Um eine gleichmäßige Ausleuchtung der gesamten Nutzfläche zu erreichen, darf der Abstand der Oberlichter entsprechend der 30°-Regel nicht größer als die Raum­ höhe sein. 13 Im Wohnungsbau gilt ein TLQ von durchschnittlich 1,5% als ausreichend. Orte im Raum, die den Minimalwert von 0,5% unterschreiten, gelten als zu dunkel. Meist wird dies auf jene Stellen zutreffen, die in einer Raumtiefe von etwa 4 Metern und mehr liegen (und dieser Wert wird auch nur dann erreicht, wenn man von einer hoch in der Wand angesetzten Befensterung ausgeht!). 14 Aussage von Christian Bartenbach gegenüber den Autoren, 10.12.2003. 15 Le Corbusier, Pierre Jeanneret, «Fünf Punkte zu einer neuen Architektur», in: Alfred Roth, Zwei Wohnhäuser von Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Fünf Punkte zu einer neuen Architektur von Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Stuttgart: ­Wedekind, 1927, S. 5–7; 6. 16 Vgl. Baker, Steemers, Daylight Design of Buildings, op.cit., S. 66. 17 Weniger die Fensterhöhe als die Fensterbreite scheint für den Bewohner die wichtigste Kenngröße zur Beurteilung der Fensterdimensionierung darzustellen. Stu­ dien haben ergeben, dass die Breite des durchsichtigen Teils des Fensters bzw. die Summe der Breite aller Fenster zusammen mindestens 55% der Breite des Wohnraums betragen sollte. Zudem sollte die Höhe des lichtdurchlässigen Teils des Fensters eine Höhe von 1,3 Meter nicht unterschreiten (vgl. Michael Seidl, «Tageslicht in Innen­

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räumen», in: Johannes Beckert, Fridolin P. Mechel, Heinz-Otto Lamprecht [Hrsg.] Gesundes Wohnen. Wechselbeziehungen zwischen Mensch und gebauter Umwelt. Ein Kompendium, Düsseldorf: Beton Verlag, 1986, S. 206–216). 18 Vgl. Mike P. Wilson, Luisa Brotas, Daylight and Domestic Buildings, abrufbar unter http://www.learn.londonmet.ac.uk/about/doc/brotas_bulgaria2001.pdf, S. 29 (Zugriff 10.5.2008). 19 Die Decke sollte nicht nur einen möglichst hohen Reflexionsgrad von über 80% aufweisen, sondern auch frei sein von Balken, abgehängten Bauteilen oder Ähnlichem. 20 Aussage von Christian Bartenbach gegenüber den Autoren, 10.12.2003. 21 Zu vermeiden gilt es den sogenannten Dreispänner, da dieser zumindest für eine Wohnung eine nur einseitige Ausrichtung zur Folge hat. 22 Vgl. IEA Task 21, Daylight in Buildings. Source Book, chap. 2, abrufbar unter ­http://www.iea-shc.org/task21/source/daylighting-c2.pdf, 2.2.4: Strategies for ­Fenestration (Zugriff 10.5.2008). 23 Verglaste Atrien wirken sich im Allgemeinen ungünstig auf die Tageslichtver­ teilung in angrenzenden Räumen aus: Der hohe Verbauungswinkel eliminiert einen großen Teil der Vertikalkomponente, was somit besondere Auswirkungen in den Raumtiefen zeigt (deswegen min. Verhältnis von Breite zu Höhe 2 : 3 einhalten!). 24 Innenhöfe bedienen sich insbesondere des vom Boden reflektierten Lichts. Im Vergleich zu überdachten Atrien können sie eine bis doppelt so hohe Tageslichtaus­ beute aufweisen. Sie laufen allerdings bei Sonnenschein und stark reflektierenden Materialien in Gefahr, Blendung zu erzeugen. 25 Opake, hell gestrichene Flächen sind von Vorteil, da sie einen viel höheren Re­ flexionsgrad aufweisen als transparente Materialien. Glas z.B. weist einen Reflexions­ grad von lediglich 15% (!) auf (vgl. Baker, Steemers, Daylight Design of Buildings, op.cit., S. 49). 26 Folgende Parameter des Atriums sind von Einfluss auf den TLQ in den Räumen: Verhältnis Höhe zu Durchmesser des Innenhofs, Transmissionsgrad der Decken­ verglasung, durchschnittlicher Reflexionsgrad der Wände, durchschnittlicher Refle­ xionsgrad des Bodens, Größe der Fensterverglasungen der Räume, Reflexionsgrad von Innenwänden, Decke und Boden der Räume. 27 T. Muneer et al., Windows in Buildings. Thermal, Acoustic, Visual and Solar Performance, Oxford: Oxford Architectural Press, 2000, S. 112. 28 Infeld bezeichnet als Blickfeld der Augen jenen Sehbereich, der durch den Bewe­ gungsspielraum des Augapfels definiert wird. Dieser von beiden Augen gemeinsam eingefangene Sehbereich erstreckt sich auf etwa 90° und schließt damit das eigentliche Fixierfeld des (statisch) gerichteten Blicks mit ein. Umfeld beschreibt als Gesichts­ feld des Kopfs jenen Sehbereich, der den peripheren Anteil des Blickfelds sowie das Sehfeld beinhaltet. Dieses trägt zum Gesamteindruck der Lichtverhältnisse im Raum bei und beinhaltet damit jenen Teil des Blick- und Sehfelds, mit dem die größere Umgebung visuell erfasst wird. 29 «Dabei werden nur mittlere Leuchtdichten betrachtet; das nahe Umfeld ist kon­ zentrisch um Hauptblickrichtung mit Öffnungswinkel 30°, das ferne Umfeld weist den doppelten Öffnungswinkel auf.» (Friedrich Sick, Einfluss elementarer architektonischer Maßnahmen auf die Tageslichtqualität in Innenräumen, Diss., Technische Hochschule Universität Karlsruhe, Stuttgart: Fraunhofer IRB-Verlag, 2003, S. 15); «In der Praxis bedient man sich einfacher Regeln, wenn es um die Leuchtdichte­Verhältnisse bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen geht: Infeld : näheres Umfeld : entferntes Umfeld = 10 : 3 : 1 bis 0,1.» (Volkher Schultz, Projekt Tageslicht. Licht und Architektur, abrufbar unter http://www.fvlr.de/downloads/Lichtarch1.pdf, S. A54, Zugriff 10.5.2008). 30 Zahlenangaben nach Benjamin H. Evans, Daylight in Architecture, New York etc.: McGraw-Hill, 1981, S. 2.14.

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Lichtwirkungen: über den ­­Seh­­­­komfort ­hinaus Wohlbefinden, Stimmung, Erlebnis

Die Folgen der Durchlichtung Das Polaritätsschema der Moderne, das die Welt gerne in Begriffs­ paare einteilte wie gut – schlecht, hell – dunkel, leicht – schwer oder transparent – geheim, beeinflusst noch immer unser Denken. So ist festzustellen, dass es oftmals die leisen Zwischentöne und Schattierungen sind, die im heutigen Wohnbau fehlen. Technische ­Möglichkeiten erleichtern Planungen aus der Schublade, die sich über geografische und kulturell bedingte Besonderheiten hinweg­ setzen. Oftmals entstehen so Bauten, deren Warencharakter sich in inhalts- und einfallslosen Fassadenflächen manifestiert. Was die ­Innenräume betrifft, scheint der Trend nach wie vor olympischen Geboten zu gehorchen – immer mehr Helligkeit in größere Raum­ tiefen zu bringen. Bisweilen kommt der Innenraum dem Außen­ raum gar so weit entgegen, dass sie keine Gegensätze mehr ­bilden, die durch das Licht versöhnt werden könnten. Dabei ist es nicht nur die nivellierte Ausleuchtung, die ermüdet, sondern auch der Ver­ lust an Spannung und die Verarmung des Raumempfindens, die der beinahe unbegrenzte Gebrauch von Glasflächen mit sich bringt. Und so kommt es, dass manch einen das Unbehagen ­beschleicht an­ gesichts der Vernichtung der Außenwand durch Glas, denn das, was bleibt, mutet meist alles andere als anheimelnd an. Luis Barragán, Haus Prieto López, Jardines del Pedregal, Mexico City, 1950. ­Wohnraum. Hasler Schlatter Partner Architekten, Wohnsiedlung Steinacker, Zürich-Witikon, 2002–2004. – Längst hat der Trend zur verglasten Standardkiste auch den Massen­ wohnungsbau erreicht.

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Wenn heute vielerorts planerische Defizite auszumachen sind, dann liegen diese nicht in vordergründigen Belichtungsmängeln, son­dern in einer allgemeinen Ignoranz gegenüber den Gestaltungs­ möglichkeiten des Lichts und dessen Implikationen für den architek­­tonischen Raum. Licht ist mehr als nur ein Mittel zur Wahr­ nehmung: Licht ermöglicht es, Räume in ihrer Erscheinungsform zu modifizieren, ohne sie physisch zu verändern. Licht kann Räume scheinbar erweitern oder verkleinern, Verbindungen schaffen oder Bereiche voneinander abgrenzen. Es kann aber auch Erinnerun­ gen wecken, Assoziationen schaffen und Stimmungen auslösen. Im ­Folgenden wird deshalb der Gestalt- und – sofern überhaupt plan­ bar – der Erlebniswert thematisiert, welcher der Architektur durch das Licht zuteil wird. Es geht um jenen Lichteinfall, der den der rei­nen Sehhilfe überschreitet und als ästhetisches und atmo­ sphäri­sches Gestaltungsmittel auf die Erscheinungsform des Raums einwirkt. Verlust der Wohnlichkeit? Wohnlichkeit im Zeichen der Transparenz: eine Entwicklung, der man bereits zu Zeiten ihrer erstmaligen Propagierung mit Skepsis gegenüberstand. Joseph Roth etwa reflektierte in einer kleinen ­Satire über den architektonischen Stilwandel die allgegenwärtigen «Modernisierungstendenzen» im Berlin der 1920er Jahre:

«Zu gefährlichen Situationen kann die private Innenarchitektur führen. Ich denke mit einiger Wehmut an die sanfte und besänftigen­ de rotsamtene Geschmacklosigkeit in den Zimmern, in denen die Menschen noch vor zwanzig Jahren ahnungslos dahinlebten. Es war unhygienisch, dunkel, kühl, wahrscheinlich voll schädlicher Bazillen und angenehm. Das Gedränge kleiner, nutzloser, zerbrech­ licher, billiger, aber behutsam gezüchteter Nippessachen auf ­Kommoden erzeugte einen behaglichen Unwillen, der einen sofort heimisch machte. Gegen alle peinigenden Forderungen der Ge­ sundheit waren die Fenster geschlossen, kein Lärm drang von der Straße her zwischen die nutzlosen und sentimentalen Familien­ gespräche. Weiche Teppiche, erfüllt von Krankheitskeimen, mach­ ten das Leben lebenswert und noch die Krankheit tröstlich, und am Abend kam von den stillosen Kronleuchtern ein sanftes, heiteres Licht, wie ein Glück. So geschmacklos lebten die Väter. Die Kinder und die Enkel aber leben unter peinlichen gesundheitsfördernden Umständen. So viel Licht und Luft wie in den neuen Häusern gibt es kaum in der Natur selbst. Ein Atelier aus Glas ist das Schlafzimmer. In Turnsälen speisen sie. Räume, die man ohne weiteres für Tennisplätze erklärt hätte, dienen als Bibliotheken und Musikzimmer. Wasser rauscht durch tausend Röhren. In riesigen Aquarien turnen sie. Auf weißen Operationstischen ruhen sie vom Essen aus. Und am Abend be­ leuchten verborgene Lichtstäbchen den Raum so gleichmäßig, dass er aufhört, beleuchtet zu sein. Er ist ein Lichtbassin.»1 Roth nennt die Dinge beim Namen, die seiner Meinung nach für den Effekt der Kälte bei Wohnbauten verantwortlich sind: Wo grelle Ausleuchtung, nackte Bauwahrheiten und ausufernde ­Räumlichkeiten für eine Offenlegung und Entblößung des Funk­ tionskörpers sorgen, bleiben das Gemütvolle und jegliche zur Inbesitz­nahme anregende Qualität auf der Strecke. Die Eliminie­ 182

Ein «gemütliches» Wohnzimmer: Durch persönliche Erinnerungsstücke und allerlei Accessoires angereicherte Atmosphäre der intim-vertrauten Abgeschlossenheit. Bulant & Wailzer, Gartenraum in Glas, Wien-Hietzing, 2002. – Innen wie außen? Heute entstehen Räume, deren Helligkeit einem Außenraum nahekommt, die in ­ihrem Geschütztsein vor Wind und Wetter jedoch Innenraum bleiben. Je mehr Licht eindringt, umso mehr verliert das Innere von seiner spezifischen Innenraumwirkung.

rung aller Dunkelheiten und Unschärfen, toten Winkel und unde­ ter­mi­nierten Zonen im Haus erstickt die Imaginationskraft. Auch das heutige Architekturleitbild ist teilweise noch sehr in der Denkweise der Moderne gefangen, das die Menschen als ver­ nunftbegabte Wesen in den Mittelpunkt stellt und all das ignoriert, was mit der Evolution in die menschliche Naturgeschichte einge­ schrieben wurde. Kapseln der Transparenz mit offenen Räumen, dop­­ pelten Höhen, Durchblicken und Einblicken mögen heute zu einem verbreiteten Architekturstandard gehören, dem sich ein intel­ lektuelles (und zahlungskräftiges) Publikum verpflichtet fühlt. Das Gros der Bevölkerung zeigt sich allerdings auch nach über ­80jähriger Propagandaarbeit und Erziehung zur Wohnkultur er­ staunlich renitent gegenüber solcherlei Kopfgeburten und hält gern an dem emotional tief verwurzelten Wunsch nach Nestwärme und der bergenden Kraft der Hülle fest. Wohnen unterliegt höchst konservativen Grundmustern, wie sich in empirischen Studien immer wieder feststellen lässt. Neben der Verbindung zum Natur- und Außenraum rangieren in Wohnbefra­ gungen regelmäßig Kriterien wie eine möglichst große Intimität, der Schutz vor Einsichten beziehungsweise die Abschließung gegen­ über der Nachbarschaft an oberster Stelle der Wohnwünsche – und damit uralte Wohnmotive. So sind selbst die Bewohner der obers­­­ten Etagen von Hochhäusern um Verhüllung großer Fenster­ partien ihrer Wohnung bemüht, obwohl ihnen niemand hinein­ schauen kann – Grund genug für die Annahme einer dem Menschen psychologisch innewohnenden Neigung zur zeitweiligen Abson­ derung und Sicherung der Privatsphäre. Demgegenüber sind im Zuge der forcierten Enttabuisierung in der Gesellschaft und mit dem Schwinden des allgemeinen Bewusst­ seins für Sinn und Wert tradierter Grenzen zwischen öffentlich und privat solche legitimen Rückzugs- und Distanzbedürfnisse (und ihre baulichen Umsetzungsmöglichkeiten) zunehmend aus dem Blickfeld geraten. So scheint der Ehrgeiz vieler Architekten, räum­ liche Grenzen aufzulösen, oftmals merkwürdig entkoppelt vom Nachdenken über die spätere Nutzungsrealität. Neben dem Verlust der Privatsphäre bleibt die Befensterung einer Wohnung meist nicht ohne Folgen für die Möblierbarkeit. Letztere kann je nach Di­ mension und Lage der Verglasungen sehr eingeschränkt werden – wohin mit den Schränken und Bücherregalen, wenn der offene Grundriss zwar jede Menge spannende Ausblicke bietet, aber eben nicht ausreichend Stellfläche? 183

Während die uns von der Moderne auferlegte Beschränkung der architektonischen Mittel und Formen ursprünglich eine emanzi­ patorische Atmosphäre schaffen wollte, einen Hintergrund, vor dessen weißen und transparenten Wänden die Aktivitäten des von Zwängen und Konventionen befreiten Bewohners umso deutli­cher hervortreten konnten, so entstehen heute vielerorts gesichtsund seelenlose Bauten, deren äußere Vorgaben für das innere Wohnen in der Tat viel zu eng sind. Aus psychologischer Sicht beinhaltet Wohnen eine enge Wech­ selwirkung zwischen Mensch und Umwelt, denn einerseits ist die Wohnumwelt für den Menschen prägend, und andererseits gestaltet der Bewohner diese auch selbst. Dabei sind die Handlungsspiel­ räume, sprich die eigenen Gestaltungs- und Personalisierungsmög­ lichkeiten von zentraler Bedeutung. Dass ein Wohnraum funktio­nal und ästhetisch befriedigen sollte, liegt auf der Hand – allein dies reicht nicht aus, um seine Bewohner zufriedenzustellen: «Damit ein Wohnraum zum Heim wird, muss sein Nutzer affektive Bindun­ gen zu ihm entwickeln und ihn sich aneignen können.»2 Dies bedingt freilich die Einsicht, dass die architektonische Form kein oder nur ein eingeschränktes Eigenleben führt, also nicht «überkonzeptio­nali­ siert» sein sollte, sondern unperfekt und offen genug für den ­Eigensinn subjektiver Aneignung. Wohnkultur entsteht durch die Selbstbestimmung des Bewohners – der Architekt muss deshalb die Spuren des Gebrauchs zulassen. Im Weiteren sei darauf hingewiesen, dass in der Beurteilung von Wohnbauten oftmals eine erhebliche Diskrepanz besteht zwischen der Sichtweise des Architekten und jener des Nutzers. Meist kann der reduzierte Entwurf, der für den Architekten eben gerade den Reiz eines Projekts ausmacht, von Laien nicht nachvollzogen werden. Während Ersterer über einen reichen Erfahrungsschatz ver­ fügt, der seinen Bezugsrahmen konstituiert, ist beim Laien nicht nur der Erfahrungshintergrund bedeutend eingeschränkter, sondern auch das Abstraktionsvermögen. Laien nehmen Gebäude statt­ dessen vor allem in ihrer materiellen Realität wahr, wobei Beton und Glas – vom traditionellen Hausschema und der Konnotation mit Wärme und Geborgenheit abweichend – oft als «kalt» eingestuft werden.3 Wohnlich ist ein Wohnhaus dann, wenn darin gut gewohnt ­werden kann. So simpel diese Feststellung ist, so selten trifft sie auf die meisten Exempel zu, die in den Hochglanzmagazinen statuiert werden. Symptomatisch hierfür ist die Tatsache, dass die Räume hier immer menschenleer gezeigt werden. Gerade der Wohnbau aber muss nach anderen Kriterien errichtet werden als eine Bank oder ein Museum. Wenn der Maßstab dort Extravaganz oder Originalität heißt, verlangt die Wirklichkeit im Wohnbau eher nach dem Nor­ malen, Angemessenen und Selbstverständlichen, also nach kleinen Qualitäten statt großen Gesten. Es geht vielmehr um Beständigkeit und die Berücksichtigung offensichtlich stabiler Grundmuster als um Innovation um jeden Preis. Der Architekt darf nicht nur De­ signer sein, er sollte sich auch als Kundschafter und Moderator zwischen Wohn- und Baukultur begreifen. Es liegt an ihm, die not­ wendige Übersetzungsleistung zwischen Experten- und Laiensicht zu erbringen.

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Rudolph M. Schindler, Haus Oliver, Los ­Angeles, CA, 1933–1934. Wohnraum. – «Die Höhle gab dem Urmenschen das Gefühl der Sicherheit durch ihre Verborgenheit und Enge. […] Räume, die durch formale Anklänge Erinnerungen an diese Sicherheitsgefühle erwecken, nennt die Menge ‹behaglich›, ‹gemütlich›.» (Rudolph M. Schindler). Im Wohnbau geht es eher um das Normale als das Extravagante, eher um kleine Qualitäten als um große Gesten, es geht um Sorgfalt und Vielfalt. Patrick Gartmann, Haus Gartmann, Chur, 2003. Wohnraum mit Blick auf Chur. – Sichtbetonwände und unverhohlen klaffen­ de Öffnungen mögen dem geschulten ­Auge zwar als schön und richtig erscheinen – doch leitet sich daraus nicht das Recht ab, den eigenen Geschmack zu verallgemeinern.

Josef Frank, Oskar Wlach, Haus Beer, Wien-Hietzing, 1929–1930. Wohnbereich mit Platz am Fenster. – Das große Fenster leitet in die Umgebung über, unterstreicht mit seiner Brüstung aber auch die Grenze zwischen innen und außen und trägt zu ­ einer schützenden Raumatmosphäre bei.

Behaglichkeit: physiologisch und psychologisch Die Gemütlichkeit der guten alten Zeit ist eine Plattitüde – aller­ dings eine, die zum Nachdenken anregen sollte. Wie wird Architek­ tur zu einem Ort, an dem Menschen heimisch werden können? Was wird eigentlich als behaglich empfunden? In der Geschichte weist die Behaglichkeit vielfach kulturelle ­Bezüge zu den Begriffen Bequemlichkeit und Komfort auf. Die mo­­ derne Bedeutung von Komfort entstand im 19. Jahrhundert im Rahmen der europäischen Rezeption des englischen Landhauses. Verbanden sich mit ihr ursprünglich Vorstellungen einer informel­len Privatsphäre, mutierte Wohnkomfort als Behaglichkeit seit den 1880er Jahren zu einem eigentlichen Schlagwort, mit dem man den intimen Zuschnitt einzelner Räume beziehungsweise ein in der Weitläufigkeit reduziertes Raumprogramm kennzeichnete. Daneben wurde Comfort auch eng mit allen Dingen assoziiert, die zum ­physischen Wohlbefinden in der Wohnumgebung beitrugen. Im Laufe der Zeit unterlag der Begriff, der immer im engen Zu­ sammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen ist, nicht nur einem Bedeutungswandel, sondern auch einer Erwei­ terung. So sind seit den 1960er Jahren in den Sozial- und Geistes­ wissenschaften vermehrt die psychischen Befindlichkeiten des wohnenden Menschen in den Vordergrund gerückt und damit jene meist irrationalen Einflussgrößen, die das Wohlgefühl im Hause auszumachen scheinen. Gleichsam gilt es heute, zwischen zwei ­A rten der Behaglichkeit zu unterscheiden, einer physiologischen und eine psychologischen. Was die physiologische Behaglichkeit betrifft, sind angesichts der Tageslichtthematik vor allem zwei Möglichkeiten der Beeinträch­ tigung zu nennen. Zum einen ist dies die Blendung, deren störende Wirkung auf den visuellen Sehkomfort weiter oben ausführlich ­dar­gestellt ist. Der andere Aspekt, der im Zusammenhang mit einem großflächigen Glaseinsatz nicht unerwähnt bleiben darf, ist die ­ther­mische Behaglichkeit. So ist das Verhältnis der Raumlufttempe­ ratur zur Oberflächentemperatur von Bauteilen von wesentlichem Einfluss auf das physiologische Wohlbefinden. Im Falle thermischer Behaglichkeit ist die Wärmebilanz des Körpers ausgeglichen, das heißt, wir empfinden das Raumklima als angenehm und behaglich, wenn keine Strahlungsverluste auftreten und eine angenehme, gleichmäßige Oberflächentemperatur herrscht. In diesem Zusammen­ hang spielen die im Raum verwendeten Materialien in Abhängig­ keit von ihrer Oberflächentemperatur eine wesentliche Rolle für die thermische Behaglichkeit. Holz zum Beispiel wird als behaglich, Glas – ein guter Wärmeleiter – dagegen als kühl empfunden. Ein Grund, weshalb der beliebte Platz am Fenster im Winter häufig zum kältesten und ungemütlichsten mutiert, liegt daran, dass aufgrund der niedrigen Oberflächentemperatur von Glas in der Nähe des ­Fens­ters ein Kaltluftabfall stattfindet. Dies ist der Fall, wenn die aufgeheizte Raumtemperatur viel höher ist als die Oberflächentempe­ ratur des Fensterglases. In der Folge kühlt sich die Luft in den ­fensternahen Zonen ab und sinkt zu Boden, was zu Turbulenzen führen kann, die als ungemütliche Zugluft empfunden werden. Auf der psychologischen Ebene sind es in erster Linie Assozia­ tionen mit Schutz, Sicherheit und Geborgenheit, die das Gefühl von Behaglichkeit ausmachen. Dieses ungenau umrissene Feld ist für das Wohlbefinden des Menschen genauso wichtig wie die Erfüllung

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der physiologischen Bedingungen. Seit jeher haben Menschen ­Unterschlupf und Sicherheit gesucht. Am Anfang aller Innen­raum­ erfahrung steht die Flucht und Abwehr. Der Raum dient als Re­ fugium vor Kälte, Nässe und Bedrohung und spendet Wärme und Geborgenheit unter widrigen Bedingungen. «Sich geschützt füh­ len», so wird denn auch die Grundbedeutung des Begriffs «Behagen» ­rekonstruiert.4 In ihm steckt das Wort «Hag», also jenes Stück Land, das, umgeben von einer Hecke, Sicherheit von außen ver­ spricht; im Begriff «Geborgenheit» ist das Wort «bergen» enthalten. Die Leitworte unserer Wohnvorstellungen bedeuten zusammen­ genommen also vor allem eins: Sicherheit. Wenn aber Sicherheit die tiefere Hauptfunktion des Wohnens ist, ist das Wissen um die ­urtümlichen Ängste des Menschen eine grundlegende Voraussetzung für die ent­werferische Tätigkeit. Laut dem Geisteswissenschafter Otto Friedrich Bollnow, der in den 1960er Jahren mit seinem Buch Mensch und Raum bekannt wurde, muss ein Wohnraum, der Behaglichkeit ausstrahlen soll, in erster Linie den Eindruck der Abgeschlossenheit vermitteln. Der Wunsch nach Gemütlichkeit scheint insbesondere dann aufzutreten, wenn es den Menschen nach Ruhe, Entspannung und Erholung dürstet. Bereits der deutsche Klassizist Karl Friedrich Schinkel hatte eine Verbindung hergestellt zwischen behäbiger Gewichtigkeit und deren Bedeutung für das individuelle Sicherheits- und Wohlbe­ finden. Er assoziierte mit der «Schwere, in ihrer einfachsten ­Wirkung» ein Höchstmaß an «Sicherheit und behaglicher Empfin­ dung». Das beim Menschen fest verankerte Schutz- und Sicherheits­ bedürfnis, das offensichtlich in enger Beziehung zum Verlangen nach Ruhe und Passivität steht, bedingt folglich einen Raum, der nicht «verunsichert» (etwas Gemütliches verunsichert nicht!), son­ dern ein gewisses Maß an Schwere und Erdgebundenheit ausstrahlt und nur eine begrenzte Einsicht gewährt. Dass das «Andere» drau­ ßen bleiben muss, um die Gemütlichkeit nicht zu stören, scheint auch Friedrich Achleitner zu empfinden, wenn er schreibt: «Gemüt­ lichkeit ist die gewonnene Distanz von allem Fremden.»5

Einteilung des Raums nach Fred Fischer, der jedem Raumfeld in Abhängigkeit von der Ausrichtung des Individuums eine ­bestimmte Bedeutung beziehungsweise Wertigkeit zuschreibt.

Frontwand Primärer Fluchtwinkel

Deckungswand

Klagemauerphänomen

(Strafwinkel)

Linkes Fluchtwinkelfeld

Frontales Wandpassagenfeld

Rechtes Fluchtwinkelfeld

Linkes Wandpassagenfeld

(Exhibitionsstätte)

Zentrales Raumfeld

Rechtes Wandpassagenfeld

Linkes Schutzwinkelfeld

Dorsales Wandpassagenfeld

Rechtes Schutzwinkelfeld

Primärer Schutzwinkel (Übersichtswinkel)

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Sekundärer Fluchtwinkel

Angriffswand

Sekundärer Schutzwinkel Rückwand

(Versteckwinkel)

Louis I. Kahn, Haus M. Weiss, East Norriton Township, PA, 1947–1950. Wohnraum. – Verschiebbare Holzblenden ermöglichen es, im Rahmen einer baulich vorgegebenen Grundstruktur die Ausbildung von Öffnun­ gen selbst zu bestimmen.

Je weiter man sich vom Erdboden entfernt, desto mehr entsteht das Bedürfnis nach ­Sicherheit.

Soziologen gehen davon aus, dass eine Person sich dann wohl­ fühlt, wenn sie sich in einem Raum befindet, der zu etwa 50% um­ schlossen ist; also entweder in einem zweiseitig geschlossenen Raum oder in einem, dessen vier Wände maximal zur Hälfte durch­ brochen sind. Wer sich jedoch in der aktuellen Baulandschaft umsieht, stellt fest, dass viele Bauten zum einen oder anderen Extrem neigen. Den steinernen Monstrositäten der Neotraditionalisten steht die Vor­ täuschung von Substanzlosigkeit und Lichthaftigkeit in der aktuellen Glasbaurenaissance gegenüber. Gerade was Letztere betrifft, ken­ nen mittlerweile auch viele mehrstöckige Wohnbauten die bisweilen fragwürdige Tendenz der raumhohen Verglasung. Gleich einem ­optischen Genussmittel, soll sie dem (schwindelfreien) Bewohner eine uneingeschränkte Sicht gewähren. Für viele ist solches gerade in den oberen Stockwerken gewohnheitsbedürftig und führt mitunter zu einer Erfahrung, die keineswegs als positiv empfunden wird. Höhenangst ist kein seltenes Phänomen. Um sich in den oberen Ge­ schossen eines Gebäudes wohl zu fühlen, braucht es tatsächlich ein Mehr an Umschließung, was am einfachsten mit gegen oben ab­ nehmenden Fenstergrößen oder höheren Brüstungen zu erreichen ist. Edward Hoppers Bild Room in Brooklyn (1932) illustriert, dass bei einer großzügig verglasten Eckpartie bereits kleine Maßnah­ men wie die Brüstung oder die Fenstereinteilung für eine positive Wirkung auf das Sicherheitsgefühl sorgen. Zweifellos hat sich seit der Moderne der Kodex psychologischer und physischer Intimität gelockert, und es mag sich – da Wohnbe­ dürfnisse, wie andere Konsumwünsche auch, sich am Konsumgegen­ stand entwickeln – ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt haben. Im Grunde aber wird das persönliche Wohlbefinden, das ur­ tümliche Gefühl der Behaglichkeit im Raum, immer gekoppelt sein mit einer wohl dosierten Offenheit und somit mit einem wohl dosierten Lichteinfall. Die eigenen vier Wände Bevor im Weiteren der Frage nach bestimmten Raum- und Licht­ qualitäten nachgegangen werden soll, gilt es zu klären, was denn den Raum überhaupt zum Raum macht. Der architektonische Raum entsteht durch den Akt der Ausgrenzung einer kleinen Einheit. Er

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Edward Hopper, Room in Brooklyn, 1932. Öl auf Leinwand, 74 x 86,4 cm. Museum of Fine Arts, Boston, The Hayden Collection. – Die wenn auch niedrig ­angesetzte Brüstung und die Fensterein­ teilung wirken sich ­positiv auf das Sicher­­­ heits­gefühl aus.

definiert sich durch seine Begrenzung, wobei er nicht mit dieser gleichzusetzen ist, sondern vielmehr mit dem, was dazwischen ist. Mit dem Erstellen von Innenräumen werden Dunkelheiten auf­ gebaut, die durch lokale Durchbrüche in den Begrenzungsflächen wieder gemildert werden. Anordnung, Größe und Form von ­Öffnungen strukturieren den Raum, sie verleihen ihm seine Aus­ richtung. Je größer sie sind, desto mehr werden sie als ein Fehlen der Wand wahrgenommen und desto mehr verliert der Raum von seiner Abgeschlossenheit. Planung heißt also Grenzziehung. Derweil ist die Wand – als ­architektonisches Gliederungsprinzip schlechthin – nicht nur eine Schutzvorrichtung, sondern markiert gleichzeitig auch den pri­­ vaten Raum. Entsprechend wichtig ist es beim Wohnen, die Gewiss­ heit des Geschütztseins nicht nur real, sondern auch symbo­lisch 189

zu erfahren. Heute, da sich die Steigerung der städtischen Dichte als eine der zentralen Herausforderungen erweist, steht gera­de im Wohnbau die Frage der Interaktion von privat und öffentlich wie­ der stark im Blickfeld. Dabei ist es Aufgabe des Architekten, ­zwischen den individuellen Ansprüchen des Nutzers und den lang­ fristigen Interessenslagen der Öffentlichkeit zu vermitteln und in der Ausgestaltung der Volumetrie und Gebäudehülle eine passen­ de räumliche Übergangsform zu finden.

Verschiedene Elemente der Raumdefinition. Je nach Komposition der vertikalen Elemente entstehen verschiedene räumliche Qualitäten. Je nach Art des Raumdurchbruchs entstehen verschiedene Kraftfelder. Da, wo die Ecken explizit sind, implodiert der Raum, wo sie nur implizit sind, entsteht dagegen eine Dehnung nach außen.

Auch wenn die «Tyrannei der Intimität» (Richard Sennett) in Ganzglas-Konstruktionen noch immer Erfolge feiert, sind die Glücksversprechungen der Transparenz doch längst als Schwindel entlarvt. Seit den 1990ern lässt sich insgesamt eine verstärkte ­Rück­zugstendenz ins Private konstatieren. Zum einen mag dies an der Überfülle an visuellen Reizen liegen sowie an der Zunahme von Lärm- und Gestankimmissionen, die mit den erwähnten Ver­ dichtungsmaßnahmen im urbanen Umfeld einhergehen. Zum ­ande­­­ren aber gewinnt der individuelle Rückzugsraum auch deshalb immer mehr an Bedeutung, weil es ganz allgemein immer weniger nicht besetzte Freiräume gibt. Heute, da ein umfangreiches Rechts­ korsett den Alltag regelt und der Arbeitsprozess ebenfalls einem ho­ hen Maß an Fremdbestimmung unterliegt, wird mit den eigenen vier Wän­­den ein letzter Ort der Selbstbestimmung assoziiert. Dabei ­gehört das Erlebnis der Territoriumsgrenzen mit zum Wohngefühl. 190

In seinem Aufsatz «Sechs Themen für das nächste Jahrtausend» ist es für den Architekturkritiker Juhani Pallasmaa deshalb an der Zeit, endlich die Vormachtstellung des Visuellen aufzubrechen zugunsten einer Re-Sensualisierung und Re-Verzauberung der Welt. 6 Seiner Meinung nach fällt der Architektur die Aufgabe zu, die innere Welt zurückzubringen und gleichzeitig zwischen der äuße­ ren und inneren Realität zu vermitteln – Dinge, die dem Architek­ten ein «tiefes Verständnis des phänomenologischen Wesens der Bau­ kunst» abverlangen. So ist gerade die Wohnbauarchitektur in der Moderne unter dem Anspruch der Ökonomie vieler ehemals selbst­ verständlicher Elemente verlustig gegangen, die es heute als neue Qualitäten erst mühsam wiederzuentdecken gilt. Pufferzonen und Übergangsräume In vormodernen Zeiten verfügten Wohnbauten mit Bauelementen wie überdeckten Vorplätzen, Vestibülen, Veranden, Loggien oder nicht beheizten Wintergärten über eine reiche Peripherie an ­Vor­bauten, die als intermediäre Räume zwischen innen und außen fun­gierten. Von der Moderne und ihren Minimalisierungs- und Rationalisierungsbestrebungen als überflüssig gebrandmarkt, ist seit geraumer Zeit eine Tendenz zur Rekultivierung solcher Rand­ räume zu verzeichnen. Vorbereitet wurde solches durch die Post­mo­ derne, durch deren Wiederentdeckung der Grenzziehung zwischen privatem Innen- und öffentlichem Außenraum. Zugleich haben auch Entwicklungen wie der Statuswechsel der Baumaterialien so­ wie der allgemeine bautechnische Trend zu mehrschaligen Fassa­ den dazu geführt, dass sich eine neue Vorstellung von Architektur etablieren konnte, die mit dem traditionellen Fassadenbegriff im Sinne einer raumbegrenzenden Mauer aufräumt. Dabei wird die Ge­ bäudehülle nicht mehr als starre Begrenzung begriffen, sondern vielmehr als eine aus mehreren Schichten bestehende Pufferzone, die zwischen dem Stadtraum und dem Innenraum und damit auch ­zwischen den Polen innen – außen, hell – dunkel, kalt – warm ver­ mittelt. So können etwa Loggien, die sich heutzutage über die ­gesamte Hausbreite ausdehnen und die traditionelle Lochfassade

Delugan Meissl Associated Architects, Stadthaus, Wien-Neubau, 1999–2001. Fassadendesign Herwig Kempinger. Ansicht der Straßenfassade, Loggia. – Übergangsräume finden erst in letzter Zeit baupraktisch wieder angemessene Beachtung. Sie sind Erweiterungen des Raums, die sich in vielfältiger Weise nutzen lassen.

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Kazuyo Sejima & Associates, Gifu Kitagata Apartment Building, Motosu, Gifu Prefecture, Japan, 1994–1998. Wohnraum. – Moderne Interpretation des ZwischenraumPrinzips traditioneller japanischer Häuser: Durch die Einführung einer zusätzlichen Schicht beweglicher Lamellenelemente ent­ steht eine ambivalente Raumgrenze, die auch der Lichtregulierung dient.

ablösen, von großem Reiz sein, weil sie immer beide Optionen ­beinhalten. Zum einen sind sie geeignet, beim Betrachter ein Gefühl der Durchlässigkeit und des Zurücktretens der architektonischen Beschränkung zu evozieren, zum andern aber verhindern sie gleich­ zeitig ein direktes Aufeinanderprallen von privatem Innen- und ­öffentlichem Außenraum. Überhaupt ist der Nutzen, der sich aus einer Verräumlichung der Fassade ziehen lässt, mannigfach. Letztere stellt nicht nur eine besondere Qualität in der Kommunikation des Gebäudes nach außen dar oder lässt einen vielfältig nutzbaren Zusatzraum entstehen, sondern ermöglicht auch eine bessere, weil sanfter abfallende Belichtungssituation in den dahinter liegen­ den Wohnräumen. Die Verwendung derartiger Bauteile kommt also insgesamt dem Wunsch nach Behaglichkeit entgegen. Vorbilder solcher transitorischer Räume finden sich im Übrigen in der traditionellen japanischen Architektur, bei der sich eine ­zusätzliche Erschließung als Pufferzone um die innen liegenden Räu­ me legt. Im Zusammenspiel mit den weit auskragenden Dächern werden Letztere in ein weiches, zartes Licht getaucht. Zeitgenössi­ sche Interpretationen, die auf dieses Konzept zurückgreifen, gehen oft mit der Verwendung semitransparenter Materialien einher. Sie lassen ein lichtes, von heiterer Ruhe geprägtes Interieur entstehen, dessen Belichtungsgrad mit Hilfe der innen liegenden Schicht ­flexibler Wandelemente zusätzlich modifiziert werden kann. Allen Formvarianten ist gemein, dass mit der Ausbildung von Über­ gangsräumen oder Pufferzonen immer weiche, weil mehrdeutige Raumgrenzen entstehen. Anders als bei der traditionellen Fassade ist diese Art der Abschirmung nicht mit einer Barriere, also nicht mit der Herstellung von Geschlossenheit, gleichzusetzen: Das Außen wird hier nie ganz ausgeschlossen, genauso wie das Innere nicht nur Schutz gibt, sondern der Bewohner jederzeit die Gelegen­ heit hat, die sich selbst auferlegte Begrenzung aufzuheben. Verhüllter Blick Mit der Absage an den magischen Ursprung des Schattens haben auch Zonen des Zwielichts und des Halbdunkels ihre Daseinsberech­ tigung verloren. Erst in letzter Zeit tauchen sie sporadisch wieder auf, werden im Zusammenhang mit der Einrichtung von Bildschirm­ arbeitsplätzen genannt, wo das Interesse am kontrastlosen Halb­ dunkel einmal mehr dem besseren Sehen gilt. Im Wohnbereich ist ihre Bedeutung noch viel marginaler, obwohl das Wissen um die

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Anmutung subtiler Trübungen und Unschärfen zweifellos einen Beitrag dazu leisten könnte, das Wohnumfeld atmosphärisch zu ­bereichern. Der milchige Schein des Mondlichts verursacht seit jeher tiefere Emotionen und Suggestionen als der Sonnenstrahl. Genauso ist auch das blasse, traumhafte Glühen, das im Raum entsteht, wenn Licht durch halb blinde Wände schimmert oder von Membranen un­ terschiedlicher Dichtegrade gebrochen und gefiltert wird, dazu ­geeignet, die Gefühle zu berühren und die Imaginationskraft anzu­ regen. Auf der Kippe zwischen hell und dunkel ist die Transluzenz eine Methode der Lichtbildnerei. Der Raum bleibt lichtgestimmt, ganz ohne tiefe bergende Dunkelheiten oder dramatische Effekte. Wahre Meisterwerke der Lichtdiffusion und feinstofflichen Erschei­ nungen finden sich in der klassischen japanischen Architektur, ­deren Neigung zum schwach beleuchteten Raum vom japanischen Schriftsteller Junichiro Tanizaki in seinem Buch Lob des Schattens wunderbar beschrieben wird. Im Gegensatz zu der als «hart» und «weiß» empfundenen Welt der europäischen Architektur ist im japanischen Kulturkreis eine Ästhetik der feinen Nuancierung ­bestimmend. Zu diesem Zweck werden mehrere Schichten durch­ lässiger und poröser Konstruktionen und Materialien angewendet, die dazu dienen, das einfallende Licht zu mildern und Schatten ­aufzulösen. In der Architekturgeschichte der westlichen Welt sind dagegen jene Fälle, in denen der Raum als Behüter und Sammler gezielter Oberflächendiffusionen wirkt, eher rar. Eine dieser Ausnahmeer­ scheinungen ist Pierre Chareaus Maison de verre, bei der sich Kons­ truktion und Materialisation als Lichtfänger und Lichtumwandler betätigen und die Bannung von Licht und Schatten gleichermaßen im Vordergrund steht. So ermöglichen die großflächigen translu­ zenten Außenwände einen satten Lichteinfall, der – durch die Glas­ bausteine gedämpft – nur flüchtig auf verschiedenen Materialien im Innenraum fällt, um dann in den dunklen Farben von Teppichen und Möbeln zu versickern. Erst in jüngster Vergangenheit sind da und dort auch Wohn­ bauten entstanden, bei denen vermehrt semitransparente Materialien, mehrschichtige Gebäudehüllen oder vielfach durchbrochene Wän­ de und dergleichen zum Einsatz kommen. Diese neue Ästhetik der Verschleierung ist zugleich auch ein willkommener Anlass, die von der Moderne verpönte Ornamentik und Dekorationslust zu SANAA (Kazuyo Sejima & Ryue Nishizawa), Haus M, Tokio, 1996–1997. Blick vom ­Küchenbereich durch Wohnraum und Innenhof ins Schlafzimmer. – Mit der ­Ästhetik der Verschleierung besteht eine reelle ­Option, die Außenwand möglichst offen zu halten und gleichzeitig unliebsa­me ­Ein­blicke zu verhindern.

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Pierre Chareau, Maison de verre, Paris, 1927–1932. Sprechzimmer von Dr. Dalsace gegen den Garten. – Transluzentes oder opaleszierendes Licht ist bewusst diskret; es ist der Stoff, aus dem die stille lyrische, kontemplative Atmosphäre geschaffen ist.

Francis Soler mit Jérôme Lauth und ­Vincent Jacob, Wohnbau, Rue E. Durkheim, Paris 13e, 1994–1997. Innenraum, Ansicht. – Auch bei der Verwendung von farbig ­bedrucktem Glas geht es nicht um eine Erhellung des Innenraums, sondern vielmehr um die Dämpfung des Außenraums ­be­ziehungsweise um eine Steigerung des Raum­eindrucks.

r­ ehabilitieren. So fungieren dekorative Muster nicht nur als Weich­ zeichner des nach innen drängenden Lichts, sondern verhindern auch unliebsame Einblicke. In der arabischen Architektur ist das engmaschige Holzgitter vor Fensteröffnungen ein viel verwendetes Element, da es überdies einen Blick auf die Straße erlaubt, ohne selbst gesehen zu werden. Notabene werden auch Erinnerungen wach an ein weiteres, längst aus dem Blickfeld geratenes Bauelement westlicher Baukultur: Bevor mit der Moderne die Welt durch ­r iesige Panoramascheiben unsere direkte und ungeteilte Aufmerk­ samkeit erforderte, war der Blick durch das kleinteilige Sprossen­ fenster die Norm. Dieses hatte etwas Behaglich-intimes, weil es überschaubare, erträgliche Teile aus der Wirklichkeit schnitt und die Welt in die Ferne rückte. Mit der Anwendung von Gitterrosten oder Holzlamellen, die der gesamten Fassadenfläche vorge­ lagert werden, erlebt dieser Effekt eine Renaissance. Schlupfwinkel Zu den Dingen, die im Namen eines modernen Wohnens geopfert wurden, gehört auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Ein Gefühl der Geborgenheit stellt sich vor allem an Orten wie Nischenoder Eck- beziehungsweise Winkelsituationen ein, während man sich in der Mitte eines Raums vergleichsweise ungemütlich fühlt. Der geläufige Ausspruch «sich in sein Eck zurückziehen» drückt aus, dass jeder Mensch eine solche Zone für sich beansprucht, die es ihm ermöglicht, sich den ständigen Anforderungen des Sozialen zu ­entziehen und einen geschützten Individualbereich zu definieren. Der Winkel wird zum unentbehrlichen Rückzugsbereich. Dabei ist der Platz in der Ecke vielfältig: Mit einer raschen Körperdrehung kann der Mensch sein Verhältnis zum Raum grundlegend verändern. Während ihm der Blick aus dem Winkel einen Überblick über die reale Welt verschaffen mag, erlaubt es der Blick in den Winkel, diesen auch nach innen zu richten, den eigenen Gedanken nach­ zuhängen. Indessen haben die Bemühungen der Moderne, mit Langfens­tern und fließenden Räumen eine Bresche ins Innenleben und die ­Innerlichkeit des intimen Interieurs zu schlagen, Früchte getragen. Ehemals gebräuchliche Bauelemente wie Nischen oder Erker sind verschwunden, es gibt keine Verstecke mehr, und das Sammelsurium der im geschützten Winkel vor sich hinträumenden Einrichtungs­ gegenstände und Nippsachen ist genauso abhanden gekommen, wie die sanften Täuschungen einer grellen Ausleuchtung weichen ­mussten. Das Fehlen solcher Bauteile respektive die übermäßige Kon­ zentration auf die Fassadengestaltung sind heute mit dafür ver­ antwortlich, wenn allenthalben spannungslose Raumsituationen entstehen, die einer individuellen Aneignung sowie dem Bedürfnis des Ruhe suchenden Menschen nach reduzierter Lichtfülle in­ different gegenüberstehen. Um einen weiteren Anstieg der übermä­ ßigen Tageslichtflutung zu verhindern und verschatteten Räumen wieder eine Chance zu geben, gilt es deshalb, die Lust an der ganzen Wand neu zu entdecken und auf diese Weise den Bewohnern neben hellen Aktivzonen auch dunkle Ruhepole anzubieten. Ferner sollte mit einer im Voraus bedachten und wohl kalkulierten An­ ordnung der Öffnungen die Bildung von Fluchtwinkeln und Identi­ täts­bereichen unterstützt werden, damit sich das Verweilen im Raum nicht nur angenehm, sondern auch abwechslungsreich gestaltet.

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Wo Voyeurismus und Exhibitionismus als Massenphänomen überhandnehmen, ­haben wir verlernt, dass es legitime Rückzugs- und Distanzbedürfnisse gibt: Alvar Aalto, Villa Mairea, Noormarrku, Finnland, 1938–1939. Cheminée im Wohnraum. – Eine der Anforderungen an ­Wohnräume lag für Aalto in der Bildung von Inselbe­rei­chen und Rückzugsorten, die als individuelle Elemente aus einer zentralen, gemeinschaftlichen Zone herauswachsen. In diesem Fall bringt die geschwungene Seitenwand das einfallende Licht zum Fließen – Innen und Außen, Licht und Schatten begegnen sich. Lux Guyer, Villa Im Düggel für Charles­Rudolph Schwarzenbach, Küsnacht, Kt. Zürich, 1929–1931. Eckfenster in der ­Bibliothek.

Die Lichtinsel Die Tatsache, dass Licht einen eigenen, fiktiven Lichtraum definie­ ren kann, bietet eine weitere Möglichkeit, einen behaglichen Identi­ tätsbereich zu schaffen. Dieser entsteht, wenn sich bei intensiver gerichteter Belichtung eine Zone im Raum deutlich abgrenzt, wäh­ rend der Rest des Raums im Halbdunkel oder Dunkel versinkt. Ein solcher Effekt tritt etwa ein, wenn Sonnenstrahlen gebündelt durch eine nicht allzu große Öffnung in ein relativ dunkles Zimmer oder einen abgeschirmten Bereich fallen. Dieser Lichtraum, der sich als deutlich wahrnehmbarer Fleck am Boden abzeichnet und mit dem Lauf der Sonne wandert, zieht automatisch die Aufmerksam­ keit auf sich. Außerdem vermag er als eine Art eingefriedetes Terri­ torium eine Atmosphäre ungestörter Intimität zu erzeugen. Ein außerhalb der erhellten Zone stehender Betrachter wird sich magne­ tisch vom Licht angezogen fühlen und an entsprechender Stelle ­n iederlassen wollen. Ein bequemer Sessel an besagter Stelle tut hier ein Übriges, damit die Lichtinsel zur Oase wird, zu einem Ort der Konzentration. Derweil bekommt der Restraum für den inner­ halb der erhellten Zone Weilenden eine unbestimmte Dimension. Zur Förderung der Aufmerksamkeit ist es ganz allgemein besser, wenn anstelle von gleichmäßig beleuchteten Großflächen mit ­k leinen gezielt platzierten Lichtquellen gearbeitet wird. Bereits in den 1950er Jahren haben Versuche dies bestätigt. Entsprechend lässt es sich bei einer örtlichen Beleuchtung über dem Arbeitstisch konzentrierter arbeiten, als wenn im Raum eine nivellierte Allge­ meinbeleuchtung herrscht. Daneben können Lichtinseln auch eine bindende Kraft entfalten und die Kommunikation und das Ge­ meinschaftsgefühl fördern, so zum Beispiel, wenn sich eine Gruppe von Menschen an einem hell erleuchteten Tisch gegenübersitzt. ­Eine gleichmäßige Beleuchtung – lange Zeit das Faible der Beleuch­ tungstechniker – zerstört dagegen die soziale Beschaffenheit

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eines Raums und kann bisweilen zu Unsicherheit und Orientie­ rungs- beziehungsweise Haltlosigkeit führen. Daraus lässt sich ­schlie­­ßen, dass die Ausbildung einer oder mehrerer sich vom Rest­ raum absetzender Aktivitätszonen nicht nur für die Raum­orien­ tierung, sondern auch für das Raumgefühl ganz allgemein ­förderlich ist. Vor­aussetzung für die Schaffung einer Lichtinsel ist allerdings, dass sich die allgemeine Raumhelligkeit auf einem angemes­ senen, das heißt nicht allzu hohen Niveau befindet oder dass sich die ­Wände oder das unmittelbare Umfeld dunkler ausnehmen. Dies erfordert, dass Sonnenstände und Schattenwürfe im Tages- und ­Jahreszeitenverlauf bereits frühzeitig eruiert und in die Planung ein­ bezogen werden müssen. Die Wohnung als Erinnerungsraum Bei der Wahrnehmung von Raum handelt es sich um eine erlernte Fähigkeit. Diese ist von maßgeblichem Einfluss auf die Wirkung, die der Raum auf den Betrachter ausübt. Der Raumeindruck ist also stark subjektiv geprägt – was die Erstellung eines objektiven Krite­ rienkataloges für eine angenehme Raumwirkung erschwert. Wann und inwieweit ein Bauwerk oder ein Raum einen positiven, in unse­ rem Fall gemütlichen Eindruck beim Nutzer hinterlässt, hängt folglich nicht allein von der Gestaltungsweise oder den verwendeten Materialien ab, sondern auch von der Empfänglichkeit, Psyche, ­Gemütsverfassung und Erziehung des Betrachters. Beim Sehen sind diverse Sinne angesprochen, die durch Eindrücke aus der Ver­ gangenheit ergänzt werden. Das Auge nimmt Informationen auf, die es an das Gehirn weiterleitet. Dort werden sie gefiltert und um ­weitere Sinneseindrücke sowie die in der Vergangenheit gemachten Ein­drücke vervollständigt. Sehen ist also nicht nur eine reine ­Ü bersetzungsleistung, sondern auch eine Erinnerungsleistung, bei der die Erfahrung eine Rolle spielt. Letztere basiert auf persönli­ chen Erinnerungen – also zum Beispiel darauf, wie man aufgewach­ sen ist und wo man erste Erfahrungen mit Räumen und Objekten gesammelt hat – sowie auf der Tradition der Kultur, in die man hin­ eingeboren wurde. Das psychische Befinden spielt zusätzlich eine Rolle. Wahrnehmung ist Erinnerung und in den Augen des Psycho­ analytikers «aktive Seelenarbeit»: «Wahrnehmung ist […] nichts Passives, das sich auf synthetische Leistung des Hirnes reduzieren lässt, sondern handlungsorientiert und hat mit Interpretation und Erinnerung zu tun.»7 Normalerweise fühlt man sich also dann wohl, wenn einem ­etwas bekannt vorkommt, denn die Raumbewertung ist von den ­individuellen Erfahrungen in der Vergangenheit bestimmt. Der eigent­liche Vorgang der Raumwahrnehmung unterliegt einem hier­ archischen Prinzip, das beim Betreten des Raums wirksam wird. Als Erstes werden die Begebenheiten des Raums registriert, also des­ sen Größe, Proportionen und Öffnungen, danach bestimmte ­Elemente wie Material oder Fenstersprossen erkannt, und schließ­ lich findet eine Attributierung statt, das heißt, der Betrachter ­deutet das Wahrgenommene über Assoziationen. Letztere bestim­ men das weitere Verhalten gegenüber dem Wahrgenommenen. ­Insbesondere Licht- und Farbmuster aus der Vergangenheit dienen als Schlüsselmerkmale, die Assoziationen mit ehemaligen Raum­ erlebnissen auslösen. Da Assoziationen auf dem Erfahrungsschatz beruhen, sind für die Beurteilung eines Raums Faktoren wie

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Bei der Beurteilung der Raumwirkung bezieht man sich auf Referenzräume, die einem aus dem Alltag bekannt sind. Davon abweichende Situationen werden je nach dem als «sehr hell» oder «höhlengleich» angesehen. «Klassisches», hochrechteckiges Fenster in einer Altbauwohnung in Wien. Jan Vermeer, Briefschreiberin mit Dienstmagd, um 1670. Öl auf Leinwand, 71,1 x 60,5 cm. National Gallery of Ireland.

­ ultur und Klima von Einfluss – was erklärt, weshalb Menschen K mit ähnlichem kulturellem Hintergrund auch ähnliche Assozia­tio­nen hinsichtlich der Helligkeit oder Dunkelheit eines Raums ­haben. So werden also Räume aus unserem Alltag zur Referenzgröße für die Beurteilung anderer Interieurs. In Mitteleuropa sind die meisten Menschen zum Beispiel mit einem kleinen bis mittelgroßen, seitlich belichteten Raum vertraut. Solche Räume, wie sie in der niederländischen Malerei oft dargestellt wurden, sind seit dem 17. Jahrhundert in unseren Breitengraden äußerst verbreitet. Aller­ dings müssen häufig angetroffene Raumbelichtungen nicht zwangs­ läufig auch jene sein, die Nutzer tatsächlich bevorzugen. Die für uns «typische» Belichtungssituation zeichnet sich durch einen nach hinten massiv abfallenden Lichtfluss (Tageslichtquotient) aus. Da­ bei weist der Boden je nach Material und Farbe kleinere bis mitt­ lere Reflexionen auf und nimmt sich in Nähe des Fensters als stark ­beleuchtete Zone aus. Er wird aber kaum je als helle Oberfläche wahrgenommen. Die Decke, üblicherweise in weiß gehalten, ist in­ folge der Mehrfachreflexionen der Innenraumwände die hellste Oberfläche im Raum. Die Wände variieren in ihren Lichtmustern dagegen vielmehr. Je nach Perforationsgrad, Farbe und Dekor kön­ nen direkt belichtete Wandpartien sehr hell scheinen. Entsprechend schreiben wir einem Raum einen bestimmten Charakter zu und ­lassen uns zu Beschreibungen wie gemütlich oder freundlich hinrei­ ßen. «Wir stellen auch fest, ob ein architektonischer Raum eher ­modern oder altmodisch wirkt, ob er eher eine private oder öffentli­ che Atmosphäre ausstrahlt.»8 So lösen unterschiedliche Gebäu­­­­­de­­­­ typen unterschiedliche Klischeevorstellungen aus und pro­vozieren die damit verbundenen, gebräuchlichen Wortbe­schreibungen. 199

Die Raumwirkung beziehungsweise die Beurteilung, ob ein Raum positiv und für einen bestimmten Zweck geeignet erscheint, hängt auch von der Erwartungshaltung ab, mit der man dem Raum begegnet. Eine von der Erwartung abweichende Situation wird je nachdem als sehr hell oder als höhlengleich und muffig bewertet. Solche Eindrücke können sich mit der Zeit auch ändern, da sich die visuelle Wahrnehmung als ein Prozess erweist, der laufend mit neuen Erfahrungen gespiesen wird. Bei der Planung von Räumen ist deshalb auch in Betracht zu ziehen, welche Wünsche und Erwar­ tungshaltungen die Menschen an ihre Umwelt und auch an die Lichtverhältnisse in einem bestimmten Raum haben und zukünftig haben werden. Lichteinfall und Raumerlebnis Für das Erleben eines Raums ist Licht von entscheidender Bedeu­ tung. Bereits 1917 hatte der deutsche Architekt und Werkbund-Mit­ begründer Hermann Muthesius, des inhaltsleeren Fassadenkults seiner Architektenkollegen überdrüssig, betont: «Ein wirklich be­ haglicher, wohnlicher, heimischer Eindruck des Innenraumes kann auch ohne Aufwand von hohen Kunstformen schon durch aller­ein­ fachste Mittel erreicht werden. Gute Verhältnisse des Raumes selbst, eine wirkungsvolle Lichtzuführung, einheitliche Form und harmonische Farbe sind einige Erfordernisse, die in allererster Linie erfüllt werden müssen. Es sind alles Forderungen mehr allgemei­ ner als besonderer Art, grundsätzliche Anordnungen, die auch nicht einmal einen besonderen wirtschaftlichen Aufwand erfordern.»9 «Hell-Dunkel-Verteilungen im Gesichtsfeld bewirken auch schon an sich räumliche Erlebnisse [...].»10 Zwar erweist sich die Re­ alität als viel komplexer und mit diversen anderen Parametern ­verflochten; dennoch lässt sich dem architektonischen Raum zumin­ dest ein gewisser Charakter zuschreiben, der von Einfluss auf das Verhalten und Befinden im Raum ist. Während ein Raum, dessen obere Hälfte heller, die untere dagegen eher dunkel gehalten wird, in etwa einer vertrauten Situation entspricht, kann im umgekehrten Fall – also bei dunklem oberen und hellerem unteren Bereich – leicht ein drückendes Ambiente entstehen, das ähnlich einem wol­ kenverhangenen Himmel Gewitter oder Gefahr evoziert. Wirkt

Typische Raumwirkung bei unbunten räumlichen Situationen (nach Volkher Schultz, Projekt Tageslicht. Licht und ­Architektur).

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Standard

Schutz

Gefahr

Dynamik

Hindernis

Ruhe

Rudolph M. Schindler, Strandhaus Philip Lovell, Newport Beach, CA, 1922–1926. Wohnraum mit horizontaler Gliederung durch zwei Fenster. Rudolph M. Schindler, Haus Kings Road (Haus Schindler), West Hollywood, CA, 1921–1922. Raum Schindlers mit dunkler Decke und Sprosseneinteilung der Fenster. Armand Weiser, Haus Hilde Goldstein, Wien-Döbling, 1933. Großer Wohnraum mit spiegelnder Decke.

allerdings nur die Deckenfläche dunkel, während sich die Wände rundherum hell absetzen, entsteht eher der Eindruck eines schützen­ den Dachs. Zeigt sich, wie dies bei einer einseitigen, großflächigen Verglasung der Frontseite der Fall ist, die Stirnwand als die hellste Raumpartie im Gesichtsfeld, kann diese «Tunnelsituation» einen dynamisierenden Effekt haben; man fühlt sich zum Licht hingezo­ gen. Erscheint die Stirnseite hingegen als dunkle Fläche, während der restliche Raum sehr hell wirkt, signalisiert dies eher einen statio­ nären Zustand, der Stabilisation und Ruhe verspricht. Natürlich sind dies nur vage Interpretationen, die nicht als ausschließliche Wir­ kungen zu verstehen sind, da sie in Tat und Wahrheit von den in­ dividuellen Assoziationen des Nutzers überlagert werden. Dennoch vermitteln sie zumindest einen Eindruck, von welchem Einfluss die Helligkeitsverteilung eines Raums auf unser psychisches Wohl­ be­finden sein kann. Dabei sind nicht nur Lage und Form des Fens­ ters von Bedeutung, sondern auch die Frage, ob sich dieses – in Ab­hängigkeit vom Betrachterstandpunkt – in der Stirn- oder in ­einer Seitenwand befindet. Durch bloße Änderung des Öffnungsan­ teils oder dessen Umplatzierung wird der Raum einen ganz ande­ ren Eindruck beim Nutzer hinterlassen, denn für die Erscheinung 201

des architektonischen Raums ist es auch von Bedeutung, wie das ­Lichtkonzept das metrische Volumen inszeniert. Raumqualitäten wie Enge – Weite, Freiheit – Eingeschlossenheit können je nach Fensterzuschnitt betont oder überspielt werden, indem sie beim Be­ wohner aufgrund vorgängig gemachter Raumerfahrungen eine ­entsprechende Wahrnehmung evozieren. Natürlich gibt es keinen objektiven Kriterienkatalog für die Wirkung unterschiedlicher Fenstertypen auf den Raum, dennoch lassen sich zu deren Einfluss auf das räumliche Erscheinungsbild einige Grundaussagen treffen. Lochfenster Das Fenster als Loch in der Mauer entspricht wohl der konven­ tionellsten Möglichkeit der Belichtung. Hierbei bleiben die Raum­ grenzen klar, es entsteht der Eindruck der Abgeschirmtheit, ein Gefühl der Sicherheit. Ein einzelnes Fenster hat Objektcharakter: Es stellt ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lichtquelle und Raum her, ähnlich jenem zwischen Figur und Grund. Ein in die Mittelachse der Stirnwand gesetztes Fenster strahlt nicht nur eine gewisse statische Ruhe aus, der Raum erfährt auch eine opti­ sche Streckung. Fällt die Öffnung im Vergleich zur Raumhülle eher klein aus, kann dem Problem zu hoher Leuchtdichtekontraste mit einer Laibung oder Zusatzfenstern begegnet werden. Wird das Fenster dagegen in der Seitenwand platziert, lässt dies den Raum breiter erscheinen. Eine außermittig situierte Öffnung sorgt zudem für eine deutlichere Zonierung in Hell und Dunkel, zugleich ge­ winnt der Raum durch die Asymmetrie an Spannung.

Luis Barragán, Haus Prieto López, Jardines del Pedregal, Mexico City, 1950. Diele mit an der Wand angeschlagenem Lochfenster. Josef Hoffmann, Sommerhaus Eduard Ast, Schiefling, Kärnten, 1923–1924. Schlaf­­­zim­ mer mit «klassischem» Lochfenster.

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Frank Lloyd Wright, Haus John Storer, Los Angeles, CA, 1923–1924. Wohnraum mit Fensterreihe.

Fensterreihe Eine Reihe von Fenstern neigt dazu, das Figur-Grund-Verhältnis der leuchtenden Objekte zu der von ihnen durchbrochenen Raum­ wand zu entschärfen, es sogar umzukehren. Gleichwohl braucht ­eine Serie von Fenstern – trotz materieller «Befreiung» infolge des großen Öffnungsanteils – noch lange keinen Eindruck der Offenheit entstehen zu lassen und muss nicht zwangsläufig eine Ausrichtung des Raums zur entsprechenden Seite hin bewirken. Im Gegenteil, gerade eine regelmäßige Serie vertikaler Fenster kann aktiv dazu bei­ tragen, Grenzen zu ziehen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sich die zwischen den Fenstern befindlichen Wandstücke zu einer Säulenreihe fügen, die, im Geist vervollständigt, uns trotz ­ihrer Durchlässigkeit als trennende Raumgrenze erscheint. Im Haus John Storer von Frank Lloyd Wright unterstützen der die Längs­ wand begleitende Stützenrhythmus und die Textur der Stützen die perspektivische Tiefenwirkung des Raums, der sich zur perfo­ rierten Vorderseite hin entwickelt. Im Gegensatz zu einem einheit­ lichen, flächig wirkenden Raum mit stützenfrei durchlaufender Befensterung zeichnet sich ein derart modulierter, stark rhythmisier­ ter Raum durch seine Dichte aus, er erscheint erdnah und schützend. Mehrere Öffnungen lassen sich zu einer einheitlichen Komposition innerhalb einer Fläche zusammenfassen, lassen sich staffeln oder locker verteilen und erzeugen so optisch eine Bewegung. Wandschnittfenster Die Verlegung eines Fensters aus der Wandmitte hin zur Raumecke kann den ganzen Charakter des Zimmers verändern: Durch die partielle Auflösung der Kante verschwimmen die Raumbegrenzun­ gen, dunkle Raumecken werden ausgeleuchtet. Das einfallende Licht überflutet die senkrecht zur Öffnung stehende Wand, die gleichzeitig durch Reflexion selbst zur Lichtquelle wird. Zudem ver­ leiht die Öffnung an der Kante einer Wandfläche dem Raum eine diagonale Richtung und damit eine gewisse Dynamik. Ein interes­ santes Beispiel dafür ist der Treppenaufgang im Haus Sten und Frenke von Richard Neutra: Infolge der räumlichen Disposition er­ scheint das Fenster der Seitenwand als ein langes Fensterband, das auf eine senkrecht dazu positionierte Wandscheibe zuläuft. Nahtlos an diese anstoßend, scheint das schmale Oberlichtformat dennoch unaufhaltsam in Richtung des hell ausgeleuchteten Treppenauf­

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gangs zu streben. Weitere Spannung verleiht der Situation die ver­ glaste Stirnseite, die in starkem Kontrast zu dem vorgesetzten, dunklen Scheibenelement steht und den Blick auf das Dahinter lenkt. Hans Scharoun, Haus Mattern, Bornim, 1933–1934. Arbeitsplatz im Wohnbereich mit Bandfenster. Richard Neutra, Haus Sten und Frenke, Santa Monica, CA, 1934. Treppenhaus mit Wandschnittfenster.

Band- und Panoramafenster Ein mittig in der Wand liegendes, lang gezogenes und ausreichend hohes Bandfenster erzeugt eine recht gute Allgemeinbeleuchtung im Raum. Die vergleichsweise schattenlose Lichtsituation bietet dabei wenige Kontraste und sorgt für eine nüchterne, sachliche Atmo­ sphäre. Aufgrund der vom Landschaftsraum abgeleiteten Impression, die unsere Sehgewohnheiten geprägt hat, kann der ­Anblick hori­ zontaler Schichtungen eine gewisse räumliche Weite implizieren. Je nach Größe der Öffnung kann sich der Blick gar zu einem Pano­ rama weiten, der Raum verliert an Abgeschlossenheit. Solange aller­ dings ein kleiner Sturz vorhanden ist, wirkt der Raum gefasst, der Eindruck eines «Fensters» bleibt erhalten. Vertikale und horizontale Schlitze Öffnungen, die sich horizontal oder vertikal über die ganze Wand ziehen, teilen diese in entsprechende Schichten. Die raumab­ schließenden Flächen werden getrennt und treten unabhängig von­ einander als Scheiben in Erscheinung. Ähnlich wie im Falle eines Bandfensters erfährt der Raum bei einem horizontalen Wandschlitz eine gleichmäßige, je nach Höhe des Bandes mehr oder weniger in die Raumtiefe homogen abfallende Ausleuchtung. Handelt es sich dagegen um ein stehendes Fensterformat, das vom Boden bis zur Decke reicht, wird der Raum in hellere und dunklere Zonen unter­ teilt. Befindet sich die Öffnung allerdings am Rand der Wand, wird Letztere durch das hereinflutende Licht erhellt, die Kontraste fallen schwächer aus. Eine solche Beleuchtung kann Raumkonti­ nuität andeuten oder auch wegweisend wirken.

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Richard Neutra, Haus Moore, Ojai, CA, 1952. Schlafzimmer mit Eckfenster.

Eckfenster Eine weitere räumliche Spannungssteigerung wird durch die Auf­ lösung der Eckpartie erzielt – eine Maßnahme, die den Raum nach außen dringen lässt. Ein Beispiel, ebenfalls von Richard Neutra, zeigt, wie sich das Raum­volumen bei einer Ausdeh­nung des Fensters um die Ecke herum ver­liert. Die entmaterialisierte Wirkung kommt dabei nicht nur von der materiellen Transparenz: Die gleichförmi­ge Ausleuchtung, die nur wenige Leuchtdichte­kontraste erzeugt, und insbesondere die helle, den Raum in die Tiefe erweiternde Ecke ­unterstützen den ­Effekt. Öffnungen in der Raum­ecke geben dem Raum und den Flächen, in denen sie angeordnet sind, eine diagonale Ausrichtung. Dieser richtende Effekt kann gestalterische Gründe haben, zum Bei­spiel den, eine dunkle Raumecke zu erhellen. Öffnun­ gen in Raumecken lösen die Kanten der Flächen auf, in denen sie liegen. Je größer die Öffnung, desto weniger klar die Ecke; läuft die Öffnung gar übereck, verschwimmt die Ecke vollends, und der Raum kann sich über seine umschließenden Flächen ausdehnen. Deckenoberlicht Während Deckenoberlichter das meiste Licht in den Raum trans­ por­tieren, vermitteln sie wenig optische Bezüge zur Umgebung. Ge­ rade dadurch erzeugt die Beleuchtung mittels Oberlicht spezielle Raumstimmungen. Durch den gezielten Einsatz einer punktuellen Akzent­beleuchtung können tief im Innenraum gelegene Grundriss­ zonen mit ausreichend Licht versorgt werden. Es entsteht eine von oben nach unten sich abschwächende, gleichmäßige und diffuse Ausleuchtung, die einen bestimmten Bereich auszeichnen oder aber die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand lenken kann. Befindet sich die Öffnung dagegen an der Kante zwischen Wand und Decke, überflutet ein Teil des einfallenden Lichts die Wand und erhöht so die Helligkeit im Raum. Handelt es sich indessen um ein lineares Deckenoberlicht, das entlang einer Wand verläuft, vermag es dem Raum eine Richtung zu geben. Ladislav Žák, Villa Hain, Prag-Vysocˇ any, 1932–1933. Gang mit Deckenoberlicht im 1. Obergeschoss.

Unterlicht Ein sehr tief gelegenes Fenster vermittelt einen introvertierten und intimen Raumeindruck. Es entsteht eine Akzentbeleuchtung mit starker Zonierung entlang des Fußbodens. Das durch die Öffnung

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Tadao Ando, Ishii House, Hamamatsu, ­Shizuoka, Japan, 1980–1982. Wohnraum mit tief liegendem Fenster. Luis Barragán, Haus und Atelier Barragán, Tacubaya, Mexico City, 1947–1948. Wohnraum mit Fensterwand.

direkt auf den Boden einstrahlende Licht wird von diesem diffus in den Raum gestreut und bildet weiche Lichtübergänge ohne scharfe Kanten. Die erreichte Raumstimmung lebt von den starken Hell-dunkel-Kontrasten und der Umkehrung der natürlichen Lichtverhältnisse – der bodennahe Raumbereich fällt vergleichswei­ se hell aus, während der Rest des Raums in eine schummrige Dämmrigkeit gehüllt ist. Auf die Kommunikation mit dem Außen­ raum wird kein Wert gelegt, die Konzentration auf den Innenraum ist hier das architektonische Thema. Fensterwand Eine Öffnung innerhalb einer Fläche kann bis zu dem Moment wachsen, an dem sie aufhört, als Figur innerhalb der Fläche zu wir­ ken. Darüber hinaus ist sie selbst ein positives Element, eine trans­ parente, von einem Rahmen umfasste Fläche. Eine Fensterwand löst die vertikalen Grenzen des Raumes und schafft dem Raum die Möglichkeit, sich über seine physikalischen Grenzen hinaus auszu­ dehnen. Sie öffnet nicht nur den Raum zu einem für alle Akti­vi­ täten dominierenden, breiten Hintergrund, sondern ermöglicht auch eine relativ gute Raumausleuchtung. So wirken die an die Öff­nung angrenzenden Wandflächen gleichsam wie ein Rahmenwerk, das – ähnlich einer Laibung – für eine viel gleichmäßigere Leuchtdichte­ verteilung sorgt, als dies bei einem Lochfenster der Fall ist. Lichtspiel und Materialtheater Mit dem wachsenden Einkommen der Haushalte und einer Plu­ ralisierung der Lebensstile liegt die Aufgabe der Architektur zu Be­ ginn des 21. Jahrhunderts zunehmend darin, der Sehnsucht nach Einzigartigkeit Raum zu geben. Anders als zu Zeiten, in denen ein bestimmtes Bild vom richtigen Wohnen dominierte, haben sich heute die Interessen der Bewohner weg von den funktional begrün­ deten, hin zu den atmosphärisch-konzeptionellen Qualitäten einer Wohnung verlagert. Im Vordergrund steht ein Wohnen jenseits des Stan­dards, das sich aus der Verbindung unterschiedlicher räum­ licher Situationen fügt. Im Gegenzug können überästhetisierte

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Räume ­al­lerdings auch leicht die Aneignung und Etablierung eines indi­viduellen Ambientes verweigern, indem sie sich der Integra­ tion von Gegenständen des lebenspraktischen Wohnens entgegen­ stellen. Wohnkultur aber entsteht durch die Selbstbestimmung des Bewohners, weshalb Architektur Spuren des Gebrauchs zulassen sollte. Ebenso ist es für das persönliche Wohlbefinden im Raum von gro­ßer Bedeutung, dass mit der architektonischen Gestaltung eine ­gewisse Ausgewogenheit zwischen Umschließung und Öffnung ­erreicht wird. Denn allen Unkenrufen zum Trotz ist unser Verhalten ­gegenüber Räumen nach wie vor vom Hin und Her zwischen dem Aufgeben und Wiedererlangen eines Sicherheitsgefühls geprägt, was auch die Ambivalenz von Hell und Dunkel mit einschließt. Gerade im Wohnbereich müssen die Räume auf wechselnde ­Bedürfnisse elastisch reagieren, indem sich Orte des Rückzugs mit solchen der Betriebsamkeit und Exponiertheit abwechseln. Dabei wird die Identität eines Raums wesentlich von dessen Maßstäblich­ keit, der Art der Öffnung und des Lichtflusses sowie des Rhythmus’ von Schatten und Licht bestimmt. Eine Beurteilung oder gar die allfällige Antizipation von Tageslichtwirkungen wird allerdings auf­ grund der lichttechnischen und wahrnehmungspsychologischen Komplexität eine abstrakte und schwierige Angelegenheit bleiben. Zwar können die physikalischen Eigenschaften einer Beleuch­ tungssituation berechnet und gemessen werden, letztlich aber ist der Sehvorgang von emotionalen Faktoren besetzt, welche über den ­Erfolg des Lichtkonzepts entscheiden. Gebauter Raum ist eben nicht nur materialisierter, sondern auch ein imaginierter, persönlich ­ausgelegter Wahrnehmungsraum, bei dem auch Konnotationen mit früheren Erinnerungen eine Rolle spielen. Räumlich-visuelles Zusammenspiel aus Licht, Farbe und Wasser in Luis Barragáns Haus Gálvez, Colonia Chimalistac, Mexico City, 1955.

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Eine ästhetisierende Lichtgestaltung versucht sich solcherlei ­ ilder und Erfahrungen zunutze zu machen. Über den Zweck der B passiven Sehhilfe hinaus will sie zu einem attraktiven Raumumfeld beitragen. Ihr Augenmerk liegt deshalb vor allem auf dem Gestaltwert des Lichts und damit auf dem Senden von lesbaren Bot­ schaf­ten. Über das temporäre Schauspiel von Schatten oder die Geometri­sierung von Lichtmustern hinaus kann zudem versucht werden, mit­hilfe des Lichteinsatzes bestimmte Erinnerungen anzu­ rühren oder gezielt Stimmungen zu evozieren. Der Begriff der ­Atmosphäre, heu­te zu einer Vielzweck-Metapher geworden, impli­ ziert hier das Spiel mit subjektiven Raumerlebnissen. Die Schwierig­ keit besteht allerdings darin, dass sich allgemeine Rezepte für den Erlebniswert unterschiedlicher Lichtsituationen kaum formulie­ ren lassen. Während der Lichtpragmatiker in der technischen ­Vernunft einen siche­ren Stand hat, konstituiert sich der Erlebniswert von Licht erst im Zwischenraum von architektonischer Objektwelt und der leiblichen Anwesenheit des Betrachters. Entsprechend ist hier das Erinnerungs- und Projektierungsver­ mögen des Architekten gefragt, denn die eigene Sensibilisierung für Lichtphänomene kann zumindest einen wichtigen Anhaltspunkt für den Entwurf stellen. Da wir es gewohnt sind, Räume als stabile Objekte zu betrachten, müssen sich überdies die Imaginations­ kräfte auch dort beweisen, wo es um die dynamische Wirkungswei­

Stimmungsvoller Lichteinfall in einem Wohnhaus in Ahmedabad, Indien.

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se des Lichts und insofern um wechselnde Erscheinungsformen geht. Was nun die Einschätzung der atmosphärischen Qualitäten von bestimmten Lichtsituationen anbelangt, können hier die in der ­Natur gemachten Beobachtungen und meteorologischen Erfah­run­ gen gute Dienste leisten. So lassen sich kontemplative Momente, Trübungen oder Effekte, wie sie etwa in der Morgen- und Abend­ dämmerung entstehen, ansatzweise rekonstruieren und mittels ­ge­eigneter Maßnahmen in die Wohnsituation übertragen. Das Verhältnis von Licht und Materie ist dabei zentral, denn Licht bedingt Oberflächen, auf denen es spielen kann. Die Tatsache, dass das entsprechende Material versiegelt, offenporig, poliert oder geschliffen ist, hat einen großen Einfluss auf die Lichtwirkung und den Gesamteindruck des Raums. Mit der Absorption, Trans­ mission, Reflexion oder Diffusion von Lichtstrahlung be­stehen viel­ fältige Möglichkeiten der Lichtdramaturgie, die den Archi­tekten zum Dirigenten eines Konzerts aus Zufällen, Einfällen und Notwen­ digkeiten werden lassen. Auf diese Weise können Bauten von ­ästhetischer und sinnlicher Kraft entstehen, die der Lichtnormalität des Übermaßes entgegenstehen. Wandöffnungen werfen jedoch nicht nur Licht, sondern auch Außenbilder in den Raum. Größe, Form und Anzahl der Fenster spielen dabei weniger eine Rolle als vielmehr deren sinnfällige ­Platzierung. So kann das Spektrum vom kleinen Guckfenster, das den Blick auf ein besonderes Detail nach außen lenkt, bis hin zum riesigen Panoramafenster reichen, bei dem ein bestimmtes Bild des Außenraums ins rechte Licht gerückt wird. Im Übrigen genügt bereits ein Sonnenstrahl, um an die Existenz des Außenraums zu erinnern, denn zusammen mit ihm dringen auch Ort und Zeit in den Raum ein. Mit der differenzierten Interaktion zwischen offen und zu, Transparenz und Geschlossenheit kann zudem die Bildung von Fluchtwinkeln und Identitätsbereichen unterstützt und eine abwechslungsreiche Wohnlandschaft mit Hell- und Dunkel­ bereichen geschaffen werden.

1 Joseph Roth, «Architektur» [1929], in: Michael Bienert (Hrsg.), Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 41999, S. 155– 157; 156–157. 2 Pierre von Meiss, Vom Objekt zum Raum zum Ort. Dimensionen einer Archi­ tektur, Basel – Berlin – Boston: Birkhäuser, 1994, S. 172. 3 Riklef Rambow, Laienurteile über Architektur, abrufbar unter http://wwwpsy. uni-muenster.de/inst3/AEbromme/web/veroef/1998/Arch5.htm (Zugriff 10.5.2008). 4 Wolfgang Marschall, «Behagen. Ethnologische Splitter aus Asien», in: Werk, ­Bauen + Wohnen, Jg. 90/57, Nr. 3, 2003, S. 42–47. 5 Friedrich Achleitner, «Vom Grunzen und Rekeln», in: Baumeister, Jg. 89, Nr. 7, 1992, S. 27. 6 Juhani Pallasmaa, «Six Themes for the Next Millennium, 1994. Sechs Themen für das nächste Jahrtausend», in: Fritz Neumeyer, Quellentexte zur Architekturtheorie, München: Prestel, 2002, S. 565–573. 7 Wolfgang Leuschner, Psychoanalytiker, im Rahmen des Symposiums Architektur und Wahrnehmung in Frankfurt (Nov. 2002), zit. nach: Werk, Bauen + Wohnen, Jg. 90/57, Nr. 3, 2003, S. 69. 8 Christoph Schierz, «Sehen im Lichte der Wahrnehmung. Wie wir unsere Welt ‹besehen›», in: Archithese, Jg. 28, Nr. 6, 1998, S. 30–35; 35. 9 Hermann Muthesius, Wie baue ich mein Haus?, München: Bruckmann, 1917, S. 129. 10 Volkher Schultz, Projekt Tageslicht. Licht und Architektur, abrufbar unter ­http://www.fvlr.de/downloads/Lichtarch1.pdf (Zugriff 10.5.2008).

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Best of: 11 Meister des Tageslichts Wegweisende Lichtkonzeptionen

In der Architektur wird vielstimmig von Licht geredet. Oft gelangt der Einsatz von Tageslicht jedoch nicht über den Anspruch der Zweckmäßigkeit hinaus. Obwohl die Evolution der Architektur zwangsläufig mit einer Entwicklung ihrer immateriellen Wirkungsweise verbunden ist, wird dem Lichtentwurf in Architekturbetrachtungen bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Das mag daran liegen, dass es für dynamische, vielfältige Raumstimmungen keine allgemeingültigen Definitionen gibt. Die Ermittlung von Kriterien für den Tageslichteinsatz wird indessen auch dadurch ­erschwert, dass naturwissenschaftlich belegbare Erkenntnisse nach wie vor eine höhere Wertschätzung erfahren als subjektive, nicht qualifizierbare Gestaltungs- und Designkriterien. Auch wenn sich nach den modernistischen Helligkeitseuphorien Überdruss regt und die Erwartungen an eine qualitätvolle Tageslichtplanung steigen, ist das Wissen vieler Architekten in diesem Bereich marginal. Licht im Entwurf berücksichtigen kann nur, wer weiß, was Licht überhaupt zu leisten vermag und wie es gezielt eingesetzt werden kann. Aus diesem Grund sollen hier 11 Architekten mit ausgeprägtem Lichtbewusstsein vorgestellt werden, in deren Bauwerken sich ein symptomatischer Lichteinsatz, eine ganz bestimmte Lichthandschrift erkennen und unterscheiden lässt. Gleichzeitig wird der Ver­ such unternommen, die spezifischen Lichtwirkungen zu benennen und, soweit überhaupt möglich, zu klassifizieren, um so das Auge für die unterschiedlichen Möglichkeiten der Gestaltung mit Tageslicht zu schärfen. Die folgenden Beispiele können als Anregung zu einem vielschichtigen Umgang mit Tageslicht dienen und einen Hinweis auf die allfälligen Defizite vieler zeitgenössischer Bauten geben.

Richard Neutra, Haus Moore, Ojai, CA, 1952. Ausblick vom Wohnbereich.

Le Corbusier: klärendes Licht Le Corbusiers frühe Villenbauten der 1920er Jahre erweisen sich in ihrer Einfachheit und Reinheit der geometrischen Form nicht nur als gelungener Versuch, dem täglichen Leben einen neuen, puris­ tischen Rahmen zu verpassen, sondern sind auch bauliche Manifestation eines neuen Lichtbewusstseins. Auf seinen Reisen zu den Baudenkmälern der Antike hatte Le Corbusier das harte rationale Licht unter der grellen mediterranen Sonne für sich ­entdeckt. In seinen Räumen erscheint das Licht als eine reinigende Hellig­­­­­keit, die erhellt, enthüllt und durchleuchtet: Vornehmlich ­ästhetischen Re-

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Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Villa Savoye, Poissy, 1928–1931. Wohnraum. Le Corbusier, Villa Shodhan, Ahmedabad, Indien, 1951–1956. Fassade gegen den Garten.

geln gehorchend, ist sie dazu da, dem Blick des ­Betrachters den ­gestalterischen Wert seiner Kompositionen zu eröff­nen. Dabei handelt es sich meist um das kalkulierte Zusammenspiel mehrerer ­konkurrierender Tageslichtquellen, mit deren Hilfe er eine räumli­che Mehrdeutigkeit zu inszenieren sucht. Das Licht selbst spielt indessen nur eine passive, dienende Rolle: Von Le Corbusier ins Gebäude zitiert, darf es den euklidischen Körpern zu ­ihrer Erscheinung ­verhelfen, darf deren scharfe Konturen nachzeich­nen, um im Raum jene Klarheit zu stiften, die der Architekt so liebt. In seinem Spätwerk zeigt sich Le Corbusier dagegen mehr als Schattenbildner, der die ästhetischen und stimmungsvollen Potenzen des Lichts für die Moderne entdeckt und vor allem am Schattenwurf seiner skulpturalen Fassaden interessiert ist. In seinem Spätwerk ist es nicht mehr die Ratio, sondern vielmehr die «Emotio», die seine Licht­ philosophie bestimmt. 212

Richard Neutra: kräftigendes Licht Richard Neutras radikale Öffnung der Gebäudehaut gegenüber der Außenwelt widerspiegelt den neu geschaffenen Umweltbegriff der Moderne, bei dem anstelle von Grenzziehungen vielmehr die Verbindung und Verknüpfung des gesamten Ökosystems im Vorder­ grund steht. Unter dem Eindruck eines allgegenwärtigen «Strahlungsaustauschs» ist das Haus für Neutra ein Lebensraum, der sich in ständiger Wechselwirkung mit seinen Bewohnern befindet. Von seinem obsessiven Gebrauch transparenter Bauteile erhofft er sich einen positiven Effekt auf die Gesundheit: Ihm scheint der großzügige Einsatz von Glas und spiegelnden Oberflächen dazu ge­­­­ eignet, die Umwandlung der in der Atmosphäre vorhandenen ­Energien zu begünstigen und somit dem Bewohner zu geistiger Kraft und Lebensfreude zu verhelfen. Gleichzeitig sollen Licht, Refle­ xionen und Oszillierungen zwischen Transparenz und Opazität für visuelle Stimulation sorgen und optisch zum Verwischen der ­Grenzen zwischen innen und außen beitragen. Mit Neutras konzent­ rierter Auflösung der Form – die in der Entmaterialisierung der Ecke architektonischen Ausdruck findet – scheint das Freiheitsversprechen der Moderne definitiv eingelöst.

Richard Neutra, Haus von Sternberg, ­Northridge, CA, 1935–1936. Badezimmer. Richard Neutra, Haus Chuey, Los Angeles, CA, 1956. Wohnraum.

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Frank Lloyd Wright, Avery Coonley Spielhaus, Riverside, IL, 1912–1913. Innenraum. Frank Lloyd Wright, Taliesin: Haus und ­Atelier Wrights, Spring Green, WI, 1911– 1959. Wohn-/Arbeitsraum von Wright.

Frank Lloyd Wright: vitalisierendes Licht Frank Lloyd Wright, einer der Väter der Moderne, hat für sich die Entdeckung des fließenden Raums beansprucht. Am Ende seines langen Lebens hat er die Entmaterialisierungstendenzen der klassischen Moderne als unmenschlich bezeichnet und deren Bauten als «seelenlose Wohnstätte des Regals» und «ungeheures Gefängnis mit Glasfronten» kritisiert. Obwohl die europäische Moderne Wrights Verdienste um die Revolutionierung der überkommenen Raumschachtel anerkennt, blickt sie doch mit ambivalenten Gefühlen auf das architektonische Vokabular des Japanophilen, der in ­seinen Entwürfen eine beinahe mystische Stimmung zu erzeugen vermag. Wright, der den Variationsreichtum stofflicher Oberflächen schätzt und die Natur als einzige Lehrmeisterin akzeptiert, ist ­bemüht, deren jahres- und tageszeitliche Veränderungen über den Lichteinfall im Haus spürbar zu machen. Zu diesem Zweck arbeitet er mit frei stehenden Wand- und Deckenscheiben, die den Großraum schützend umfassen und gliedern. Gleichzeitig lässt er durch horizontale und vertikale Schlitze und Fugen gebrochenes, mehrfach reflektiertes Seitenlicht eindringen. Im Gegensatz zu den ­A rchitekten in Europa setzt Wright vielmehr auf einen nuancierten Umgang mit der Dunkelheit und wirkungsvolle Schattierungen. Er will keine Chance ungenutzt lassen, dem Licht unterschiedliche Oberflächen zur Reflexion anzubieten. Das Licht spielt bei ihm ­eine aktive Rolle, es verleiht den unterschiedlichen, bewusst ausgewählten Materialien alle erdenklichen Facettierungen, Modulat­io­nen und Farbnuancen und erzeugt damit jene atmosphärischen Lichtund Farbstimmungen, auf die sich spätere Generationen zurückbesinnen werden.

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Alvar Aalto: flüchtiges Licht Alvar Aalto nimmt in Europa eine Position ein, die in Bezug auf sein Verhältnis zu Natur und Licht derjenigen Frank Lloyd Wrights nicht unähnlich ist. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen ist sich Aalto der Gefahr einer entwurzelten, internationalen Archi­ tektur bewusst: Er, der das Licht nicht einfach nur auf seine ­Helligkeit reduziert haben will, ist der Auffassung, dass sich die un­ terschiedlichen Lichtphänomene im Zusammenspiel mit den ­verwendeten Materialien und ihren Oberflächen zu einem den Ort kennzeichnenden, architektonischen Ausdrucksvokabular ver­ binden. In der Folge schöpft er in seinen Bauten aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, um die Eigenheiten des flüchtigen nordischen Lichts auch in seinen Raumkonzepten erfahrbar zu machen. Ähnlich der Stimmung in Finnlands dichten Wäldern, bei der das Licht durch Wolken oder Blätterwerk gefiltert wird, erfährt es in seinen Bauten eine entsprechende Behandlung. So setzt Aalto ­vielgestaltige Filter zwischen innen und außen ein, um das Licht zu brechen. An anderen Stellen lässt er das Sonnenlicht direkt in die Räume eindringen, wo es sich als erhellender Fleck zeigt, niemals aber als Mittel zur Flutung des Raums. Stattdessen schafft Aalto un­ terschiedliche Akzentbeleuchtungen, die im Verlaufe des Tages in ihrer Intensität variieren. Als stetig wandelnde Lichtspiele verleihen sie seinen Bauten jenen facettenreichen Charakter, der ihm den Ruf eines «humanistischen» Baumeisters einträgt. Aalto gelingt die Übersetzung des modernen fließenden Raums in eine metaphorische Landschaft, indem er anstelle eines nüchternen Raumgefüges ein bewegtes, reichlich differenziertes Raumbild setzt, das dem Licht als Bühne dient.

Alvar Aalto, Villa Mairea, Noormarku, ­Finnland, 1938–1939. Musikzimmer, Vordach beim Eingangsbereich, Treppen­ aufgang im ­Wohnraum.

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Louis I. Kahn: puristisches Licht Was in den Bauten Aaltos anklingt, führt Louis I. Kahn mit seinen massiven Baukörpern weiter: Mit seinem Werk kehrt er sich vom Transparenzmythos der Moderne ab und leitet damit zur Nachmoderne über. Umgeben von transparenten Gerippen, sucht er nach schützenden Hüllen und Höhlen. Für Kahn ist Licht «belebte Materie», das heißt, Licht muss an widerstandsfähiger Schwere und Dichte massiver Materialien aktiviert werden. Das Licht soll mit der Struktur und insbesondere mit der Masse spielen, wobei ihm vor allem in seinen späteren Projekten das Bauwerk als eine Art ­Resonanzraum dient, der das einstrahlende Licht als indirekte Strah­ lung an den Innenraum weitergibt. In seinem minimalistischen Baudialog verzichtet Kahn auf alles Pittoreske, kein überflüssiges Detail soll die elementare Ordnung seiner lichtgerechten Raum­ gefüge stören oder von der differenzierten Hell-dunkel-Malerei der Schatten ablenken, aus welcher der Baukörper seine Plastizität schöpft. Kahn ist es auch, der das von der Moderne eliminierte Loch­ fenster rehabilitiert. Mit der Doppelfunktion seines berühmt ­gewordenen, T-förmigen Fensters lässt sich der Widerspruch zwischen einer Befriedigung des Lichthungers auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Geborgenheit auf der anderen Seite lösen.

Louis I. Kahn, Haus Margaret Esherick, Chestnut Hill, PA, 1959–1961. Südost-Seite des Wohnraums. Louis I. Kahn, Haus Norman Fisher, ­Hatboro, PA, 1960–1967. Wohnraum mit verglaster Ecke.

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Luis Barragán, Haus Prieto López, Jardines del Pedregal, Mexico City, 1950. ­Wohnraum. Luis Barragán, Haus und Atelier Barragán, Tacubaya, Mexico City, 1947–1948. ­Wohnraum.

Luis Barragán: meditatives Licht Aus den Bauten Luis Barragáns spricht die Erfahrung ibero-mexikanisch-katholischer Pracht, die unter dem Einfluss seiner Bewunde­ rung für Le Corbusier zu einer ungemein plastischen, kantigen, virtuos mit Licht und Schatten spielenden Architektur führt. Sein Credo ist die Poesie der Fläche und ihre vielen Spielarten. Die ­Erfahrung mit dem gleißenden Sonnenlicht Mexikos – einem eher Zuviel als Zuwenig an Sonne – widerspiegelt sich in einer wand­ flächigen und Details vermeidenden Formensprache, die ganz darauf ausgelegt ist, Schatten zu spenden und die Kühle im Innenraum zu bewahren. Ähnlich wie bei Kahn sind auch seine Bauten Instrumente der Lichtumwandlung: Das Licht scheint die von Beiwerk ungestörte Materie förmlich zum Leben zu erwecken, und es bringt die Struktur der meist farbigen Oberflächen zum Leuchten. Die Wände sind an strategisch zwingenden Punkten für die Sonne aufgerissen und bieten oft einen spektakulären Blick in üppige Gartenreiche. Meist gleichen diese Maueröffnungen mit ihren rahmenlosen Verglasungen eher durchsichtigen Wänden als Fenstern. Nicht ­selten bildet eine Wand im Anschnitt des seitlichen Öffnungsrands auch die Einführung in das inszenierte Bild, das der Betrachter wie aus einer Guckkastenperspektive erleben kann. Im Inneren der minimalistischen Gebäude herrscht eine kontemplativ-meditative Stimmung. Barragán liebt den Schatten und das Halbdunkel, das Räume modelliert und eine Tiefe schafft, in der Konturen unscharf und die Atmosphäre friedlich werden. Meist ist es eine indirekte, über Decken und Seitenwände geführte Beleuchtung, die zur Raum-

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aufhellung beiträgt. Mit seinen sorgfältig gestalteten Rückzugs­­­ räumen von heiterer Gelassenheit tritt Barragán von dem rein funk­­tionalen Aspekt des Wohnraums zurück; vielmehr haucht er der europäischen Moderne genau jenen Esprit des Lebens- und ­Liebenswerten ein, der vielen seiner Zeitgenossen fehlt. Tadao Ando: spirituelles Licht Tadao Ando entwickelt seine Lichtphilosophie vor allem auch aus dem Studium der Bauten von Le Corbusier, Barragán und Kahn, wobei er deren Umgang mit Tageslicht zu radikalisieren sucht. Darüber hinaus sind in seinen Bauten aber auch spezifisch japanische Einflüsse zu finden, so etwa die Vorliebe für den Aufbau samtiger Dunkelheiten, die dazu geeignet sind, die Konturen zu verwischen und den Objekten ihre Schwere zu nehmen. Andos rohe Beton­ architektur ist von großer Klarheit und Ruhe: Fest im Erdreich verankert, scheint sie zeitlos, nur das Licht bewegt sich. Was immer der Japaner baut, strahlt eine magische, spirituelle Wirkung aus. Auf der Suche nach den Geheimnissen von Licht und Raum verweigert sich Ando dem Spektakulären, das die Architektur mehr und mehr zu bestimmen sucht. Um der Trivialität der Um­gebung zu entgehen, erfindet er das versenkte Gebäude, bei dem das Innere durch großflächige Umfassungsmauern von der Außenwelt abgeschirmt ist.Der Blick auf Innenhöfe mit kleinen Wasser- oder Grünflächen wird meist nur durch sehr tief liegende Fenster freigegeben, während das Sonnenlicht da und dort durch Schlitze und schmale Einschnitte in die Räume eindringt und Fugen in die Wände frisst. Gleichzeitig setzt Ando gerne Streiflichter ein, denen er als eigenständige Gestaltungsmittel den Platz gibt, ganze Räume zu durchmessen. Das Tageslicht fällt in der Regel über für den Betrachter verborgene oder verschleierte Öffnungen ein, sodass es nicht mit der Wegführung im Inneren zusammenfällt, sondern zur Zonierung des ­Innenraums dient. Es ist vor allem die Eigenschaft des Lichts, Maß zu geben und die Dinge miteinander ins Verhältnis zu setzen, die sich Ando für seine Bauten zunutze macht. Licht ist bei ihm nicht länger ein Beleuchter oder dient der Illumination der Form, sondern gewinnt eine eigene, unabhängige Präsenz.

Tadao Ando, Haus Ishii, Hamamatsu, ­Shizuoka, Japan, 1980–1982. Wohnraum.

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Jean Nouvel, Reihenhäuser, Cité manifeste, Mulhouse, 2001–2005. Wohnraum mit ­Galerie.

Jean Nouvel: illusionistisches Licht Jean Nouvel, der eine persönliche Handschrift verweigert, sieht sich lieber als «Regisseur» zwischen Spezialisten. Er liebt die Irritation und sucht das Spektakuläre, weshalb er für jeden Bau eine ­andere Lichtlösung entwickelt. Auch im Wohnbau ist er um konzep­ tionelle Neuformulierungen bemüht; so zum Beispiel mit seinem Anliegen, selbst im sozialen Wohnbau ein großes Raumangebot von innerer Variierbarkeit zu schaffen. Bisweilen bedient er sich dafür eines listenreichen Lichteinsatzes, um mithilfe von Diffusions- und Transluzenzeffekten bei Innen- und Außenwänden eine Aufhebung der trennenden Raumbeziehung zu erwirken. Das Resultat sind fluide Atmosphären von suggestiver Kraft. Nouvel, der es liebt, der dauerhaften Materialität und proportionalen Eindeutigkeit der Architektur mit einer Vision des Flüchtigen und Vielfältigen zu ­begegnen, fühlt sich ganz in der cinematografischen Welt zu Hause. Viele seiner öffentlichen Bauten zeichnen sich durch eine reiche und lebendige Inszenierung des Lichts aus. Dabei setzt er gerne auf die Zusammenarbeit mit Künstlern wie etwa Yann Kersalé, der ihm spektakuläre Kunstlichtinstallationen liefert. Seine eigene Tages­ lichtphilosophie findet dagegen Ausdruck in lichtmanipulierenden Materialien und Oberflächen, deren Reflexionsvermögen genau ­kalkuliert ist und deren Gitter- und Schleierstrukturen ornamental gestaltet sind. Nouvel erweist sich als Virtuose der Lichtlenkung und als Beherrscher von Wirkungen und illusionistischen Effekten, bei denen das Licht gläserne Wände und Deckengewölbe durchdringt, von Lochblechen, Gittersieben und transluzenten Filtern ge­ brochen und zerteilt und von geschliffenen Metallen und Lacken gespie­gelt wird. Der Protagonist der dekorierten Oberflächen zeigt, dass Letztere mithilfe von diffundiertem, reflektiertem, kolorier­ tem oder zerlegtem Tageslicht ebenso vielfältig gestaltbar sind wie un­ter Einsatz bekannter Methoden des Kunstlichtdekors.

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Toyo Ito, Haus T, Yutenji, Setagaya-ku, ­Tokio, 1997–1999. Treppenaufgang von der Eingangshalle, im Hintergrund das ­Studio.

Toyo Ito: atmosphärisches Licht Toyo Ito ist ein nachdenklicher Intellektueller. In seinen Bauten unternimmt er den Versuch, das archaische Bedürfnis nach Gebor­ gen­­heit und die Chancen einer modernen Entgrenzung des Raums zusammenzudenken. Für ihn ist die Behausung so etwas wie ein Unterstand, der, lediglich mit einem weichen Schleier umhüllt, vom städtischen Strom der Verkehrs- und Energieflüsse umspült wird. Ito erweist sich damit als ein früher Protagonist der Semitrans­ parenz, der er mit textilen Zeltarchitekturen und Lochblech- oder Milchglasverschwendungen frönt. Ähnlich wie seine Gebäude ­n iemals als eine nach außen hermetisch abgeschlossene Einheit auftreten, nimmt er auch im Inneren so gut wie keine Unterteilung in einzelne Räume vor. Itos Prinzip der hintereinandergeschichteten Ebenen zielt vielmehr auf die Schaffung differenzierter Bereiche ab, die scheinbar ohne Zentrum, ohne Anfang und ohne Ende bleiben. Diese Innenwelten werden meist von transluzent-leuchtenden, fensterlosen Fassaden und glänzenden Deckenuntersichten begrenzt, mit deren Hilfe der Architekt gezielt einen Schleier der Unschärfe über seine Motive breitet. Scharfe Linien und Kanten lösen sich auf diese Weise im Nebel des Unbestimmten auf, während Licht und Schatten weich und fast unmerklich ineinanderüber­ gehen. So übersichtlich der Aufbau, so vielschichtig sind die Eindrü­ cke und Empfindungen in Itos Räumen, in denen ein magisches Mondlicht herrscht und die ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln. Seine Architektur scheint von den Gesetzen der Schwerkraft befreit.

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SANAA, Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa: suggestives Licht Als ehemalige Mitarbeiterin Toyo Itos ist Kazuyo Sejima auch des­ sen Meisterschülerin. Zusammen mit ihrem Büropartner Ryue Nishizawa treibt sie Itos Entmaterialisierungsbestrebungen noch weiter: In ihren Bauten gibt es keine sichtbaren Last- und Kraftverläufe mehr. Architektur wird auf ein feingliedriges Rahmenwerk für wechselnde Eindrücke reduziert. Dabei verraten die ephemeren Anlagen des Duos in der Regel kaum etwas von den ausgeklügelten Plänen, die der strengen Eleganz und rigorosen Geometrie ihrer Entwürfe zugrunde liegen. Die für ihre Bauten so typische rahmen­ lose Flächigkeit erreichen sie über komplexe Kompositionen aus Spiegelungen, Durchblicken und durchscheinenden Flächen, welche präzise und poetisch zugleich wirken. Fenster und Wand – offen und geschlossen – verlieren ihre gewohnte Kontrastwirkung, scheinen vielmehr austauschbar. Die Folge ist eine körper- und schattenlose Architektur, die ein neues Kapitel aufschlägt: das der Unschärfe. Da, wo sonst Licht und Schatten Raum und Form beton­ten, fallen scharfe Konturen dem Geflecht der Verschleierungen zum Opfer. Die Belichtungs- und Beleuchtungsperfektion der beiden Japaner be­ steht nicht mehr im Ausleuchten wie in der Moderne, und ebenso wenig haben sie es auf eine antimodernistische, theatralische oder gar stimmungsbildende Inszenierung abgesehen; sie suchen vielmehr nach einer eigentlichen Lichtarchitektur, einer Architektur, die sich am Rande der Virtualität bewegt.

Büro Ryue Nishizawa, Wochenendhaus, Usui-gun, Gunma Prefecture, Japan, 1997– 1998. Innenraum mit Lichthöfen.

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Steven Holl, Haus Stretto, Dallas, TX, 1990–1992. Innenraum. Steven Holl, D.E. Shaw & Co. Offices, New York, 1992.

Steven Holl: animierendes Licht Steven Holls Werk zeichnet sich durch das präzise Zusammenspiel von Raum, Licht und Material aus. Holl bevorzugt eine mit der Moderne vergleichbare skulpturale Formgebung, die allerdings ohne deren funktionalistische Prinzipien oder die Repetition gleich­ artiger Elemente auskommt. Hintergrund seines Schaffens bildet stattdessen die Beschäftigung mit der phänomenologischen Dimension der Architektur, bei der es um die Verbindung zwischen ­sinnlicher Raumdimension und individueller Erfahrung geht. Dem­ entsprechend ist die Vielfalt des Ausdrucks ein wichtiger Bestandteil seiner Architektur, die er über eine spielerische Konfrontation von immateriellem Licht und widerstandsfähiger Materie zu er­ reichen sucht. Holl betrachtet Tageslicht dabei nicht isoliert, sondern als Teil eines Ganzen, unter dessen Einfluss sich die Gestalt der ­A rchitektur wandelt. Sein Interesse gilt dem sich ständig verändern­ den Licht und den dadurch stets unterschiedlich erscheinenden ­farbigen Oberflächen, mit deren Hilfe er Raumkompositionen von großer Poetik und Sinnlichkeit schafft. Seine Innenräume sind das Resultat ausgeklügelter Licht- und Farbspiele, bei denen Fenster­ öffnungen und Innenarchitektur genau aufeinander abgestimmt sind. Meist fällt das Licht von unterschiedlichen Seiten in den Raum und überlagert sich beim Auftreten auf die plastische Form. Während Holl gerne bewegtes Himmels-, Sonnen- und Tageslicht ­einsetzt, um die architektonische Skulptur zu animieren, lässt er andernorts Wände mittels bunter Streiflichter und indirekter Tages­ lichtführungen leinwandgleich zu Koloritflächen mutieren. Seine Gesamtkompositionen sind darauf angelegt, Raumgrenzen zu ­verwischen: Lichtführung und Farbe sollen Ecken, Kanten und Nischen überspielen, um architektonische Brüche und räumliche Übergänge zu suggerieren, wo keine sind.

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Literatur

Max Ernst Haefeli, Haus Koellreuter, ­Küsnacht, Kt. Zürich, 1931–1932. ­Mehrschichtige Fensterfront vor dem Wohnraum.

Generell haben wir festgestellt, dass die bestehende Literatur in den meisten Fällen sehr physikalisch ausgerichtet und daher für Nicht-Fachleute umso schwerer verständlich ist. Neben gängigen Standardwerken zum Thema des Wohnens sind für uns vor allem die beiden von Nick Baker edierten Publikationen sowie die Licht­planungs­ fibel von Peter Tregenza und David Loe zu zentralen Orientierungswerken geworden. Eine wichtige Reihe besteht zudem aus dem seit 1992 von Ingeborg Flagge heraus­ gegebenen Jahrbuch Licht und Architektur, das jeweils eine Fülle unterschiedlich aus­ gerichteter Aufsätze beinhaltet. Anregende Kompendien sind auch die ebenfalls von Ingeborg Flagge edierte Publikation Architektur Licht Architektur sowie einige Themennummern von Fachzeitschriften wie Daidalos und Arch+. Erwähnt seien hier auch die weiterführenden Studien von Gerhard Auer, der sich als einer der weni­ gen stets um einen ganzheitlichen Ansatz bei der Tageslicht-Thematik bemüht hat. Während schließlich Informationen aus dem Internet nur sehr bedingt zur Quali­ tät unserer Arbeit beitragen konnten, war demgegenüber der Kontakt mit Architekten, Fachleuten und Nutzern viel aufschlussreicher. Insbesondere ein Treffen mit Christian Bartenbach hat unsern Blick für den Umgang mit Tageslicht wesentlich geschärft und zur Revision einiger Erkenntnisse geführt. Letztlich aber war es Gerhard Auer, der mit seiner Fachkompetenz und Erfahrung wesentlich zum Gelingen der vorliegenden Arbeit beigetragen hat.

Tageslicht: Technik und Planung

Nick Baker, A. Fanchiotti, Koen ­Steemers, Daylighting in Architecture. A European Reference Book, London: James & James, 1993 Nick Baker, Koen Steemers, Daylight Design of Buildings, London: James & James, 2002 Christian Bartenbach, Martin Klingler, «Tageslicht / Daylight», in: Ingeborg Flagge (Hrsg.), Jahrbuch für Licht und Architektur 1995, Berlin: Ernst & Sohn, 1996, S. 88–115 Ulrike Brandi, Christoph GeissmarBrandi, Lichtbuch. Die Praxis der ­Licht­planung, Basel – Boston – Berlin: ­Birkhäuser, 2001 A. E. Çakir, Gisela Çakir, Projekt ­Tageslicht. Licht und Ergonomie, ­abrufbar unter http://www.fvlr.de/ downloads/Lichtergo1.pdf (Zugriff 10.5.2008)

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Abbildungsnachweis Die Autoren konnten trotz intensi­ver Recherche nicht alle Inhaber von Urheberrechten ausfindig machen. Sie sind bei entsprechender Benachrichtigung bereit, Rechtsansprüche im üblichen Rahmen abzugelten. Für die Werke von Theo van Doesburg, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Jean Nouvel, Gerrit Thomas Rietveld, Hans Scharoun: © 2008 ProLitteris, Zürich Für das Werk von Luis Barragán: © 2008 Barragan Foundation, Schweiz /ProLitteris, Zürich Für das Werk von Le Corbusier: © 2008 FLC/ProLitteris, Zürich Umschlag Foto Hans Eichenberger (Werner Stücheli, Apartmenthaus Schanzengraben, Zürich, 1953–1954. Dachterrasse), Archiv St’A Stücheli Architekten Essay Gerhard Auer Illustrationen © illumueller.ch

S. 8, 10, 30, 32 alle, 35, 42, 67, 69, 70 l, 71 beide, 72 u, 75 lo, 75 ru, 76, 81, 85 l, 90, 96 o, 97 beide, 109, 116, 117 beide, 118 r, 125, 138 u, 147 o, 152 ur, 155 u, 159, 162 beide o, 163 beide r, 166, 172, 174, 175 o, 180, 188 u, 191 l, 199 l, 202 l, 207, 208, 212 u, 217 o, 231, 232: Foto Viktor Jara – 34 o, 55 u, 142, 224: Foto Hans Finsler, gta Archiv, ETH Zürich; © Stiftung Moritzburg, Halle/Saale – 34 u, 78, 83: Foto Walter Mair – 36: Foto Gemmerli, gta Archiv, ETH Zürich – 37 l: Philips Technical Review, vol. 20, 1958–1959 – 37 ro: Sammlung Fotostiftung Schweiz, Winterthur – 37 ru: Bruno Taut, Ein Wohnhaus, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung, 1927 – 38, 39, 205 u: Foto Illek & Paul, Národní technické muzeum v Praze, Archiv architektury a ­stavitelství – 40: Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt; © Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung/ Transit Film GmbH – 41 o, 49, 52, 53, 59 beide, 66 o, 75 lu, 85 r, 92, 94 ul, 105 ro, 133, 147 ul, 147 ur, 150 u, 152 m, 152 ul, 160, 204 l: Archiv der Autoren – 41 u: Foto Julius Wilcke; © bpk, Berlin, 2004 – 45, 148, 149 r, 176, 177, 183 r, 202 r: Foto Rupert ­Steiner – 46, 50 u, 80-3, 102/103, 104, 115, 146 u, 213 l: Foto Julius Shulman; © J. Paul Getty Trust. Used with permission. Julius Shulman Photography Archive. Research Library, The Getty Research Institute, Los Angeles, California – 48: Foto Hubacher, ­ gta Archiv, ETH Zürich – 50 o, 96 u: Foto Rudolf de Sandalo, Muzeum města Brna – 51: Fondation Le Corbusier, Paris – 54: Daimler AG, Heritage Information Center – 55 ol, 55 or: Bruno Taut, Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 41926 – 56: Paul Artaria, Vom Bauen und Wohnen. Ein Bilderbuch für Laien und Fachleute, Basel: Wepf, 41948 – 57: Dieter Hundertmark, Räume im rechten Licht, 1964 – 60: Internationale Kongresse für Neues Bauen (Hrsg.), Die Wohnung für das Existenzminimum. Einhundert Grundrisse, Frankfurt am Main: Englert & Schlosser, 1930 – 61 l: Werk, Jg. 43, 1956 – 61 r: Foto Michael Wolgensinger, gta Archiv, ETH Zürich; © 2008 Fotostiftung Schweiz/ProLitteris, Zürich – 62 lo: Foto Leonardo Bezzola, Archiv Atelier 5 – 62 lm, 62 lu, 62 r: Werk, Jg. 48, 1961 – 63 alle: Arkitekten, Årg. 53, Nr. 12, 1951 – 64 lo: Das neue Frankfurt, Jg. 5, 1931 – 64 ro: Der Aufbau, Jg. 14, 1959 – 64 lu, 64 ru: Deutsche Bauzeitschrift (Hrsg.), Verdichtete Wohnformen, Gütersloh: Bertelsmann, 1974 – 65: Foto Rob Gnant, Werk, Jg. 48, 1961 – 66 m: Werk, Jg. 45, 1958 – 66 u, 80-2, 118 l, 155 o, 215 lo: gta Archiv, ETH Zürich – 68 o: Foto Sigfried Giedion, gta Archiv, ETH Zürich – 68 u: Le Corbusier, Textes et planches / L’atelier de la recherche ­patiente, Paris: ­Vincent, Fréal, 1960 – 70 r: Franz Schuster, Balkone. Balkone, Lauben­gänge und Ter­ rassen aus aller Welt, Stuttgart: Julius Hoffmann, 1962 – 72 o: Foto Fred Boissonas, gta Archiv, ETH Zürich – 73, 185 u: Foto Reto Gadola – 74 l: Foto Albert Winkler, Staatsarchiv Bern – 74 r: Walter Jonas, Das Intra-Haus. Vision einer Stadt, Zürich: Origo, 1962 – 75 ro: BKK-3 – 80-1, 89: Bildarchiv Foto Marburg – 80-4: Lacaton & Vassal – 82 l: © bpk, Berlin, 2004 – 82 r: Michael Sowa – 86, 87 beide, 88 alle: ­A lbertina, Wien – 91: © bpk / Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Foto Jörg P. Anders – 93: Foto Martin Gerlach (o), Foto Jan Štenc (u), Umělecko­ průmyslové museum v Praze – 94 o: Theo van Doesburg, Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst, München: Langen, 1925 – 94 ur: Foto Frank den Oudsten – 95: Innendekoration, Jg. 45, 1934 – 99: Moderne Bauformen, Jg. 34, 1935 – 100: Foto

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Péter, gta Archiv, ETH Zürich – 101, 212 o: Foto M. Gravot, gta Archiv, ETH Zürich – 105 l, 105 ru, 106 beide: Foto Ezra Stoller © Esto – 107 l, 188 o, 216 beide: Foto Urs ­Büttiker – 107 r, 145: Foto Yukio Futagawa, GA. Global Architecture, Nr. 76, 1996 – 111 l, 164 ru, 192, 193, 221: Foto Hisao Suzuki, El Croquis 77(I) + 99, 2000 – 111 ro, 119, 120 beide, 157 or, 157 ur, 167 ul, 191 r: Foto Margherita Spiluttini – 111 ru, 122, 123, 143 u: Foto Eduard Hueber – 113: Foto Ben Schnall, Marcel Breuer Papers, Archives of American Art, Smithsonian Institution – 121: Foto Horstheinz Neuendorff, ­Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Universität Karlsruhe (TH), Werkarchiv Egon Eiermann – 128: Foto Peter Hemann, gta Archiv, ETH ­Zürich – 132: Heinrich Hebgen, Bauen mit der Sonne. Vorschläge und Anre­ gungen, Essen: Rheinisch-­Westfälisches Elektrizitätswerk AG – Heidelberg: EnergieVerlag, 1982, Zeichnung, Bearbeitung Gabriela Rutz – 134, 138 o, 139 beide o, 143 o: © Nick Baker, Koen Steemers, Zeichnung, Bearbeitung Gabriela Rutz – 139 ul: © Roset ­Möbel GmbH, Gundelfingen, Deutschland – 139 ur, 141 lu, 141 ro: Foto Peter Eder – 140 o: Willy Boesiger, Oscar Stonorov (Hrsg.), Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Ihr gesamtes Werk von 1910–1929, Zürich: Girsberger, 1930 – 140 u, 154: © Nick Baker, Koen Steemers, Zeichnung André de Herde – 141 lo: R.G. Hopkinson, Architectural ­Physics. Lighting, London: HMSO, 1963 – 141 ru: Weichlbauer, Ortis – 144: ­Bartenbach LichtLabor – 146 o: Foto Ruedi Walti – 149 l: querkraft – 150 o, 150 m: Foto Nicholas Kane, arcaid.co.uk – 151 o, 151 m: Foto Gerald Zugmann – 151 u: ­a rchiguards – 152 beide o: Foto Christian Richters – 153: Delugan Meissl Associated Architects – 156 beide l: Steidle Architekten – 156 r: Foto Reinhard Görner – 157 ol, 157 om, 157 ul, 165, 170: Zeichnung Gabriela Rutz – 158, 175 beide u: Foto Bruno Klomfar – 161 l, 196: Foto Richard Weston – 161 r, 206 r: Foto Armando Salas ­Portugal; © Barragan Foundation, Schweiz /ProLitteris, Zürich – 162 u: Foto Klaus Frahm – 163 l, 217 u: Foto Yukio Futagawa, GA. Global Architecture, Nr. 48, 1979 – 164 beide l: © Franck Hammoutène – 164 ro: Foto Rien van Rijthoven – 167 lo: Foto Danièle Pauly – 167 ur: Foto Martin Schranz – 168 o: Foto Jérôme Habersetzer – 168 u: Foto Lucien Hervé; © Research Library, ­The Getty Research Institute, Los Angeles, California, 2002.R.41 – 169 o: Etienne Grandjean, Wohnphysiologie. Grund­lagen gesunden Wohnens, Zürich: Artemis, 1973 – 169 u: Foto © Paul Ott, Graz – 171: Detlef Glücklich, Energie- und kosten­bewusstes Bauen von Wohnhäu­ sern, Köln: Rudolf Müller, 1985, Zeichnung, Bearbeitung Gabriela Rutz – 173: Foto Walter Binder, gta Archiv, ETH Zürich – 181: Foto Ralph Hut – 183 l: Lotte Tiedemann, Menschlich wohnen. Lebensvorgänge als Grundlage zur Wohnungs­ planung, Bonn: Domus, 1956 – 185 o, 201 lo: Architecture & Design Collection, ­University Art Museum, University of California, Santa Barbara, R.M. Schindler Collection – 186: Innendekoration, Jg. 42, 1931 – 187: Fred Fischer, Der Wohnraum, Zürich – Stuttgart: Artemis, 1965, Zeichnung, Bearbeitung Gabriela Rutz – 189: Courtesy, Museum of Fine Arts, Boston, The Hayden Collection – Charles Henry Hayden Fund; Photograph © 2008 Museum of Fine Arts, Boston – 190 alle: Pierre von Meiss, De la forme au lieu. Une introduction à l’étude de l’architecture, Lausanne: Presses polytechniques romandes, 1986 – 194 o: Foto Jordi Sarrà – 194 beide u: ­Francis ­Soler – 197: Foto Ernst Linck, gta Archiv, ETH Zürich – 199 r: Courtesy of The ­National Gallery of Ireland; Photograph © The National Gallery of Ireland – 200: Volkher Schultz, Projekt Tageslicht. Licht und Architektur, Zeichnung, Bearbei­ tung Gabriela Rutz – 201 lu: Foto Ulrike Schröer – 201 r: ­Moderne Bauformen, Jg. 32, 1933 – 203: Foto Michael Freeman – 204 r: UCLA Library, Department of Special Collections – 205 o, 210: Foto Julius Shulman, gta Archiv, ETH Zürich; © J. Paul Getty Trust. Used with permission. Research Library, The Getty Research Institute, Los Angeles, California – 206 l, 218 beide: Foto Yoshio Takase, ­ © RETORIA, GA Architect 8, 1987 – 213 r: Foto Arthur Luckhaus, UCLA Library, Department of Special Collections – 214 l: The Frank Lloyd Wright ­Foundation, Scottsdale, AZ – 214 r: Foto Paul Rocheleau – 215 lu: Foto Eino Mäkinen, Alvar Aalto Museum, 215 r: Alvar Aalto Museum; beide © Alvar Aalto Museum/Alvar Aalto Foundation – 219: Foto Philippe Ruault – 220: Foto Shinkenchiku-sha, Andrea ­Maffei (Hrsg.), Toyo Ito. Works, Projects, Writings, Milano: Electa, 2002 – 222 beide: Foto Paul Warchol

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Zu den Autoren Gerhard Auer Geboren 1938, Prof. Dipl.-Ing. Architekt. 1965 Architektur-Diplom an der Uni­ versität Stuttgart, seit 1967 praktizierend als Architekt und Urban Designer. Seit 1980 Professor für Entwerfen an der TU Braunschweig. Forschungs- und Gutachten­­­ tätigkeit im In- und Ausland. Zahlreiche architekturtheoretische Ver­öffentlichun­gen, Mitherausgeber der Zeitschrift Daidalos. Seit den 1980er Jahren Konzentration auf Themen des Lichts: Licht, Farbe und Klang als Medien der Architektur, Theorie und Praxis der Lichtgestaltung im öffentlichen Raum, urbane Lichtkonzeptionen, Lichtkunst-Kuratorien. Aktuelle Publikationen: «Die Baukünste des Zwielichts. ­Notizen zu einer Architektur der Autolumineszenz», in: Licht ist nicht sichtbar – Licht macht sichtbar, Kata­­log, FH Frankfurt, 2006; «Meta-Dekor. Zur Lichtkunst im öffent­lichen Raum», in: Die Alte Stadt, 01/2007 (Schwerpunkt: Stadt im Licht); «Raum, Licht und Sicht», in: Andreas Huber (Hrsg.), Neues Wohnen in der zweiten Lebenshälfte, Basel: ­Birkhäuser, 2008 (Edition WOHNEN 2). Internet: www.gerhardauer.de Michelle Corrodi Geboren 1971, dipl. Arch. ETH Zürich. 2000–2001 Assistentin bei Prof. Herbert Kramel am Departement Architektur der ETH Zürich, 2002–2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ETH Wohnforum. 2005–2008 Texterin im Architekturbüro Baumschlager & Eberle, seit 2008 stellvertretende Geschäftsführerin bei Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – Zürich. Klaus Spechtenhauser Geboren 1969, lic. phil. I, Kunsthistoriker und Slavist. Seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ETH Wohnforum, 2002–2007 Assistent bei Prof. Arthur Rüegg am Departement Architektur der ETH Zürich. Publizistische Tätigkeit zur Architek­ tur- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, redaktionelle und editorische ­M it­­arbeit bei mehreren Publikationen. Herausgeber u.a. von Die Küche. Lebenswelt – Nutzung – Perspektiven, Basel: Birkhäuser, 2006 (Edition WOHNEN 1); mit ­A rthur Rüegg: Charles-Edouard Jeanneret/Le Corbusier. Maison Blanche. Geschich­ te und Restaurierung der Villa Jeanneret-Perret 1912–2005, Basel: Birkhäuser, 2007. Zurzeit Arbeit an einer Dissertation über den tschechischen Architekten Jaromír Krejcar.

Dank Besonderer Dank geht an: Christian Bartenbach (Bartenbach LichtLabor, Aldrans, Österreich), Muriel Comby, Dietmar Eberle, Reto Gadola, Sylvia Halm, Andreas Huber, Thomas Menzel ­( Korrektorat), Daniel Morgenthaler (Birkhäuser), Angela Müller, Lukas von Orelli (Velux Stiftung), Gabriela Rutz, Christoph Schierz (Zentrum für Organisationsund Arbeitswissenschaften – ZOA, ETH Zürich), Daniel Weiss (gta Archiv, ETH Zürich), Andrea Wiegelmann (Birkhäuser) sowie an zahlreiche Freunde und Bekannte, deren Bemerkungen und Anregungen in der vorliegenden Arbeit Eingang gefunden haben.

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Weitere Bände der Edition WOHNEN: Klaus Spechtenhauser (Hrsg.) Die Küche. Lebenswelt – Nutzung – Perspektiven Edition WOHNEN 1 ISBN 978-3-7643-7280-4 2006. Birkhäuser Andreas Huber (Hrsg.) Neues Wohnen in der zweiten Lebenshälfte Edition WOHNEN 2 ISBN 978-3-7643-8633-7 2008. Birkhäuser