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German Pages 208 Year 2019
Integration
im WohnBau
Herbert Ludl (Hrsg.)
Integration
im WohnBau
Modelle für ein
soziales Zusammenleben
Birkhäuser Basel
Herausgeber Prof. Dr. Herbert Ludl, A-Wien [email protected]
Projektleitung: Ernst Koch, A-Wien, [email protected] Acquisitions Editor: David Marold, Birkhäuser Verlag, A-Wien Lektorat und Projektmanagement: Mag. Angelika Heller, Birkhäuser Verlag, A-Wien Layout, Covergestaltung und Satz: Alexander Czjzek, A-Wien Druck: Holzhausen Druck GmbH, A-Wolkersdorf Mit Beiträgen von: Dr. Dipl. Ing. Joachim Brech Dipl. Ing.in Heidrun Feigelfeld Dr. Wolfgang Förster Mag. August Gächter Marie Antoinette Glaser Prof. Dr. Herbert Ludl Dr. Margrit Hugentobler MSc. Walter Weiland
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9 8 7 6 5 4 3 2 1
www.birkhauser.com
Bildnachweis: Alexander Czjzek (S. 49) Daniel Hinterramskogler / hirako.at (S. 199) Robert Newald (S. 23, 146, 147) Wolfgang Voglhuber / VOGUS.at (Coverfoto, S. 8, 23, 93, 116, 117, 146, 181, 199, 205) Lucas Ziegler (S. 60)
Inhalt 9
Vorbemerkung Definitionen und Begriffe
11 Unterstützung integrativer HER B ERT L UDl
Prozesse
Der Wohnort als wichtigstes soziales Umfeld
29
Aktualität eines Initialprojekts
Integration im Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft
J o a c h i m B r e c h / H e i d r u n F e i g e l f e l d
51 Wohnintegration in Zürich M a r g r i t H u g e n t o bl e r / M a r i e Gl a s e r
Ansätze, Maßnahmen und beispielhafte Projekte
69
Wohnen im städtischen Wandel
A u g u s t G ä c h t e r
Veränderungen in der sozialen Homogenität Wiens
87
Sondermaterie und / oder Alltäglichkeit
Wolfgang Förster
Was Wohnbaugestaltung zu Integration beitragen kann
95
Zusammenleben in Wohnanlagen
Empirische Untersuchung neuerer Wohnanlagen der Sozialbau, Wien
183
Lösungen für Nachbarschaftskonflikte
J o a c h i m B r e c h / H e i d r u n F e i g e l f e l d
W a l t e r W e il a n d
Mediative Elemente als Prävention und Mediation als Alternative
201
Schlüsselthema Rahmenbedingungen
J o a c h i m B r e c h / H e i d r u n F e i g e l f e l d
Schlussbetrachtungen und Perspektiven
207
Autorenverzeichnis
Signal für gutes Zusammenleben unterschiedlicher Bewohner: Motiv zu 60 Jahre Sozialbau (Foto VOGUS)
8
Vorbemerkung Definitionen und Begriffe Zeitlich kollidierte die Erarbeitung dieses Buchbandes mit den ab dem Jahr 2015 zunehmenden Flüchtlingsbewegungen, deren Umfeld eine Welle an Begriffsverwirrungen in der medialen und politischen Öffentlichkeit bewirkte (etwa „Asylanten“, „Asylberechtigte“, „Schutzberechtigte“, „Asylwerber“ etc.). Wohnungspolitisch ergab sich situationsbedingt die Organisation temporärer (Not)Unterkünfte als Herausforderung, die jedoch dezidiert nicht Inhalt der vorliegenden Publikation ist. Im Zentrum steht das Anliegen „Integration“ – und damit ein langfristiger, detailreicher, kontinuierlicher Prozess. Auch dieser Analysebereich ist nicht frei von begrifflicher Vielfalt. Zum Einsatz kommen Wortbildungen wie „Zuwanderer“, „Migranten“, „Einheimische“, „Österreicher“, „Autochthone“, mitunter auch „Ausländer“. Solche Formulierungen werden von den Beitragsautoren als vereinfachend-verdeutlichende Zuschreibungen verstanden und wurden daher nicht weiter vereinheitlicht. Keinesfalls sind damit diskriminierende Ansätze gemeint. Ein wesentliches Element bildet der Begriff „Migrationshintergrund“, für den zwar eine offizielle Definition besteht, die jedoch des Öfteren einer Verfeinerung bedarf (siehe z. B. Beitrag Gächter). Die Studienautoren Brech/Feigelfeld erläutern diesbezüglich ihre Formulierung „mit Migrationsbezug“. Betreffend eine genderorientierte Schreibweise wurde nach Ab sprache mit den meisten Autoren, dem Lektorat und Verlag auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung zugunsten flüssiger Lesbarkeit zum Großteil verzichtet (also reduziert auf „Bewohner“, „Hausbetreuer“, „Medianden“ usw.). Ausnahmen bilden diesbezüglich einige kurze, sinnstiftende Textpassagen, vor allem aber der Beitrag „Wohnintegration in Zürich“, hier wurde ein ausdrücklicher Wunsch der beiden Schweizer Autorinnen nach dem Binnen-I berücksichtigt. Das häufig erwähnte Wohnungsunternehmen „Sozialbau AG“ bildet den operativen Kern für drei gemeinnützige Wohnungsgenossenschaften sowie drei gemeinnützige Gesellschaften und damit einen organisatorischen „Verbund“. Zusammen mit mehreren Tochtergesellschaften und Beteiligungen an weiteren gemeinnützigen Unternehmen ist auch ein „Sozialbau-Konzern“ definiert. Der Lesbarkeit halber wurde dieser Komplex durchgängig auf die Schreibweise „Sozialbau“ vereinfacht. Die Zahlenreihen in diesem Band wurden auf der Basis unter schiedlicher statistischer Methoden erhoben und können daher leicht differieren. Details und Vorgangsweisen hierzu werden in den einzelnen Beiträgen erläutert.
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Unterstützung integrativer Prozesse HER B ERT L UDl Der Wohnort als wichtigstes soziales Umfeld
Wer kennt sie nicht, jene Quartiere in den Millionenstädten Europas1, wo Zuwanderer – und meist nur diese – dicht auf dicht wohnen. Oft sind es schlimme Orte, wo Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Kriminalität und vor allem das völlige Fehlen einer positiven Perspektive vorherrschen. Stadtteile, in denen kein Einheimischer wohnen will. Viertel, in denen die Polizei nur mit Unterstützung von Spezialeinheiten ihrer Arbeit nachgehen kann. Ghettos – nennen wir sie in grober und unzutreffender Anlehnung an das legendäre Eisengießer-Quartier der Juden Welche Kraft in im Cannaregio (Venedig). Diese Quartiere zeigen deutlich, welche zer- einem Wohnviertel störerische Kraft in einem Wohnviertel stecken kann. Eine Kraft, derer stecken kann man sich aber genauso gut auch im Positiven bedienen könnte. Es ist daher der richtige Zeitpunkt aufzuzeigen, welche Möglichkeiten einer Wohnhausanlage innewohnen und welche Chancen sich hier bieten, wenn man sie nur zu nutzen versteht. Der Sozialbau AG* kam hier eine Vorreiterrolle zu, sie war der erste gemeinnützig-genossenschaftlich organisierte Unternehmensverbund, der dieses Thema gezielt aufgriff und dokumentierte. Der Wohnort ist der Ort schlechthin, wo tagtäglich integrative Prozesse stattfinden. Er ist ein wichtiges, vielleicht das wichtigste soziale Umfeld neben Schule und Arbeitsplatz. Hier werden Lebenskonzepte beispielhaft sichtbar und gängige Verhaltensweisen. Hier leben sie alle – Kinder, Frauen, Männer, die Alten und die Jungen. Hier verbringen sie wertvolle Zeit, bei Tag und Nacht, unter der Woche und am Wochenende. Hier erreicht der Lernprozess alle, selbst bildungsferne Schichten. Der Wohnort ist unverzichtbar und die Lehre von zuwandererfreundlichen Parallelgesellschaften ist eine Irrlehre. Die verniedlichende Bezeichnung solcher Viertel als „Little Italy“ oder „Chinatown“ beschreibt im Grunde nur ein Defizit. Erstaunlich ist daher, dass manche 1) Saunders,
2013, S. 399 AG“ wird hier einleitend quasi als Trademark verstanden, die weitere Schreibweise lautet Sozialbau *) „Sozialbau
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
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unserer wohlmeinenden Zeitgenossen solchen Integrationshemmnissen auch noch das Wort reden2. Oder wird hier nur aus der Not eine Tugend gemacht?
Zivilgesellschaft ist gefordert Freilich, Integration passiert auch dann, wenn man untätig bleibt und den Dingen ihren Lauf lässt. Allerdings: Wie rasch, in welcher Qualität sie Fortschritte macht und mit welchen Nebenwirkungen sie einhergeht, ist sehr wohl von den näheren Umständen abhängig. Ziel sollte es jedenfalls sein, dass Zuwanderer sich möglichst bald als normale Bürger, als „Personen“3 auf gleicher Augenhöhe mit den anderen sehen und auch so behandelt werden. Dies zu erreichen, erfordert naturgemäß die Bereitschaft der Zuwanderer – so ist sozialer Kontakt nur und ausschließlich innerhalb der eigenen Ethnie ein beachtliches Integrationshemmnis. Der Erfolg hängt aber auch von den Angeboten der Umgebung ab. Nicht übersehen sollte man dabei jene gar nicht so ineffizienten Akteure in der politischen und medialen Öffentlichkeit, die stets bemüht sind, schlechte Stimmung zu erzeugen – bis hin zu aktiv betriebener Ausgrenzung, wodurch dann leider viele der ehrlichen Bemühungen massiv konterkariert werden. Eines sei aber klargestellt: Der erfolgreiche Verlauf integrativer Prozesse bedarf der Anstrengungen aller in der Einwanderungsgesellschaft4. Die erforderlichen Verhaltensänderungen können und sollen nicht nur durch „höhere Mächte“ veranlasst werden. Hier ist die „ZivilEinheimische gesellschaft“ 5 gefordert, in unserem Fall die Bewohner der WohnhausAkteure sind anlagen als verantwortlich handelnde Subjekte 6, denn für erfolgreichen unverzichtbar sozialen Kontakt sind die einheimischen Akteure unverzichtbar. Dass dennoch die Integrationsleistung in breiter Öffentlichkeit häufig und der Einfachheit halber einseitig nur von den Zuwanderern gefordert wird, beweist Unkenntnis, wenn nicht gar böse Absicht. Die Sozialbau ist in den von ihr betreuten Wohnhausanlagen in den ersten 10 Jahren stets besonders aktiv und präsent, denn einer der Erfahrungswerte des „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“ besteht in der Wichtigkeit eines kompetenten Ansprechpartners vor Ort. Durch Betreuer wie den mittlerweile legendär gewordenen Hausbesorger Hr. Akrami7 in diesem Liesinger „Globalen Hof“, aber auch durch vielerlei gemeinschaftsbildende Aktivitäten wird die Hausgemeinschaft unterstützt (siehe den anschließenden Beitrag in dieser Publikation).
12
2) GdW, 5)
2015, S. 33 ...3) Kaufmann, 2001, S. 202 ...4) Integrationsbericht, 2016, S. 85 Süssmuth, 2006, S. 156 ...6) Popper, 2003, S. 207 ...7) Brech, 2003, S. 120
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
Damit soll keineswegs betreutem Wohnen oder gar einer Art Bevormundung der Bewohner, deren Selbstorganisation stets wünschenswert ist, das Wort geredet werden. Eigentlich geht es nur um Aufmerksamkeit, Interesse und um aktive Steuerung. Nach Ablauf von 10 Jahren, so der Plan, sollte dann ein solches Wohnhaus bewirtschaftet werden wie jedes andere.
Wohnmodell als „Reality-Check“ Etwas mehr als 15 Jahre ist es nun her, seitdem die ersten Bewohner des „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“8 ihre Wohnungen in Besitz nehmen konnten. Nach jahrelangen, intensiven Vorarbeiten, nach einem erfolgreich abgeschlossenen Bauträgerwettbewerb und nach einer knapp zweijährigen Bauzeit konnte im Juni 2000 der Alltag in der Wohnhausanlage Einzug halten. Es war allen klar, dass nun in der Lebenswirklichkeit die bislang theoretischen Ansätze einem „Reality Check“ unterzogen werden. Das bereits 1996 entwickelte Vorhaben war neu und anspruchsvoll, erstmals hat sich eine namhafte Bauvereinigung ungeachtet – oder eben gerade wegen – der deutlich zunehmenden Fremdenfeindlichkeit entschlossen, ein transparent abzuhandelndes, modellhaftes interethnisches Wohnprojekt zu realisieren. Das Risiko eines Scheiterns war An kritischen gegeben und auch an kritischen Stimmen war kein Mangel. Die Mit- Stimmen war arbeiter der Sozialbau aber, ebenso die Befürworter und Unterstützer kein Mangel dieses Anliegens in den Einrichtungen der Stadt Wien und natürlich die zur Mitwirkung eingeladenen Architekten und Wissenschaftler standen von Beginn an uneingeschränkt hinter dem Konzept. Die Sozialbau und damit der gesamte genossenschaftliche Verbund dieser Unternehmensgruppe bekennt sich seither aktiv und offensiv zur Förderung und Unterstützung integrativer Prozesse von Zuwanderern in den Wohnhausanlagen. Es ist aber die Annahme falsch, Integration wäre ein völlig neues Thema im Aufgabenkanon dieses dienstleistungsorientiert arbeitenden wohnwirtschaftlichen Unternehmens. Wohnbaugenossenschaften arbeiten im Grunde seit je nach den ehernen Grundsätzen9 des internationalen Genossenschaftsbundes, denen zufolge es nur gleichberechtigte Mitglieder geben darf, ohne Unterschied von Alter, Geschlecht, geschlechtlicher Orientierung, Rasse, Hautfarbe, körperlicher oder geistiger Fähigkeiten und ohne Unterschied von Sprache, Religion, politischer Anschauung und nationaler oder sozialer Herkunft. Grundsätze, die mit einer der Gründe waren, weshalb die „Genossenschaftsidee“ 8) Ludl,
2003, S. 11...9) Böök, 1992, S. 92
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von der UNESCO 2016 zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt wurde. So war es immer schon eine der zentralen Aufgaben der Sozialbau-Hausverwaltung, dafür zu sorgen, dass sich die Bewohner – die ja gleichzeitig solidarische Eigentümer und Mitglieder der betreffenden Wohnbaugenossenschaft sind – in ihrem Wohnhaus wohlfühlen und in die Hausgemeinschaft einbringen können. Es findet sich doch in jeder neuen Wohnhausanlage eine frisch zusammengewürfelte, sehr unterschiedliche Bewohnerschaft, die sich vorher meist nicht kannte, zu einer neuen Hausgemeinschaft zusammen. Was hier in den ersten Jahren gemeinsam erarbeitet wird, hatte immer schon mit Integration, mit der Aufnahme von Personen in ein neues Sozialgefüge zu tun.
Neues Zuhause für über 23.000 Wir sind nun in der einzigartigen Lage, das „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“ nach 15 Jahren nochmals evaluieren10 zu können. Durch dieses Leuchtturmprojekt kam es zu nachhaltigen Änderungen Viele betriebliche in der wohnwirtschaftlichen Arbeit der Sozialbau. Die Mitarbeiter und Abläufe wurden Abteilungen mussten sich mit der Thematik auseinandersetzen, viele geändert betriebliche Abläufe wurden geändert und eine ganze Reihe von völlig neuen Angeboten kam hinzu. Unter Einbeziehung dieses Initialprojekts wurde auf Basis der vorhandenen Verwaltungsdaten die gesamte, beachtliche Neubautätigkeit der Sozialbau in den letzten 15 Jahren ausgewertet. So haben in diesem Zeitraum durch die Neubautätigkeit 23.530 Personen im genossenschaftlichen Sozialbau-Verbund ein neues Zuhause gefunden. Um genau zu sein: Es wurden in dieser Zeit 69 Wohnhausanlagen mit insgesamt 8.315 Wohnungen fertiggestellt und schon bei der Erstbesiedelung konnten neben den Hauptmietern weitere 9.942 Mitbewohner, also alles in allem 18.257 Bewohner begrüßt werden. Nicht zu vergessen die „Next Generation“ der hier bereits eingerechneten 3.556 Kinder und Heranwachsenden. Durch zwischenzeitliche Wiedervermietungen erhöhte sich die Zahl der Hauptmieter und Mitbewohner um weitere 5.273 Personen, also in Summe auf besagte 23.530. Der Anteil von 83,1 % österreichischen Staatsbürgern unter den Hauptmietern bei Erstbezug – und nur hier verfügen wir über sehr verlässliche Angaben – mag erstaunen, zeigt aber, dass durch kluge Besiedelung und hervorragende Wohnqualität die besonders wichtige Mehrheit von Einheimischen unter der Bewohnerschaft sichergestellt
14
10)
Vgl. Brech / Feigelfeld in diesem Band
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werden konnte. Auch besaß ein nennenswerter Teil der Hauptmieter mit Migrationshintergrund bei Bezug bereits die österreichische Staatsbürgerschaft.
Beziehungsverhältnisse sind veränderbar Fremdenfeindliche Einstellung beruht auf einer subjektiv wahrgenommenen Interessenskollision11, sie ist keine angeborene Eigenschaft, sondern ein sozial bedingtes und damit auch gestaltbares Konstrukt. Fremdheit und Vertrautheit sind Beziehungsverhältnisse, werden als solche durch Interaktion bestimmt, sind beeinflussbar und veränderbar. Soziale Gemeinschaft ist erlernbar12 und es zeigt sich, dass sozialer Kontakt in der Nachbarschaft13 ein ebenso einfaches wie wirksames Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit14 sein kann. Bei Erstbezug erreichten die Bewohner mit Migrationshintergrund, also ausländische Staatsbürger und im Ausland geborene österreichische Staatsbürger, einen Anteil von vorsichtig geschätzten 38,1 %. Diese Größenordnung entspricht in etwa dem 36,8 %-Anteil von Personen mit Migrationshintergrund innerhalb der Wiener Bevölkerung 2015.
14 %
8 %
7 %
2 %
2 %
2 %
15 % der Hauptmieter kamen aus der Türkei, 14 % aus Bosnien, 8 % aus Polen und 7 % aus Kroatien, gefolgt von 4 % aus Serbien, 3 % aus Deutschland und je 2 % aus Bulgarien, Mazedonien, Montenegro und Rumänien. In Summe konnten 97 Herkunftsländer festgestellt werden. Da nach den Regeln der Wohnbaugenossenschaften nur jeweils eine 11) 14)
2 %
donie n Mont eneg ro Rum änien
rien
nd schla
n
3 %
Deut
tien
Serb ie
Kroa
Quelle: Alle Diagramme in diesem Beitrag beruhen auf Eigenerhebungen der Sozialbau
Türke i. Bosn Herz ien/ egow ina Polen
4 %
Maze
nach Herkunft (Staat) in Prozent
15 %
Bulga
Top 10 der Erstmieter mit Migrationshintergrund
Lebhart / Münz, 2003, S. 351...12) Ludl, 2001, S. 23...13) Kohlbacher / Reeger, 2000, S. 124 Kallmeyer, 2002, S. 155
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
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erwachsene Person pro Wohnung Hauptmieter und damit Mitglied der Wohnbaugenossenschaft werden konnte, mussten sich die Bewohner bei größeren Haushalten stets darauf einigen, wer von mehreren erwachsenen Personen Hauptmieter wird. Hier zeigte sich ein sehr unterschiedliches Muster. Mit einem Anteil von 54,7 % war die Mehrheit der Hauptmieter, unter Zugrundelegung aller Mietverhältnisse, weiblich. Die Männer blieben mit 45,3 % eindeutig in der Minderheit. Es konnten aber dennoch je nach ethnischer Herkunft deutliche Unterschiede festgestellt werden. So betrug der Frauenanteil etwa bei Hauptmietern aus Bangladesch nur 4 %, hingegen erreichte er bei den Mietverhältnissen von Zuwanderern aus der Slowakei beachtliche 83 %. Die Männer blieben bei Haushalten aus den Herkunftsländern Afghanistan mit 68 %, Kroatien mit 64 %, Rumänien mit 63 %, der Türkei mit 62 % und Bosnien mit 60 % in der Überzahl. Hingegen erreichte der Frauenanteil eine Mehrheit bei Hauptmietern aus Österreich mit 57 %, aus Serbien 56 %, aus Bulgarien 54 %, aus Polen 53 % und bei den Zuwanderern aus Deutschland mit 51 %.
Erstmieter / Anteil Frauen und Männer
100 %
31,8
4,0
39,5 54,5 51,4 3 6,0 56,8 52,6 36,8 55,6 83,3 37,5
nach Nationalitäten in Prozent 50 %
nach Herkunft in Prozent
16
Asien 10,5 %
Resteuropa 50,6 %
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
Afrika 2,0 %
ien Slow akisc Repu he blik Türke i
änien
Serb
Rum
Polen
rreic h
Deut schla nd
Afgh
Ausländische Erstmieter
tien
68,2 96,0 60,5 45,5 48,6 64,0 43,2 47,4 63,2 44,4 16,7 62,5
Öste
0 %
anist an Bang lades ch Bo Herz snien/ egow ina Bulga rien
Männer
Kroa
Frauen
Amerika 0,4 %
EU 35,4 %
40,4 %
32,8 %
30,9 % 9,0 %
5,8 %
8,8 %
Jahre . ab 40
re 9 Jah 26–3
Jahre 19–2 5
Jahre
0 %
0–14
österr. Nationalität
....
10 %
nicht österr. Nationalität
5,2 %
20 %
Jahre
30 %
12,6 %
40 %
15–1 8
nach Nationalitäten in Prozent
50 %
14,6 %
Alter der Erstbewohner
Interessant war bei unserer Nachschau auch, inwieweit die umfassenden Serviceeinrichtungen der Sozialbau, die täglich von mehr als 700 Bewohnern in Anspruch genommen werden (wobei jeder Haushalt des Sozialbau-Verbundes diese Angebote im Durchschnitt dreimal jährlich nützt), von unserer Zielgruppe genutzt wurden. Tatsächlich nahmen die ausländischen Haushalte unserer Zielgruppe diese Serviceangebote im Beobachtungszeitraum um 5,3 % weniger oft in Anspruch als die Haushalte von Österreichern. Dies mag auch an begrenzten sprachlichen Fähigkeiten liegen oder an der Unsicherheit, sich am Telefon präzise ausdrücken zu können. Die Themenauswahl hingegen – ob es nun Reparaturmeldungen oder Beschwerden waren – war bei Zuwan derern und Einheimischen praktisch ident. Eine besondere Häufigkeit von Themen, die sich aus den Besonderheiten des Zusammenlebens mit ethnisch fremden Nachbarn ergeben, konnte übrigens nicht fest gestellt werden.
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39,9 %
Die ausländischen Hauptmieter kamen zu 35 % aus Ländern der EU und zu 51 % aus europäischen nicht EU-Ländern, wobei die Türkei zu Europa gezählt wurde. Die Hauptmieter aus Asien erreichten einen Anteil von 11 % und jene aus Afrika 2 %, die Mieter aus Amerika lagen mit 0,4 % knapp an der Bemerkbarkeitsschwelle. In den Neubauten sehen wir traditionell eine vergleichsweise junge Bewohnerschaft, so waren in Summe 59,7 % der Bewohner bei Erstbezug jünger als 40 Jahre alt. Dieser Anteil war bei den Österreichern mit 59,6 % ähnlich hoch wie bei Bewohnern ohne österreichische Staatsbürgerschaft mit 60,1 %. Ein gleiches Bild zeigte sich beim Anteil der Bewohner über 40, hier betrug er unter den Österreichern 40,4 % und unter den Ausländern 39,9 %. Besondere Unterschiede beim Eintrittsalter zwischen Einheimischen und den Zuwanderern konnten daher nicht festgestellt werden.
Mehr als ein x-beliebiges Wohnhaus Die Arbeit an der Basis vor Ort macht den Unterschied, hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Bei der Sozialbau werden Wohnhäuser von Anbeginn nach den hausinternen Grundsätzen nachhaltig bewohnerfreundlich und gemeinschaftsbildend bewirtschaftet. Im Gegensatz zu vielen gewerblichen Marktteilnehmern, die nach Bezug sehr rasch jedes Interesse an nicht gewinnbringender Gemeinwesenarbeit verlieren, beginnt für die Sozialbau erst die eigentliche Arbeit. Es bedarf mehr als nur eines x-beliebigen Wohnhauses, es braucht vor allem eine durchdachte Gestaltung, die sich am Menschen und seinen Bedürfnissen orientiert. Daher kommt der Schaffung von Gemeinschaftseinrichtungen besonders große Bedeutung zu. Betrachtet man das Bewohnerverhalten, steht mit einer Anschlussquote von 96 % die Versorgung mit Fernseh- und Rundfunkprogrammen über die Gemeinschaftssatellitenantenne (SMAT) eindeutig an der Spitze (derzeit werden durchschnittlich 103 Fernseh- und 34 Rundfunkprogramme ohne separates Entgelt an die Haushalte geliefert). Wichtig ist aber auch die zusätzliche Möglichkeit, über hauseigene Lichtwellenleiter-Netze selbst „exotische“ Programmwünsche individuell zu realisieren oder einen direkten Zugang zu einem bestimmten Satelliten herstellen zu können.
18
Ansc hluss quote-. ..
Ausla stung
tanz Akze p
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Gemeinschaftsräume bzw. Kinderspielräume 96 42–45 % Spielplatz outdoor 96 42–45 % Schwimmbad outdoor 6 47 % Sauna- und Wellnessbereich 21 32 % Fitnessräume 16 45 % Fahrradabstellräume 166 66 % Kinderwagenabstellräume 353 66 % Gästewohnung 6 78 % Waschküchen 161 82 % - Waschmaschinen 357 - Waschtrockner 175 - Bügelmaschinen 136 Gemeinschaftssatelliteneinrichtungen 55 96 % hl. .
Gemeinschaftseinrichtungen
An zweiter Stelle der Nutzungsskala befinden sich mit einer Auslastung von 82 % der möglichen Betriebszeiten die 161 Gemeinschafts waschküchen, heute meist nobel „Waschsalons“ genannt – Einrichtungen, die frequentierte Orte der Begegnung sind, wo man sich trifft,
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
plaudert und Neuigkeiten austauscht. Die häufig in Sichtweite davon angeordneten Schlechtwetter-Kinderspielräume erleichtern deren Benützung überdies. Hier werden Erinnerungen an die gute alte Kom munikationsplattform „Bassena“ in den Wiener Gründerzeithäusern wach. Hohe Akzeptanz weisen mit einer regelmäßigen Nutzung durch jeweils 66 % auch die in allen neuen Wohnhausanlagen mehr als ausreichend vorhandenen 353 Kinderwagen- und 166 Fahrradabstellräume auf. Für die Förderung sozialen Kontaktes ist das Vorhandensein von 96 multifunktionalen Gemeinschafts- und Schlechtwetterspielräumen, die auch für Nachbarschaftstreffen, Geburtstagsfeiern oder einen launigen Spielnachmittag genutzt werden können, von großer Bedeutung. Sie ergänzen trefflich die bei den Witterungsbedingungen in unseren Breitengraden nicht immer nutzbaren 96 Kinderspielplätze im Freien. Diese Einrichtungen gibt es in jeder Wohnhausanlage und sie werden von 42 bis 45 % der Haushalte regelmäßig genutzt. Leider nur vereinzelt anzutreffen sind die 6 Schwimmbäder im Freien. Hier wimmelt es in den Sommerferien nur so von Kindern und Heranwachsenden, aber auch so mancher Erwachsene findet an heißen Tagen Abkühlung und Entspannung. Sie sind wichtige Orte niederschwelliger Begegnung und werden von 47 % der Haushalte genutzt. Die 6 Gästewohnungen, in denen „Kurzzeit-Gäste“ der Bewohner das ganze Jahr über gegen geringes Entgelt übernachten können, werden erfreulich regelmäßig in Anspruch genommen, mit einer Auslastung von bis zu 78 % der theoretisch möglichen Mietzeiten. Wichtig sind überdies 16 Gemeinschaftsräume für besondere Bedürfnisse, etwa für Krafttraining, Yoga oder Gymnastik mit einer Auslastung von bis zu 45 % der möglichen Betriebszeiten. Und nicht zu vergessen die etwas häufiger anzutreffenden 21 Sauna- und Wellnessbereiche, deren Auslastung bei 32 % der möglichen Betriebszeiten liegt. Auch sie sind Orte mit unkompliziertem Zugang und der Möglichkeit – so gewünscht –, Kontakt mit anderen Bewohnern zu finden. Bei der Bewirtschaftung solcher Gemeinschaftseinrichtungen geht es auch darum, die Selbstorganisation der Bewohner zu ermutigen und auf neue Nutzungswünsche der Bewohnerschaft flexibel zu reagieren.
Orte niederschwelliger Begegnungen stoßen auf Akzeptanz
Doppelnatur von Wohnbaugenossenschaften Neben moderaten Grund- und Baukosten, ohne die in der Folge leistbares Wohnen nur schwer vorstellbar ist, braucht es jedoch auch einen Bauherrn, für den Profitmaximierung nicht alles ist; einen, der mit Liebe
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
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Kooperatives Miteinander, das zu besseren Ergebnissen führt
Solidarisches Wohnungseigentum ist zu präferieren
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zur Sache und den Menschen ans Werk geht. Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften bieten diesbezüglich die besten Voraussetzungen, denn sie sind gleichermaßen wirtschaftliche Unternehmen und Gemeinschaften im sozialen Sinn. Aufgrund dieser „Doppelnatur“15 liefern sie seit jeher die überzeugendsten Ergebnisse bei der Gestaltung nachbarschaftlicher Beziehungen und wirken darüber hinaus in weit höherem Maße gemeinschaftsbildend16 als alle anderen Rechtsformen der Wohnraumüberlassung. Wohnbaugenossenschaften sind für ihr preisgünstiges Wohnungsangebot17 bekannt und garantieren eine Nutzungsüberlassung auf Lebenszeit ohne Vermieterwechsel. Sie bekennen sich zu spekulationsfreiem, ruhigem Haus- und Grundbesitz auf Bestandsdauer. Die Wertsteigerung des Immobilienbesitzes im Laufe der Zeit bewirkt bei Wohnbaugenossenschaften keinen Ertragsdruck und führt auch zu keiner Erhöhung der Nutzungsentgelte – ein Verzicht, der immer den Bewohnern zugutekommt. Abgesehen davon führt das kooperatives „Miteinander“ nachweislich stets zu besseren Ergebnissen18 für die Allgemeinheit als wettbewerbs-strittiges „Gegeneinander“19. Immobilien gehören im Grunde auch kommenden Generationen und schon daher sollten sie ebenso wie Grund und Boden besser der Gemeinschaft verpflichtet sein und bleiben. Das solidarische Eigentum von Wohnbaugenossenschaften entspricht dieser generationsübergreifenden Qualität. So sehr daher grundsätzlich individuelles, privates Eigentum (insbesondere in Arbeitnehmerhand) zu begrüßen ist, sollte dennoch nicht vergessen werden, dass man jenem Personenkreis, der sich aufgrund seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse gut selbst versorgen kann und der in der Logik von Angebot und Nachfrage ohnehin preisbildend ist, nicht auch noch preistreibend unter die Arme greifen muss. Die Immobilienkrise des Jahres 2008 – und dies nicht nur in den USA20 – sollte hier als warnendes Beispiel dienen. Viel wichtiger wäre es daher darauf zu achten, dass – wenn schon – nur nachhaltig selbstgenutztes Eigentum gefördert wird. Eigentum mit möglichst großem gesellschaftlichen Mehrfachnutzen unter Ausschluss privater Bereicherung ist anzustreben. Solidarisches Wohnungseigentum, das für die österreichischen Wohnbaugenossenschaften typisch ist, ist zu präferieren, denn es ist privates Eigentum21 und doch der spekulativen Disposition durch den Einzelnen entzogen. Damit hat es den Vorzug, nicht durch individuelle Bereicherung der Gemeinschaft verloren zu gehen. Solidarisches Eigentum stärkt im Sinne von Egon Matzner den autonomen Sektor und hilft, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Nutzen weit über den Kreis der gegenwärtig Begünstigten hinaus zu stiften. 15) 18)
Draheim, 1952, S. 16...16) Ludl, 2010, S. 15...17) Radakovics / Rössl, 2016, S. 16 Ostrom, 1990, S. 58...19) Ludl, 3 / 2010, S. 6...20) Stiglitz, 2010, S. 78...21) Ludl, 2012, S. 199...
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
Die zunehmend auch in Wien in Errichtung befindlichen, hochpreisigen Wohnhausanlagen (seien sie nun im individuellen Wohnungseigentum oder zur Miete), wo versucht wird, eine Art „Wohlhabenden-Ghetto“ zu schaffen, erinnern stark an die in den USA seit langem verbreiteten „Gated Communities“22. Hier wird betuchten Wohnungssuchenden ein Leben unter ihresgleichen, wie in den sportlichen oder gesellschaftlichen Enklaven mancher Eliten, in Aussicht gestellt – eine Entwicklung, die ebenso wie die Förderung individuellen Wohnungseigentums im Mehrgeschoßwohnbau in den Ballungszentren abzulehnen ist. Anstelle einer „solidarischen“ findet hier in der Folge eine „entsolidarisierende“ Wohnnutzung statt und anstelle einer guten Durchmischung, die die umgebende Gesellschaft bestmöglich abbildet, wird ungesunde Absonderung erleichtert.
„Making Heimat“ Wie im Zusammenhang mit der Ausstellung im Deutschen Pavillon auf der „Biennale di Venezia“ in sehr zutreffender Weise festgestellt wurde, geht es immer um viel mehr als nur um ein Dach über dem Kopf. Es geht genaugenommen um „Making Heimat“23, also um die Schaffung eines Ortes, an dem man sich wohl, zu Hause und heimatlich fühlt. Um dies herbeizuführen, benötigt man zweifelsohne viel mehr an Zuwendung und Ausdauer als nur eine Besiedlungsmoderation zur höheren Ehre von Wettbewerbsprotokollen. Für dieses „Heimatgefühl“ ist überlegt geschaffener und zur Begegnung einladender öffentlicher und halböffentlicher Raum von großer Bedeutung. Zusammenleben funktioniert nicht in der Abgeschiedenheit, natürlich müssen auch städtebauliche Rahmenbedingungen vorhanden sein. So wie es im Grunde immer auch um Stadtstruktur geht und nicht nur um Stadtbild, um Urbanität und nicht nur um Schönheit, so geht es im Wohnbau stets um integrative Alltagstauglichkeit und nicht nur um die Hülle. Leider sind es meist geschmäcklerische Fragen, die den Schwerpunkt des öffentlichen Interesses bilden, so als ob die Verpackung wichtiger wäre als der Inhalt. Und selbst wohlmeinende Zeitgenossen beurteilen viel lieber das äußere Erscheinungsbild, als sich um das Wesentliche zu bemühen. Die Zunft planender Akteure und ihre Lehrmeister wären gut beraten, sich deutlich mehr als bisher üblich mit den inhaltlichen Ergebnissen ihres Wirkens und den Auswirkungen der Wohnbebauung auf das integrative Zusammenleben der dort wohnenden Menschen zu beschäftigen. Mit der Architektengemeinschaft Scheifinger/Schindler/Szedenik 22)
Rifkin, 2000, S. 155...23) Schmal / Elser / Scheuermann, 2016, S. 13
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
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Knappen Raum bis ins Detail zur Gemeinschaftsbildung nutzen
hatte die Sozialbau für das „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“ ein Planungsteam, dem das künftige Leben in der Wohnhaus anlage ein großes Anliegen war und das den knapp bemessenen öffentlichen Raum bis ins kleinste Detail kreativ zur Gemeinschaftsbildung zu nutzen verstand. Die Idee, die bis dahin stets vernachlässigten Dachflächen zu einem hochwertigen Raum der Begegnung umzuwandeln, wurde so mit Recht zum Markenzeichen und Gütesiegel. Mit den heute so beliebten, platten Richtgrößen etwa für förderungswürdige Wohnhausanlagen in Wien lässt sich nicht erklären, warum die Bewohner von „Alt Erlaa“ gegenüber dem „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“ auch heute noch, nach 40 Jahren24, gut integriert sind und sich wohlfühlen – sprengt doch dieser Bau nahezu alle Maßstäbe förderbarer Richtgrößen bei Weitem. Dabei wäre angesichts der dringend erforderlichen großen Zahl an rasch zu schaffenden, leistbaren Wohnungen ein neues Bekenntnis zu qualitativ hochwertigem, großvolumigem Wohnbau höchst wünschenswert – denn nur so kann die herausragende Rolle Wiens als lebenswerteste „Wohn-Stadt“ in Europa auch für kommende Generationen gesichert werden. Überdies wäre es sehr ratsam, nicht nur mit den Eigentümern kleinerer Grundstücksparzellen zu kooperieren, sondern auch mit Unternehmen, die in der Lage und willens sind, sozialräumliche Verantwortung in größerem Umfang wahrzunehmen, wie dies etwa zuletzt in der Seestadt Aspern beispielhaft geschah.
Angemessene Wohnversorgung
22
Erfreulicherweise besteht hierzulande kein Zweifel daran, dass die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnungen, die unseren sozialen, kulturellen und ökologischen Ansprüchen Rechnung tragen, einer ständigen staatlichen Intervention bedarf. Eines Einschreitens, das angesichts der existenziellen Bedeutung des Gutes „Wohnen“ und des Versagens wesentlicher Instrumente der Marktwirtschaft auch angemessen ist. Dem österreichischen Wohnbauförderungssystem25 – also der planmäßigen, dauerhaften und direkten staatlichen Wohnbauförderung – kommt daher grundlegende Bedeutung zu. Nur so kann der Wohnbedarf jener Bevölkerungsmehrheit befriedigt werden, die bei einer rein privaten Finanzierung nicht in der Lage wäre, ein Heim zu erwerben oder marktorientierte statt kostendeckende26 Mietzinse zu bezahlen. Dankenswerterweise findet sich, besonders in Wien, eine Reihe von namhaften Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die auf europä ischer Ebene für dieses einzigartige System werbend eintritt. 24)
AEAG, 2016, S. 12...25) Ludl, 1998, S. 343...26) Ludl, 1994, S. 263
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
Visavis: Dachhäuschen im „Globalen Hof“ mit Blick auf den „Wohnpark Alt Erlaa“
Der wohlbekannte Hausbetreuer Hr. Akrami bei der Feier „15 Jahre Miteinand“ (Fotos Newald, VOGUS)
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
23
Die seit 2000 bezogenen Wohnungen der Sozialbau, deren Neubautätigkeit sich überdies ausschließlich auf das Gebiet der Stadt Wien beschränkt, finden sich entsprechend der Verfügbarkeit von Bauland vornehmlich in den Bezirken Favoriten (10.), Donaustadt (22.), Liesing (23.) und Floridsdorf (21.), gefolgt von Meidling (12.), Leopoldstadt (2.) und Landstraße (3.). Bemerkenswert ist, dass die einheimischen Kunden im Beobachtungszeitraum in Penzing (14.), Ottakring (16.) und Floridsdorf überdurchschnittlich vertreten waren, die ausländischen Kunden hingegen eher in Meidling, Favoriten und Simmering (11.). Lage der Wohnhausanlagen nach Bezirken
(3)
(7) 1100 (10) 1110 (11) 1120 (12) 1140 (14) 1160 (16) 1170 (17) 1200 (20) 1210 (21) 1220 (22) 1230 (23)
1070
1030
1020
Postleitzahl (Bezirk)
(2)..
Wohneinheiten
Die in dieser Zeit errichteten 69 Wohnhausanlagen des Sozialbau-Verbundes verfügen im Durchschnitt über 121 Wohnungen. Die Wohnungsgrößen, eine wichtige Voraussetzung für gute Durchmischung der Bewohnerschaft, variieren von 30,5 m2 bis 144,9 m2 Nutzfläche. Der Anteil an Dreizimmerwohnungen betrug 51,1 %, gefolgt von 31,0 % Zweizimmerwohnungen und 16,9 % Wohnungen mit 4 oder mehr Zimmern.
Zimmer / Wohnungen
24
Zimmer Wohnungen 1 2 3 4 oder mehr
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
Es passt ins Bild, dass durchschnittlich 51 Kinder und Jugendliche pro Wohnhausanlage zu finden sind. Von den 3.556 Kindern und Jugendlichen bei Erstbezug entfielen auf die österreichischen Haushalte 0,4 Kinder je Wohnung, also 1 Kind pro 2,5 Wohnungen, bei den ausländischen Haushalten ergaben sich 0,6 Kinder je Wohnung, also 1 Kind pro 1,7 Wohnungen. Stellen wir die Wohnungsgrößen in Beziehung zur Bewohnerzahl zeigt sich, dass bei Bezug durchschnittlich 35,8 m2 Wohnnutzfläche pro Person zur Verfügung standen (der Wiener Durchschnitt liegt bei 38 m2 Wohnnutzfläche pro Person). Die einheimischen Haushalte
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
13,7%
8,5%
29,4%
. n Hh sone 4 Per
. n Hh sone 3 Per
. n Hh sone 2 Per
sone
österr. Nationalität
1 Per
nicht österr. Nationalität
n Hh
.
0 %
5 ode r Perso mehr. . nen H h.
10 %
17,4%
20 %
27,5%
30 %
23,5%
32,4%
40 %
6,5%
Personen pro Haushalt in Prozent
50 % 18,1%
Haushaltsgrößen nach Nationalitäten
22,9%
Vernünftigerweise wurden nur in sehr seltenen Ausnahmefällen jene familienfeindlichen Einzimmerwohnungen errichtet, wie sie ohnehin und in ausreichender Menge, zumeist in Substandardhäusern, angeboten werden. Wenn heute mancherorts solchem Rückschritt im Wohnstandard das Wort geredet wird, übersieht man geflissentlich, dass neue Wohnhausanlagen weit in die Zukunft reichend ihre Qualitäten beweisen müssen. Es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass sich die Ansprüche der Menschen hinsichtlich der Wohn- und Lebensqualität in Wien nicht in die falsche Richtung bewegen werden müssen, etwa zurück zum Wohnungselend der Gründerzeit. Deutliche Unterschiede konnten bei der Haushaltsgröße zwischen österreichischen und ausländischen Mietern festgestellt werden. Während in grob der Hälfte der Wohnungen, also in 50,5 % der Haushalte von Mietern mit österreichischer Staatsbürgerschaft, jeweils 1 oder 2 Personen gemeldet waren, finden wir eine solche Belegung nur in 29,4 % der Haushalte von Mietern mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Ein völlig anderes Bild zeigt sich, betrachtet man Wohnungen mit 3 oder 4 gemeldeten Personen: 40,9 % Mieter mit österreichischer, 56,9 % mit ausländischer Staatsbürgerschaft.
25
verfügten dabei durchschnittlich über 39 m2 Wohnnutzfläche pro Person, die ausländischen hingegen nur über 26 m2. Dieser Unterschied erklärt sich aus der größeren Zahl von Bewohnern in Wohnungen von Mietern mit ausländischer Staatsbürgerschaft.
nicht österr. Nationalität österr. Nationalität
Durchschnittliche Nutzfläche pro Bewohner
25,98 m2
pro Bewohner Ø 35,81 m 2
38,75 m2
Wohnnutzflächen
Leistbarkeit ist unverzichtbar
26
Die von der Sozialbau im Beobachtungszeitraum errichteten Wohnhäuser entsprechen nicht nur den Grundsätzen geförderten Wohnbaus. Sie sind überdies – denkt man etwa an die geringen Eigenmittel – als besonders preiswert zu bezeichnen, wobei sich die in der wohnungspolitischen Diskussion oft beschworene „Leistbarkeit“ nicht nur auf eine Minderzahl von Wohnungen innerhalb einer Wohnanlage beschränkt, die dann als Feigenblatt für „soziales Engagement“ herhalten müssen, sondern ausnahmslos auf das gesamte Wohnungsangebot. Leistbarkeit ist in der Tat unverzichtbar, denn hier geht es nicht nur um die Zuwanderer, sondern auch um eine gute soziale Durchmischung. Das sehr wünschenswerte Interesse wohnungssuchender Einheimischer in geordneten Verhältnissen kann am ehesten durch hervorragende Wohnqualität und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis gewonnen werden. Ein Markenzeichen des Sozialbau-Verbundes war es immer schon, dass in Sozialbau-Wohnhausanlagen der höhere Beamte neben der Bedienerin gut wohnen kann und beide damit kein Problem haben, und so sollte es auch bleiben.
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
Anmerkungen
1) Saunders Doug, Arrival City, Pantheon 2013, S. 399 2) GdW, Mieter mit Migrationshintergrund, Berlin, 2015, S. 33 3) Kaufmann Matthias, Integration oder Toleranz?, Alber, Freiburg, 2001, S. 202 4) Integrationsbericht, Expertenrat für Integration, Wien, 2016, S. 85 5) Süssmuth Rita, Migration und Integration, dtv, München, 2006, S. 156 6) Popper Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. I, Mohr Siebeck, 2003, S. 207 7) Brech Joachim in Ludl, Das Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft, Springer, Wien, 2003, S. 120 8) Ludl Herbert, Das Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft, Springer, Wien 2003, S. 11 9) Böök Sven Ake, Co-operative Values in A Changing World in Reports No 19, Genf, 1992, S. 92 10) Brech Joachim, in diesem Band 11) Lebhart Gustav / Münz Rainer in Fassmann / Stacher, Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht, Wien, 2003, S. 351 12) Ludl Herbert in Rauter / Schmidt, Management in Profit- und Non-Profit Organisationen, Ueberreuter, Wien, 2001, S. 23 13) Kohlbacher Josef / Reeger Ursula in Fassmann / Matuschek / Menasse, Empirische Befunde zu Fremdenfeindlichkeit und Integration, Drava, Klagenfurt, 2000, S. 124 14) Kallmeyer Werner in Liebhart / Menasse / Steinert, Fremdbilder, Feindbilder, Zerrbilder, Drava, Klagenfurt, 2002, S. 155 15) Draheim Georg, Die Genossenschaft als Unternehmenstyp, Göttingen, 1952, S. 16 16) Ludl Herbert, Wohnbaugenossenschaften in Österreich, Zukunft 7/8, Wien, 2010, S. 15 17) Radakovics Stefan / Rössl Dietmar, Das Image von Wohnbaugenossen schaften in Österreich, Facultas, Wien, 2016, S. 191 18) Ostrom Elinor, Governing the Commons – The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge, St. Luis, 1990, S. 58 19) Ludl Herbert, Zusammenleben in Solidarität, ZUKUNFT 3, Wien, 2012, S. 6 20) Stiglitz Joseph E., Freefall, Norton, New York, 2010, S. 78 21) Ludl Herbert in Brazda / Dellinger / Rössl, Genossenschaft im Fokus einer neuen Wirtschaftspolitik, Teilband I, Lit, Münster 2012, S. 199 22) Rifkin Jeremy, Access, Campus, Frankfurt 2000, S. 155 23) Schmal / Elser / Scheuermann, Making Heimat, Ausstellungskatalog der 15. Internationalen Architekturausstellung, La Biennale di Venezia, 2016, S. 13 24) AEAG, 40 Jahre Alterlaa, Die Geschichte eines Vorzeigeprojektes, 2016, S. 12 25) Ludl Herbert in Kemmetmüller / Schmidt, Genossenschaftliche Kooperationspraxis, Ueberreuter, Wien, 1998, S. 343 26) Ludl Herbert in Korinek / Novotny, Handbuch der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, Orac, Wien, 1994, S. 263
Ludl / Unterstützung integrativer Prozesse
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Aktualität eines Initialprojekts J OACH I M B RECH / HE I DRUN FE I GE L FE L D Integration im „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“
Bei der Planung neuer Wohnanlagen, bei der Vermietung und Verwaltung ist die Frage, wie Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in guter Nachbarschaft miteinander leben können, stets präsent. Neben ihrem „Alltagsgeschäft“ versuchen manche Unternehmen immer wieder mit innovativen Projekten neue Erkenntnisse zu gewinnen, denn mit „das war schon immer so“, „das haben wir schon immer so gemacht“ kann man den stets neuen Anforderungen nicht gerecht werden. Ein solch innovatives, inzwischen langjähriges Integrations-Projekt ist das „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“ – auch als „Globaler Hof“ firmierend – der Sozialbau in Wien. Bei der im Jahre 2000 bezugsfertigen Wohnanlage sollte das Verhältnis von Einheimischen und Zuwanderern 50 zu 50 betragen, es sollten unter den Zuwanderern viele Ethnien vertreten sein, und dafür wollte die Sozialbau sowohl den baulichen als auch den sozialen Rahmen – eine hochqualifizierte Hausbetreuung – bieten. Bei einer Untersuchung drei Jahre nach Bezug anno 2003 waren in der Tat von den 140 Haushalten der Wohnanlage 48 % „nicht eingebürgerte Zuwanderer“, also Zuwanderer (noch) ohne die österreichische Staatsbürgerschaft. Durch diese ausführliche Evaluation 2003 ließ die Sozialbau ermitteln, ob man beim Globalen Hof von einer gelungenen Integration der Zuwanderer und letztlich auch der Einheimischen in eine offene, tolerante Stadtgesellschaft sprechen kann. Wie und unter welchen Bedingungen die Integration in dieser Wohnanlage gelingen konnte, und zwar – wie sich erwies – durchaus erfolgreich, wurde in der Studie sehr detailliert ermittelt. Seitdem wird die Wohnanlage immer wieder, auch über die Grenzen Wiens hinaus, als Referenz für gelingende Integration herangezogen. Die Stadt Wien hat das Projekt im Jahre 2009 mit dem Ersten Wiener Wohnbaupreis ausgezeichnet. Mit einer neuerlichen, allerdings nicht so umfassenden Unter suchung sollte überprüft werden, ob das Wohnmodell sich auch nach mehr als fünfzehn Jahren noch bewährt – nicht zuletzt unter dem Eindruck der seit 2015 so virulent neuen Integrationsanforderungen durch massive Zuwanderung.
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
Integration in eine offene, tolerante Stadtgesellschaft
29
Daten zum Globalen Hof Lage
Anton-Baumgartner-Straße 127-129, Wien 23
Architekt
DI Peter Scheifinger, Wien
Gebäude
140 geförderte Wohnungen inkl. Wohnung des Hausbetreuers
Wohnungsgrößen: 44 bis 108 m2 Wohnfläche
Wohnkosten: Bruttokaltmiete pro m2 7,53 EUR
Mix: 8 61 24 46
7 Ladenlokale: Café, Pizzeria, Sport, Friseur, Fußpflege, Galerie, Kindergarten
1 Großer Gemeinschaftsraum mit Küche, WC etc.: 312 m2
4 Gemeinschaftsräume auf dem Dach, zusammen 120 m2
4 Gemeinschaftsloggien geschlossen mit rd. 180 m2
Kinderspielraum 51 m2
Abstellräume 318 m2
Wellness 209 m2
Waschsalon 45 m2
Förderbare Nutzfläche 10.860 m2
Gemeinschaftsfläche 1.236 m2
146 Garagenplätze, davon 102 vermietet
Status
Bezug Juni 2000
Wohnungen vermietet (Januar 2016): 132
Neuvermietungen seit Bezug Januar 2016: 91 (darunter auch Weitergaben)
TV-Anlage
Anzahl der Sender: 117 Anzahl der ausländischen Sender (inkl. Deutschland): 95 Anschlüsse an die zentrale Empfangsanlage
1-Zimmer 2-Zimmer 3-Zimmer 4-Zimmer
Bewohnerorganisation Verein Miteinand e.V. Über die Anzahl der Bewohner je Wohnung, die Haushaltsformen und die Herkunft kann die Sozialbau keine Angaben machen.
30
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
Dazu kann die folgende Studie, basierend auf einer Befragung von Bewohnern*, dem Hausbetreuer und der Hausverwaltung einen Eindruck vermitteln. Es handelt sich nicht – dies sei betont – um eine repräsentative Erhebung. Die auf qualitativen Interviews mit Bewohnern in unterschiedlichen Lebenssituationen aufbauende Studie bietet aber einen Eindruck, Stimmungsbilder, welche im Großen und Ganzen wohl die Wirklichkeit widerspiegeln. Die Interviews haben nicht den Eindruck vermittelt, dass die (nicht befragte) Mehrheit der Bewohner deutlich andere Aussagen gemacht hätte als die Interviewten. Die zitierten Statements tragen zu einem plausiblen Bild bei und geben die Stimmungen im Globalen Hof wieder. Deshalb darf man durchaus verallgemeinernde Aussagen treffen. Zu hinterfragen war, ob das damalige Modell auch über lange Zeiträume seine Qualitäten wahren bzw. adaptieren konnte und ob es weiterhin eine sinnvolle Antwort bieten kann auf veränderte Situationen und Bedürfnisse. Zu wünschen wäre ja an sich, das „Modell“ wäre zu einem „Normalfall unter vielen“ geworden, und „inter-ethnisches Wohnen“ ein erfolgreicher Alltag.
Statements tragen zu einem plausiblen Bild bei
Veränderungen in der Konfliktkultur Es wurden vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen, wie sie eingangs angedeutet wurden, in der inter-ethnischen Nachbarschaft Bewohner aus sechs Haushalten entlang eines Leitfadens interviewt. (Anonymität war zugesagt worden. Um sie zu wahren, werden hier keine Angaben zum sozialen Status und zur Herkunft außer „Zuwanderer/ Einheimischer“ gemacht.) Es wurden Bewohner ausgewählt,
q die seit mehreren Jahren oder sogar von Beginn an im Globalen Hof wohnen. q die erst seit etwa 1 Jahr im Globalen Hof wohnen.
Darunter: q Familie, Zuwanderer der ersten Generation, von Anfang an im Globalen Hof. q Familie, Zuwanderer der ersten Generation, vier Kinder, seit 3 Jahren wohnhaft. q Eine alleinstehende Einheimische, Pensionistin, seit Bestehen hier wohnend.
*)
Der besseren Lesbarkeit halber vernachlässigen wir in diesem Text die jeweilige geschlechtsspezifische Differenzierung. Wir schreiben also nicht „die Bewohner und Bewohnerinnen“ und auch nicht „BewohnerInnen“.
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
31
q Eine kleine Familie, Eltern und ein Kleinkind, international gemischte Herkunft, seit drei Jahren im Globalen Hof. q Bewohner, jung, Zuwanderer der zweiten Generation, alleinstehend, seit Fertigstellung hier wohnend. q Inländische Familie, älteres Paar mit erwachsener Tochter, getrennte Wohnungen.
Außer Bewohnern wurden befragt: q Der Hausbesorger, Ahmadschah Akrami, Zuwanderer aus Afghanistan. q Der für die Verwaltung der Anlage zuständige Mitarbeiter der Sozialbau.
Die Interviews fanden in deren Wohnungen statt, Hausbetreuer und Hausverwaltung wurden am Telefon interviewt.
In Themen gegliedert 1
Identifikation mit einer Leitidee durch geeigneten Rahmen
32
Identifikation mit der Idee Beim „Regelwohnbau“ suchen die Nachfragenden eine ausreichend große, leistbare Wohnung in einem ihnen passenden Bezirk. Man sucht, braucht eine Wohnung und kein Wohnkonzept. Anders als etwa bei Baugemeinschaften ist auch den Bewohnern des Globalen Hofs – mit wenigen Ausnahmen – eine Idee, ein Konzept, wie etwa gemeinschaftliches Wohnen, interkulturelles Wohnen, Wohnen ohne Auto usw., zunächst nicht wichtig gewesen, jedenfalls kein Grund, sich für eine Wohnung in dieser Wohnanlage zu entscheiden (viele wussten von dem Konzept auch gar nichts). Solche programmatischen Projekte wenden sich in der Regel an ein abgegrenztes soziales Milieu. Die enge Programmatik dient dazu, das Milieu einzugrenzen, sich ab- oder auszugrenzen. Identifikation mit einer Leitidee, wenn sie nicht allzu eng formuliert ist, kann – wie im gegebenen Fall aufzuzeigen wäre – aber auch beim normalen Wohnungsbau entstehen, wenn vonseiten des Wohnungsunternehmens ein dafür geeigneter Rahmen zur Verfügung gestellt wird. Bei der ersten Befragung (2002 nach sehr kurzer Wohndauer) wurde festgestellt, dass die meisten Nachfragenden sich um eine Wohnung im Globalen Hof beworben hatten, weil sie eine Wohnung brauchten („Zuerst natürlich die Wohnung – und der Balkon“) und das Angebot – Lage, Wohnungszuschnitt, Qualität („herzeigbar“), Preis („Habe recherchiert, etliches höher, etliches gleich“) – ihren Wünschen
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
und Möglichkeiten entsprach. Die Idee „50 zu 50“, von der Sozialbau bei den Bewerbungsgesprächen gar nicht in den Vordergrund gestellt, teils gar nicht erwähnt, war manchen doch ein Anreiz, hierher ziehen zu wollen, für die meisten aber mehr oder weniger nebensächlich, wenn man der Idee auch nicht negativ gegenüberstand. Man konnte sich eigentlich nicht vorstellen, was das für den Alltag bedeuten würde. Die damalige Beurteilung der Konzeption zeigte eine überwiegend positive Meinung zur Idee nach den ersten Jahren im Globalen Hof. Und alle sagten, die Mischung 50 zu 50 bereichere – es sei aber auch gut, dass unter den Zuwanderern keine dominante ethnische Gruppe sei (beispielsweise Zuwanderer aus der Türkei). Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Befragten äußerten sich durchwegs positiv zum Konzept der „Mischung“. Im Nachklang kamen einige unterschwellige, undifferenzierte Töne: „Probleme schon mit Leuten aus einem bestimmten Land.“ Man meint, die Sozialbau solle bei Neuvermietung auf „Ausgewogenheit der Nationalitäten“ achten. Alles in allem sei der Mix gelungen. Bei der Neuvermietung gibt die Sozialbau allerdings keine Informationen über das Konzept des Globalen Hofs (was von einigen der Befragten bedauert wurde).
Durchwegs positive Äußerungen zum Konzept der „Mischung“
Einige Stimmen:
„Über das Ziel hat man uns nichts gesagt. Wir haben erst hier davon gehört. Die Sozialbau sagte nur: unterschiedliche Leute“
⁃
„Wir haben erst nach Bezug über den Verein ‚Miteinand‘ davon gehört“
⁃
„Fand es verwunderlich, dass es bei der Sozialbau kein Infoblatt zum Globalen Hof gibt. Von dem 50 zu 50 habe ich von einem Verwandten gehört“
⁃
„Zuerst, beim Einzug, wusste ich nicht, was das Konzept bedeutet. Heute finde ich es toll. Ich habe viele Freunde hier. Die Mischung wird immer besser. Ich bin sehr glücklich. Man muss aber auch immer wieder kämpfen“
⁃
„Finde es wichtig, dass wir alle ‚sozial ähnlich‘ sind. Anfangs gab es eine Familie, deren Kinder viel ‚Blödsinn‘ gemacht haben. Jetzt ist Ruhe. Die Hausverwaltung hat viel vermittelt“
⁃
„Die Vielfalt ist bereichernd für mich“
⁃
„Alle waren, als wir einzogen, sehr freundlich. Als wir beim Einrichten waren. Wir hatten eigentlich keine Erwartungen und waren sehr angetan vom freundlichen Empfang. Obwohl unsere frühere Wohnsituation auch nicht schlecht war“
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
33
34
⁃
„Man hilft sich aus, in tausend Kleinigkeiten, Waschmünzen zum Beispiel“
⁃
„Man kennt alle, man kann mit fast allen“
⁃
„Man bekommt Feste mit von Leuten aus der Türkei, Afghanistan, Indien, Spanien, Asien, Schwarzafrika“
Man fürchtet aber, dass sich bei Wohnungswechsel die als ideal befundene Mischung nachteilig verändert:
„Es wäre gut, wenn man bei Wohnungswechseln darauf achten würde, dass die Mischung erhalten bleibt. Die Mischung ändert sich durch den Wechsel negativ“
„Die Neuen tun sich schwer gegenüber den Integrierten“
Es gab bei den sechs Befragungen auch eine kritische Aussage zum Programm des Globalen Hofs: ⁃
„Es hat sich viel zum Negativen verändert. Durch den vielen Wechsel gibt es jetzt einen Ausländerüberhang“
⁃
„Den Globalen Hof würde ich eigentlich nicht als ein Haus mit insgesamt ‚guter Nachbarschaft‘ bezeichnen“
⁃
„Die Kommunikation funktioniert nicht. So habe ich mir das nicht vorgestellt“
Und Berufstätige, die kaum zu Hause sind?
„Dass hier unterschiedliche Leute wohnen? Eigentlich egal, kaum zu Hause. Habe wenig Kontakte im Haus“
⁃
„Gute Nachbarschaft. Kann nicht klagen“
Identifikation ist eine abstrakte Kategorie. Eine Aufschluss gebende Frage zum Thema „Identifikation“ ist: „Wenn Sie Besuch von Bekannten oder Verwandten bekommen, die den Globalen Hof noch nicht gesehen haben – was zeigen Sie ihnen als Erstes, worauf weisen Sie besonders hin? Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?“ Hier einige Antworten: ⁃
„Zuschnitt der Wohnungen – super. Vor allem die 12 m2 große Loggia“
⁃
„Der Dachgarten. Da mache ich einen Rundgang mit meinen Besuchern. (Leider sind manche Gärten nicht gut gepflegt)“
⁃
„Der große Gemeinschaftsraum“
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
⁃
„Nummer 1: Die Wohnung; Nummer 2: Der Garten am Dach; Nummer 3: Der Waschsalon. Dann der sichere Spielplatz“
Stabilität und Mobilität: Der Globale Hof hat nach Aussage der Sozial bau eine mit anderen Wohnanlagen vergleichbare Neuvermietungsquote. Man könnte annehmen, dass sich die Idee im Laufe der Jahre gewissermaßen verschleißt. Sie wird ja nicht von der SozialbauVerwaltung oder auch nicht vom Hausbetreuer getragen. Selbst in Wohngruppenprojekten, wo die Idee des Gemeinschaftlichen sogar Gründungsmotiv ist, kann die Begeisterung nicht über Jahre hin auf dem Anfangsniveau gehalten werden, weil sich die Lebenssituationen der Bewohner im Laufe der Jahre ändern. Dazu gibt es in den Gesprächen Andeutungen: Es fällt öfter das Wort „Mundpropaganda“. Man kann davon ausgehen, dass etliche Neuzuzüge auf diese Weise zustande gekommen sind.
Man könnte annehmen, dass sich die Idee im Laufe der Jahre verschleißt
Fazit Die Identifikation aller Befragten mit der Idee des Globalen Hofs ist, gemessen an mitunter geradezu euphorischen Worten – „alles super“ –, groß. Man hätte erwarten können, dass auch der Mikrokosmos Globaler Hof die verbreiteten Urteile und Vorurteile, Meinungen, Ängste widerspiegelt, wie sie besonders seit 2015 allenthalben verbreitet sind. Aber innerhalb der Wohnanlage scheinen die Ereignisse „draußen“ keine Wirkungen auf das Innenleben zu haben. Wie bei der ersten Befragung besteht auch heute ein hohes Maß an Zustimmung und es wird das Gelungene des „Mix“ betont. Man sieht in der Vielfalt durchaus einen Gewinn für das persönliche Leben und besonders für die hier aufwachsenden Kinder. Andere Lebensweisen kennenzulernen wird als bereichernd angesehen. Dass dieses Maß an Identifikation erreicht wurde, kann auf folgende Faktoren zurückgeführt werden: q Freiwilligkeit: Es scheint keinen – unausgesprochenen – Druck auf den Einzelnen zu geben, sich an irgendwelchen Aktivitäten zu beteiligen. q Die Mischung 50 zu 50 und die Vielfalt innerhalb der Gruppe der Zuwanderer, die damit erreichte Varietät, verhindert, dass sich eine Gruppe absondert oder abgesondert wird. q Es gibt im Haus viele Angebote, auf die die Bewohner stolz sind. q Die Gesamtanlage ist trotz ihrer Größe mit 140 Wohnungen aufgrund der Gliederung in vier Gebäudeteile, die mit vier Stiegen erschlossen werden, differenziert, sodass sich Teilnachbar schaften bilden können.
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
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Die Identifikation mit dem Konzept hängt natürlich auch vom sozialen Status und von der mentalen Befindlichkeit der Bewohner ab. Die Mischung geht nicht so weit, dass der soziale Status der Bewohner auch noch sehr unterschiedlich wäre, das Gegenteil ist eher der Fall. Die Auszüge und Neuzuzüge – im Vergleich mit „normalen“ Wohnanlagen in jüngerer Zeit nicht außergewöhnlich – sind dennoch eine Bürde für das Konzept und auch den Verein ‚Miteinand‘, der es stützt. Es ist schwer, Neuzuziehende zu gewinnen. Das schadet dem sozialen Leben.
2
36
Alltag im Globalen Hof Wie die Bewohner den Alltag in einer Wohnanlage bewerten, kann aus zwei Sichtweisen beurteilt werden: Welche nachbarschaftlichen Hilfen gibt es? Und: Gibt es nachbarschaftliche Konflikte? Die üblichen Ursachen für Konflikte zwischen Bewohnern in Wohnanlagen sind bekannt: Lärm von Kindern und Jugendlichen, bis in die Nacht Feiernde – also zu wenig Ruhe im Haus; mangelnde Sauberkeit und Ordnung in Stiegenhäusern und Gängen, im Waschsalon, Vandalismus usw.; unangenehme Gerüche durch Kochen und Grillen. Eine andere Ebene des Ärgers ist das Gefühl von Benachteiligung – denn so gut eine Wohnanlage auch geplant ist, es gibt immer „bessere Wohnungen“, die natürlich immer die anderen haben. Wenn in einer Wohnanlage Zuwanderer und Einheimische wohnen, liegen in der Tat oft sehr unterschiedliche Verhaltensweisen nahe bei einander. Nicht nur haben die Zuwanderer unterschiedliche Lebensstile, ja sogar die Einheimischen praktizieren in ein und demselben Haus verschiedene Lebensstile. Die nachbarschaftlichen Beziehungen werden von den Befragten durchwegs positiv eingeschätzt. Man grüße einander, der breite Erschließungsgang lade zu „Bassena-Gesprächen“ ein: „Da können die Leute auch ihre Blumen hinstellen.“ Die Wohnanlage biete viele Möglichkeiten zwangloser Begegnung. Und: „Wo jemand herkommt, ist zweitrangig.“ „Die Alteingesessenen duzen sich.“ Bei dem Thema Nachbarschaft tritt allerdings ein kritischer Aspekt zutage: der Mieterwechsel. Bei 91 der 140 Wohnungen gab es seit Bezug schon einen Wechsel (wobei hier Weitergaben einbezogen sind. Man vermutet, die durch die Betriebskosten steigenden Mieten seien ein häufiger Grund für den Auszug). Die Frage: „wie viel Wechsel verträgt eine gute Nachbarschaft?“, ist freilich nicht zu beantworten. Aber etliche der Befragten sähen es lieber, wenn es weniger Wechsel gäbe. Ein weiteres Thema schließt sich an: Ist die Wohnanlage nicht schon zu groß für Nachbarschaft? Es wurde in den Gesprächen immer wieder
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
auf die „Stiegen“ (die unterschiedlichen Baukörper) hingewiesen. Das war bereits bei der früheren Untersuchung der Fall. Man sprach auch damals davon, dass sich einzelne Gemeinschaften an den Stiegen häusern bilden. Man bezeichnet diese beispielsweise als „die Leute von der Stiege 4“. Zur guten Kommunikation tragen auch, wie gesagt wird, die Geschäfte bei: „Der türkische Supermarkt ist super. Preiswert, das Sortiment ist okay. Man kann sich auch einmal etwas zustellen lassen.“ „Man trifft sich beim Türken.“ Ebenso die Lokale im Haus: die Pizzeria, „der Chinese“. Stimmungsbilder:
„Auf jeden Fall ist der Globale Hof ein Haus mit guter Nachbarschaft“
⁃
„Alte. Ein Nachbar braucht eine Gehhilfe. Jemand hat ein behindertes Kind. Man schaut einmal vorbei. Man kennt sich halt“
⁃
„Habe einmal den Nachbarn über mir wegen eines Wasserschadens kennengelernt. Kommt aus ... Kein Problem trotz des Schadens“
Und natürlich die Frage, ob man nachbarschaftliche Kontakte eher zu Familien oder Personen aus dem gleichen Land hat: ⁃ ⁃
„Wir sind gute Nachbarn, egal wo die Nachbarn herkommen“ „Kein Thema“
Konflikte? Das Übliche: Lärm von Kindern und Jugendlichen. „Im Sommer gibt es viel Musik im Haus. Man wird mit ‚Kultur‘ geradezu überschüttet. Das Gebäude wirkt wie ein Hörrohr.“ Aber: Das regelt der Hausbetreuer zu aller Zufriedenheit. Mit den unmittelbaren Nachbarn spricht man selbst, wenn es zu laut wird. Konflikte entzünden sich nicht an großen Dingen, sondern an kleinen. So beklagen sich zum Beispiel Mieter, die über der Pizzeria wohnen, über die Küchengerüche. Und wie werden Konflikte gelöst oder auch nicht? ⁃
„Es gibt viele kleine Kinder, ist auch gut so. Wenn die Kinder stören, reden wir mit ihnen. Sprache? Kein Problem“
⁃
„Es gibt Leute, die gehen anderen aus dem Weg. Schon. Aber gerade die, denen manche aus dem Weg gehen, sind meine Freunde“
⁃
„Es gibt schon alte Feindschaften: zum Beispiel zwischen ehemaligen Jugoslawen“
⁃
„Es gab einmal Ärger. Man hat Unterschriften gesammelt und das Blatt zusammen mit einem kleinen Geschenk, Kekse, dem ‚Gegner‘ vor die Tür gelegt. ‚Begraben wir das.‘ Und es war erledigt“
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
Konflikte entzünden sich nicht an großen Dingen
37
⁃
„Es gibt auch einige rassistische Einheimische hier, Ältere, die „ziehen vom Leder“, wenn sie unter sich sind“
⁃
„Es ist immer mal wieder unangenehm, aber das löst sich auf. Extreme Nachbarschaftskriege gibt es nicht“
Und natürlich ist Sauberkeit in vielen Wohnanlagen ein zentrales Thema: ⁃
„Sehr zufrieden“ - die überwiegende Meinung.
Sicherheit? Kein großes Thema. Doch Gerüchte, wie überall: ⁃
„Alles gut übersehbar, gut ausgeleuchtet. Passt“
⁃
„Hundert Prozent sicher, wir kennen uns alle, sprechen Leute an, die wir nicht kennen. Leider zu viele Mieterwechsel“
⁃
„Wenn einer hereinkommt, den man nicht kennt. Wir fragen gleich: was machen Sie?“
⁃
„Angeblich wurde einmal die Tochter eines Mieters im Lift von einem Fremden belästigt“
⁃ Fazit Im Globalen Hof ist Nachbarschaftshilfe etwas Selbstverständliches, wahrscheinlich nicht anders, als das auch bei vielen „normalen“ Wohnanlagen der Fall sein kann. Der entscheidende Punkt ist, dass die Nachbarschaftshilfe gewissermaßen international ist, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie also keine Barriere darstellt, „wenn es sonst passt“. „Man kann ja nicht mit allen befreundet sein.“ Wie bei der ersten Studie hat sich auch dieses Mal gezeigt, dass es offenbar unterschiedliche Auch Tendenzen „Stiegenmilieus“ gibt: „Die von Stiege 2.“ Dass es auch Tendenzen zum Rückzug zum Rückzug gibt, zum Beispiel auch von Inländern, die von Anfang an sind ganz normal im Globalen Hof wohnen oder auch von Neuzugezogenen, die generell oder aufgrund ihrer Lebensweise wenig Wert auf Nachbarschaft legen, ist ein ganz normaler Vorgang, der wohl wenig mit mangelnder Zustimmung zum Konzept zu tun hat. Auftretende Konflikte sind differenziert zu sehen. Ob ein Ereignis – z. B. Grillen – zu einem Konflikt führen kann, hängt von vielen Faktoren ab: Vom Alter, der generellen Einschätzung gegenüber Fremdem, von der Lebenssituation oder der Familienform, ja sogar von der „Tagesform“ dessen, der sich gestört fühlt. Entscheidend ist auch, ob und wie Konflikte gelöst werden können. Dafür hat im Globalen Hof der Hausbetreuer die tragende Rolle.
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Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
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Die Gemeinschaftsräume Gemeinschaftsräume – Waschsalons, Kinderspielräume, Räume für Bewohnerfeste usw. – haben einen wesentlichen Anteil an der sozialen Qualität des Wiener Wohnbaus, auch wenn einmal mehr, einmal weniger Mittel dafür zur Verfügung stehen. Die interne Hauserschließung kann bei „guter“ Planung mehr sein als ein Funktionsraum, um möglichst schnell in die Wohnung zu kommen, nämlich Kommunikationsraum. Auch die Freiräume können Orte der Begegnung werden, wenn die Interessen der Bewohner anliegender Wohnungen gewahrt bleiben. Auf die Gemeinschaftsräume im Globalen Hof sind die Befragten besonders stolz, auch wenn sie diese teils gar nicht oder nur selten nutzen. Dass die Nutzer selbst separat zahlen müssen, wird positiv gesehen:
„Der Dachgarten bringts“
„Die Dachgärten sind toll für den Kontakt: einmal in der Woche wird gegrillt. Zwei, drei Mal im Jahr gibt es größere Grillfeste“
⁃
„Wir nutzen alles mit Genuss. Auch den Festsaal. Für Feste, Geburtstage. Man meldet sich bei Akrami, holt den Schlüssel, er kontrolliert das finale Putzen“
⁃
„Gymnastik, Malerei – alles“
⁃
„Der Waschsalon: ein Kontaktvehikel. Einmal habe ich einer neu eingezogenen Türkin die Waschmaschinen erklärt, und dann hat sie mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt“
Die Freiräume können Orte der Begegnung werden
Negativ: Dass man bei der Planung der Gemeinschaftseinrichtungen, z. B. mit dem „Türkischen Bad“, den Bogen überspannt hat, ist ein Handicap, das offenbar die Jahre überdauert. Man klagt über hohe Nebenkosten. Inzwischen ist es geschlossen. Fazit Es ist eindeutig: Die Gemeinschaftseinrichtungen sind die bauliche Voraussetzung für das Gelingen von Integration im Globalen Hof, jedoch nicht nur die Vielzahl und Unterschiedlichkeit, sondern auch die geschickten Zuordnungen innerhalb des Hauses. Sicherlich hätte man bei den Flächen etwas sparen können, aber die Differenzierung scheint unverzichtbar. Hinzu kommen die als Kommunikationsbereiche konzipierten breiten Erschließungsflure zwischen den Stiegenhäusern. Die Bewohner sind stolz darauf, sie und der Bewohnerverein ‚Miteinand‘ nutzen die Gemeinschaftseinrichtungen intensiv. Die Öffnung des großen Gemeinschaftsraums für externe Veranstaltungen ist ebenfalls positiv zu sehen – nicht nur wegen der Einnahmen, auch wegen des Images, einen solchen Raum zu besitzen. Trotzdem geht es auch um
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die Gemeinschaftseinrichtungen, wenn die Betriebskosten diskutiert werden, da sie für zu hoch gehalten werden.
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Einheimischen stellt sich die Frage nach Religionszugehörigkeit gar nicht
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Religion und Integration Es wäre verwunderlich, würde die gegenwärtige medial aufgeheizte Diskussion über Islam und Islamismus nicht auch die Atmosphäre in den Wohnanlagen verändern. Jetzt werden, so ist anzunehmen, das Kopftuch oder die Burka – Zeichen islamischen Glaubens – mit anderen Gefühlen gesehen als noch vor einigen Jahren. Eigentlich hatte man sich an solche Zeichen gewöhnt. Andere Religionen – Hindu, Sikh, Jüdisch – haben ebenfalls ihre besonderen Zeichen, sie treten jedoch kaum in Erscheinung. Bei Einheimischen stellt sich die Frage nach der Religionszugehörigkeit erst gar nicht, es gibt auch keine äußeren Zeichen. Das Kopftuch ist jedoch überall gegenwärtig. Trägt es eine Frau, die man als gute Nachbarin kennt, beachteten die Einheimischen es bisher wahrscheinlich kaum, anders als bei einer Frau auf der Straße. Das könnte sich aber verändert haben. Die Frage: „Es ist nicht zu leugnen, dass es heute vermehrt Spannungen zwischen den Kulturen und Religionen gibt. Wie ist das im Globalen Hof?“ überraschte die Interviewten nicht. Dass sich die ambivalente Haltung Einheimischer – egal welcher sozialen Schicht – dem Islam gegenüber nicht auch im Globalen Hof wiederfinden würde, wäre unglaubwürdig. Bei den Gesprächen wurde deshalb die Frage, ob es im Globalen Hof wegen „der Religion“ zu Spannungen komme, ganz offen gestellt. Statements: ⁃
„Ja, es gibt ein, zwei Burkaträgerinnen im Haus. … Sonst gibt es keine streng praktizierenden Moslems im Haus. Aber, ich möchte nicht ins rechte Eck gedrängt werden“
⁃
„Spannungen? Eigentlich nicht. Nur beim Grillen geht es getrennt zu. Die Muslime grillen kein Schweinefleisch. Man macht einfach zwei Angebote“
⁃
„Dass hier viele unterschiedliche Leute wohnen ist gut für die Kinder. Sie lernen die anderen Eigenarten kennen“
⁃
„Wir gehen in die Kirche, die in die Moschee. War nie ein Thema“
Eine Einschätzung, „Ja, schon problematisch mit den Muslimen“, bezog sich nicht auf das Leben im Globalen Hof, sie galt dem Klima, das die Ereignisse der letzten Jahre mitbestimmt.
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Fazit Im Globalen Hof scheint kein Bewohner, und vor allem auch keine Bewohnerin, ein Problem in der Religionszugehörigkeit der Nachbarschaft im Haus zu sehen. Das zeigen u. a. die Feste, wo die Zeichen des muslimischen Glaubens ohne Scheu getragen werden. Die offenbar einzige Muslimin im Haus, die die Burka trägt, wird erwähnt als Beleg für die geübte Toleranz. Zwischentöne sind aber durchaus hörbar. Die Toleranz gegenüber der Religion Anderer ist ein zentraler Indikator für Integration, die ja beidseitig zu sehen ist, für Inländer wie Zuwanderer. Da man die bei den Interviews eingefangenen Stimmungen höchstwahrscheinlich auf den Globalen Hof insgesamt übertragen kann, ist von einer gelungenen Integration zu sprechen. Dabei müsste unterschieden werden zwischen der internen Toleranz und eventuell davon abweichenden Meinungen zur Zuwanderung generell (auch dies beidseitig). Im Globalen Hof geht es um das Verhältnis zwischen Einzelnen, draußen um Ideologisches, Politik etc. Zweitens sind die Voraussetzungen zu berücksichtigen. Im Globalen Hof wohnen weder ausgegrenzte inländische noch ausgegrenzte ausländische Bewohner, sondern Angehörige etwa ähnlichen sozialen Status. Das scheint ein wichtiger Faktor zu sein.
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Architektur im Alltag Bewohner beurteilen „Architektur“ natürlich aus einem ganz anderen Blickwinkel als Fachleute, und auch unterschiedlich, wie das ja auch bei den Professionellen der Fall ist. Aber als Nutzer schätzen die Bewohner und vor allem die Bewohnerinnen „die Architektur“ in Bezug auf ihre Alltagstauglichkeit pragmatisch und oft mit zutreffenden Argumenten ein. Folgende Aspekte sind besonders wichtig: q Die funktionalen Zusammenhänge der einzelnen Nutzungen – es sollen sich einzelne Nutzungen nicht gegenseitig stören. q Die Privatheit der Wohnungen und ihrer Freiräume soll vor Einblick geschützt sein. q Praktische und problemlose Nutzbarkeit – keine Stolperschwellen, Lüftung etc. q Details und Materialwahl – es soll gut aussehen. ⁃ Besonderheiten, wie Dachgarten, Spielplätze – Vorzüge, auf die man stolz sein kann. q Form bzw. Gestaltung: Man wünscht weder eine extravagante Architektursprache noch eine absolut banale.
So kritisierten bei der ersten Befragung 2003 im Globalen Hof mehrere Befragte die Fassade, beurteilten den Innenhof als optimal für Kinder,
Brech, Feigelfeld / Aktualität eines Initialprojekts
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bemängelten das ein oder andere Spielgerät, lobten die Dachgärten usw., sahen Architektur also im Wesentlichen in ihrer Funktionalität. Bei der aktuellen Befragung legen, wenn es ins Detail geht, manche der Interviewten so recht los und sagen, was sich im Alltag bewährt und wo das aus ihrer Sicht nicht der Fall ist: ⁃
„Grundrisse nicht berühmt: Langer Schlauch, keine Nischen, keine Schrankräume“
⁃ ⁃
„Schall kommt über den Kamin“ Man hört die Leute in der oberen Wohnung laufen. Ich brauche nachts Ohropax“
⁃
„Außentreppen im Winter glatt“
⁃
„Im Sommer Lärm von den Dachgärten“
⁃
„Generell schlechte Schallisolierung“
⁃
„Kinderwagen machen draußen wegen der Fugen der Betonplatten Humpa-humpa“
⁃
„Wir hatten Schimmel im Bad. Man sollte besser über Lüften informieren“
Zwei der Befragten legten gleich eine ganze Liste von Vorschlägen für Verbesserungen innerhalb und außerhalb ihrer Wohnung vor – alles „Kleinigkeiten“ zwar, aber wichtig für das Lebensgefühl. Durchwegs konkrete Vorschläge für bauliche und kostenneutrale Verbesserungen, die man bei künftigen Planungen berücksichtigen könnte. Fazit Der Globale Hof wurde vor allem deshalb 2009 mit dem Ersten Wiener Wohnbaupreis ausgezeichnet, weil hier die funktionale Anordnung der einzelnen Bereiche (Wohnen, Gemeinschaftsräume, Freiräume), die Gestaltung (unprätentiös und doch nicht banal) mit den sozialen Intentionen auf so einfache und doch durchdachte Weise in Zusammenhang gebracht worden sind. Dazu gehört auch, dass – wie ein Rundgang zeigt – versucht wurde, durch funktionale Zuordnungen oder Materialwahl das Entstehen von Konflikten zu reduzieren. Zum Zeitpunkt seiner Errichtung stand das Projekt in einem Gegensatz zur herrschenden, von Architekten- und Politikerehrgeiz geprägten Bauformen. In diesem Sinne ist es auch heute noch immer aktuell. Zu generellen Themen der Architektur äußern sich Bewohner in der Regel kaum, aber als Nutzer haben sie lange Listen vorzubringen, was im Einzelnen verbessert werden könnte. Die meisten der Vorschläge sind dabei relativ kostenneutral. Auch die Hausverwaltung sagt: „Na ja, ein bisschen zu viel grau.“
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Die Rolle des Hausbetreuers Heute gibt es keine „Hausmeister“ mehr. Die Aufgaben, die ehemals von ihnen verrichtet wurden, werden heute Servicefirmen übertragen. Der Hausbetreuer ist heute – wie die Bezeichnung sagt – ein Betreuer, zuständig für alle großen und kleinen Anliegen. Seine Qualifikation: soziale Kompetenz. Nicht zuletzt aufgrund des hohen Anteils an Zuwanderern in den Wohnanlagen der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen sind die Anforderungen gewachsen. Ein Anteil von 50 Prozent Zuwanderern in einer Wohnanlage ist keine Seltenheit – und diese Verhältniszahl besagt nicht viel. Es kommt darauf an, aus welchen Ländern und Ursachen die Zuwanderer kommen, ob eine einzelne Ethnie dominant ist usw. Der Hausbetreuer des Globalen Hofs, Herr Akrami, selbst Zuwanderer aus einem muslimischen Land, nimmt für das „Funktionieren“ der inter-ethnischen Hausgemeinschaft eine Schlüsselrolle ein. Er ist Hausbetreuer seit dem Bezug des Hauses und wohnt hier auch selbst mit seiner Familie. Vielen Bewohnern gilt er als die Seele der Anlage. Einige der Befragten sehen seiner Pensionierung mit Sorge entgegen. Seinen Äußerungen sei deshalb hier besonderer Raum gegeben. Natürlich möchte Herr Akrami das Gelingen des Globalen Hofs nicht als seinen persönlichen Verdienst ansehen. Aber dennoch ist es nicht allein die rein professionelle Ausübung seines Berufs, die das Modell zu einem gelungenen Projekt gemacht hat, sondern auch eine persönliche Einstellung den Bewohnern gegenüber – mit all ihren, einer entfernten Verwaltung gering scheinenden, Sorgen. Er betont einerseits, dass die Bewohner aus seiner Sicht über die Jahre hin ein von Toleranz und gegenseitigem Verständnis geprägtes Zusammenleben praktizieren. Dass man, vereinfacht gesagt, auf gut nachbarschaftliche Weise zusammenlebt. Beispiel Kopftuch und Burka: „Das stellt kein Problem dar.“ Es komme aber schon vor, dass er über den historischen Kontext dieser Bräuche aufklären müsse. Dann gebe es auch Verständnis. Akramis Grundhaltung: „Sprich mit mir.“ Dass die üblichen Konflikte wegen Lärms, Schmutz usw. mit seiner Hilfe auf einfache Weise und schnell geregelt werden können, dass die Gemeinschaftseinrichtungen zwar teils überdimensioniert erscheinen, jedoch nach wie vor intensiv genutzt werden, bestätigt Akrami ebenso wie die befragten Bewohner. Die Stimmung sei gut. Der Erfolg des Globalen Hofs liege darin, dass es hier so „normal“ zugehe. Die meisten Mieter wohnen ja auch schon lange hier. „Man ist auch reifer geworden.“ Seine Aufgabe sieht er im Vermitteln: Zwischen Bewohnern, wenn es etwas laut wird, z. B. bei der Silvesterparty; wenn jemand Hilfe braucht bei einem Schaden in der Wohnung; wenn ein sozialer Dienst benötigt
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Schlüsselrolle für das „Funktionieren“ der interethnischen Gemeinschaft
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Von außen kommende Vorurteile als das sehen, was sie sind
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wird. „Da ist es gut, dass ich im Haus wohne.“ Das Leben besteht nun einmal aus vielen Kleinigkeiten, die man einfach und schnell bearbeiten sollte. Dass er im Haus wohnt, finden alle Interviewten sehr gut. Akrami sieht aber auch, dass der Globale Hof keine abgeschottete Insel ist, zu der die aktuellen Ereignisse im Land und in Wien keinen Zugang hätten. Die medial verbreitete Stimmung, so befürchtet er, könnte sich auch hier negativ auswirken. Freilich besteht Grund anzunehmen, dass die persönlichen Bekanntschaften, die Nachbarschaften über die Jahre, stark genug geworden sind, um von außen kommende Vorurteile als das zu sehen, was sie sind. Sorge bereiten die wiederkehrenden Erhöhungen der Miete aufgrund steigender Nebenkosten, vor allem wegen der Gemeinschaftsräume. Die Erhöhungen – so gerechtfertigt und nachvollziehbar sie auch sein mögen – bergen eine „Sprengkraft“ innerhalb der Hausgemeinschaft, und auch außerhalb könne das Modell, zu dem die Gemeinschaftseinrichtungen unbedingt gehören, infrage gestellt werden – wenn es nämlich zu teuer für die Mieter wird. Auch ist Akrami der wichtigste Ansprechpartner des Vereins ‚Miteinand‘. Die Befragten äußerten sich alle sehr zufrieden mit der Arbeit des Hausbetreuers. „Ohne ihn würde es nicht so sein. Akrami, ein Glücksgriff.“ „Hoffentlich geht er nicht zu bald in Pension.“ Der Hausbetreuer ist auch ein Puffer zur Hausverwaltung der Sozialbau. Während man ihm höchstes Lob zollt, äußerten sich Befragte recht kritisch zur Hausverwaltung. Man werde schlecht informiert, komme sich als Bittsteller vor, müsse Anliegen über die Generaldirektion laufen lassen. Einige Statements: ⁃
„Die Sozialbau ist immer für uns da. Aber Akrami ist halt die Schlüsselperson“
⁃
„Wenn man bei der Sozialbau nicht weiter kommt, keinen Kompetenten findet, besser gleich zu Akrami, der erledigt alles“
⁃
„Schaut auf alles“
Fazit Der Hausbetreuer ist die Seele des Globalen Hofs. Darin stimmen alle überein, die Bewohner und die Hausverwaltung. Er ist immer da, schlichtet, ordnet, rät, hilft, weist auch ab und zu zurecht, ist auch der Puffer zur Hausverwaltung. Möchte man das einmal unabhängig von der Person des Haus betreuers sehen – denn auch der Hausbetreuer wird in Pension gehen und man wird einen Nachfolger bestellen müssen –, sollte man folgende Aspekte berücksichtigen:
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q Es wäre gut, wenn der Hausbetreuer angesichts der Tatsache, dass in den Wohnanlagen ein so hoher Anteil an Migranten wohnt, persönlich einen Migrationsbezug hätte. q Voraussetzung ist eine qualifizierte Ausbildung für die Moderation von Konflikten, wie sie beim Zusammenleben von Einheimischen und Zuwanderern entstehen können – eine interkulturelle soziale Kompetenz. q Auch wenn es für den Hausbetreuer schwierig sein kann: es wäre gut, wenn er im Haus wohnen würde. q Der Hausbetreuer braucht das Vertrauen sowohl der Bewohner als auch der Hausverwaltung. Auch das erfordert eine hohe soziale Kompetenz.
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Sozialbau – die Hausverwaltung Bei der Vergabe von Wohnungen und der Verwaltung der Wohnanlagen ist das Thema Zuwanderung im Alltag präsent, sicherlich gibt es für die Mitarbeiter immer neue und steigende Anforderungen zu bewältigen. Deshalb sind Erfahrungen aus Projekten wie dem Globalen Hof von großer Relevanz. Nicht nur sollen die Bewohner, sondern wollen auch die Hausverwalter mit ihrer Wohnanlage zufrieden sein. Das Beispiel sollte als ein positives in das Unternehmen hineinwirken. Der Globale Hof wird seit Bezug vom gleichen Verwalter betreut. Für die Sozialbau war das Modell ein Experimentierfeld. Es war keineswegs vorauszusehen, ob sich die Idee „50 zu 50“ in der Praxis bewähren würde. Hier hat man z. B. zum ersten Mal sogenannte Kennenlerntreffen durchgeführt, ein Treffen der Mieter vor ihrem Einzug. Das hat sich bewährt, nunmehr ist die Organisation solcher Treffen Standard. Das Mischungsverhältnis von Einheimischen und Zuwanderern von 50 zu 50 wird heute nach Auskunft der Sozialbau-Verwaltung „fast automatisch“ zur Regel in den Wohnanlagen. Ein Instrument, die Zusammensetzung der ausländischen Haushalte zu steuern, um eine möglichst große Bandbreite an Ethnien zu bekommen, gibt es nicht. Vielfalt wäre anzustreben. In die alltäglichen Angelegenheiten der Wohnanlage mischt sich die Verwaltung nicht ein, sie ist aber regelmäßig auch vor Ort. Positive Erfahrungen, die übertragbar sind, habe man auch mit den Gemeinschaftsräumen gemacht: Das differenzierte Angebot – „nein, nicht zu viele Gemeinschaftsräume“ –, die funktionalen Zuordnungen seien beispielhaft. Einen wichtigen Beitrag leistet hier der Verein ‚Miteinand‘, der sich um Feste und andere Aktivitäten kümmert. Die Auszugsquote ist beim Globalen Hof in etwa die gleiche wie bei den anderen Wohnanlagen der Sozialbau. Seit dem Bezug sind von
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Mischungsverhältnis 50:50 wird beinahe automatisch die Regel
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den 140 Wohnungen noch 49 von den Erstbewohnern bewohnt, bei 91 Wohnungen gab es einen Wechsel. Davon ist ein Teil nicht gekündigt, sondern weitergegeben worden. Auch die Erdgeschoßzonen (Lokale, Kindergarten) sind alle vermietet. Längere Leerstände, die dem Image schaden würden, gab und gibt es nicht. Kritik an der Hausverwaltung kommt wegen fehlender Informationen: q Es wird bemängelt, dass die Sozialbau bei Neuvermietungen nicht über die mit dem Globalen Hof verbundenen Ziele informiert. „Man erfährt das erst im Nachhinein, wenn überhaupt.“ q Es wird von einem Gefühl berichtet, dass das 50 zu 50 nicht mehr stimmt, dass es zu einem Überhang an „Migrantischen“ gekommen ist. Die Hausverwaltung ist auch gefragt, wenn es um Maßnahmen geht, die mit Kosten verbunden sind. Die periodisch steigenden Betriebskosten belasten auch die Hausverwaltung, auf viele Positionen hat man Einsparungen aber keinen Einfluss. Es bleiben also nur Einsparungsmöglichkeiten bei bei vielen kleinen vielen kleinen Positionen, wie z. B. der Beleuchtung, wo man sparsaPositionen möglich mere Lichtkörper eingebaut hat, oder bei der Gartenpflege etc. Das diskutiert man mit Vertretern des Vereins. Ein Mieter meinte: „Sparen könnte man. Wozu gibt es den Putztrupp, wo der Akrami doch alles macht.“ Das zeigt, es wäre gut, an einer prägnanten Stelle im Haus zu informieren, welche Aufgaben von wem zu erledigen sind und was das im Einzelnen kostet. Die Hausverwaltung ist auch gefragt, wenn es darum geht, welche Sender über die zentrale TV-Anlage eingespeist werden sollen. Zurzeit sind 117 Sender zu empfangen, darunter 95 nicht-österreichische. Die Interviewten waren zufrieden mit den von der Sozialbau geschalteten Programmen. Ein Statement: „Aus unserem Land ist kein Sender dabei. Wir empfangen dies über das Internet. Kein Problem.“ Ein Thema war auch einmal der Wunsch nach einer Videoüberwachung, was aber der Philosophie der Sozialbau nicht entspricht.
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Fazit Die Bewohner scheinen mit der Hausverwaltung bei den alltäglichen Angelegenheiten zufrieden zu sein: „Man kümmert sich“. Man schätzt es, dass der Verwalter regelmäßig kommt. Am Globalen Hof wurde mit einem Mischungsverhältnis von 50 zu 50 noch experimentiert, heute ist das oft schon die Regel in Wohnanlagen. Insofern waren die gemachten Erfahrungen sicherlich sehr hilfreich. Im Unternehmen scheint der Globale Hof als besonderes Projekt einen guten Ruf zu haben. Die Befragten weisen auf einen dieses Projekt per se nicht betreffenden Aspekt hin: Inwieweit sollte – oder könnte – die Sozialbau die soziale Mischung in einer Wohnanlage steuern? Man weist darauf hin,
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dass sich ein Überhang von Zuwanderern negativ auswirken könnte, ebenso wie die Dominanz einer Ethnie. Ob diese Annahme den Tat sachen entspricht, ist hier nicht die Frage. Bei dem Thema Integration sind psychologische Faktoren entscheidender als die Fakten.
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Miete und Nebenkosten Einige der Befragten, auch der Hausbetreuer, wollten unbedingt auf das Thema Miete zu sprechen kommen. Die Miethöhe war bereits bei der ersten Untersuchung kurz nach Einzug ein wichtiges Thema, aber in einem anderen Kontext als bei dieser Befragung. Damals wurde geäußert, dass die – vergleichsweise – etwas höhere Miete dafür sorge, dass die Bewohner in etwa aus sozial ähnlichen Verhältnissen (gemeint war nicht das Milieu) kommen. Man sah die Miethöhe als ein Selektionsinstrument. Bei dieser neuen Befragung 2016 wurde die Befürchtung geäußert, dass Bewohner wegen der Miete – vor allem der Betriebskosten – ausziehen müssten. Es wurde auch thematisiert, dass die Gemeinschaftsräume, ein zentraler Bestandteil des Konzepts, im Unterhalt zu teuer sind. Die Meinungen sind jedoch nicht einheitlich. Eine Befragte sagte: „Bomben-Preis im Verhältnis zu dem, was man dafür bekommt. Die Wohnungen gehen weg wie nichts, es gibt eine Warteschlange. Es wurde auch viel renoviert.“ In der Tat waren die Nebenkosten über einige Jahre hin stark gestiegen (auch aufgrund von externen Gebührenerhöhungen). In der letzten Abrechnungsperiode konnten sie aber gesenkt werden. Die Frage, ob man die Miete derzeit für angemessen halte, wurde unterschiedlich gesehen. Ein Befragter, erst kürzlich eingezogen, hatte zum Beispiel recherchiert und die Miethöhe für im Vergleich durchaus akzeptabel gefunden. Sodass man bei der Aussage: „akzeptabel, ja aber ...“ möglicherweise das generelle Raunen gegen Miethöhen sehen sollte – hier berechtigt, da vielleicht nicht. Jene neu Zuziehenden, die die Preise auf dem aktuellen Wiener Wohnungsmarkt bei der Wohnungssuche studiert haben, sehen die Miethöhe im Globalen Hof als angemessen, wogegen die Alteingesessenen die Mietsteigerungen aus der Anfangsperspektive betrachten. (Die Frage der Angemessenheit oder Leistbarkeit von Miete generell und aktuell in Wien im Besonderen kann im Rahmen dieser Studie nicht thematisiert werden. Aufschlussreich wäre es, das Verhältnis zwischen Einkommen und Miete zu betrachten, was im gegebenen Rahmen nicht möglich war.)
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Gemeinschaftsräume im Unterhalt zu teuer?
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Gesamtfazit Beim Globalen Hof kann man also offenbar von einer gelungenen und auch künftig gelingenden Integration sprechen. Natürlich gibt es auch Kritik seitens der Bewohner – wo wäre das nicht der Fall? Alles in allem wird wohl keiner der Bewohner sagen können, man fühle sich in diesem sozialen Raum, dieser internationalen Nachbarschaft nicht wohl, man Auf und Ab als wolle bei nächster Gelegenheit ausziehen. Dass es im Laufe der Jahre Teil der Lebens- immer wieder ein Auf und Ab im nachbarschaftlichen Zusammenleben wirklichkeit gibt, ist ein Teil der Lebenswirklichkeit und durchaus positiv zu sehen. Es handelt sich nicht um ein von einer Idee belastetes Projekt, vielmehr wird der Mix generell Normalität. Integration ist dabei keine Kategorie, die sich auf die Zuwanderer allein bezieht. Die Chancen für gelingende Integration sind in solchen Wohn anlagen gegeben, denn dies ist nichts, was verordnet werden, was institutionell organisiert werden kann, sondern erfolgt allein durch den Kontakt der Menschen im Alltag. Dafür gilt es die Voraussetzungen, den organisatorischen und baulichen Rahmen, zu schaffen.
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Anmerkung: Eine erweiterte, illustrierte Fassung der Studie wurde 2016 publiziert und ist in deutscher und englischer Sprache als Download-PDF abrufbar unter www.sozialbau.at
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Identifikation mit dem Zuhause: Üppige Bepflanzung im „Globalen Hof“ bereits in den ersten Jahren (Foto Czjzek, 2003)
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Wohnintegration in Zürich MARGR I T HUGENTO B L ER / MAR I E G L ASER Ansätze, Maßnahmen und beispielhafte Projekte
Wohnen ist ein existenzielles menschliches Bedürfnis. Eine Wohnung, einen eigenen Raum zu haben, ist grundlegend wichtig, um sich geschützt zu fühlen, um Privatsphäre, Regeneration und soziale Kontakte zu ermöglichen und sich den anspruchsvollen Herausforderungen der heutigen Welt zu stellen. Eine eigene Wohnung legt die Basis, um das Leben selbständig zu meistern. Wohnen ist aber nicht einfach Privatsache, vielmehr widerspiegeln Wohnumstände die sozialen und kulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft.1 Im Wohnen zeigt sich die Diversität, Ausdifferenzierung und Flexibilisierung heutiger Lebensstile deutlich. Zugewanderte MigrantInnen bringen andere Wohnkulturen, andere Bedürfnisse, Traditionen und Praktiken sowie eigene Werte und Vorlieben mit in das Zusammenleben. Gleichzeitig zeigen sich aber auch soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Diskriminierungs- und Segregationsprozesse. Viele sozial und einkommensmäßig benachteiligte Menschen leben auch in der Schweiz in prekären Wohnverhältnissen: Wenn keine oder nur temporär befristete Mietverhältnisse bestehen und die Betroffenen von einer Notlösung zur nächsten umziehen müssen, die Mietkosten im Vergleich zum Erwerbseinkommen zu hoch sind (d. h. in der Regel ein Drittel des Haushaltseinkommens übersteigen) und zu Verschuldung führen; wenn die Wohnflächen zu klein sind oder wenn Wohnumgebung und -klima die Gesundheit und das Wohl befinden beeinträchtigen.2 Eine sichere und zufriedenstellende Wohnsituation ist Grundlage für die soziale Integration und das Wohlbefinden im Alltag – in der Arbeitswelt, Schule und Bildung wie auch bei der Gestaltung von Sozialkontakten allgemein.3 Der Zugang zu angemessenem und leistbarem Wohnraum ist auch in der Schweiz oft gerade für benachteiligte Gruppen erschwert. Darunter sind vielfach Menschen mit geringen beruflichen Qualifikationen, mit Behinderungen unterschiedlicher Art, mit knappen finanziellen Ressourcen. Dazu gehören MigrantInnen und Geflüchtete, ältere Menschen, die nach Totalsanierungen die Mietzinse ihrer Wohnungen nicht mehr bezahlen können sowie „working poor“, die nahe dem
Hugentobler, Glaser / Wohnintegration in Zürich
Zufriedenstellende Wohnsituation als Grundlage für soziale Integration
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Existenzminimum leben, jedoch keine Sozialhilfe beziehen und noch zu oft durch alle Raster fallen.4 Auch Menschen, die aufgrund ihres Namens, ihres Herkunftslandes oder ihrer Hautfarbe explizite oder implizite Diskriminierungserfahrungen machen, haben große Schwierigkeiten, ohne Unterstützung eine adäquate Mietwohnung zu finden. Je angespannter dabei der Wohnungsmarkt – wie beispielsweise in Zürich – ist, desto geringer sind ihre Chancen. In unserem Beitrag fokussieren wir die Problematik der sozialen Integration jener Gruppen der ausländischen Wohnbevölkerung, die sozial und einkommensmäßig benachteiligt sind und beschreiben Beispiele für gelungene Ansätze der Integration im gemeinnützigen Wohnungsbau in Zürich. Dass diese richtungsweisenden Projekte wichtig sind, zeigen die Zukunftsprognosen. Die Integration benachteiligter Menschen wird künftig an Bedeutung und Dringlichkeit gewinnen, gerade auch aufgrund ihrer schwindenden Chancen, aus eigener Kraft eine Wohnung auf dem Wohnungsmarkt zu finden und zu halten.
Zugang zu bezahlbarem Wohnraum In der Schweiz existiert keine nationale Politik des „sozialen Wohnungsbaus“ wie in einigen anderen europäischen Ländern. Die Frage, wer unter welchen Bedingungen erleichterten Zugang zu welcher Art von Wohnraum hat, wird allerdings überall unterschiedlich beantwortet. Aufgrund des ausgeprägt föderalistischen schweizerischen Systems variiert auch die Ausgestaltung der Wohnraumversorgung für Menschen, welche sich nicht ohne Schwierigkeiten eine Wohnung beschaffen können, von Kanton zu Kanton respektive von Stadt zu Stadt. Dieser Beitrag fokussiert deshalb auf die Stadt Zürich, der größten Schweizer Stadt. Mit rund 400.000 Einwohnern ist Zürich – im Vergleich zu Wien – zwar eine kleine Stadt(gemeinde), der räumlich mit den politischen Stadtgrenzen verschmelzende Metropolitanraum umfasst jedoch rund Wachstumsdruck 1,2 Millionen Menschen. Zudem hält der Wachstumsdruck seit Mitte seit Mitte der der 1990er Jahre an und die Zahl der Menschen mit Migrationshinter1990er Jahre grund hat ebenfalls zugenommen. 5 Der Anteil der Wohnbevölkerung in der Schweiz mit einem ausländischen Pass betrug 24,3 % im Jahr 2014, in Zürich sogar 32 %.6 Allerdings gehören in der schweizerischen Definition von „Ausländer“ auch Personen dazu, welche in der Schweiz geboren wurden, jedoch die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes behalten haben. Dies betrifft rund ein Fünftel dieser Personengruppe.7 Landesweit8 haben rund 35 % der ständigen, über 15-jährigen Wohnbevölkerung Migrationshintergrund,
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Hugentobler, Glaser / Wohnintegration in Zürich
definiert als Staatsangehörigkeit bei Geburt einer Person sowie dem Geburtsort der Eltern, in Zürich ist dieser Anteil entsprechend höher. Das Migrationsmuster der in den letzten Jahren Zugezogenen zeigt, dass sich ein großer Teil der aus EU-Ländern oder den USA stammenden ausländischen Bevölkerung auf dem freien Wohnungsmarkt versorgen kann. Dazu gehört die beträchtliche Zahl von sogenannt gut qualifizierten „Expats“. Schwieriger wird es für Einzelpersonen und vor allem auch für Familien mit einem mittleren bis tieferen Einkommen, auch wenn sie schweizerischer Herkunft sind oder schon länger dort leben. Hier übersteigt die Nachfrage das Angebot bei Weitem. Melden sich Menschen mit geringerem Einkommen zur Besichtigung einer preisgünstigen Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt, finden sie sich meist in Gesellschaft einer langen Schlange von MitbewerberInnen. Haben sie keinen Schweizer Pass, sprechen sie eine andere Sprache, haben sie sichtbar einen anderen religiösen Hintergrund oder gar eine andere Hautfarbe, sind ihre Chancen, die Wohnung zu erhalten, sehr gering. Das Problem des Zugangs zu bezahlbarem Wohnraum zeigt sich am stärksten in den Städten Genf und Zürich. Die Wohnungsleerstandquote ist dort seit Jahren sehr gering; in Zürich betrug sie 2016 noch immer nur 0,22 %,9 obwohl sich der Wohnungsmarkt in den letzten 3 bis 4 Jahren eher entspannt hat. Der seit Jahren bestehende Nachfrageüberhang führte auch dazu, dass die Mietpreise in Zürich von 2004 bis 2012 durchschnittlich um rund 10 % stiegen – trotz geringer Inflationsrate. Für Neumieter erhöhten sich die Marktmieten in derselben Zeitperiode gar um 18 %.10 Die durchschnittliche Netto-Marktmiete für eine 3,5-ZimmerNeubauwohnung in Stadtrandlage betrug im Jahr 2015 ca. CHF 2.575. Dass Zürich dennoch eine sozial durchmischte, lebendige und attraktive Stadt ist, in der auch Menschen mit geringem Einkommen und anderer Herkunft Arbeit und Wohnraum finden, ist dem historisch hohen Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus zu verdanken. Während der Anteil genossenschaftlicher Wohnungen gesamtschweizerisch 2014 nur noch 4 % betrug (im Vergleich zu 5 % im Jahr 2000)11, verfügen in der Stadt Zürich mehr als 150 kleinere und größere Wohnbaugenossenschaften nach wie vor über rund 20 % der über 210.000 Wohnungen. Der Stadt sowie 3 stadteigenen und einigen anderen Stiftungen gehören weitere 5 % des gemeinnützigen Wohnungsbestandes. Gemeinnütziger Wohnungsbau ist jedoch nicht mit sozialem oder gefördertem Wohnungsbau andernorts gleichzusetzen, weil die Erstellung von Wohnraum nicht grundsätzlich von Staat, Kanton oder der Stadt finanziell unterstützt wird. Grundlage der Mietpreisgestaltung im gemeinnützigen Wohnungsbau ist die Kostenmiete. Da keine Zusatzrendite erwirtschaftet werden muss, werden bei dieser Kostenberechnung nur das ausgeliehene Kapital verzinst, der laufende
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In Gesellschaft einer langen Schlange von MitbewerberInnen
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Unterhalts- und Verwaltungsaufwand berechnet und Rückstellungen für größere Renovationen gebildet. Insgesamt liegen die durchschnittlichen Mietpreise privater und institutioneller Wohnbauinvestoren wie Banken, Versicherungen, Pensionskassen usw. um ca. ein Drittel höher als die der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften und der Stadt. 12 Zudem können für einen Teil der Wohnungen Zuschüsse der Stadt und des Kantons beantragt werden, um so Wohnungen für Haushalte mit Einkommen unter einer festgelegten Obergrenze zusätzlich zu verbilligen, d. h. zu subventionieren. Diese Wohnungen unterscheiden sich in Größe, Ausstattung und Lage nicht von den sogenannt freitragenden Wohnungen in derselben Siedlung. Es ist Sache der Bauträgerschaft zu bestimmen, wie groß der Anteil an freitragenden Wohnungen (ohne Einkommenslimite) respektive subventionierten Wohnungen in einer neuen Siedlung sein soll. Dies bewirkt eine Durchmischung der Siedlungen mit unterschiedlichen Einkommensgruppen, und die subventionierten Wohnungen sind in den Wohnbauten verstreut! Es gilt also das Prinzip der Objekt- statt der Subjekthilfe (wie beispielsweise mittels der Ausrichtung von Mietzuschüssen). Die Zahl der in der Stadt verfügbaren subventionierten Wohnungen ist allerdings bescheiden. So sind gegenwärtig nur 3,4 % der insgesamt rund 213.000 Wohnungen in der Stadt Zürich durch solche Zuschüsse verbilligt.13
Unterstützungsangebote finanzieller und sozialer Art Vor allem in den größeren Städten Zürich, Bern, Basel, Lausanne, Biel und in den Regionen mit angespanntem Wohnungsmarkt wie die Genferseeregion besteht eine Anzahl staatlicher und nicht-staatlicher Unterstützungsangebote im Wohnen für benachteiligte Personen. Ihr Ziel ist es, mit verschiedenen nicht-monetären (oder in Kombination mit finanziellen) Unterstützungsangeboten, angemessenen Wohnraum an sozial und wirtschaftlich benachteiligte Menschen zu vermitteln und / Angebote bei oder nachhaltig zu sichern. Dazu gehören Angebote bei der WohnungsWohnungssuche suche oder der Wohnintegration oder präventive Maßnahmen für die oder Integration Wohnraumsicherung, um Kündigungen und Zwangsräumungen zu verhindern sowie betreutes und begleitetes Wohnen. Die Nachfrage nach Beratung und Hilfe bei der Wohnungssuche und -sicherung übersteigt seit Jahren das zur Verfügung stehende Angebot, das eher als Tropfen auf den heißen Stein bezeichnet werden kann. Der zukünftig weiter zunehmende Bedarf ist eine Herausforderung, die von den Städten und vermehrt auch von den größeren Gemeinden erkannt wurde. Erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten und Modelle der Wohnversorgung zu identifizieren und zu verbreiten – dies in Zeiten verknappter
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finanzieller und sozialer Mittel – ist eines der Ziele des Nationalen Programms gegen Armut in der Schweiz des Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV.14 Die Stiftung Domicil ist ein relevanter Akteur auf dem Zürcher Woh- Stiftung Domicil, nungsmarkt, wenn es um Wohnvermittlung, Wohnraumsicherung und ein relevanter Wohnintegration von Haushalten mit kleinen Einkommen geht, die kaum Akteur Chancen haben, selbständig eine angemessene Wohnung zu finden. Domicil unterstützt Familien und Alleinerziehende, Arbeitslose, Menschen aus anderen Kulturen, die seit wenigen Jahren stark wachsende Gruppe der sogenannten „working poor“ ohne Sozialhilfebezug15, Menschen mit Schulden und Menschen mit Sozialhilfe oder Invalidenrente in Zürich.16 Das Angebot besteht in der Unterstützung bei der Wohnungssuche und -vermittlung und der Übernahme einer Solidarhaftung in allen Mietverträgen bzw. der Übernahme der Mietverträge gegenüber den Vermietenden.17 Die Stiftung finanziert sich über Beiträge der öffentlichen Hand (Leistungsauftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich), Mitgliedsbeiträge sowie Spenden.18 Erfolgversprechend ist hier insbesondere die Kombination finanzieller Garantien gegenüber den Vermietenden mit ebenso wichtigen nicht-monetären Angeboten der professionellen Wohnintegration und -begleitung. Damit fördert Domicil bei Bedarf die Wohn- und Kommunikationskompetenzen der durch die Stiftung vermittelten BewohnerInnen. Wohnbauträger, mit denen Domicil die Zusammenarbeit sucht, sind zum einen lokale Wohnbaugenossenschaften, die gut ein Drittel der vermittelten Wohnungen stellen (128 im Jahr 2015, davon 45 von WBG), aber auch private Eigentümer oder institutionelle Immobilienverwaltungen. Die Grundlage des Erfolgs eines Angebots wie Domicil besteht in der konstanten Erweiterung und intensiven Pflege des Netzwerks mit lokalen Vermietenden, der öffentlichen Hand und anderen Akteuren aus dem lokalen Sozial- und Gesundheitsnetz. Größere, professionell geführte Wohnbaugenossenschaften sowie die jüngeren neu gegründeten, die eine offene und tolerante Werthaltung pflegen, die sich in einer integrativen Wohnpraxis in den Siedlungen widerspiegelt, sind für Domicil wichtige Partner. Im Gegenzug wird die Möglichkeit geboten, eventuelle Konflikte in sozial und kulturell stark heterogenen Wohnsiedlungen professionell und erfolgreich präventiv zu betreuen.
„Fit in die Zukunft“: Wohnsiedlung Luchswiese Die Wohnsiedlungen „Brunnenhof“ und „Luchswiese“ gehören der städtischen Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien (WkF). 1924 gegründet, verfügt sie gegenwärtig über etwas mehr als 500 Wohnungen
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Breiter Partizipationsprozess als Reaktion auf Probleme
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in 5 städtischen Wohnsiedlungen, die sie an Familien mit mindestens 3 Kindern und bescheidenem Einkommen vermietet. Da viele Familien oft auch einen Migrationshintergrund haben, ist in den WkF-Siedlungen der Anteil dieser Bewohnerschaft höher als in anderen Siedlungen des städtischen respektive des genossenschaftlichen gemeinnützigen Wohnungsbaus. Zürich-Schwamendingen, ein ursprünglich nach Gartenstadt-Vorstellungen konzipiertes Quartier am Stadtrand, verfügt über einen hohen Anteil genossenschaftlicher Wohnbauten. Viele davon sind jedoch in die Jahre gekommen und die Wohnungen somit preisgünstig. Zudem sind Teile des Quartiers durch starkes Verkehrsaufkommen und Fluglärm belastet. Die Siedlung Luchswiese in Zürich-Schwamendingen entstand 1994. Die 40 Wohnungen verfügen jeweils über 4 bis 7½Zimmer. Im Innenhof befinden sich Spielgelegenheiten für Kinder jeden Alters, integriert sind zwei Kindergärten. Die Bewohnerschaft mit 230 Personen, davon 150 Kinder und Jugendliche, stammt aus 16 Nationen. Die Entwicklung des Bewohnerprofils widerspiegelt die Gentrifizierungsprozesse der letzten Jahre in der Innenstadt von Zürich. Stammten die Mieter zu Beginn des Jahrtausends vorwiegend aus der Schweiz oder aus EU-Ländern, so betrug der Anteil der Mieterschaft von außerhalb Mitteleuropas 10 Jahre später rund 70 %. Mit rund 41 % ist Schwamendingen-Mitte gegenwärtig das Stadtquartier mit dem höchsten Anteil an Menschen ohne Schweizer Pass.19 Die folgende Beschreibung des Integrationsprojekts „Fit in die Zukunft“ gründet auf einer Publikation der am Projekt zentral beteiligten Sozialarbeiterin.20 2004 erteilte die Stiftung WkF der Stiftung Domicil (vgl. oben) den Projektauftrag.21 Für die Umsetzung wurde eine befristete Sozialarbeitsstelle mit einem 40 %-Pensum geschaffen.22 Nach Abschluss des Projekts stand die Sozialarbeiterin jedoch weiterhin in einem reduzierten Ausmaß nach Bedarf zur Verfügung. Der initiierte, breite Partizipationsprozess kam als Reaktion auf Probleme in der Siedlung in Gang. Im Vordergrund stand die Störung der Nachtruhe vor allem in der warmen Saison durch in der Siedlung wohnende, aber auch auswärtige Jugendliche. Ihr Verhalten wurde als bedrohlich wahrgenommen. Abfall, wie leere Flaschen und teils auch Spritzen, wurden liegengelassen. Polizei-Visiten und eine durch die Verwaltung eingesetzte Sicherheitsfirma nützten wenig. Das daraufhin initiierte Projekt hatte zum Ziel, das interkulturelle Zusammen leben in der Siedlung zu verbessern, Partizipation zu fördern und das „empowerment“ aller Beteiligten zu unterstützen. Das Besondere an diesem Projekt war, dass speziell Väter mit Migrationshintergrund miteinbezogen werden konnten. Ihnen gelang es, durch ihre regelmäßige abendliche Präsenz mit den Jugendlichen in Kontakt zu
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treten und das Problem der Gewalt im öffentlichen Raum der Siedlung zu lösen. Funktionierende Partizipationsstrukturen bezüglich der vielfältigen Herausforderungen der Siedlung Luchswiese aufzubauen, war sehr komplex und kann hier nicht vertiefend diskutiert werden,23 deshalb seien nur einige wichtige Schritte erläutert. Der ersten Phase der Information und Bedürfnisabklärung wurde viel Zeit gewidmet. Zum einen musste erkundet werden, wer die Menschen in der Siedlung sind, wie sie leben, was sie beschäftigt. Im Vordergrund stand „Türschwellenarbeit“, also der direkte Kontakt mit der Bewohnerschaft. Vor allem auch um die Väter für die Beteiligung zu gewinnen, war es wichtig zu kommunizieren, sie seien wichtige Akteure für Partizipation und Problemlösung: „Wir brauchen Sie. Gut, dass Sie da sind.“ Im weiteren Kontakt mit den Vätern in der Siedlung zeigte sich: Sie fühlten sich in ihrer Erziehungsaufgabe oft hilflos, hatten das Gefühl, versagt zu haben und schämten sich. Ein interkultureller Vätertreff wurde geschaffen. Um mit Jugendli- Interkultureller chen im Zusammenhang mit den Konflikten im öffentlichen Raum umzu- Vätertreff mit gehen, hatten die Väter eine zentrale Funktion. Begleitet von externen zentraler Funktion Fachpersonen und Institutionen für Gewaltprävention arbeiteten sie mit den randalierenden Jugendlichen im Innenhof gemeinsame und respektvolle Verhaltensregeln für das Zusammenleben aus. Zu Beginn fühlten sich die Väter verunsichert und waren skeptisch bezüglich ihrer Möglichkeiten, etwas zu bewirken. Durch die gemeinsame Handlung und Präsenz bildete sich aus der Ich-Stimme eine Wir-Stimme der Väter und ihre elterliche Autorität änderte sich. Aktive Väter bildeten ein Netz mit einer Telefonliste. Gab es Probleme, gingen sie mindestens zu dritt nach draußen. Sie konnten bei den wenigen Interventionen direkt erleben, was ihre Präsenz bewirken kann. „Aktiv zu sein ist schön“, sagte einer der Väter in der Auswertung der Gruppe. Die Interessengruppe Väter war eingebettet in die strukturellen Partizipations-Grundlagen, die zu Beginn des gesamten Projekts geschaffen worden waren. Dazu gehören Haussitzungen und die Mieterversammlung. Es wurden weitere Gemeinschaften gebildet, so die IG Mütter, Buben, Jugendliche, Mädchen sowie eine IG Garten. Mit der IG Garten wurde zuerst gearbeitet, um Probleme wie Verwesungsgeruch und allerlei Ungeziefer anzugehen. Rasche und sichtbare Erfolge erzielten die partizipative Neuorganisation und das Schaffen von Zuständigkeiten. Dies stärkte die Vertrauensbasis für Zusammenarbeit mit externen Fachpersonen sowie das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten der Beteiligten. Um die eingeleiteten Prozesse nachhaltig anzulegen war es wichtig, mit relevanten Akteuren und Institutionen im Quartier zusammenzuarbeiten. Bestehende professionelle Netzwerke konnten mit dem Bedarf aus den entstehenden Interessengruppen verknüpft werden.
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„Die Welt im Brunnenhof“
Sehr heterogene sozio-demografische Merkmale
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Der Brunnenhof mit 72 Familienwohnungen, in denen um die 400 Personen, davon 260 Kinder, leben, wurde 2007 als Ersatzneubau der Stiftung WkF errichtet. Die Siedlung befindet sich im nördlichen Teil der Stadt Zürich, 2 Minuten von einem ÖV-Knotenpunkt entfernt. Sie liegt zwischen einer stark befahrenen Straße und einer grünen Wiese mit Bäumen und Spieleinrichtungen, die an ein Gemeinschaftszentrum der Stadt grenzt. Die zwei leicht geknickten Gebäude des Architekturbüros Gigon/Guyer zeichnen sich durch eine farbige, abwechslungsreiche Gestaltung sowie hohe Ansprüche an energieeffizientes und ökologisches Bauen aus. Während der Bewohnerschaft eine homogene Lebensform (Familie mit Kindern) gemeinsam ist, verfügt sie andererseits über sehr heterogene sozio-demografische Merkmale. Bei Einzug waren 33 Nationen vertreten, davon etwas mehr als ein Drittel der Erwachsenen (35 %) schweizerischer Herkunft.24 Die beruflichen Tätigkeitsfelder reichen von hoch- bis unqualifizierten Arbeitsstellen – damit ist die Bewohnerschaft bezüglich Bildung und Einkommen sehr durchmischt. Rund 22 der 72 Wohnungen sind freitragend, die übrigen fallen in zwei Subventionskategorien zusätzlicher Verbilligungen. Diese Vielfalt der Bewohnerschaft und die Erfahrungen aus der Siedlung Luchswiese bewog die Stiftung WkF, hier bereits vor dem Einzug der Mieter konkrete Überlegungen zur Förderung des friedlichen nachbarschaftlichen Zusammenlebens anzustellen. Die Stiftung Domicil wurde erneut beauftragt, mit Unterstützung des schweizerischen Bundesamts für Wohnungswesen ein Modell zu Konfliktprävention und Integrationsförderung zu entwickeln, das Projekt „Welt im Brunnenhof“.25 Das Wohnprojekt geht davon aus, dass die Siedlung Brunnenhof Modellcharakter hat und neben allen Herausforderungen auch optimale Voraussetzungen einer hohen Wohnqualität mit sich bringt. Dazu gehört, dass die ganze Mieterschaft neu ist und sich noch keine Machtbeziehungen gebildet haben; dass der Wohnraum neu, geräumig, hell, bezahlbar ist und eine exzellente Schallisolation aufweist. Zur Verfügung stehen ein Gemeinschaftsraum, ein Kinderhort und ein Doppelkindergarten an zentraler Stelle beim Parkdurchgang. In der Nähe finden sich eine Schule und diverse Einkaufsmöglichkeiten. Das städtische Gemeinschaftszentrum Buchegg schließt direkt an den Außenraum der Siedlung an und bietet einen weiteren Spielplatz sowie betreute Spielund soziokulturelle Aktivitäten für Kinder, Familien und Erwachsene. Das Wohnmodell misst Partizipation und Eigenverantwortung der Bewohnerschaft einen hohen Stellenwert zu und muss sich an den Bedürfnissen wie Interessen der BewohnerInnen orientieren. Dabei ist
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jedoch den knappen zeitlichen und finanziellen Ressourcen der Familien Rechnung zu tragen. Anfänglich unterstützt eine professionelle Fachperson begleitend die integrations- und gemeinschaftsfördernden Maßnahmen. Sie fungiert als Schnittstelle zwischen Bewohnerschaft, Verwaltung und Institutionen im Quartier. Während der Bezugsphase fand ein sogenanntes „commitment-Gespräch“ mit jeder Familie statt, um das Wohnmodell bekannt zu machen und um mehr über ihre Ressourcen und Bedürfnisse zu erfahren. Verschiedene Willkommensaktionen machten die NachbarInnen zudem miteinander vertraut. Zu Beginn etablierte Haussitzungen, die einmal pro Jahr stattfinden, sind wichtige Kommunikationsgefäße. Moderiert von der Fachperson werden Informationen und Anliegen ausgetauscht und sowohl die Gestaltung des Zusammenlebens als auch Beschwerden besprochen. Ein Kinderbriefkasten für Anliegen und zweimal jährlich stattfindende Haussitzungen für Kinder tragen deren Bedürfnissen ebenfalls Rechnung. Ziel war auch, die Eltern zunehmend in diese Moderationsprozesse einzubeziehen, um diese später selbst übernehmen zu können. An der ersten Haussitzung wurde auch ein siedlungsweites Organisationskomitee für ein Jahr gebildet. Dieses organisierte das erste Siedlungsfest, auf dem – moderiert durch Fachpersonen – auch Aspekte der Gestaltung und des Zusammenlebens im Außenraum und Möglichkeiten von Ideen- und Austauschbörsen diskutiert wurden. Das OKB wurde im Anschluss in eine Siedlungskommission umgewandelt. Nachdem sich das erste Gremium vorwiegend aus Schweizerinnen und Deutschen zusammengesetzt hatte, forderten die Wohnkonzept-Verantwortlichen Paritätische der Stiftung eine paritätische Vertretung von Migranten, auch um zu Vertretung vermeiden, dass sie zu Sündenböcken für allfällige Probleme gemacht von Migranten würden. Vor allem Schweizer Frauen in binationalen Partnerschaften traten in diesen Bestrebungen nun als Brückenbauerinnen auf. Die sozialarbeiterische Fachperson identifizierte Themen, welche die Bewohnerschaft interessierte und mittragen und mitorganisieren würde. So entstand eine Gruppe Elternbildung, ein Informationsabend zum Ramadan; Adventfenster wurden organisiert, begleitet von gemeinsamen Feiern. Da sich im „Café Brunnenhof“ vor allem Schweizerinnen sporadisch im Gemeinschaftsraum trafen, organisierte die Fachperson einen „Femmes-Tisch“ auf Arabisch, um die weniger integrierten arabischen Frauen zusammenzubringen. Ein „Babysitting Pool“ mit Jugendlichen aus der Siedung, eine Tauschbörse für Kinderkleider tragen ebenfalls zur nachbarschaftlichen Unterstützung bei. Die direkte Türschwellenarbeit mit BewohnerInnen, die nicht so gut deutsch sprechen, bleibt weiterhin prioritär. Die eigene Brunnenhof Internetseite und jährliche Brunnenhof-News (Siedlungszeitung) können nur ergänzen.
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Fest auf dem Hunziker Areal (Foto Ziegler, © Baugenossenschaft mehr als wohnen)
Siedlungsfest im Brunnenhof (© Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien)
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Nachhaltigkeit entsteht auch hier durch die Vernetzung mit Organisationen im Quartier und den städtischen Fachstellen wie offene Jugendarbeit, Vernetzung mit Schule, Schulsozialarbeit, um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können. Organisationen Natürlich gibt es auch im Brunnenhof Konflikte zu lösen. Sie zeigen im Quartier sich vor allem in der Aneignung gemeinsam genutzter Räume (Waschküche, Treppenhaus usw.). Gemäß den Projektverantwortlichen sind zudem unterschiedliche Erziehungsvorstellungen und teilweise unbeaufsichtigte Kinder ein erhebliches Konfliktpotenzial in allen Siedlungen der Stiftung, auch im Brunnenhof. Dennoch wird das Familienwohnmodell von den BewohnerInnen in einem Gruppeninterview mehrheitlich positiv eingeschätzt, da es in der Siedlung ein Grundverständnis für die Lebensform „Familie mit Kindern“ gebe. Ein Interviewausschnitt dazu: „Ich finde es wirklich super hier, wenn ich es mit anderen Siedlungen vergleiche. Es gibt so viele Nationalitäten und es läuft wirklich sehr friedlich. Man muss nur ein anderes Quartier besuchen und es sieht total anders aus.“
„Mehr als Wohnen“ Wohnbaugenossenschaften machen in Zürich seit mehr als 100 Jahren einen substanziellen Anteil des gemeinnützigen und damit günstigen Wohnraums aus. Allerdings war die Vermietungs- und Wohnungsbewirtschaftungspraxis bis vor einigen Jahren nicht explizit auf Integrationsfragen ausgerichtet. Dennoch leben gerade auch in älteren Siedlungen mit teils sehr günstigen Wohnungen viele Menschen, die während früherer Immigrationswellen aus dem europäischen Raum in die Schweiz kamen. Vor der Jahrtausendwende sind jedoch – auch als Reaktion auf die Wohnungsknappheit der 1980er Jahre – neue Wohnbaugenossenschaften mit erweiterten Zielsetzungen bezüglich Partizipation und nachbarschaftlichem Zusammenleben entstanden. Viele traditionelle große Wohnbaugenossenschaften haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten professionalisiert und von diesen Ansätzen inspirieren lassen. Der neuere genossenschaftliche Wohnungsbau in Zürich ist so zum Innovationsmotor zukünftigen Wohnungsbaus in der Schweiz bezüglich wirtschaftlicher, architektonisch/städtebaulicher, umwelttechnischer (Energie/ Ökologie) und sozialer Qualitätsaspekte geworden.26 Dies beinhaltet auch das Experimentieren mit neuen Wohnformen in Mehrgenerationenhäusern, Großwohnungen und die Zusammenarbeit mit sozialen Institutionen. Am Beispiel der Siedlung Hunziker Areal der neuen Wohnbaugenossenschaft „mehr als wohnen“ sollen im Rahmen des Gesamtprojekts auch integrationsfördernde Ansätze aufgezeigt werden.27
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Neue Wohnbaugenossenschaften mit erweiterten Zielsetzungen
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Ehemaliges Gewerbeareal der Stadt im Baurecht
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Das Projekt wurde mittels eines internationalen Ideenwettbewerbs im Jahr 2007 konkretisiert. Er war eines der Projekte, welche zum 100-jährigen Jubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus im selben Jahr in Zürich initiiert wurden. Über 30 Zürcher Wohnbaugenossenschaften gründeten im Dezember 2007 diese neue Wohnbaugenossenschaft, unterstützt von Stiftungen und weiteren Institutionen. Gemäß dem Leitbild sollte „ein lebendiges Quartier – mit Menschen aus allen sozialen Schichten entstehen – wo man gerne wohnt, arbeitet und die Freizeit verbringt“. In einem mehrjährigen auf Dialogprozessen unterschiedlichster Akteure gründenden Entwicklungsprozess entstand der neue Quartierteil „Hunziker Areal“. Die Stadt unterstützte das Projekt, indem sie den Initianten ein ehemaliges Gewerbeareal im Nordosten der Stadt im Baurecht zur Verfügung stellte. Mit 41.000 m2 weit mehr als eine Wohnsiedlung, umfasst der Gebäudekomplex vielfältige Nutzungen. In 13 großen, von 4 verschiedenen Architekturbüros entworfenen kompakten Baukörpern finden sich 370 Wohnungen vielfältigster Typologien, welche mehr als 1.200 Menschen ein Zuhause bieten. Die Erdgeschoße bestehen aus vielfältigen Räumen sowohl für gemeinschaftliche als auch für gewerbliche Nutzungen mit rund 150 Arbeitsplätzen. Dazu gehören ein Restaurant, ein Gästehaus / Hotel für 20 Personen, ein Quartierladen, ein Werkatelier mit 34 Arbeitsplätzen für Menschen mit Beeinträchtigungen, diverse weitere private Dienstleistungen und Kleingewerbe, Kinderbetreuungsangebote und verschiedene sogenannte „Allmendräume“, die für nichtkommerzielle, gesellschaftliche Anlässe und Angebote genutzt werden können.28 Bezüglich Durchmischung der Bewohnerschaft wollte sich die Genossenschaft an der Bevölkerungsstruktur des Kantons Zürich orientieren. Zusätzlich zu den dank Kostenmiete bereits insgesamt relativ günstigen Mieten wurden weitere 80 der insgesamt 370 Wohnungen subventioniert, das heißt an Haushalte vermietet, welche die Einkommens- und Vermögensgrenzen der Wohnbauförderung nicht überschreiten. Generell sollten auch auf dem Wohnungsmarkt aus unterschiedlichen Gründen ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen ein Zuhause finden. So wurden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen knapp 10 % der Wohnungen für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen reserviert, für Familien mit Migrationshintergrund und kleinem Budget, für Studierende und Lehrlinge, für Kinder, welche längere Zeit nicht in ihren Familien leben können.29 Ab Planungsbeginn waren Dialogprozesse und Partizipation wichtig. So gab es sogenannte „Echoräume“, in denen zukünftige BewohnerInnen und Fachleute mitreden konnten. Gemeinschaft, Selbstorganisation und nachbarschaftliches Zusammenleben stehen im Hunziker Areal weiterhin im Vordergrund. Das vielfältige Infrastruktur- und Raumangebot
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des neuen Quartiers und die großzügigen, gestaltbaren Außenräume bilden den Rahmen für Kontakte und Austausch. Eine Vielzahl nachbarschaftlicher Aktivitäten wird von selbstorganisierten „Quartiergruppen“ initiiert und getragen. Periodisch geplante Evaluationen des Zusammenlebens werden auch Hinweise auf Integrationsfragen ergeben.
Schlüsse und Ausblick Wichtig ist festzuhalten, dass Integration im Wohnen keine Kategorie ist, die sich allein auf MigrantInnen oder nur auf besondere, eigens darauf ausgerichtete Wohnprojekte bezieht. Integration ist ein zweiseitiger Prozess des Annäherns und Aushandelns, der Teil unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit ist. Die Herausforderungen heißen zunehmende Zuwanderung aus allen Teilen der Welt, MigrantInnen mit teils enorm traumatischen Fluchterfahrungen, und stärkere gesellschaftliche Heterogenität. Wie soll dieser Prozess der Integration auch in Zukunft organisiert und gestaltet werden, wenn nicht notwendigerweise erfolgreiche Ansätze und Wohnmodelle reflektiert und fortgesetzt werden können? Ansätze wie die der Stiftung Domicil in Zürich, die vor allen anderen Maßnahmen erst den Zugang zu leistbarem städtischen Wohnraum in nachbarschaftlichem Zusammenleben für benachteiligte Menschen ermöglichen, sind notwendige Voraussetzungen. Monetäre Hilfestellungen wie etwa die zeitlich befristete Übernahme des Mietvertrags in Solidarhaftung bilden gemeinsam mit nicht-monetären Maßnahmen wie Hilfe bei der Wohnungssuche, Wohncoaching bis hin zur professionellen Wohnbegleitung die Basis für Integration. Die beschriebenen Zürcher Wohnprojekte zeigen, dass erfolgreiche Integration der Partizipation bedarf. Wer mitgefragt ist und eine Stimme hat, wird sich mehr in die gemeinsame Diskussion einlassen und mit Engagement das eigene Siedlungswohnen mitgestalten. Zentral für gelungene Kommunikation sind strukturelle Gefäße der Teilnahme und Mitbestimmung, die sich um räumliche Nutzungen, aber auch um die Entwicklung des nachbarschaftlichen Austausches und des Zusammenlebens kümmern. Wie die Beispiele der „Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien“ zeigen, ist – je nach Zusammensetzung und Lebenssituation der Mieterschaft – fachliche Begleitung von Beginn des Projekts an unabdingbar. Wenn bereits Konflikte im Zusammenleben bestehen, ist Intervention sicher möglich, allerdings aufwendig und langwierig. (Lernen für das Wohnmodell Brunnenhof durch die Erfahrungen der Siedlung Luchswiese.) Wie das Beispiel Luchswiese zeigt, können auch bereits bestehende ernsthafte Probleme in Nachbarschaften mit partizipativen, befähigenden Strategien erfolgreich
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Strukturelle Gefäße der Teilnahme und Mitbestimmung
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Zentrale soziale Rolle des Hauswarts in Siedlungen
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angegangen werden. Viele Zürcher Wohnbaugenossenschaften mit neuen Ansätzen setzen auf Partizipation, teilweise bereits in der Planungsphase vor Bezug, vor allem aber während der Betriebsphase. Die Erfahrungen aus den Wohnprojekten deuten einmal mehr auf die zentrale soziale Rolle des Hauswarts in Siedlungen mit einem hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund hin, dies kann gewiss generell für größere Wohnsiedlungen gelten.30 Die Entwicklung hin zum ausgelagerten sogenannten „Facilitymanagement“ definiert diese Rolle vor allem als eine technisch organisatorische. Der für die Siedlung „Globaler Hof“ in Wien verwendete Begriff des Hausbetreuers beschreibt die vor allem auch mit sozialen und kommunikativen Kompetenzen zu definierende Rolle wesentlich treffender.31 Selbstverständlich hat gelingende Integration auch räumliche Implikationen. Es braucht vielfältige gute, schallisolierte Wohnungen in einer Siedlung mit Identifikationsmöglichkeiten, mit Gemeinschaftsräumen, kommunikationsfördernden Außenräumen und guter Infrastruktur. Ebenso wichtig ist jedoch auch die Vernetzung mit anderen Quartierund städtischen Akteuren, die sich mit den Fragestellungen sozialer und kultureller Anliegen befassen.
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Anmerkungen
1) Glaser, 2009, S. 60–67 sowie Gysi, 2009, S. 10–23 2) Bieri / Elmiger, 2013, S. 6–9; sowie Swietlik, 2014, S. 8 3) Dürr, 2014, S. 204 4) Althaus / Glaser / Schmidt, 2016 5) Hugentobler, 2013, S. 15–19 6) Statistik Stadt Zürich, 2016, Präsidialdepartement 7) Swissinfo.ch, 2016, http://www.swissinfo.ch/ger/in-zahlen_woher-stammen- die-zwei-millionen-auslaender-in-der-schweiz-/41942184 8) Bundesamt für Statistik: Integration. Messung der Integration in der Schweiz. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/ migration-integration/integration.html (2. Januar 2017) 9) Statistik Stadt Zürich, 2016 10) Statistik Stadt Zürich, 2013. Wohnungsmiete (Mietpreisindex), Zürich 11) Wohnbaugenossenschaften Schweiz, 2014. Medienmitteilung, Zürich 9. Januar 2014. http://www.wohnungspolitik-schweiz.ch/data/ Medienmitteilung_WBG_Schweiz_2014_01_09_mit_Praezisie_9726.pdf 12) Schweizerischer Verband für Wohnungswesen, Sektion Zürich und Finanzdepartement Stadt Zürich (Hrsg.) (2007): 100 Jahre mehr als Wohnen. Genossenschaften und Stadt Zürich. Argumente und Fakten, Zürich, S. 11, 14 13) Kälin, Adi. I (2013). Immer weniger subventionierte Wohnungen. Neue Zürcher Zeitung, 27.11. 14) Im Auftrag des BSV erarbeitet das ETH Wohnforum – ETH CASE gemeinsam mit Ernst Basler Partner seit Oktober 2016 eine Hilfestellung für Kantone, Städte und Gemeinden zu Angeboten der Unterstützung im Wohnen für sozial benachteiligte Menschen. Die Broschüre wird 2018 veröffentlicht. 15) Ablesbar am steigenden Anteil der an diese Gruppe vermittelten Wohnungen: 37 % im Jahr 2015; 22 % im Jahr 2014. Vgl. Jahresbericht Domicil, 2016 16) www.domicilwohnen.ch 17) Gemäß Jahresbericht Domicil, 2014: insgesamt 781 laufende Mietverträge (559 Solidarhaftung, 222 Untermietverträge) 18) Tätigkeitsbericht Domicil, 2013, S. 7 19) Statistik Stadt Zürich, 2015 20) Barandun, 2012, S. 9; S. 24–40 21) Das Projekt wurde vom Bundesamt für Wohnungswesen finanziell unterstützt und in dessen Auftrag evaluiert. Vgl. Barandun, 2012, S. 10 22) Gesamtkosten des Projekts rund CHF 250.000; Projektdauer Juli 2004 bis Dezember 2006. Vgl. Barandun, 2012, S. 27–28 23) Barandun, 2012, S. 24–42 24) Rund 8 % stammten aus EU-Staaten, mehr als ein Fünftel (22 %) aus europäischen nicht EU-Staaten und rund ein Drittel aus 22 weiteren Ländern der Welt. Vgl. Althaus, 2010, S. 19 25) Im Auftrag des Bundesamts für Wohnungswesen führte die Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit eine Begleitforschung zu diesem Projekt durch. Die hier zusammengefassten Informationen sind größtenteils diesem Bericht entnommen. Vgl. Althaus, 2010 26) Boudet, 2016, S. 17–22 27) Hugentobler / Hofer / Simmendinger, 2016
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28) Vgl. Website mehr als wohnen: https://www.mehralswohnen.ch/ hunziker-areal/quartierteil/ 29) Heye / Fuchs, S. 126 30) Strebel, 2015 31) Brech / Feigelfeld in diesem Buch
Literatur Althaus, Eveline (2010). Konfliktprävention in der Siedlung Brunnenhof, Zürich. Bern, BFH Soziale Arbeit. https://www.soziale-arbeit.bfh.ch/uploads/ tx_frppublikationen/BFH_Brunnenhof_Schlussbericht.pdf. Althaus, Eveline / Glaser, Marie / Schmid, Michaela (2016). Nicht-monetäre Dienstleistungen im Bereich Wohnen für armutsgefährdete und -betroffene Menschen. Eine Untersuchung von staatlichen und nicht-staatlichen Angeboten im Rahmen des Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV (Hrsg.), Beiträge zur sozialen Sicherheit. Bern, BSV Barandun, Katharina, Hrsg. (2012). Partizipation in interkulturellen Siedlungen. Erfolg durch Väterbeteiligung. Zürich, Seismo Verlag Bieri, Cordula / Elmiger, Max, Hrsg. (2013). Prekäre Wohnverhältnisse und ihre gesellschaftlichen Folgen, in: Caritas Zürich (Hrsg.). Zu wenig Wohnung!, (S. 6–9). Zürich, Caritas Boudet, Dominique (2016). Zürich: mehr als wohnen. Die wiedergefundene Dynamik der Wohnbaugenossenschaften. In: Hugentobler / Hofer / Simmendinger (Hrsg.). mehr als wohnen. Genossenschaftlich planen – ein Modellfall aus Zürich. (S. 17–22). Basel, Birkhäuser Verlag Caritas, Hrsg. (2014). Sozialalmanach 2014, Schwerpunkt: Unter einem Dach. Luzern, Caritas Verlag Stiftung Domicil (2013). Tätigkeitsbericht. Zürich Stiftung Domicil (2014). Jahresbericht. Zürich Stiftung Domicil (2016). Jahresbericht. Zürich Dürr, Annalis (2014). Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne Wohnung ist alles nichts. In: Caritas, Hrsg. Sozialalmanach 2014. Schwerpunkt: Unter einem Dach. (S. 195–210). Luzern, Caritas Verlag
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Glaser, Marie (2009). Wohnen im Wandel. In: Eberle / Glaser (Hrsg.). Wohnen – Im Wechselspiel zwischen öffentlich und privat. (S. 60–67). Zürich, Niggli Verlag Gysi, Susanne (2009). Zwischen ‚Lifestyle‘ und Wohnbedarf. Was der Mensch zum Wohnen braucht. In: Eberle / Glaser (Hrsg.). Wohnen – Im Wechselspiel zwischen öffentlich und privat. (S. 10–23). Zürich, Niggli Verlag Heye, Corinna / Fuchs, Sarah (2016). Bewohnerschaft und Bewerbungen im Hunziker Areal. In: Hugentobler / Hofer / Simmendinger (Hrsg.). mehr als wohnen. Genossenschaftlich planen – ein Modellfall aus Zürich. (S. 117–132). Basel, Birkhäuser Verlag Hugentobler, Margrit / Hofer, Andreas / Simmendinger, Pia, Hrsg. (2014). Sozialalmanach 2014, Schwerpunkt: Unter einem Dach. Luzern, Caritas Verlag Hugentobler, Margrit (2013). Zürich: Was tun, wenn Wohnraum knapp und teuer ist. Raumplanung Fachzeitschrift für räumliche Planung und Forschung, 169 (4), 15–19. Strebel, Ignaz, Hrsg. (2014). Hauswartung. Für Bauten und Bewohnerschaft, Edition Wohnen Band 4. Basel, Birkhäuser Verlag Swietlik, Iwona (2014). Ohne Wohnung ist alles nichts. Reportage: Wohnen und Armut. In: Caritas ‚Menschen‘ 02/14, 5–12.
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Wohnen im städtischen Wandel AUGUST GÄCHTER Veränderungen in der sozialen Homogenität Wiens
Wenn man heute von Einwanderung spricht, denkt man meist an die Zeit seit 1961, aber die heutige Bevölkerung Wiens beruht selbstverständlich auf einer viel längeren Zuzugsgeschichte. Illustrieren lässt sich das anhand der Ergebnisse der Volkszählung von Mai 1971. Damals wohnten in Wien 202.940 im Ausland geborene Personen (und 44.550, deren der Geburtsort unbekannt war), aber lediglich 61.569 Personen ohne österreichische Staatsangehörigkeit. Das heißt, dass ein sehr großer Teil der im Ausland geborenen Bevölkerung österreichische Staatsangehörige geworden waren. Einbürgerungen erfolgten vor allem zwischen 1945 und 1955, insbesondere gleich in den ersten Jahren nach dem Krieg. Sie betrafen Personen, die selbst oder deren Eltern vor 1925 zugezogen waren, vor allem zwischen 1860 und 1914. Durch den Zuzug der vorangegangenen fünfzig Jahre hatte Wien 1910 eine Bevölkerung von rund zwei Millionen, 35 % bis 40 % davon waren von außerhalb des heutigen Österreich (John/Lichtblau 1993: 15) und nicht deutschsprachig. Viele waren Landflüchtlinge aus Böhmen und Ungarn, ungebildet und bettelarm. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten sie in Wien kein Heimatrecht und folglich keinen Anspruch auf jedwede soziale Unterstützung, nach dem Ersten Weltkrieg waren ihre Herkunftsgebiete in neuen unabhängigen Staaten und sie selbst Ausländer. Ab 1925 galt das Inlandarbeiterschutzgesetz, das weiteren legalen Zuzug von Arbeitskräften weitgehend unterband, indem es ihre Beschäftigung verunmöglichte. Es dauerte danach bis etwa 1980, bis ein „böhmischer“ Name in Wien kein Stigma mehr trug. Ein Indiz dafür ist, dass um diese Zeit das „Meidlinger L“ folklorisiert wurde – das heißt, es wurde nicht mehr als slawisch erkannt, sondern als einheimische Eigentümlichkeit zelebriert. Bis 1980 – das sind typischerweise drei Generationen – dauerte es, bis eine neu zugezogene, aus der Landwirtschaft stammende Bevölkerung städtisch assimiliert war. Wesentlich dafür war, dass die Kinder der Einwanderer jedenfalls die Pflichtschule in Österreich absolvierten und sehr oft auch zumindest einen Lehrabschluss erreichten, und
Gächter / Wohnen im städtischen Wandel
Es dauerte, bis ein böhmischer Name kein Stigma mehr trug
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dass die Enkel in den 1960er und 1970er Jahren dieselben Bildungsabschlüsse erreichten, wie die übrige im Inland aufgewachsene Bevölkerung. Sie kamen dann auch annähernd in dieselben Berufe, waren oft Angestellte, wurden im öffentlichen Dienst präsent und begannen in den Betrieben, Verbänden und Parteien aufzusteigen. Die Enkel hatten somit den Aufstieg in die Mittelschicht vollendet, den bereits ihre Eltern angestrebt hatten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass drei, vier Generationen zurückliegender Zuzug in Vergessenheit gerät und sogar zum Tabu wird.
Sozialer Aufstieg führt in den Neubau Die Ankunft in der Mittelschicht manifestierte sich auch in entsprechenden Ansprüchen an die Wohnsituation. Unter den 2015 noch bestehenden Mietverträgen, die in den 1980er und 1990er Jahren abgeschlossen wurden, spielen Nutzungsverträge mit gemeinnützigen Bauträgern eine größere Rolle als zu anderen Zeiten. Viele zogen damals in Neubauten in den Außenbezirken, in denen sie auch heute noch wohnen. Mit dabei waren vermutlich die Enkel und Urenkel der Landflüchtlinge von vor 1925. Das war ihre Wohnankunft in der Mittelschicht, nachdem sie zuvor in Hinsicht auf Bildung und Berufe die damaligen Mittelschicht-Standards erreicht hatten. Die günstigen wirtschaftlichen Bedingungen der 1960er und 1970er Jahre beflügelten das Vorankommen zwar in einer Weise, wie das für heutige Einwanderer und ihre Kinder nicht mehr der Fall ist, aber das Stigma der ethnischen Herkunft im Bildungswesen, im Beschäftigungswesen und im öffentlichen Raum abzuwehren bzw. auszuhalten und sich davon nicht beirren zu lassen, Einzug in war gerade so herausfordernd, wie es heute ist. In die Neubauten zu Neubauten ziehen war daher insofern ein Risiko, aber zugleich ließ sich organisieteils ein Risiko ren, dass miteinander bereits bekannte Haushalte auf dieselbe Adresse zogen, sodass man quasi die bestehende „Parallelgesellschaft“ in Teilen mitnehmen und sich so in Sicherheit begeben konnte.
Bewohnerschaft gemeinnütziger Wohnbauten
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2014–2015 waren 78 % der Bewohnerschaft der gemeinnützig errichteten Wohnbauten, deren Nutzungsvertrag aus der Zeit bis 1990 stammte, und die nicht als Kinder mit den Eltern zusammenlebte, entweder Angestellte, Vertragsbedienstete oder Beamte (oder waren es in ihrer aktiven Zeit gewesen). Dieser Prozentsatz ist dabei, sich
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allmählich zu erhöhen. 2008–2009 lag er noch bei 77 %, was an der längeren Lebenserwartung von höher Gebildeten liegen kann (Klotz/ Asamer 2014). Arbeiter sowie selbständig Erwerbstätige mit oder ohne Beschäftigte und Personen, die nie beschäftigt gewesen sind, spielen in den gemeinnützig errichteten Wohnbauten eine geringere Rolle als sonst am Wohnungsmarkt. Arbeiterinnen und Arbeiter machten 2014–2015 an der Bevölkerung mit Nutzungsverträgen bis 1990 11 %, an allen später eingegangenen Verträgen zwischen 16 % und 18 % aus. Von der beruflichen Stellung her herrscht somit ein hohes Maß an Homogenität. Davon kann es im Einzelfall Ausnahmen geben, insgesamt jedoch muss man bei jedem gemeinnützig errichteten Wohnbau in Wien damit rechnen, auf einen hohen Anteil an Angestellten und/oder öffentlich Bediensteten zu treffen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn bedingt durch die Finanzierungsstruktur sind sie auf Haushalte ausgerichtet, die durch ihre Einkommensverhältnisse zu kontinuierlichem Sparen in der Lage sind, also eine entsprechend sichere Beschäftigungslage aufweisen. Die Bildung der Bewohnerschaft ist nicht ganz so homogen, hat aber im Vergleich zum freien Markt einen hohen Anteil an Lehrabschlüssen und berufsbildenden Schulen ohne Matura sowie einen niedrigen Anteil an Hochschulabschlüssen. In den gemeinnützig errichteten Wohnbauten ist der Anteil mit BHS-Matura größer als jener mit AHS-Matura, während es bei den privaten Mietverträgen umgekehrt ist. Es liegt somit Relativ starke insgesamt eine relativ starke Orientierung auf Berufsabschlüsse vor, die Orientierung auf typischerweise im Alter zwischen 17 und 20 Jahren gemacht werden, Berufsabschlüsse während allgemeinbildende und Hochschulabschlüsse vergleichsweise selten sind. 68 % der erwachsenen Bevölkerung mit Nutzungsverträgen bis 1990 hatte 2014–2015 eine berufliche Ausbildung zwischen Lehre und BHS-Matura. Dieser Anteil war ähnlich hoch wie in den Gemeindebauten (67 %), aber den Bewohnern der Gemeinnützigen war die Verwertung dieser Ausbildungen besser gelungen. Im Jahr 2014 waren 42 % der erwachsenen, bis 1990 in den gemeinnützigen Wohnbau eingezogenen Bevölkerung Bildungsaufsteiger – also Menschen mit gutem, kontinuierlichem Einkommen, aber ohne große Erbschaften. Der Vergleichswert bei privaten Mietverhältnissen beträgt nur 33 % und bei der Gemeinde 27 %. Die nach 1990 eingezogene Bevölkerung bestand nur mehr zu 33 % aus Bildungsaufsteigern und unterschied sich damit auch kaum mehr von den anderen Marktsegmenten. Insgesamt zeichnet sich von der bis 1990 in die gemeinnützig errichteten Wohnbauten eingezogenen Bevölkerung das Bild einer Mittelschicht, die zu erheblichem Teil aus ärmlichen Verhältnissen stammte und die nach den Erfahrungen, die sie als Einwanderer
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und deren Kinder gemacht hatten, sicherlich bemüht war, die Merkmale dieser Vergangenheit so weit wie möglich abzustreifen. Aus einem solchen Bemühen entsteht oftmals ein besonders intolerantes Verhalten gegenüber all jenen, die solche Merkmale (noch) tragen – also die Begleiterscheinungen von Armut, zu denen häufig auch Herkunft aus dem Ausland, Sprechweise und Akzent gehören. Der ungewöhnlich hohe Prozentsatz an Bildungsaufsteigern dürfte zudem mit einem Selbstbild des „Self-made Man“ einhergehen, dem im Gegensatz zu den Späteren nichts in die Wiege gelegt worden sei.
Einwanderung und Rechtsstellung
Einbürgerung – ein Instrument zur Verbesserung der Wohnsituation
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In die oben beschriebene Lage hinein ereignete sich die faktische Niederlassung der Gastarbeiterinnen bzw. Gastarbeiter und ihrer Familien ab Mitte der 1970er Jahre. Fluchtereignisse, so groß sie auch waren, trugen damals nur relativ wenig zur niedergelassenen Bevölkerung bei. Ende 1973 brach der Nachkriegsboom ab und in der Folge wurde 1976 das Ausländerbeschäftigungsgesetz in Kraft gesetzt. In den Jahren 1974 und 1975 begann der Familiennachzug merkbare Dimensionen anzunehmen, auch wenn er oft rechtlich prekär war. Er ist seitdem fast immer die dominante Komponente des Zuzugs aus dem Ausland gewesen. Das wirkte sich auf den Wohnraumbedarf aus. Ab Mitte 1993 galten bei den Quadratmetern pro Kopf gesetzliche Mindesterfordernisse für die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Diese erwiesen sich in der Praxis zwar als kaum administrierbar, aber seither ist die Wohnsituation nie ganz aus der Aufmerksamkeit der fremdenrechtlichen Behörden verschwunden. Auch für die Einbürgerung waren sie nie völlig irrelevant, allerdings mit bedeutsamen Unterschieden zwischen den Bundesländern. In Wien war die Einbürgerung von 1987 bis 1997 ein Instrument zur Verbesserung der Wohnsituation, indem die Verleihung der österreichischen Staatsangehörigkeit den Zugang zu Wohnungen der Gemeinde ermöglichte. Ab 1998 besaß Wien den gesetzlichen Spielraum dafür nicht mehr und behalf sich mit der Bereitstellung einer größeren Zahl sogenannter Notfallwohnungen. Ab 2005 schließlich war – einer EU-Richtlinie entsprechend – nach fünf Jahren Niederlassung Nicht-EU-Staatsangehörigkeit kein Hindernis mehr. Die rechtlichen Vorgaben und deren Interpretation durch die Behörden erwiesen sich als folgenreich für die Verteilung der eingewanderten Bevölkerung über die Wohnbausegmente in Wien. Ob und wie sie sich auch auf den Wohnstandard ausgewirkt haben, ist bislang nicht
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erforscht. Angenommen wird stets, dass die Öffnung der stärker politiknahen Segmente des Wohnungsmarkts zu einer Verbesserung der Wohnsituation geführt habe. Man sollte aber nicht übersehen, dass Umzüge aus privaten in gemeinnützige oder kommunale Mietverhältnisse nichts darüber aussagen, was anschließend mit den frei gewor denen privaten Mietwohnungen geschieht. Die Umzüge der einen in bessere Wohnungen machen die frei werdenden nicht inexistent, sondern frei für neue Bewohner.
„Migrationshintergrund“ und „Generation“ Der Ausdruck „Migrationshintergrund“ ist zwar gebräuchlich geword en, hat jedoch keine einheitliche Bedeutung. Man kann sich, wenn er vorkommt, nicht sicher sein, was gemeint ist, was auch immer wieder zu erheblichen Missverständnissen führt. Um Konfusion zu vermeiden, wird er in diesem Beitrag daher nicht verwendet, sondern dadurch ersetzt, was jeweils präzise gemeint ist. Das kann im einen Fall die Staatsbürgerschaft sein, im anderen der Geburtsstaat, in einem dritten die Geburtsstaaten der Eltern, in einem vierten der Bildungsstaat, in einem fünften das Alter bei Aufenthaltsbeginn oder aber eine Kombination der fünf Merkmale. Entscheidend ist die sachliche Relevanz, und diese wechselt, denn zum Beispiel zählt für den Grund erwerb die Staatsbürgerschaft, während der Geburtsort und alles andere gleichgültig ist. Für die Deutschkenntnisse zählt vor allem das Alter bei Aufenthaltsbeginn, während die Staatsangehörigkeit bedeutungslos ist usw. Dieselbe Herausforderung ergibt sich beim Wort „Generation“ zumindest in zweifacher Hinsicht. Erstens wird es ebenfalls in einer ganzen Reihe verschiedener Bedeutungen verwendet und zweitens gibt es eine große Vielfalt der Abgrenzungen von „Migrationsgenerationen“, sodass sich auch hier das eigentlich Gemeinte nur durch genaues Studium des Kleingedruckten oder der Originalquellen erschließt. Daraus haben sich schon die wunderlichsten Blüten ergeben. Die Rede von den Generationen suggeriert unter anderem, die „erste Generation“ sei älter als die „zweite“, aber dem ist nicht so. In Wien gibt es zu allen Zeiten im Alter von etwa 25 Jahren gleich viele Einwanderinnen bzw. Einwanderer wie Kinder von Einwanderern – also gleich viel „erste Generation“ wie „zweite“. Umstandslos von „Genera tionen“ ist daher nur dann die Rede, wenn es sich um Großeltern, Eltern und Kinder handelt.
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Entscheidend ist jeweils die sachliche Relevanz
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Verlauf der Einwanderung seit 1961
Verringerung der Bevölkerungsdichte, angenehme Nebenwirkungen
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Wien nahm an der Anwerbung von Gastarbeitern nicht sehr intensiv teil. Stattdessen wurden auf Bundeskosten strahlenförmig Straßen in die Agrargebiete Niederösterreichs und des Burgenlands gebaut. Dadurch konnten Hilfs- und Anlerntätigkeiten bis in die 1980er Jahre zu erheblichen Teilen mit Pendlern besetzt werden. Das hatte den Vorteil, dass weder Wohnungen gebaut noch die städtische Infrastruktur ausgebaut werden mussten. Zudem ermöglichte es der städtischen Bevölkerung den Wegzug ins Umland ohne den Arbeitsplatz in Wien aufgeben zu müssen. Da auch die Wohnungen in der Stadt vielfach nicht aufgegeben wurden, ergab sich eine gewisse Verringerung der Bevölkerungsdichte mit angenehmen Nebeneffekten für die Lebensqualität auch jener, die nicht ins Umland zogen. Für die Veränderung der Wohnbevölkerung Wiens und ihre Zusammensetzung sind nicht nur die Zuzüge aus dem Ausland relevant, sondern auch die Zuzüge aus den Bundesländern und die Wegzüge in die Bundesländer und in das Ausland. Bei der Volkszählung 1961 lebten in Wien nur rund 24.000 Personen ohne österreichische Staatsangehörigkeit (1,5 %), knapp halb so viele wie 1951 (3,0 %). Im Vergleich zu allen früheren und späteren Volkszählungen war das ein Tiefpunkt. Zugleich erlebte Wien 1961 mit ein wenig mehr als 1,6 Millionen den Nachkriegshöhepunkt an österreichischen Staatsangehörigen. Bis 1971 nahm die Bevölkerung ohne österreichische Staatsangehörigkeit um rund 37.500 auf annähernd 62.000 zu (3,8 %), gleichzeitig jene mit österreichischer Staatsangehörigkeit um rund 45.000 ab. In den 1970er Jahren intensivierte sich beides, denn sowohl nahmen die ausländischen Staatsangehörigen um 52.000 auf rund 113.000 zu (7,4 %) als auch die österreichischen um 140.000 ab. Letzteres hatte wohl mit Todesfällen zu tun, aber mehr mit gesunkenen Geburtenzahlen und mit der an Dynamik gewinnenden Absetzbewegung in das Umland sowie außerdem mit den nur schwer erfüllbaren Einbürgerungsvoraussetzungen. In den 1980er Jahren nahm die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen rascher zu als zuvor, nämlich um rund 83.000 auf annähernd 197.000 (12,8 %), aber die Zahl der österreichischen Staatsangehörigen sank um nur mehr etwa 75.000. Die größere Zunahme hatte viel mit Familiennachzug zu tun, teils mit Arbeitsmigration und im Herbst 1981 sowie 1989–1991 auch mit Flüchtlingsbewegungen. Dass sich der Rückgang der österreichischen Staatsangehörigen fast halbierte, hing vermutlich nicht zuletzt mit der Wohnbauerschließung der Außenbezirke zusammen. Der Zuwachs an ausländischen Staatsangehörigen in den 1990er Jahren war fast genau gleich groß wie in den 1970er Jahren, sodass
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bei der Volkszählung im Mai 2001 etwas über 248.000 gezählt wurden (16,0 %). Der Rückgang der österreichischen Staatsangehörigen betrug nur mehr etwa 41.000, sodass 2001 fast genau 1,3 Millionen gezählt wurden. In den 1990er Jahren spielten aber die Einbürgerungen eine wichtige Rolle, wodurch sowohl der Zuwachs an ausländischen als auch die Verringerung der österreichischen Staatsangehörigen gebremst wurde. Die Zahl der im Ausland Geborenen betrug 2001 etwas über 366.000 (23,6 %) im Vergleich zu 1.184.000 im Inland Geborenen, und 401.000 Personen (25,9 %) waren entweder im Ausland geboren oder hatten nicht die österreichische Staatsangehörigkeit. Die Volkszählung 2001 war auch der Auftakt zur Schaffung des Bevölkerungsregisters. In Veröffentlichungen, die auf dessen Daten beruhen, wird der Ausdruck „Migrationshintergrund“ üblicherweise für alle jene verwendet, die entweder im Ausland geboren wurden oder nicht die österreichische Staatsangehörigkeit besitzen. Im Durchschnitt der Jahre 2014 und 2015 waren in Wien rund 36 % der in Privathaushalten lebenden Bevölkerung entweder nicht in Österreich geboren oder ohne österreichische Staatsangehörigkeit (21 % beides, 11 % nur österreichische Staatsangehörigkeit, 4 % nur Geburt in Österreich). Diese Angaben stammen aus dem Mikrozensus, nicht aus dem Bevölkerungsregister und lassen sich daher weiter aufschlüsseln. Es zeigt sich, dass unter den übrigen 64 %, die sowohl in Österreich geboren wurden als auch österreichische Staatsangehörigkeit besaßen, bei 8 % beide und bei weiteren 8 % ein Elternteil im Ausland geboren war. Zählt man diese 16 % zu den 36 % dazu, so ergeben sich 52 %. Gut die Hälfte der Bevölkerung Wiens waren demnach Einwanderer oder die Kinder von Einwanderern. Das ist seit Jahresbeginn 2014 so, im Durchschnitt von 2008-2009 waren es noch 45 % gewesen.
Volkszählung 2001 – Auftakt zur Schaffung des Bevölkerungsregisters
Eingewanderte Bevölkerung am Wohnungsmarkt Als in den Statistischen Nachrichten erstmals über die „Wohnsituation der Gastarbeiter“ berichtet wurde, hob Kurt Klein (1986) hervor, dass diese häufig in älteren, kleineren, überbelegten, sanitär schlecht ausgestatteten Miet- oder Hausbesorgerwohnungen untergebracht waren, dabei aber nicht billig wohnten. Laut Häuser- und Wohnungszählung (HWZ) bzw. Volkszählung 1981 gab es in Wien 27.441 Wohnungen, bei denen die als Wohnungsvorstand bestimmte Person jugoslawische oder türkische Staatsangehörigkeit hatte, kurz „Gastarbeiterwohnungen“. Davon waren 90,7 % bis 1918 erbaut worden, 5,8 % bis 1960 und 3,5 % ab 1961 (Klein 1986: 915). In Wien waren 73,7 % der Gastarbeiterwohnungen,
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Kontakt als Mittel gegen überschießende Vorurteile
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über die Informationen zur Ausstattung vorlagen, mit WC am Gang, teils auch mit Wasser am Gang, 10,8 % mit WC, aber ohne Bad, und 15,5 % mit Bad (Klein 1986: 916). 55,7 % waren Mietwohnungen und 36,1 % Dienstoder Naturalwohnungen (letztere häufig Hausbesorgerwohnungen und fast nur an jugoslawische Ehepaare vergeben). Eigentum machte etwa 3 % aus, „Genossenschaftswohnungen“ nur 0,5 % (Klein 1986: 917). Das Problem damals lag einerseits in dem schlechten Wohnstandard, aber mehr noch in der Rechtfertigung, er entspreche den Wünschen und dem gewohnten Standard der „Gastarbeiter“. Die Konzentration in Substandardwohnungen hatte zwar nicht zur Folge, dass Gebiete entstanden wären, in denen nur mehr eingewanderte Bevölkerung gewohnt hätte, denn auch beträchtliche Teile besonders der älteren ansässigen Bevölkerung wohnten ebenfalls noch in Substandard. Aber in dem Maß, wie die damaligen, inländischen Jungfamilien in Neubaugebiete zogen, entwichen sie auch jeglichem Kontakt mit der eingewanderten Bevölkerung. Kontakt – nicht unbedingt im Sinne persönlichen Gesprächs, aber zumindest alltäglicher visueller – ist jedoch das eine einigermaßen verlässliche Mittel gegen überschießende Vorurteile und Befürchtungen (Pettigrew/Tropp 2006; Asbrock u. a. 2012). Aus der durch den Umzug entstandenen räumlichen Distanz betrachtet erschienen die minderwertigen Wohnverhältnisse der eingewanderten Bevölkerung, als ob sie ein wahrer Ausdruck von deren eigener unabänderlicher Minderwertigkeit wären. Verständlicherweise entstand daraus in der Folge Widerstand gegen das Zusammenleben mit eingewanderten Familien im eigenen Haus, besonders in jenen Wohnbausegmenten, in denen die Präsenz von eingewanderten Haushalten in den 1980er Jahren besonders gering war. Einen Vorteil hatte dies alles für die wachsende Zahl an Studierenden aus den Bundesländern. Sie erschienen Hauseigentümern, Hausverwaltungen und besonders Wohnungsnachbarn oft als das kleinere Übel, was ihnen den Zugang zu Wohnraum zu leistbaren Preisen erleichterte. Die Wohnsituation der eingewanderten Bevölkerung hat sich seither erheblich geändert, wenn auch auffällige Disparitäten verbleiben. 2014–2015 wohnten nicht mehr 91 %, aber noch immer rund 37 % der Haushaltsreferenzpersonen mit im früheren Jugoslawien oder der Türkei beendetem Bildungsverlauf in Häusern, die vor 1919 errichtet worden waren, wobei der Anteil aus der Türkei nach einem starken Rückgang nur mehr 24 %, aus dem ehemaligen Jugoslawien aber 41 % betrug. 24 % war auch der Anteil bei den Haushalten, deren Referenzperson den Ausbildungsverlauf in Österreich beendet hatte. Hatten 1981 84,5 % der „Gastarbeiterwohnungen“ in Wien kein Bad, so traf dasselbe 2014–2015 auf nur mehr rund 10 % der Wohnungen von Drittstaatsangehörigen zu. 2008–2009 waren es noch 15 % gewesen.
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In gemeinnützig errichteten Wohnungen spielt die eingewanderte, nicht eingebürgerte Bevölkerung eine relativ geringe Rolle, die schon seit mindestens drei Generationen in Österreich ansässige Bevölkerung aber eine besonders große. Dazwischen befinden sich die Kinder von Einwanderinnen und Einwanderern, gleich ob sie noch im elterlichen Haushalt wohnen oder bereits erwachsen und in eigenen Haushalten. Sie bestreiten in gemeinnützig errichteten Wohnungen den gleichen Anteil wie in privat vermieteten Wohnungen. q Die im Ausland geborene Bevölkerung ohne österreichische Staatsangehörigkeit bestritt 2014 und 2015 rund 52 % der Bewohnerschaft von befristet, privat vermieteten Wohnungen, 29 % derjenigen von unbefristet, privat vermieteten Wohnungen, 16 % derjenigen von Wohnungen der Gemeinde und 13 % derjenigen von gemeinnützig errichteten Wohnungen.
q Umgekehrt machte die in Österreich geborene Bevölkerung mit österreichischer Staatsangehörigkeit und zwei in Österreich geborenen Elternteilen 30 % der Bewohnerschaft von befristet, privat vermieteten Wohnungen, 42 % derjenigen von unbefristet, privat vermieteten, 43 % derjenigen von Wohnungen der Gemeinde und 57 % derjenigen von gemeinnützig errichteten aus. q Personen, die im Inland geboren wurden, die aber entweder nicht die österreichische Staatsangehörigkeit haben oder deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, machten 10 % der Bewohnerschaft von befristet, privat vermieteten Wohnungen aus, 11 % derjenigen von unbefristet, privat vermieteten, 18 % derjenigen von Wohnungen der Gemeinde und 10 % derjenigen von gemeinnützig errichteten Wohnungen. q Die im Ausland geborene Bevölkerung mit österreichischer Staatsangehörigkeit, also vor allem Eingebürgerte, bestritt nur 5 % der Bewohnerschaft von befristet, privat vermieteten Wohnungen, 11 % derjenigen von unbefristet, privat vermieteten, 15 % derjenigen von Wohnungen der Gemeinde und 10 % derjenigen von gemeinnützig errichteten.
In den gemeinnützig errichteten Wohnungen kommt es dabei aber sehr auf das Jahr an, in dem der Vertrag abgeschlossen wurde. Je später, desto größer ist insbesondere der Anteil der Bevölkerung, die nicht in Österreich geboren wurde und nicht die österreichische Staatsange hörigkeit besitzt.
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Sichtlich verlief diese Steigerung graduell, aber wenn man einen Sprung zu größeren Anteilen sehen will, dann findet man ihn am ehesten um das Jahr 2000. Zum Teil liegen die geringen heute noch beobachtbaren Anteile der Vergangenheit daran, dass Leute sich einbürgern lassen konnten. Wahrscheinlich ist aber, dass die Einbürgerung vor dem Vertrag mit dem gemeinnützigen Bauträger kam und nicht erst danach. Dass der Sprung gerade um das Jahr 2000 stattfand, kann seine Änderung im Ursache in der Fremdenrechtsänderung haben, die ab Jahresbeginn Fremdenrecht 1998 galt. Von diesem Zeitpunkt an besaßen Drittstaatsangehörige mit ab 1998 mehr als acht Jahren Niederlassung sogenannte „Aufenthaltsverfestigung“ – sie konnten erstmals mehr oder minder selbst darüber bestimmen, ob sie weiter in Österreich leben wollten oder nicht. Damit war der Gastarbeiterstatus beendet und der Illusion, die betroffene Bevölkerung würde sich wieder auflösen, jede Grundlage entzogen. Insbesondere für die Kommunen, in der Folge aber auch für die Landesregierungen, wurde daher die Integration der eingewanderten Bevölkerung unumgänglich, und das eben auch in Bezug auf die Wohnsituation. Es gibt einen Aspekt der Niederlassung, in dem sich die Wohnbausegmente nur wenig voneinander unterscheiden, und zwar die Häufigkeiten „gemischter“ Partnerschaften. Eheliche und nichtehe liche Partnerschaften mit gemeinsamem Haushalt, in denen nur ein Teil den Ausbildungsverlauf in Österreich beendet hatte, der andere aber im Ausland, machten 2014–2015 in den gemeinnützig errichteten Wohnbauten 20 % aller Partnerschaften aus, in Gemeindewohnungen und unbefristeten privaten Mietverhältnissen 21 % und in befristeten Mietverhältnissen 18 %. Solche Partnerschaften waren in gemeinnützig errichteten Wohnbauten besonders unter den Verträgen aus den 2000er Jahren häufig (26 %), während sie unter den Verträgen der 2010er Jahre 22 %, unter jenen aus den 1990er Jahren 17 % und unter jenen bis 1990 rund 10 % ausmachten. Erklärbar ist der verhältnismäßig moderate Anteil an eingewanderter Bevölkerung in den gemeinnützig errichteten Wohnbauten teilweise durch ihre Konzentration auf Angestellte und öffentlich Bedienstete mit relativ sicheren Einkommen, denn die Bevölkerung Wiens, die nicht die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, übte 2014–2015 nur zu 43 % solche Berufe aus, die im Ausland geborene mit österreichischer Staatsangehörigkeit zu 51 %. Von der im Inland geborenen, erwachsenen Bevölkerung mit österreichischer Staatsangehörigkeit sind hingegen zwischen 71 % und 74 % Angestellte, Vertragsbedienstete oder Beamte, gleich ob beide Elternteile, ein Elternteil oder kein Elternteil in Österreich geboren wurde. Zum Teil erklärbar ist dies eventuell auch durch die Bildung. Die für den gemeinnützigen Wohnbau typischen Ausbildungen, also berufliche
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Abschlüsse von der Lehre bis zur Matura, sind in der eingewanderten Bevölkerung weit weniger häufig vertreten als in der einheimischen. Unter den erwachsenen, im Ausland geborenen ausländischen Staatsangehörigen machten sie 2014–2015 34 % aus im Vergleich zu 57 % unter den im Inland geborenen Staatsangehörigen mit im Inland geborenen Eltern. Unter den Eingebürgerten machten sie ebenfalls nur 37 % aus. Die Besonderheit der Bewohnerschaft gemeinnützig errichteter Wohnbauten liegt somit tatsächlich bei der beruflichen Positionierung, und auch, aber nicht so sehr, bei der Ausbildung.
Auflösung sozialer Homogenität? Für sich genommen ist Einwanderung zunächst nur eine demografische und allenfalls rechtliche Angelegenheit, aber noch keine soziale oder wirtschaftliche. Dazu wird sie erst durch ihre diesbezüglichen Merkmale und durch die Aufnahme, die diese Merkmale am Zielort über die kurze und die längere Frist erfahren. Da hier seit Beginn der Anwerbung 1961 oft große Differenzen bestanden oder nach der Ankunft in Österreich hervorgebracht wurden, stand die Erwartung im Raum, die dauerhafte Niederlassung von Einwanderern würde die in den 1980er Jahren bestehende relativ hohe soziale Homogenität der Bewohnerschaft der gemeinnützig errichteten Wohnbauten in Wien stören. Die Einwanderung war jedoch nicht der einzige Vorgang, der dazu beitragen konnte, denn auch unabhängig davon kann sich das soziale Umfeld verändern. So hat sich seit den 1980er Jahren das Ausbildungsangebot in Wien von Lehrabschlüssen weg zu Matura und Hochschulabschlüssen bewegt, der öffentliche Dienst ist nicht mehr gewachsen, die Angestelltenpositionen haben zu- und die Arbeiterstellungen abgenommen, das Wirtschaftswachstum ist zurückgegangen, das Pensionssystem wurde verändert u. a. m. Ein weiteres Element ist die Alterung der Bauten und ihrer Erstbewohnerschaft. Wohnungen in Häusern, die schon mindestens 20 Jahre alt sind, können nach und nach zum Marktobjekt für finanziell weniger gut ausgestattete Haushalte werden. Gleichzeitig muss man aber gerade bei gemeinnützig errichteten Wohnbauten aufgrund der langfristigen Finanzierung einen auf Dauer hohen Anteil an Bewohnern mit relativ sicheren Einkommen erwarten. Dieser quasi objektive Wandel ist das eine, die Art, wie er von den Bewohnern wahrgenommen, interpretiert und kommentiert wird, eine andere Sache. Der Ausgangspunkt der 1980er Jahre war, wie oben dargestellt, eine Bewohnerschaft in Angestellten- und Beamtenstellungen mit beruflich
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Einwanderung – nicht der einzige Vorgang für Änderungen
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Neue Kombinationen von Ausbildung und Beruf
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orientierten Abschlüssen der Sekundarstufe 2 (Lehrabschluss, berufsbildende Schulen ohne bzw. mit Matura). In den Jahren 2014 und 2015 traf das auf 55 % der bis 1990 in die gemeinnützig errichteten Wohnun gen eingezogenen Bevölkerung zu. Von den Erwachsenen, die in den 1990er Jahren in bis 1990 errichtete Wohnungen einzogen, wiesen aber nur mehr 48 % eine solche Kombination von Beruf und Ausbildung auf, die in den 2000er Jahren eingezogenen nur mehr 41 % und die in den 2010er Jahren eingezogenen nur mehr 39 %. Stattdessen waren zwei andere Kombinationen vermehrt vertreten: Eine war die Kombination von Angestellten-, Vertragsbediensteten- oder Beamtenposition mit AHS-Matura oder Hochschulabschluss, also eine Bevölkerung mit gleicher beruflicher Stellung. Die zweite häufiger werdende Kombination verband beruflich orientierte Ausbildungen mit Beschäftigung in Arbeiterberufen. Sie machte in der bis 1990 eingezogenen Bevölkerung nur 8 % aus, in der in den 1990er und 2000er Jahren eingezogenen aber 13 % und in den 2010er Jahren 17 %. Zusammen nahmen diese beiden Kombinationen in der bis 1990 eingezogenen Bevölkerung weniger als ein Viertel, in der ab 2011 eingezogenen aber mehr als ein Drittel aus. Weitgehend parallel verlief die Entwicklung bei in den 1990er Jahren neu errichteten gemeinnützigen Wohnbauten. Soweit in den Daten von 2014–2015 erkennbar, hatten 57 % der erwachsenen Erstbewohnerschaft eine berufliche Ausbildung auf Sekundarstufe 2 und übten eine Angestellten-, Vertragsbediensteten- oder Beamtenstellung aus. Die in den Folgejahrzehnten einziehende Bevölkerung wies dieselbe Kombination nur mehr zu 51 % bzw. 41 % auf. Die gleiche berufliche Stellung, aber AHS-Matura oder Hochschulabschluss, kam bei der noch in den 1990er Jahren eingezogenen Bewohnerschaft zu 15 % vor, in den Folgejahrzehnten aber jeweils zu 25 %, und die gleiche Ausbildung, aber Beschäftigung in Arbeiterberufen zu 8 % bzw. 9 % bzw. 11 %. Bei den bis 1990 und den in den 1990ern errichteten gemeinnützigen Wohnbauten tritt in den 2010er Jahren ein neues Phänomen auf, nämlich neu einziehende Bewohnerinnen und Bewohner mit AHS-Matura oder Hochschulabschluss, die in Arbeiterberufen tätig sind oder zuletzt waren. Dabei handelt es sich weitestgehend um Einwanderinnen und Einwanderer, die ihre im Ausland absolvierten Ausbildungen nicht adäquat verwerten können. Unter der ab 2011 in die 2001 bis 2010 errichteten gemeinnützigen Wohnbauten einziehenden Bewohnerschaft machten sie 7 % aus.
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Erwachsene Wohnbevölkerung
100 %
nach Wohnbausegment, Herkunft und Vertragsjahr
Gesamt
Bewohner der bis 2000 errichteten gemeinnützigen Wohnbauten
06
2001
ab 20
1997
1998 –
1988 –
bis 1 987
de
nützig e
Gem ein
Gem ein
te Mie
te . t bef ristet
0 %
Priva
Österreich Geburt & Stb. Österr., 1 Elternteil nicht Österr. Geburt & Stb. Österr., Eltern nicht Österr. Geburt in Österr., andere Staatsangehörigkeit Geburt im Ausland, österr. Staatsangehörigkeit Ausland
50 %
Priva
Wien, Durchschnitt 2014–2015
Gemeinnützige nach Vertragsjahr
Jahr des Vertragsabschlusses
100 %
nach Vertragsjahr, beruflicher Stellung und Ausbildung
Errichtet bis 1990
ab 20 11
–201 0 2001
2000 1991 –
ab 20 11
–201 0 2001
2000
0 %
1991 –
selbständig erwerbstätig höchstens Pflichtschule abgeschlossen ArbeiterInnen mit AHS-Matura oder Studium ArbeiterInnen mit Berufsausbildung bis Matura Angestellte mit AHS-Matura oder Studium Angestellte mit Berufsausbildung bis Matura
50 %
bis 1 990.
Wien, Durchschnitt 2014–2015
Errichtet 1991–2000
Aspekte zunehmender Entfremdung Es gibt noch weitere Aspekte, die zur Entfremdung zwischen der Erstbewohnerschaft und später Einziehenden beitragen. Einer davon ist das unterschiedliche Alter. Man kann das gut an der bis 1990 eingezogenen Bewohnerschaft sehen. Sie traten in den Arbeitsmarkt zu einer Zeit ein, als es selbst mit geringer Ausbildung relativ leicht war, Beschäftigung zu finden. Dass sich das geändert hat, ist für sie nie
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Verlustangst, eine der unangenehmsten Emotionen
spürbar geworden, weil sie als Angestellte und Beamte in relativ sicheren Stellungen waren. Zudem konnten viele noch relativ zeitig in Pension gehen. 2005-2006 waren sie noch zu etwa 34 % erwerbstätig und zu 59 % bereits nicht mehr. 2014-2015 waren nur mehr 23 % erwerbstätig und 70 % bereits inaktiv. Der hohe und steigende Anteil an bereits Pensionierten bedeutet, dass sie die Veränderungen in den Betrieben und Dienststellen nicht mehr erleben. Sie legen Maßstäbe von früher an. Der zweite altersbezogene Aspekt ist, dass 2014-2015 bereits fast ein Viertel (24 %) der bis 1990 eingezogenen erwachsenen Bewohnerschaft der gemeinnützig errichteten Wohnbauten in Haushalten lebt, in denen niemand unter 75 Jahre alt ist. In den Gemeindebauten war es ähnlich (23 %), während es am privaten Wohnungsmarkt nur 15 % betraf. Unter der in den 1990er Jahren eingezogenen Bewohnerschaft traf dasselbe nur auf 3 % bis 4 % zu, und zwar in allen Wohnbausegmenten, und unter den nach 2000 Eingezogenen auf nur rund 1 %. Das heißt, in den älteren Wohnbauten treffen die neu Einziehenden und ihre Kinder auf eine angestammte Bewohnerschaft, die bereits eine erhebliche Ferne zu Kindererziehung hat und mit den Schul- und Ausbildungssitten der letzten Jahrzehnte nicht mehr vertraut ist. Überdies hat sie möglicherweise eine Phase hinter sich, in der es im Haus relativ ruhig war, weil immer weniger der Parteien Kinder oder Jugendliche im Haushalt hatten. Wenn nun neu einziehende Haushalte wieder Kinder mit sich bringen, dann kann dies als Verlust erlebt werden oder jedenfalls Verlustängste erzeugen, also eine der unangenehmsten Emotionen überhaupt. In der Zusammenfassung wird deutlich, dass sich nicht nur die soziale Homogenität der 1980er Jahre auflöst, sondern die damalige demografische Homogenität – alle im Haus waren stets in derselben Lebensphase und hatten dieselben Erziehungs-, Schul- und Beziehungs probleme zu bewältigen.
Den Wandel bewältigen
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Mit einer solchen Situation zurechtzukommen, ist immer eine Heraus forderung und wird es umso mehr, je weniger Ressourcen zu ihrer Bewältigung zur Verfügung stehen. Wenn noch dazu kommt, dass das Gegenüber einen Akzent hat, kann die Lage als hoffnungslos erscheinen, denn Akzent hat vielfältige Auswirkungen, darunter vor allem auch – wie Experimente gezeigt haben – dass er unwillkürlich als Unglaubwürdigkeit erlebt wird. Das heißt, man ist nicht in der Lage, wechsel-
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seitiges Vertrauen aufzubauen (Lev-Ari/Keysar 2010; Pietraszewski/ Schwartz 2014; siehe Gächter 2016). Vor diesem Hintergrund wirkt es wenig überraschend, wenn 2013 in den gemeinnützig errichteten Wohnbauten nur 71 % der Befragten mit im Inland geborenen Eltern der Aussage mehr oder minder zustimmten: „Wenn zugewanderte Personen in unser Haus einziehen, habe ich persönlich damit kein Problem.“ In den anderen Wohnbausegmenten (Gemeindebau, Privatmiete, Eigentum, Sonstiges) lag die Zustimmung zwischen 85 % und 89 %. Ähnlich distanziert war der Umgang mit der Aussage: „In Wien gibt es viele Geschäfte, Restaurants und kulturelle Veranstaltungen von Zuwanderern. Das trägt zu einer höheren Lebensqualität in Wien bei.“ Dem stimmten ca. 85 % der Bewohnerschaft mit im Inland geborenen Eltern im Eigentum und in privater Miete mehr oder minder zu, jedoch nur rund 72 % der entsprechenden Befragten in Wohnungen der Gemeinde, von gemeinnützigen Bauträgern und in sonstigen Wohnungen (Verwiebe et al., 2015: 81). Dazu passt, dass die allgemeine Wohnzufriedenheit in den gemeinnützig errichteten Wohnbauten in Befragungen seit Mitte der 1990er Jahre stets sehr hoch war. Die Bewertung mit den Noten 1 oder 2 sank zwar von 1995 bis 2008 von 89 % auf 85 %, war aber 2013 wieder auf dem Niveau von 2003. Gerade hohe Wohnzufriedenheit kann Befürchtungen befeuern, sie durch den Wechsel der Bewohnerschaft nach und nach zu verlieren. Dass sie durch den stattfindenden Wandel hindurch 20 Jahre lang hoch geblieben ist, könnte Grund zu Optimismus sein – aber nur für jene, die sich zutrauen, mit den befürchteten oder tatsächlichen Herausforderungen des Wandels produktiv umgehen zu können. Es ist unter diesen Umständen gute Nachbarschaft zweifellos nicht einfach vorauszusetzen. Jedes Haus wird irgendwo auf einer Skala der Fähigkeit zur selbständigen Herstellung von guter Nachbarschaft rangieren. Das eine Extrem, die enge, selbstregulierende Hausgemeinschaft, ist eine Option, die vermehrt dann offen steht, wenn die Bewohnerschaft über relativ große soziale Kompetenz verfügt. Das andere Extrem ist, dass das Haus quasi öffentlicher Raum ist und Konflikte nicht anders vermieden oder bewältigt werden können als überall im öffentlichen Raum, das heißt individuell durch Ignorieren und durch Hinnahme des scheinbar Unvermeidlichen. Bis zu einem gewissen Punkt wird eine Bewohnerschaft noch in der Lage sein, selbst die Regeln zu finden, anzupassen und an erwachsen werdende oder neu einziehende Bewohner zu vermitteln. Aber je näher sich die Bewohnerschaft eines Hauses beim zweiten Extrem befindet, desto mehr braucht es eine zuverlässige, unparteiische, vor allem kompetent vermittelnde und im Ernstfall durchsetzungsfähige übergeordnete Instanz, um Frieden zu sichern.
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Hohe Wohnzufriedenheit kann auch Befürchtungen befeuern
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Ab etwa 2010 hat man diese Instanz mancherorts durch Über wachungskameras simuliert. Ein Ersatz für eine Verantwortlichkeit für die Vermittlung der Regeln, deren Einhaltung durch die Überwachung verbessert werden soll, ist das aber selbstverständlich nicht. Besonderes Augenmerk muss auf Jugendliche gelegt werden, die unter möglicherweise schwierigen Bedingungen leben. Erstens kann von ihnen nicht automatisch angenommen werden, sich die Regeln jemals bewusst gemacht zu haben, und zweitens sind sie erstmals im Leben in der Situation, ohne Aufsicht, also ohne fortwährende Anleitung, zu handeln. Sie kommen damit automatisch in eine Situation des „Aushandelns“, derer sie sich gewöhnlich erst sehr viel später bewusst werden. Die nähere Betrachtung führt vor Augen, dass es sich beim Bewohnerwechsel in einem Wohnbausegment, das zu einem bestimmten Zeitpunkt eine relativ homogene Bewohnerschaft hatte, um einen vielschichtigen Vorgang handelt. Die sich einstellende Heterogenität ist nicht nur eine der Herkunftsländer oder der Sprachen, sondern – ganz unabhängig davon – auch eine der beruflichen Stellung, der Ausbildung und dezidiert der Situation im Lebensverlauf. Es geht darum, Hausparteien persönlich kennenzulernen und Kanäle zu etablieren, damit nach dem Einzug auftretende Fragen, Vorbehalte und Vorhaltungen rasch geklärt werden können. Es kann durchaus sinnvoll sein, dafür eine Art Begleitung im Haus zu organisieren und ein Jahr lang aufrecht zu erhalten. Gefragt ist u. a. professionelles Personal in den Wohnungsunternehmen – Hausverwalter, Mediatoren, Hausbetreuer –, das immer wieder geschult werden muss, um mit neuen Entwicklungen Schritt zu halten (siehe hierzu detaillierte Ausführungen im vorliegenden Buchband). Für den Wohnbauträger bzw. die Hausverwaltung stellt sich zudem noch Heterogenität in dem Sinn ein, dass einst alle Häuser ähnlich funktionierten, im Bewohnerwechsel aber nicht blind darauf vertraut werden kann, dass dies weiterhin der Fall sein wird. Für eine handfeste Ursachendiagnose kann man sich auch nicht auf das Bauchgefühl der Hausverwaltung verlassen. Vielmehr wird es nützlich sein, vorhandene Daten über die Häuser einer sorgfältig durchdachten statistischen Analyse sowie qualitativen Monitorings zu unterziehen, wenn man vermeiden will, bestehende Schwierigkeiten noch zu vergrößern statt handhabbarer zu machen.
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Literatur Asbrock, Frank / Kauff, Mathias / Issmer, Christian / Christ, Oliver / Pettigrew, Thomas F. / Wagner, Ulrich (2012). Kontakt hilft – auch wenn die Politik es nicht immer leicht macht. In: Heitmeyer (Hrsg.) 2012: 199-219. Gächter, August (2016). Diversity Management als Antidiskriminierungsstrategie. In: Scherr u. a. (Hrsg.) 2016. Glasl, Friedrich (2011). Konfliktmanagement – Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. Bern, Stuttgart, Wien, Haupt Verlag. Stuttgart, Verlag Freies Geistesleben. Heitmeyer, Wilhelm, Hrsg. (2012). Deutsche Zustände. Folge 10; Berlin, Suhrkamp. John, Michael / Lichtblau, Albert (1993). Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, 2. Auflage; Böhlau. Klotz, Johannes / Asamer, Eva-Maria (2014). Bildungsspezifische Sterbetafeln 2006/2007 und 2011/2012; Statistische Nachrichten 69/3: 209-214. Lev-Ari, Shiri / Keysar, Boaz (2010). Why don’t we believe non-native speakers? The influence of accent on credibility; Journal of Experimental Social Psychology 46: 1093-1096 http://psychology.uchicago.edu/people/faculty/ LevAriKeysar.pdf, 2016-02-07. Pettigrew, Thomas F / Tropp, Linda R (2006). A Meta-analytic Test of Intergroup Contact Theory; Journal of Personality and Social Psychology 90/5: 751-783. Pietraszewski, David / Schwartz, Alex (2014). Evidence that Accent is a Dimension of Social Categorization, Not a Byproduct of Perceptual Salience, Familiarity or Ease-of-processing; Evolution and Human Behavior 35/1: 43-50 http://www.cep.ucsb.edu/papers/Pietraszewski %20Schwartz %20Accent %20 2014a.pdf, 2015-09-18. Scherr, Albert / El-Mafaalani, Aladin / Gökcen Yüksel, Emine, Hrsg. (2016). Handbuch Diskriminierung; Wiesbaden, Springer VS. Troger, Tobias (2015). Lebensqualität in Wien 1995-2013. Sozialwissenschaft liche Grundlagenforschung II; Werkstattbericht 147; Gemeinde Wien MA18. Troger, Tobias / Gielge, Johannes (2016). Lebensqualität in 91 Wiener Bezirksteilen. Bezirksprofile der Zufriedenheit mit der Wohnumgebung; Werkstattbericht 157; Gemeinde Wien MA18. Verwiebe, Roland et al. (2015). Zusammenleben in Wien. Einstellungen zu Zuwanderung und Integration; Werkstattbericht 152; Gemeinde Wien MA18.
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Sondermaterie und / oder Alltäglichkeit W O L FGANG FÖRSTER Was Wohnbaugestaltung zu Integration beitragen kann
„Wien war immer eine Stadt des Zuzugs“, sagte Wiens Bürgermeister Michael Häupl und fügte hinzu, daran werde sich auch nichts ändern. Auch Bundeskanzler Christian Kern sagte, die Flüchtlingsdiskussion müsse nun mit „weniger Aufgeregtheit“ erfolgen. In der Tat haben die Flüchtlingsbewegung des Jahres 2015 und die politische Diskussion darüber verdeckt, dass es sich historisch um keine einmalige Situation handelt. Es genügt, die Flüchtlingsbewegungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, während des Ungarnaufstands 1956, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 oder während des Bosnienkriegs Anfang der 1990er Jahre als Vergleich heranzuziehen. Aber auch zwischenzeitlich gab es einen starken Zuzug aus dem Ausland, der letztlich dazu beitrug, den jahrzehntelangen Schrumpfungsprozess Wiens umzukehren. Wien wurde dadurch deutlich jünger und multikultureller – oder anders ausgedrückt: so multikulturell, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal gewesen war.1
Wien bleibt Zuwanderungsstadt Auch in Zukunft ist mit einem weiteren Zustrom nach Wien zu rechnen, wobei zu kriegerischen Auseinandersetzungen am Rande Europas (Nordafrika) noch die Auswirkungen des Klimawandels kommen werden.2 Laut UNO sind dadurch mittelfristig 50 Millionen Menschen im subsaharen Afrika von Dürre und Hunger bedroht.3 Zusätzlich wird sich die zur Diskussion gestellte Visafreiheit für Türken bei gleichzeitiger Verschärfung des Kriegs in Ostanatolien entsprechend auswirken. Wohin werden türkische (kurdische) Migranten wohl primär zuwandern? Wien als Stadt mit dem weltweit höchsten Lebensstandard und mit bereits existierenden migrantischen Communities wird hier zweifellos weiterhin besondere Anziehungskraft ausüben. Migration wird
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Zweifellos weiterhin besondere Anziehungskraft
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Politische Erfolge bei gleichzeitiger Offenheit
also weiterhin zu einem starken Stadtwachstum in Wien führen. Hinzu kommt die Tendenz eines weltweiten Zustroms in die Städte. Bereits jetzt lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten, in Österreich schon jetzt 70 %, wobei die Binnenwanderung sicher noch zunehmen wird – vor allem nach Wien. Politisch scheint dies zunächst Ängste hervorzurufen und damit populistische Parteien zu stärken. Andererseits: Parteien haben dort Erfolg, wo sie sich klar positionieren. Beispiele für politische Erfolge bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen sind in Österreich etwa die Städte St. Pölten und Lienz (beide mit SPÖ-Mehrheit), Klosterneuburg (ÖVP) und letztlich auch Wien bei der Gemeinderatswahl 2015 und der Bundespräsidentenwahl 2016. Dies überrascht nicht. Laut Integrationsmonitoring4 haben 48 % der Wiener einen Migrationshintergrund, rund 18 % in der zweiten Generation, wobei Migranten einen höheren Anteil hochqualifizierter Personen aufweisen als Einheimische. Laut SORA-Städtebarometer sehen 72 % der Befragten in ganz Österreich keine Probleme im Zusammenleben mit Flüchtlingen in ihrer Gemeinde. Drei Viertel der Befragten befürworten ausdrücklich die Aufnahme von Flüchtlingen in ihrer Gemeinde, mit zunehmender Tendenz.5 Mit anderen Worten: Die von Rechtspopulisten geschürte Stimmung der Angst verdeckt die Tatsache, dass Zuwanderung und Integration weitgehend problemlos verlaufen.
Wohnen fördert Integration
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Die Bedeutung des Wohnens für Integration ist unbestritten, doch bedarf es hier einiger Klarstellungen. Zunächst ist Integration im Wohnbereich nicht nur das Zusammenleben von Migranten mit schon länger hier Lebenden. Integration betrifft ebenso unterschiedliche Bewohnergruppen mit teils stark divergierenden Wohnansprüchen: alt versus jung, berufstätig versus zu Hause arbeitend oder gar nicht (mehr) im Arbeitsprozess stehend, die traditionelle „Normfamilie“ versus neue Familienformen, Kinderlose versus Familien mit Kindern, Gesunde versus Behinderte, unterschiedliche Milieus und Lebensstile, kurz: Integration ist der Ausdruck einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft. Empfehlenswert wäre daher die Einrichtung eines Diversitätsbeauftragten6 in größeren Wohnbaugesellschaften.
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Integration braucht Kommunikation Kommunikation braucht Räume Was kann Wohnbau zur Integration leisten? Zunächst muss hier vor überzogenen Erwartungen gewarnt werden; Architektur allein kann die Gesellschaft nicht verändern. Wer latent xenophob ist, wird sich auch im besten Wohnhaus nicht zur Offenheit gegenüber anderen Kulturen durchringen. Menschen nehmen ihre Vorurteile mit (was bei der Interpretation von lokalen Wahlergebnissen oft vergessen wird). Aber: Zu Integration, zu einer sozialen / ethnischen / kulturellen Durchmischung gehören vor allem zwei Voraussetzungen, nämlich erstens die Möglichkeit / der Anreiz (nicht der Zwang) zur Kommunikation, zweitens die Möglichkeit, sich allein oder in kleiner Gruppe zurückzuziehen. Dazu kann Wohnbauarchitektur einiges beitragen. Mit der Einführung der sozialen Nachhaltigkeit in die Wiener Bauträgerwettbewerbe7 (4-Säulen-Modell) wurde ein entscheidender Schritt gesetzt, um die Kommunikationsfreundlichkeit neuer Wohnhausanlagen zu beurteilen. Vordergründig werden darunter meist Gemeinschaftsräume verstanden, wobei hier aus Erfahrung Einschränkungen zu machen sind. Es gilt dabei nämlich nicht „je mehr, desto besser“, wichtiger ist die gute physische und organisatorische Zugänglichkeit dieser Räume. Bei guter Planung kann etwa eine Sitzgruppe beim Aufzug mehr zur – informellen – Kommunikation beitragen als ein aufwendiger Gemeinschaftsraum. Wirklich entscheidend für Kommunikation und damit Integration ist eine Verschränkung von baulicher „Hardware“ (das englische „bricks and mortar“) und „Software“ im Sinne von gemeinschaftsbildenden Aktivitäten. Diese können durchaus auch die Form von Eigenleistungen der Bewohner annehmen, etwa die Ausgestaltung und Einrichtung von Frei- und Gemeinschaftsflächen mittels dafür reservierter Budgets. Ziel ist das Empowerment der Bewohner, um deren Konfliktlösungsfähigkeit zu stärken. Dass solche Maßnahmen nicht zu Mehrkosten führen müssen, zeigen zahlreiche Beispiele des Urban Gardening, ebenso sinnvolle Mehrfachnutzungen von Flächen, mehr Eigenverantwortung und -leistung. Eine Kultur des Teilens wird zudem zum neuen Maßstab für Qualität Kultur des im städtischen Wohnen. Was sich der Einzelne nicht leisten kann – Teilens wird zum etwa ein Musik- oder Fitnesszimmer-, kann sich eine Hausgemeinschaft neuen Maßstab gemeinsam leisten. Und Integration findet dann ganz automatisch statt. Beispiele für gelungene Planungen dieser Art stellen in Wien die Wohnhausanlagen „Globaler Hof (2000)“8, „Wohnen mit scharf“ am Nordbahnhof (2012) und die „Mautner-Markhof-Gründe“ (2012) dar bzw. im Gebietsmaßstab die Seestadt Aspern und das Sonnwendviertel.
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Pionierprojekte als wichtiger Anstoß
Thema Kunst als verbindende Idee empfohlen
Wie sich Wohnbedürfnisse unterscheiden
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Hervorzuheben sind insbesondere die Projekte Globaler Hof und Mautner-Markhof-Gründe: Während ersterer DAS Wiener Pionierprojekt zum Thema Integration darstellte, nach mittlerweile 15 Jahren noch immer hervorragend funktioniert und damit zahlreiche verallgemeinerbare Erkenntnisse lieferte, ist das zweite Projekt in Simmering ein gelungenes Beispiel für eine wesentlich größere Anlage mit mehreren Bauteilen und überzeugender funktionaler und sozialer Durchmischung. Neben den in Wien üblichen Zuwanderersprachen fällt hier ein höherer Anteil an Urdu- und Farsi-Sprechenden auf. Bereits während der Besiedlungsphase bildeten sich mehrere Interessensgruppen (wie eine Bewegungs-, eine Koch- und eine Fotogruppe), die die über das ganze Gelände verteilten Gemeinschaftsräume intensiv nutzen – teilweise in Kooperation mit dem interkulturellen Verein ipsum. Als verbindende Idee wurde übrigens auf Empfehlung der Architekten das Thema Kunst eingesetzt. Neben der Notwendigkeit moderierter gemeinschaftsbildender Aktivitäten wird von beiden Bauträgern (Sozialbau bzw. Wien-Süd) als wichtige Voraussetzung für Integration genannt, bei der Besiedlung keine Gruppe, keine Ethnie zahlenmäßig überwiegen zu lassen. Die genannten Projekte sind dennoch nur die Spitze des Eisbergs, Pionierprojekte eben, die weitere anstoßen sollen. Die Mehrzahl der (permanenten) Flüchtlingswohnungen befindet sich dagegen – von fremdenfeindlichen Gruppen weitgehend unbeachtet – in „normalen“ Wohnhausanlagen: so etwa am Kabelwerk oder in der Anlage Wilhelms kaserne, einer zentral gelegenen Wohnhausanlage auf einem früheren Kasernengelände. Wohnungsvergabe und Betreuung erfolgen meist durch den stadteigenen Fonds Soziales Wien (FSW) und in Kooperation mit diversen NGOs. Dies erleichtert auch die Koordination mit anderen Sozialleistungen. Entscheidend ist, dass durch die „Normalwohnungen“ eine möglicherweise stigmatisierende Unterbringung in speziellen Schnell- oder Billigbauten vermieden wird. Multikulturelle Perspektiven kommen schließlich allen zugute. Ein kleines Beispiel: Beim Wettbewerb „Interkulturelles Wohnen“ am Nordbahnhof (2012) wurde lange diskutiert, ob und wie die Wohnbedürfnisse von Migranten sich von jenen der autochthonen Österreicher unterscheiden. Als ein kleines Detail stellte sich in zahlreichen Gesprächen heraus, dass etwa türkische Zuwanderer eher zu getrennten Küchen tendieren als zu den üblichen Wohnküchen. Schließlich wurden teilbare Wohnküchen entwickelt und der endgültige Grundriss den Mietern überlassen. Überraschend präferierte nun auch ein Teil der Österreicher die Trennung der Küche vom Wohnraum. Mit anderen Worten: Die Beachtung unterschiedlicher kultureller Erwartungen an das Wohnen
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hatte die Gestaltungsfreiheit für alle erhöht. In ähnlicher Weise werden auch die speziell für Migranten und deren häufigen Familienbesuch entwickelten Gästewohnungen in mehreren Häusern von allen genutzt. Denn weder die eine noch die andere Gruppe verfügt über ein einheitliches Wohnbild. Integration wird damit zum Vorläufer einer demokratischen, diversifizierten Gesellschaft, die auf eine Normierung der Familie, der Wohnung zunehmend verzichtet. „Musterwohnungen je nach Kultur“ seien abzulehnen, sagen auch die Architekten Geiswinkler und Geiswinkler (Mautner-Markhof-Gründe), man habe daher einen hallenartigen Wohnungstypus mit hoher Flexibilität entworfen, was letztlich mehr als 50 Wohnungstypen ergab.
Ist ein kleiner Maßstab besser? Immer wieder taucht in der Diskussion um soziale Nachhaltigkeit die Forderung nach Kleinteiligkeit auf. Deren angebliche Vorteile sind aus der Praxis allerdings nicht belegbar. Abgesehen davon, dass gerade einige der Flaggschiffe des Wiener sozialen Wohnbaus (Karl-Marx-Hof, Wohnpark Alt-Erlaa) diesem Anspruch nicht genügen, ist die von der Bebauungsplanung forcierte kleinteilige Entwicklung ganzer Quartiere zweifellos kostentreibend. Auch die zitierten Vorzeigeprojekte Globaler Hof und Mautner-Markhof-Gründe (mit rund 150 bzw. 1.000 Wohnungen) zeigen, dass Kommunikation und damit Integration auch in großen Wohnhausanlagen gut funktionieren, wenn dort überschaubare Nachbarschaften geschaffen werden. Wichtiger als Kleinteiligkeit sind Identität und kommunikationsfördernde Frei- und Gemeinschaftsflächen. Fazit: Integration ist keine Sondermaterie, sondern Teil des alltäglichen städtischen Zusammenlebens. Mehr Wagen ist angesagt; Experimente fördern die Identifikation mit dem Wohnhaus, der Wohnumgebung und letztlich mit den Nachbarn – unabhängig von deren sozialem, kulturellem oder ethnischem Hintergrund. Dazu gehören etwa Themenbauten, Partizipation, Eigenleistungen. Gewohntes (Standards!) muss ohnehin laufend hinterfragt werden. Es spricht für Wien, dass sich die Stadt trotz – oder gerade wegen – ihrer internationalen Vorreiterrolle im sozialen Wohnbau das Ziel gesetzt hat, in einer IBA (Internationale Bauausstellung „neues soziales Wohnen“, Wien 2016–2022) neue Wege zu einem sozialen Wohnen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu suchen, also einen experimentellen „Ausnahmezustand auf Zeit“ zu wagen.9
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Experimente fördern Identifikation mit dem Wohnhaus
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Anmerkungen
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1) Siehe dazu u. a. Wolfgang Förster: Multikulturalität an der Donau? Vom Umgang mit Fremden in Wien, in: Ludl (Hrsg.): das Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft, Wien/New York 2003, S. 47–64 2)
Siehe dazu u. a. die regelmäßigen Berichte des UN-Weltklimarates (IPCC). Demnach ist das ohnehin moderate Ziel einer Klimaerwärmung von maximal 2 Grad C keineswegs gesichert. Selbst bei Einhaltung dieses Ziels würden einige Inselstaaten im Südpazifik sowie niedrig gelegene Küstenländer in Asien (Bangladesh), Afrika und Europa (Niederlande, Teile von Belgien) unter dem Meeresspiegel verschwinden.
3) Siehe dazu u. a. Naomi Klein: This Changes Everything, Capitalism versus the Climate, London 2014 4) Roland Verwiebe: Integrations-und Diversitätsmonitoring (im Auftrag der Stadt Wien), Wien 1989–2015 5) Laut „der Standard“, 1.6.2016 6) Eine Diversitätsbeauftragte beschäftigt in Wien z. B. das Kuratorium der Pensionistenwohnheime 7) Siehe dazu: Wolfgang Förster, William Menking. Das Wiener Modell/ The Vienna Model, Berlin 2016 8) Siehe dazu u. a.: Ludl (Hrsg.): Das Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft, Wien / New York 2003 9) Zum „Ausnahmezustand auf Zeit“ siehe die Programmatik der IBA_Wien: www.IBA-wien.at
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Einfinden in neuer Umgebung: Signalzeichen der Bewohner (Fotos VOGUS)
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Zusammenleben in Wohnanlagen J OACH I M B RECH / HE I DRUN FE I GE L FE L D Empirische Untersuchung neuerer Wohnanlagen der Sozialbau, Wien
Anlass und Ziel In dieser Studie werden die 2000 bis 2016 errichteten Wohnanlagen der Sozialbau unter dem Blick betrachtet, ob und inwieweit von einem „guten Zusammenleben“ der Bewohner gesprochen werden kann und welche Voraussetzungen dafür ausschlaggebend waren. Ob sich die Bewohner selbst integriert fühlen und, jeweils ihren Möglichkeiten und Wünschen entsprechend, am sozialen Leben in den Anlagen teilhaben. Diese Fragen sind insofern von Relevanz, als in den Wohnanlagen gemeinnütziger Wohnungsunternehmen inzwischen eine ethnisch heterogene Bewohnerschaft die Norm ist, was das Zusammenleben, wie viele annehmen möchten, nicht gerade einfach macht. „Gutes Zusammenleben“ bedeutet deshalb: Die Bewohner begegnen sich trotz Unterschiedlichkeit hinsichtlich sozialen Status, ethnischer Herkunft, Alter, Geschlecht und Lebensstil in gegenseitigem Respekt und Anerkennung ihrer jeweiligen Eigenarten. Dem Raum zu bieten, ist eine der zentralen Aufgaben. Allein die Sozialbau, laut eigener Aussage die „Nummer eins“ unter den privaten und gemeinnützigen Wohnungsunternehmen Österreichs, verwaltet 2016 mehr als 51.000 Miet- und Eigentumswohnungen. Davon ausgehend, dass pro Wohnung im Durchschnitt 2,5 Personen zu zählen sind, bietet das Unternehmen annähernd 130.000 Menschen Wohnraum – dies entspricht in etwa dem Dreifachen der Einwohner einer Stadt wie St. Pölten oder der Hälfte der Bevölkerung von Graz. Das allein zeigt die Dimension von Verantwortung, die ein bedeutendes Unternehmen hat – in erster Linie den Bewohnern seiner Wohnanlagen gegenüber, ebenso aber auch der Stadt Wien und ihren Bürgern. Um das Jahr 2000 war das Thema Zuwanderung in Wien wieder einmal nach oben gespült worden. Da wollten die Verantwortlichen im Unternehmen mit einem außergewöhnlichen Projekt ein Zeichen
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Ethnisch heterogene Bewohnerschaft ist inzwischen die Norm
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Oft emotional überformte Diskussion über Integration
setzen: Integration bzw. ein „gutes Zusammenleben“ von Menschen vieler Nationalitäten könne gelingen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu initiierte die Sozialbau das „Wohnmodell inter-ethnische Nachbarschaft“, auch der „Globale Hof“ genannt, mit geförderten Mietwohnungen. Durch eine ausführliche Evaluation 2003 wurde ermittelt, ob von einer gelungenen Integration der Zuwanderer und letztlich auch der Einheimischen zu sprechen ist (siehe hierzu einen eigenen Beitrag in der vorliegenden Publikation). Dieses Modellprojekt wird immer wieder, auch über die Grenzen Wiens hinaus, als Referenz für erfolgreiches inter-ethnisches Zusammenleben herangezogen. Die Sozialbau hat Erfahrungen daraus in ihren seitdem errichteten Wohnanlagen weiter genutzt und auch intern wurde die Unternehmenskultur in diese Richtung fortentwickelt. Von Mitte 2000 bis Frühjahr 2016 hat die Sozialbau weitere 8.300 Wohnungen in 69 Anlagen errichtet und vergeben. Diese sind Gegenstand der vorliegenden Studie, die auch dazu dient, in der oft emotional überformten Diskussion über Integration mit Fakten und Daten argumentieren zu können sowie aus positiven wie negativen Erfahrungen zu lernen. Es wird versucht, ein möglichst umfassendes und klares Bild zu gewinnen.
Wohnanlagen als Spiegel der Stadt
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Mit den seit 2015 ankommenden Flüchtlingen gewinnt die mediale Debatte über Integration von Zuwanderern erneut an Aktualität. Anzunehmen ist, dass diese Debatte auch in die Wohnanlagen hineinwirkt, obwohl nicht alle aufgenommenen Flüchtlinge bleiben, Zuwanderer werden und einmal Zugang zum Marktsegment der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen bekommen. Die europäische Stadt ist seit jeher von Zuwanderung geformt. Man sollte also meinen, die Menschen in den Städten hätten damit genug Erfahrung. Dennoch wird sie von den Bürgern immer wieder als eine Einmischung in ihre Lebensgewohnheiten, ihre Kultur, ihre Ökonomie, als Konkurrenz auf den Märkten empfunden. Der Zuzug von Menschen aus anderen Ländern ist deshalb vielen unerwünscht, sie erleben ihn als aufgezwungen. Dass Integration selbst vieler Zuwanderer letztendlich – wenn auch nach oft langen und konfliktreichen Prozessen – gelingt, ist eine historische Erfahrung, die aber zum aktuellen Zeitpunkt nicht trägt. Es kommt außerdem darauf an, aus welchen Kulturkreisen in welcher Zahl die Menschen kommen.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Nach einer neueren Erhebung (Verwiebe et al., Wien 2015) hat sich die Struktur der Zuwanderung nach Wien seit einigen Jahren auch in anderer Hinsicht gewandelt: Es kommen zunehmend Höherqualifizierte und wegen der starken Zuwanderung aus EU-Ländern ist inzwischen der Anteil der Höchstqualifizierten unter den Zuwanderern sogar höher als unter den Einheimischen. In diesem Monitoring wird eine hohe und sogar beständig steigende Befürwortung der Zuwanderung und der damit verbundenen kulturellen Vielfalt festgestellt. Rund 85 % der Wiener, so die Studie, erkennen einen positiven Impuls für das Stadtleben, über 90 % der Befragten seien der Meinung, die persönlichen Kontakte zu Zuwanderern fördern die wechselseitige Sympathie. Allerdings dürfe bei dieser Querschnittsbetrachtung nicht übersehen werden, dass es unter den Zuwanderern Gruppen gibt, die in den verschiedenen Lebensbereichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Kulturelle Vielfalt ist eine zentrale Voraussetzung für Integration. Zuwanderer kommen daher in die Städte, besonders in Städte mit bereits vergleichsweise hohem Anteil an Migranten. Sie lassen sich jeweils in unterschiedlichen Wohnungsbeständen nieder – private Miete, Altbestand, geförderte Miete, Sozialwohnungen. In Wien sind das vorrangig Wohnungen in den gründerzeitlichen Beständen des dicht bebauten Stadtgebiets. Erst nach einiger Zeit und unter bestimmten Konditionen stehen ihnen hierzulande auch mit Förderung finanzierte Wohnungstypen offen. Für die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen bedeutet das: Es wohnen in ihren Wohnanlagen schon viele Menschen mit migrantischem Hintergrund. Diese Anlagen sind gewissermaßen Spiegel der Stadt selbst. Ein zentrales Thema der Stadtentwicklung ist die Vermeidung von Segregation. Stadtviertel mit einseitiger Bevölkerungsstruktur sollen nicht entstehen. Man spricht von „Mischung“. „Mischung“ ist aber auch ein Thema für die Wohnungsunternehmen. Denn Wohnanlagen, vor allem die größeren, sind in gewisser Weise „segregierte“ soziale Räume. Darin können sich soziale und ökonomische Netze bilden. Segregation erfüllt den Wunsch, mit Seinesgleichen zusammenzuleben, sie erleichtert gutnachbarliche Kontakte und den Aufbau von Hilfsnetzen. Andererseits: Sie kann, wie schon der Name sagt, zur Herausbildung stark in sich geschlossener Gesellschaften, zu Parallelwelten und archaischen Gemeinschaftsformen führen, die nicht mit unseren demokratischen Werten konform gehen. Integration wird erschwert, wenn nicht unmöglich. Was bedeutet das für den „Mikrokosmos“ Wohnanlage? Es wäre fatal, eindeutige Antworten geben, Linien einziehen zu wollen. Die Lebenswirklichkeiten sind da viel zu differenziert und dynamisch – was ja die Qualität unserer Städte, Wohnviertel und Wohnanlagen ausmacht.
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Ein zentrales Thema ist die Vermeidung von Segregation
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Letztlich eine dezentral vor Ort zu bewältigende Aufgabe
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Damit wird auch deutlich, dass Integration eine die Einheimischen wie die Zuwanderer gleichermaßen betreffende Aufgabe ist, dass ein geeigneter Rahmen bestehen muss, dass sie jedoch letztlich eine dezentral vor Ort und im Alltag zu bewältigende Aufgabe ist. Wohnanlagen kommt damit eine große Bedeutung für die Stadt und ihre Bezirke zu, denn jede ist räumlich und sozial gesehen der wesentliche Ort, an dem dieses Leitbild der Stadtentwicklung verwirklicht werden muss. Wenn Wien im internationalen Ranking der Großstädte um die beste Lebensqualität immer wieder den ersten Rang einnimmt, haben daran die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, und hat ohne Zweifel ein Unternehmen der Größe und Bedeutung der Sozialbau einen wesentlichen Anteil. Es ist in hohem Ausmaß das Wohnen, seine soziale Qualität, welches die Attraktivität und die Zufriedenheit der Bürger einer Stadt ausmacht. Ohne die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen würde der Stadt ein wichtiger Partner fehlen, ist es doch deren besonderes Merkmal, einerseits als Wirtschaftsunternehmen zu agieren und andererseits in langer Tradition dem Sozialen verpflichtet zu sein. Während Integration für die Politik eine – je nach Opportunität immer wieder neu interpretierte – normative Kategorie ist, bildet sie für die Unternehmen eine überaus pragmatische, permanente und sich stets stellende Aufgabe. Von gemeinnützigen Unternehmen wird erwartet, dass sie in ihrem Aufgabenbereich, Wohnanlagen mit leistbaren Wohnungen zu errichten und zu verwalten, auch konkrete Antworten auf die jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen finden. In dieser Studie geht es darum, diesen „Mikrokosmos Wohnanlage“ in seinen Ambivalenzen abzubilden. Wie viel an sozialer Differenz, und welche, verträgt er? Worin besteht der Beitrag des Wohnungsunternehmens zu „gutem Zusammenleben“?
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Methodik und Repräsentativität Für die Studie kam eine Reihe von Erhebungsarten zur Anwendung. Ein Fragenkatalog wurde so strukturiert, dass sich aus den Antworten in der Zusammenschau und Überlagerung wirklichkeitsnahe Aussagen treffen lassen. Auf dieser Grundlage und nach der Analyse von Eckdaten zu den relevanten 69 Anlagen mit 8.300 Wohnungen wurde eine breite schriftliche Befragung in einer repräsentativen Auswahl (16 Anlagen, rund 2.300 Wohnungen) durchgeführt, parallel dazu mündliche Interviews in 4 dieser Anlagen. Berücksichtigt wurden damit ausführliche Informationen von über 500 Personen. Ebenso floss eine Reihe ergänzender Informationen ein, vor allem auch aus einer Begehung aller Anlagen.
Angewendete Verfahren
q Schriftliche Befragung: Auf Basis von statistischen Angaben (Adresse, Zahl der Wohnungen, Bezugsdatum) wurden an alle Bewohner repräsentativ ausgewählter Anlagen ausführliche Papier-Fragebögen mit Rückkuvert persönlich adressiert versandt. An die jeweiligen Hausbetreuer wurden ebenfalls vergleichbare Fragebögen ausgegeben.
q Mündliche Interviews: Auf Vermittlung der Sozialbau wurden in 4 selektierten, möglichst unterschiedlichen Anlagen von den Autoren mit je maximal 5 Personen, respektive Haushalten, ausführliche, strukturierte Gespräche geführt, desgleichen mit dem jeweiligen Hausbetreuer der Anlage.
q Begehungen, Dokumentation: Zum besseren Verständnis der Bewohneraussagen wurde auch die reale Situation der Anlagen auf mehreren Wegen erfasst.
q Statistische Auswertung: Der sehr zufriedenstellende anonyme Rücklauf der schriftlichen Befragung via Sozialbau (siehe im Folgenden „Die antwortenden Bewohner“) wurde aufbereitet und bildete die Basis für die inhaltlichen Analysen. Ergänzt wurde dies aus einer Dokumentation der Interviews, Fachrecherche unterstützte die Interpretationen.
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Statistik q Die Anlagen ab 2000 Gemäß dem Ziel, ein repräsentatives Situations- und Meinungsbild aus in jüngerer Zeit besiedelten Wohnhausanlagen zu gewinnen, wurden diese 69 Anlagen mit insgesamt 8.300 Wohnungen aus dem Zeitraum von 2000 bis 2016 erfasst. Der Überblick bietet ein sehr vielfältiges Bild. Die Größen variieren stark – von einem Wohnhaus mit 14 Wohnungen bis zu einer Anlage mit 443. Grob klassifiziert befinden sich an die 60 % der Wohnungen in kleineren Anlagen (56 Anlagen mit weniger als 200 Wohnungen), gut 40 % in 13 größeren Anlagen. Auch die Standorte in der Stadt weisen sehr unterschiedlichen Charakter auf. Jeweils ca. 20 Anlagen befinden sich in einem der Großräume, in die man die Stadt grob einteilen kann: Südliche Stadtbezirke (rund 40 % der Wohnungen), nördlich und nord-östlich der Donau (auch als „Transdanubien“ bezeichnet, 30 %), weitere 30 % in den übrigen Stadtgebieten. Es kann von einer kontinuierlichen Bautätigkeit der Sozialbau in den Jahren 2000 bis 2016 gesprochen werden. Innerhalb von 5 Jahren wurden im Durchschnitt jeweils gut 20 Anlagen mit etwa 2.800 Wohnungen erstmals bezogen. Nur die Periode von 2006 bis 2010 zeigte eine leicht unterdurchschnittliche Bautätigkeit. Die neueren Anlagen der Sozialbau in Wien Anteile nach Wohneinheiten n = 8.300
Nach Bauperiode 2000–2016
2000–2005 30 %
Nach Größe 300 und mehr WE 13 %
Ab 2011 36 %
2006–2010 29 %
200 bis unter 300 WE 28 % (WE = Wohneinheiten)
Nach Lage in der Stadt Unter 100 WE 24 %
100 bis unter 200 WE 35 %
Sonstige 30 %
Süden 40 %
Transdanubien 30 %
Quelle: Die Diagramme in diesem Beitrag basieren auf der Befragung Brech / Feigelfeld in von 2000 bis 2016 bezogenen Wohnanlagen der Sozialbau
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q Die ausgewählten Wohnanlagen und ihre Bewohner Die ausgewählten 16 Anlagen mit 2.320 Wohnungen bilden die Verteilungen nach Bezugsperiode, nach Größenklassen als auch nach Lage im Stadtgebiet gut ab. Das Spektrum ist des Weiteren nach Dichtewerten der Bebauung breit ausgelegt, diese reichen von geringer baulicher Dichte (GFZ 0,5) bis zu sehr dichten Bebauungen (GFZ 2,7). Durch die repräsentative Auswahl sind zudem unterschiedliche Niveaus an Anlagenausstattung in den Gebäuden oder in den Außenräumen vertreten, dies war vor allem für diesbezügliche Bewertungsfragen von Bedeutung. Weiters wurde darauf geachtet, unterschiedliche Rechtsformen der Wohnungsnutzung (geförderte Miete, gefördertes Eigentum) einzubeziehen. Aus der Verteilung an alle Bewohner dieser Anlagen wurde ein Rücklauf von gut 21 % mit beinahe 500 ausgefüllten Fragebögen generiert, damit wurden ebenso viele Haushalte bzw. Wohnungen erfasst. Auch hier wurde, trotz Unterschieden zwischen Anlagen, in der Auswertung bezüglich Lage-, Größe- und Alterskategorien eine sehr gute Abbildung der Gesamtheit erreicht. Dies erlaubt es, den Ergebnissen eine realistische Darstellung der Situationen und Meinungslagen zuzuschreiben.
Realistische Darstellung der Situationen und Meinungslagen
q Die antwortenden Bewohner Bei der Gesamtbewertung der empirischen Ergebnisse ist zu beachten, dass hier nicht Aussagen eines Bevölkerungsquerschnitts von Wien vorliegen, sondern einer in mehrfacher Hinsicht „besonderen“ Auswahl. Vor allem sind es Bewohner von neueren Anlagen des geförderten Wohnbaus. Das heißt: Es sind Personen, Familien, die in den letzten 16 Jahren, also zum Teil auch erst vor sehr kurzer Zeit, aus unterschiedlichsten Gründen die Wohnung gewechselt haben. Und es handelt sich um den Personenkreis, dem die Zugangsbedingungen entsprechen und der sich diese geförderten Wohnungen leisten kann. Um den relativ langen Fragebogen auszufüllen, benötigten die Befragten schon eine gewisse Zeit, zumal er nur in Deutsch gehalten war. Auch das beeinflusste sicherlich den Rücklauf. Dennoch hat sich ein durchaus typisierbares Bild abgebildet. Die Antwortenden sind nach Geschlecht ausgewogen, nach dem Alter sind sie, wie zu erwarten, durchschnittlich jünger als die Wiener Bevölkerung, auch wenn alle Altersgruppen gut vertreten sind. Die stärkste Altersgruppe bilden die 36- bis 50-Jährigen; dominant sind mit 40 % Familien mit Kindern, viele mit Kindern im Pflichtschulalter, alle anderen Formen des Allein- oder Zusammenlebens sind ebenfalls vertreten.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
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Auf eine starke Repräsentanz von Mittelschicht unter den Antwortenden ist aus den Angaben zu Bildung bzw. Ausbildung, Art der Berufstätigkeit und durchschnittlichem Haushaltseinkommen zu schließen. Vorrangig zeigt sich mittlerer und höherer Bildungsstand – gut die Hälfte der Bewohner haben Matura oder noch höhere Abschlüsse, darunter vor allem die Jüngeren, an die 40 % einen Lehr- oder Fachschulabschluss. Angestellte überwiegen mit gut der Hälfte alle anderen Berufstypen bei Weitem, Pensionist ist höchstens einer von sieben. Die antwortenden Bewohner n =498 aus 16 Anlagen
Nach Altersgruppen 66 Jahre und älter 8 %
Nach Haushaltstyp 19 bis 35 Jahre 33 %
alleinerziehend 7 %
Nach Migrationsbezug
allein wohnend 27 %
mit Migrationsbezug 36 %
51 bis 65 Jahre 21 %
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36 bis 50 Jahre 39 %
zu zweit mit Kindern 38 %
zu zweit ohne Kinder 28 %
Einheimische 64 %
(WE = Wohneinheiten)
Mehr als vier von zehn Haushalten verfügen über ein Einkommen von 2.000 bis unter 3.000 Euro (36 % über weniger, 21 % über mehr). Dies ist wohl auch stark davon beeinflusst, dass es in den Familien mehr als einen Verdiener gibt. Nur rund 10 % aller nehmen Wohnbeihilfe in Anspruch. Die 19 mündlich interviewten Personen entsprachen in etwa dem Durchschnitt der Antwortenden auf die Fragebögen. Die 12 auf ihre gesonderten Fragebogen antwortenden Hausbetreuer – darunter 4 auch mündlich befragte – waren größtenteils männlich und in der mittleren Altersgruppe.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Spezifikation „Migrationsbezug“ Ein zentrales Anliegen der Studie war es, herauszufinden, ob unterschiedliche Sichtweisen von Personen mit oder ohne Migrationsbezug bestehen. Mithilfe diverser Fragen konnte statistisch der jeweilige Migrationsbezug dargestellt werden. Zu identifizieren war mindestens ein Anteil von einem guten Drittel (36 %) an „Personen mit irgendeiner Art von Migrationsbezug“ und maximal zwei Drittel (64 %) derjenigen „ohne Migrationsbezug“. Die Definition „mit Bezug“ umschließt den Personenkreis der Eingebürgerten, der Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, sowie diejenigen, deren Partner zumindest den Vorigen zuzuordnen ist. „Ohne Bezug“ bedeutet „Österreicher seit Geburt“, kann somit auch noch den einen oder anderen einschließen, dessen Eltern einst aus dem Ausland gekommen sind. Mithilfe dieser Unterscheidung konnten eine Reihe aufschlussreicher Resultate aus den Daten gewonnen werden. Diese sind jedoch immer unter der Einschränkung zu lesen, dass damit nicht eine „umfassende Realität“ abgebildet wird. Aufgrund von Spezifika einer derartigen Befragung bleibt der Anteil von Personen mit Migrationsbezug vermutlich generell unterrepräsentiert bzw. antworteten unter ihnen (deutlich aus den Daten erkennbar) fast ausschließlich Langzeit-Eingebürgerte und Personen europäischer Herkunft. Für die 19 mündlichen Interviews in vier Anlagen waren daher bewusst möglichst unterschiedliche Personen kontaktiert worden. Unter ihnen waren zwei Drittel mit Migrationsbezug, einzelne auch aus nicht-europäischen Ländern. Dies war zur Vertiefung der Analysen sehr nützlich.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
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Das alltägliche Zusammenleben
1
Kaum anderswo bestehen so viele direkte Kontakte
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Kontakte als Indikator Es ist das Alltägliche, was das Zusammenleben in einer Wohnanlage angenehm und unbeschwert, ebenso aber auch bedrückend machen kann, und dazu gehören zuallererst Kontakte zwischen den Hausbewohnern. Kaum anderswo bestehen so viele direkte Kontakte wie in den Wohnanlagen, es sind alle beteiligt: Kinder, Buben und Mädchen, Jugendliche, Frauen und Männer jeden Alters, auch behinderte Menschen – jeder mit seiner eigenen Biografie. Eine Wohnanlage kann kaum so geplant werden, dass sich die Bewohner, wenn sie die Wohnung verlassen oder nach Hause kommen, nicht begegnen müssen. Heute, wo es die Wirtschaftlichkeit der Gebäudeerschließung erfordert, dass möglichst viele Wohnungen an einem Lift angeschlossen sind (weshalb die Gebäudetypen Laubengang und Mittelflur häufig anzutreffen sind), werden Begegnungen im Haus unvermeidlich (es handelt sich um Wohnanlagen der gemeinnützigen Unternehmen, nicht um anonyme Appartementhäuser). Es werden sogar die Erschließungszonen nicht allein nach wirtschaftlichen oder baurechtlichen Vorgaben geplant – da könnten sie oft kleiner ausfallen –, sondern explizit auch als Kommunikationsräume für die Bewohner. Das war auch bei den exemplarisch untersuchten Wohnanlagen der Fall, wobei zudem die Kontakte in den Gemeinschaftsräumen und im Außenbereich in die Betrachtung einzubeziehen sind. Bei der Befragung war „Kontakt“ zunächst positiv konnotiert, möglichen Konflikten war eine separate Frage gewidmet. Dass man nicht grußlos aneinander vorbeigeht, wenn man im gleichen Geschoß wohnt, nehmen wir als selbstverständlich an. Unter „Kontakte“ wurde deshalb gefragt, ob und in welchem Umfang Begegnungen zu den Nachbarn über das „Guten-Tag-Sagen“ hinaus zustande kommen, und es wurde eine Abstufung vorgeschlagen: Wenige Kontakte, zu bis 5 Nachbarn, und darüber hinausgehend zu mehr als 5. Wie bei allen Aspekten des Zusammenlebens ist auch hier zu berücksichtigen, dass es alte und junge Wohnanlagen gibt, die Motivation für Kontakte von der jeweiligen sozialen Situation abhängt (klar, dass junge Frauen mit Kindern gleich Gesprächsstoff haben), dass die Wohndauer eine Rolle spielt, ebenso die Größe einer Wohnanlage und ihre funktionale Organisation.
Haben Sie zu Nachbarinnen und Nachbarn Kontakte, die über das „Guten-Tag-Sagen“ hinausgehen?
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Die Befragung ergab: Gut 70 % der Bewohner haben nähere nachbarschaftliche Kontakte über Höflichkeitsgesten hinaus. Erwartungs gemäß dominieren sie in kleinerem Kreis (mit bis zu 5 Nachbarn) und zwar fast doppelt so häufig wie jene mit mehr als 5. Hätte man bei einem „guten Zusammenleben“ erwarten können, dass diese Zahl noch höher liegt? Dass ein Viertel der Bewohner keine nachbarschaftlichen Kontakte hat, scheint zunächst kein so gutes Zeichen zu sein. Deshalb zuerst ein Blick auf Größe und Alter der Anlagen: Die Schwankungsbreite ist relativ hoch. Es wäre eine lineare Veränderung mit steigender Größe zu erwarten gewesen, aber dem ist nicht so: Bei sehr kleinen Anlagen (unter 100 Wohnungen) ist die Kontaktrate am höchsten und wird von solchen im kleinen Kreis dominiert. Nicht viel weniger Kontakt zeigt sich sodann in mittelgroßen Anlagen (200 bis unter 300 Wohnungen). Die übrigen Größentypen liegen deutlich darunter. Es ist folglich fraglich, ob hier eine aussagekräftige Relation sichtbar ist. Dass die nachbarschaftlichen Kontakte, das Alter der Anlagen heranziehend, in den eher jüngeren Wohnanlagen noch nicht so ausgeprägt sein können, liegt auf der Hand. Erst einmal konzentrieren sich die Bewohner nach dem Einzug auf ihre Wohnung. Dies bildet sich entsprechend ab – anfangs sind die Kontakte im kleineren Kreis anteilig häufiger, dann weiten sie sich aus. Aber dies dürfte nicht den entscheidenden Einfluss auf die Kontaktdichte insgesamt darstellen, da sich diese in den ältesten Anlagen (inzwischen 11 bis 16 Jahre bewohnt) als noch geringer erweist. Am kommunikativsten scheint die Situation in Anlagen mittleren Alters zu sein (drei Viertel mit häufigeren Kontakten). Vermutungen: Man hatte schon genug Zeit, sich näher kennenzulernen, jedoch Konflikte haben sich noch nicht eingeschlichen oder es gab noch nicht viel Bewohnerwechsel? Also noch ein Blick auf den Typ der Haushalte. Dabei werden die zugrunde liegenden Unterschiede sichtbar: Die Lebensphase, in der sich die Bewohner befinden, ist am deutlichsten entscheidend und prägt damit den jeweiligen Charakter von Anlagen. Mit weitem Abstand die geringsten Kontakte haben Alleinlebende. Schwieriger, Kontakte zu haben, ist es offenbar auch für Alleinerziehende, weniger für Paare. Und am einfachsten – oder am meisten nachgefragt – sind sie bei Familien mit Kindern (fast 80 % sind vernetzt). Der Anteil derjenigen, die Kontakte im kleinen Kreis haben, ist bei allen Typen von Haushalten in etwa gleich groß (um die 43 %). Die jeweiligen Gesamtunterschiede entstehen vor allem, weil der Anteil jener mit ausgedehnten Kontakten stark divergiert. Das Zusammenleben in den Anlagen ist bei der Erstbesiedelung stark durch den geringen Mix der
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Die Lebensphase, in der sich die Bewohner befinden, ist am deutlichsten entscheidend
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Haushaltsformen geprägt: Sehr viele in eine neue Anlage Einziehende sind Jungfamilien. Jedenfalls zeigt sich insgesamt, dass ein Mindest sockel von etwa einem Sechstel der Bewohnerschaft verbleibt, das aus welchen Gründen auch immer (selbst gewählt, mangels Zeit, aufgrund von Konflikten …?) keinen Umgang mit Nachbarn über das „Guten-TagSagen“ hinaus pflegt.
Nachbarschaftskontakte, die über das „Guten-Tag-Sagen“ hinausgehen Nach Haushalten / Prozentanteile der jeweils Antwortenden n = 498
100 % 27 %
40 %
25 %
50 %
keine Angabe
27 %
23 %
16 %
31 %
35 % 23 %
12 %
46 %
44 %
47 %
46 %
46 %
Alle
Allein lebend
Partner ohne Kinder
Partner mit Kindern
Alleinerziehende
keine Kontakte mehr als 5 Kontakte wenige Kontakte
2
106
0 %
Der Faktor „Ärger“ Während „Kontakt“ positiv konnotiert war, interessiert natürlich auch das Negative: Ob es schon öfter Ärger gegeben hat. Es wäre unrealistisch anzunehmen, das vergleichsweise enge Zusammenleben Wand an Wand, Balkon an Balkon, Gartenterrasse neben Gartenterrasse, würde nicht zu Problemen führen. Oder: Jeder würde von sich aus bestimmte Formen der Rücksichtnahme an den Tag legen. „Gutes Zusammenleben“ ohne vereinbarte oder vorgegebene Regeln ist kaum denkbar, sonst bedürfte es keiner Hausordnungen. Zu den wichtigsten Regeln gehören jene, die Ruhe und Sauberkeit im Haus betreffen. Dieses Thema ist wichtig, da Lärm und mangelnde Sauberkeit nicht nur das persönliche Wohlbefinden beeinträchtigen, sondern auch, weil das Nichteinhalten von Regeln schnell und vorverurteilend bestimmten sozialen Gruppen zugeschrieben wird. Orte für mangelnde Ordnung und Sauberkeit gibt es hinlänglich: Die Erschließungsflächen (Gänge, Treppen, Lifte), die Gemeinschaftsräume von der Tiefgarage bis zur Dachterrasse, die Freiräume für Kinder,
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Jugendliche usw., nicht zuletzt die für viele sichtbaren privaten Freiräume wie Balkone und Gartenterrassen. Die in den Wohnanlagen definierten Regeln orientieren sich an den in unserem Kulturkreis üblichen Standards. Sie sind dennoch nicht eindeutig. Ob man Lärm als Belästigung empfindet, ist keine Frage einer Messgröße, sondern hängt von der Art des Lärms ab, davon, wer ihn verursacht, oder in welcher Verfassung sich der sich belästigt Fühlende befindet. Ähnliches gilt für Sauberkeit: Der eine sieht jeden Papierschnipsel als Schmutz an, ein anderer hat dafür gar keinen Blick. Nur ernsthafte Verstöße gegen Ordnung und Sauberkeit können sanktioniert werden. Indiz für „gutes Zusammenleben“ ist es, wenn Konflikte wegen unterschiedlicher Meinungen und Verhaltensweisen zwischen den „Kontrahenten“ selbst und mithilfe des Hausbetreuers zur beidseitigen Zufriedenheit gelöst werden können (siehe dazu auch den Beitrag von Walter Weiland in diesem Band). Besucht man die Wohnanlagen der Sozialbau, findet sich eine Vielzahl von Hinweisen auf diese prinzipiellen Regeln (Verbotsschilder, Nutzungsvorschriften), die in ihrer Selbstverständlichkeit überflüssig erscheinen. Aber es gibt den Einzelfall, der zum Konflikt führen kann und für diesen bedarf es einer Notierung für den Fall einer notwendig werdenden Sanktionierung, etwa klare Deklarierungen der unterschiedlichen Nutzungen im Außenbereich, in Form von Hinweisen für Hundehalter. Die Kinder und die Erwachsenen wissen infolge: Hier darf dies und das gespielt werden, oder eben nicht. Besonders wichtig sind solche Regeln für die in manchen Anlagen bestehenden Schwimmbäder oder auch hinsichtlich Sauberkeit. Potenziale für Konflikte bestehen reichlich, besonders auch im Sommer, wenn die Wohnungen geöffnet sind, Balkone, Terrassen, gemeinschaftliche Freiräume intensiv genutzt werden. „Kontakt“ haben die Bewohner untereinander indirekt und nicht unbedingt gewollt, zum Beispiel über Musik, lautes Sprechen, Geruch. Oder weil sie, wenn sie den Balkon oder die Terrasse benutzen, im Blickfeld vieler Nachbarn sind. Zwar sollte jede gute Planung versuchen, die Wohnanlage so zu organisieren, dass nicht schon der kleinste Laut vom nächsten Nachbarn gehört wird, zum Beispiel sollten Balkone nicht unmittelbar und nur durch eine dünne Wand getrennt nebeneinander liegen (was erstaunlicherweise oft vernachlässigt wird, und wo, wie bei unseren Begehungen zu sehen war, die Bewohner sich irgendwie zu schützen versuchen). Aber selbst die bestens durchdachte Planung kann keine Garantie für störungsfreies Wohnen geben, sondern nur gute Voraussetzungen schaffen. Da müssen sich die Bewohner schon an bestimmte Regeln halten – was auch eine Frage des Milieus ist. Jeder Hausbetreuer und jede
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Potenziale für Konflikte bestehen reichlich
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Hausverwaltung kennt die häufig auftretenden Ärgernisse in einer Wohnanlage: Ruhestörung durch zu laute Musik, lauten abendlichen Besuch oder Zuwerfen von Türen, Ärger wegen Missachtung der Sorgfalt in den Stiegenhäusern und in den Gemeinschaftseinrichtungen, Grillen auf der Terrasse oder dem Balkon – und natürlich wegen als ungebührlich empfundener Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen. Die Frage nach Ärger bezog sich nicht auf einen allgemeinen Zustand des Hauses, sondern darauf, ob man schon öfter Ärger mit anderen Hausbewohnern hatte und worauf er sich gründete:
Hatten Sie schon öfter Ärger mit anderen Hausbewohnerinnen oder Hausbewohnern? Wenn ja, ging es da meistens um: – Ruhestörung, – Sauberkeit, – Grillen auf Balkon/Terrasse, – Benutzung von Haus-Einrichtungen (wie Waschküche etc.), – Verhalten von Kindern und Jugendlichen oder anderes?
Wenn 61 % der Bewohner sagen, sie hatten schon öfter Ärger mit anderen Hausbewohnern, ist das eine recht hohe Rate. Sie verlangt eine Differenzierung: wer hatte Ärger? Gibt es Unterschiede nach Alter oder Größe der Wohnanlagen? Und worüber gab es Ärger? Paare mit und ohne Kinder haben in durchschnittlichem Ausmaß Ärger, besonders gering ist dies bei Alleinlebenden und, überraschend: Unter der kleinen Gruppe von Alleinerziehenden ist der Ärger-Level überdurchschnittlich hoch, über 70 %. Je höher die Altersgruppe, desto häufiger gibt es Ärger mit Nachbarn, bei den Ältesten ab 66 ist dieser jedoch wieder geringer. Unter den 51- bis 65-Jährigen sind es immerhin an die 70 %, die Probleme mit anderen haben. Da viele ältere Bewohner schon lange in derselben Anlage wohnen, könnte die Wohndauer einen merkbaren Einfluss haben. Der Blick auf die Anlagen nach Bauperioden zeigt, dass – egal wie alt oder jung – überall eine Mehrheit der Bewohner des Öfteren Ärger mit anderen Hausbewohnern hat. Kleinere Unterschiede nach Alter der Anlagen sind erkennbar, es kann jedoch nicht gesagt werden: je älter, umso mehr. Offenbar liegt ein „Sockel“ an Ärger nur wenig unter dem Gesamtdurchschnitt, der Höchstwert mit zwei Drittel in den seit 6 bis 10 Jahren bewohnten Anlagen. Entgegen landläufigen Meinungen dürfte es in den größten Anlagen nicht den meisten Ärger geben – im Gegenteil. Hier berichten weniger als die Hälfte über häufigere Konflikte, in den kleineren sind es rund zwei Drittel.
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Öfter Ärger mit anderen Hausbewohnern
100 %
Nach Bauperiode
37 %
38 %
61 %
60 %
28 %
42 %
n = 495 50 %
keine Angabe
66 %
57 %
nein ja
0 % Gesamt
2000–2005 2006–2010 ab 2011
In einer Gesamtbewertung ist zu berücksichtigen, dass die psychologische Seite bei der Frage nach Ärger nicht außer Acht gelassen werden darf. Es gehört, wenn man sich nicht als „notorischen Gutmenschen“ darstellen möchte, dazu, eine Art „Grundärger“ zu haben – auch wenn wir für diese Annahme keine Indizien aus den empirischen Befunden zur Verfügung haben. Wir haben es hier mit einer Mentalitätsfrage zu tun.
Gründe für Ärger mit Hausbewohnern Gesamtdurchschnitt Mehrfachnennungen möglich n = 498
50 % 40 % 30 % 20 %
46 %
41 %
37 %
10 %
17 %
16 %
0 % Ruhestörung
Mangel an Verhalten Benutzung Sauberkeit von Kindern von und Jugend- Hauseinlichen richtungen
q Einige Ursachen Bewohner stört eine breite Palette von Vorkommnissen. Die meisten der vermuteten Gründe für Ärger bestätigen sich in den Antworten, sie wurden von 37 % (Verhalten von Kindern und Jugendlichen) über 41 % (Sauberkeit) bis 46 % (Ruhestörung) aller Antwortenden der Befragung angeführt. Nur unbedeutende Konfliktgründe sind offenbar die Benutzung von Hauseinrichtungen und das Grillen (jeweils unter 20 %). Sieht man näher auf die Gruppe jener 61 %, die dezidiert angaben, schon öfter Ärger mit anderen Hausbewohnern gehabt zu haben – und nur diese haben sich wohl zu Gründen geäußert – wird das Bild noch
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Anderes, „dies und das“
klarer: Hat jemand Ärger, geht es so gut wie immer um Ruhestörung, aber nicht nur darum. Ärger über mangelnde Sauberkeit und Verhalten von Kindern und Jugendlichen geht damit ziemlich oft Hand in Hand. Ruhestörung ist allgemein ein Problem. Nicht ganz die Hälfte der befragten Bewohner klagt darüber und es werden auch die Störenfriede genannt: Kinder und Jugendliche – dies sagen ca. 40 %. Das ist kein überraschendes Ergebnis und auch kein Indiz für „schlechtes Zusammenleben“, denn dieses Generationenproblem ist in Wohnanlagen, vor allem in solchen mit relativ hoher baulicher Dichte, kaum lösbar und flammt immer wieder neu auf. Man kann im gemeinschaftlichen Freiraum keine Spielzonen schaffen, welche die benachbarten Wohnungen nicht belasten würden. Anzunehmen ist, dass sich die Ruhestörung durch Kinder und Jugendliche vor allem auf deren Aktivitäten außer Haus bezieht. Man kann sich gut vorstellen, dass ein Schwimmbad, das eng eingebettet in einem Hof liegt, im Sommer zu erheblichen Störungen für die Nachbarn führt – so sehr das Schwimmbad bei Antworten zu Wichtigkeit, Nutzungsintensität und Vorzeigeobjekten an vorderster Stelle steht (mehr dazu in späteren Kapiteln). Berücksichtigen, dass jede Wohnanlage eine Geschichte hat
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Es ist weiters zu berücksichtigen, dass jede Wohnanlage eine Geschichte hat. Jede altert ebenso wie ihre Bewohner, es gibt Veränderungen (Wegzüge, Zuzüge) und das Verhältnis zwischen jüngeren Familien und Älteren gestaltet sich stets neu. Der Lärm der eigenen Kinder stört weniger, Ältere können sich über das Leben in der Wohnanlage freuen oder gestört fühlen. Gut 40 % der Befragten berichten von Ärger mit ihren Nachbarn wegen mangelnder Sauberkeit – ebenso ein hoher Wert. Doch worum geht es? Die Quote zeigt vorab auf, dass es eine mehrheitlich gleiche Wertvorstellung gibt: es soll sehr sauber sein. Wo aber ist es „unsauber“? Überraschend und nicht ganz verständlich angesichts des positiven Eindrucks bei der Begehung der Wohnanlagen ist diese Klage über mangelnde Sauberkeit, die natürlich anderen Bewohnern angelastet wird, weil man das eigene Verhalten ja für korrekt befindet. Ärger wegen der Benutzung der Gemeinschaftseinrichtungen, wobei meist die Waschküche und der Kinderspielraum gemeint sind, gibt es seltener – wahrscheinlich, weil dafür genaue Regeln bestehen. Bleiben noch die Freiräume und die Hauserschließungsflächen (Stiegenhäuser, Flure), die Tiefgarage, der Müllraum. Hier schließt, so zeigen die Interviews, der Vorwurf mangelnder Sauberkeit öfter die Reinigungsfirmen ein, und die Hausbetreuer als Verantwortliche (mit deren
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Kompetenz man jedoch überwiegend zufrieden ist / siehe Unterkapitel Hausbetreuer). Weiters bestehen Zonen des Übergangs zwischen Wohnung und Gemeinschaft: Der Balkon, der Mietergarten, die Vorzone vor der eigenen Wohnung – und sei diese noch so klein. Die Unmenge an Dingen, die in solchen Übergangsbereichen deponiert wird – eine durchaus milieubedingte Verhaltensweise – kann schnell zum Vorwurf mangelnder Ordnung und Sauberkeit führen. Hierfür bestehen meist keine präzisen Regelungen, wodurch sich Konfliktzonen bilden können. Eine Verletzung von Ordnungsprinzipien kann auch als eine Verletzung der ästhetischen Empfindung angesehen werden. Dies wiederum steht im Zusammenhang mit sozialer Zuweisung: Man möchte nicht in einer Wohnanlage zu Hause sein, in der Bewohner „Codierungen“ zur Schau stellen, die in Richtung niedrigere soziale Schicht weisen – in den Antworten zu „Was zeigen Sie Ihren Freunden, ...“ wird dieses Thema noch weiter behandelt. Es ist gut vorstellbar, dass hierin ein Teil der Gründe für Ärger wegen mangelnder Sauberkeit liegt. Denn ganz verständlich ist es nicht, wenn sich Bewohner über Ärger mit Mitbewohnern wegen mangelnder Sauberkeit beklagen: Wie gesagt, hat die Begehung der 16 ausgewählten Anlagen ein geradezu einzigartig positives Bild ergeben. Es gab so gut wie keine Spuren von Devastierung, weder in unbeobachteten Zonen wie Stiegenhäusern und Liften, noch in Gemeinschaftseinrichtungen oder im Außenbereich. Grillen auf Balkonen oder Terrassen: Interessanterweise stellt diesbezüglich Ärger kein großes Problem dar, vielleicht weil es im Sommer heutzutage quasi jedermann tut. Dennoch ist das Ergebnis nicht unbedingt erwartungsgemäß, ist doch öfters von Streitereien bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zu hören. Auch war das berüchtigte „Hammelbraten im Hof“ lange Zeit geradezu ein plattes Synonym für inter-ethnische Konflikte, wovon hier kaum etwas zu bemerken ist. Ein kleinerer Teil der Bewohner lebt demnach ohne nennenswerten Ärger mit anderen Hausbewohnern, ein größerer Teil spricht aber davon. Viele verschiedene Gründe wurden angeführt, das ist offensichtlich in diesen Anlagen der letzten 16 Jahre Realität (vermutlich sind aber auch ältere Anlagen durchaus von häufigem Ärger nicht verschont).
q Mögliche Konfliktlösung Von den Bewohnern, die sich klar zu den Ärgernissen äußern, die sie mit anderen Bewohnern hatten, ist nicht einmal ein Fünftel damit zufrieden, wie diese Konflikte gelöst werden konnten. 6 von 10 sagen: nicht gut gelöst (ein Fünftel will sich nicht äußern). Das muss als
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negativer Posten für „gutes Zusammenleben“ notiert werden. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, einen Konflikt aus der Welt zu schaffen: q Man spricht miteinander und verständigt sich auf bestimmte Verhaltensweisen und Regeln (Musik spielen ja, aber nur von … bis ... Uhr). q Oder man versucht das Ärgernis auf eine formale Ebene zu heben, indem der Hausbetreuer und die Hausverwaltung (manche gehen gerne direkt zu Letzterer) eingeschaltet werden. In der Tat sind Fragen rund um Haus, Hof, Garten überwiegend der Grund, sich an den Hausbetreuer zu wenden. Hausbetreuer sehen die Frage einer guten Konfliktlösung offenbar etwas anders. Positiver, vielleicht pragmatischer, mit Blick auf das „Machbare“ (siehe dazu das Kapitel „Hausbetreuer“). Wenn man mit Hausbetreuern und Hausverwaltern über das Thema Konfliktlösung spricht, außerhalb dieses Projekts, hört man oft: Es sind die Einzelfälle, die alle stark beschäftigen, und Konflikte können nur „sehr selten nicht gelöst werden“, und „es gibt wenig Lerneffekte“.
Konflikte zum größten Teil zur Zufriedenheit gelöst? Anteile der Verärgerten n = 398
100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 %
62 %
30 % 20 % 10 %
19 %
19 %
0 % Ja
3
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Nein
keine Angabe
Ausstattung der Wohnanlagen Hauseigene Gemeinschaftsräume, Kinderspielraum, Waschküchen u.v.m. bilden eine wichtige Voraussetzung für soziales Leben. Die Auslagerung von Funktionen aus der Wohnung, etwa des Wäschewaschens, wird nicht bloß aus wirtschaftlichen Gründen als sinnvoll angesehen, sie bietet zudem Anlässe für Kommunikation. Mitunter sind Wohnungen nicht
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groß genug, um viele Gäste einzuladen – ein guter Grund von vielen weiteren wie etwa Gymnastik, Fortbildung u. ä., einen Gemeinschaftsraum vorzusehen. (Einrichtungen wie Garagen, Fahrradabstellplätze wurden nicht mit einbezogen, alle untersuchten Wohnanlagen verfügen über einen Kinderwagen- und Fahrradraum.) All dies trägt wesentlich zur Qualität einer Wohnanlage bei, für jeden Einzelnen. Dient es auch dem „guten Zusammenleben“? Der „Globale Hof“, das Modellprojekt der Sozialbau, weist besonders gute Ausstattung auf, unter anderem einen sehr großen Gemeinschaftsraum und mehrere kleinere bei den Stiegenhäusern am Dach. Dem wird eine zentrale Bedeutung für das Gelingen dieses Projekts zugeschrieben. Da also den Gemeinschaftseinrichtungen eine so wichtige Rolle zugewiesen wird, widmen wir diesem Punkt entsprechend großen Raum. Bei der Sozialbau gibt es über alle Wohnanlagen hinweg neben dem Kinderwagen- und dem Fahrradabstellraum in der Regel eine Grundausstattung: Die Waschküche, oft mit daran angeschlossenem Kinderspielraum, davor meist ein Kinderspielplatz. Je nach Größe und Baujahr gibt es seit vielen Jahren und verstärkt seit 2000 weitere Freiräume – Gemeinschaftseinrichtungen wie Sauna, Fitnessraum, Dachterrasse und manchmal sogar ein Schwimmbad. Die Diskussion über den Wert aufwendiger Gemeinschaftseinrichtungen ist kontrovers. Sind sie über eine bestimmte Zeit ungenutzt, wird gesagt, man könne darauf verzichten. Selbst Bewohner, welche die Einrichtungen nicht nutzen, halten sie oft nicht für überflüssig. Die Gemeinschaftseinrichtungen werden in der Tat unterschiedlich intensiv genutzt, und manche Bewohner sind der Meinung, die über das Vorgeschriebene hinausgehenden Räume würden die Miete erhöhen. Werden Räume über einen längeren Zeitraum nicht genutzt, könnte man sie für verzichtbar halten. Unbedacht bleibt dabei, dass sich das Leben in einer Wohnanlage verändert, dass es Lebensphasen der Bewohnerschaft gibt, zum Beispiel kleine Kinder zu Jugendlichen werden. Wenn andererseits Gemeinschaftsräume gut frequentiert sind und die Bewohner offensichtlich gut miteinander auskommen, wird angenommen, dass die Gemeinschaftseinrichtungen geradezu konstitutionell für das „gute Zusammenleben“, für die Integration der Bewohner in die Hausgemeinschaft sind. Die Sozialbau jedenfalls möchte damit sowie mit gut gestalteten Freiräumen Kommunikation und gute Nachbarschaft fördern, wobei Schwankungen in Nutzung und Akzeptanz in Kauf genommen werden. Die Gemeinschaftsanlagen in ihrer jeweiligen Zahl und Ausstattung haben für die Bewohner mitunter nicht nur materielle Bedeutung. Sie können auch eine Art „Alleinstellungsmerkmal“ sein – etwas, worüber
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Waschküche oft mit angeschlossenem Kinderspielraum
113
114
andere Wohnanlagen nicht verfügen, etwas, worauf die Bewohner stolz sein können, oder worüber sie in ihren Freundeskreisen sprechen. Die Fragen hierzu:
Wie zufrieden sind Sie mit der Ausstattung der Wohnhausanlage: in den Gebäuden und außen sowie insgesamt?
Weiters wurde genauer nach Details der Ausstattung gefragt.
Im Detail nun: Wie ist die Ausstattung Ihrer Wohnhausanlage, wie wichtig ist Ihnen diese, und wie nutzen Sie sie?
Da es sein kann, dass sich Bewohner zwar positiv zu Gemeinschaftseinrichtungen äußern, weil diese zur Nutzbarkeit und zum Image einer Wohnanlage wesentlich beitragen, jedoch ihr persönliches Interesse gering ist (oder auch umgekehrt), wurde sowohl nach der Wichtigkeit als auch nach der tatsächlichen Nutzung gefragt. Dabei wurden jene Einrichtungen ausgewählt, von denen angenommen wird, dass sie für das Zusammenleben von größerer Bedeutung sein könnten. Tragen sie als Kommunikationsräume auch zum „guten Zusammenleben“ bei? Und in welchem Umfang? Hierzu bringen die Beantwortungen etwas mehr Einsicht.
q Zufriedenheit mit der Ausstattung Die Gesamtbilanz über alle Anlagen hinweg ist durchaus positiv. Beinahe zwei Drittel der Befragten – 64 % – geben an, insgesamt zufrieden oder sehr zufrieden mit der Ausstattung ihrer Wohnanlage zu sein. 67 % geben das für das Haus, etwas weniger – 63 % – für den Außenraum an. „Überhaupt nicht zufrieden“ sind nur sehr wenige (10 %), es wird eher „ausreichend, geht so“ oder „weniger zufrieden“ angegeben. Die Begehung der ausgewählten Wohnanlagen bestätigte diese Einschätzung. Die Standardausstattung bei den Sozialbau-Wohnanlagen grenzt ans Luxuriöse, wie es im teuren freifinanzierten Wohnungsbau kaum anzutreffen ist. Allerdings gibt es Schwankungen: Die Zufriedenheit mit der Ausstattung der gesamten Wohnanlage nimmt bei neueren Anlagen recht deutlich zu. Liegt sie bei jenen aus 2000 bis 2005 noch etwa bei der Hälfte, steigt sie ab Erstbezugsdatum 2006 auf über zwei Drittel, zuletzt annähernd auf drei Viertel. Innerhalb dieser Werte ist es vor allem der Anteil der „sehr Zufriedenen“, der sich stark erhöht. Natürlich werden derartige Ergebnisse von einer Reihe von Einflussfaktoren wie Wohndauer bzw. Lebensphase zusätzlich beeinflusst,
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trotzdem kann offenbar davon ausgegangen werden, dass sich Bemühungen, die Ausstattung ständig weiter zu verbessern, bezahlt gemacht haben. Sie werden gewürdigt.
Zufriedenheit mit Ausstattung der Wohnanlage
100 % 90 % 80 %
Nach Bauperiode
70 %
n = 491
60 %
78 % 67%
63 % 64 %
73 % 75 % 74 % 61%
64 %
52 % 50 % 52 %
50 % 40 %
Sehr zufrieden oder zufrieden
30 %
Im Haus
20 %
Außen
10 %
Insgesamt
0 % Gesamt
2000–2005
2006–2010
ab 2011
q Wichtigkeit und Nutzungsgrad Es würde ein unzutreffendes Bild ergeben, die weiteren Aussagen zur Wichtigkeit oder zum Grad der Benutzung der Gemeinschaftsbereiche einfach zu addieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, denn die Wohnanlagen sind ja sehr unterschiedlich ausgestattet. (Als Grundausstattung können bei den Anlagen der Sozialbau über alle Wohnanlagen lediglich die Waschküche und der Kinderspielplatz sowie teils der Gemeinschaftsraum/Kinderspielraum verglichen werden, viele weitere Ausstattungen sind nur zu einem kleinen Teil anzutreffen.) Filtert man aus der etwas komplizierten Datenstruktur ein Ranking heraus, um trotzdem zu vergleichen, sieht es folgendermaßen aus: Wie in den Aussagen der jeweils Antwortenden zu erkennen ist, kristallisiert sich durchgehend eine Art Grundsockel betreffend die Wichtigkeit jeder Einrichtung heraus, der bei etwa 60% liegt. Bei gut zwei Drittel bis etwa 70 % steht diese Wichtigkeit bei den häufigeren Ausstattungen: Kinderspielraum, Gemeinschaftsraum, Waschküche und Kinderspielplatz. Aber – interessant – bei seltener bis selten vorhandenen Ausstattungen (siehe z. B. Jugendspiel/Sport) geht die Wertschätzung sogar darüber hinaus, um beim Schwimmbad den Spitzenwert von 82 % zu erreichen. Das kann bedeuten: Wer immer diverse Ausstattungen zur Verfügung hat, schätzt ihre Wichtigkeit in Folge ziemlich hoch ein. Dies ist auch mit den Antworten auf die Frage verschränkt zu betrachten, worauf man in der Wohnanlage Freunde, die zum ersten Mal zu Besuch kommen, besonders hinweisen würde, worauf man also stolz ist.
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Wasserläufe und Schwimmbäder: Eher selten, jedoch hoch bewertet
Anlagenbegehung: Die Studienautoren auf der Suche nach kritischen Bereichen (Fotos VOGUS)
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Standardausstattung: Waschcenter mit anschließendem Spielraum
Fitnessstrecke als Erweiterung (Fotos VOGUS)
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Interessanterweise schließt die positive Bewertung einer Einrichtung nicht ein, dass man diese auch oft benutzt. Wichtig scheint auch die potenzielle Verfügbarkeit von Gemeinschaftseinrichtungen zu sein, z. B. der Gemeinschaftsraum für zeitweilige Nutzung wie Kindergeburtstage. Ausnahme ist hier offenbar das Schwimmbad, sofern vorhanden (da nicht bei vielen Anlagen der Fall, wenige Antworten): Von der Wichtigkeit überzeugte Anhänger sind auch überdurchschnittlich häufig Nutzer.
Wichtigkeit und Nutzung von Ausstattung in Wohnanlagen Im Haus, wenn vorhanden / Außerhalb, wenn vorhanden n = von 441 (1) bis 30 (9)
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Ausstattung im Haus
wenn vorhanden, dann sehr wichtig und wichtig
sehr wichtig
nutzen oft
Waschküche (1)
68 %
33 %
15 %
Kinderspielraum (4)
67 %
25 %
8 %
Gemeinschaftsraum (3)
67 %
18 %
3 %
Sauna, Fitnessraum (5)
62 %
23 %
14 %
Ausstattung außerhalb
wenn vorhanden, dann sehr wichtig und wichtig
sehr wichtig
nutzen oft
Schwimmbad, Dachterrasse (6)
82 %
46 %
43 %
Jugendspiel / Sport (8)
77 %
42 %
14 %
Bereich für Ältere (7)
73 %
43 %
Kinderspielplatz (2)
71%
44 %
19 %
Liegewiese / Grillplatz (9)
60 %
31%
13 %
7 %
Dass die Aufschlüsselung der – aus unserer Sicht positiven – Gesamtbilanz so differenziert ist, darf nicht Wunder nehmen, denn jede Wohnanlage hat ihr eigenes Leben. Nach der Fertigstellung ziehen in der Regel jüngere Familien mit Kindern ein. Klar, dass sie Waschküche, Kinderspielraum, Kinderspielplatz intensiv nutzen. Wahrscheinlich ärgert man sich auch nicht sehr über fremde Kinder. Die werden älter, werden Jugendliche, es gibt Auszüge und neu Einziehende kommen dazu. Die Bewohnerschaft der Anlage wird komplexer und differenzierter. Der Kinderspielraum verliert an Bedeutung. Und so weiter. Insofern kann es eben, wie schon erwähnt, plausibel sein, dass diverse Gemeinschaftseinrichtungen für wichtig gehalten werden, auch wenn sie zeitweise wenig genutzt werden. Könnte man daraus schließen, dass die Gemeinschaftseinrichtungen
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für „gutes Zusammenleben“ keine so große Rolle spielen? Dass die eine oder andere, wenn von ihr Störungen ausgehen, sogar negativ wirkt? Ergänzt man die Daten durch die bei den Begehungen gesammelten Eindrücke (die allerdings an kalten Herbsttagen stattfanden), wird das Bild noch differenzierter. Es gibt Kinderspielräume, wo man sieht, sie werden genutzt, und es gibt andere, die gar zu aufgeräumt und ungenutzt erscheinen. Oder man sieht an der Benutzungsliste, ob eine Sauna oder ein Fitnessraum auch tatsächlich Anklang findet. Auch das sind Momentaufnahmen. Verschränkt man das Vorhandensein und den Nutzungsgrad von Gemeinschaftseinrichtungen etwa mit Kontakten zu den Nachbarn „über das Guten-Tag-Sagen hinaus“, lässt sich schlussfolgern, Art und Umfang seien nicht unbedingt ausschlaggebend für das bei den „Kontakten“ mit 70 % festgestellte sehr positive Ergebnis. Andererseits erweisen sich die Gemeinschaftseinrichtungen als temporär von großer Wichtigkeit und leisten zu einer generell positiven Einschätzung der Wohnanlage einen wichtigen Beitrag. Es ist auch zu erkennen, dass manche Gemeinschaftseinrichtungen inzwischen als selbstverständlicher Standard betrachtet werden.
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Perspektive Sonderwohnformen In unserer Gesellschaft nimmt die Zahl der älteren und auch der behinderten Menschen zu. Deshalb werden heute nur mehr behinderten gerechte Wohnungen gefördert, doch das ist nur ein Aspekt von künftig verstärkt zu beachtenden Anforderungen an die Wohnhausanlagen. Älterwerden ist ein sehr persönlicher Prozess, der von vielen Faktoren bestimmt wird – dem Milieu, den sozialen Kompetenzen, dem familiären Kontext, den finanziellen Möglichkeiten, der körperlichen, geistigen und seelischen Befindlichkeit. Die alltägliche Versorgung Älterer oder Behinderter – Pflege, Essen, Haushalt – ist nur eine Sache. Ebenso wichtig ist es, Konzepte gegen die mit dem Alter oder einer Behinderung verbundenen Isolation und Vereinsamung zu entwickeln. Eine Möglichkeit ist, sogenannte „Sonderwohnformen“ in Wohnanlagen zu integrieren. Dass dies für das Zusammenleben insgesamt Auswirkungen hat, liegt auf der Hand. An diesem Punkt zeigt sich „gutes Zusammenleben“ in ganz besonderer Weise. Die Sozialbau kooperiert daher inzwischen vermehrt in manchen Wohnanlagen mit den Trägern sozialer Einrichtungen. Es gibt Wohnangebote und ambulante Service- oder Beratungsangebote. Sie möchte damit die Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen
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fördern – ein Beitrag zur Umsetzung des Postulats der Inklusion. Es wurden daher zwei Fragen gestellt:
Nur ein Drittel aller Antwortenden äußerte sich klar
5 Aufgabenbereich hat sich zu sozialpsychologischer Betreuung gewandelt
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Falls es in Ihrer Wohnanlage Sonderwohnformen oder ambulante Einrichtungen gibt, sehen Sie dies als positiv an?
Sehen Sie auch für sich einen persönlichen Gewinn?
In den neueren Wohnanlagen der Sozialbau dürfte es bisher nur vereinzelt Sonderwohnformen und Beratungseinrichtungen geben. Innerhalb der möglichst repräsentativen Auswahl für die Befragung zeigte sich daher nur eine Sonderwohnform, eine Seniorenwohngemeinschaft. Alle dort antwortenden Bewohner finden dies gut. Bei den übrigen Wohnhausanlagen dürfte aber Wissen über und/oder Interesse an dem Thema noch gering sein – nur ein gutes Drittel aller Antwortenden äußerte sich klar dazu. Unter diesen sieht aber die überwältigende Mehrheit von 88 % Positives in Sonderwohnformen und ambulanten Einrichtungen in der Anlage. Mehr als die Hälfte aller, die eine konkrete Antwort gaben, sehen auch für sich selbst einen Gewinn in der potenziellen Integration einer Sonderwohnform (jene, die hier konkret antworteten, waren offenbar auch die, welche sich zu obiger Frage geäußert hatten). Sowohl bei „positiv“ als auch bei „persönlicher Gewinn“ sind die Zustimmungsraten je höher, desto älter die Antwortenden, die höchsten Raten dann jeweils bei der Gruppe der 50- bis 65-Jährigen. Anzunehmen ist, dass dies Bewohner sind, die mit dem Problem des Älterwerdens oder der Behinderung Nahestehender schon konfrontiert waren. Bei den Ältesten herrscht offenbar wieder mehr Skepsis vor. Zusammenfassend ist keine Ablehnung alter und behinderter Menschen oder auch solcher mit weiteren besonderen Bedürfnissen erkennbar. Dass sogar recht breite Zustimmung besteht – ein positiv zu wertendes Indiz für „gutes Zusammenleben“.
Die Hausbetreuung Der Aufgabenbereich der Hausbetreuung hat sich zunehmend hin zu einer sozialpsychologischen Betreuung gewandelt. Aus gutem Grund findet man in jeder Wohnhausanlage der Sozialbau am Schwarzen Brett ein Foto des Hausbetreuers. Die meisten neueren Anlagen werden von einem Hausbetreuer oder einer Hausbetreuerin und parallel von einer Reinigungsfirma betreut. Der heutige Hausbetreuer, manchmal auch
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als Objektbetreuer bezeichnet, hat den früheren „Hausbesorger“ (der direkt beim Unternehmen angestellt war und dem in den Anlagen meist auch eine Art „Dienstwohnung“ zur Verfügung stand) abgelöst. Er steht mit dem Wohnungsunternehmen in einem Vertragsverhältnis. Je nach Situation betreut er eine oder mehrere Anlagen, er kann mitunter in einer dieser wohnen, was aber keine Bedingung ist. Seit Langem schon werden die Hausbetreuer von der Sozialbau für ihre Aufgaben geschult. Hohe soziale Kompetenz ist unverzichtbar. Denn sie müssen mit vielen unterschiedlichen und ambivalenten Meinungen und Anforderungen umgehen können. In der hier beschriebenen Untersuchung wurden, ohne Kompetenz genauer definiert zu haben, die Bewohner gefragt, ob sie ihren Hausbetreuer für kompetent halten, und in welchen Angelegenheiten – neben den üblichen – sie ihn schon öfter kontaktiert hätten (einige mögliche Angelegenheiten wurden zur Wahl vorgegeben). Diese Fragen wurden mit Absicht erst nach jenen zu Kontakten, Störungen, Ärger und Problemen und zuletzt zu Zufriedenheit mit Konfliktlösung gestellt. Zudem wurden auch die Hausbetreuer der repräsentativ ausgewählten Wohnanlagen ersucht, einen schriftlichen Fragebogen zu beantworten, außerdem bei den mündlichen Interviews in jeder der vier Anlagen direkt befragt. Dies alles, um dem Gefüge und der Interaktion in den Wohnhausanlagen möglichst gerecht zu werden. Die Fragen an die Bewohnerschaft waren:
Halten Sie den Hausbetreuer/die Hausbetreuerin für ausreichend kompetent?
Neben dem Üblichen, haben Sie diese Hausbetreuung schon öfter wegen spezieller Anliegen kontaktiert? Wenn ja, worum ging es da vorwiegend?
Dass die Bewohner den Hausbetreuern eine für ihre Aufgaben ausreichende Kompetenz – im Querschnitt der Anlagen – nur zu an die 60 % attestieren und sich ein weiteres Fünftel unschlüssig zeigt, erscheint nicht wirklich gerechtfertigt, sieht man in Begehungen, wie Aussehen und Pflegezustand der Anlagen beschaffen sind. Ein Indiz jedoch, dass diese Bewertung von Hausbetreuern nicht für sich allein gelesen werden kann, sondern nur im Gesamtkontext mit weiteren Ergebnissen, zeigen vergleichbare Zufriedenheitswerte. So liegen die Angaben zur Zufriedenheit mit der Ausstattung der Anlagen und auch mit den Leistungen der Hausverwaltung, quer über diverse Leistungsbereiche, immer in einem ähnlichen Bereich – zwischen etwa 60 % und zwei Drittel. Dies kristallisiert sich nach und nach als ein gewisser allgemeiner „Sockel an Zufriedenheit“ heraus. Stark darunter liegt, dies ist zu
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bedenken, das Niveau an Zufriedenheit mit der Konfliktlösung (siehe Ausführungen zu „Ärger“ in diesem Abschnitt). Relativierend wirkt auch das Faktum, dass sich bei Meinungsfragen ein nicht unerheblicher Teil der Antwortenden auf ein „weiß nicht“, ein „vielleicht“ zurückzieht. Position zu beziehen, fällt manchen Bewohnern nicht immer leicht. Gewisse Unterschiede werden noch sichtbar nach Alterstyp, ein wenig auch nach Größentyp der Anlagen: Kompetenz wird eher in älteren Anlagen abgesprochen (31 %) als in neueren (23 %) oder neuesten (18 %). Die Größe einer Anlage scheint die Wertungen nur wenig zu beeinflussen. Sichtbar wird allenfalls, dass offenbar in kleineren Anlagen mit zwischen 101 und 200 Wohnungen die positive Sicht stärker ist. Außerdem zeigt sich sofort ein Widerspruch zu der folgenden Frage, in welchem Umfang der Hausbetreuer über seine Standardagenda hinaus in Anspruch genommen werde – dies nämlich von zwei Drittel der Bewohner. Es ist kaum vorstellbar, dass das immer nur zu Enttäuschung führte (vielleicht kennt die Wiener Mentalität das Loben weniger als das Kritisieren). Bei den mündlichen Befragungen zeigte sich: Auch Zugewanderte halten sich mit Kritik nicht zurück – ein Zeichen für Anpassung? Die Aufschlüsselung zeigt, womit der Hausbetreuer vorrangig von den Bewohnern in Anspruch genommen wird und auf welch unterschiedlichen Ebenen diese Ansprüche liegen. Meist geht es um Haus, Hof, Garten (etwas mehr als die Hälfte), dann um die eigene Wohnung, Reparaturen zum Beispiel. Weiters, zu knapp einem Viertel, um andere Bewohner, also um Ärger. Wahrscheinlich oft wegen der zitierten Ruhestörung? Seltener wohl, weil man meint, der Nachbar brauche Hilfe. Dies sind jedoch Vermutungen. Immerhin – und das ist doch ein interessanter Befund – liegt der Grund für den Kontakt zum Hausbetreuer mit über 30 % im Persönlichen. Und es scheint noch viele weitere Anliegen zu geben. Wie an anderer Stelle erwähnt, gewinnt man bei den Hausbegehungen zumeist den Eindruck perfekt gepflegter Wohnanlagen, weshalb das Kompetenzurteil gegenüber dem Hausbetreuer auch viel mit psychologischen Kategorien zu erklären wäre, sowie dem hohen Anspruchsniveau im Wiener Wohnbau geschuldet sein kann – „man zahlt ja schließlich dafür“ (in Negierung des hohen Förderungsanteils, der in jeder Anlage steckt). Wie sehen nun die Hausbetreuer selbst ihre Position und ihre Rolle in der Wohnanlage? Wie schätzen sie das Zusammenleben der Bewohner ein? Wie erwähnt, wurden sie schriftlich befragt und mit einigen wurden Interviews geführt. Ihre Aussagen sind im Kontext ihres Vertragsverhältnisses mit der Sozialbau zu sehen, sie bieten dennoch eine weitere Facette für das Gesamtbild des Zusammenlebens. Es sieht im
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Übrigen so aus, als wäre der überwiegende Teil dieser Hausbetreuer männlich, zumeist zwischen 40 und 50 Jahre alt, geborene Österreicher. Einige kamen aus anderen Teilen Europas. Die Hausbetreuer kennen ihre Wohnanlage umfassend und sie wissen auch, woran sich Konflikte entzünden können, oder ob, wie und in welchem Umfang Gemeinschaftseinrichtungen genutzt werden. Bei generellen Meinungsfragen zum Leben in der Anlage wie z. B. zu „Mischung“ oder zu Gewicht von Ethnien, halten sie sich deshalb verständlicherweise eher heraus. Und da, wo sie keine Aussage zur Frage nach „Ärger“ machen, kann man wohl davon ausgehen, dass es Ärger gibt. Was die Bedeutung und die Nutzung der Gemeinschaftsanlagen angeht, ist von Hausbetreuern ein eindeutigeres Bild zu erwarten. Der Kinderspielraum wird als sehr wichtig eingeschätzt, teils wichtiger, als ihn die Bewohner selbst sehen. Den Gemeinschaftsraum hält man bei neueren Anlagen für wichtiger als bei älteren. Bei den Begehungen war manchmal zu sehen, dass Hausbetreuer und Hausverwalter wohl auch so Manches sicherlich aus gutem Grund gewissermaßen „laufen lassen“. Bei den schon erwähnten Übergangszonen zwischen der Wohnung und den Flächen der Hausgemeinschaft, den Balkonen, den Vorzonen bei der Wohnungstür, der Gartenterrasse, entwickeln sich „höchst individuelle Biotope“, gegen die ein Hausbetreuer formal gesehen durchaus vorgehen könnte. Aber wenn es die Nachbarn nicht stört? Wozu sollte er eingreifen? Also wieder ein Indiz für im Grunde „gutes Zusammen leben“.
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Sie wissen auch, woran sich Konflikte entzünden können
Die Instanz Hausverwaltung Für generelle Regelungen, wie sie in der Hausordnung stehen, für Abrechnungen und Ähnliches ist die Hausverwaltung zuständig. Sie hat für eine „gute Bewirtschaftung“ zu sorgen: kostensparenden Betrieb, Instandhaltung und Kontrolle von beauftragten Servicefirmen. Den Bewohnern ist das sehr wichtig, denn eine schlechte Bewirtschaftung schlüge sich bei den Nebenkosten negativ zu Buche. Ärger über steigende Kosten könnte zu schlechter Stimmung führen. Aber zu all diesem bedarf es nicht unbedingt eines persönlichen Kontakts mit den Bewohnern, sondern guter Information. Es handelt sich bei diesen Themen nicht um persönliche, sondern mehrere oder alle Bewohner betreffende. Deshalb sähen manche Bewohner gern eine formelle Mieter vertretung (siehe Abschnitt „Eigenorganisation“). Generell jedenfalls sollten die Bewohner über die ihre Wohnanlage betreffenden Belange
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Instanz, die Regeln für Ordnung und Sauberkeit ausgibt
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bestmöglich informiert werden. In jeder Wohnhausanlage gibt es deshalb Schwarze Bretter, neuerdings werden auch elektronische Anzeigetafeln installiert. Die Hausbetreuung ist gewissermaßen ein Puffer zwischen den Bewohnern und der Hausverwaltung. Ziel ist, alle Angelegenheiten vor Ort zu regeln. Die Hausverwaltung ist aber gefragt, wenn Konflikte eine solche Eskalationsstufe erreichen, dass Sanktionierung unumgänglich ist. Sie ist die Instanz, die Regeln für Ordnung und Sauberkeit ausgibt und erforderlichenfalls einschreiten muss. Auch das Thema Sicherheit betrifft die Hausverwaltung, denn sie entscheidet über Vorkehrungen wie etwa Sprechanlagen oder – was die Sozialbau ablehnt – das Verschließen einer Wohnanlage zum Beispiel durch Tore zum öffentlichen Raum oder das Anbringen von Überwachungskameras. Besonders das Thema Sicherheit ist dabei von Ängsten, zurückliegenden Erlebnissen, Erfahrungen usw. überformt. Und auch was unter „Sauberkeit“ oder „Ordnung“ zu verstehen ist, unterscheidet sich je nach Lebensstil. Die Fragen lauteten:
Sorgt die Hausverwaltung zufriedenstellend für Information?
Sorgt die Hausverwaltung zufriedenstellend für Ordnung und Sauberkeit, Instandhaltung, Sicherheit?
Die Zufriedenheit mit der Hausverwaltung erschließt sich besser, wenn nicht allgemein abgefragt wird, sondern die wesentlichen Parameter einer nach dem anderen. Dies spiegelt klarer die Komplexität wider und bringt auch für das Unternehmen differenziertes Feedback. In der ersten Überschau auf alle vier Parameter (Information, Ordnung und Sauberkeit, Instandhaltung, Sicherheit) zeigt sich eine insgesamt „mittelmäßig gute“ Bewertung (wobei sich nur wenige der Stimme enthalten). Es erachtet immer eine Mehrheit die jeweilige Leistung für „sehr oder ausreichend zufriedenstellend“, aber die Spanne ist groß, zwischen doch 80 % beim Spitzenreiter „Information“ und den weiteren mit nur mehr unter zwei Drittel Zustimmung. Die Bestnote „sehr zufrieden“ wird je Parameter nur von unter 20 % vergeben. Dieses Ergebnis ist jedoch nicht stark negativ zu sehen. Es ist verbreitet, auch Institutionen wie Hausverwaltungen gegenüber Vorbehalte wie „die da oben“ zu haben, aber angesichts des relativ starken positiven Feedbacks in vielen anderen Fragen relativiert sich das Bild. Dies soll nicht bedeuten, dass hier nicht doch ein starker Appell in Richtung weitere Verbesserung enthalten ist, in einem Zusammenspiel von guter, prompter Arbeit und positiver, transparenter Kommunikation mit Einbeziehung der jeweiligen Bewohnerschaft. Als sehr wichtiger Mittler,
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„Puffer“, und erster Ansprechpartner ist der Hausbetreuer zu sehen. Die Thematik kann nur im Zusammenspiel beider gesehen werden.
Zufriedenheit mit den Leistungen der Hausverwaltung Nach Bereichen und Größe der Anlage n = 491
sehr oder ausreichend zufrieden mit ... 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 %
Gesamt
Unter 100 WE
100 bis unter 200 WE
200 bis unter 300 WE
Info Ordn ung & rmation. Saub erkeit Insta ndha ltung Siche rheit Durc hsch nitt
Info Ordn ung & rmation. Saub erkeit Insta ndha ltung Siche rheit Durc hsch nitt
Info Ordn ung & rmation. Saub erkeit Insta ndha ltung Siche rheit Durc hsch nitt
Info Ordn ung & rmation. Saub erkeit Insta ndha ltung Siche rheit Durc hsch nitt
Info Ordn ung & rmation. Saub erkeit Insta ndha ltung Siche rheit Durc hsch nitt
0 %
300 und mehr WE
Mit der Informationstätigkeit der Sozialbau sind, wie angeführt, doch 80 % der Befragten ausreichend oder sehr zufrieden. Das Bild wird sich möglicherweise noch verbessern, wenn erst einmal in allen Wohnanlagen elektronische Informationsbildschirme angebracht sein werden. Durch die neuen Informationsmedien wird sich dies zusätzlich verändern, wenn sich der Umgang damit über alle Altersgruppen eingespielt hat. Ob und wie eine Information aufgenommen wird, ist auch eine Generationenfrage und hängt von der Art und Weise der Präsentation ab. In den anderen Themen besteht weniger Zustimmung zur Arbeit der Hausverwaltung. Für Sauberkeit, Instandhaltung und Sicherheit sieht man nur zu jeweils rund 60 % bis zu einem Drittel ausreichend gesorgt. Sichtbar wurde, dass deutliche Meinungsunterschiede zwischen den einzelnen Anlagen bestehen. Dieses Bild kann jedoch interessanterweise durch die Begehung der ausgewählten 16 Wohnanlagen in keiner Weise bestätigt werden. Es sind kaum Spuren – nach denen aufmerksam gesucht wurde – von Verunreinigung oder mangelnder Instandhaltung zu sehen. Für die Zonen
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des Übergangs zwischen den gemeinschaftlichen Bereichen und dem Privaten gibt es unterschiedliche Verhaltensweisen, die, wie anzunehmen ist, zu Ärger oder doch zu negativer Wahrnehmung führen können. Diese Zonen werden mitunter intensiv „privatisiert“, es gibt Ausnahmefälle, wo sich gefährliche und sogar feuerpolizeilich unzulässige „Rumpelkammern“ zeigen. Hier ist wohl am ehesten die architektonische Gestaltung in die Pflicht zu nehmen. Unter dem Thema „Sicherheit“ subsumieren sich äußerst unterschiedliche Bereiche, das haben auch die mündlichen Interviews gezeigt. Dies kann für viele körperliche Sicherheit bedeuten, Schutz vor Sturz, Verletzung und ähnlichem oder vor Witterungseinflüssen, und reicht bis zum Schutz vor kriminellen Handlungen, Bedrohung, Diebstahl, Einbruch. Dies ist bei der Wertung der Ergebnisse zu berücksichtigen. Es ist bekannt, dass gerade bei diesem Punkt Gefühle oder Meinungen eine große Rolle spielen. Auch hier kann schon im Vorfeld die architektonische Planung der Wohnanlagen entscheidend sein, indem robust und absichernd gestaltet wird und Angsträume vermieden werden. Diesbezüglich traten bei der Befragung und Begehung einzelne krasse Negativfälle zutage. Dies kann gute Hausverwaltung erheblich behindern. Möglich, dass sich hinter den Gesamtwerten zu den einzelnen Fragen große Unterschiede nach Alter und Lebensform der antwortenden Bewohner verbergen. Ansprüche an den Wohnort wandeln sich mit den Lebensphasen und so potenziell auch die Kritik an einer Hausverwaltung. Die Betrachtung der Ergebnisse nach Altersgruppen sowie nach Haushaltstyp zeigen jedoch nur mäßige Unterschiede. Die Zufriedensten sind generell die jüngsten Bewohner oder aber die Alleinlebenden (unterschiedlichen Alters). Die größten Differenzen zeigen sich mit Abstand in der Zufriedenheit mit der Obsorge für Ordnung und Sauberkeit (13 Prozentpunkte). Hier ist die Differenz zwischen Personen mittleren Alters (36 bis 50) – den Zufriedensten – und der höchsten Altersgruppe (66 +) – den Unzufriedensten – besonders hoch. Sonstige Unterschiede sind deutlich mäßiger. Den Ältesten ist also Ordnung und Sauberkeit ein besonderes Anliegen. Deutlich größere Unterschiede zeigen sich je Thema, werden die verschiedenen Arten von Haushalten angesehen: Mit der Verwaltung von Ordnung und Sauberkeit sind Paare ohne Kinder und Familien merkbar unzufriedener als die kleinen Haushalte (Alleinlebende und Alleinerziehende), bei Sicherheit sind es wieder die Paare ohne Kinder. Trennungslinien laufen hier also nicht nach „mit oder ohne Kinder leben“, das Bild zeigt sich dispers. Wenn die Lebensphase also nicht so sehr entscheidend für die Einstellungen zur Hausverwaltung ist, kann es natürlich der Typ der
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Anlagen sein. Und es wird deutlich sichtbar, sowohl im Hinblick auf Größe als auch Anlagenalter. Nach Größe differieren die Ansichten am breitesten und zwar zu allen Themen. Ein einfacher Schluss – steigend oder fallend mit Anlagengröße – lässt sich jedoch keineswegs ziehen. So sind die Bewohner der kleineren Anlagen (von 100 bis unter 200 Wohnungen) zumeist unter den Zufriedensten, diejenigen aus Anlagen mit 200 bis unter 300 die Unzufriedensten. Nach Anlagenalter sind es vor allem zwei Themen, die auffallen: die Information und – wieder – die Ordnung und Sauberkeit. Auch „steigend oder fallend mit Anlagenalter“ ist nicht erkennbar. Es sind die Bewohner der Anlagen aus 2006 bis 2010, die überdurchschnittlich viel Kritik äußern. Offenbar gibt es also in kleineren bzw. „mittelalten“ Anlagen spezielle Konstellationen, die Missmut erzeugen. Dies sollte Hinweise für die Hausverwaltung geben, worauf besondere Aufmerksamkeit zu lenken ist.
q Hausgemeinschafts-Feste Die Hausverwaltung der Sozialbau meint, dass Förderung des Gemeinschaftslebens sinnvoll ist und organisiert deshalb in den Wohnanlagen einmal im Jahr ein Bewohnerfest. Auch Mitarbeiter und natürlich der Hausbetreuer sind mit dabei. Die Frage lautete diesbezüglich:
Falls es von der Hausgemeinschaft oder der Sozialbau organisierte Hausgemeinschafts-Feste (Sommerfeste, Winterfeste ...) gibt, nehmen Sie oder Teile Ihrer Familie daran teil?
Die Hausfeste sind „von oben“ und deshalb routinemäßig gut organisiert. Mehr als die Hälfte der Bewohner sagt, zumindest manchmal zu den Festen zu kommen – eigentlich eine gute Quote, mit Blick auf „gutes Zusammenleben“ positiv zu sehen. Nicht viele gemeinnützige Wohnungsunternehmen organisieren Derartiges. Weiters entwickeln sich in Anlagen auch selbstorganisierte Feste oder kleine entspannte Treffen, sofern sich informelle Gruppen und Vereine in der Anlage gefunden haben. Davon war in den untersuchten Anlagen nur vereinzelt zu hören. Ein Ausnahmebeispiel dürften die über lange Jahre immer wieder stattfindenden Hausfeste im Modellprojekt „Globaler Hof“ (siehe Beitrag) sein. Hier werden Feste von der Hausgemeinschaft bzw. dem Bewohnerverein organisiert, und diese haben deshalb einen ganz anderen Charakter. Man hilft mit, ist stolz darauf, was man beizusteuern hat, zeigt explizit kulturelle Eigenarten. Jedenfalls sind diese Feste ein Ausdruck bewussten Zusammenlebens eines großen Teils der Hausbewohner, was sich von den „von oben“ organisierten Aktivitäten weniger sagen lässt.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
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Spielraum für Eigenorganisation ist bei dieser Wohnrechtsform begrenzt
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Interesse an Eigenorganisation Aktive Beteiligung an den Belangen der Hausgemeinschaft ist ein wichtiges Indiz für Identifikation mit der Wohnanlage und für Integration. Dabei ist zu unterscheiden zwischen formeller Beteiligung – Verein, gewählte Interessenvertretung – und informeller Teilhabe z. B. an Aktio nen, Arbeitskreisen oder in digitalen Gruppen. Für das Interesse an informeller Teilhabe müssen konkrete Voraussetzungen gegeben sein – gleich gelagerte Alltagsinteressen, ähnliche politische Einstellungen. Letzteres ist bei den Wohnanlagen der gemeinnützigen Unternehmen natürlich nicht erkennbar. Man zieht hier nicht zu Gleichgesinnten, wie bei Baugruppen-Projekten. Die soziale Selektion vollzieht sich im Wesentlichen über den Mietpreis und die Zugangsregelungen. Aber gemeinsame Alltagsinteressen sind in bestimmten Lebensphasen der Bewohner zahlreich, besonders bei Familien mit Kindern. Bei den untersuchten Anlagen handelt es sich überwiegend um Mietwohnungen. Der Spielraum für Eigenorganisation ist bei dieser Wohnrechtsform begrenzt. Bei wirtschaftlichen Angelegenheiten kann es Teilhabe gar nicht geben (unter dem Dach der Sozialbau befinden sich auch Genossenschaften mit eigenem Statut, in dem die Mitwirkungsmöglichkeiten geregelt sind). Dennoch bietet die Sozialbau – wie am Beispiel „Globaler Hof“ zu sehen ist – Spielraum für Eigenorganisation, z. B. bei der Nutzung der Gemeinschaftsräume. Heute hat sich die Teilhabe freilich schon vielfach – selbst über die Generationen hinweg – vom Konkreten weg ins Virtuelle verlagert, in die Foren der Sozialen Netzwerke. Ein anderer Aspekt ist eine Mietervertretung, welche die Interessen der Mieter gegenüber der Sozialbau vertritt. Diese Form der Eigenorganisation geht naturgemäß davon aus, dass es Wünsche oder Anliegen gibt, von denen man meint, man könne diese vom Wohnungsunternehmen nur in organisierter Weise einfordern. Bei den Genossenschaften gibt es die Funktion des „Mieterdelegierten“. Für das „gute Zusammenleben“ kann die Eigenorganisation eine große Rolle spielen, wobei die nicht formalisierte Form wahrscheinlich wichtiger ist, denn hier geht es nicht um Beschließen und Delegieren, sondern um konkretes Tun.
Gibt es in dieser Wohnhausanlage folgende Einrichtungen: Bewohnerschaftsverein, Internet-Bewohnerforum, Mietervertretung?
Wenn nicht, würden Sie etwas Derartiges begrüßen?
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Möchten Sie gerne mehr mitbestimmen?
Zur Frage, ob man diverse formelle und informelle Formen der Beteiligung an den Belangen der Wohnanlage begrüßen würde, ergeben die Antworten ein diffuses Bild von Uninformiertheit und Unschlüssigkeit. Im Unterschied zu den meisten anderen Themen haben sich hierzu auch etwas weniger Bewohner geäußert (zwischen 85 % und 90 %). Die generelle Frage, ob man mehr Mitbestimmung wünsche, wurde von mehr als der Hälfte der Antwortenden bejaht. Nimmt man die etwas Unschlüssigen hinzu, sind das bis zu 84 % der Bewohner – eine sehr hohe Marke, auch unter Berücksichtigung von etwas weniger Antworten.
Wunsch nach mehr Mitbestimmung Nach Alter der Bewohner n = 425
100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 %
ja weiß nicht – vielleicht nein ...............................
58 % 52 %
50 %
45 % 33 %
32 %
32 %
30 %
23 %
20 %
17 %
16 %
10 %
12 %
0 % Alle
19 bis 35 Jahre
36 bis 50 Jahre
Ab 51 Jahren
Doch auf welche Weise mitbestimmen? Vorab ist einiges an Unklarheiten über etwaiges Vorhandensein von Mitwirkungsmöglichkeiten festzustellen, denn es gab oft sogar unterschiedliche Aussagen innerhalb ein und derselben Anlage. Dies bedeutet auch: Selbst wenn es eine bestimmte Form der Beteiligung geben sollte, hat sich das nicht überall herumgesprochen. Vermutlich gibt es, vor allem in neueren Anlagen, kaum Bewohnerschaftsvereine. Bei der Frage nach der Meinung zu einem möglichen Bewohnerschaftsverein äußerte sich nur ein Viertel dezidiert positiv. Weitere rund 40 % waren unschlüssig – „weiß nicht, vielleicht“ –, ablehnend äußert sich ein gutes Drittel. „Dafür“ und „vielleicht“ zusammengenommen macht das aber dann doch zwei Drittel aus. Am ehesten dürften sich in Sozialbau-Anlagen künftig Internet-Bewohnerforen verstärken. Ein Fünftel der Bewohner meint, so etwas gäbe es schon. In den ältesten offenbar kaum, ab 2006 jedoch durchaus, in den „mittelalten“ Anlagen (2006–2010) behaupten dies sogar 38 % der Antwortenden. Trotzdem können unter jenen, die nicht eingebunden sind, viele offenbar noch nichts Rechtes damit anfangen. Nur ein Fünftel
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wünschte sich eine solche Plattform, viele sind unentschlossen. Und drei von zehn Bewohnern wollen das nicht. Immerhin bedeutete das doch eine Verdopplung der schon Involvierten (mehrheitlich Einheimische). Anders sieht es bei der Frage nach einer Mietervertretung aus. Der Rücklauf ist etwas größer und die Antworten sind eindeutiger – obgleich es vorkommt, dass Bewohner in ein und demselben Haus meinen, es gäbe eine Mietervertretung, andere das Gegenteil sagen. Tatsächlich dürfte es bei etwa 11 % eine Mietervertretung geben, am ehesten in den ältesten Anlagen (aus 2000 bis 2005), mit 15 %. Offenbar verweisen diese Anteile auf die Genossenschaften, die ein entsprechendes Statut haben. Die Zustimmung, eine Mietervertretung einzurichten, liegt bei über 40 %, zusammen mit den „vielleicht“-Antworten bei über 80 %. Offenbar sind es die eher „formellen“ Formen der Beteiligung, die Interesse wecken. Dies spricht für das Bedürfnis, konkrete Anliegen mit der Hausverwaltung auszuhandeln, eben das „Zusammenleben“.
Meinungen zu Einrichtungen der Eigenorganisation n = 398/343/412
50 %
Was halten Sie von ...
40 %
43 %
40 %
39 %
30 % wäre gut
20 %
weiß nicht – vielleicht
10 %
nicht notwendig.
130
35 % 38 %
36 %
25 %
26 %
Bewohnerverein
InternetBewohnerforum
16 %
0 % Mietervertretung
Es ist noch ein Blick auf das Alter der antwortenden Bewohner von Interesse. Nicht überraschend zeigt sich, dass über-65-Jährige durchwegs wahrscheinlich in Anlagen wohnen, in denen derartige Einrichtungen seltener sind, aber auch das Interesse daran am geringsten. Alle Altersgruppen unter 55 Jahren insgesamt erweisen sich als merkbar interessierter. Ein Beispiel: Bei der Frage „Verein“ sind nur unter 10 % der über-65-Jährigen interessiert, aber 23–28 % der anderen. Nicht zu behaupten ist andererseits, das Interesse wäre umso größer, je jünger die Antwortenden sind. Selbst beim Thema Internet nicht, die Quoten bewegen sich in ähnlichen Bereichen. Nur bei der Frage nach mehr Mitbestimmungsmöglichkeit zeigt sich eine deutliche Zielgruppe: Sind es im Durchschnitt etwas über die Hälfte, die dies gerne hätten, so sind es in der Altersgruppe der 36- bis 50-Jährigen nahezu 60 %. Was können diese Aussagen für die Frage nach dem „guten Zusammenleben“ bedeuten? Der diffuse Grad der Informiertheit kann gewiss
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nicht nur dem Informanten zugeschoben werden, denn bei den heutigen Möglichkeiten sich zu informieren, liegt es schon am Empfänger, aktiv zu werden. Denkt man an die hohe Quote bei der Frage nach nachbarschaftlichen Kontakten, die mit ein wesentliches Indiz für „gutes Zusammenleben“ ist, erweist sich organisierte Kommunikation offenbar als kein besonders diskutiertes Thema. Weil es auch wenig gemeinsame kulturelle Aktivitäten der Hausbewohner gibt, fragen sich manche: „Wozu soll dann ein Verein gut sein?“ Kinderfeste oder eine Tauschbörse kann man auch in einfacher, informeller Absprache organisieren. Das Internetforum mag für einige Bewohner noch ungewohnt sein, und jene, die sich bereits in Foren und Facebook bewegen, werden ein Hausgemeinschaftsforum vielleicht kaum aufsuchen. Aber eine Vertretung – dann eindeutig gegenüber der Sozialbau-Hausverwaltung, wem sonst? – sähe man schon gerne. Eine Beteiligung daran steht aber offenbar infrage. Positiv ist, dass offenbar nicht nur die jüngsten Bewohner aktiv sein wollen – im Gegenteil, diese haben oft kleine Kinder und sind mit Mehrfachansprüchen vollauf beschäftigt. Viele Bewohner sind also, breit über die Altersgruppen hinweg (abgesehen von den Ältesten), informiert, motiviert und äußern sich auch. Dieses Potenzial gelte es zu „heben“ (siehe Abschnitt „Schlussbetrachtungen“).
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Organisierte Kommunikation kein besonders diskutiertes Thema
Bedeutung des „Grätzels“ Kann man sich in einer Wohnanlage durchaus integriert fühlen, kann das Zusammenleben sehr gut sein, wenn man dasselbe nicht auch für die Wohnumgebung, das „Grätzel“, empfindet? Mag man die Gegend, wohin man gezogen ist? Gibt es einen wechselseitigen Bezug zwischen der Einschätzung des Quartiers und jener der Wohnanlage? Die Sozialbau hat in Wien Wohnanlagen in den meisten Bezirken, und dort in unterschiedlichen Stadtvierteln errichtet. Die Entscheidung der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, wo sie in Wien investieren, ist nicht nur Ergebnis einer bestimmten zielgerichteten Anlagestrategie (z. B. Vermeidung von Streubesitz aus organisatori- schen Gründen, Meiden von Quartieren mit keinem so guten Ruf usw.), sondern man muss auch dort bauen, wo ein gewidmetes Grundstück verfügbar ist, z. B. über einen Bauträgerwettbewerb. Leistbare Bauareale sind inzwischen rar. Bei der Auswahl der 16 Wohnanlagen für diese Studie war die Lage im Stadtgebiet insofern ein Kriterium, als das Spektrum der 69 im Untersuchungszeitraum errichteten Wohnanlagen auch in dieser Hinsicht abgebildet werden sollte.
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Lagequalität ist ein zentraler Aspekt
Soziale Gruppen, die einen Abwärtstrend beschleunigen
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Eine Wohnanlage ist kein abgeschotteter Mikrokosmos, sondern Teil eines größeren städtischen Kontextes. Die Einschätzung der eigenen Wohnanlage wird – wie auch immer – gewiss auch von der des Umfelds oder des Stadtteils beeinflusst. Das Image einer Anlage und dasjenige des Bezirks oder auch der näheren Umgebung bedingen einander. Diese Art von Lagequalität ist ein zentraler Aspekt für Stolzsein und damit auch Zufriedenheit – und in Folge auch für ein „gutes Zusammenleben“. Mit jedem Umzug möchte man seine Wohnsituation verbessern und dazu gehört auch die Qualität des Grätzels. Diese trägt entscheidend zur Bewältigung des Alltags bei, unterschiedlich je nach der aktuellen sozialen Situation der Bewohner: Geschäfte, Ärzte, Kindergärten usw., je nachdem, was man gerade braucht. Junge Familien fragen nach dem Kindergarten, die Alten wünschen eine gute medizinische und soziale Versorgung in der Nähe. Berufstätige, die morgens aus dem Haus gehen und abends heimkommen, die unterwegs irgendwo einkaufen, interessieren die Einkaufsmöglichkeiten wahrscheinlich in geringerem Maße als eine junge Familie mit kleinen Kindern. Vor allem die Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz und auch die Nähe zu Parks oder anderen Grünräumen sind ein wichtiges Thema. Wie die Statistik in dieser Studie zeigt, sind allerdings Mängel der vorigen Wohnung und persönliche Angelegenheiten ein Umzugsgrund gewesen, Unzufriedenheit mit dem Grätzel deutlich weniger. Es ist heute nicht mehr so, dass ein enger Freundeskreis oder Verwandte im Nahbereich wohnen. Die Qualitäten eines Wohnstandortes liegen in der seines Umfelds – urban oder eher suburban –, im „Milieu“, in der räumlichen und ästhetischen Ausprägung. Bei der Einschätzung des Grätzels spielt auch eine Rolle, dass sich – besonders in zentrumsnahen Bezirken – ein Strukturwandel vollziehen kann, der sich auch auf die Wohnanlage in positiv oder negativ empfundener Weise auswirkt. Ein Quartier kann „Gentrifikation“ erleben oder es können soziale Gruppen zuziehen, die einen Abwärtstrend beschleunigen. Aufwertung kann zu mehr Buntheit, aber auch zu höheren Wohnund Lebenshaltungskosten führen. Ein Abwärtstrend dazu, dass sich länger hier Wohnende dann wie Fremde fühlen. Frage:
Mögen Sie Ihr Grätzel, Ihre Wohnumgebung?
Für die Untersuchung wurden explizit nicht nur Wohnanlagen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Größe, sondern auch in unterschiedlich strukturierten Bezirken ausgewählt. Angesichts des Faktums, dass die Qualitäten der jeweiligen Wohnumgebung kaum unterschiedlicher sein hätten können, liegt im Querschnitt ein sehr
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
positives Ergebnis vor: Zusammen sagen 89 % der Antwortenden „ja, wir mögen unser Grätzel sehr“ bzw. „wir finden es ganz okay“ (stärkste und weitere Zustimmung etwa „halbe-halbe“). Bei keiner anderen Frage gab es eine so hohe positive Bewertung.
Mögen Sie Ihr Grätzel, Ihre Wohnumgebung? n = 492
nein 1 %
keine Meinung 1 %
nein, nicht besonders 9 %
ja, ist ok 48 %
ja, sehr 41 %
Unter denen, die ihr Viertel mögen, gibt es allerdings von Anlage zu Anlage einige Unterschiede. Woran mag es liegen? Hier ist vorab ein Blick auf den Lagetyp, also welchen Teilen des Stadtgebiets die Anlagen zuzuordnen sind, sinnvoll. Zu berücksichtigen ist dabei, dass drei Lagetypen, nämlich „Süden, Transdanubien, Sonstige (vorwiegend Westen)“ jeweils Gruppen von Bezirken umfassen. Dadurch kommt die jeweils spezifische Lage der enthaltenen Anlagen (sei es im Altbaugebiet, an der Peripherie etc.) nicht zum Tragen. Wie zu erwarten, zeigt dieser Vergleich so gut wie keine Unterschiede in der Grätzelbewertung. Eine weitere Analyse nach Entfernung zum Stadtzentrum zeigt jedoch stadtfernere Lagen mit nahe gelegener freier Landschaft als Gewinner – trotz der vergleichsweise ungünstigen Anbindung an die Stadt. Man ist durchaus stolz darauf, so privilegiert im Grünen zu wohnen. Diese Einschätzung könnte sich im Laufe der jeweiligen Biografie wieder ändern, z. B. wenn die Kinder groß geworden sind. Ein Blick auf das Alter der Anlagen gibt weitere Hinweise. Gegenüber den ältesten, vor 10 bis 15 Jahren bezogenen Anlagen, wo die positive Grätzelbewertung bei 83 % liegt, ist diese in allen neueren mit über 90 % um einiges höher. Weiters scheint es einen Gewöhnungseffekt zu geben: Je älter die Bewohner, desto häufiger sagen sie: „ja, mag ich sehr“. Dies alles erklärt noch nicht die Unterschiede bei der Bewertung einzelner Anlagen. Es zeigt sich zum Beispiel auf der einen Seite eine negative Wertung in einem stark migrantisch geprägten Bezirksteil, wo die Bewertung der Umgebung wahrscheinlich auf diejenige der Wohnanlage zurückwirkt. Aber es fällt auch ein zentrumsfernes Gebiet mit vielen städtischen Wohnanlagen auf, das negativer als viele andere bewertet wird. Es ist
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anzunehmen, dass noch mehr derartige Fälle in der großen Zahl neuerer Wohnanlagen der Sozialbau anzutreffen sind. Inwieweit wirkt sich diese Zuneigung zum Grätzel auf die Identifikation mit der Wohnanlage selbst aus? In mehreren Interviews wurde auf die Frage „Wenn Sie Besuch von Leuten bekommen, welche Ihre Wohnsituation noch nicht kennen, worauf weisen Sie besonders hin?“ die nähere und weitere Wohnumgebung an vorderster Stelle genannt. Die „Relevanz Die „Relevanz des Ortes“ wird also sichtbar. Um vorschnelle Bewertundes Ortes“ gen zu vermeiden, wären jedenfalls tiefergehende Analysen anhand von wird sichtbar Fallbeispielen notwendig. Zum Vergleich könnten vorhandene aktuelle und detaillierte Stadtgebietsanalysen herangezogen werden (siehe beispielhaft Stadt Wien, 2016). Versucht man, für die Bewertung eines Wohnanlagenstandorts Kriterien wie Nähe zu Geschäften des Tagesbedarfs, zur nächsten Haltestelle, zu Parks oder Ruhe – messbare Kriterien also – anzuwenden, ergeben sich möglicherweise andere Bewertungen als die der Bewohner selbst. Die Entscheidung für ein bestimmtes Grätzel hat auch Bedeutung für das Selbstwertgefühl. Bei der Wohnung beginnt das Anerkanntwerden schon mit der Wahl der Adresse. Negative Effekte auf das Fortkommen durch eine „schlecht beleumundete“ Adresse sind generell bekannt, in Wien jedoch nicht sonderlich ausgeprägt. Für die dazu Befragten gelten jedoch offenbar sehr viele Bereiche dieser Stadt als „gute Viertel“. Das bedeutet auch, dass Wahlmöglichkeit für den Einzelnen generell wichtig ist. In Wien war es jedoch, wie die Erhebung zeigt, an sich leicht, etwas Passendes zu finden. Und auch aktuell, selbst auf dem gegenwärtig angespannten Wiener Wohnungsmarkt, gibt es in einem bestimmten Umfang Wahlmöglichkeiten, jedenfalls im Segment der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen. So sehen wir es als positives Zeichen für das Vorhandensein von „gutem Zusammenleben“, dass sich die Befragten so positiv zu ihrem Grätzel äußerten.
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Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Ethnische Dimensionen des Zusammenlebens „Gutes Zusammenleben“ ist ein Wunsch, der, weil in allen Wohnanlagen gleich, zunächst nichts mit ethnischer Zugehörigkeit zu tun hat. Es sind die alltäglichen kleinen Dinge, die es ausmachen: Kontakte mit den Nachbarn, Ärger, Kompetenz des Hausbetreuers usw. Die mit Zuwanderung verbundene Vielfalt kann jedoch darüber hinausgehende Anforderungen an das Zusammenleben stellen. Bei Fragen, die das inter-ethnische Zusammenleben betreffen, wird – anders als bei den allgemeinen – die Personalität des Einzelnen stark berührt. Antworten auf selbst ganz einfache Fragen zu Meinung und Wahrnehmung über inter-ethnisches Zusammenleben sind durch die Biografie des Einzelnen geprägt. Die Mehrheit der Personen beantwortet aber bereitwillig auch persönliche Fragen. In der Zusammenschau ergibt sich daraus ein der Wirklichkeit nahekommendes Bild. Hingewiesen sei nochmals: Der Gesamtkreis der Antwortenden in der Befragung bildet nicht die tatsächlichen Anteile von Personen unterschiedlicher Herkunft in den Anlagen ab. Wie schon erläutert, birgt die Beantwortung schriftlicher Fragebögen Hürden wie Barrieren bei der deutschen Sprache und Schrift. Daher ist anzunehmen, dass Zuwanderer – vor allem jene, die sich noch nicht lange im Land aufhalten – in der Gruppe der Antwortenden unterrepräsentiert sind. Der inzwischen hohe Anteil von Zuwanderer-Haushalten ist aber zumindest insofern in den Ergebnissen vertreten, als sich zu etwa zwei Drittel „Österreicher seit Geburt“ und zu mindestens einem Drittel Personen mit „Migrationsbezug“ unterschiedlicher Art beteiligt haben. Letztere sind vorwiegend schon seit mehr als zehn Jahren Eingebürgerte.
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Zuwanderer in der Gruppe der Antwortenden unterrepräsentiert
Inter-ethnische Kontakte Vorhergehend wurde berichtet, eine deutliche Mehrheit der Antwortenden hätte Kontakte zu Nachbarn, die „über das Guten-Tag-Sagen hinausgehen“, angegeben. Das bloße Grüßen wäre ja noch kein Indikator für „gutes Zusammenleben“, zumindest kein besonders anspruchsvoller. Die Frage implizierte, dass bestimmte Kommunikationsformen so selbstverständlich sind, dass sie der Erwähnung eigentlich nicht bedürfen. Dennoch sind sowohl die Kontakte, die man höflicherweise austauscht, als auch jene, die mehr umfassen, Begegnungen, durch wechselseitige Beurteilungen mitbestimmt. Kontakte zwischen
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Selbst gleiche oder ähnliche Kodierungen werden unterschiedlich interpretiert
Nähere Kontakte sind leichter, wenn Nachbarn gleiche Interessen zeigen
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Menschen sind ein Austausch von Informationen, die auf gesellschaftlichen Kodierungen beruhen, von bestimmten Gesten, die landläufig als Höflichkeit oder Anerkennung oder Ablehnung gelten. Alles, was wir nach außen zeigen, von der Kleidung bis zu den Bewegungen, ist für den Anderen Information, die er nach seinen eigenen Mustern bewertet. Jede Kultur entwickelt ihre spezifischen Formen derartiger Alltagskommunikation. Selbst gleiche oder ähnliche Kodierungen werden deshalb oft unterschiedlich interpretiert. Auch soziale Gruppen, die sich von anderen abgrenzen wollen, suchen explizit nach jeweils eigenen Kommunikationsformen. Sogenannte „Parallelgesellschaften“ zeichnen sich durch die Verwendung spezifischer Muster aus, die nur Mitglieder verstehen. Auch Kinder und Jugendliche möchten oft so ihre Identität finden. Für Kontakte, die „über das Guten-Tag-Sagen hinausgehen“, bestehen also Hürden. Nach einer Umfrage im Rahmen des „Zuwanderer-Monitorings“ (Verwiebe et al., 2015) haben 96 % aller Wiener im Alltag Kontakte mit Zuwanderern – klar, denn viele Beschäftigungen in der Stadt werden von diesen ausgeführt, in manchen Sparten sind sie sogar dominant. Es liegt auf der Hand, dass man sich in diesem Rahmen aneinander gewöhnt. An Respekt der Einheimischen scheint es jedoch mitunter zu fehlen, wenn laut Monitoring 31 % der Zuwanderer von Diskriminierungen in verschiedenen Lebensbereichen, bei der Wohnungssuche oder im öffentlichen Raum berichten (zum jeweiligen „Respekt“ siehe später in diesem Abschnitt). Auf der Sympathie-Skala stehen Deutsche (derzeit Wiens größte Zuwanderergruppe) vorne, denn sie haben weitgehend die gleiche Kultur und Lebensform wie Österreicher. Russen, Türken oder Menschen aus Afrika und dem Vorderen Orient stehen am Ende der Skala. Behauptet wird, Migranten hätten in erster Linie engeren Kontakt mit ihren Landsleuten. In den Wohnanlagen der gemeinnützigen Unternehmen orientieren sich die zugewanderten Bewohner vermutlich stärker als etwa in städtischen Wohnformen an den landesüblichen oder mittelständischen Formen des alltäglichen Miteinanders, denn die Zugänge in dieses Segment stehen eher Aufstiegsorientierten, meist der zweiten Generation, offen. Deshalb sind wohl die Hürden, die für engere Kontakte überwunden werden müssen, weniger hoch. Pflegen allerdings Zuwanderer in einer Wohnanlage untereinander vorwiegend ihre jeweils spezifischen Kommunikationsformen (z. B. ihre Sprache im Beisein von anderen, die sie nicht verstehen), sind Begegnung und Austausch sicherlich erschwert. Nähere Kontakte sind leichter zu pflegen, wenn Nachbarn aufgrund ihrer sozialen Situation gleiche Interessen zeigen, etwa wegen der Kinder, wenn Geselligkeit gesucht wird oder
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Dienstleistungen ausgetauscht werden. Größere Nähe setzt ein gewisses gegenseitiges Grundvertrauen voraus. Im Fragebogen wurden einerseits Antworten gesucht, welche die gesamte Bewohnerschaft betreffen, andererseits wurde spezifisch dem Zusammenleben von Einheimischen und Zuwanderern nachgegangen. Zwei Fragen waren demnach relevant:
Haben Sie zu Nachbarinnen und Nachbarn Kontakte, die über das „Guten-Tag-Sagen“ hinausgehen?
Schließt das auch Kontakte zu Nachbarinnen und Nachbarn anderer Herkunft ein?
Da bekanntlich Kinder untereinander oft noch spontaner, „natürlicher“ – also nicht von bestimmten Kodierungen beeinflusst – und leichter Barrieren überwinden und darüber hinaus auch Katalysatoren für Kontakte zwischen den Erwachsenen sind, wurde vertiefend nachgefragt:
Und falls Sie mit Ihnen wohnende Kinder haben: Haben diese Kontakte zu Kindern anderer Herkunft in der Anlage?
Zu berücksichtigen ist, dass es bei dieser Thematik keineswegs nur um eine Beziehung zwischen Einheimischen und Zuwanderern geht, Angesprochen angesprochen ist vielmehr ein breites Flechtwerk. Wie die Fragen ist ein breites nach der Vielfalt von Bewohnern nach Herkunftsländern zeigen Flechtwerk (siehe Kapitel „Ethnische Sichtbarkeit“), gibt es inzwischen in den Wohnanlagen eine durchaus vielfältige Palette interkultureller und sozialer Begegnungen. Es geht in den gewonnenen Antworten also auch um ein Miteinander unterschiedlicher nicht-österreichischer Bewohner. Wie im Kapitel „Kontakte“ mehrfach beschrieben, ist die Kontaktdichte generell relativ hoch – gut 7 von 10 Bewohnern geben an, dies im Haus zu pflegen. Von diesen wiederum präzisierten erneut gut 70 %, dass das auch Nachbarn anderer Herkunft einschließe. Gründe für die 30 % Bewohner, die hier fehlen, könnten in Vermeidung bestehen – von einer Seite oder von beiden – aber auch schlicht darin, dass vielleicht sehr wenige Zuwanderer in der Anlage wohnen. Anzumerken ist weiters, dass – was für Kontakte generell gilt – diese offenbar oft nur die Stiegenhaus- oder Gangnachbarn umfassen. Die Aussage eines Einheimischen im Interview steht dafür: „Auf meiner Stiege gibt es nur Österreicher.“ Nutzt ein einheimischer Bewohner auch die Gemeinschaftseinrichtungen kaum oder gar nicht, kann er in der Tat wohnen, ohne in alltäglichen Kontakt mit Zuwanderern zu kommen.
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Nähere Begegnungen können sich nur durch die alltäglichen entwickeln. Die hausinternen Kommunikationsbereiche (Stiegenhaus, Gänge, Laubengänge usw.) sind bei neueren Anlagen der Sozialbau tatsächlich unterschiedlich. Manche sind attraktiv, andere wieder rein funktional organisiert. Aus den obigen Angaben ist also insgesamt zu konstatieren, dass von allen Antwortenden in Summe rund die Hälfte inter-ethnische Begegnungen (über das „Guten-Tag-Sagen“ hinaus) pflegt. Personen mit Migrationsbezug zeigen sich kontaktfreudiger als Einheimische: 80 % gegenüber 65 %; dagegen geben nur 12 % (gegenüber 28 %) explizit „keinen Kontakt“ an. Familien mit Kindern, insgesamt die kontaktfreudigsten, sind in beiden Gruppen in gleichem Ausmaß vertreten. Das verfälscht also nicht den Befund.
Nachbarschaftskontakte, über das „Guten-TagSagen“ hinaus
100 % 90 % 80 % 70 %
Nach Herkunft
60 %
n = 498
50 %
25 %
30 %
22 %
40 % 30 % mehr als 5 Kontakte
20 %
wenige Kontakte
10 %
keine Kontakte
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46 %
46 % 27 %
31 %
46 % 19 %
0 % Alle
Einheimische
Mit Migrationsbezug
In den verschiedenen Anlagen sind die Differenzen mäßig, in neueren Anlagen besteht offenbar etwas mehr inter-ethnischer Kontakt, in alten Anlagen hielt man sich zu dieser Frage häufiger bedeckt. Auch in solchen unterschiedlicher Größe ist zumeist Begegnung an der Tagesordnung, eventuell hervorzuheben sind Anlagen mit 100 bis unter 200 Wohnungen, dort sind sie besonders häufig. Verständlicherweise hat dazu nur ein kleinerer Teil der Befragten geantwortet – diejenigen, die mit Kindern zu tun haben. Unter ihnen bestätigen etwa 6 von 10 inter-ethnische Kinderkontakte. In den jüngsten Anlagen sind es ein wenig mehr – vielleicht auch, weil dort die jüngsten Kinder wohnen, und „der Sandkasten zusammenbringt“. In den älteren Anlagen, wo die einstmals als Kinder Eingezogenen jetzt Jugendliche sind, ist die Rate durchschnittlich. All dies sind Hinweise darauf, dass bei Bewertungen des Zusammenlebens stets die jeweilige „Lebensphase“ einer Wohnanlage zu
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berücksichtigen ist. Zur Erinnerung noch einmal: Dies können sowohl Begegnungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern sein, als auch unter Zuwanderergruppen. Zuwanderer geben insgesamt etwas überdurchschnittlich Kinderkontakte an. Es bestätigt sich die Erfahrung, dass Kinder die ethnischen Barrieren, die Erwachsene oft behindern, weniger kennen. Sie hatten noch nicht so viel Gelegenheit, ihre Vorurteile zu bilden, gehen unvoreingenommener aufeinander zu. Die Eltern behindern das offenbar nicht. Im Interview sagte eine ältere Österreicherin auf die Frage, ob sich die Kinder unterschiedlicher Ethnien treffen: „Ja. Wenn die Enkelin da ist: das ist total lieb, sie geht in den Hof Pickerl tauschen. Die Kinder mögen sich, möchten mitspielen. Sind gescheiter als die Eltern.“ Ein anderer berichtete beim Interview von einer Beobachtung, die das Grätzel betrifft: „Ob Kinder Kontakte haben, hängt auch von der Umgebung ab, der Schule, dem Kindergarten.“ Wenn Kinder mit zunehmendem Alter beginnen, das Terrain der Wohnanlage zu verlassen, entstehen neue Beziehungsgeflechte. Es soll auch die andere Seite nicht unerwähnt bleiben, der Ärger. Im Vergleich äußern Zuwanderer seltener als Einheimische, sie hätten „öfter Ärger mit Hausbewohnern“ (54 % gegenüber 64 %). Ist der Schluss zulässig, dass es sich also durchaus auch zum Teil um Konflikte unter Einheimischen handelt? Oder ist die Wahrnehmung eine andere? Vieles ist möglich. Die Hauptgründe für Ärger – Ruhestörung, Sauberkeit, und das Verhalten von Kindern und Jugendlichen – nennen wiederum beide Gruppen gleichermaßen, ja der Ärger über Kinder ist bei Zuwanderern sogar merkbar höher (die Antworten bezogen sich offensichtlich auf Beschwerden und weniger auf Auffassungsunterschiede).
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Ethnische Sichtbarkeit q Wahrnehmungen und Symbole Das Zusammenleben der Bewohner ist vor allem, wie skizziert, von alltäglichen Begegnungen geprägt. Immer, wenn Menschen einander begegnen, reagieren sie auf „Erkennungszeichen“, die sie vor dem Hintergrund eines Vorurteils in Sekundenbruchteilen bewerten. Jeder betrachtet den anderen mit einem vorgefassten Bild. Diese Tatsache wird oft negativ konnotiert, doch ohne abrufbare Erfahrungen darüber, wie sich der Andere bei einer Begegnung verhalten würde, wäre das Leben deutlich schwieriger. Andererseits können vorgefasste Einschätzungen jedwede Kommunikation von vornherein negativ belasten. Vorurteile werden auf gesellschaftlicher Ebene gebildet, aber ihre
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Wenn Menschen einander begegnen, reagieren sie auf „Erkennungszeichen“
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Stimmungen, die in Wohnanlagen hineingetragen werden
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Auswirkungen können für das Zusammenleben in einer Wohnanlage gravierend sein. Gewiss ist dies keine ethnienspezifische Sache allein, man kann auch viele vorgefasste Meinungen gegen Angehörige der gleichen Ethnie oder sogar der gleichen sozialen Gruppe haben. Aber Zuwanderer aus Ländern mit fremden Kulturen sind wegen ihres Aussehens, ihrer Kleidung und eigener Kommunikationsformen mit pauschaleren Urteilen konfrontiert – das Gegenüber vielleicht in geringerem Maße. Jede Kultur äußert sich in Symbolen: Zeichen, Wörter, Begriffe, Habitus, Kleidung, Gegenstände, Vorgänge. Im Zuge von Integration – wir sprechen hier ausdrücklich nicht von Assimilation –, einem wechselseitigen Prozess, können Zeichen ihre Bedeutung verlieren, es kann zu Vermischungen kommen, z. B. in der Sprache. Auch kann Gewöhnung oder das nähere Kennenlernen Unterschiede unwesentlich machen. Die Wahrnehmung von Fremdheiten wird indes auch von allgemeinen Stimmungen innerhalb der globalisierten Medienwelt bestimmt – Stimmungen, die über viele Kanäle in Wohnanlagen hineingetragen werden. Den größten Zeichenfundus bieten Religionen, oft Kern der kulturellen Identität, der bis zu Maßgaben des Haarschnitts reichen kann. Die Kipa, das Kopftuch, der Schleier, besondere Bärte, Hosen, Mäntel ... Vieles ist religionsgeprägt. Anders als bei vielen Zuwanderern ist hierorts durch säkulare Prozesse das religiöse Symbol als etwas Identitätsstiftendes weitgehend bedeutungslos geworden. Insgesamt bewegt sich jede Frage nach dem Zusammenleben zwischen Bewohnern unterschiedlicher Ethnien in einem sehr komplexen psychologischen Kontext. Um „ethnischer Sichtbarkeit“ in den Wohnhausanlagen nachzuspüren, wird an dieser Stelle vor allem versucht, Aussagen zur Wahrnehmung des jeweiligen Grades inter-ethnischen Zusammenlebens und von Ausdrucksformen anderer Kulturen in einer Überschau zu zeigen. Eingangs wird der Frage nachgegangen, welchen Eindruck von Vielfalt die Bewohner haben. Verdichtet wird dies durch die Sichtung der Einschätzung zu Glaubensbekenntnissen. Eine informelle Gegenprüfung war nur durch Datenanalyse der Herkunft von Antwortenden, den Augenschein in Anlagen (bis zum Blick auf Namen auf Klingelleisten) und zum Teil durch Kontakte mit Interviewpartnern möglich. Eine erste Frage:
Aus wie vielen Ländern kommen die Bewohnerinnen und Bewohner Ihrer Wohnanlage, was schätzen Sie? (Angebotene Antworten: aus unter 5 Ländern, aus 5 bis 10 Ländern, aus mehr als 10 Ländern, weiß nicht.)
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Dies sollte zeigen, ob die Bewohner sich selbst ein Bild vom sozialen Kontext machen, in dem sie wohnen. Eine Verifizierung der Antworten war, wie oben ausgeführt, nicht möglich, ein tatsächlicher durchschnittlicher Anteil von Einheimischen und Zuwanderern ließ sich jedoch einschätzen. Die Indizien legen nahe, dass in den Anlagen ab dem Jahr 2000 der Wert gegen 50 % tendiert, wenn auch mit einigermaßen großer Varianz. Sind sich die jeweiligen Bewohner dessen bewusst? Wird ethnische Vielfalt überhaupt wahrgenommen? Es geht hier um eine Meinung, ein Gefühl, das aber mit Blick auf das „gute Zusammenleben“ nicht ohne Bedeutung ist. Findet man es gut oder selbstverständlich, dass viele Ethnien in der Wohnanlage vertreten sind? Oder fühlt man sich „von Ausländischen umgeben“? Ist der Blick Zugewanderter anders als derjenige der Einheimischen? Die Hälfte der Antwortenden schätzt, dass 5 bis 10 Ethnien in ihrer jeweiligen Wohnanlage anzutreffen seien, 3 von 10 meinen, es seien mehr als 10 Ethnien (10 % sind unsicher). Auffallend: Am schwersten tun sich bei der Schätzung die Älteren. Die kleine Minderheit von Befragten, die meinen, es seien nur 1 bis 4, dürfte vor diesem Thema die Augen verschließen. Antwortende mit Migrationsbezug tendieren eher dazu, eine größere Zahl von Ethnien anzunehmen. Das kann unterschiedlichste Gründe haben: Sie tun sich mit Unterscheidungen leichter, sind sensibler für das Thema oder wohnen einfach nur in Anlagen mit mehr „Mischung“. Dahin weisen auch Unterschiede nach Typen von Anlagen: Je größer die Wohnanlage, desto mehr tendieren die Bewohner dazu, eine größere Anzahl von Ländern der Herkunft anzunehmen. Dies ist offenbar der Realität geschuldet. Bei über 200 Wohnungen liegt die Schätzung von 40 % der Befragten bei „über 10 Ethnien“. Verständlicherweise liegen die Schätzungen in den kleineren Anlagen deutlich niedriger, doch auch hier nimmt eine Mehrheit – zwei Drittel – an, es seien 5 bis 10 Nationalitäten im Haus vertreten. Die Angaben schwanken selbst innerhalb einzelner Wohnanlagen. Es gibt Anlagen mit eindeutigen Aussagen und solche, bei denen die Einschätzungen ziemlich auseinander driften. Auch in Anlagen unterschiedlicher Bauperioden herrscht durchwegs die Meinung vor, es seien 5 bis 10 Nationen unter den Bewohnern, am sichersten ist man sich in jenen, die 6 bis 10 Jahre bezogen sind (über 60 %). In den ältesten (10 bis 16 Jahre) und den jüngsten sieht man deutlich häufiger „viele Herkunftsländer“ (33 bzw. 34 % gegenüber 24 %). Mehrheitlich schätzen die Bewohner also, dass 5 bis 10 Ethnien in ihrer Anlage vertreten sind, das ergibt den mittleren Wert der zur Beantwortung vorgegebenen Möglichkeiten – fortschreitend
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
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in Richtung des höheren: mehr als 10. Wie die Einstellungen zu „hoher Vielfalt“ ausfielen, wird in einem weiteren Kapitel erläutert.
Einschätzung der Herkunftsvielfalt in der Anlage
100 % 90 % 80 %
Nach Bauperiode
70 %
n = 495
61 %
60 % 50 %
50 %
49 % 42 %
40 %
31 %
30 %
34 %
33 % 24 %
20 % Aus 5 bis 10 Ländern Aus mehr als 10 Ländern
10 % 0 % Gesamt
2000-2005 2006-2010
Ab 2011
q Unterschiedliche Glaubensbekenntnisse Eruieren, welche Vielfalt die Bewohner wahrnehmen
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Die Frage nach den Glaubensbekenntnissen ist ein weiterer Weg zu eruieren, welche Vielfalt die Bewohner in der Wohnanlage wahrnehmen. Denn Symbole sind, wie ausgeführt, weitgehend religionsgeprägt.
Welche Glaubensbekenntnisse sind Ihrer Einschätzung nach unter den Bewohnerinnen und Bewohnern Ihrer Wohnanlage vertreten?
Diejenigen, die sich äußerten, vermuteten zumeist, sowohl christliche Glaubensrichtungen (katholisch und/oder evangelisch, orthodox) als auch muslimischer Glaube seien in der Wohnhausanlage vertreten (jeweils gut 70 %). Immerhin gut 40 % waren überzeugt, dass fernöstliche Religionen ausgeübt werden. Ein Fünftel sah sogar auch noch weitere, nicht näher genannte Glaubensrichtungen vertreten. Eher schwierig dürfte die Einschätzung in Bezug auf Personen ohne religiöses Bekenntnis fallen, dies wurde von ca. 40 % angekreuzt. Interessant war zu erfahren, wer uns diese Schätzungen mitgeteilt hatte. Einige statistische Daten der Antwortenden sind ja bekannt, darüber hinaus wurde aber auch diskret eine Frage nach der eigenen Glaubensrichtung gestellt. Trotz Zusicherung absoluter Anonymität war dazu nur rund die Hälfte aller bereit, daher bleibt das Bild unklar. Gesagt kann nur werden, dass sich unter diesen gut 70 % als christlich, fast 20 % als „ohne Bekenntnis“ und keine 10 % als muslimisch deklarierten.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Obwohl wir unter den Antwortenden, wie schon öfter erwähnt, mindestens 44 % Personen „mit Migrationsbezug“ sehen, ist darunter vielleicht nur ein Fünftel muslimisch. Dies zeigt, dass die hier beschriebenen Schätzungen und Wahrnehmungen von „ethnischer Sichtbarkeit“ in Hinblick auf Muslime zu allermeist einer Außensicht entspringen. Dies muss berücksichtigt werden. Das Bild, das die Bewohner vom Spektrum der in ihrer Wohnanlage vertretenen Religionen – und damit Kulturen – haben, zeigt also, dass die meisten das ganze Spektrum repräsentiert sehen, mit ähnlich großem Gewicht sowohl auf der christlichen als auch der muslimischen Religion.
q Zeichen, Symbole und Bräuche Ethnische Zeichen (z. B. Trachten, Schrift), Symbole (z. B. Nationalfarben) und Bräuche (Feste, Umzüge u. a.) können sowohl rein ethnischen, also „weltlichen“ Ursprungs, aber auch durch eine Religion geprägt sein, und schließlich geht beides oft untrennbar ineinander über. Bräuche, Symbol- und Zeichensprachen besonders aus südlichen oder fernöstlichen Ländern, werden gerne als Bereicherung unserer Städte gesehen. Ein Karneval der Kulturen. Neue Festtage. Buntheit des Warenangebots. Es gibt aber auch Bräuche, die Ablehnung hervorrufen. Es ist nicht alles eindeutig. Dass die Zuwanderer ihre Bräuche öffentlich leben dürfen, steht außer Frage, sofern sich diese im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen bewegen. Das gilt auch in Wohnanlagen. Wäre dies nicht so, müssten sich die Bewohner dazu ins Private zurückziehen, ihre religiösen Symbole verstecken. Müsste der jüdische Bürger seine Kipa abnehmen, der Sikh seinen Turban, wenn er die Wohnung verlässt, könnte man schwerlich von einem „guten Zusammenleben“ sprechen. Ja es käme sogar Misstrauen auf, wenn Bräuche ins Hinterzimmer verlagert werden. In der Wohnanlage „Globaler Hof“ ist „das Internationale“, über das Kopftuch hinaus, im Alltag wie selbstverständlich präsent. Im Gemeinschaftsraum trifft sich eine Volkstanzgruppe, es werden Hochzeiten mit nationalspezifischem Flair gefeiert, das Fastenbrechen des Ramadans u. v. m. Es interessierte nun, ob auch in den seither erbauten Wohnanlagen der Sozialbau, keinen Modellprojekten, solch hausinterne kulturelle Vielfalt ohne Aufsehen und selbstverständlich gepflegt wird. Denn darin ist ein wichtiges Indiz für „gutes Zusammenleben“ zu sehen: Respekt gegenüber Anderem, Bereicherung durch Anderes. Die Frage nach Symbolen, Zeichen und Bräuchen wurde im Fragebogen eingeleitet: „In unserer Gesellschaft ist es allen Menschen ermöglicht, ihre Bräuche und ihre Religion offen im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Ein Karneval der Kulturen. Neue Festtage. Buntheit des Warenangebots
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leben, also auch in den Wohnanlagen.“ (Es war also nicht im Einzelnen definiert, was alles unter dem Begriff „Bräuche“ subsumiert werden könne.)
Tragen Bewohnerinnen oder Bewohner in der Wohnanlage offen Symbole ihrer Kultur und Religion? Kopftuch, Verschleierung, Kipa, Turban, Kreuz oder andere? Einzelne oder viele?
Und:
Sowohl bei Symbolen wie auch bei Bräuchen Unterschiede in der Wahrnehmung
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Zeigen sich in der Wohnhausanlage besondere Bräuche verschiedener Nationalitäten? Auch hier: einzelne oder viele?
Positive Antworten auf die Frage, ob man symbolhaltige Bekleidung wahrnehme, sind zahlreich. Im Durchschnitt mehr als drei Viertel sehen diese, der Schwerpunkt liegt eindeutig auf jeweils einzelnen Fällen. Dabei ist die Rede, um es klar zu sagen, de facto nur vom Kopftuch der Musliminnen, allenfalls von Verschleierung. Dies ist aus den mündlichen Interviews zu schließen. Merkbar niedriger liegt der Wert, wenn es um Bräuche geht. Hier äußert sich etwas weniger als die Hälfte zur Wahrnehmung (45 %, „ja einzelne“ plus „ja viele“), aber dies ist doch ein relevantes Ausmaß. Ein Drittel bemerkt dies in der Anlage nicht, immerhin jeder Fünfte ist sich in der Beantwortung unsicher. Zumeist wird nur wenig davon gesehen oder gehört. Dabei ist offensichtlich, dass nicht die Bräuche der Einheimischen gemeint sind, sondern nur die der Zuwanderer. Es bestehen sowohl bei Symbolen wie auch bei Bräuchen Unterschiede in der Wahrnehmung, je nachdem, wer man ist und wo man wohnt. Bei beidem wird die Realität je nach Lebenshintergrund unterschiedlich wahrgenommen. In Bezug auf Symbole zeigen z. B. Einheimische und Personen mit Migrationsbezug ähnliche Meinungsbilder, Letztere sehen nur etwas häufiger „viele derart Gekleidete in der Anlage“. Bräuche hingegen nehmen sie eher wahr als Einheimische (zu 52 % gegenüber 42 %; hier ebenso häufiger „viele“). Es stellt sich die Frage, ob all dies eher mit unterschiedlicher Sensibilität oder mit der spezifischen Wohnsituation zu tun hat. Also Unterschiede nach Typen von Anlagen? Je nach Bauperiode sind sie nicht gravierend. Tendenziell zeigt sich in den ältesten (10 bis 16 Jahre) noch die geringste Wahrnehmung, sowohl bei Symbolen als auch bei Bräuchen. Überall überwiegt relativ deutlich die Einschätzung, es seien nur „einzelne“. Die Größe der Anlage hat jedoch, mit einer gewissen Logik, einigermaßen Einfluss. Ab ca. 100 Wohnungen beginnt eine Mehrheit dies anzumerken. Da überwiegt noch deutlich, dass man einzelne bemerkt. Bei etwa 200 bis
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300 Wohnungen scheint die „Buntheit“ eindeutig am stärksten zu sein. Die größten Anlagen sind insgesamt merkbar unauffälliger. Könnte dies daran liegen, dass sich hier wieder „kleinere Zirkel“ bilden? Allerdings gibt es auch Wohnanlagen, innerhalb derer die Mein ungen stark variieren. Weiters dürfte Brauchtumspflege mittels Volkstanzgruppen oder Ähnlichem weitgehend keine Rolle spielen – bei den mündlichen Interviews hat sich das bestätigt. Sicherlich gebe es ab und zu Hochzeiten mit ethnischen Bräuchen, Feste – vonseiten Einheimischer wie der Zuwanderer – in den Gemeinschaftsräumen. Aber: „Man hört was aus den Wohnungen“ – vielleicht ein Indiz dafür, dass Zuwanderer ihre Feste eher in den Wohnungen feiern und nicht in der Öffentlichkeit des Hauses. Bei manchen Antworten aus den Interviews ist zu sehen, wie das, was gegenwärtig „in der Luft liegt“, in die Wohnanlagen einzieht. Eine Österreicherin: „Zunehmend sieht man das. Ich bin islamkritisch eingestellt. Manche sind gefährlich, Salafisten, Wahhabiten. In der zweiten und dritten Generation sind sie noch rabiater.“ Eine Österreicherin: „Einmal habe ich etwas vom Ramadan-Ende-Fest gehört, einmal ein Allah-Schrei, wie von einem Muezzin – das sollte nicht sein.“ Ein Österreicher: „Man merkt es an den Kindern, die sind gehäuft.“ Ein Zuwanderer: „In ihren eigenen vier Wänden sollen sie machen, was sie wollen.“
Ein Österreicher: „Alles quer durch. Es gibt auch Lesben und Homos.“
Manifestationen inter-ethnischen Zusammenlebens in den gemeinsamen Innen- und Außenbereichen von Anlagen sind demnach durchaus vorhanden, halten sich jedoch in Grenzen. Sie sind offenbar sowohl Ausdruck als auch Hintergrund der Einschätzungen der vorhandenen Vielfalt von Nationalitäten oder Glaubensbekenntnissen. Auch die Nationalitätenfrage zeigt moderate, aber steigende Vielfalt. Wie sich dies in positiven und negativen Meinungen niederschlägt, zu „Übergewichten“ führt, und wo etwa Grenzen gewünscht werden, soll das folgende Kapitel zu „Mischung“ zeigen.
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Inter-ethnische Kommunikation: Bei und mit Kindern die wenigsten Missverständnisse (Fotos VOGUS, Newald)
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„Mischung“ als Bereicherung des Stadtlebens wird ambivalent beurteilt (Szene Brunnenmarkt, Wien)
Mittige Grünfläche im „Globalen Hof“, mit Symbolen bereichert (Fotos Newald)
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Kulturelle Vielfalt im Grunde bereits alltäglich
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Abwägungen zu „Mischung“ Da in den Wohnanlagen der gemeinnützigen Unternehmen inzwischen der Anteil der Bewohner mit Migrationsbezug offenbar gegen 50 % tendiert oder diese Marke in manchen Anlagen schon übersteigt, ist kulturelle Vielfalt im Grunde bereits alltäglich. Was freilich nicht bedeutet, dass das alle Bewohner gut finden müssen. Es wird auch darauf ankommen, um welche Personen oder Personengruppen der Zuwanderer es sich handelt, ob diese homogen sind oder ob mehrere, ja viele Ethnien, vertreten sind. Wären Bewohner – gleich welcher Herkunft – überwiegend der Meinung, man wolle lieber unter sich sein, gäbe das keine gute Ausgangsbasis für „gutes Zusammenleben“ in den faktisch nun einmal gemischt bewohnten Häusern. Im vorigen Kapitel wurde den Schätzungen nachgegangen, welche Vielfalt an Herkunft und ethnisch geprägter Lebensform unter den Mitbewohnern zu finden sei. Hier soll nicht dem Ausmaß, sondern der Einstellung dazu nachgespürt werden – wie die Meinung zu Herkunftsvielfalt sei, ob Dominanzen gesehen werden, wie dies gewertet werde und welche Vorstellungen von erfolgversprechenden „Mischungen“ bestehen.
Finden Sie es grundsätzlich gut, dass in Ihrer Wohnanlage Bewohnerinnen und Bewohner aus vielen Ländern wohnen?
Die Antworten nach der geschätzten Zahl von Ländern, aus denen die Umwohnenden kommen, stärken die Annahme einer im Durchschnitt vorwiegend mittelgroßen „Mischung“ nach Herkunft. In gewissem Ausmaß ist da und dort eine größere Breite an Herkunftsländern, über 10 Ethnien hinaus, zu vermuten – größere Anlagen sind dazu prädestiniert. Es liegt die Vermutung nahe, das Spektrum der Interessenten dieses Marktsegments sei in den letzten Jahren breiter und vielfältiger geworden. Dies wird in den neuen Anlagen sichtbar, bei den Erstbewohnern wie auch in der Nachvermietung deutlich älterer Bestände. Weitere Quellen verweisen auf ein heute oft schon erreichtes Verhältnis von 50 zu 50 zwischen Einheimischen und Zugewanderten im geförderten Wohnungsbau. Die an dieser Stelle analysierten Antworten zur Einstellung der Menschen zu einem solchen Verhältnis könnten Akzeptanz oder Vorbehalt zeigen. Zunächst ist es jedoch aufschlussreich, dass sich ein Viertel der Befragten nicht äußert. Angesichts eines offenbar schon oft erreichten Verhältnisses von 50 zu 50 drängt sich der Schluss auf, ein nicht unerheblicher Teil möchte mit dieser Frage nicht konfrontiert sein. Auch dass unter diesen nicht Antwortenden (mit 29 %) merkbar
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
mehr Zuwanderer als Einheimische (mit 21 %) waren, könnte als Indiz für unbestimmte Sorgen oder Ängste gelten. Die Zustimmung, dass Ländervielfalt gut ist, überwiegt mit 42 % gegenüber der Ablehnung mit 34 %. Unter der Berücksichtigung, dass diese Frage nach Grundsätzlichem normativ geprägte Aussagen erwarten lässt (wer möchte sich dagegen aussprechen?), so ist dieses Ergebnis doch mit Blick auf „gutes Zusammenleben“ durchaus kritisch zu bewerten. Jedenfalls bietet es ein Stimmungsbild. Bei genauerer Betrachtung ist weiters festzustellen: In den analysierten Anlagen ab dem Jahr 2000 finden Einheimische Vielfalt zwar relativ gut (ca. 40 %), diejenigen mit Migrationsbezug unter den Antwortenden finden sie jedoch noch besser (fast zur Hälfte). Allerdings sind Letztere auch stärker unter denen vertreten, die sich, siehe oben, einer Antwort enthalten. Auch das Alter der Bewohner ist relevant. Je jünger, desto mehr sind sie für Ländervielfalt (46 %). Die Hälfte der ältesten Bewohner lehnt sie ab. Schon die Älteren mögen zu 38 % die Vielfalt nicht. Die Unterschiede bei den Einstellungen liegen jedoch nicht nur im Persönlichen begründet, die Wohnsituation hat ebenfalls größeren Einfluss. In den neueren Anlagen ist die Zustimmung hoch, auch weil hier eher junge Leute wohnen. Bewohner, die Vielfalt nicht so sehr schätzen, finden sich vermehrt in Anlagen mittleren Alters – 6 bis 10 Jahre bewohnt. Und es gibt ein kleines Übergewicht der Unentschlossenen bei den ältesten. Es kann nicht gesagt werden, Präferenzen mit einer steigenden Zahl von Wohnungen einer Wohnanlage würden sich „linear“ positiv oder negativ verändern.
Grundsätzliche Meinung zur Ländervielfalt
Je jünger, desto mehr sind die Bewohner für Ländervielfalt
100 % 24 %
27 %
22 %
23 %
Nach Bauperiode n = 493
34 %
Frage: „Finden Sie es grundsätzlich gut, dass in Ihrer Wohnanlage Bewohnerinnen und Bewohner aus vielen Ländern wohnen?“
50 %
keine Meinung
42 %
34 %
39 %
32 %
39 %
45 %
39 %
nein ja
0 % Gesamt
2000–2005 2006–2010 Ab 2011
Es bestehen deutliche Unterschiede bei den Anlagentypen: Einmal über die Hälfte Zustimmung zu Vielfalt (bei 100 bis unter 200 Wohnungen), ein anderes Mal nur gut 30 % (bei 200 bis unter 300 Wohnungen).
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
149
150
Hier müssen andere Einflussfaktoren als die Größe im Spiel sein. Unter den beispielhaft erfassten einzelnen Anlagen finden sich auch solche mit deutlich über dem Durchschnitt liegenden negativen Bewertungen. Hinsichtlich der Lage in der Stadt sind hingegen keine nennenswerten Unterschiede erkennbar. Diese Ergebnisse sind durchaus plausibel. Man könnte stark vereinfachend zusammenfassen: Jüngere Leute in eher überschaubaren neueren Wohnanlagen halten Vielfalt am ehesten für gut, generell scheint auch Migrationsbezug entscheidend zu sein. Noch konkreter wurde gefragt:
Meinen Sie, dass einzelne Nationalitäten in der Wohnanlage ein zu großes Gewicht haben?
Wenn ja, welche? (freie Antworten)
Und wodurch äußert sich das, Ihrer Meinung nach? (freie Antworten)
Es sollte also nicht nur der Existenz von Dominanzen nachgespürt werden, sondern auch einem wertenden Aspekt. Es ist klar, dass bei „zu großem Gewicht“ einer Nationalität nicht die österreichische gemeint war – diesbezüglich entstanden keine Missverständnisse. Wahrscheinlich war auch klar, dass die deutsche Zuwanderergruppe, immerhin die derzeit größte in Österreich, nicht so sehr gemeint ist, ebenso Personen aus anderen westlichen EU-Ländern. In früheren Untersuchungen wurde aufgezeigt, plausibel, dass „beide Seiten“, Einheimische und Personen mit Migrationsbezug, keine Dominanz einer bestimmten Zuwanderergruppe wünschen. Ein möglicher Vorbehalt gegenüber der Dominanz einer Gruppe könnte auch darin begründet sein, dass aufstrebende Zuwanderer dazu tendieren, sich von der eigenen Volksgruppe kulturell zunehmend zu entfernen. Wie bei der vorhergehenden Frage nach Haltung zu Vielfalt wollte sich ein größerer Teil, ein gutes Fünftel der Befragten, nicht äußern – was wohl zu interpretieren ist als Unsicherheit gegenüber der eigenen Haltung. Unter jenen, die sich dezidiert äußerten, halten sich die Meinungen die Waage: Je annähernd 4 von 10 (39 %) sehen eine „zu große Dominanz“ oder aber können dies nicht erkennen (bzw. werten eine Dominanz, falls vorhanden, nicht als negativ). Einheimische erkennen öfter eine Dominanz einzelner Nationalitäten, Zuwanderer erwartungsgemäß zwar weniger, aber doch auch. Sie halten sich bei dieser Frage eher zurück. Je älter Bewohner sind, desto eher sehen sie ein Übergewicht: die ab über 50-Jährigen zu rund 44 %, die Jüngsten nur zu 33 %.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Dies kann natürlich auch davon abhängen, wo die Jeweiligen mehrheitlich wohnen. Offenbar spielt die Größe der Wohnanlage eine gewisse Rolle. Gegenüber dem Gesamtdurchschnitt von 39 % liegen die Meinungen, es gäbe ein – negativ gewertetes – Übergewicht, nur in den größeren Anlagen (ab 200 Wohnungen) „über dem Durchschnitt“. (In Anlagen von 200 bis unter 300 Wohnungen konstatierte dies nahezu die Hälfte, 46 %.)
Zu großes Gewicht einzelner Nationalitäten in der Anlage
100 % 22 %
16 %
39 %
48 %
39 %
36 %
24 %
22 %
24 %
Nach Größe (WE) n = 493
43 %
50 %
keine Meinung kein zu großes Gewicht ja, zu großes Gewicht
30 %
41 %
46 %
37 %
33 %
0 % Gesamt
Unter100
100 bis 200 bis unter 200 unter 300
Nach „Alter von Anlagen“ lässt sich jedoch kein großer Unterschied ablesen. Eine mögliche Interpretation wäre, dass sich die Bewohnergruppen des Erstbezugs und die bei Wiedervermietungen Zugezogenen über die Jahre nicht stark unterschieden haben. Möglich sind auch Einzelphänomene in bestimmten Anlagen: Unter den ausgewählten Beispielen stechen einzelne heraus. Dort liegen die Meinungen, es bestehe ein Übergewicht, etwa bei der Hälfte, im Extremfall bei 56 %. Die Annahme, hier würden Gefühltes und reale Dominanz nahe beieinander liegen – und auch Unruhe erzeugen – scheint zulässig. Weitere konkrete Hinweise auf Unbehagen und Konflikte komplettieren das Bild der Stimmungslage. Eine Auswertung von freien Äußerungen im Fragebogenrücklauf bietet Aufschluss: Rund 100 Personen hatten die Zusatzfragen „... zu großes Gewicht ...? Wenn ja, welche? Und wodurch äußert sich das, Ihrer Meinung nach?“ handschriftlich beantwortet. Zum allergrößten Teil haben sich Einheimische (84 % Österreicher seit Geburt) geäußert, nur rund 10 % Personen mit Migrationsbezug. Bei diesen Statements der Bewohner finden sich zahlreiche Zuschreibungen und Interpretationen zu üblicherweise vorkommenden Problemen. Klagen über Lärm und Verhalten liegen mit zwischen 35 % und 39 % an der Spitze (jedoch mit starken Unterschieden bei einzelnen
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300 und mehr
Möglich sind Einzelphänomene in bestimmten Anlagen
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Insgesamt zeigen sich klare Schwerpunkte
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Anlagen). Es folgt Verunreinigung mit einem guten Fünftel der Angaben. Es liege an einzelnen dominanten Nationalitäten, die seien einfach „ein anderer Kulturkreis“. Ebenso existieren noch einige weitere Zuschreibungen: „Es mangelt an Respekt, an Integrationswillen.“ Oder: „Sie treten so zahlreich auf, in großen Gruppen.“ Diese Äußerungen zeigen ein eindeutiges Problembild. Die Nennung von dominanten Gruppen, von Nationalitäten, ist je Anlage sehr unterschiedlich. Es gibt solche, wo diese Gruppen fast gar nicht konkret benannt werden, solche, wo eine ganze Reihe unterschiedlicher Gruppen angeführt sind, und andere, wo die dominante Gruppe eindeutig identifiziert wird. Insgesamt zeigen sich jedoch klare Schwerpunkte: Im Mittel benennen etwa 30 % diverse Gruppen oder Nationalitäten aus der muslimischen Welt als gewichtige (und störende) Gruppe (hier liegt die Schwankungsbreite über die Anlagen jedoch zwischen 18 % und 66 %). Nur halb so hervorstechend ist die Nennung von Gruppen vom Balkan sowie aus sonstigen östlichen Staaten, zusammen etwa 15 %. Auch hier bestehen große Unterschiede je Anlage. Relativ selten werden Generalisierungen verwendet, wie „Muslime“ oder „Araber“. Aus alt-österreichischer Gewohnheit oder mangels Unterscheidbarkeit wird auch weiterhin oft der Sammel-Terminus „Ex-Jugoslawien“ verwendet. Das Thema „große oder sogar zu große Gruppen in der Anlage“ hat sich als sehr relevant erwiesen, allgemein und speziell bei einem Teil der Anlagen. Deutliche ethnische Bezüge hatten sich schon bei der allgemeinen Frage nach „Ärger“ feststellen lassen. Es geht bei dieser Frage, wie bei vielen anderen auch, sehr stark auch um Wahrnehmungen und Empfindungen sowie um grundsätzliche Einstellungen, jedoch ebenso – mit Blick auf die Hausverwaltung – um Achtsamkeit auf reale Probleme und aufkeimendes Konfliktpotenzial. Was das „gute Zusammenleben“ angeht, das bei dieser Studie mehrfach identifiziert werden konnte, trägt hierzu sicherlich die faktisch erreichte Mischung (viele Ethnien) und die Differenzierung (unterschiedliche Generationen) mit bei. Der im Vergleich zu den Einheimischen hohe Anteil der Zuwanderer wird dadurch gar nicht als so hoch empfunden. Diese gute Balance sollte nicht durch große Gewichte einzelner Ethnien gefährdet werden, die offenbar Problemsituationen herbeiführen können – eine Aufforderung an die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, bei der Wohnungsvergabe hohe Sensibilität zu üben.
q Eine „Quote“? „Halbe-halbe“, das war vor 16 Jahren programmatisch für den „Globalen Hof“, das Startprojekt der Sozialbau. Diesbezüglich sind daher
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Reaktionen der Bewohner seither bezogener Anlagen von besonderem Interesse. Sie sollen der breiten Überprüfung des damals gestarteten Konzepts dienen und zeigen, wie sich ein „Mainstream“ der Meinungen heute darstellt. Die Umstände haben sich verändert – die Bevölkerungszusammensetzung Wiens, die Nachfragerprofile, die Standards im geförderten Wohnbau. Hat die Realität das Konzept überholt? Tragen Bewohner in relevantem Ausmaß eine derartige Idee mit? Kann dies Hinweise für zukünftige Strategien bieten? Deshalb die Frage:
Zeigen, wie sich ein „Mainstream“ der Meinungen heute darstellt
Halten Sie ein Verhältnis von zirka „50 % Österreicher, 50 % Zugewanderte“ in Wohnanlagen für gut?
Und wenn man 50 zu 50 nicht so gut findet:
Welches Verhältnis wäre aus Ihrer Sicht optimal?
In Rechnung stellend, dass das Verhältnis zwischen Einheimischen und Zuwanderern in den Wohnanlagen der Sozialbau aktuell über dem Maß „halbe-halbe“ liegen kann, ist dies als eine Schlüsselfrage für das „gute Zusammenleben“ zu betrachten. Die Frage ist normativ, also von außen bestimmt, die Antworten geben ein Bild der Befindlichkeiten von Bewohnern und zeigen, ob und wie sehr sich das von außen Kommende in den Anlagen auswirkt. Die Antworten können nicht ohne Zusammenhang mit anderen interpretiert werden, denjenigen zu ethnischer Situation, zu Meinungen und Werthaltungen, zu Alltäglichem wie Kontakten (dort hat sich ja ein relativ positives Bild gezeigt). Es sind die jeweiligen Differenzierungen zu betrachten. Nimmt man lediglich Durchschnittswerte, sieht es nicht sehr gut aus: Nicht einmal 3 von 10 Antwortenden finden „halbe-halbe“ positiv. Fast ein Viertel macht einen Bogen um die Frage und antwortet nicht, ist sich demnach relativ unschlüssig. Beinahe die Hälfte – 46 % – lehnt dieses Verhältnis ab und schlägt ihrerseits geringere Anteile von Zugewanderten vor. Diese Zugewanderten halten sich noch deutlicher zurück als die Einheimischen, ein Drittel antwortet gar nicht (gegenüber einem Fünftel der anderen). Andererseits befürworten sie – verständlich aus ihrer Sicht – „halbe-halbe“ doppelt so stark wie die Ablehnenden (44 % zu 21 %). Dass vor allem Einheimische mehrheitlich, zu 55 %, für geringere Zuwandereranteile plädieren, überrascht nicht sehr. Dass jedoch auch gut ein Fünftel der Zugewanderten für weniger als „halbe-halbe“ stimmt, ist ein interessantes Ergebnis. Dazu ist zu berücksichtigen, dass diese Antwortenden (erläutert), zumeist seit Langem Eingebürgerte sind.
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„Befürworter“ und „Gegner“ als Personengruppe nicht leicht zu fassen
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Vorab ist zu präzisieren, dass die in Folge kurz als „Gegner“ Apostrophierten eine breite Palette von für sie jeweils „optimalen Verhältnissen“ vorschlagen. Das reicht von einem geringfügigen Überwiegen Einheimischer bis zu einer nahezu monostrukturierten Anlage. Grob lassen sich diese – es sind 46 % – aufgliedern in fast 3 von 10, die zwischen „halbe-halbe“ und „drei Viertel-ein Viertel“ anführen, und etwa einem weiteren radikaleren Fünftel, das sich noch weniger Zusammenleben mit Zuwanderern wünscht. Die jeweiligen „Befürworter“ und „Gegner“ sind als Personengruppen nicht leicht zu fassen. Es ist kein Übergewicht eines Geschlechts zu erkennen, keine starke Polarisierung Jüngere – Ältere, allenfalls ein Überwiegen von Personen ab 50 Jahren bei der Gegnerschaft (etwa ein Drittel der Gegner, ein Viertel der Befürworter). Nach Berufstätigkeit ist das Bild bei den Angestellten ebenso ausgeglichen, die (insgesamt eher gering vertretenen) Arbeiter sind eher Befürworter (hier bildet sich wohl der dreimal höhere Arbeiteranteil unter den antwortenden Zuwanderern ab). Betreffend Ausbildung zeigt sich nur bei Personen mit abgeschlossener Lehre oder Fachschule ein Überhang von Gegnern, im Übrigen sind schlechter und besser bis am besten Ausgebildete jeweils gleichermaßen vertreten. Ebenso verhält es sich bei Schlechter- oder Besserverdienern (nach Haushaltseinkommen). Man kann daher weder eine deutliche Position von sozial schlechter gestellten Gruppen erkennen, noch von gut Gestellten, die „Privilegien verteidigen“. Allenfalls ist zu interpretieren, dass ein Gutteil aller Einheimischen, die schon immer die „klassische Bewohnerschaft“ gemeinnütziger Wohnungen stellten, bewahren will, „wie es früher war“. Wenn es schon so relativ wenig von der persönlichen Lebenssituation und -phase abhängt, könnte von Einfluss sein, wo man wohnt. Im Gegensatz zu den – teilweise sichtlich verallgemeinernden – Gesamtanteilen (29 % dafür, 46 % dagegen) zeigen sich starke Disparitäten nach dem Alter der Anlagen. In den ältesten (11 bis 16 Jahre bewohnt) sind diejenigen, die „halbe-halbe“ etwas abgewinnen können, anteilig am stärksten vertreten (an die 40 %), damit mehr als die Gegner (nur ein Drittel). Gänzlich gegensätzlich zeigt sich die Meinungslage in 6 bis 10 Jahre alten Anlagen. Hier sind Gegner dreimal so dominant wie Befürworter (60 % zu 20 %). In den jüngsten Anlagen entspricht die Verteilung dem Gesamtdurchschnitt. Weniger ausgeprägt zeigen sich Unterschiede nach grob zusammengefassten Größentypen von Anlagen. Immer überwiegen die Ablehnenden, aber sie sind merkbar polarisiert. In kleineren Anlagen (unter 200 Wohnungen) übertrifft die Gegnerschaft viel deutlicher die Zustimmung als in größeren Anlagen (Relation in kleineren 49 % nein zu 25 % ja, in größeren 43 % nein, 32 % ja). Sieht man jedoch genauer
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
hin, ist dies keineswegs so eindeutig. Ein Beispiel: In Anlagen mit 200 bis unter 300 Wohnungen beträgt der Anteil derer, die höchstens ein Viertel Zuwanderer für optimal ansehen, über 30 % (gegenüber 20 % im Gesamtdurchschnitt). Schlussendlich sind Unterschiede zwischen einzelnen Anlagen noch um einige Grade extremer. Es gibt also durchaus Anlagen bestimmten Alters und bestimmter Größe, wo sich die Meinungsbilder drastischer herausgebildet haben als im Durchschnitt. Verkürzt benannt: Zentren der Ablehnung liegen in Anlagen mittleren Alters oder leicht überdurchschnittlicher Größe. Der wahre Schlüssel für eine Antwort liegt vielleicht in der Kombination aus Wohnsituation und persönlichen Werthaltungen bzw. einer Wechsel wirkung? Die Einstellungen zu Ländervielfalt in den Anlagen wurden weiter oben beschrieben (42 % finden sie gut, 35 % nicht gut). Die positive Meinung dazu liegt hier unter „halbe-halbe-Befürwortern“ bei über drei Viertel (!), unter Gegnern nur bei einem Fünftel. Demnach: „Ländervielfalt nicht schätzen“ bedeutet, nicht überraschend, auch gegen Mischung aufzutreten. Auch Dominanz von Zuwanderergruppen wird unter Befürwortern nur von einem Viertel gesehen, unter Gegnern von deutlich mehr als doppelt so vielen (57 %). Zur Erinnerung: Der Gesamtschnitt liegt bei 39 % zu 39 %). „Gruppen zu dominant finden“ befeuert auch das Auftreten gegen „Mischung“.
Einstellung zum Konzept „halbe-halbe“ in Wohnanlagen
Kombination aus Wohnsituation und persönlichen Werthaltungen
100 % 25 %
30 %
46 %
32 %
20 %
25 %
50 % Österreicher / 50 % Zugewanderte n = 493 50 %
keine Meinung 29 %
nein, weniger Zugewanderte ja, halte es für gut
46 %
60 %
38 %
29 %
20 %
0 % Gesamt
2000–2005 2006–2010 Ab 2011
Bereicherung oder Störung durch Mitbewohner anderer Herkunft werden anschließend kommentiert. So viel kann schon gesagt werden: Der Bezug zur „halbe-halbe“-Einstellung ist eindeutig. Ebenso verhält es sich mit „Ausreichend-Respektiert-Sein“, das am Ende des Gesamtkapitels erwähnt wird. Für die Einstellung zu „Mischung“ lässt sich resümieren, dass es nicht so sehr die alltäglichen Lebenssituationen
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Erleben von Meinung oder Meinung von Erleben geprägt?
4
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und die Wahrnehmungen sind, welche für diese Haltungen ausschlaggebend sind, sondern vor allem die gegenüber Zugewanderten ent wickelten Meinungen. Ob nun Erleben von Meinung oder Meinung von Erleben geprägt ist – darauf kann hier keine Antwort gegeben werden. Die Konstellationen in den Anlagen dürften sich schon sehr unterscheiden, aber dies allein ist sicherlich nicht das einzig Ausschlaggebende: Vieles ist „in den Köpfen“. Vorrangig für das Wohnungsunternehmen, die Hausverwaltung und die Hausbetreuer wäre es wohl, sich der relativ großen Gruppe der Unentschiedenen anzunehmen und gemeinsam an der Verbesserung des „guten Zusammenlebens“ zu arbeiten.
Vielfalt als „Bereicherung“? Zuwanderung wird in der sozialwissenschaftlichen Diskussion auch unter dem Aspekt der ökonomischen und kulturellen Bereicherung für das Zuwanderungsland betrachtet. Die Zuwandererökonomien sind in der Tat erheblich und kulturelle Bereicherung bezieht sich auf die Vielfalt im Straßenbild, die kulinarischen Angebote, Musik usw. Es ist keinesfalls so, wie oft behauptet, dass diese kulturelle Vielfalt bloß einer liberalen Wohlstandsmittelschicht willkommen ist. Dass Zuwanderer heute im Stadtbild mit ihren ethnischen Attributen und Gewohnheiten in Erscheinung treten, wird inzwischen von nahezu allen sozialen Gruppen wie selbstverständlich aufgenommen – man denke nur an die Märkte und türkischen „Restaurants“, die gerne von den Einheimischen frequentiert werden. In einer aktuellen Studie (Verwiebe et al., 2015) wird dazu festgestellt: „Sozio-kulturelle Erscheinungsformen der Zuwanderung werden im Stadtbild zunehmend als Bereicherung wahrgenommen“. So weit so gut. Wie aber sieht das in den „normalen“ Wohnanlagen der Sozialbau aus?
Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Lebensformen anderer Kulturen?
Fühlen Sie sich dadurch bereichert? Fühlen Sie sich dadurch gestört?
Im Teil „Ethnische Sichtbarkeit“ wurde dargelegt, dass jene Antwortenden, die sich eine derartige Aussage zutrauen, knapp mehrheitlich meinten, es wären wohl 5 bis 10 Ethnien in der Wohnanlage anzutreffen. Ein gutes Drittel schätzte auf mehr als 10. Vor diesem Hintergrund wurde auch angegeben, ob man es grundsätzlich gut finde, wenn in
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
der Wohnanlage Bewohner aus vielen Ländern wohnen – hier sind die Meinungen geteilt: Ein Viertel der Antwortenden äußert sich nicht und unter den Übrigen überwiegt zwar Zustimmung die Ablehnung, jedoch nicht sehr ausgeprägt (in einem Verhältnis von ca. 55 : 45). Nun sollte Was ist stärker – die Frage nach der persönlichen Einstellung zu Lebensformen anderer Bereicherung Kulturen weiteren Einblick erbringen, was ist stärker – Bereicherung oder Störung? oder Störung? Oder ist die Meinungslage ambivalent? Zu beiden Fragen definieren sich bis zu einem Viertel als „gleichgültig“. Unter denen, die Stellung beziehen, überwiegen jene mit etwas unter 4 von 10 (37 %) positiver oder vorsichtig positiver Haltung zu „Bereicherung“. Das heißt gleichzeitig, beinahe 3 von 10 Antwortenden (28 %) können explizit keine Bereicherung erkennen. Die Gegenfrage – nach Störung – bestätigte tendenziell diesen Befund. Hier hält sich „nicht gestört fühlen“ mit „gestört fühlen“ sogar die Waage. Damit bestätigt sich eindeutig die erwähnte Stimmungslage zu „Mitbewohnern aus vielen Ländern“. Das generelle Fazit sieht nach Ambivalenz und „gespaltener Bewohnerschaft“ aus. Da davon auszugehen ist, dass ziemlich klar gewesen sein dürfte, was unter „Bereicherung“ zu verstehen ist (mehr Vielfalt, Buntheit statt Einförmigkeit, andere Menschen statt nur immer Seinesgleichen, Erweiterung der Eindrücke durch eine andere Sprache, andere Musik als die gewohnte usw.), ist dieser Befund durchaus kritisch zu sehen. Diese in der Durchschnittsbetrachtung deutlich sichtbaren Gegenpole können sich jedoch je nach Spezifika der Personen oder Typen der Anlagen auflösen, anders mischen. Daher ein kurzer Blick darauf: q Es zeigen sich Verschiebungen – keine sehr großen, sie bleiben zumeist bis jeweils 10 %, und die Unterschiede sind nach Typ der Anlage stärker als nach Merkmal der Person. Das Meinungsbild scheint demnach mehr von der spezifischen Wohnsituation beeinflusst zu werden als von der jeweiligen Lebenslage der Antwortenden. q Unter den Anlagen fallen z. B. ein wenig die ältesten aus 2000 bis 2005 auf, wo Bereicherung überdurchschnittlich bejaht wird (42 % gegenüber 37 % im Durchschnitt). Überdurchschnittlich gestört (47 % zu 37 %) fühlen sich dagegen die Antwortenden der Anlagen aus 2006 bis 2010. q Besonders stechen bei Störungsangaben auch größere Anlagen mit 200 bis unter 300 Wohnungen hervor, hier zeigt sich gar die Hälfte betroffen. q Der Unterschied, ob (seit Längerem schon) zugewandert oder nicht,
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
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ist merkbar. Zuwanderer sehen eher Bereicherung als Einheimische und deutlich weniger Störung. Aber es sind immer noch 3 von 10 Zuwanderern, die sich durch Lebensformen anderer Kulturen gestört fühlen. q Deutlich wird, dass die insgesamt hohen Anteile – bei der Ablehnung von Bereicherung und dem Ausdruck von Störung – durch die Aussagen von Einheimischen geprägt werden. Ablehnung ist bei ihnen doppelt so stark, ebenso das „Gestört-Fühlen“.
Bereicherung durch Lebensformen anderer Kulturen?
100 %
Gesamt und nach Herkunft
10 %
8 %
13 %
28 %
34 %
17 %
25 %
24 %
29 %
19 %
19 %
19 %
18 %
16 %
23 %
n = 477 50 % keine Meinung nein ist mir gleichgültig ja, ein wenig ja, durchaus
158
0 % Alle
Einheimische
Mit Migrationsbezug
q Was dieser Grad an Ablehnung vonseiten der Einheimischen bedeutet, wird besonders plastisch, setzt man ihn mit den Meinungen zu „halbe-halbe“ (Einheimische – Zuwanderer) differenziert nach der Zusammensetzung der Bewohnerschaft in Verbindung. Befürworter sehen sich ungleich stärker bereichert sowie weniger gestört als die Gegner, und zwar mit deutlicher Spannweite (mehr dazu im vorhergehenden Teil „Mischung“). q Nach Alter zeigen sich unter allen wenig gestörte bzw. gleichgültige Junge, widersprüchliche Positionen bei Älteren und weder bereicherte noch besonders gestörte Älteste. q Die Art des Zusammenwohnens, als Familie oder allein, ist kaum ausschlaggebend. Im Großen und Ganzen gibt der Überblicks-Befund den allgemeinen Tenor wider. Meinungen bzw. Werthaltungen von Erwachsenen und Umgang miteinander sind das Eine, aber gibt es Unterschiede, wenn es um die Kinder geht? Daher wurde die Frage nochmals leicht abgewandelt gestellt:
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Falls Sie Kinder haben, die bei Ihnen wohnen: Finden Sie es gut, wenn diese in einer kulturell vielfältigen Umgebung aufwachsen?
Antworten kamen, gemäß der Frage, vor allem von Bewohnern, die selbst Kinder haben (durchaus nicht nur – um auf die 52 % Antwortenden zu kommen, müssen sich zu den 47 % mit Kindern Wohnenden noch einige Großeltern oder wer auch immer gemischt haben). Bei dieser Frage weichen die Antworten von denen nach „Bereicherung“ und nach der Einstellung gegenüber kultureller Vielfalt im Haus deutlich positiv ab. Nur wenige äußern sich ausweichend oder indifferent, 7 von 10 Antwortenden sehen „durchaus oder ein wenig“ Gutes darin (zu je gleichen Teilen). Manche sehen das also offenbar für die Kinder anders als für sich selbst. Bildet ein milderer Blick auf andere Kinder, die Erfahrung, um wieviel leichter Kinder miteinander auskommen, eine pragmatische Sicht in Hinblick auf die Wiener Zukunft? So wie es Unterschiede bei den Aussagen zu Bereicherung und Störung der Erwachsenen gab, zeigen sich auch manche, wenn es um die Kinder geht. Aber auch dabei wiederholt sich, dass offenbar für die Kinder andere Vorteile als für sich selbst gesehen werden. Ein Beispiel sind Anlagen mittleren Alters, wo die Antworten in Bezug auf Kinder am besten ausfallen. Je größer aber die Anlagen, umso schwächer wird das „Ja“. Geht es um die Kinder von Einheimischen oder Zugewanderten, ist die Sicht etwas überraschend: In beiden Gruppen zeigt sich hohe Zustimmung zu den Vorteilen der kulturell vielfältigen Umgebung, überzeugter sind jedoch Einheimische (73 % Zustimmung, fast niemand gleichgültig, 20 % Ablehnung). Zugewanderte ziehen sich etwas mehr auf die Position „ist mir gleichgültig“ zurück (66 % Zustimmung, 15 % gleichgültig, 13 % Ablehnung). Sicherlich hängt diese Einschätzung auch von der tatsächlichen Vielfalt in der Wohnanlage ab. Ist diese breit, ist die Kontaktnahme auch wegen des Verwendens der lokalen Sprache leichter. Die Einschätzung wäre gewiss eine andere, gäbe es da und dort eine Dominanz einer Ethnie (ausgenommen die einheimische). Wohl gäbe es in der Wohnanlage möglicherweise ethnisch segregierte Gruppen von Kindern oder Jugendlichen, die aus ihrer Stärke heraus ihre eigenen Regeln für das Zusammenleben setzen würden, auch im Sprachgebrauch. Mancherorts könnten derartige Dominanzen bestehen oder zumindest als solche „gefühlt werden“. Die Befragungsergebnisse zeigen dazu ein gespaltenes Meinungsbild (siehe auch Teil „Mischung“). In Erinnerung an eingangs zitierte Ausführungen der Stadtsoziologie – die Bedeutung der kulturellen Vielfalt für die Stadt – oder an die Umfrage in Wien, wonach Vielfalt in der Stadt von den Bürgern
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Pragmatische Sicht in Hinblick auf die Wiener Zukunft?
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überwiegend sehr positiv gesehen wird, ergibt sich beim eruierten Ergebnis der Schluss: „Vielfalt ja, dort draußen. Aber eher nicht hier in der Wohnanlage.“ Betrachtet man diesen Befund, wonach insgesamt etwa jeder dritte Bewohner Bereicherung durch ethnische Vielfalt verneint, in Zusammenhang mit anderen Ergebnissen dieser Studie, wirft dies wohl weitere Fragen auf. q Betreffend „Kontakte“ ist das Ergebnis im Allgemeinen wie in ethnischer Hinsicht relativ positiv. Zugleich jedoch ist das Ausmaß öfter auftretenden Ärgers unter Hausbewohnern mit 60 % Nennungen durchaus relevant.
Viele Hinweise, die doch eher auf positives Zusammenleben deuten
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q Auch hinsichtlich der Meinung zur „Mischung“ besteht eine mehrheitlich ablehnende Haltung. Jedoch sieht bei der Frage, ob für die Kinder eine Bereicherung gesehen werde, das Urteil positiver aus. Bei manch anderer Frage geben die Befragten wiederum recht vage Antworten. Bedeutet das im Zusammenhang nun „gutes“, „weniger gutes“ oder gar „schlechtes Zusammenleben“? Hier ist eine noch differenziertere Betrachtung wohl notwendig. Es gibt viele weitere Hinweise, die doch eher auf positives Zusammenleben deuten. Im Alltag läuft es gut in den Wohnanlagen, die vielfältigen Einrichtungen werden gerne genutzt, man begegnet sich, möchte mitbestimmen, es gibt Gemeinsames. Vielleicht ist der Anspruch „Bereicherung, wie andere, die gern von Außenstehenden und nicht selbst Betroffenen gestellt werden, zu hoch gegriffen. Es ist schon viel erreicht, wenn sich die Bewohner – tagtäglich – um gegenseitiges Verständnis bemühen. Gutes nachbarschaftliches Tür-an-Tür-Wohnen erfordert viel an sozialer Kompetenz.
„Respekt“ als Parameter Respekt ist mit der wichtigste Schlüssel für ein „gutes Zusammenleben“ und Integration. Respekt bedeutet Wertschätzung, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit gegenüber den Mitbewohnern. Respektlosigkeit, Miss achtung, gar Verachtung wären Indizien für ein ganz und gar misslingendes Zusammenleben. In den Wohnanlagen verlangen die alltäglichen nachbarschaftlichen Begegnungen wechselseitig ein bestimmtes Grundmaß aller Bewohner, sonst wäre das Wohnen unerträglich: Respekt allen Mitbewohnern gegenüber, ungeachtet der Herkunft, der Kinder gegenüber Erwachsenen, dieser gegenüber den Kindern, der Kinder gegenüber dem Hausbetreuer usw.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Und besonders: Respekt der Männer gegenüber den Frauen. Gerade auf diesen Punkt konzentriert sich oft die Diskussion bezüglich muslimischer Zuwanderer. Nicht, dass jeder einheimische Mann immer Respekt gegenüber Frauen zeigen würde. Aber Frauen und Männer haben hierzulande laut Verfassung gleiche Rechte. Deshalb können Frauen heute selbstbewusst auftreten, natürlich auch in den Wohnanlagen. Doch innerhalb der muslimischen Kultur gibt es Lehrmeinungen, die der Frau nur eine minderwertige Position einräumen. Diese Grundhaltung hat im Alltag ganz praktische Auswirkungen, sie dringt auch in die Wohnanlagen hinein. Respekt ist somit unter der Prämisse der hierzulande geltenden und in der Verfassung festgeschriebenen Normen zu definieren, nicht nur unter individuellen oder ethnienspezifischen Aspekten. Eine muslimische Frau hat das gleiche Recht wie die einheimische auf Respekt seitens der einheimischen wie der zugewanderten Männer. Gleiches gilt für Mädchen und Buben. Das vergleichsweise dichte Zusammenleben in Wohnanlagen wäre ohne wechselseitige Achtung der Bewohner nicht denkbar. Selbst die eigene Wohnung ist kein absolut isolierter Raum, auch hier ist Achtsamkeit gegenüber den rundum Wohnenden unverzichtbar. Teils sind die „Achtsamkeitsregeln“ in Hausordnungen definiert, aber es geht beim „guten Zusammenleben“ nicht nur um formale Regelungen, deren Miss achtung Sanktionen nach sich ziehen würde, sondern um die Einhaltung der hierzulande üblichen Normen und Verhaltensweisen. Im Alltag der Wohnanlagen gibt es unzählige Situationen, dem Nachbarn Respekt zu erweisen, das beginnt schon beim Grüßen. Respektieren heißt auch, nichts zu tun, was den anderen in seinem Stolz verletzen könnte. Das könnte die Regeln zur Sauberkeit betreffen, da z. B. Unordnung in einem Stiegenhaus das Selbstwertgefühl eines Bewohners beeinträchtigen könnte. Und vieles mehr. Da die Formen und Regeln von Respekt gesellschaftlich geprägt sind, bestehen klarerweise Unterschiede zwischen den Ethnien. Kann von Zuwanderern Anpassung gefordert werden, dann nicht in dem Sinne, dass sie viele ihrer eigenen Bräuche aufgeben, viele der Symbole und Zeichen nicht tragen sollen, sondern dass die hier geltenden Kodizes für respektvollen Umgang eingehalten werden – was für Einheimische natürlich gleichermaßen gilt. Maßstab für Respekt ist die einheimische Kultur. Bei der Frage nach dem Respektiertwerden ging es um die individuellen Empfindungen der Bewohner:
Selbst die eigene Wohnung ist kein absolut isolierter Raum
Sehen Sie Respekt für Ihre eigene Lebensform und Kultur in Ihrer Wohnhausanlage? (Mögliche Antworten: „ja, viel; ja, ausreichend; ja, ein wenig; nein; weiß nicht.“)
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„Viel oder ausreichend“ respektiert fühlen sich über die Hälfte der Befragten (53 %), noch ohne weiter zu differenzieren. Wenige (18 %) sehen sich nur „ein wenig“ respektiert und ebenso wenige (17 %) gar nicht. Nun handelt es sich um ein weites Feld. Der eine fühlt sich beispielsweise in seinem Recht auf Ruhe schon nicht respektiert, wenn Kinder Lärm machen. Ein anderer mag sich am Lärm stören, sieht darin aber nicht gleich etwas Respektloses, sondern nur Ärgerliches. Immerhin 60 % der Bewohner sagen, ja, sie hätten schon öfter Ärger mit ihren Nachbarn gehabt. Im Einzelnen: q Einheimische sehen unterdurchschnittlich häufig „viel bis ausreichend“ Respekt sich selbst gegenüber. q Zugewanderte sehen dies überdurchschnittlich häufig. Der Unterschied ist jedoch mit 5 Prozentpunkten gering. q Einheimische sehen doppelt so häufig keinen Respekt für die österreichische Kultur und Lebensform wie die Zuwanderer für die ihre (20 % gegen 10 %), bilden aber zusammen trotzdem eine deutliche Minorität (hingewiesen sei wieder auf das Profil derer, die in diesem Bericht als „die Zuwanderer, die Zugewanderten“ bezeichnet werden. Einen hohen Anteil dieser Gruppe bilden mehr als 10 Jahre Eingebürgerte).
Respekt für eigene Lebensform und Kultur
100 %
11 %
12 % 17 %
Nach Alter der Bewohner
13 %
13 %
16 %
19 %
23 %
18 %
19 %
21 %
38 %
40 %
10 % 18 %
n = 482
18 %
16 %
50 % weiß nicht
46 %
nein
42 %
40 %
ja, ein wenig ja, ausreichend ja, viel
162
0 %
15 %
11 %
Alle
19 bis 35 Jahre
12 %
6 %
36 bis 50 51 bis 65 Jahre Jahre
5 %
Ab 66 Jahren
q Respekt wird von den Altersgruppen unterschiedlich bewertet. Die Älteren zwischen 50 und 65 Jahren fühlen sich nicht sehr respektiert. Die Zahl derer die „ja, viel oder ausreichend“ sagen, ist umso größer, je jünger die Bewohner sind. Jedoch kann es zwischen Wohnanlagen und sogar innerhalb einer Wohnanlage Unterschiede geben.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
q Nach Alter der Anlagen fühlen sich Bewohner der Anlagen mittleren Alters (6 bis 10 Jahre bewohnt) anteilig weniger respektiert. q Verschränkt man die Respekt-Frage mit der Frage, ob man in der Anlage eine „Mischung“ von 50 zu 50 Einheimische – Zuwanderer gut fände, sehen sich Befürworter deutlich mehr respektiert als die Gruppe derer, die dies ablehnen. Hat man gute Erfahrungen gemacht, stimmt man der „Mischung“ lieber zu. Die Gesamtbewertung ist mehrdeutig. Wenn sich nur 53 % „viel oder ausreichend“ respektiert fühlen, ist das kein so gutes Indiz für „gutes Zusammenleben“. Doch angesichts des Spektrums an Befindlichkeiten und Gefühlen, das sich mit Respekt verbindet, ist dies nicht verwunderlich. Pauschale Gassenfloskeln wie „man fühlt sich als Österreicher ja nicht mehr respektiert im eigenen Land“ finden sich in Wohnanlagen auch. Die Befragung zeigt auf jeden Fall, wie unterschiedlich je nach Alter Anspruch auf Respekt und Entbieten von Respekt gesehen wird.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
163
Das Zuhause Identifikation
Für das Selbstwertgefühl bedarf es eines Gegenübers
164
Möchte man feststellen, ob Bewohner mit ihrer Wohnanlage zufrieden sind und ob sie hier auch in guter Weise miteinander zusammenleben, verwendet man oft die Formel: Die Bewohner identifizieren sich mit ihrer Wohnanlage. Wenn jemand seinen Beruf liebt, „in ihm aufgeht“, verwendet man auch diesen Ausdruck. Identifizieren kann man sich mit nichts, was Ärger bereitet, was man nicht gerne tut, wo man nicht gerne ist. Dass es mit der Wohnung, der Wohnanlage und auch mit dem Grätzel möglich ist, ist entscheidend für ein positives Selbstwertgefühl. Gut zu Wohnen gehört mit zu den wichtigsten Voraussetzungen für ein gutes Leben. Man ist stolz, wenn man dies geschafft hat. Die Maßstäbe dafür werden aus dem Milieu bezogen, dem man sich zugehörig fühlt. Und für das Selbstwertgefühl bedarf es eines Gegenübers, das Wertschätzung ausdrückt. Das Milieu in den Wohnanlagen der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen ist überwiegend als „aufstiegsorientiert“ zu bezeichnen. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass in ein und derselben Wohnanlage nur ein Milieu vertreten wäre. Sicherlich gibt es auch – wenn man den soziologisch gebräuchlichen Klassifizierungen folgen möchte – das „kleinbürgerliche Milieu“. Milieu ist nicht allein durch Einkommen definiert, sodass es keine scharfen Trennlinien durch die Zugangsbedingungen zu den von den Gemeinnützigen repräsentierten Marktsegmenten gibt. So können in einer Wohnanlage eher „Aufstiegsorientierte“ oder bereits bei einem erwünschten Status Angekommene wohnen, und auch Bewohner, die sich – aus welchen Gründen auch immer – mit ihrem Status abgefunden haben. Vereinfachend ist von Bewohnern zu sprechen, die sich mit ihrer Wohnanlage sehr identifizieren, und solchen, für die ihre Wohnung bzw. die Wohnanlage im Wesentlichen bloß eine ihnen zustehende soziale Einrichtung ist. In dieser Studie wurde versucht, diesen zwar oft verwendeten, aber doch unpräzisen Sammelbegriff „Identifikation“ für Zugehörigkeits gefühl, Zufriedenheit und Stolz aufzuschlüsseln. q Zeigt man die Wohnanlage insgesamt oder einzelne Ausstattungen gerne Besuchern, auf die man Wert legt, ist man also stolz darauf, hier zu wohnen, spricht dies für Identifikation.
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
q Empfiehlt man die Wohnanlage Freunden oder Verwandten, die eine Wohnung suchen, spricht das für einen sehr hohen Grad an Identifikation. q Gleiches gilt, wenn man mit der Vermieterin zufrieden ist, sie weiterempfehlen würde. Das sind wichtige Kriterien, denn folgt ein Freund oder Verwandter dem Rat und es stellt sich heraus, dass es Ärger, Missstimmungen usw. gibt, schlüge das auf den Ratgeber zurück. Bei dieser Frage der Identifikation unterscheiden sich Einheimische und Zuwanderer nicht wesentlich, wenn sie sich innerhalb des gleichen Milieus bewegen bzw. wenn Zuwanderer zu einem mehr einheimisch geprägten Milieu Zugang suchen. So es Trennlinien gibt, können sie innerhalb der Einheimischengruppe ebenso liegen wie innerhalb von Zuwanderergruppen. Die Bewohner der untersuchten Wohnanlagen gehören, die Zuwanderer eingeschlossen, vom Einkommen und vom Bildungsgrad gesehen, sozioökonomisch zur „unteren bzw. mittleren Mittelschicht“, und besucht man die Wohnanlagen, möchte man sie – mit Ausnahmen – als „Wohnanlagen für Aufstiegsorientierte“ klassifizieren. Es ist eine gute Basis für Zusammenleben in einer Wohnanlage, wenn die Bewohner stolz darauf sind, hier zu wohnen, und alles Gebotene nicht gleichgültig hinnehmen. Das ist mehr als bloß „Wohnzufrie- Mehr als bloß denheit“. „Stolz“ ist Ausdruck dafür, einen erstrebenswerten Status „Wohnzuerreicht zu haben. Es geht also um das Besondere einer Wohnanlage. friedenheit“ Das kann die Lage sein, die architektonische Gestaltung, die Gemeinschaftseinrichtungen. Die Sozialbau versucht deshalb, jeder Wohnanlage eine besondere Ausprägung zu geben. Das Gegenteil von Stolzsein wäre Gleichgültigkeit gegenüber der Wohnsituation, hieße, nichts Besonderes an der Wohnanlage zu finden. Daraus resultieren folgende Fragen:
Wenn Sie Besuch von Leuten bekommen, welche Ihre Wohnsituation noch nicht kennen, worauf weisen Sie sie besonders hin, sofern dies vorhanden? (Kinderspielraum, Gemeinschaftsraum, Waschküche, Dachterrasse, private Dachgärten oder Mietergärten, Sauna/Fitness, Schwimmbad, Sonstiges oder nichts Spezielles?)
Würden Sie speziell IHRE Wohnanlage weiterempfehlen?
Würden Sie die Sozialbau als Wohnungsanbieterin weiterempfehlen?
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
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(Das Antwortenangebot für „Besonderes“ umfasst hauptsächlich die sogenannte „Hardware“ der Wohnanlage, die Ausstattung. Weiche Faktoren wie „gute nachbarschaftliche Kontakte“, „ein besonders hilfreicher Hausbetreuer“, „die Sauberkeit“ kann man nicht so gut herzeigen.)
a) Das Besondere
q Es ist naheliegend, dass Bewohner der wenigen Wohnanlagen, in denen es ein Schwimmbad gibt, darauf ganz besonders hinweisen. Insofern bezieht sich dieses Ergebnis nicht auf die Gesamtheit. q In der Rangfolge folgen dann Sauna und Fitnessraum. Überwiegend vermag man aber doch nichts Spezielles zu nennen. q Differenziert man bei den einzelnen Ausstattungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern, ist festzustellen, dass die Zuwanderer vor allem den Kinderspielraum, aber auch Gemeinschaftsraum und Waschküche öfter lobend erwähnen als Einheimische. q Umgekehrt verhält es sich mit dem Schwimmbad, einer Ausstattung mit einer stärkeren, aber keineswegs ausschließlichen „Einheimischen-Fangemeinde“ (ein Drittel zu einem Viertel). q Fitnessraum und Sauna sind für beide Gruppen in ähnlichem Ausmaß Vorzeigeobjekte. q Hinzuweisen ist darauf, dass die Ausstattungen – was sich auch bei den Begehungen zeigte – im Laufe der Zeit tendenziell immer zahlreicher und aufwendiger geworden sind. Bewohner, die „nichts Spezielles“ nennen können, wohnen in den ältesten Wohnanlagen, wo es eben wenig davon gibt. Doch auch bei Anlagen mittleren Alters bleiben die Antwortenden häufig undifferenziert im Allgemeinen. Auf den ersten Blick mag es enttäuschend sein, dass die Bewohner „nichts Spezielles“ anführen können, was ihre Wohnanlage von anderen abheben könnte, trotz Ausstattung nach Sozialbau-Standard (Gemeinschaftsraum, Waschküche, Kinderspielraum). Man kann das aber auch so interpretieren: Die Bewohner sehen in diesem Standard gar nichts Außergewöhnliches mehr, sondern nehmen ihn als Normalfall. Wird auf etwas Spezielles hingewiesen, dann vielleicht nur, falls eine besonders gelungene Gestaltung besticht. Für etliche Antwortende waren noch eine Reihe weiterer Merkmale der Wohnsituation vorzeigenswert, sehr unterschiedliche. Interessant war
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
zu lesen, dass darunter mehrfach ausdrücklich auf den Stadtteil, das Grätzel oder auf die Nähe zu Grünräumen hingewiesen wurde.
b) Das Weiterempfehlen
Noch weitergehend ist die Bewertung einzuschätzen, empfiehlt ein Bewohner Verwandten, Freunden oder Bekannten die eigene Wohnanlage im Falle eines geplanten Umzugs. Ähnlich ist dies mit dem Vermieter, dem Wohnungsunternehmen, zu sehen. Empfiehlt man die eigene Wohnanlage nicht gerne weiter – und auch nicht die Sozialbau – kann hier kein „gutes Zusammenleben“ sein, denn eine Empfehlung beinhaltet den ganzen Lebenskontext in der Wohnanlage. Für eine Empfehlung muss man, wie gesagt, notfalls „gerade stehen“. Das Ergebnis der Befragung ist jedoch insgesamt positiv: Fast alle Bewohner quer durch die untersuchten Anlagen würden die Sozialbau generell als Vermieterin weiterempfehlen („ja“ oder „vielleicht“). Ganz sicher eine positive Empfehlung abgeben würden beinahe 60 % aller. Bei der Frage, ob man die eigene Wohnanlage empfehlen würde, ist die Gesamtanzahl der positiven Antworten („ja“ oder „vielleicht“) zwar etwas geringer, etwa 80 %, und überzeugt davon ist hier nur gut die Hälfte. Es zeigen sich jedoch auch diesbezüglich insgesamt Spitzenwerte je nach Anlage von bis zu 95 %. Trotz aller Kritik, die da und dort geäußert wird, sind es die ältesten Bewohner, die ihre Anlage am stärksten weiterempfehlen würden, meist auf der Basis langjähriger Erfahrung vor Ort. Ein eindeutiges „Ja“ sagen hier fast 70 %. Auch das Unternehmen empfehlen sie mit Abstand am deutlichsten weiter („Ja“ von fast drei Viertel). Langes Verbleiben in der Anlage scheint also, sofern man das hineininterpretieren kann, nicht aus Resignation oder einem Mangel an Alternativen zu erfolgen, sondern aus einer Grundzufriedenheit. Da diese Personengruppe viele Eltern und Großeltern umfasst, ist die Empfehlungsstärke wohl relevant. Unter den sonstigen Altersgruppen sind die jüngsten Bewohner mit wenig Wohnerfahrung keineswegs die seltensten Empfehlenden, die Unterschiede sind mäßig. Ob es bestimmte Arten von Haushalten sind, denen Wohnanlage oder Sozialbau empfehlenswert erscheinen, lässt sich nicht eindeutig sagen. Das Leben mit oder ohne Kinder gibt offenbar nicht den Ausschlag. Auch ob die Antworten von Einheimischen oder Zuwanderern kommen, zeigt in Bezug auf die eigene Wohnanlage keinen wesentlichen Unterschied. Die Sozialbau wird tendenziell von Zuwanderern noch stärker weiterempfohlen als von den Einheimischen. Nach allem, was zu den unterschiedlichen Qualitäten, aber auch
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Eine Empfehlung beinhaltet den ganzen Lebenskontext
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Problemen der diversen Anlagen geäußert wurde, ist aufschlussreich, ob und wie sich das niederschlägt: Nach Bauperioden ist eine höhere Weiterempfehlungsrate bei den jüngsten Anlagen erkennbar (60 % eindeutige Zustimmung gegenüber 52 % im Durchschnitt in Bezug auf die eigene Anlage, zwei Drittel gegenüber rund 60 % im Durchschnitt bezüglich Sozialbau). Nur bei den ältesten Anlagen (bis 2005) übersteigt die kleine Ablehnungsrate die 10 %-Marke. Die hohe Empfehlungsrate bei den jüngsten Anlagen ist wahrscheinlich auch auf die im Laufe der Jahre immer besser gewordene Qualität der Anlagen, z. B. durch die Ausstattungen, zurückzuführen.
Weiterempfehlung der Sozialbau als Wohnungsanbieterin
100 %
Nach Bauperiode
8 %
8 %
10 %
29 %
31 %
33 %
59 %
55 %
54 %
6 % 26 %
n = 492 50 % weiß nicht nein
64 %
vielleicht ja
0 % Gesamt
Weiterempfehlung der eigenen Wohnanlage
2000–2005 2006–2010 Ab 2011
100 % 15 %
Nach Bauperiode
15 %
11 %
19 % 27 %
29 %
n = 492
34 % 28 %
50 % weiß nicht
52 %
nein
60 % 44 %
48 %
vielleicht ja
168
0 % Gesamt
2000–2005 2006–2010 Ab 2011
Einfache Aussagen wie „je größer die Anlagen, umso ...“ lassen sich nicht treffen. Am ehesten lässt sich eine stärker eindeutige Empfehlungsrate sowohl zur eigenen Wohnadresse als auch zur Vermieterin bei den größten Anlagen erkennen. Die Dimension der Anlagen – bei den größten sind es immerhin jeweils 300 Wohnungen oder mehr – hat offenbar
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keinen negativen Einfluss auf das „Weitersagen“. Zu achten ist darauf, dass sich bei der Frage „Wohnanlage“ unter den generell geringen Ablehnenden eine Negativ-Ausnahme in der Anlagengröße „200 bis unter 300 Wohnungen“ zeigt: eine Ablehnung durch ein Viertel der Bewohner. Hier könnten Probleme in einzelnen Anlagen verborgen sein, die sich erst durch genauere Einsicht und Fallstudien entschlüsseln lassen.
Zusammenleben – ein Gesamtbild Welches Gesamtbild vom Zusammenleben in den Wohnanlagen der Sozialbau, die in den letzten 15 Jahren übergeben wurden, zeichnen die Befragten nunmehr selbst?
Ihre abschließende Bewertung: Meinen Sie, dass in Ihrer Wohnanlage das Ziel „gutes Zusammenleben zwischen den Generationen, den Kulturen, den unterschiedlichen Haushalten usw.“ im Großen und Ganzen erreicht worden ist?
Wenn die Bewohner zu zwei Drittel eine mehr oder weniger positive Antwort geben („ja“ oder „vielleicht“ etwa halbe-halbe) und sich nur ein kleiner Teil (10 %) zu keiner Bewertung entschließen möchte, lässt sich das insgesamt als recht akzeptables, positives Ergebnis werten: Das Zusammenleben in den Wohnanlagen ist an sich gut. Das ist von den Antwortenden nicht so dahingesagt. Dass sie sich mit ihrer Wohnanlage durchaus sehr kritisch auseinandersetzen, zeigen die vielen offenen Antworten zu Ärgernissen, Problemen und Zweifeln, zeigen über 300 handschriftlich eingefügte Anregungen für Verbesserungen, die mit den Fragebögen eingesammelt werden konnten. Diese generelle Frage stand außerdem deshalb am Ende des Fragebogens, damit sie in gewisser Weise durch die Beantwortung der anderen Themen „vor-reflektiert“ war. So ist davon auszugehen, dass sich das Urteil den Realitäten stellt. Insofern ist es auch nicht unbedingt ein negatives Fazit, wenn von den Bewohnern doch gut jeder Fünfte meint, ein gutes interkulturelles Zusammenleben sei nicht gelungen. Da sei nochmals darauf hingewiesen, dass das soziale Leben in den Wohnanlagen nichts Statisches ist, sondern jede Anlage eine Biografie besitzt. Bilden sich nun die Lebensphasen der Bewohner in den Aussagen ab? Oder sind andere Kriterien entscheidender?
Über 300 handschriftlich eingefügte Anregungen
Vorab gesagt: In gewissem Ausmaß übt das Alter der Bewohner Einfluss aus, nicht so sehr die Art des Haushalts. Migrationsbezug beeinflusst
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durchaus die Antworten und am auffälligsten ist offenbar die Position zu „Mischung“ in der Anlage. Die Größen der Anlagen selbst scheinen eine gewisse Rolle zu spielen, das Alter der Anlagen eher nicht. Im Einzelnen: Bewertungen der Familien mit Kindern ausdrücklich positiv
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q Die Zusammensetzung des Haushaltes dürfte nicht sehr entscheidend sein – generell sind die Urteile je nachdem, ob die Befragten „allein lebend“ sind, in Partnerschaft, mit Kindern etc. leben, ähnlich. Tendenziell sind die Bewertungen der Familien mit Kindern ausdrücklicher positiv (zu fast 40 %). q Das Alter der Personen schlägt sich deutlicher in den Antworten nieder. Manches zeigt sich „an den Rändern“ – überdurchschnittlich unschlüssig sind die jüngsten Bewohner (19 bis 35 Jahre) und die ältesten (ab 66). Die einen unter anderem, weil sie noch nicht lange genug in der Anlage wohnen, um sich schon eine klare Meinung gebildet zu haben? Die anderen, weil sie schon Veränderungen erlebt haben? Oder weil für diese Personengruppe auch das gute Zusammenleben der Generationen zunehmend wichtiger wird? Plausibel, möglich. q Haben sich Personen dieser beiden Altersgruppen jedoch entschieden, ist die Antwort positiv (beide über 70 % bei „ja oder vielleicht“). Am ehesten Ablehnung erfährt das Postulat des „im Großen und Ganzen erreichten guten Zusammenlebens“ von den Älteren, den 51- bis 65-Jährigen – statt gut einem Fünftel im Durchschnitt sehen es hier rund 30 % nicht erreicht. q Auffallend ist vor allem, dass die positive Sicht bei den Personen mit Migrationsbezug (verkürzt als „Zuwanderer“ bezeichnet) deutlich über jener der sogenannten „Einheimischen“ liegt. Sagen bei den Zuwanderern 40 % ja, es wäre gelungen, sind es bei den Einheimischen nur 30 %. Da es im Hintergrund dieser Fragestellung und wohl auch im Verständnis der Personen in hohem Ausmaß um das „inter-ethnische“ Zusammenleben geht, weist dies auf einen sehr merkbaren Wahrnehmungsunterschied hin. Innerhalb einer gewissen Spanne (von 10 Prozentpunkten) wird offenbar in Anlagen das gemeinsame Leben von beiden Seiten tatsächlich unterschiedlich erlebt. Es bedarf an dieser Stelle jedoch wieder des kurzen Hinweises, dass in den zur Verfügung stehenden Aussagen von „Zuwanderern“ nicht das gesamte Spektrum derzeitiger Bewohner von neueren Anlagen der Sozialbau mit Migrationsbezug repräsentiert ist. Dies ist zwar auch bei den sogenannten „Einheimischen“ nicht gänzlich der Fall, da Antwortende auf komplexe Fragebogen in der Regel eine etwas
Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
einseitige Auswahl darstellen, jedoch bei diesen wohl in deutlich geringerem Ausmaß. Bei den „Zuwanderern“ überwiegen sehr deutlich schon lange Eingebürgerte, ergänzt um Personen aus europäischen Ländern, in der Regel besser Gebildete und Besserverdienende. Daher darf vermutet werden, hier seien eher Meinungen und Werthaltungen derer zu sehen, die es in gewisser Weise „geschafft haben“, und nur in geringem Ausmaß derer, „die noch auf dem Weg sind“. Gerade dies stellt sich als eine besondere Qualität der Befragungen heraus: Es konnte gewissermaßen ein Bild des Zusammenlebens derjenigen Bewohner gezeichnet werden, die schon ein hohes Niveau an Integration erreicht haben, die „angekommen sind“. Wie sagten mehrere der Interviewten mit Migrationsbezug? „Wir kommen gut miteinander aus, wenn sich alle an unsere Regeln halten!“
Ist gutes Zusammenleben im Großen und Ganzen erreicht?
100 %
Nach Herkunft
12 %
12 %
22 %
26 %
12 % 16 %
n = 490 50 %
33 %
32 %
31 %
weiß nicht nein 34 %
vielleicht ja
40 %
31 %
0 % Alle
Einheimische
Mit Migrationsbezug
Auf Basis des Analysierten wäre den spezifischen Anlagenprofilen noch genauer nachzuspüren. Hier könnten als Erstes Ansätze gefunden werden, die Situation zu verbessern, Missverständnisse aufzuklären etc. (siehe dazu den Beitrag „Schlussbetrachtungen“). Dass die Bewertung des Zusammenlebens in hohem Ausmaß auf jenes „zwischen den Kulturen“ bezogen wird, ist vorab nicht verwunderlich – bei dem starken Anteil von Fragen zu diesem Themenkreis in der Befragung. Trotzdem überrascht es, wie stark die jeweiligen Positionen zur Frage nach dem Verhältnis von zirka „50 % Österreich, 50 % Zugewanderte“ in Wohnanlagen mit den Antworten zum gelungenen guten Zusammenleben korrelieren. Es hat viel Logik, ist aber auch der auffälligste Befund in der Analyse dieser abschließenden Bewertung: gelungen oder nicht gelungen? Wie sich zeigt, findet unter den
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Befürwortern von „halbe-halbe“ jeder zweite in Folge auch, dass eindeutig gutes Zusammenleben erreicht wurde, und dies wird auch hier nur von einer Minorität von 9 % verneint. Im Gegenzug überwiegt bei jenen, die geringere Anteile von Zugewanderten in den Anlagen befürworten, die dezidierte Verneinung guten Zusammenlebens sehr deutlich (mit 36 %), viermal so häufig wie bei den oben Genannten. Nur jeder Fünfte sieht dieses Zusammenleben als insgesamt gut an. Dies illustriert plastisch, wie es dazu kommen konnte, dass im Gesamtdurchschnitt weniger als 40 % eine deutliche Zustimmung zur Frage „gelungen oder nicht gelungen“ geben. Es kann natürlich auch in die Gegenrichtung gelesen werden: Findet man gutes Zusammenleben nicht erreicht, sieht man eine mögliche Verbesserung vor allem in einem geringeren Anteil von Zugewanderten in der Anlage. Konsequenterweise empfehlen die Gegner von „halbe-halbe“ auch ausgesprochen seltener die Sozialbau und ihre eigene Wohnhausanlage weiter. Lassen sich vor diesem Hintergrund „erfolgreichere und weniger erfolgreiche“ Typen von Anlagen identifizieren? Eine Frage, die in der Rückschau Planer, Errichter, Vermieter und Verwalter interessieren Kleinere Hinweise sollte. Kleinere Hinweise auf eventuelle Problemgruppen von Anlagen auf eventuelle lassen sich finden, sind jedoch nicht sehr konsistent. Alles weist eher Problemgruppen darauf hin, dass die oben gezeigte Polarität von Zustimmung und Ablehnung ein Phänomen darstellt, das sich durch viele Anlagen zieht. Größe und Bauperiode der Anlage haben hier keinen bedeutenden Einfluss. Nach Größen der Anlagen lassen sich am ehesten unter den „größeren, aber nicht ganz großen“ mit 200 bis unter 300 Wohnungen Hinweise auf Problemlagen erkennen. Während in allen anderen Anlagen die expliziten Bejaher die Verneiner deutlich bis sehr deutlich überwiegen, zeigt sich hier ein Überwiegen der negativen Meinung zum Vorhandensein eines guten Zusammenlebens (33 % nein gegenüber 26 % ja). Hier sollte genaueres Hinschauen ansetzen. In den Einzelergebnissen sind einige Wohnanlagen erkennbar, die bei dieser Frage nicht gut abschneiden. Und das sind jene, zu denen auch zu anderen Themen negative Äußerungen kamen. Das heißt, das Wohnungsunternehmen muss letztlich das Augenmerk auf jede einzelne Wohnanlage richten, gezieltes, maßgeschneidertes Ansetzen wird unabdingbar sein.
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Brech, Feigelfeld / Zusammenleben in Wohnanlagen
Die Ergebnisse in Zusammenfassung Schriftliche Befragungen, Interviews und Begehungen ergeben das folgende zusammenfassende Bild über das Zusammenleben in den seit 2000 errichteten Wohnanlagen der Sozialbau. Die Kernfrage lautete: Lässt sich von einem „guten Zusammenleben“ der Einheimischen und der Zuwanderer sprechen? Kurzgefasst: Ja. Die Ergebnisse sind insgesamt positiv, auch wenn in manchem Bereich die Werte nicht so gut sind, wie man sich das erhoffen würde und obgleich auch negative Bewertungen zu manchen Aspekten abgegeben wurden. Ja, denn differenziert und überlagert man die Ergebnisse, wird ersichtlich, dass bei den Bewohnern nicht immer Eindeutigkeit besteht: Man ärgert sich über dieses und jenes, aber insgesamt ist man doch stolz auf seine Wohnanlage, identifiziert sich mit ihr, würde sie und auch die Sozialbau fast uneingeschränkt weiterempfehlen. Und schließlich sind die Aussagen immer durch die jeweilige Lebenssituation mitbestimmt. Vieles ist oft ambivalent. „Gutes Zusammenleben“ ist ein Wunsch, der zunächst nichts mit ethnischer Zugehörigkeit zu tun hat, sondern ist Sache des Alltags generell. Es sind die alltäglichen „kleinen Dinge“, die ein „gutes Zusammenleben“ ausmachen: Nähere Kontakte mit den Nachbarn, auch einmal eine Auseinandersetzung im Haus haben usw. Dann erst, darüber hinaus: die besonderen Anforderungen an das Zusammenleben aufgrund der heutigen ethnischen Vielfalt in den Anlagen.
Aussagen immer durch die jeweilige Lebenssituation mitbestimmt
q Ethnien-übergreifende Ergebnisse Gäbe es in den Wohnanlagen wenige Kontakte zwischen den Bewohnern oder sehr viel Ärger über die üblichen Kleinigkeiten, würde man Hausbetreuung und -verwaltung übers Maß kritisieren, bestünde also eine Grundstimmung von Unzufriedenheit, könnte nicht von „gutem Zusammenleben“ gesprochen werden und für inter-ethnisches miteinander Auskommen wäre gar keine Basis gegeben. In den Wohnanlagen der Sozialbau ist in dieser Hinsicht nichts zu kritisieren: Es bestehen lebhafte Kontakte zwischen den Bewohnern, gewiss auch Ärger, aber nicht in einem Maß, dass darüber lange gesprochen werden müsste – auch wenn es bei der Art und Weise der Lösung von Konflikten einiges zu verbessern gäbe. Die Mehrheit der Bewohner äußert sich zufrieden über die Ausstattung und die Lage, man ist mit der Hausverwaltung und dem Hausbetreuer zufrieden und man würde sich durchaus gerne mehr an der Gestaltung des Zusammenlebens beteiligen.
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Kontakte Gut 7 von 10 Bewohnern haben nähere Kontakte im Haus, womit über Höflichkeitsgesten hinausgehende, gut nachbarschaftliche gemeint sind. Es zeigt sich: Die Lebensphase, in der sich die Bewohner befinden, ist wesentlich entscheidend. Mit weitem Abstand die geringsten Kontakte haben Alleinlebende, die meisten haben Familien mit Kindern. Viel am Zusammenleben in den Wohnanlagen ist also dem relativ geringen Mix bei den Erstsiedlern, bezogen auf ihre Lebensphase, geschuldet. Jedenfalls verbleibt ein Mindestsockel von etwa einem Sechstel der Bewohnerschaft, das keinen Umgang mit Nachbarn pflegt.
Ärger Gut 6 von 10 Bewohnern sagen, sie hatten schon öfter Ärger mit anderen Hausbewohnern. Anlässe sind die in Wohnanlagen üblichen: Zwischen rund 40 % und nahezu der Hälfte beklagen das Verhalten von Kindern und Jugendlichen, mangelnde Sauberkeit, vor allem Ruhestörung. Nutzung von Hauseinrichtungen wird seltener angegeben. Man kann schon Ärger empfinden, das schließt aber gute Nachbarkontakte nicht aus. Allerdings: Von den Bewohnern, die sich klar zu Ärgernissen mit anderen Bewohnern äußern, ist nicht einmal ein Fünftel damit zufrieden, wie diese Konflikte gelöst wurden. Das ist ein negativer Posten. Doch ist Ärger auch im Kontext der jeweiligen Lebenssituation der Bewohner zu sehen, sonst entstünde ein unzutreffendes Bild. So ist es beispielsweise einigermaßen unverständlich, dass es angesichts des hervorragenden Zustands der Anlagen öfter Ärger wegen mangelnder Sauberkeit geben kann.
Ausstattung, Sonderwohnformen Ob und wie die Bewohner die Gemeinschaftseinrichtungen im Haus und außerhalb nutzen, ist für die Beurteilung des Zusammenlebens entscheidend, hier bildet sich das soziale Leben in vielen Facetten ab. Die Gesamtbilanz ist durchaus positiv: Beinahe zwei Drittel der Befragten gaben an, zufrieden oder sehr zufrieden mit der Ausstattung zu sein. Dabei nimmt die Zufriedenheit bei den neueren Anlagen deutlich zu – erklärbar, da der Standard ständig angehoben wird. Positive Bewertung einer bestimmten Einrichtung bedeutet indes nicht, dass man sie auch benutzt. Wichtig scheint zu sein: „das haben wir im Haus“. Die Gemeinschaftsräume sind nicht unbedingt eine Voraussetzung für gute
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Kontakte, aber sie sind temporär von großer Wichtigkeit. Sonderwohnformen wie z. B. Altenwohngemeinschaften sind zwar nicht häufig vorhanden, wurden jedoch mit überwältigender Mehrheit, fast 90 %, positiv gesehen.
Hausbetreuer Die meisten Anlagen haben einen Hausbetreuer, für die Sauberkeit sind Reinigungsfirmen zuständig. Mit die wichtigste Aufgabe des Hausbetreuers ist es, bei den Fragen des Alltags zwischen Bewohnern und Hausverwaltung zu vermitteln. Ihre „Scharnier“-Rolle bringt sie jedoch auch an die vorderste Stelle, wenn es um Ärger und Probleme geht. Darauf verweist, dass sie von einer Mehrheit für ausreichend kompetent gehalten werden, aber doch nur von rund 60 % der Bewohner, ein weiteres Fünftel ist unschlüssig. Darüber hinaus sind sie für annähernd ein Drittel der Bewohnerschaft auch Ansprechpartner für Persönliches.
Hausverwaltung Die Hausverwaltung – sorgt sie gut für Information, Ordnung und Sauberkeit, Instandhaltung, Sicherheit? Sie bekommt eine durchschnittlich gute Bewertung. Doch bestehen durchaus Unterschiede bei den Aufgabenbereichen. Zwar sind 8 von 10 Bewohnern ausreichend oder sehr zufrieden mit der Informationsleistung, weniger Zustimmung von nur jeweils rund 6 von 10 erhält die Hausverwaltung in Bezug auf ihre Obsorge für Sauberkeit, Instandhaltung und Sicherheit. Die Ansprüche der Bewohnerschaft sind offenbar hoch. Den ältesten Bewohnern ist, wie zu erwarten, Ordnung und Sauberkeit ein besonderes Anliegen.
Eigenorganisation Von der Bewohnerschaft selbst wurde (noch?) eher wenig an Rahmen für ein stärkeres „Miteinander“, für organisiertes Kennenlernen und Austausch entwickelt. Zwar werden die von „außen“, von der Hausverwaltung organisierten, jährlichen Feste positiv gesehen, aber darüber hinaus zeigt sich bei Fragen nach Eigenorganisation eher ein Bild von Uninformiertheit und Unschlüssigkeit. Die generelle Frage, ob mehr Mitbestimmung gewünscht sei, wurde zwar deutlich, von mehr als der Hälfte der Antwortenden, bejaht. Doch
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auf welche Weise? An einem potenziellen Bewohnerschaftsverein äußert sich nur ein Viertel interessiert, Internet-Foren dürfte es da und dort geben, ein weiterer gewisser Zuspruch hierfür dürfte bestehen. Dagegen liegt die Zustimmung zu einer Mietervertretung bei über 40 %, zusammen mit den „vielleicht“-Antworten sind es über 80 %. Interesse erwecken demnach eher „formelle“, nach außen zur Hausverwaltung hin ausgerichtete Formen von Eigenorganisation.
Das Grätzel Bei der Frage „Mögen Sie Ihr Grätzel?“ liegt mit fast 90 % ein äußerst positives Ergebnis vor. Je neuer eine Anlage, desto besser wird die Lage bewertet, ausgehend von einem bereits sehr hohen Niveau. Dieses Ergebnis ist durchaus aussagestark, denn die Wohnanlagen liegen in sehr unterschiedlich strukturierten Bezirken, verteilt über fast das gesamte Wiener Stadtgebiet.
q Ethnische Dimensionen Inter-ethnische Kontakte 7 von 10 Bewohnern geben, wie schon erwähnt, an, gute nachbarschaftliche Kontakte im Haus zu pflegen. Von diesen sagen wiederum etwa 7 von 10, das schließe auch Kontakte zu Nachbarn anderer Herkunft ein. Demnach pflegen rund die Hälfte aller Antwortenden weitergehende, eben auch inter-ethnische Begegnungen. Es gibt also viele Gemeinsamkeiten, und die Herkunft ist kein Hindernis. Bewohner mit Migrationsbezug zeigen sich aber kontaktfreudiger als Einheimische.
Ethnische Sichtbarkeit Nehmen die Bewohner die Vielfalt in ihrer Wohnanlage wahr, und woran wird dies festgemacht? Eine Mehrheit meint, es wären wohl 5 bis 10 Ethnien in der Wohnanlage anzutreffen. Ein gutes Drittel schätzt auf mehr als 10. Ethnische Zeichen, Symbole und Bräuche werden wahrgenommen, im Fokus steht das Kopftuch der Musliminnen.
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„Mischung“ Vielfalt an Ethnien, oder auch Dominanzen einzelner, das Suchen nach einer Formel für Ausgewogenheit, die ein gutes Zusammenleben ermöglicht, der Wunsch nach „Begrenzung“ oder sogar „Abgrenzung“ – in den Antworten dazu können Schlüssel für erfolgversprechende Konzepte gefunden werden. Diesbezügliche Fragen erweisen sich jedoch als sensibel, jeweils bis zu einem Viertel entzieht sich einer konkreten Antwort. Das ist kein gutes Ergebnis. Zur Frage, ob man es denn auch grundsätzlich gut finde, dass in der Anlage Bewohner aus vielen Ländern wohnen, sind – abgesehen von den erwähnten Enthaltungen – die Meinungen geteilt. Es überwiegt zwar die Zustimmung die Ablehnung, jedoch nicht sehr ausgeprägt. Dazu, ob einzelne Nationalitäten in der Anlage ein zu großes Gewicht haben, halten sich die Meinungen die Waage. Je rund 4 von 10 verneinen oder bejahen dies. Auch Zuwanderer stimmen hier zu, obzwar in geringerem Maße. Je älter ein Bewohner ist, desto eher konstatiert er eine negative Dominanz einer Ethnie. Diejenigen, die eine bestimmte Ethnie benannten, führten vorrangig Gruppen aus dem muslimischen Kulturkreis an, seltener vom Balkan oder aus östlichen europäischen Staaten. Die Idee einer „Mischung“ von Einheimischen und Zugewanderten in Wohnanlagen im Verhältnis 50 : 50 wurde in der Befragung ebenfalls zur Diskussion gestellt. Beinahe die Hälfte der Antwortenden konnte dieser Idee nichts abgewinnen, und nannte stattdessen eine breite Palette von alternativen Relationen, alle in Richtung „geringerer Zuwandereranteil“. Nur 3 von 10 befürworten die ausgewogenen Anteile. Starke Disparitäten zeigen sich zum Beispiel nach Alter der Anlagen, in den ältesten (10 bis 16 Jahre bewohnt) überwiegt sogar die Zustimmung, in den nächstjüngeren ist dagegen die Ablehnung besonders stark. Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass nicht so sehr die alltäglichen Lebenssituationen und Wahrnehmungen für diese Haltungen ausschlaggebend sind, sondern vor allem die gegenüber Zugewanderten entwickelten Meinungen. Die Ablehnung paritätischer „Mischung“ entspricht überdeutlich den negativen Haltungen in all den angerissenen Themen zu ethnischen Dimensionen des Zusammenlebens.
Jeweils bis zu einem Viertel entzieht sich einer konkreten Antwort
Bereicherung Fühlen sich die Bewohner durch Vielfalt im Haus nun bereichert oder sieht man sich gestört? Was überwiegt? Das waren weitere Fragen nach der persönlichen Einstellung zu anderen Kulturen. Unter den Personen,
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die Stellung beziehen, überwiegen mit beinahe 4 von 10 jene mit einer positiven oder vorsichtig positiven Haltung. Unter 3 von 10 hingegen können in Vielfalt explizit keine Bereicherung sehen. Die Gegenfrage nach Störung bestätigte das tendenziell. Die Stimmungslage gegenüber „Mitbewohnern aus vielen Ländern“ ist demnach ambivalent, wie auch die Meinungen zu Vielfalt zeigten. Anders und eindeutig positiver ist sie, was die Bereicherung durch Vielfalt für die Kinder angeht.
Respekt Generell, ohne Unterscheidung nach Ethnie, fühlt sich gut die Hälfte der Befragten „viel oder ausreichend“ respektiert. Nur wenige, unter einem Fünftel, sehen sich gerade noch – „ein wenig“ – respektiert, ebenso wenige gar nicht. Zwischen Einheimischen und Zuwanderern besteht kein großer Unterschied. Die Zahl derer, die „ja, viel oder ausreichend“ sagen, ist umso größer, je jünger die Bewohner sind.
Bewohner über ihr Zuhause Auch wenn sich das Bild des Zusammenlebens ambivalent zeigt – positiv in Bezug auf das Zusammenleben im Allgemeinen, mit Ecken und Kanten bei den ethnienspezifischen Themen –, hindert dies offenbar nicht daran, sich mit der eigenen Anlage zu identifizieren, sie „zu mögen“ und daher ohne Vorbehalt weiterzuempfehlen. q Identifizieren sich die Bewohner mit der Wohnanlage? Worauf sind sie stolz? Der Standard der Anlagen der Sozialbau bei der Ausstattung – Gemeinschaftsraum, Kinderspielraum, Fitnessraum usw. – wird inzwischen offenbar als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Obenan bei Stolz steht natürlich bei denen, die eines haben, das Schwimmbad, gefolgt von Sauna und Fitnessraum. Zuwanderer erwähnen Kinderspielraum, Gemeinschaftsraum und Waschküche häufiger lobend als Einheimische. Mehrfach wird auf das beliebte Grätzel hingewiesen. q Werden Wohnanlage und Sozialbau weiterempfohlen? Die Zustimmung hierzu ist insgesamt sehr groß, sowohl bezogen auf die Sozialbau als auch auf die eigene Wohnanlage. Fast alle Bewohner, quer durch alle Anlagen, würden das Wohnungsunternehmen
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weiterempfehlen, und kaum weniger häufig, zu 80 %, wird Bekannten, Freunden, Verwandten geraten, sich doch in der Anlage um eine Wohnung zu bewerben.
Resümee mit Ambivalenzen Zu zwei Drittel geben die Bewohner eine mehr oder weniger positive Antwort, nur ein sehr kleiner Teil mag sich zu keiner Bewertung entschließen. Einhellige Begeisterung hält sich in Grenzen – offensichtlich wird nicht so gerne gelobt. Aber das ist doch insgesamt ein positives Ergebnis: das Zusammenleben in den Wohnanlagen ist aus der Sicht Keine statische der Bewohner gut, auch in der Zusammenschau der empirischen Ergeb- und immer eindeutige Bilanz nisse. Aber keine statische und immer eindeutige Bilanz. Vielleicht liegt gerade darin die Qualität der Wohnanlagen. Denn es ist das Vieldeutige, das Nicht-Statische, was die Qualität des Zusammenlebens in den Wohnanlagen ausmacht, und ebenso das permanente Spannungsfeld zwischen Geschlossenheit und Offenheit. Eine Anlage, in der stets die gleichen Meinungen vorherrschen, in der es keine Ärgernisse gibt, wo sich alle gleichen, nur eine Sprache gesprochen wird, wo man fremde Einflüsse abwehrt, wo alles bis ins Kleinste geregelt ist, man sich nichts mehr traut, in der Differenz unerwünscht ist – eine solch hundertprozentige Wohnanlage verlöre ihre soziale Qualität und ihre Integrationskraft. Es ist gerade die Ambivalenz der Bewohner selbst, ihr Schwanken, das Hin und Her, heute so und morgen anders, das „ja, schon, aber“, das Widersprüchliche im eigenen Meinungskontext, was Chancen für „gutes Zusammenleben“ eröffnet. Dass diese Ambivalenzen gelebt werden können, dafür die bauliche und organisatorische Struktur zu bieten, ist Aufgabe der Wohnungsunternehmen.
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Literaturhinweise
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Vielsagendes Signal: Die Gemeinschaftsanlage SMAT ermöglicht den Zugang zu weltweiter Kommunikation (Foto VOGUS)
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Lösungen für Nachbarschaftskonflikte W A L TER W E I L AND Mediative Elemente als Prävention und Mediation als Alternative
Mit dem Begriff „Wohnen“ untrennbar verbunden ist der Umstand, dass das Zusammenleben von Menschen mit Unterschieden in Werten, Bedürfnissen, Herkunft, Traditionen, Vorlieben, Alter und Geschlecht zu Konflikten führt, deren Bearbeitung neben dem sozialen Aspekt auch einen betriebswirtschaftlichen Kostenfaktor darstellt und deren rasche und unbürokratische Lösung möglichst unter Vermeidung wohnrecht licher Verfahren geboten ist. Zunehmend bemühen sich gemeinnützige Wohnbauträger um eine effiziente Behandlung dieser Materie – durch Mediation und Konfliktmanagement. Die Sozialbau, mit über 51.000 verwalteten Wohnungen der führende gemeinnützige Wohnbauträger Österreichs, hat diesem Umstand durch die Installierung einer Mediationsabteilung Rechnung getragen. Seit dem Jahre 2005 werden Nachbarschaftskonflikte, die mit den üblichen schriftlichen Aufforderungen durch die Hausverwaltung nicht beigelegt werden konnten, an die Mediationsabteilung weitergegeben. Bis Juli 2016 wurden 243 Mediationsfälle durch externe und firmeninterne Mediatoren bearbeitet und registriert. Ziel einer Master Thesis, die hier auszugsweise wiedergegeben wird, ist es, diese Mediationsfälle zu evaluieren, die Begleitumstände der Konflikte zu ermitteln und zu untersuchen, unter welchen Umständen Mediation zu einer tragfähigen Lösung bei Nachbarschaftskonflikten führt.
Unbürokratische Lösung ohne wohnrechtliche Verfahren
Auch Hilfe zur Selbsthilfe Die Wohnungsgemeinnützigkeit zählt zu den wichtigsten Säulen der österreichischen Wohnungswirtschaft. Neben der Versorgung mit zeitgemäßem und kostengünstigem Wohnraum nimmt die Gemeinnützigkeit eine wichtige soziale und gesellschaftspolitische Rolle in Österreich ein.1 Die Legaldefinition des § 1 (2) Wohnungsgemeinnützigkeitsge setzes (WGG) bezeichnet gemeinnützige Bauvereinigungen (GBV) als
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Unternehmen, die ihre Tätigkeit unmittelbar auf die Erfüllung dem Gemeinwohl dienender Aufgaben des Wohnungs- und Siedlungswesens richten, ihr Vermögen der Erfüllung solcher Aufgaben widmen und ihren Geschäftsbetrieb regelmäßig prüfen und überwachen lassen. Diese Grundsatzbestimmung enthält bereits nahezu alle leitenden Prinzipien der Wohnungsgemeinnützigkeit: den Gemeinwohlzweck, die Beschränkung des Tätigkeitsbereiches, die Gewinnausschüttungsbeschränkung und das Kostendeckungsprinzip sowie die obligatorische Aufsicht und Kontrolle. Der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft kommt sohin die Aufgabe zu, im öffentlichen Interesse eine gemeinwohlgebundene Aufgabe der Daseinsvorsorge durch privatrechtlich organisierte Unternehmen zu erfüllen.2 Die Stärkung der Gemeinschaft durch Identifikation, Integration und Vernetzung der Bewohner kann durch eine breite Palette von Instrumenten (Partizipation, „Gemeinschaft braucht Raum“, Haus betreuern etc.) gefördert werden. Eine ausgewogene Bewohnerstruktur (Belegungssteuerung) ist die Basis für eine funktionierende Gemeinschaft und Nachbarschaft. Die gesellschaftlichen Wirkungen umfassen die soziale, demographische und ethnische Durchmischung, ein gesundes Wohnumfeld sowie die Hebung des Wohnstandards und damit eine Erhöhung der Wohnzufriedenheit. In diesem Zusammenhang sieht auch der langjährige Verbandsdirektor der gemeinnützigen Bauvereinigungen, Theodor Österreicher, das konfliktfreie Zusammenleben der Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft als einen Teil des genossenschaftlichen Förderungsauftrags an.3
Konflikte in der Hausverwaltung Mitarbeiter in der Hausverwaltung sind in ihrer täglichen Arbeit mit einer Vielzahl von Beschwerden und Konflikten konfrontiert. „Eine Arbeitswoche ohne Bewohnerkonflikte – eine illusorische Vorstellung“ lautet der Titel eines Beitrages zur wohnwirtschaftlichen Tagung 2003 von Peter Wirth, Leiter der Hausverwaltung „Eigentum“ der Sozialbau, Die meisten sind und er führt weiter aus: „Konflikte gelten als Chancen, sicher! In der passiv-ungewollte Regel kosten sie uns aber Lebenszeit und unsere Kunden LebensqualiBetroffene tät, denn nur die wenigsten Menschen schöpfen aus Konflikten Lebenskraft – die meisten sind passiv-ungewollt Betroffene.“ 4 Auf der Tagesordnung stehen Nachbarschaftsstreitigkeiten, Lärm-, Schmutz- oder Geruchsbelästigungen, tägliches Beschwerdemanagement im Verwaltungsbereich, Gebrechen, technische Störungen sowie Meinungsdifferenzen bei den Betriebskosten- und Rücklagenabrech
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nungen. Forderungen von Preisreduktionen, Geltendmachung von Gewährleistungsmängeln bei Neubauten und Beanstandungen von nicht ordnungsgemäß durchgeführten Schadens- und Störungsbehebungen aber auch Instandhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten sind Themenbereiche, mit denen die Mitarbeiter der Hausverwaltung täglich betraut sind.5 Im Zuge seiner Berufsausbildung und Befähigungsprüfung ist der Immobilientreuhänder nicht nur mit fachlicher Kompetenz ausgestattet, sein Handeln erfordert auch soziale Kompetenz und ein selbst durch Erfahrungen angeeignetes Konflikt- und Beschwerdemanagement, um eine Kontroverse entsprechend austragen zu können. In einer österreichweiten Befragung aller Immobilientreuhänder wurde in einer Studie an der WU Wien betreffend Qualifikationsanforderungen an Mitarbeiter erhoben, dass die Verteilung bei 45 % fachlicher und bei 55 % sozialer Kompetenz liegt.6 Es gilt also, Konflikte als Chancen für eine positive Veränderung zu erkennen. Der Mediator Jürgen Sattmann relativiert diesen Satz in seinem Buch „Wie man aus Streithähnen Gewinner macht“ folgendermaßen: „Bei aller Wertschätzung und pädagogischen Wichtigkeit dieses Leitsatzes möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass Konflikte sehr oft auch zu unangenehmen und schmerzhaften Erfahrungen führen. Das Aufrechterhalten von funktionierenden sozialen Beziehungen zu unseren Geschäftspartnern, Mitarbeitern, Freunden, dem Lebenspartner und der Familie fordert daher einen konstruktiven Umgang mit Konflikten. Selbst konstruktive Menschen provozieren und lassen Konflikte zu. Konflikte sind ein wesentlicher und unverzichtbarer Beitrag zur positiven Entwicklung in einer sozialen Gesellschaft. Erst wenn ich bereit bin, für die durch einen Konflikt entstehenden Aufgaben oder Fragestellungen nach Lösungen bzw. Antworten zu suchen, kann es zu Erneuerungen führen. Durch neue Werte, Ideen und Konzepte entsteht Fortschritt und Entwicklung. Entscheidend ist aber immer der tatsächliche Umgang mit den Konflikten.“7
Verteilung von fachlicher und sozialer Kompetenz
Veränderungen in der Konfliktkultur Die Veränderung der Konfliktkultur im Immobilientreuhandberuf hat dazu beigetragen, dass sich die Konflikte vermehrt haben, weil unter Zeitdruck immer mehr in kürzerer Zeit, ohne Zeitpolster, gefordert wird und damit verbunden eine schnellere Reaktion zur Verbesserung der Kundenzufriedenheit zu erfolgen hat und auch mehr geboten werden muss. Durch den Zeitdruck, der dadurch entsteht, dass immer schneller
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eine Reaktion verlangt wird, manifestiert sich der Eindruck, dass Kunden bestimmender und fordernder geworden sind. Die Beschwerden erfolgen telefonisch, persönlich und schriftlich, wobei sich vor allem durch das Medium E-Mail (unter dem gängigen Begriff „Mailflut“) viel verändert hat.8
Präventive Maßnahmen Die Sozialbau lädt bei neu errichteten Wohnanlagen bereits im Vorfeld, ca. zwei Wochen vor Bezug, zu einem sogenannten „Kennenlerntreffen“ ein und ermöglicht einen Baustellenbesuch – genannt „Tag der offenen Tür“ – zur Besichtigung der Wohnung. Die Idee hierfür wurde bei der Errichtung der Wohnanlage „Inter-ethnische Nachbarschaft“, die im Jahr 2000 bezogen wurde, geboren und aufgrund der guten Erfahrungen seitdem in allen folgenden Neubauprojekten durchgeführt. In der als Buch erschienenen Evaluierung des erwähnten Projektes berichten befragte Mieter, dass der Baustellenbesuch zum Kennenlernen des Projekts und der Nachbarn enorm wichtig war. Einige sagen: „Diese Veranstaltung war der Beginn für den heutigen Zusammenhalt im Haus“. Ein guter Start Der gute Start wird von den Bewohnern nachhaltig honoriert. Durch das wird nachhaltig Kennenlerntreffen konnte die Sozialbau mit geringem Aufwand einen honoriert großen Erfolg bei den Bewohnern verbuchen.9 Bei Bezug und Übergabe einer neuen Wohnanlage sind zukünftige Bewohner mit einer Fülle von neuen emotionalen Situationen konfrontiert. Nicht nur, dass der Wechsel in eine neue Wohnung als Zentrum der persönlichen Lebensinteressen zu einer maßgeblichen Veränderung des unmittelbaren Umfeldes führt, sind auch der Umzug, behördliche Änderungen, geänderte Infrastrukturen etc. zu berücksichtigen. Ein Kennenlerntreffen, bei dem sich die Vertreter der Hausverwaltung, die Hausbetreuer, die Reinigungsfirma sowie Vertreter des Magistratischen Bezirksamtes vorstellen und wichtige Informationen über die neue Wohnanlage geben, soll dazu dienen, dass sich die Mieter „gut und aufmerksam“ betreut fühlen. Es führt nicht zuletzt dazu, dass sich die neuen Nachbarn kennenlernen, um so mit etwaigen zukünftigen Konflikten besser umgehen zu können. Es liegt auf der Hand, dass Menschen, die sich in gemütlicher Atmosphäre kennengelernt haben, bei späteren Ruhestörungen oder anderen Nachbarschaftsstreitigkeiten eher in einer persönlichen Aussprache eine Lösung finden, als wenn der Nachbar nur in Form eines anonymen Namensschildes an der Wohnungseingangstüre existiert. Bei diesen Kennenlerntreffen ist bereits auch die Kommunikationsfähigkeit der Hausverwalter in einer Gruppe gefragt, wenn es darum geht, z. B. in einem Sesselkreis mit den zukünftigen Bewohnern eine Vorstellungsrunde zu moderieren. Dabei ist das
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Ziel, möglichst alle „mit ins Boot“ zu holen und sie dazu zu animieren, über Kinder, Haustiere, Hobbys zu reden und dadurch die Angst vor dem „Fremden“ zu nehmen. Dies spielt nicht nur, aber insbesondere, bei Bewohnern mit Migrationshintergrund eine wichtige Rolle.
Das Bewohnerfest Bewohnerfeste finden in den Sommermonaten in vielen Wohnhaus anlagen der Sozialbau über Einladung der Hausverwaltung statt. Mit Musik, Spielveranstaltungen für Kinder und Erwachsene sowie Snacks und Getränken soll eine positive Stimmung in der Hausgemeinschaft erreicht und die Kommunikation unter den Bewohnern unterstützt werden. Ziel ist, die Hausgemeinschaft eigenständig zu weiteren Festen und Aktivitäten zu motivieren. Gespräche und Diskussionen mit Vertretern der Hausverwaltung und des Vorstandes in „privater“ Atmosphäre sollen die Empathie füreinander fördern und kommunikative Grenzen überwinden.
Der „Team-Kick-Cup“ Team-Kick ist ein Ballspiel, das von den Regeln her an das „TippKick“-Tischspiel aus den 1960er Jahren erinnert. Die Besonderheit ist, dass der Schwerpunkt nicht auf körperliche Leistungsfähigkeit oder Geschicklichkeit der Mitspielenden gelegt wird, sondern es soll vor allem spielerisch die Kommunikation unter den Bewohnern gefördert werden. Unterstützt wird dies durch ein Animationsteam im Rahmen der Bewohnerfeste. Letztlich sei auch erwähnt, dass im Rahmen einer großen Abschlussveranstaltung im Herbst der Kontakt mit Bewohnern aus ganz Wien ermöglicht und dadurch ein weiterer Beitrag zur wohnhausübergreifenden Kommunikation geleistet wird.
Vor allem spielerische Kommunikation unter Bewohnern
Die Betriebskosten-Hotline Als deeskalierendes und damit mediatives Element ist auch die sogenannte „Betriebskosten-Hotline“ zu sehen, die von der Sozialbau alljährlich angeboten wird. Die Betriebskostenabrechnung ist bei der Tätigkeit einer Hausverwaltung generell ein sehr sensibler Bereich. Die Betriebskosten sind im § 21 ff. des MRG taxativ aufgezählt und werden jährlich abgerechnet. Dabei entstehende Guthaben oder Nachzahlungen sind unmittelbar mit den Mietern abzurechnen. Aufgrund des Ergebnisses aus der Abrechnung wird in weiterer Folge eine Anpassung der monatlichen Betriebskostenakonti vorgenommen, was oft eine Erhöhung der Wohnkosten nach sich zieht. Diese
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unerfreuliche Tatsache führt dazu, dass Mieter die Richtigkeit der Abrechnung hinterfragen und bei den Schlichtungsstellen entsprechende Überprüfungsanträge auf Richtigkeit der Abrechnung stellen können. Unmittelbar nach der Zusendung der Abrechnung an die Mieter wird eine Woche lang die Gelegenheit gegeben, gewünschte Informationen zu erhalten und mit kompetenten Mitarbeitern der Hausverwaltung aufklärende Gespräche bei Verständnisproblemen zu führen. Hunderte Bewohner der Sozialbau-Gruppe nutzen alljährlich das Angebot der „Betriebskosten-Hotline“. Vielfach kann dadurch ein aufwendiges Verfahren vor der Schlichtungsstelle vermieden werden.
Sachlichkeit der Argumente bleibt mitunter auf der Strecke
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Hausversammlung – kommunikative Herausforderung Eine Hausversammlung bietet für die Mitarbeiter der Hausverwaltung die Gelegenheit, sich und ihre Tätigkeit positiv zu präsentieren und Mietern und Wohnungseigentümern notwendige Informationen zu geben. Allerdings sind die gruppendynamischen Effekte, die dabei entstehen können, nicht zu unterschätzen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Hausversammlungen auch zum Aufzeigen von Mängeln und Versäumnissen jeglicher Art – auch jener der Hausverwaltung – genutzt werden. Allerdings kommt es auch vor, dass Bewohner die Möglichkeit des Auditoriums nutzen, um sich vor Nachbarn und Mitbewohnern als Sprachrohr zu profilieren. Die Sachlichkeit der Argumente bleibt mitunter auf der Strecke und lässt Raum für emotionale Ausbrüche. Es bedarf einiges an kommunikativer Geschicklichkeit, mit diesen Konfliktsituationen umzugehen und verständnisvoll das jeweilige Thema wieder auf die Sachebene zurückzuführen. Unter dem Titel „Gruppenprozesse“ führt dazu der Psychologe Rainer Maderthaner aus: „Die Anwesenheit anderer (z. B. Kollegen, Zuschauer, Publikum) beeinflusst oft erheblich die kognitiven, emotionalen und aktionalen Prozesse des Individuums. Sehr häufig entsteht durch die Vermutung, von anderen beobachtet und bewertet zu werden, eine soziale Aktivierung, die sich unabhängig von den situativen Bedingungen sowohl negativ (z. B. als Lampenfieber) als auch positiv (z. B. als Motivationssteigerung) auf das Verhalten des Einzelnen auswirken kann (Matlin & Zajonc, 1968). In einer Metaanalyse von über 200 Studien zu diesem Thema stellten Bond und Titus (1983) fest, dass eine sozial bedingte (psychologische) Aktivierung dann zu Leistungseinschränkungen führen kann, wenn die Aufgaben komplex sind (z. B. bei musikalischen Darbietungen), während bei einfachen Aufgaben (z. B. bei sportlichen Anstrengungen) eine bessere bzw. schnellere Ausführung gelingt.“10 Aus den vorgenannten Gründen ist es wichtig, bei Meinungsverschiedenheiten mit den Teilnehmern von Hausversammlungen, aber
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auch bei diversen persönlichen Kundenkontakten, die kommunikativen Fähigkeiten der Hausverwalter für einen aufmerksamen Umgang mit dem Gegenüber zu trainieren. In diesem Zusammenhang ist das „Abholen“ der jeweiligen Gesprächspartner von großer Bedeutung.
Die Sprengel- und Generalversammlung Sprengel- und Generalversammlungen finden nur bei gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften statt, nicht bei gemeinnützigen Kapital gesellschaften. In den jeweiligen Statuten ist festgelegt, dass die Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrates im Rahmen der Generalversammlung gewählt werden. Ebenso wird über die Genehmigung des Jahresabschlusses, eine Beschlussfassung über die Gewinnver teilung, Verwendung der Rücklage sowie die Entlastung des Vorstandes und des Aufsichtsrates abgestimmt. Jene Genossenschaftsmitglieder, die zur Generalversammlung als Delegierte entsendet sind, werden in den Sprengelversammlungen, zu denen alle Mitglieder geladen werden, gewählt. Dabei ist zu beachten, dass bei den Veranstaltungen unter dem Tagesordnungspunkt „Allfälliges“ bei den Sprengelversammlungen auch Angelegenheiten aus den jeweiligen Wohnanlagen zur Sprache kommen und vom Obmann der Genossenschaft, aber auch von den anderen Genossenschaftsmitgliedern, kommentiert und reflektiert werden.
Angelegenheiten aus der jeweiligen Wohnhausanlage zur Sprache bringen
Begriffserklärung zu Mediation Die Mediation (lat. Mediare = vermitteln) ist ein strukturierter Prozess der außergerichtlichen, alternativen Konfliktregelung. Er findet in vielen gesellschaftlichen Lebensbereichen bei privaten und öffentlichen Konflikten Anwendung. Das Ziel ist ein zwischen den Konfliktparteien zustande gekommener und für Zukünftiges vereinbarter Konsens auf der Basis von gegenseitiger Achtung und einem fairen Ausgleich der mitunter gegensätzlichen Interessen. Mediation stellt somit eine Alternative zu Kampf, Sieg/Niederlage, Verletzung, Schuldzuweisung, Opfer werden/ bleiben und Beziehungsabbruch dar. Die Mediatoren unterstützen die Streitparteien beim Entwickeln von eigenverantwortlichen Lösungen. Die inhaltliche Verantwortung für die Konfliktlösung bleibt bei den Streitparteien, während der Mediator die Verantwortung für den Prozess und die Prozessgestaltung der Konfliktbearbeitung übernimmt („Hüter/Bühnenschaffer des Verfahrens“).11 Menschen suchen in der Mediation Hilfe, weil sie ihre Konflikte mit anderen – mit ihren Partnern, Kindern, Eltern, Nachbarn, Firmen,
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Darauf achten, dass Emotionen nicht außer Kontrolle geraten
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Organisationen usw. – nicht ohne einen Beistand durch Dritte lösen können. Sie haben oft schon eine längere Konfliktgeschichte mit Missverständnissen und Auseinandersetzungen hinter sich, in der sie sich meistens vergeblich um eine Lösung bemüht haben.12 Mediatoren achten während der Mediation darauf, dass Emotionen oder auch Kränkungen nicht außer Kontrolle geraten und der gegenseitige Respekt aufrecht erhalten bleibt. Sie unterstützen die Medianden dabei, sich über ihre Gefühle und Interessen klar zu werden und richten den Blick auf die Zukunft, ohne die Vergangenheit außer Acht zu lassen. Sie tragen dazu bei, dass die Konfliktparteien zu einer für alle akzeptablen Lösung finden und eine Win-win-Situation erreicht wird, die nachhaltig den aufgetretenen Konflikt bereinigt. Die gesetzlich geregelte Verpflichtung zur Verschwiegenheit und Vertraulichkeit ist ein wesentlicher Punkt, der in der Beziehung zwischen den Medianden und den Mediatoren jenes Vertrauen ermöglicht, das als eins der Grundvoraussetzungen für das Gelingen eines Mediationsverfahrens gilt.
Mediation in der Sozialbau Mediation wird in der Hausverwaltung der Sozialbau seit 2005 zur Bearbeitung von Bewohnerkonflikten genutzt. War es zu Beginn nur ein Mitarbeiter, der die entsprechende Ausbildung abschloss und Mediationen durchführte, wurden im Laufe des Jahres 2009 drei weitere und bis 2015 insgesamt 8 Mediatoren freiberuflich beschäftigt. Für interkulturelle Mediationen sind auch ein afghanischer Mediator und eine türkischstämmige Mediatorin erfolgreich tätig. Ein Antrag für eine Mediation kann vom jeweiligen Hausverwalter einer Wohnhausanlage gestellt werden, wenn ein Konflikt unter Bewohnern trotz der Versendung von Standard-Ermahnungsschreiben an die betreffenden Mieter bzw. auch eine persönliche Intervention keinen Erfolg im Sinne einer Streitschlichtung bringt. Dabei ist zu beachten, dass es Ausschließungsgründe für ein Mediationsver fahren gibt, wie beispielsweise eine krankheits- oder psychologisch bedingte Beeinträchtigung einer der Konfliktparteien. Es besteht jedoch grundsätzlich die Gefahr der Eskalation von Nachbarschaftskonflikten durch Nichtbeachtung oder Geringschätzung. Wie der Konfliktforscher Friedrich Glasl in seinem Buch „Konfliktmanagement“ ausführt, wird ab der Stufe 4 seines „Phasenmodells der Eskalation“ nach Verbündeten gesucht, um das eigene Selbstbild zu bestätigen.13 Dies kann dazu führen, dass sich ein Nachbarschaftskonflikt, an dem ursprünglich zwei Personen oder Familien beteiligt waren, in der Folge auf eine ganze Stiege oder auch örtlich darüber hinaus ausweitet.
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Forschungsarbeit – grundsätzliche Erklärungen und Fragestellung Der Autor der hier im Exzerpt wiedergegebenen Studie ist in der Hausverwaltung der Sozialbau als Abteilungsleiter und Mediator tätig. Den Entschluss, diese Forschungsarbeit durchzuführen, reifte im Zuge der Mediations-Ausbildung durch die Wahrnehmung des Umstandes, dass die Anzahl der Mediationsfälle zwar alljährlich ermittelt und die aufgewendeten Kosten an den Vorstand berichtet wurden, aber darüber hinaus keinerlei Erfassung des möglichen Datenmaterials erfolgte. Das Ziel dieser empirischen Untersuchung ist es, die Mediationsfälle der Mediationsabteilung der Sozialbau zu evaluieren und die Umstände, die zu einer erfolgreichen Mediation geführt haben, zu untersuchen. Konflikte zwischen autochthonen Österreichern und Zuwanderern stehen seit Jahrzehnten im Fokus gesellschaftlicher und politischer Diskussionen und sind ein wichtiges Themenfeld. Dementsprechend wurde gesondertes Augenmerk darauf gelegt, Auseinandersetzungen zu untersuchen, an denen Bewohner ohne österreichische Staatsbürgerschaft beteiligt waren und zu erforschen, ob und inwieweit die diesbezüglich vielfach geäußerten Vorurteile gegenüber Zuwanderern zu Recht bestehen oder nicht. Ebenso wurden die Konflikte im 10. Wiener Gemeindebezirk vertiefend untersucht, nachdem in diesem Bezirk die höchste Anzahl an Mediationsfällen registriert wurde. Unterschieden wurde zwischen Konflikt- oder Mediationsfällen und tatsächlich durchgeführten Mediationen. Die registrierten Mediationsfälle wurden zwar alle zur Mediation weitergegeben, doch aus verschiedenen Gründen wurde nicht in allen Fällen eine Mediation durchgeführt. Für die Forschung wurden der Schriftverkehr der Hausverwaltung sowie die Schlussberichte der Mediatoren, inwieweit ein Fall positiv abgeschlossen werden konnte, gesichtet, kategorisiert, die entsprechenden notwendigen Daten aus der EDV erhoben und in eine Excel-Tabelle eingetragen. Die Auswertung wurde großteils mit Pivot-Tabellen durchgeführt.
Nicht in allen Fällen wurde eine Mediation durchgeführt
Ergebnisse der durchgeführten Mediationen Die Untersuchung der 243 Mediationsfälle im Zeitraum von Jänner 2005 bis Juli 2016 ergab, dass in 132 Konflikten eine Einigung mit den Medianden erzielt werden konnte und somit ein positives Resümee gezogen werden kann. In 25 % der Konfliktfälle kam keine Mediation zustande. Die Erfolgsquote von 73 % bei den durchgeführten Mediationen lässt auf die Sinnhaftigkeit der Methode, aber auch auf die professionelle Arbeit der Mediatoren schließen. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass in 132 Fällen eine Einigung erzielt werden konnte, in 50 Fällen war es nicht möglich.
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Positiv beendete Mediationen 27 % positives Ergebnis
73 %
negatives Ergebnis
weiblich
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20 % 10 %
28,34 %
22,67 %
14,98 %
30 %
16,19 %
40 %
10,93 %
männlich
50 %
6,88 %
Konfliktparteien nach Geschlecht und Alter gegliedert
Mediationsfälle in Prozent
q Frauen oder Männer In allen Alterskategorien konnten mehr Frauen registriert werden, wobei die Frauen über 50 Jahren mit 28,34 % den höchsten Anteil hatten, gefolgt von den Frauen zwischen 30 und 50 Jahren mit 22,67 %. Die Beteiligung von Männern war in der Gruppe zwischen 30 und 50 Jahren mit 16,19 % am höchsten. Die geringste Beteiligung gab es in der Kategorie „unter 30“ mit 10,93 % bei den Frauen und 6,88 % bei den Männern.
0 %
Jahre: unter 30
30–50
über 50
q Konflikte mit Zuwanderern Bei der vorliegenden Untersuchung war aufgrund der vorhandenen Daten in der EDV lediglich die Unterscheidung zwischen Menschen mit oder ohne österreichische Staatsbürgerschaft möglich. Ein etwaiger Migrationshintergrund (gem. der österreichischen Definition der „Recommendations for the 2010s“) konnte nicht berücksichtigt werden.14 Der Anteil von 26 % von Medianden ohne österreichische Staatsbürgerschaft ist relativ gering angesichts einer Quote von ca. 50 % von Menschen mit Migrationshintergrund in den jüngeren Wohnhausanlagen ab dem Baujahr 2000.
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Medianden mit / ohne österreichischer Staatsbürgerschaft Nicht alle Medianden besitzen eine österreichische Staatsbürgerschaft.
26 % 74 %
Alle Medianden besitzen eine österreichische Staatsbürgerschaft.
q Altersunterschiede der Medianden Es zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit von 46 % der Media tionen mit Bewohnern stattfindet, deren Altersunterschied nicht grö ßer als 10 Jahre ist. Es ist davon auszugehen, dass bei Bezug einer neuen Wohnanlage ein großer Teil der Menschen in ungefähr gleichem Alter ist.
q Neu Zugezogene und Altmieter Der Zuzug von neuen Mietern in seit längerem bestehende Wohnanlagen bietet häufig einen Grund für Konflikte. Die oft über Jahre hindurch zwischen Nachbarn gewachsenen Gewohnheiten und ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens werden durch „neue Mieter“ weder gekannt noch verstanden. Dazu kommt vielfach auch das Problem der mangelnden Kontaktaufnahme zwischen den „Neuen“ und den „Alten“. Die Untersuchung zeigt, dass 78 % der Nachbarschaftskonflikte zwischen „Altmietern“ und neu zugezogenen Mietern auftreten. Im Vergleich dazu entstehen Konflikte unter „Altmietern“ nur zu einem Anteil von 22 %.
q Ältere oder neuere Wohnhausanlagen Die Frage, ob in neueren oder älteren Wohnhausanlagen mehr Konflikte stattfinden, lässt sich eindeutig beantworten: In älteren Häusern mit einem Baujahr vor 1972 kam es zu 103 Konfliktfällen, und damit wesentlich öfter als in Wohnhausanlagen mit einem Baujahr von 1973 bis 1992 mit 55 Konflikten. Erst in Anlagen ab dem Baujahr 1993 kommt es wieder zu einem Anstieg auf 85 Mediationsfälle.
q Typische Arbeiterbezirke versus bürgerliche Bezirke Die bemerkenswerte Antwort auf diese Forschungsfrage lautet: In Relation zu den verwalteten Wohnungen fanden die meisten Konflikte in Wiens „Nobelbezirk“ Hietzing, also im 13. Bezirk, ex aequo mit dem
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23. Bezirk, gefolgt vom 12. Bezirk statt. In absoluten Zahlen erreichte allerdings der 10. Bezirk, Favoriten, mit 66 Konflikten den Höchstwert, wobei in diesem Bezirk auch 10.227 Wohnungen verwaltet werden – im Vergleich zu Hietzing mit 2019 Wohneinheiten rund das Fünffache. Im ebenfalls bürgerlichen Bezirk Döbling wurden im gleichen Zeitraum – ebenso wie in Favoriten – 0,9 % Konfliktfälle/Wohneinheiten registriert.
Anteil von Konflikten mit Zuwanderern im 10. Bezirk
29 %
Nicht alle Medianden besitzen eine österreichische Staatsbürgerschaft.
71 %
Alle Medianden besitzen eine österreichische Staatsbürgerschaft.
q Verhältnis zu den Wohneinheiten pro Bezirk in Wien Favoriten ist der bevölkerungsreichste Bezirk Wiens (194.746 Bewohner) und zählt auch zu den fünf Bezirken Wiens mit dem höchsten Anteil an Bewohnern ausländischer Herkunft.15 Dementsprechend war die Forschungsfrage, ob sich der Anteil an Medianden ohne österreichische Staatsbürgerschaft höher als in anderen Bezirken darstellt. Es zeigt sich, dass dieser Anteil der Konflikte im Vergleich zur Gesamtanzahl in Wien lediglich um 3 % höher lag. In den neueren Wohnhausanlagen mit einem Baujahr von 2004 bis 2015 entstanden mit 44 % deutlich mehr Konflikte mit einer Beteiligung von Zuwanderern als in Wohnanlagen die zwischen 1953 und 2004 errichtet wurden – in diesen wurden 23 % Konfliktfälle mit einer Beteiligung von Zuwanderern registriert.
Konflikte in älteren und neueren Wohnhausanlagen mit Zuwanderern
100 % 90 % 80 %
194
40 % 30 % 10 % 0 %
56 %
20 %
44 %
Alle Medianden besitzen eine österreichische Staatsbürgerschaft.
50 %
77 %
Nicht alle Medianden besitzen eine österreichische Staatsbürgerschaft.
60 %
23 %
Mediationen in Prozent
70 %
Wohnhausanlagen aus den Jahren: 1953–2003 2004–2013
Weiland / Lösungen für Nachbarschaftskonflikte
q Beteiligung mit/ohne österreichischer Staatsbürgerschaft Das Forschungsergebnis zeigt, dass bei Mediationen, bei denen Medianden ohne österreichische Staatsbürgerschaft beteiligt waren, im Durchschnitt mehr positive Ergebnisse (75 %) erzielt werden konnten als bei Mediationen mit Beteiligten mit ausschließlich österreichischer Staatsbürgerschaft (72 %). Bei Konfliktfällen mit Zuwanderern wurde das Angebot, eine Mediation durchzuführen, häufiger angenommen als von Konfliktparteien, die ausschließlich die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Auch im Ergebnis hinsichtlich der positiv verlaufenen Mediationen kamen Mediationen mit Beteiligung von Bewohnern ohne österreichische Staatsbürgerschaft mit 61 % positiver Ergebnisse zu besseren Werten als jene mit ausschließlich österreichischer Beteiligung (53 %).
80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 %
0 %
Alle Medianden besitzen eine österreichi- sche Staatsbürgerschaft:
Nein
35
10 %
94
20 %
13
negatives Ergebnis
90 %
39
positives Ergebnis
100 %
Durchgeführte Mediationen
Ergebnis bei durchgeführten Mediationen mit Zuwanderern
Ja
Zusammenfassung und Ausblick Mediative Elemente wie Transparenz oder kommunikationsfördernde Maßnahmen in der Hausverwaltung gemeinnütziger Wohnbauunternehmen ermöglichen durch Konfliktprävention eine Verbesserung der Bewohnerzufriedenheit und damit eine Erhöhung der Wohnqualität. Bewohnerkonflikte können nicht verhindert, aber durch Mediation kann die Gefahr einer Eskalation eingedämmt werden. Mediation ermöglicht, in einem relevanten Ausmaß Lösungen zu finden und damit die Wohnqualität der Bewohner zu steigern. Die Studie hat gezeigt, dass Bewohner ohne österreichische Staats bürgerschaft im Falle eines Konfliktes eher die Möglichkeit zur Streitbeilegung durch Mediation wahrnehmen als autochthone Bewohner, letztendlich konnte auch eine höhere Anzahl an positiven Ergebnissen registriert werden.
Weiland / Lösungen für Nachbarschaftskonflikte
Durch Mediation Gefahr von Eskalation eingedämmt
195
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Mediative Elemente in der Hausverwaltung verbessern die Kommunikation zwischen den handelnden Personen und können bereits im Vorfeld bei der Vermeidung von Konflikten und Missverständnissen beitragen. Mediation hilft, die negativen Auswirkungen von Konflikten in Grenzen zu halten und die positiven Seiten – nämlich eine Weiter entwicklung durch Auseinandersetzungen – zu erreichen.
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Anmerkungen und Literatur
1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15)
vgl. Czerny, 2012, S. 41 Ludl, 1998, S. 349, zit. Raschauer 1994, S. 315 vgl. Österreicher, 2003, S. 127 vgl. Wirth, 2003, S. 15 vgl. Krenauer, 2013, S. 454–455 Krenauer, 2013, S. 453–454 vgl. Sattmann/Kothbauer, 2004, S. 29 Krenauer, 2013, S. 455–456 vgl. Ludl, 2003, S. 99 Maderthaner, 2008, S. 363–364 vgl. Mehta, 2008, S. 229–230 vgl. Bastine, 2014, S. 12 vgl. Glasl, 2011, S. 256–262 Zukunft Europa – Bundeskanzleramt Österreich, 2013–2016 Magistrat der Stadt Wien, 2016
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Maderthaner, Rainer (2008). Psychologie. Wien, Facultas Verlags- und Buchhandels AG zit. Matlin, M. W. & Zajonc, R. B. (1968). Social facilitation of word associations. Journal of personality and Social Psychology, 10 (4), S. 455–460. Maderthaner, Rainer (2008). Psychologie. Wien, Facultas Verlags- und Buch handels AG zit. Bond, C. F. J. & Titus, L. J. (1983). Social Facilitation: A Meta-Analysis of 241 Studies. Psychological Bulletin, 94 (2), S. 265–292. Mehta, Gerda (2008). Eine Einführung in die Methode der Mediation. In: Mehta Gerda/Rückert Klaus (Hrsg.). Mediation – Instrument der Konflikt regelung und Dienstleistung. (S. 229–236). Wien, Falter Verlags gesellschaft m.b.H. Österreicher, Theodor (2003). Rechtsgrundlagen im Wohnrecht. In: 14. Wohnwirtschaftliche Tagung 2003 – Bewohnerkonflikte. (S. 121–127). Wien, Österreichischer Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen – Landesgruppe Wien Sattmann, Jürgen, Hrsg., Kothbauer, Christoph (2004). Wie man aus Streit hähnen Gewinner macht. Immobilien- und Baumediation für Praktiker. Wien, Eigenverlag der Akademie der Immobilienmediatoren wien.at, Magistrat der Stadt Wien (2016). Wirth, Peter (2003). Eine Arbeitswoche ohne Bewohnerkonflikte – eine illusorische Vorstellung. In: 14. Wohnwirtschaftliche Tagung 2003 – Bewohnerkonflikte. (S. 15–21). Wien, Österreichischer Verband gemein nütziger Bauvereinigungen – Landesgruppe Wien
Weiland / Lösungen für Nachbarschaftskonflikte
Nachbarschaftliches Kennenlernen als Prävention: Szenen des sommerlichen Straßenfestes und des „Team-Kicks“ der Sozialbau (Fotos HRK, VOGUS)
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Schlüsselthema Rahmenbedingungen J OACH I M B RECH / HE I DRUN FE I GE L FE L D Schlussbetrachtungen und Perspektiven
Die Buchbeiträge und im Besonderen die Studie in neueren Wohnanlagen der Sozialbau sind eine Bestandsaufnahme: Lässt sich von einem „guten Zusammenleben“ der Bewohner unterschiedlicher Herkunft sprechen? Das Ergebnis von schriftlichen Befragungen, Interviews und Begehungen ist im Querschnitt durchwegs positiv, zugleich zeigt es viele Differenzierungen hinsichtlich Personengruppen sowie Lage, Alter und Größe der Wohnanlagen, und auch kritische Punkte. Auf der Grundlage dieser Bestandsaufnahme lassen sich einige Hinweise für die Verwaltung bestehender und die Planung neuer Wohnanlagen geben. Im Bestand geht es um Moderation, Mediation und das Ermöglichen von Eigeninitiative auf der Grundlage einer kontinuierlichen Beobachtung des Lebens in den Wohnanlagen; bei der Planung von neuen um die Vermeidung von architektonischen Elementen und Raumbildungen, die erfahrungsgemäß zu Konflikten führen. Das Schlüsselthema sind also Rahmenbedingungen. Diese kann ein Wohnungsunternehmen schaffen, alles Weitere liegt in den Händen einer mündigen, aktiven Bewohnerschaft, egal welcher Herkunft. Im Folgenden eine abschließende Punktation.
q Zu bestehenden Anlagen
Moderation Hausbetreuer und Hausverwalter sind in mehrfachem Sinn Vermittler. Ein kontinuierlicher moderierter Austausch der in den einzelnen Wohnanlagen gemachten Erfahrungen kann Hilfestellungen zur Bewältigung bieten. Die heute allseits in Gang befindlichen Bemühungen zu „mehr Diversität in öffentlicher und nicht öffentlicher Dienstleistung“ können mehr Personen unterschiedlicher Herkunft in Hausbetreuung und
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-verwaltung bringen. Hausbetreuer, die selbst eine Migrationsgeschichte haben, könnten die Brücke zu anderen Zuwanderern und auch zu den Einheimischen bauen. Die Beliebtheit der Umgebung der Wohnanlagen ist hoch, es sind jedoch vereinzelt Problemlagen zu erkennen. Auch seitens der Wohnungsunternehmen sollte die Verbindung von „Alt und Neu“ bei großräumigen innerstädtischen Entwicklungsgebieten jüngerer Zeit als Aufgabe mit übernommen werden, in Zusammenarbeit mit den vor Ort tätigen städtischen Institutionen.
Mediation Aus den Erkenntnissen über Konflikte und Konfliktlösungen leitet sich ein eindeutiges Votum zum verstärkten Ausbau von Mediation ab. Nicht erst und nur, wenn sich ein Anlass für Einschreiten ergibt, sollte Mediation eingesetzt werden, sondern auch dort, wo potenzielle oder latente Konflikte schwelen. An die Bedürfnisse von Bewohnern in speziellen, unter Umständen schwierig zu bewältigenden Lebensphasen – wie es bei Alleinerziehenden oder Betagten häufig der Fall ist – sollte aktiv herangegangen werden.
Eigenorganisation und Austausch
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Lokale Selbstorganisationsebenen, Formen des Austauschs unter der Bewohnerschaft, können und sollen von Wohnungsverwaltern nicht „top-down“ eingerichtet werden, sie können jedoch durch „Ermöglichung“ – das heißt Bereitstellung von Strukturen wie Zugängen zu digitalen Informationsmedien oder Räumen für Begegnung – und durch Anregung zu Eigeninitiative gefördert werden. Der erwünschte Dialog zwischen dem Unternehmen und den Bewohnern könnte durch dezentrale Informationssysteme noch verbessert werden (z. B. mittels breiterer Nutzung der digitalen Informationsschirme in den Häusern, durch Apps, auch durch mehr Vor-Ort-Treffen). Für die gewünschte stärkere Mitbestimmung wären kreative Angebote für Teilhabe, für Mietervertretung oder andere Formen zu entwickeln. Die sichtbar gewordenen Potenziale länger hier lebender, integrierter Bewohner für die inter-ethnische Verständigung sollten „gehoben“ werden. Sie könnten die Notwendigkeit eines allseitigen „Gebens und Nehmens“ gut vermitteln.
Brech, Feigelfeld / Schlüsselthema Rahmenbedingungen
Orte für Gemeinschaft Werden Gemeinschaftsräume über einen längeren Zeitraum kaum genutzt, wäre die Meinung kurzschlüssig, man könnte auf sie verzichten. Das Gegenteil ist der Fall: Gemeinschaftsräume vom „Standard Sozialbau“ sind für die Bewohner wichtig, selbst wenn diese sie nicht oder selten nutzen. Sie sind – räumlich gesehen – Teil eines Entrees, mithilfe dessen gezeigt wird, dass „Wohnen“ mehr ist als die isolierte Wohnung, eben auch Leben in einer Hausgemeinschaft.
Monitoring und Evaluation Im Sinne einer Prophylaxe wäre es hilfreich, ohnedies stattfindende Dokumentationsarbeit zu den Anlagen auf Hausverwaltungs- und Vergabe-Ebene in ein strukturiertes Monitoring-System überzuführen. Eine Ausweitung auf einen Indikatoren-Mix und eine Sicht im Querschnitt nach Anlagentypen bieten sich als Früherkennungssystem für Entwicklungen und potenzielle Problemfelder an. Fokussierte Evaluationen können dann der periodischen Überprüfung des Zielkonzepts des Wohnungsunternehmens dienen. Schon jetzt zeigt sich in der Studie bei bestimmten Anlagentypen (nach Größe oder Alter) oder einzelnen Anlagen eine Kumulation negativer Aussagen, der genauer nachgespürt werden sollte.
q Bei Neuprojekten
Gute Gebäudeplanung Manche Kritikpunkte, die zur Sprache gekommen sind – beispielsweise Störungen durch Lärm oder mangelnde Sauberkeit – werden ursächlich recht schnell einzelnen Bewohnergruppen zugeschrieben, Kindern ganz pauschal, Zuwandererkindern im Besonderen und natürlich Jugend lichen. Betrachtet man einzelne Wohnanlagen genauer, lässt sich mitunter feststellen: Die zum Konflikt führende Störung ist aufgrund der Gebäudeplanung kaum zu vermeiden, will man nicht restriktive Vorgaben für die Benutzung machen, möglicherweise sogar Sanktionen androhen. Bei Begehungen konnten zahlreiche potenzielle Konfliktherde aufgrund nicht gut durchdachter Planung identifiziert werden – seien es ungenügende Lärmabschirmung oder Hallräume, wenig
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robuste Materialien, Rest-Nischen, unvereinbare Nutzungen Tür an Tür. Kurz: Überprüfung der Planung anhand einer Checkliste für „soziale Nachhaltigkeit.“
Qualität von Lage und Umgebung Um die hohe Zufriedenheit mit dem „Grätzel“, wie sie sich in der Befragung gezeigt hat, auch für künftige größere Wohnanlagen zu bewahren und die Bewohnerschaft der Wohnumgebung an positiven Entwicklungen teilhaben zu lassen, sollen sich die Gemeinnützigen frühzeitig in Stadtteilgestaltung einbringen. Wohnungsneubau, auch durch gemeinnützige Unternehmen, soll weiterhin aufgrund des hohen Bedarfs in innerstädtischen Gebieten stattfinden, nicht nur an den Rändern der Stadt. „Weiterbauen“ bedeutet Verdichtung, das ist der politische Auftrag. Dies schließt auch ethnisch geprägte Gebiete ein. Die Sozialbau und ähnliche Bauträger können hier auf Basis ihrer Erfahrung mit interethnischem Wohnen eine Schlüsselrolle einnehmen.
Der Anspruch der Integration
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Der Anspruch der Integration kann nur erfüllt werden, wenn die Entwicklung des „Mischungsverhältnisses“ von Einheimischen und Zuwanderern in den Wohnanlagen im Blick behalten wird. Die Diskussion einer „verträglichen Mischung“ in der Studie „Zusammenleben in Wohnhausanlagen“ hat durchaus aktuelle Grenzen spürbar gemacht. Es obliegt daher den Wohnungsunternehmen, gemeinsam mit der Stadtpolitik Strategien zu entwickeln, um ein absehbares Überwiegen von Bewohnern mit Migrationsbezug sensibel zu begleiten. Dies betrifft den Erstbezug künftiger Vorhaben, jedoch auch die Weitervermietung im Bestand. Ein Ausgleich zwischen älteren und neueren Beständen wird notwendig sein, um den Hauptanteil an Integrationsleistung nicht allein Letzteren zu überlassen.
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Weiterentwicklung: das elektronische „Schwarze Brett“, Vorbereitung auf nachwachsende Generationen (Fotos VOGUS)
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Autorenverzeichnis
Dr. Dr. rer. pol. Joachim Brech, Dipl.-Ing. studierte Architektur an der TU in München, sozialwissenschaftliche Promotion an der Universität Bremen. Freischaffend tätig als Planer, Forscher und Konsulent in den Bereichen Stadtentwicklung und Wohnungsbau; Autor zahlreicher Fachpublikationen und Studien-Präsentationen. Dipl. Ing.in Heidrun Feigelfeld studierte Architektur an der TU in Wien, ab 1991 in der Leitung und Forschung des SRZ / Stadt+Regionalforschung Wien, freischaffend tätig. Verantwortlich für zahlreiche inländische sowie europäische Projekte und Publikationen zu Bereichen wie Wohnungswesen, Lebensqualität, Stadtentwicklung und Stadterneuerung. Dr. Wolfgang Förster studierte Architektur und Politologie in Wien und Graz, ist seit 2001 Leiter der Wiener Wohnbauforschung und seit 2016 Koordinator der IBA Wien. Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Wohnbau und Stadterneuerung. Mag. August Gächter studierte Soziologie in Wien, ist seit 1989 mit Forschung zur Integration von Einwanderinnen und Einwanderern befasst, seit 2002 am Zentrum für Soziale Innovation SZI Wien; zahlreiche Fachpublikationen. Marie Antoinette Glaser studierte Literaturwissenschaft und Europäische Ethnologie in München, Washington D. C. und Wien. Seit 2016 leitet sie das ETH Wohnforum – ETH CASE am Departement Architektur der ETH Zürich. Sie publiziert und arbeitet zu den Themen Wohnen und Armut, Hausbiografien, Wohnbau und soziale Nachhaltigkeit in der Quartierentwicklung. Dr. Margrit Hugentobler studierte Sozialarbeit, Soziologie und Politik wissenschaften an der University of Michigan, USA. Seit 1992 befasst sie sich mit Wohnforschung an der ETH Zürich und leitete die Forschungsstelle ETH Wohnforum – ETH CASE zwischen 2009 und 2015. Autorin zahlreicher Publikationen zu den Themen Wohnqualität, Wohnraumversorgung, Wohnen in der zweiten Lebenshälfte, nachhaltige Stadt- und Wohnbauentwicklung. Prof. Dr. Herbert Ludl (Herausgeber) promovierte nach Besuch der Arbeitermittelschule an der Universität Wien zum Doktor juris und war von 1984 bis 2016 zuerst Geschäftsführer, ab 1993 Vorstandsvorsitzender der Sozialbau AG; Universitätslektor im Fachbereich Wohnbaufinanzierung, Autor zahlreicher Publikationen zur Ökonomie und Historie gemeinnützig-genossenschaftlichen Wirtschaftens. Walter Weiland MSc absolvierte kaufmännische Ausbildung und Konzession als Immobilienverwalter, ist seit 1980 Hausverwalter, seit 1992 Abteilungsleiter in der Sozialbau; seit 2014 eingetragener Mediator, 2016 Masterthesis für Mediation und Konfliktregelung an der Sigmund Freud Privatuniversität Graz.
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