179 53 26MB
German Pages 344 Year 2011
Annette Paatz Liberalismus und Lebensart Romane in Chile und Argentinien (1847-1866)
Annette Paatz
Liberalismus und Lebensart Romane in Chile und Argentinien (1847-1866)
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2011
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © Vervuert Verlag, 2011 Elisabethenstr. 3-9 D-60594 Frankfurt am Main Iberoamericana Editorial Vervuert c/Amor de Dios, 1 E-28014 Madrid Iberoamericana Vervuert Publishing Corp. 9040 Bay Hill Blvd. Orlando, FL 32819 [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 978-3-86527-599-8 Depósito legal: SE-829-2011 Umschlaggestaltung: Juan Carlos García Cabrera
Gedruckt in Spanien Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed by Publidisa
INHALT
1.
VORWORT
9
2.
EINLEITUNG: UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND METHODE
11
3.
POLITISCHE, SOZIALE UND KULTURELLE RAHMENBEDINGUNGEN LITERARISCHEN HANDELNS
3.1. Ciudadanía, sociabilidad, civilización: Liberalismus und Literatur 3.2. Zur Entwicklung des Buch- und Pressewesens 4.
CHILE
4.1. "Novela orijinal chilena" 4.1.1. Bernabé de la Barra: Emma y Carlos o Los dos juramentos (1848) Literatur und Leben: Zum Status des Romans um die Jahrhundertmitte "Sea el público induljente con este primer ensayo... " Literaturkritik: La Revista de Santiago 4.1.2. José Antonio Torres (1828-1864): Los misterios de Santiago (1858) Der Redakteur als Romancier Autochthone misterios? Disimulo: Kritik am jesuitismo 4.2. Costumbrismo 4.2.1. Alberto Biest Gana (1830-1920): Das Frühwerk und La aritmética en el amor (1860) Die Würde der "talentos secundarios " Ein Wettbewerb für die novela nacional "Prosa es la vida en Chile como en Paris " 4.2.2. Rosario Orrego (1834-1879): Alberto el jugador (1860) Gender und Literaturbetrieb "Peligrosa lotería social" "La nueva escuela realista " 5.
ARGENTINIEN
5.1. Die populäre Gattung und die proscriptos 5.1.1. Bartolomé Mitre (1821 -1906): Soledad (1847) Von Bolivien nach Chile: der erste argentinische Roman "Qué hermoso debe ser el ser amada por un héroe ": Literatur und Patriotismos Julie, Indiana, Soledad Das Álbum
33
33 47 65
65 65 65 72 84 89 89 95 109 117 117 117 125 131 155 155 162 173 179
179 179
179 184 192 200
5
5.1.2. Miguel Cañé (1812-1863): Esther (1858) Romantischer porteño Novela sentimental, Reisebericht und argentinische Selbstreflexion
203 203 209
Cañé und seine Leser Die "BibliotecaAmericana" 5.2. Domestic Fiction in der Pampa 5.2.1. Eduarda Mansilla (1834-1892): El médico de San Luis (1860) Kosmopolitische Empfindsamkeit "Piedra de toque para conocer el estado del gusto y de las costumbres de una sociedad" Escritora americana
221 227 235 235 235 241 257
5.2.2. Santiago Estrada (1841-1891): El hogar en la pampa (1866) Das Medium der Zukunft "Escursiones por la campaña ": Roman und Kolonisation Imagologie der Pampa
263 263 271 279
6.
7.
8.
8.1. 8.2. 8.3. 8.4.
SCHLUSS: FOLLETÍN, NOVELA ORUINAL, MAS ALTA EXPRESION
DE
CIVILIZACION
285
BIBLIOGRAPHIE
291
ANHANG
Bernabé de la Barra: "Dedicatoria del autor al público chileno" José Antonio Torres: "Advertencia" José Antonio Torres: Educación e instrucción de la mujer Justo Arteaga Alemparte: "Cuatro novelas de Alberto Blest Gana"
8.5. Ricardo Palma: Vorwort zu Alberto el Jugador 8.6. Vicente Fidel López/ Miguel Cañé: "Carta del Dr. D. Vicente F. Lopez / Respuesta del Dr. Cañé" 8.7. "Bibliografía y juicio crítico" (El médico de San Luis) 8.8. "Literatura. Santiago Estrada. El hogar en la Pampa" 8.9. "El Hogar en la Pampa (Artículo comunicado)"
6
311
311 311 312 318 322 324 327 337 342
Fur Vera
1. VORWORT
Ein Genre, zwei Länder, zwei Daten - der Untertitel dieser Studie klingt lakonisch. Trotzdem dürfte er zweifach überraschen: Argentinien und Chile, zwei Länder, die sich heute eher aus der Abgrenzung voneinander definieren, in einer Zusammenschau? Romane um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts, wo doch über den "verspäteten" Einzug dieses Genres auf dem lateinamerikanischen Subkontinent literarhistorischer Konsens herrscht? In ihren Anfängen war die Literatur in Chile wie in Argentinien einem liberalen Projekt des gesellschaftlichen Aufbaus verpflichtet. Etwa gleichzeitig erlangte der Roman weltweit ein bisher nicht gekanntes Maß an Popularität und Verbreitung, und das Genre avancierte in den jungen lateinamerikanischen Nationen zum Ausdruck kreolischer Lebensart. Bei den vorgestellten Texten handelt es sich um erste Konkretisierungen einer Schreibweise, die in dieser Phase literarischen Experimentierens mit einer ganzen Reihe plakativer Attribute belegt war. Die Romane geben Einblick in den kulturellen Prozess, in ihnen und um sie kristallisieren sich zentrale Zeichen der Zeit, aus ihnen erschließt sich die Kulturgeschichte eines bewegten historischen Moments. So bewegt wie diese Zeit gestaltete sich ihre Schrift: Akzentsetzung und Orthographie folgen in den verwendeten Originalausgaben selten einer nachvollziehbaren Systematik. Die Schreibweise wurde in den Zitaten grundsätzlich übernommen. Nur offensichtliche Druck- und Schreibfehler erscheinen mit "[sie]" gekennzeichnet. Der Anhang stellt eine Auswahl zeitgenössischer literaturkritischer Stellungnahmen und Paratexte zu den behandelten Romanen zur Verfügung, die einen Eindruck von der Verfasstheit des kulturellen Diskurses vermitteln sollen. Prof. Dr. Manfred Engelbert hat diese Arbeit seit ihren Anfangen mit wertvollem Rat begleitet, ihm gilt mein größter Dank. Prof. Susana Zanetti verdanke ich vertrauensvollen Zuspruch und unzählige Anregungen. Prof. Dr. Tobias Brandenberger, Prof. Dr. Franziska Meier, Prof. Dr. Simone Winko und Prof. Dr. Peter Kuhlmann sei herzlich für die Übernahme der weiteren Gutachten gedankt, Dr. Friederike von Criegem für sorgfältige Korrekturen und freundschaftlichkollegialen Beistand. Im Hinblick auf die Materialbeschaffung danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Biblioteca Nacional de Chile, der Biblioteca del Congreso de la Naciön in Buenos Aires und des Ibero-Amerikanischen Instituts, Berlin, von dessen einzigartigem Bestand an Literatur des 19. Jahrhunderts die vorliegende Arbeit in unschätzbarer Weise profitiert hat.
9
2. EINLEITUNG: UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND METHODE El historiador recoje en sus anales solo lo que ha dejado algunas huellas en la memoria de los pueblos. El novelista, por el contrario, hace revivir en sus pinturas lo que pasa, lo que perece, lo que cambia i varia sin cesar, la historia de la vida privada; i si le es permitido buscar los hechos en su imajinacion, no está dispensado de dar a sus narraciones, en lugar de la verdad que les falta, esa otra verdad relativa que es la necesidad común de todas las obras del arte. Es menester que el hombre se reconozca en la imájen trazada por el novelista, que le ofrezca la espresion fiel de sus pasiones, de sus virtudes, de sus vicios, de sus ridiculeces, i bajo la apariencia inconstante de las costumbres en los diversos tiempos, los rasgos inalterables de la naturaleza humana. Como primera condicion, la novela debe unir la verdad a la ficción.'
NOVELAS (!!!!!!!) La manía de escribir reconoce por origen la manía de leer. Y en un país si hay 6,000 lectores, no será muy aventurado decir que hay 3,000 que escriben. Por esto cada día nuevas novelas inundan el palenque literario, que son arrebatadas de manos de los editores por una multitud ávida de empaparse de ideas ultramaterialistas. Y los autores escriben sin parar, novelas terrorificas. Y los editores las hacen imprimir si el título es bueno. Y las prensas sudan tinta para dar abasto á los pedidos. Y los corresponsales cobran. Y el público paga y se entusiasma por dos reales á la semana. Analizemos una novela cualquiera y podremos comprender lo estragado que está el gusto en el público hoy día. 2
Diese beiden Stellungnahmen zum Roman erfolgten Ende der 1860er Jahre in Chile und Argentinien. Während der chilenische Historiker Diego Barros Arana in seinen Elementos de literatura die Bedeutung des Genres als "historia de la vida privada" für die Reflexion über Individuum und Gesellschaft unterstreicht, bezeichnet der Beiträger aus der argentinischen Zeitschrift El Alba das Schreiben von Romanen (und nicht nur ihre Lektüre!) als eine "manía", die allein auf sensationalistische und kommerzielle Motivationen zurückzuführen sei. Damit sind die Pole skizziert, zwischen denen sich der Roman um die Mitte des 19. Jahrhunderts bewegt: Er gilt als Mittel ernsthafter Gesellschaftsanalyse, gleichzeitig aber auch als sensationalistischer Zeitvertreib, als hohe ebenso wie populäre Kultur. Die Diskussion war damals nicht neu, und in dieser apodiktischen Gegenüberstellung ist sie auch hyperbolisch. Denn eine Differenzierung in brauchbare und unbrauchbare, gute und schlechte, nützliche und schädliche Erzähltexte, wie sie aus den oben zitierten Äußerungen zu folgern wäre, gestaltet sich in der Praxis alles andere als eindeutig, und es war zu diesem Zeitpunkt in Lateinamerika noch keineswegs entschieden, wie der Roman im kulturellen Prozess zu verorten sei.
Barros Arana 1867, 199. Batrina 1869, 90. 11
Auch die Vorstellung von der Romanproduktion als kommerzialisierter Massenware, wie sie in dem Zitat aus El Alba zum Ausdruck kommt, kann den tatsächlichen Gegebenheiten vielleicht in Europa oder den USA, mit Sicherheit jedoch nicht in Argentinien und auch nicht in Chile entsprochen haben. Und so gegensätzlich wie die Wertschätzung des Romans, die im Extremfall sogar zu diametral entgegengesetzten Urteilen in Bezug auf ein und denselben Text fuhren kann, stellt sich auch die Beurteilung der materiellen Rahmenbedingungen dar. Ist "littérature industrielle" 3 in Frankreich bereits seit den späten 1830er Jahren als Anfang vom Ende der Kunst verpönt, so befinden sich die jungen lateinamerikanischen Nationen in einer Phase, in der die prekäre Situation der Kulturschaffenden die Institutionalisierung des Kulturbetriebs noch explizit einfordert. Es ist ein weiterer Beleg für diese Diskrepanzen, dass Bartolomé Mitre, ebenfalls in El Alba, die defizitäre literarische Situation explizit mit der noch nicht erfolgten Professionalisierung des Literaturbetriebs begründet: En América del Sud, sobre todo, las letras parecen sucumbir por no encontrar un poderoso punto de apoyo, que debiera ser su motor de vida, su impulso de acción. En Europa, la literatura es una industria como cualquier otra. Aquel que escribe, se enriquece con sus libros. En América, el que escribe, ó abandona al fin su espinosa tarea, ó se muere de hambre.4
Mitre war Historiograph wie Barros Arrana, vor allem aber war er einer der großen argentinischen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts, der von 1862 bis Oktober 1868 sogar das Amt des argentinischen Staatspräsidenten bekleidete. Die oben zitierte Äußerung - eine unter vielen mit diesem Tenor bis weit in das 20. Jahrhundert hinein - kommt also aus berufener Feder, und dies insbesondere im Hinblick auf den Romandiskurs, denn eben jener Bartolomé Mitre hatte zwanzig Jahre zuvor einen der allerersten argentinischen Romane verfasst - der übrigens zunächst als Feuilleton einer Tageszeitung erschienen war. Nun wäre es vermessen zu behaupten, dass Mitre das Präsidentenamt nicht akzeptiert hätte, wäre es ihm nur gelungen, sich die Existenz mit seinen literarischen Versuchen zu sichern. Das relativ willkürlich herausgegriffene Beispiel sollte vielmehr veranschaulichen, dass high and low, E und U im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts weit weniger ausdifferenziert waren als es den Anschein haben mag - und dass sich diese Zusammenhänge gerade in Bezug auf den Roman ausgesprochen vielfältig gestalten. Weil der Roman, und dies gilt auch für die materiellen Bedingungen seiner Entstehung und Verbreitung, als ein Attribut von Modernität verstanden wurde, waren die Projektionen um Sinn und Zweck des Genres im kulturellen Diskurs weit umfangreicher als die tatsächlich vorhandenen narrativen Entwürfe. Die vorliegende Studie widmet sich den Anfangen der Romanproduktion in Argentinien und Chile bis etwa zu jenem Zeitpunkt, als die beiden oben zitierten Einschätzungen entstanden. Damit handelt es sich um die allerersten 3 4
12
So der Titel eines berühmten Artikels von Sainte-Beuve in der Revue des Deux Mondes (1839). Mitre 1868,20.
Belege des Genres, die in den Literaturgeschichten bisher weitgehend unbeachtet blieben. 5 Gemeinhin wurden sie als zu stark abhängig von europäischen Schreibmustem, als zu wenig "chilenisch" oder "argentinisch" und damit unbrauchbar für die Bedürfnisse einer Nationalliteratur gewertet, und zwar sowohl im zeitgenössischen Kontext als auch bis in die moderne Literaturkritik hinein, bei der das nation building im Hinblick auf das 19. Jahrhundert das gängige Paradigma war. Dies bedeutet jedoch nicht, dass den novelas originales chilenischer und argentinischer Autorinnen und Autoren nicht seit Beginn an der Versuch anhaftete, autochthone Erfahrungen im Sinne von Barros Aranas "historia de la vida privada" zu verarbeiten, den Roman als Bestandteil eines umfassenden gesellschaftlichen Projekts gewissermaßen komplementär zur historia oficial der Geschichtsschreibung zu begreifen. Wie ließe es sich sonst erklären, dass es sich bei den Romanautoren fast durchgängig um Persönlichkeiten handelte, die am politischen und kulturellen Aufbau der Nationalstaaten in herausragender Weise beteiligt waren: Unter den Verfasserinnen und Verfassern der hier diskutierten Romane finden sich Journalisten (und eine Journalistin), Historiker, Juristen, Diplomaten (und eine Diplomatengattin), und, wie wir bereits gesehen haben, sogar ein künftiger Staatspräsident. Vielleicht integrierten diese Literaten den Roman auch deshalb so selbstverständlich in ihre Schreibpraxis, weil sich die Vorstellung von "Literatur" als auf ästhetische Produktionen reduzierte Texte und das Konzept einer autonomen Kunst in Lateinamerika zu diesem Zeitpunkt noch nicht etabliert hatte. Der Literaturbegriff blieb dem umfassenden Konzept des 18. Jahrhunderts weiterhin verbunden, und unter diesen Voraussetzungen erschien es wohl weniger abwegig, wenn z.B. ein Jurist auch einen Roman schrieb. Und es kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass das Paradegenre literarischer Unterhaltung auf diese Weise mit Reflexionen aus den gesellschaftspolitischen Erfahrungsbereichen seiner Autoren angereichert wurde. Das Interesse der kreolischen Führungseliten am Roman zeugt zum einen von der Bedeutung, die ihm seitens der lateinamerikanischen Kulturträger beigemessen wurde. 6 Ihre Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt waren Cf. Fernández Fraile 1996 als Beispiel für die chilenische Literarhistoriographie, der - wie gemeinhin üblich - mit Alberto Biest Ganas umfangreichen Romantexten der 1860er Jahre einsetzt. Im argentinischen Zusammenhang konstatiert z.B. Alejandra Laera einen "tiempo vacio de la ficción" (2004), der bis ca. 1880 anhalte, als Eduardo Gutiérrez und vor allem der Naturalismus von Eugenio Cambaceres in Erscheinung traten. 6 Über die in dieser Studie behandelten Fällen hinausgehend gibt es sowohl in Argentinien als auch in Chile weitere in Politik, Publizistik und Erziehungswesen maßgebliche Persönlichkeiten, die fiktionale Texte verfasst haben. Zu nennen wären etwa für Argentinien Juan Maria Gutiérrez (1809-1878; Literaturkritiker, Politiker und Universitätspräsident; El capitán de Patricios, 1843, cf. Lichtblau 1959, 256-27), Juan Bautista Alberdi (1810-1884; Staatstheoretiker, Diplomat, Tobias o La cárcel a la vela, 1844/51, cf. Lichtblau 1959, 28-29), Vicente Fidel López (18151903; Historiker, Politiker und Publizist, La novia del hereje, 1854, cf. Lichtblau 1959, 56-62); für Chile Diego Barros Arrana (1830-1907; Historiker, zwei kurze historische Erzähltexte in EI Museo, cf. Foresti et al. 1999, 265-67), José Victorino Lastarria (1817-1888, Publizist, Pädagoge und Politiker; Peregrinación de una vincucha, 1858, Don Guillermo, 1860, cf. Foresti et al. 1999, 210-16, 332-33, zu Don Guillermo cf. Goic 1997, 27-43), Justo Arteaga Alemparte (1834-1882;
13
trotz der Abgrenzungsbestrebungen von Spanien immer vom Blick auf die europäischen Entwicklungen - vornehmlich in Frankreich und England - geprägt, und dort hatte der Roman bekanntlich seit Ende des 18. Jahrhunderts einen beachtlichen Weg zurückgelegt, um letztlich zum bürgerlichen Genre par excellence zu avancieren. Aus der Tatsache, dass die europäischen Romane auf dem lateinamerikanischen Subkontinent intensiv rezipiert wurden, ergibt sich eine weitere Prämisse dieser Arbeit, die sich, wie übrigens im Zitat aus El Alba ebenfalls bereits angeklungen, auf die Interdependenz von Lesen und Schreiben bezieht: Es geht nicht nur um das kulturelle Prestige eines nationalen Romans, der auf hohem reflexiven Niveau einen abstrakten "Volksgeist" beschwört. Vielmehr steht die Produktion narrativer Texte im vorliegenden Zusammenhang in besonders enger Verbindung zur Romanlektüre als gesellschaftlicher Praxis. Sie situiert sich im privaten Bereich der Freizeitgestaltung eines kreolischen Publikums, das der kulturellen Selbstversicherung bedarf. Damit ist nicht impliziert, dass es sich bei der vorliegenden Studie um eine empirische Untersuchung handelt - das ist schlicht unmöglich, zumal für den Untersuchungszeitraum noch so wenig von einem institutionalisierten Literaturbetrieb die Rede sein kann, dass die tatsächliche Rezeption dieser Texte alles andere als gesichert ist. Entscheidend ist vielmehr die auf das Romangenre gerichtete Erwartungshaltung im Kontext einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung. Und in diesem Zusammenhang sind die in den Erzähltexten formulierten lebenspraktischen Inszenierungen ebenso von Interesse wie das Schreiben und Lesen von Romanen im Zeichen einer noch zu konsolidierenden kreolischen Soziabilität. Auch angesichts der Bedeutung, die der Lektüre in der Konstruktion der kreolischen Subjektivitäten in neueren Studien beigemessen wird, erscheint es nur folgerichtig, den Schritt hin zur literarischen Produktion auf dieser Grundlage zu betrachten. 7 Der Roman wird daher in dieser Arbeit nicht nur in seiner textuellen, sondern auch in seiner materiellen Verfasstheit in den Blick genommen, denn nicht zuletzt funktioniert er als Objekt gesellschaftlicher Ostentation. Als Teilbereich gesellschaftlichen Lebens passt sich die Romanpraxis ein in das weitreichende liberale Projekt, das den kulturellen Prozess Lateinamerikas im 19. Jahrhundert dominierte. Der Liberalismus verband Literatur mit politischem Engagement, mit Bildung und dem Hervorbringen kollektiver Identität, verstand sie utilitaristisch und verlieh ihr staatstragende Funktion. Eine literatura propia, eine eigene Nationalliteratur, war nicht nur integrativer Bestandteil des patrimonio cultural,8 sondern sie sollte auch auf ganz konkrete Weise ciudadanos hervorbringen. Die Produktion und Rezeption von Romanen wurde in bester aufklärerischer Tradition nachgerade als pädagogisches Projekt begriffen, das auf
Publizist und Politiker, fünf Erzählungen in La Semana, cf. Foresti et al. 1999, 257-67). Cf. für den gesamten lateinamerikanischen Raum die Daten von Grossmann 1969, 194-97. 7 Cf. Zanetti 2003, Batticuore 2005. 8 Zur Funktion des patrimonio cultural im lateinamerikanischen 19. Jahrhundert cf. González Stephan 2000.
14
einer ganz grundlegenden Ebene zunächst einmal der Alphabetisierung, dann jedoch auch der moralischen und politischen Bildung zu dienen hatte, und zwar für Männer und Frauen, mit unterschiedlichen, den jeweiligen gender-Konzeptionen angepassten Schwerpunktsetzungen. Im Verlauf dieser Untersuchung wird deutlich werden, wie sich hieraus angesichts der durchaus kontroversen Diskussion um die Moralität und den gesellschaftlichen Nutzen des Genres zuweilen die kuriosesten Argumentationsstrategien ergeben haben. 9 Ihren entscheidenden Impuls bezog diese liberale Bewegung aus dem esprit de juillet der französischen Revolution von 1830. Der Argentinier Esteban Echeverría erlebte sie persönlich und brachte nach seiner Rückkehr jene romantische Option liberaler Prägung an den Rio de la Plata. 10 Diese liberale Romantik bildet auch den Fluchtpunkt von José Victorino Lastarrias "Discurso de Incorporación a la 'Sociedad literaria'" (1842), dem herausragenden Manifest des kulturellen Aufbruchs in Chile. Romantik bedeutete also weniger Resignation und Rückzug als vorwärtsgewandte gesellschaftliche Produktion und Optimismus. Sie bedeutete sehr wohl Subjektivierung, doch fand sich diese eingebettet in ein gesellschaftliches Kontinuum: Auch Subjektivität stand in Lateinamerika im Dienst der ciudadanía. Die Literatur war Ausdruck der Gesellschaft, und so verband sich Politisches und Literarisches, und damit auch Öffentliches und Privates. Es geht hier also nicht um eine Abgrenzung beider Sphären, sondern um ihre erwünschte und geforderte Interdependenz. Zwischen beiden Polen zu vermitteln war die vordringliche Aufgabe des ciudadano. In diesem Zusammenhang spielt die Entwicklung des Pressewesens eine wichtige Rolle. Sie trug nicht nur bei zur Konstituierung einer zwischen Staatswesen und Privatsphäre angesiedelten Öffentlichkeit, sondern schaffte auch für die Produktion und Rezeption von Romanen völlig neue Voraussetzungen. In Frankreich beherrschten Eugène Sue und Alexandre Dumas seit den 1840er 9
Schon Emilio Carilla verweist in seiner Studie El romanticismo en la America Hispana auf die ambivalente Haltung gegenüber dem Romangenre im gesamten hispanoamerikanischen Raum: "En realidad, y como consecuencia indudable de las dimensiones que toma el género en el siglo, durante todo el siglo XIX hay un verdadero torneo acerca de la moralidad o inmoralidad de la novela. [... ] El tema es atractivo y digno de estudio" (Carilla 1967, Bd. 2, 67). Carilla fuhrt die Anschuldigungen über die moralische Verwerflichkeit des Genres auf die koloniale Praxis zurück. Die Tatsache, dass sich in Europa seit den 1830er Jahren eine regelrechte Hetzkampagne v.a. gegen den französischen Roman entzündete, dürfte die zeitgenössische Debatte mindestens gleichermaßen beeinträchtigt haben. Cf. hierzu Heitmann, Der Immoratismus-Prozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert, 1970. 10 In der Autobiographie von Vicente Fidel López (s. Fußnote 6) heißt es über die Bedeutung der Julirevolution: "Nadie hoy es capaz de hacerse una idea del sacudimiento moral que este suceso produjo en la juventud argentina que cursaba las aulas universitarias. No sé cómo produjo una entrada torrencial de libros y autores que no se había oído mencionar hasta entonces. Las obras de Cousin, de Villemain, de Quinet, Michelet, Jules Janin, Mérimée, Nisard, etc., andaban en nuestras manos produciendo una novelería fantástica de ideas y de prédicas sobre escuelas y autores, románticos, clásicos, eclécticos, San Simonianos. Nos arrebatábamos las obras de Víctor Hugo, de Sainte Beuve, las tragedias de Casimir Delavigne, los dramas de Dumas y de Víctor Ducange, George Sand, etc. Fue entonces que pudimos estudiar a Niebuhr y que nuestro espíritu tomó alas a hacia lo que creíamos las alturas. La Revue de París, donde todo lo nuevo y trascendental de la literatura francesa de 1830 ensayó sus fuerzas, era buscada como lo más palpitante de nuestros deseos" (López 1994,29).
15
Jahren die Tagespresse mit Feuilletons, die erstmals eine riesige Leserschaft banden. Die Feuilletons erreichten die lateinamerikanischen Länder in Form von aus Frankreich importierten Kulturzeitschriften, und die Praxis des Fortsetzungsromans setzte sich auf dem Subkontinent unverzüglich durch: Sobald die technischen Voraussetzungen für die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften gegeben waren, hatte der (Feuilleton-)Roman in ihnen seinen Platz. Ohnehin vollzog sich der gesellschaftliche Wandel in beeindruckender Geschwindigkeit, begleitet von einem massiven Bevölkerungszuwachs und einer zügigen Institutionalisierung des Bildungswesens. Ländern wie Chile und Argentinien, die nicht im Zentrum des kolonialen Machtapparates gestanden hatten, waren von der in Gang gesetzten Dynamik in besonderer Weise betroffen. Beide Länder verfugten aufgrund ihrer Überseehäfen in Buenos Aires und Valparaiso über gute Voraussetzungen für Handel und technologischen Fortschritt, für intellektuelle Anstöße und Mobilität. In Argentinien hatten die politischen Verhältnisse unter Juan Manuel de Rosas die oppositionellen Literaten nahezu vollständig ins Exil gezwungen, und zwar vornehmlich nach Montevideo und Santiago de Chile. Dort nahmen sie öffentliche Ämter wahr, gründeten Zeitschriften, publizierten und nahmen engagiert teil an der Diskussion um die kulturelle Entwicklung der kreolischen Gesellschaft. Für den Zeitraum dieser Untersuchung ergibt sich so im Hinblick auf den argentinischen und den chilenischen Zusammenhang eine gemeinsame Basis. So wird etwa Domingo Faustino Sarmiento die Erfahrungen, die er als Abgesandter der chilenischen Regierung über das europäische und US-amerikanische Erziehungswesen sammelt, nach seiner Rückkehr auch in Argentinien zur Anwendung bringen. Dieser historische Moment, in dem sich Argentinier und Chilenen in Santiago de Chile und Valparaiso zusammenfanden, als 1842 die Universidad de Chile und auch Lastarrias Sociedad Literaria gegründet wurden und als Sarmiento 1845 in der chilenischen Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel El Progreso sein wegweisendes kulturkritisches Werk Civilización i barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga veröffentlichte, stellt somit einen Kristallisationspunkt der lateinamerikanischen Kulturgeschichte dar. Im Schatten dieses kulturellen Aufbruchs, aber sicher nicht völlig von ihm losgelöst, kommt 1848 der erste Erzähltext eines chilenischen Autors heraus, der hinreichend umfangreich ist, um als "Roman" bezeichnet zu werden: Emma y Carlos o Los dos juramentos von Bernabé de la Barra, erschienen im Verlag der Tageszeitung El Mercurio in Valparaiso, markiert den unspektakulären Anfang der chilenischen Romangeschichte. Ein Jahr zuvor war in La Paz Bartolomé Mitres Soledad als folletín erschienen; das Exil führte den Autor nach Chile, wo der Roman ebenfalls 1848 in Buchform publiziert wurde. Hier nimmt die vorliegende Studie ihren Ausgangspunkt. Sie wird die chilenische und argentinische Romanproduktion bis in die zweite Hälfte der 1860er Jahre hinein an exemplarischen Stationen rekonstruieren. Bis dahin haben sich dann die gesellschaftlichen Verhältnisse so grundlegend verändert, dass die literarische 16
Produktion einen neuen Grad an Ausdifferenzierung und Institutionalisierung erreicht und die "Experimentierphase" der Romanpraxis als abgeschlossen bezeichnet werden kann." Die in dieser Arbeit zur Sprache kommenden Texte haben in der Regel einen sentimentalen Plot mit mehr oder weniger sensationalistisch-feuilletonistischem Einschlag - dies folgt den Gepflogenheiten der Zeit und den narrativen Mustern, die von Europa aus vorgegeben waren. Doch wird sich zeigen, wie vielfältig die Autorinnen und Autoren dieses Schema untergraben und in ihren Texten ganz konkrete Stellungnahmen zu den autochthonen gesellschaftlichen Gegebenheiten verarbeiten, so dass wiederum Privates öffentlich wird, Freizeitvergnügen und nation building ineinander greifen. Dabei werden Roman und Alltagsleben in einer Zeit, als spezifisch literarisches und allgemein gesellschaftliches Engagement häufig noch nicht zu trennen sind, in ganz konkreter Weise aufeinander bezogen. Es ging um eine kulturelle Selbstvergewisserung, für die das sich konstituierende Pressewesen ein öffentliches Forum bereitstellte. Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass der Roman als rekreative, vor allem auch an Frauen gerichtete Lektüre der privaten Sphäre zuzusprechen wäre, er jedoch gleichzeitig, und zwar nicht zuletzt durch die Tatsache, dass ihn herausragende Persönlichkeiten kultivieren und programmatisch einfordern, eine öffentliche Dimension besitzt, so ergibt sich eine komplexe Konstellation, die sich auf die thematische Anlage der Texte in vielfaltiger Weise niederschlägt. Die konkrete Reflexion über die gesellschaftliche Aktualität kann besonders gut in jenen narrativen Konstruktionen erfolgen, die im zeitgenössischen Zusammenhang dem costumbrismo zugeordnet werden. Im romantischen Register entspricht der costumbrismo der Darstellung und ggf. Analyse autochthoner Lebenspraxis, und zwar sowohl mit einer provinziellfolkloristischen Variante als auch im Hinblick auf die Lebensverhältnisse einer sich entwickelnden Urbanen bürgerlichen Gesellschaft. Der costumbrismo steht in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen im Pressewesen und dem aufkommenden Journalismus. Daher war die eher statisch gehaltene Kurzform des articulo de costumbres zunächst die geläufigste Variante costumbristischen
" Foresti et al. (1999) gliedern ihre Studie zur chilenischen Narrativik des 19. Jahrhunderts in zwei Teile, wobei der erste 1859 und der zweite 1879 mit dem außerliterarischen Ereignis des Pazifikkrieges endet. Auch Dieter Janiks Sammelband La literatura en la formación de los Estados hispanoamericanos (1998) legt die zeitliche Grenze auf 1860. Im Hinblick auf die Romangeschichte Lateinamerikas, deren Diskontinuität wiederholt hervorgehoben wurde (cf. z.B. Oviedo 1997, Varela Jácome 1993), spricht Antonio Benítez Rojo von einer ca. 1870 einsetzenden neuen Phase, in der sich nun der Modernisierungsprozess unabhängig vom nation building entfalten könne. Er sieht in der simultanen Valenz von "Nationness" und "Modernness" in den vorherigen Jahrzehnten eine auf den literarischen Diskurs einwirkende Diskontinuität, die sich mit den hier zugrunde gelegten Überlegungen deckt. - Obwohl die Entwicklung in Argentinien und Chile nicht übereinstimmend verläuft, kann doch festgehalten werden, dass mit den 1860er Jahren beide Staaten (mit der Einigung von Buenos Aires und den Föderalstaaten in Argentinien 1862 bez. dem Beginn der Regierungszeit von José Joaquín Pérez und damit dem Ende der "república autoritaria" in Chile 1861) auch in eine neue Phase politischer Organisation eintreten. 17
Schreibens, bevor der Begriff dezidiert auf das Romangenre appliziert wurde, erstmals wohl bei der spanischen Autorin Fernán Caballero. 12 An sie dachte Alberto Biest Gana, als er 1861 seine Präferenz für die novela
costumbrista
eingestand, aber sicher auch an die bereits seit den 1830er Jahren bekannte Variante des französischen Gesellschaftsromans
nach Muster von
Balzac,
Stendhal oder George Sand: "Pero creemos que", so formuliert Biest Gana, "consultado el espíritu de la época, y la marcha de la Literatura europea durante los últimos treinta años, la novela que está llamada a conservar por mucho tiempo la palma de la supremacía es la de costumbres". 13 Der Gesellschaftsroman stellt für die Inszenierung zeitgenössischer Lebenspraxis ein brauchbares Format bereit, hier können die Diskurse am unmittelbarsten ineinander fließen. 14 In der Fokussierung dieser diskursiven Schnittstellen und in der Betrachtung des Romans als Bestandteil der Alltagspraxis liegt der Unterschied des hier verfolgten Ansatzes zu Studien begründet, die der Romanproduktion des 19. Jahrhunderts eine allegorische Deutung geben, allen voran Doris Sommers viel rezipierte Foundational als
Projektionen
Fictions (1991). Sommer begreift die national
gesellschaftlich
zukunftsweisender
Entwürfe,
romances in
denen
Konfliktpotential durch die Verbindung von Protagonisten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen oder ethnischen Gruppen zu einer neuen, nationale Identität generierenden Konstellation amalgamiert wird. 15 Ihre jeweils den kanonisierten Romanen des 19. Jahrhunderts gewidmeten Einzelanalysen - für Chile wählt sie Alberto Biest Ganas Martin Rivas, für Argentinien José Mármols Amalia - führen diese Verbindung von Eros und Nation auf eindrucksvolle Weise vor. 16 Allerdings
12 Im Prolog zu ihrem Roman La gaviota (1849) beschreibt Fernán Caballero ihre Vorstellung von einer novela de costumbres: "AI trazar este bosquejo, sólo hemos procurado dar a conocer lo natural y lo exacto, que son, a nuestro parecer, las condiciones más esenciales de una novela de costumbres. Así es, que en vano se buscarán en estas páginas caracteres perfectos, ni malvados de primer orden, como los que se ven en los melodramas; porque el objeto de una novela de costumbres debe ser ilustrar la opinión, por medio de la verdad, sobre lo que se trata de pintar; no extraviarla por medio de la exageración" (Fernán Caballero 2003, 123-24). Auch bei Fernán Caballero, der Tochter des deutschen Arztes Nicolás Böhl de Faber, deren ursprünglich auf Französisch verfasster Roman von keinem Geringeren als José Joaquín de Mora übersetzt worden war, besteht eine deutliche Verbindung zum französischen roman de mwurs, was in einem Briefwechsel mit Mora belegt ist (cf. 123, Fußnote 1 in Fernán Caballero 2003). Bei Mora handelt es sich um einen spanischen Lyriker, der übrigens aufgrund seiner liberalen Überzeugungen nach Chile ins Exil ging und im dortigen Kulturbetrieb überaus präsent war. 13
Biest Gana 1977(1861), 122. Antonio Cornejo Polar unterstreicht ebenfalls die Bedeutung des costumbristischen Registers für die frühe lateinamerikanische Romanpraxis: "[L]o decisorio parece ser que el costumbrismo se introdujo en la novela no sólo al injertar en ella la estrategia de su discurso, que permanentemente bascula entre la representación y el juicio, lo que implica un reforzamiento de la función autorial, sino que delimitó el marco funcional de un género que, como tal, recién debutaba en el panorama de nuestras letras" (Cornejo Polar 1994, 18). 15 Cf. Sommer 1991, 1-29. 16 Die Tatsache, dass nicht alle ihrer Beispiele mit happy end und damit zukunftsweisenden positiven Gesellschaftsentwürfen enden, schwächt die These; doch hat sie im Hinblick auf die disziplinierende Funktion der national romances im Dienste der neuen kreolischen Führungsschichten dennoch Bestand. Für den Fall Argentiniens schlägt Laera bei ihrer Diskussion von Sommers Thesen vor, die Funktion des nation buiiding in der Geschichtsschreibung anzusiedeln, da sie im Hinblick auf den Roman ja eine Leerstelle konstatiert (cf. Laera 2004, 1514
18
wurden durch derartige metaphorische Deutungen und ihre Fokussierung auf das nation building Ausgrenzungsmechanismen in Gang gesetzt, die eine Reihe tragender Elemente des kulturellen Prozesses in den Hintergrund gedrängt haben. Letztlich perpetuiert die Lesart von Sommer ja genau das Paradigma, das den offiziellen Diskurs wie die Literaturgeschichtsschreibung seit Anbeginn der Unabhängigkeit bestimmt hat. Ähnlich verhält es sich mit der Studie von Francine Masiello zur Produktion argentinischer Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts (Masiello 1992), wo sie mit Sarmientos Dichotomie von civilización und barbarie ein extrem zeitgebundenes Konzept auf die analytische Metaebene überträgt. Bezeichnenderweise verweist Masiello selbst in einem 1997 aus Anlass des Erscheinens der spanischen Übersetzung ihrer Monographie verfassten Nachtrag auf den Umstand, dass das in ihrer Studie prominent stehende Nationenparadigma eine diskursive Einschränkung bedeutet haben könnte: "[P]or qué", so fragt sie, "no mirar el género [d.i. gender] en relación a la sociedad civil en lugar de dar privilegio a las metáforas que corresponden al Estado?" 17 Dies gilt nicht nur für die Geschlechterkonstruktion, sondern auch für das Romangenre, wo sich die Frage nach der Angemessenheit des Nationenparadigmas in ähnlicher Weise stellt.18 Die sociedad civil mit ihrer spezifischen Interdependenz von Öffentlichkeit und Privatheit bietet hier einen weitaus konkreteren Ansatzpunkt. Gerade im Oszillieren zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen der Produktion und Rezeption von Literatur als galantem Zeitvertreib und ihrer Funktionalisierung für gesellschaftspolitische Forderungen besteht die Spezifik dieses historischen Moments. 19 Es geht hier also weniger um die Festschreibung universaler Identitätsentwürfe, als vielmehr um eine sehr viel konkretere Form von gesellschaftlicher Funktionalisierung des Romangenres.
19). Allerdings darf die Produktion historischer Romane nicht außer Acht gelassen werden, und außerdem wirken Geschichtsschreibung und Roman in der zeitgenössischen Projektion häufig komplementär, etwa bei Barros Arana, Mitre oder auch Vicente Fidel López. So stimme ich Laera nur bedingt zu, bin jedoch auch der Ansicht, dass bei Sommer das Konzept der nationalen Allegorie (30-51) überstrapaziert wird und der zeitgenössischen Pragmatik des Romandiskurses wenig angemessen erscheint. " Masiello 1997,267. 18 Pilar González Bernaldo argumentiert ähnlich im Hinblick auf die argentinische Geschichtsschreibung. Hier sei das Nationenkonzept ebenfalls aus dem zeitgenössischen Diskurs übernommen worden, obwohl der Prozess der Nationbildung in Argentinien bis 1862 andauerte: "Desde los primeros relatos sobre los orígenes de la nación, los historiadores reiteran la tesis formulada por los propios creadores de la nación argentina" (González Bemaldo 2000, 18). Auf der Grundlage der neueren Geschichtsschreibung, die den "nationalistischen" Ursprung der Unabhängigkeit hinterfragen, wählt González Bemaldo einen Zugang, der sich den sociabilidades zuwendet und den Schwerpunkt auf die Formierung der argentinischen Zivilgeselischaft legt: "De manera que, en el Río de la Plata, el sentido de la nación se desplaza furtivamente del Estado a la sociedad; desplazamiento semántico que coloca la sociedad y la representación que de ella se da en el corazón de las apuestas del poder" (21). " Modelando corazones (2003) von María Fernanda Lander setzt den hispanoamerikanischen Roman des 19. Jahrhundert in Relation zu in manuales de urbanidad fixierten Umgangsformen und verfährt damit ähnlich wie die vorliegende Studie, jedoch ohne das hier versuchte "zweigleisige" Verfahren, die Romanpraxis über die inhaltliche Analyse der jeweiligen Texte hinaus auch in ihrer Materialität zu erfassen.
19
Der hier unternommene Versuch der Analyse früher chilenischer und argentinischer Romantexte im Hinblick auf ihren Status in der kulturellen Praxis der entsprechenden Kollektive greift methodisch auf einige Standards zurück, die im Folgenden über eine knappe Rekapitulation der Entwicklung kulturwissenschaftlicher Ansätze in der deutschen Forschung seit den späten 1980er Jahren veranschaulicht werden sollen. Auch wenn der Begriff der Kulturwissenschaft noch immer einigermaßen diffus erscheinen mag, haben sich doch über die letzten Jahrzehnte eine Reihe grundlegender Prämissen und Differenzierungen etabliert. Mit den anschließenden Überlegungen sollen daher Grundlagen für die kulturwissenschaftliche Herangehensweise an einen historischen Untersuchungsgegenstand skizziert werden. Die Ausfuhrungen setzen zu jenem Zeitpunkt ein, als man begann, die sozialgeschichtlichen Zugriffe auf Literatur in ein kulturwissenschaftliches Paradigma zu überführen. Ludgera Vogt und Andreas Dömer haben 1990 in ihrem Beitrag "Kultursoziologie (Bourdieu - Mentalitätengeschichte - Zivilisationstheorie)" zu Klaus-Michael Bogdals Band Neue Literaturtheorien vorgeführt, wie eine kontextualisierende Literaturwissenschaft auf Forschungsparadigmen aus Geschichtswissenschaft und Soziologie zurückgreifen kann. 20 Ihr Zugang ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse, weil er die Kulturtheorie Pierre Bourdieus mit sozialwissenschaftlich orientierten historiographischen Ansätzen verknüpft. Die Autoren setzen Mentalitätsgeschichte und Zivilisationstheorie in Bezug zu Bourdieus Konzept des Habitus als einer "in klassenspezifischer Sozialisation erworbene[n] Matrix von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern". 21 In solch einer integrativen kultursoziologischen Betrachtungsweise, die Kultur über die Untersuchung literarischer Produktionen beobachten will, kann der Roman zunächst einmal als ein Teil des "'Imaginären' einer gesellschaftlichen Gruppe" begriffen werden - sofern darauf geachtet wird, "die Texte nicht als Abbild historischer Welten zu verstehen, sondern ihre je spezifische Funktion als Kommunikationsmedium zu bestimmen, das soziale Wirklichkeit in unterschiedlicher Weise verarbeitet und gebrochen zur Darstellung bringt". 22 Literarische Texte sind für die Mentalitätsgeschichte auch deshalb von besonderem Interesse, weil der Mangel an geeigneten Zeitzeugnissen 20
Der Plural "Mentalitätengeschichte" ist unüblich, wenn auch näher an dem im Französischen gebrauchten "histoire des mentalités" als die geläufigere Variante "Mentalitätsgeschichte" (die auch in der vorliegenden Studie verwendet wird). :l Dömer/Vogt 1990, 133-37, Zitat 135. Cf. zur Problematik der Applikation von Bourdieus Ansatz auf historische Zusammenhänge Jockel 1987, 167: "Mit historischen Fragestellungen beschäftigt er [Bourdieu] sich allerdings nicht. Ihm geht es [...] vielmehr darum, kulturelle und künstlerische Phänomene in Kategorien des Marktes zu erfassen; d.h. als symbolische Güter zu betrachten, deren Verteilung von ökonomischen Mechanismen abhängt. Eine Übertragung dieses Modells, das fur die Gegenwart provokante und aufschlußreiche Ergebnisse liefert, auf frühere Epochen dürfte nur unter größten Vorbehalten möglich sein." Bourdieus in der Literaturwissenschaft viel rezipierte Theorie eines autonom funktionierenden literarischen Feldes ist überdies für das lateinamerikanische 19. Jahrhundert aufgrund der bereits angesprochenen Heteronomie der Literatur wenig ertragreich. ~ So Dömer/Vogt 1990, 138 in Anlehnung an Le Goff. Cf. zum Verhältais von Mentalitätsgeschichte und Literaturwissenschaft auch Jöckel 1983 und 1987.
20
über Alltagserfahrungen ein grundsätzliches Problem dieser Forschungsrichtung darstellt. Kein Genre eignet sich hier besser als der Roman, vor allem, wenn er durch eine zeitgenössische Handlung Einblick in die kulturellen Dispositionen seiner Entstehungszeit gewährt. 23 Das mentalitätshistorische Paradigma ist hier demnach als ein sozialgeschichtlicher Zugang von Interesse, der sich den Alltagserfahrungen und den kollektiven Vorstellungen gesellschaftlicher Gruppen zuwendet. Als "Ebene des Bewußtseins [...], die Denk- und Verhaltensmuster und emotionale Schemata bereithält, die das Alltagsverhalten der Menschen orientieren" stellt Mentalität ein Konzept dar, das die in den untersuchten Erzähltexten zur Ausdruck kommende Privatheit im Hinblick auf ihre kollektiven Implikationen erfassen kann. 24 Insgesamt kommt der Literatur - in einem extensiven multidimensionalen Sinn verstanden - eine spezifische Rolle in der Mentalitätsgeschichte zu. Sie kann als Teil des "outillage mental" erfaßt werden, denn sie ordnet, schafft und verändert Welt, thematisiert in immer neuen Variationen das Verhältnis von Realem und Imaginärem. 25
Der Begriff der "Mentalität" kann somit als synchrones Pendant zu diachron ausgerichteten erinnerungs- und gedächtnistheoretischen Ansätzen verstanden werden, wie sie in der kulturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte prominent geworden sind. Diese Annahme scheint sich durch die Tatsache zu bestätigen, dass Ansgar Nünning "Mentalitäten" 1995 in dem Beitrag "Grundriss, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft" gemeinsam mit "Literatur" und "kulturellem Gedächtnis" als Grundlage seines kulturwissenschaftlichen Ansatzes benennt. Dabei fordert er auch die Rückbindung mentalitätshistorischer Aspekte an spezifisch literaturwissenschaftliche Parameter ein: Wenn man 'Kultur' als jenes komplexe mentale Programm definiert, dessen Anwendung die Auswahl relevanter Themen und adäquater Ausdrucksmittel steuert, dann gibt umgekehrt die Analyse der thematischen Selektionen und der literarischen Formen, die für eine bestimmte Gattung oder Zeit kennzeichnend sind, Aufschluß über die mentalen Dispositionen der entsprechenden Epoche. Die Kultur einer Gesellschaft zu erforschen heißt somit, ihr mentales Gesamtprogramm zu rekonstruieren, das sich in kulturellen Phänomenen manifestiert. 26
23
Ein solcher Zugang fugt sich ein in den lateinamerikanischen Forschungskontext, denn sowohl in Chile als auch in Argentinien besteht großes Interesse an mentalitätsgeschichtlich orientierter Geschichtsschreibung. Cf. Fernando Devoto/Marta Madero, Historia de la vida privada en la Argentina. Bd. 1: Pais antiguo. De la colonia a 1870, 1999; Rafael Sagredo/Cristiän Gazmuri, Historia de la vida privada en Chile. Bd. 2: El Chile moderno. De 1840 a 1925,2006. 24 Jöckel 1987, 151. 25 Jöckel 1987, 172. 26 Cf. Nünning 1995, 180. Cf. hierzu auch Voßkamp 2008, der "Kunst als medial bestimmte Kommunikationskultur" (78) sieht, wobei eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft dem "Überschuss an literarischen und künstlerischen Formen" gerecht werden soll: "Geht man von diesem Überschusscharakter aus, wird deutlich, dass eine Funktionsgeschichte der Literatur im kulturwissenschaftlichen Zusammenhang den besonderen ästhetischen Status der Literatur ernster zu nehmen hat als das in Konzepten der Diskurs- und Mentalitätsgeschichte der Fall ist. Die künstlerische Formenvielfalt einer Epoche dürfte stets größer sein als die Zahl der nachweisbaren Funktionen. Das prinzipiell >Unverfiigbare< der Literatur bleibt die 21
Die vorliegende Studie begreift den Roman demnach als ein solches, in ausgesprochen vielfältiger Perspektivierung funktionierendes "Medium kultureller Sinngebung": Ein besonders geeignetes Paradigma für funktionsgeschichtlich orientierte Untersuchungen kultureller Phänomene ist der Roman, dessen gattungsspezifisches Reintegrationspotential sich keineswegs auf die thematische Aufnahme und Zusammenfügung verschiedener Spezialdiskurse beschränkt. Vielmehr gehört auch die Verarbeitung eines breiten Spektrums fiktionaler und nicht-fiktionaler Textsorten seit den Anfängen des Romans zu den Merkmalen dieser Gattung. Der Roman konnte im 18. Jahrhundert nicht zuletzt deshalb zu einem einflußreichen Medium kultureller Sinngebung avancieren, weil sich diese Gattung aufgrund ihrer flexiblen narrativen Formen und ihres polyphonen und dialogischen Charakters (im Sinne Bachtins) vorzüglich als Forum für die Verarbeitung konkurrierender Diskurse eignete. Daher stellen sich die Fragen, welche erkenntnistheoretischen, moralphilosophischen, staatstheoretischen, politischen, sozialen und feministischen Fragen in der Fiktion erzählerisch verarbeitet wurden, wie sich der Roman mit den Diskursen der damaligen Gesellschaft auseinandersetzte und inwiefern die narrativen Formen der Romane veränderte Wirklichkeitsauffassungen reflektierten oder selbst erzeugten. 17
In dieser historischen Dimension gibt die literarische Verarbeitung des sozialen Alltags in Romanen Aufschluss über Wertorientierung und Verhaltensformen gesellschaftlicher Gruppen. Indem soziale Interaktionen beschrieben werden, die Rückschlüsse zulassen über die dem Handeln zugrundeliegende Mentalität, erschließen sich soziale "Orientierungsangebote" 28 für den Leserkreis. Und auch zu uns aktuellen Leserinnen und Lesern sprechen die Texte über das Alltagsleben ihrer Zeit, über Familie, gesellschaftlichen Status, Religion, Geschlechterverhältnis, Stadt, Provinz, Bildung, soziale Konventionen, materielle Verhältnisse, die Beziehung zu europäischen Lebensweisen und vieles mehr. Literarische Texte sind Repräsentationen, die eine ohnehin medialisierte "Wirklichkeitsvorstellung" in eine literarische Form gießen und diese damit duplizieren. Das Wissen um die Konstrukthaftigkeit der fiktionalen Entwürfe steht daher als grundlegende Prämisse am Ausgangspunkt der vorliegenden Ausfuhrungen. Nicht zuletzt setzen sie sich zum Ziel, "durch die Analyse [...] der formalen Besonderheiten sprachlicher Realitätskonstruktion Aufschluss zu gewinnen über Kollektiworstellungen, Wahrnehmungsmuster und Mentalitäten". 29 Der hier verfolgte Zugang impliziert auch den Verzicht auf ein wertbestimmtes Literaturkonzept. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive lässt sich aus sogenannten Populärtexten zuweilen mehr herauslesen als aus der kanonisierten Höhenkammliteratur. Dies hat z.B. Jane Tompkins in ihrer dem New Historicism verpflichteten Untersuchung zur US-amerikanischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts überzeugend aufgezeigt. 30 Es geht nicht um die Suche nach den metanarratives, sondern um eine umfassende Situierung der narrativen
Herausforderung jeder Literaturgeschichte, die als Funktionsgeschichte der Literatur die Zusammengehörigkeit von Literatur- und Kulturwissenschaft evident machen will" (81). 27 Nünning 1995, 191. 28 Cf. Dinzelbacher 1992. 29 Nünning 1995, 179. 10 Cf. Jane Tompkins, Sensational Designs. The Cultural Work of American Fiction, 1790-1860, 1986.
22
Entwürfe in ihrem synchronen textuellen Zusammenhang und die hierdurch freigesetzte kulturelle Energie. Dies bedeutet auch in dieser Studie eine gewisse Deprivilegierung der im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehenden Romane zugunsten der Einbeziehung ihres jeweiligen kontextuellen Umfeldes. 31 "Diese NeuKontextualisierung macht sie [die Texte] auf neue Weise interessant und lebendig, lädt sie mit 'Energie' auf, und lässt das scheinbar autonome Werk als Teil einer Kultur erscheinen und an deren Verhandlungen (negotiations) teilhaben", so Moritz Baßler in seinem Beitrag über "New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies" aus der 2008 erschienenen Einfährung in die Kulturwissenschaften.12 Dieser Sammelband trägt mit dem Plural in seinem Titel der Tatsache Rechnung, dass sich die Diskussion um die Kulturwissenschaften in Deutschland mittlerweile zwar auf einige grundlegende Parameter verständigt hat, eine einheitliche, fest umrissene kulturwissenschaftliche Methode gleichwohl weiterhin nicht erkennbar ist.33 Das erklärt sich zum Teil durch die interdisziplinäre Anlage des Konzepts, rührt vor allem aber auch von der Tatsache her, dass Kulturwissenschaften in den jeweiligen nationalen und kontinentalen Forschungszusammenhängen in sehr unterschiedlicher Weise fokussiert werden. Der von Vera und Ansgar Nünning herausgegebene Band entspricht dieser Gemengelage insofern, als er in separaten, jeweils von Spezialisten in der Materie verfassten Beiträgen ein breites Spektrum kulturwissenschaftlicher Ansätze über die Kultursemiotik, die Kulturanthropologie, das Kollektive Gedächtnis bis hin zur Kulturökologie und Kulturwissenschaftlichen Xenologie skizziert. So wird erkennbar, wie sich im deutschen Forschungskontext inzwischen trotz aller Heterogenität eine eigenständige Vorstellung davon herausgebildet hat, was Kulturwissenschaft alles umfassen kann. Besonders verdienstvoll und auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand applizierbar erweist sich die Abgrenzung, welche sowohl Nünning als auch Baßler im Hinblick auf die so massiv auf den globalisierten Wissenschaftsbetrieb einwirkenden wie missverständlich rezipierten angelsächsischen Cultural Studies vornehmen. Sie warnen vor der gegenwärtig vorherrschenden Tendenz, die nur vor dem Hintergrund der multikulturellen Gesellschaft der USA verständlichen Debatten um race, class und gender bzw. um die Revision des Western Canon sowie die nur im Kontext der britischen Klassengesellschaft angemessen zu verstehenden Entwicklungen der britischen Form von Cultural Studies einfach in die verschiedenen Fremdsprachenphilologien zu >importieren< und bloß zu imitieren. 34
Für den lateinamerikanischen Forschungszusammenhang gilt diese Problematik ganz ähnlich. Dort bieten sich estudios culturales aufgrund der spezifischen Interkulturalität des Kontinents in vergleichbarer Weise an wie in den USA, wenn sie auch von den sozialen und politischen Zusammenhängen her anders zu fassen sind. Die kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten von 31 32 33 34
Cf. Baßler 2008, 134-36. Baßler 2008, 136. Cf. Nünning/Nünning 2008, XIV-XV. Nünning/Nünning 2008, XIII.
23
Néstor García Canclini und Jesús Martín Barbero stellen hier einen Ausgangsund Konvergenzpunkt zur angelsächsischen Variante dar.35 Garcia Canclinis Standardwerk Culturas híbridas verweist mit seinem Untertitel Estrategias para entrar y salir de la modernidad einmal mehr darauf, dass das Verhältnis Lateinamerikas zum Modemisierungsprozess bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das zentrale Paradigma ist. Sieht man also Cultural Studies als eine Ausprägung kulturwissenschaftlicher Analyse innerhalb eines heterogenen Feldes weiterer kulturwissenschaftlicher Ansätze, so ist offensichtlich, dass diese Richtung explizit gegenwartsbezogen agiert. Sie entstammt aus sehr spezifischen politischen und sozialen Rahmenbedingungen und entspricht darüber hinaus den massiven Entwicklungen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts im Medienbereich vollzogen haben. Ihre durchschlagende Wirkung verdanken die Cultural Studies nicht zuletzt dieser Betonung medialer Zusammenhänge für die kulturelle Praxis und der hiermit einhergehenden Absage an eine lediglich an hochkulturellen Erzeugnissen interessierte Literaturwissenschaft zugunsten des Einbezugs populärkultureller Phänomene. So können - und das interessiert im vorliegenden Zusammenhang - über die Integration von Medien- und Kommunikationstheorie auch neue Zugänge zu traditionellen Ausdrucksformen (Text, Roman) eröffnet werden. 36 Damit schließt sich der Kreis der hier versuchten methodischen Situierung im Rahmen der Probleme und Möglichkeiten kulturwissenschaftlicher Zugänge. Meine Studie appliziert diese Standards, die sich in den unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Programmen der letzten Jahrzehnte herausgebildet haben, auf ihren historischen Gegenstand. In einem Gestus umfassender Kontextualisierung soll ein kulturwissenschaftlicher Ansatz verfolgt werden, der auf mentalitätsgeschichtliche und diskursanalytische Prämissen zurückgreift, wie sie sich etwa im New Historicism manifestieren, aber auch die Überlegungen zur medialen Verfasstheit der kulturellen Praxis in den Blick nimmt, wie sie in den britischen
35 Cf. Néstor García Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de ¡a modernidad, 1990; Jesús Martín-Barbero, De los medios a las mediaciones. Comunicación, cultura, hegemonía, 1987. 36 Gleichzeitig ist mit Blick auf die deutsche Tradition zu vermerken, dass vor allem mit der Trivialliteraturforschung im Rahmen der sozialgeschichtlichen Orientierung der 1970er Jahre ausgesprochen brauchbare Konzepte geliefert worden sind, die zu dieser Entwicklung parallel laufen. Zunächst das Fernsehen und anschließend das Internet haben die Integration medialer Fragestellungen zwar forciert, aber keineswegs erst hervorgebracht. Nach Martin Huber und Gerhard Lauer reagieren sie auf "Standards [...], die eine von den historischen Sozialwissenschafien angeleitete Literaturwissenschaft längst vorgeben hat": "Was an Forschung etwa zum Kolportageroman erbracht worden ist, zum Almanach oder zur klandestinen Literatur, zu den Distributionsformen der Leihbibliotheken und Verlage, dem Leseverhalten in unterschiedlichen Milieus und Zeiten wäre mit Blick auf die neuen Medien, vornehmlich das Internet fortzusetzen. [...] Das Beispiel der Medien markiert insofern ein, wenn nicht das Feld, auf dem eine fruchtbare Modernisierung sozialgeschichtlicher Ansätze stattfinden kann" (Huber/Lauer 2000, 4-5). Im romanistischen Zusammenhang wäre hier zudem auf die Untersuchungen zum französischen Feuilletonroman zu verweisen. Cf. Neuschäfer 1976, Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter 1986, Chartier/Lüsebrink 1996, Türschmann 2003.
24
Cultural Studies, ebenso wie im deutschen Forschungszusammenhang von Siegfried J. Schmidt als "Medienkulturwissenschaft" konzeptualisiert wurden.37 So kommt etwa das Insistieren auf der Nützlichkeit jedweder, auch "unmoralischer" Romanlektüre, wie es z.B. bei Sarmiento zu beobachten ist, den konstruktivistischen medienpädagogischen Auffassungen der Cultural Studies überraschend nah.38 Diese Verortung impliziert weiterhin die Deprivilegierung des literarischen Textes durch Einbeziehung weiterer, nicht-ästhetischer Text- und Diskursformen,39 die Infragestellung der Dichotomie von Hoch- und Populärliteratur sowie eine gewisse "Skepsis gegenüber abstrahierenden Metanarrationen".40 Auf der Grundlage der beschriebenen Ausgangssituation soll der Roman als ein Teilbereich literarischen Handelns an ausgewählten Beispielen möglichst umfassend dargestellt werden, d.h. mit allen Implikationen, die ihn im Unter-
37
Diese ebenfalls mit einem konstruktivistischen Zugriff arbeitende und die Prozessualität kultureller Identität in den Vordergrund rückende Richtung wird an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert, sondern lediglich als Ausdruck der analog zur Entwicklung der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum erfolgten Bemühungen um eine medienwissenschaftlich orientierte Literatur- und Kulturwissenschaft angeführt. Auch durch sie wurde der in dieser Arbeit gewählte Zugang geprägt. Einen aktuellen Überblick gibt Siegfried J. Schmidt, "Medienkulturwissenschaft", in Nünning/Nünning 2008, 351-69: Als generalisierte Perspektiven der Medienkulturwissenschaft nennt Schmidt "die Erarbeitung eines konsensfähigen allgemeinen Medienbegriffs, Probleme der Kopplung von Kognition und Kommunikation durch Medien bzw. Medienangebote, die Geschichte der Wahmehmungsmodifikationen durch die spezifischen Konstruktions- und Selek-tionsbedingungen der einzelnen Medien, Konstanten der Medienevolution, die Entstehung und Funktion komplexer Mediensysteme in unterschiedlichen Gesellschaftstypen und Entwicklungsformen, den Zusammenhang zwischen Mediensystemen und der Ausdifferenzierung von Kulturen als Programme gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, etc." (Schmidt 2008,367). 38
"Aprender a leer es obra larga y penosa. Por no mascar las palabras, por ahorrarse la mortificación que cuesta seguir el sentido [...] millares no leen. Sólo la novela folletín ayuda a vencer esta dificultad y la vence [...] La novela y los diarios han cumplido esa función [...]. Soulié, Dumas, Balzac, han estado enseñando a leer a la América del Sur, que para leer sus novelasfolletines se ha convertido en una vasta escuela. Dios se lo tenga en cuenta, mal que les pese a los moralistas, que no saben qué 'pero' ponerles aun a las buenas novelas. Las novelas corrompen las costumbres; exaltan las pasiones [... ] y la demás retahila que todo el mundo sabe de memoria, a fuerza de oírla en el pulpito y aun en la sociedad laica. Yo - e n cambio- absuelvo de toda culpa [a las novelas] hasta a las malas pues ellas nos han enseñado a leer y han sido, en consecuencia, útiles y serviciales al cultivo de la inteligencia." Domingo Faustino Sarmiento, "Bibliotecas Populares", zit. nach Subercaseaux 1993, 60. Cf. auch Domingo Faustino Sarmiento, "Las novelas" (1856). Zur medienpädagogischen Implikation der konstruktivistischen Cultural Studies cf. Winter 2004: "Sie [die Cultural Studies] verabschieden nicht das Subjekt, sondern es geht ihnen um eine Stärkung seiner 'Agency', seiner Handlungsfähigkeit [...]. Wie die Arbeiten von Henry Giroux, Douglas Kellner, Peter McLaren und anderen zeigen, sollten Medien- und Kulturanalysen im Rahmen von Cultura! Studies immer auch verknüpft sein mit einer kritischen Pädagogik, die der impliziten Pädagogik medialer Texte opponiert und eine produktive Auseinandersetzung intensivieren oder erst ermöglichen möchte. Dabei wird der Alltag als 'contested terrain' bestimmt, der auf einen kollektiven Dialog hin geöffnet werden soll, damit viele unterschiedliche Stimmen sich artikulieren können, um eine demokratischere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen." 39
Cf. Voßkamp 2008, 77. Baßler 2008, 139. Baßler bezieht sich hier konkret auf Raymond Williams' Materialism, der bei ihm ebenfalls als Unterkategorie der Cultural Studies erscheint.
w
Cultural
25
suchungszeitraum betreffen. 41 Dabei geht es nicht nur um die dargestellten Inhalte, sondern auch um die Pragmatik der Romanproduktion wie -rezeption und um den Stellenwert des Romans in seiner Materialität in der kreolischen Gesellschaft. All dies mit einem vorurteilslosen Blick auf die intertextuellen Bezugnahmen, die bisher vornehmlich als Mangel an Eigenständigkeit gesehen wurden. Der Fokus auf die "nationalen" Qualitäten von Literatur wie auch die Wertung von (häufig von Frauen verfassten) Texten als "Populärliteratur" haben in diesem Zusammenhang Ausschlussmechanismen in Gang gesetzt, die das Erkennen der mentalitätsgeschichtlichen Dimension des Romans als kulturelle Praxis gerade auch im Abgleich mit außeramerikanischen Referenzen verstellt haben können. Dies impliziert ein Abgehen von den wenigen kanonisierten Texten der chilenischen und argentinischen Romanliteratur mit dem Ziel, dem gesellschaftlichen Teilbereich "Roman" eine breitere Basis zu verleihen. Es ist zu fragen, wie die in den Romanen zur Darstellung gebrachten sozialen Interaktionen und Reflexionen in ihrem Zusammenwirken hinweisen auf die Mentalität der kreolischen Eliten als "das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist".42 Darüber hinaus wird zu zeigen sein, wie die gesellschaftlichen Funktionszuweisungen von Romanproduktion und -rezeption ebenfalls dem in der Mentalität begründeten Bedingungsgefüge unterliegen. Es geht also nicht nur um die sprachlich-literarischen Überlieferungen, sondern auch um ihre materielle Präsenz. 43 Die Untersuchung des Romandiskurses bezieht sich daher "nicht auf einen vagen Zeitgeist, sondern bindet Gefühls- und Denkstrukturen eng an konkrete soziale Gruppen". 44 Die über Romane inszenierten Lebensentwürfe wie auch der gesellschaftliche Umgang mit dem Roman bleiben an die kreolischen Eliten in den lateinamerikanischen Zentren gebunden. Die Romanproduktion des 19. Jahrhunderts ist sowohl für Argentinien als auch für Chile weitgehend vollständig erfasst. 45 Auf der Grundlage dieser eher quantitativ orientierten und deskriptiv gehaltenen Studien ist es nun möglich, ausgewählte Texte im Hinblick auf ihre konkreten gesellschaftlichen Stellungnahmen, ihre Intertextualitäten und ihre Funktion in der kulturellen Praxis, im 41
Literarisches Handeln umfasst nach Wild den "Gesamtbereich der Produktion und Rezeption von Literatur" (Wild 1996, 76) und ist als Teilbereich zivilisatorischen Handelns zu verstehen. Wilds kulturwissenschaftliches Konzept von Literaturwissenschaft ist der Zivilisationstheorie von Norbert Elias verpflichtet und weist zentrale Berührungspunkte zum mentalitätshistorischen Zugang auf. 42 Dinzelbacher 1993, XXI. 43 Hier ergibt sich ein weiterer Berührungspunkt zur Mentalitätsgeschichte: "Indem die M[entalitätsgeschichte] das Augenmerk u.a. auf die kulturellen Artefakte und Gebrauchsgegenstände aller Art lenkt, kann sie zudem dort als ergänzendes Korrektiv fungieren, wo sich die historische Diskursanalyse einseitig auf die sprachlich-literar[ische] Oberlieferung konzentriert" (Simonis 1998,359). 44 Jockel 1987, 157. 45 Für den chilenischen Zusammenhang liegt die beeindruckende Bestandsaufnahme von Foresti et al. vor, deren hier maßgeblicher erster Band 1999 erschien. Im argentinischen Fall übertrifft die Untersuchung von Lichtblau aus dem Jahr 1959 in ihrer Vollständigkeit immer noch die jüngeren Studien. Cf. weiterhin Lichtblaus The Argentine Novel. An Annotated Bibliography (1997).
26
Literaturbetrieb und in der sich entwickelnden Medienlandschaft zu analysieren. Die Herangehensweise basiert zum einen auf einem semiotischen Modell der Textanalyse, das in seiner pragmatischen Dimension, d.h. auf der Grundlage der ursprünglichen Kommunikationssituation, den gesamten literarischen Kommunikationsprozess aufarbeitet, und zwar unter Einbezug formaler wie inhaltlicher Gesichtspunkte und deren Korrelation. So können literarische Zuordnungen, etwa im Spannungsfeld von Romantik und Realismus, ebenso überprüft werden wie historische Zusammenhänge, z.B. die soziale Durchlässigkeit der dargestellten Gesellschaftsformationen. Die Zusammenschau dieser Bereiche soll letztlich darüber Aufschluss geben, wie "über die Untersuchung der Poetik von Texten Einsicht in jene Konstruktionsmechanismen historischer Wirklichkeitsmodelle" gewonnen wird, "die in einem bedeutungsorientierten und konstruktivistischen Kulturbegriff impliziert sind". 46 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass eine derartige Fokussierung auf den Roman, wie er sich in Europa im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, im Hinblick auf die kulturellen Bedingungen in Lateinamerika nicht ganz unproblematisch erscheint. Völlig zu Recht hat Roberto González Echevarría darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen von ihm als conventional novéis bezeichneten Texten um einen europäischen "Import" handelte und die Literaturgeschichte folglich einer eurozentrischen Perspektivierung unterlag, indem sie ihre Diagnostik über die Entwicklung des Romangenres an diesen Texten ausrichtete. 47 Den spezifischen lateinamerikanischen Gegebenheiten kann wohl am ehesten eine Herangehensweise gerecht werden, die den Roman als transkulturiertes Genre in den Blick nimmt. 48 Denn dass die Gattung in der Projektion der lateinamerikanischen
46
Nünning 1995, 188. "I am aware that the canon of Latin American literary history places conventional novels such as Amalia and Maria at the centre of the evolution of Latin American Narrative. This is an uncritical copy of European literary history which veils the fact that the most significant narratives, the ones that had a powerful impact on those that followed in the twentieth century, were not novels copied from European models, as Mármol's and Isaac's texts were, but issue from the relationship with the hegemonic discourse of the period, which was not literary, but scientific" (González Echeverría 1990, 12). 48 Der Begriff der Transkulturation wurde 1940 von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz geprägt und von Ángel Rama auf die lateinamerikanische Erzählliteratur angewendet. In Abgrenzung zum Begriff der Akkulturation i.S.v. Anpassung ist damit eine dynamischere Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Gruppen gemeint: "Esta concepción de las transformaciones [...] traduce visiblemente un perspectivismo latinoamericano, incluso en lo que puede tener de incorrecta interpretación. Revela resistencia a considerar la cultura propia, tradicional, que recibe el impacto extemo que habrá de modificarla, como una entidad meramente pasiva o incluso inferior, destinada a las mayores pérdidas, sin ninguna clase de respuesta creadora. Al contrario, el concepto se elabora sobre una doble comprobación: por una parte registra que la cultura presente de la comunidad latinoamericana (que es un producto largamente transculturado y en permanente evolución) está compuesta de valores idiosincráticos, los que pueden reconocerse actuando desde fechas remotas; por otra parte corrobora la energía creadora que la mueve, haciéndola muy distinta de un simple agregado de normas, comportamientos, creencias y objetos culturales pues se trata de una fuerza que actúa con desenvoltura tanto sobre su herencia particular, según las situaciones propias de su desarrollo, como sobre las aportaciones provenientes de fuera. Es justamente esa capacidad para elaborar con originalidad, aun en difíciles circunstancias históricas, la que demuestra que pertenece a una sociedad viva y creadora, rasgos 47
27
Kulturschaffenden eine bedeutende Rolle spielte, ist ja offensichtlich. Entscheidend ist nicht, dass sie das Genre übernommen haben, sondern was sie daraus gemacht haben, wie sie es den autochthonen Bedingungen angepasst haben und welche diskursiven Überkreuzungen hierbei entstanden sind. 49 So hat etwa Aníbal González gezeigtt, wie sich die frühen Erzähltexte des lateinamerikanischen Subkontinents der expliziten Mitteilungsfunktion des Journalismus bemächtigten. 50 Adolfo Prieto brachte seinerseits die frühe argentinische Literatur mit den Berichten britischer Reisender in Verbindung und nahm damit eine These von González Echevarría auf, der in Myth and Archive ebenfalls die Reisebeschreibung als ein besonders prägendes Register für Lateinamerika benannt hatte.51 Mary Louise Pratt hat diese Linie ebenfalls verfolgt und lateinamerikanische Reiseliteratur unter Rückgriff auf das Konzept der Transkulturation untersucht. Sie formulierte in diesem Zusammenhang den Begriff der autoethnography, der auch auf das Romangenre appliziert werden kann: Geleitet durch den fremden Blick der europäischen Reisenden auf das lateinamerikanische Eigene setzt sich der Diskurs des Reisegenres in den Konstruktionen eigener Lebensweltlichkeit in gewisser Weise fort. 52 So ist die frühe lateinamerikanische Romanpraxis ähnlich imagologisch geprägt wie die in Edward Saids berühmter Studie Orientalism analysierten westlichen Orientrepräsentationen. 53 In den letzten Jahren ist außerdem wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Beschäftigung mit der kulturellen Entwicklung der lateinamerikanischen Regionen im 19. Jahrhundert die Einbeziehung weiterer Textformen und die Ausweitung auf den gesamten literarischen Kommunikationsprozess verlangt. Die Aufmerksamkeit hat sich damit von den Erzähltexten weg zu der vielfältigen Produktion in Zeitschriften und Almanachen, vom Text weg zur Entwicklung des que pueden manifestarse en cualquier punto del territorio que ocupa aunque preferentemente se los encuentre nítidos en las capas recónditas de las regiones internas" (Rama 2007, 39-40). 49 Antonio Benítez Rojo hat in diesem Zusammenhang den Begriff der "expropriation" geprägt: "In reality, it can be said that they were nationalized, understanding here that 'nationalization' is the expropriation of a foreign discourse by subjects (writers) of a nation for the purpose of transforming it so that it may serve the nation (the literary tradition). As a result, references to the European novel found in Spanish American narratives ought not to be seen as the result of desinterested, accidental, passive, or merely imitative intertextual relationships, but, on the contrary, as the product of utilitarian relationships (expropriation) providing benefits (prestige, authority, power) to the economy of the national novel" (Benítez Rojo 1996, 429). Dieser Zugang reduziert die Romanpraxis zwar einmal mehr auf das Postulat nationalliterarischer Identitätskonstruktion, überzeugt aber in Anbetracht seiner offensiven Konzeptualisierang. 50
Cf. Aníbal González, Journalism and the Development of Spanish American Narrative, 1993, weiterhin González 2006. 51 Cf. Adolfo Prieto, Los viajeros ingleses y la emergencia de la literatura argentina 1820-1850, 1996. Cf. González Echeverría 1990. 52 Cf. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, 1992. 5 ' Cf. Edward Said, Orientalism, 1978. Im Hinblick auf Lateinamerika ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit der literarischen Repräsentation der indigenen Bevölkerung ein anschauliches Beispiel. Hier wird in der Tat deutlich, wie sehr die Darstellungen literarischen Vorlagen meist europäischer Provenienz, und zwar in erster Linie Chateaubriand, und dem Topos des bon sauvage verpflichtet sind, und wie wenig, trotz aller programmatischer Beteuerungen, tatsächliche autochthone Gegebenheiten zugrunde gelegt werden: "the referents proposed as autochthonous in any novel [...] are mediated by the anthropological discourse of the other" (Benítez Rojo 1996,425).
28
Lesepublikums verlagert. So optiert etwa Juan Poblete für die Reintegration "de vastos sectores discursivos cuyas prácticas constituyeron en su momento parte integral de 'las letras' del XIX" und letztlich für die Einbeziehung der Lektürepraxis: Del mismo modo dicha destextualización/desestetización lleva a pensar en las formaciones lectoras como complemento fundamental de las formaciones discursivas (en su sentido restringido) que un enfoque textual reductor ha privilegiado siempre. Si logramos desasirnos del énfasis exclusivo en el polo "productor", comprendemos de inmediato que la Literatura (como institución social existente en un momento determinado) no es sólo y ni siquiera principalmente, un grupo de textos (cerrados) sino el resultado "conceptual" de un conjunto de relaciones sociales operantes en prácticas que incluyen, pero que no se agotan en la escrituaria. Entre otras prácticas destacan, por sobre todas, las de lectura. 54
Die Erträge dieser Neuorientierung sind ausgesprochen produktiv.55 Sie tragen der Einsicht Rechnung, dass die Suche nach nationalliterarischen Glanzlichtern den Blick auf einen sehr viel diversifizierteren kulturellen Diskurs über lange Zeit verstellt hat. Mit Blick auf die koloniale Vergangenheit gewinnt diese massive Ausweitung des Lesepublikums übrigens besonderes Gewicht: Die Tatsache, dass in der ciudad letrada nicht nur die Schrift, sondern auch die Lektüre den letrados vorbehalten war, dass die Lektüre der Bibel der Bevölkerung bis Mitte des 18. Jahrhunderts verboten war, veranschaulicht die Kraft der kulturellen Dynamik nach der Unabhängigkeit in aller Deutlichkeit. Insofern erklärt sich auch die Vehemenz, mit der die lateinamerikanischen Literaturschaffenden auf der Erziehung insistierten, was sich, wie im Verlauf der Untersuchung deutlich werden wird, in der Romanpraxis in vielfältiger Weise niederschlug.56 Der für das neue Publikum bereitgestellte Lesestoff bestand in nicht geringem Maße eben aus Romanen, so dass das Genre im kulturellen Prozess dann doch wieder beträchtlich an Gewicht gewinnt. Folgerichtig widmet Susana Zanetti ihre Untersuchung zur Lektürepraxis im 19. Jahrhundert explizit den "lectoras y lectores de novela en América Latina": ¿Por qué atender especialmente a la lectura de la novela? Seguramente, mi interés y mi trabajo con ciertos textos guió mi elección. Sin embargo es evidente que se trata de un género moderno, preferido por esas masas urbanas que hacían también su paulatina aparición, un género que se convierte en respetable mientras avanzan las tres primeras décadas del XIX. En América Latina la concreción de una novela con rasgos propios fue mucho más lenta que en Europa o los Estados Unidos. De todos modos, el género ganó un público integrado por distintas capas sociales, si bien en general inserto en los marcos más o menos amplios y lábiles de la llamada gente decente. 57
54
Poblete 1997, 262-63. Cf. z.B. die Studien von Graciela Batticuore (2005), Juan Poblete (2003) oder Susana Zanetti (2003). 56 Cf. Rama 1984. "Junto a la palabra libertad, la única otra clamoreada unánimente, fue educación, pues efectivamente la demanda, no del desarrollo económico [...], sino del aparato administrativo y, más aún, del político dirigente, hacía indispensable una organización educativa (58)." Cf. auch 62: "Simón Rodríguez razonó que las repúblicas no se hacen 'con doctores, con literatos, con escritores' sino con ciudadanos, tarea doblemente urgente en una sociedad que la Colonia no había entrenado para esos fines." 57 Zanetti 2003, 109. 55
29
Wenn sich die hier vorgelegte Studie auf Romantexte konzentriert, so ist dies weniger auf die Bedeutung des Genres als hochkultureller Gradmesser oder als Exponent nationalliterarischer Identität zurückzuführen als vielmehr auf das Potential, das die Textsorte als Ausdruck von Lebensart in der kulturellen Praxis des 19. Jahrhunderts generiert. In der integrierten Bearbeitung sowohl der textuellen Verfasstheit, der intertextuellen Elemente als auch der extratextuellen Bedingungsfaktoren unterscheidet sich die Untersuchung von den bisher gewählten Zugängen, die meist einen dieser Aspekte favorisiert haben. Die Romananalysen umfassen innerhalb der Teile zu Argentinien bzw. Chile jeweils zwei chronologisch angeordnete Kapitel, in denen wiederum anhand der Analysen zweier exemplarischer Romane und ihres Umfeldes zentrale Aspekte der Romanpraxis aufgearbeitet werden. Diese Kapitel sind als in sich abgeschlossene Einheiten konzipiert, bei denen die jeweils hervortretenden innerund außertextlichen Faktoren zur Sprache kommen. Die Auseinandersetzung mit der chilenischen Romanproduktion setzt ein mit Texten aus den 1840er und 1850er Jahren, die dem europäischen Erfolgsrezept des Feuilletonromans verpflichtet sind und dennoch - in unterschiedlicher Ausformung - maßgebliche autochthone Akzentuierungen erkennen lassen. Emma y Carlos (1848) von Bernabé de la Barra enthält mit seiner Inszenierung des Unglücks zweier jugendlicher Liebender das ganze Spektrum an "elementos folletinescos-sentimentales". 58 Der Roman wird daraufhin untersucht werden, inwiefern er den selbst formulierten Anspruch der "novela orijinal chilena" trotz der europäischen Szenerie und des narrativen Schematismus zumindest ansatzweise einzulösen vermag. Vor allem aber steht der Text paradigmatisch für die narrativen Muster seiner Zeit und soll abgeglichen werden mit zeitgleich erscheinenden literaturkritischen Texten zur Situation des Romans in Chile. Los misterios de Santiago (1858) von José Antonio Torres verweist bereits im Titel auf Eugène Sues Mystères de Paris (1842/43) und damit auf den Sensationserfolg des französischen Feuilletonromans, so dass mit dieser intertextuellen Relation ein zentrales Element der zeitgenössischen Romanpraxis diskutiert werden kann. Dabei wird deutlich werden, dass der Entwurf von José Antonio Torres in produktiver Aneignung von Sue weit mehr bezieht als nur die feuilletonistische Erfolgsgarantie - die seinem Text auch keineswegs beschieden war. Für eine zweite Phase des chilenischen Romanschaffens stehen Romane, die 1860 im Rahmen eines literarischen Wettbewerbs der Universidad de Chile entstanden sind. Alberto Biest Ganas prämierter Beitrag La aritmética en el amor wird gemeinhin zur Geburtsstunde des chilenischen Romans erklärt. Der Entstehungszusammenhang des "Certamen" verweist dabei deutlich auf die gesellschaftliche Funktionalisierung des Romangenres und die an es herangetragenen Erwartungen, die anhand des Gutachtens einer hochkarätigen
58
30
Foresti et al. 1999, 205.
Jury zur Sprache kommen werden. Rosario Orrego optiert mit ihrem Roman Alberto el jugador wie Biest Gana fur die novela costumbrista und inszeniert mit dem Pseudonym "Una madre" explizit einen auf moralische Integrität bedachten Weiblichkeitsentwurf. Auch das in Alberto el Jugador präsentierte gesellschaftliche Szenario wird im Hinblick auf das genderirtg ihres Romanschaffens zu kontextualisieren sein. Die politischen Spannungen in Argentinien wirkten sich derart auf das Romanschaffen aus, dass zunächst keine dort angesiedelten gesellschaftlichen Szenerien entstanden sind.59 Bartolomé Mitre situierte seinen Roman Soledad (1847) in Bolivien und thematisierte die Unabhängigkeitskämpfe auch mit Blick auf die autochthonen Verhältnisse am Rio de la Plata. Obwohl der Text aufgrund seiner auf eine historische Distanz von ca. zwanzig Jahren ausgelegten Handlungszeit etwas aus dem Rahmen fällt, steht er am Anfang der hier vorgestellten Reflexionen zum argentinischen Roman, weil die Inszenierung zeitgenössischer autochthoner Soziabilität gegenüber dem historischen Zusammenhang doch überwiegt, was nicht zuletzt auf die Bezüge zum französischen Gesellschaftsroman einer George Sand zurückzuführen ist. Auch der Protagonist von Miguel Cañés Roman Esther (1858) befindet sich fem der Heimat im italienischen Exil. Der Text ist jedoch von besonderem Interesse, weil er die Reiseerfahrung zur gesellschaftlichen und politischen Situation am Rio de la Plata in ein direktes Verhältnis setzt und gleichzeitig dazu dienen kann, die Bedeutung der Reiseliteratur für die argentinische Erzählpraxis hervorzuheben. Im Hinblick auf die materiellen Bedingungen des Romanschaffens wird hier zudem die Bedeutung des Romans als patrimonio cultural zu diskutieren sein, wie sie durch die Publikation von Esther in der Reihe "Biblioteca Americana" des Uruguayers Alejandro Magariños Cervantes zum Ausdruck kommt. Mit den Romanen El médico de San Luis (1860) von Eduarda Mansilla und El hogar en la pampa (1866) von Santiago Estrada wird die Ausformung bürgerlicher Gesellschaften mit der Besiedlung der Pampa-Region in Verbindung gebracht. El médico de San Luis ist in einem konkreten intertextuellen Bezug zur britischen domestic novel zu verorten, die gleichzeitig die Bedeutung Großbritanniens für das kulturelle Projekt des Río de la Plata unterstreicht. Beide Romane weisen eine ganz konkrete gesellschaftspolitische Funktionalisierung auf, die das género gauchesco, das die Pampa wenig später zum argentinischen lieu de mémoire werden lässt, um eine gesellschaftlich konstruktive Variante ergänzt. Mit dieser Auswahl sollte ein annähernd vollständiges Panorama jener Faktoren geboten werden können, die auf die frühe Romanproduktion im Cono Sur eingewirkt haben. Alle Texte haben einen Referenten, der sowohl den Verfassern der Romane als auch ihrem Publikum vertraut war. Historische Romane, Texte mit exotistischem Szenario und auch allegorische Erzählungen 59
Ausnahme ist Amalia (1851/55) von José Mármol. Dieser Text ist der Gruppe der Anti-RosasLiteratur zuzuordnen; er enthält zwar einige costumbristische Elemente, ist aber in erster Linie "la novela romántica de tema político más famosa del siglo" (Oviedo 1997,42).
31
wurden ausgenommen, da sie dem Fokus dieser Untersuchung nicht unmittelbar entsprechen. Die Studie verfolgt keine umfassende Erhebung aller verfugbaren Erzähltexte, sondern konzentriert sich auf eine differenzierende, detailliert kontextualisierende Analyse einzelner Romane. In Anbetracht der insgesamt reduzierten Romanproduktion des Untersuchungszeitraums wird mit dem vorliegenden Korpus jedoch ein Maß an Repräsentativität erreicht, das generalisierbare Aussagen zur argentinischen und chilenischen Romanpraxis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglicht.
32
3 . POLITISCHE, SOZIALE UND KULTURELLE RAHMENBEDINGUNGEN LITERARISCHEN HANDELNS
"Libertad en literatura como en las artes, como en la industria, como en el comercio, como en la conciencia. He aquí la divisa de la época..." Juan Bautista Alberdi 1 " L ' a m o u r pour principe et l'ordre pour base; le progrès pour but." Auguste Comte 2
3.1. Ciudadanía, sociabilidad, civilización: Liberalismus und Literatur Auf den ersten Blick scheinen Chile und Argentinien im 19. Jahrhundert nicht allzu viel gemein zu haben: Chile war seit Anfang der 1830er Jahre ein straff geführter, einheitlicher Nationalstaat, während die Gründung der Republik Argentinien, vornehmlich wegen Diskrepanzen und Spannungen zwischen der Hafenmetropole Buenos Aires und den Föderalprovinzen des Binnenlandes, bis 1862 auf sich warten ließ. Bei näherer Betrachtung lassen sich trotz dieser vermeintlich gegensätzlichen Situation jedoch Zusammenhänge ausmachen, die für beide Regionen in ganz ähnlicher Weise maßgeblich waren. Die demographischen Voraussetzungen, die technischen und infrastrukturellen Gegebenheiten sowie die Gesellschaftsstrukturen wiesen in den Jahrzehnten um die Jahrhundertmitte durchaus Entsprechungen auf, bevor gegen Ende der zweiten Jahrhunderthälfte in Argentinien jene massiven Immigrationswellen einsetzten, die dem Land ein völlig neues und im gesamten lateinamerikanischen Vergleich einzigartiges Gesicht gaben. Nach einer ersten Phase des liberalen Aufbruchs in den 1820er Jahren, in Chile geprägt durch die pipiolos, in Argentinien durch die unitarios, trat in beiden Ländern zunächst eine Veränderung der politischen Lage ein: In Chile begann nach der Niederschlagung der liberalen Regierung in der Schlacht von Lircay 1830 das "Régimen Portaliano", eine Phase konservativer Politik des wie ein caudillo agierenden Ministers Diego Portales, die nach der Ermordung von Portales 1837 als "República Autoritaria" bis 1861 durch drei aufeinanderfolgende doppelte Amtsperioden chilenischer Präsidenten von jeweils zehn Jahren fortgeführt wurde (Joaquín Prieto, 1831-1841; Manuel Bulnes, 1841-1851; Manuel Montt, 1851-1861). Sie verschafften dem Land jene für Lateinamerika so außergewöhnliche politische Stabilität. Das zentralistische Staatssystem erlaubte den Präsidenten die Ämterbesetzung und auch die Erlassung von Notstandsgesetzen. Hinzu kam ein stark eingeschränktes Wahlrecht, so dass der Unmut von liberaler Seite im Hinblick auf diese politische Organisation entsprechend "Algunas vistas sobre la Literatura Americana", Revista de Valparaíso, 1842). Zit. nach Stuven 2 0 0 0 , 2 1 3 . Catéchisme positiviste ou Sommaire exposition de la religion universelle
tomo I, no 6 (julio de (1909 [1852], 58).
33
ausgeprägt war. 3 Mit Beginn der Regierung Bulnes entspannte sich 1841 die Situation, und viele Oppositionelle schöpften neue Hoffnung, da vor allem im Erziehungswesen wichtige Schritte unternommen wurden. 4 Der radikalere Flügel sorgte jedoch für Aufregung mit antiklerikalen Positionsnahmen und mit massiverer Forderung nach politischer Partizipation. Liberale Intellektuelle und Handwerker organisierten sich unter dem Einfluss der französischen Revolution von 1848 in der Sociedad de la Igualdad. Die Konflikte mündeten 1851 in einen Bürgerkrieg und hatten nach dessen Beendigung politische Repressalien seitens des neuen Präsidenten Montt zur Folge, der sich aufgrund seines harten Durchgreifens unter den Liberalen viele Feinde machte. Ein wichtiger Konfliktpunkt war die Religion, sichtbar etwa an der heftigen Diskussion um die Wiederzulassung des Jesuitenordens 1854. Religiöse Streitigkeiten führten zur sogenannten "Fusión Liberal-Conservadora", in der sich 1858 gemäßigte Liberale mit Anhängern der Konservativen zusammenschlössen. Der Widerstand antiklerikaler und radikaler Liberaler im Umfeld der Zeitschrift La Asamblea Constituyente führte zu politischer Repression, und am Ende der Präsidentschaft Manuel Montts kam es zu einem zweiten, auch von den nach Reformen strebenden Minenbesitzern des Nordens unterstützten militärischen Konflikt. Argentinien erfuhr nach der liberalen Phase unter Bernardino Rivadavia, seit 1821 Minister und 1826 bis 1827 erster Präsident der Vereinigten Provinzen des Rio de la Plata, zwei Perioden autoritärer Herrschaft durch Juan Manuel de Rosas, Anhänger der federales und 1829-1832 sowie 1835-1852 Gouverneur von Buenos Aires. Die konservativen federales und die liberalen unitarios standen sich sowohl in weltanschaulicher Hinsicht als auch aufgrund gegensätzlicher wirtschaftlicher Interessen gegenüber: Die federales, in der Hauptsache Viehzüchter des argentinischen Binnenlandes, forderten ein protektionistisches Wirtschaftssystem, während die mit Buenos Aires verbundenen unitarios für größtmöglichen wirtschaftlichen Liberalismus und eine zentralistische Organisation Argentiniens eintraten. Vor allem aber zeichneten sich die unitarios durch eine kompromisslose Orientierung an Europa aus und forderten massiv die europäische Immigration. Dies implizierte eine gewisse religiöse Toleranz, die wiederum im Widerspruch stand zur Stärkung des Katholizismus unter Rosas und seinen Auswirkungen auf das Erziehungswesen. Aus der Sicht der unitarios bedeutete das Rosas-Regime nicht weniger als den Rückfall in koloniale Verhältnisse. 1852 wurde Rosas in der Schlacht von Caseros besiegt. Danach setzte die "Organización Nacional" ein, die von Konflikten zwischen dem zeitweise unabhängigen Buenos Aires und den restlichen föderierten Provinzen bestimmt war. Es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen (Cepeda 1859, Pavón 1861), bevor 1862 die nationale Einigung und die Gründung der Republik Argentinien erfolgte.
3 4
34
Cf. Miller 1992,640-41. Cf. Collier/Sater 1996,104.
Die Situation in Argentinien und Chile ist auch insofern vergleichbar, als sich beide Länder über einige Jahrzehnte hinweg unter autoritaristischen Regierungen befanden, die zumindest dem politischen Chaos entgegenwirkten. 5 Wenn auch die Härte der Repression unter Rosas zur politischen Situation in Chile in keinem Verhältnis stand, so befanden sich die liberalen Kräfte doch in beiden Regionen in der Opposition und waren Repressalien in Form von Pressezensur, Verfolgung und Exil ausgesetzt. 6 Diese Umstände bewirkten eine außerordentliche Mobilität der oppositionellen Eliten, sie trafen nicht nur in den lateinamerikanischen Zentren zusammen, sondern unternahmen auch Überseereisen und kamen so mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa und vornehmlich in Paris unmittelbar in Berührung. Zugleich ergaben sich aufgrund der intensiven Handelsbeziehungen enge Verbindungen zu europäischen Handelshäusern und eine ausgeprägte Präsenz von Briten und Franzosen vor allem in den Hafenstädten Buenos Aires und Valparaiso. Sie brachten nicht nur europäische Kultur- und Konsumgüter mit, sondern waren vor allem auch maßgeblich an der technischen Entwicklung in den lateinamerikanischen Ländern beteiligt. Das Dampfschiff verkürzte die Dauer einer Überseereise ab 1843 auf drei bis vier Wochen, und seit etwa Mitte des Jahrhunderts gelangten so wichtige technologische Neuerungen wie die Eisenbahn, die Gasbeleuchtung und der Telegraph nach Lateinamerika. Die Gründung der ersten Banken ist ein wichtiger Markstein kapitalistischer Modernisierung. Sowohl in Argentinien als auch in Chile begann Anfang der 1860er Jahre eine Phase politischer Erneuerung: In Chile waren Anhänger der liberalen Partei am Regime des Präsidenten José Joaquín Pérez ( 1 8 6 1 - 1 8 7 1 ) beteiligt, und in Argentinien bestimmten in der vereinigten Republik Argentinien maßgebliche Vertreter der vormaligen liberalen Opposition wie Mitre oder Sarmiento das politische Geschick. Auch wenn im Verlauf der jeweiligen politischen Prozesse konservative Tendenzen die Oberhand gewonnen hatten, stabilisierte sich letztlich doch wieder eine liberale Traditionslinie, wie sie seit den Anfangen der nationalen Projekte Argentiniens und Chiles bereits zu beobachten war. Unabhängig von der konkreten Verfasstheit der jeweiligen Staatswesen bedeutete das Ende der Kolonialherrschaft den Übergang vom Untertan zum Staatsbürger. Die "concepción republicana de ciudadanía" war die zentrale Erfahrung für die kreolische Gesellschaft und eine neue Aufgabe, auf die sie erst einmal vorbereitet werden musste: 7 " L a idea de que hay que educar al pueblo antes de llegar a una
Die politische Stabilität unter Rosas wurde gegen Ende seines Regimes sogar bereits von Alberdi konstatiert. Cf. Halperin Donghi 1980, XIXf., X X X . 6 In Chile relativiert sich diese Diagnose durch die Tatsache, dass auch während der "República autoritaria", gestützt nicht zuletzt durch die wirtschaftlich günstige Situation in der Folge des Minenbooms, bedeutsame gesellschaftspolitische Maßnahmen ergriffen wurden. Die Zusammenarbeit Sarmientos mit der Regierung Montt im Bildungswesen ist hierfür nur eines von vielen Beispielen. 7 Myere 1999, 114.
35
democracia plena está en la base de las políticas culturales de las nuevas repúblicas."8 Diese Grundüberzeugung führte zu einem generellen Konsens über die Notwendigkeit eines ausgebauten Erziehungswesens: La educación es e! eslabón que une al hombre pre-republicano, ignorante e incivilizado con el siglo del progreso. Debe ser la tarea prioritaria del Estado y la meta social más importante en la medida que permitirá que las incertidumbres propias de un ideario nuevo y poco consolidado no se tengan que expresar necesariamente en una desestabilización social. Será el gran vehículo de incorporación social dentro de un esquema cuyo liderazgo permanece en manos de quienes propician y organizan el auge del sistema educacional. Sobre este punto, nuevamente concuerdan los espíritus liberales y los más conservadores.'
Das Vertrauen in die staatsbürgerlichen Kompetenzen der nationalen Kollektive hielt sich zwar auch bei liberalen Vertretern zuweilen in relativ eng gezogenen
Grenzen,
doch
ungeachtet
solchen
Pragmatismus
überwog
in
Lateinamerika die intellektuelle Dimension des Liberalismus gegenüber dem materiellen oder wirtschaftlichen Aspekt. 10 In einem umfassenden pädagogischen Projekt bedeutete "Bildung" nicht nur den Erwerb von Wissen und technologischem knowhow, sondern idealerweise und in erster Linie die Fähigkeit, am gesellschaftlichen
Prozess
aktiv
teilzuhaben.
"Preparad
lectores",
forderte
Sarmiento (1842), und die Notwendigkeit der Alphabetisierung ließ ihn Lektüre jedweder Art und somit auch diejenige vermeintlich unmoralischer Romane gutheißen." Er war es auch, der in Chile 1842 als Direktor der ersten "Escuela Normal", einer pädagogischen Hochschule für die Ausbildung von Grundschullehrern, verantwortlich zeichnete und der später Lehrerinnen aus Nordamerika nach Argentinien holte. 12 Vom Grundgedanken her war die Bildung auf eine breite soziale Basis hin ausgelegt und sollte keineswegs der gesellschaftlichen Elite vorbehalten sein. Entsprechend sollte auch mit Literatur ein möglichst umfassendes Publikum erreicht werden. Schon Lastarria betonte 1842 "que la literatura no sea el
8
Rojas Mix 1993,65. Stuven 2000, 119. Dies zeigt sich wiederum besonders deutlich bei Alberdi, der im Motto dieses Kapitels einen allumfassenden Liberalismus einfordert, in seinen Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina (1852) jedoch ein straff organisiertes, disziplinierendes Staatswesen konzipiert. Cf. Halperin Donghi 1987, 157. " Zit. nach Poblete 1999, 76. 12 Sarmiento setzte sich in Argentinien vehement für eine Förderung der Elementarbildung ein, den privilegierten Ausbau der weiterführenden Institutionen lehnte er ab. Cf. Eujanián 1999, 551: "El propio Sarmiento llamaba la atención respecto a la detención del impulso que en 1857 había logrado aumentar el número de alumnos de 8.000 a 11.000 para llegar a 13.000 en 1858, y responsabilizaba de ello a la acción política de la clase dirigente que, abandonándose a sus inspiraciones de clase, prestó atención a los estudios superiores en detrimento de la instrucción primaria. - Esta situación era particularmente alarmante para quien asignaba a la educación común una función eminentemente política. Motivo por el cual estaba convencido de que era hacia ella que el Estado debía derivar su iniciativa junto a la mayor parte de sus recursos. La razón de tal privilegio de la instrucción elemental se hallaba en el rol primordial que él le atribuía en la formación de ciudadanos, junto al más utilitario y pragmático de articular la educación a las necesidades del sistema productivo." 9
10
36
exclusivo patrimonio de una clase privilegiada", 13 und Alberto Blest Gana begründete hiermit 1861 die besondere Attraktivität des Romangenres: El estudioso y el que no lo es, el viejo y el joven, la madre de familia y la niña que se halla por su edad bajo el dulce y absoluto imperio de las ilusiones, todas las clases sociales, todos los gustos, cada uno de los peculiares estados en que las vicisitudes de la vida colocan al hombre, encontrarán en la novela un grato solaz, un descanso de las diarias tareas, un alimento a la expansión del pecho, algo, en fin, que contente el espíritu, halague al corazón o alivie el ánimo de sus afanosas preocupaciones. 14
Dies verweist erneut auf die Einbindung der Literatur in das liberale Gesamtprogramm und damit auf eine starke Funktionalisierung der literarischen Tätigkeit. Principiad [...] a llenar vuestra misión de utilidad y de progreso; escribid para el pueblo, ilustradlo, combatiendo sus vicios y fomentando sus virtudes, recordándole sus hechos heroicos, acostumbrándole a venerar su religión y sus instituciones; así estrecharéis los vínculos que lo ligan, le haréis amar a su patria y lo acostumbraréis a mirar siempre unidas su libertad y su existencia social. Este es el único camino que debéis seguir para consumar la grande obra de hacer nuestra literatura nacional, útil y progresiva. 15
Wie sehr politische und literarische Kategorien im Diskurs der lateinamerikanischen
Intellektuellen
ineinander
griffen, lässt sich
auch an
der
Komplexität dessen absehen, was zu diesem Zeitpunkt unter "Romantik" zu verstehen war bzw. verstanden werden konnte. 1842 kam es in Chile zu einer in der Presse ausgetragenen Debatte über "Clasicismo y romanticismo" unter argentinischen und chilenischen Intellektuellen. Dabei ging es weniger um eine philologische Standortbestimmung als um eine völlig personalisierte Polemik, die nicht frei war von nationaler Rivalität. Beteiligt waren u.a. die Argentinier Sarmiento, Vicente Fidel López und die Chilenen José Joaquín Vallejo, Salvador Sanfuentes und Antonio García Reyes. 16 Obwohl sich die Argentinier in erster Linie für die Romantik und die (durchgängig konservativen) Chilenen dagegen aussprachen, hielt keine der Parteien ihre Position durch. So kritisierte Sanfuentes abgeschmackten neoklassizistischen Formalismus, ebenso wie Sarmiento sich gegen romantische Hyperbolik aussprach.17 Die
zeitgenössische
Diskussion
des
Phänomens
war
geprägt
von
"complejidad, incomprensiones y malos entendidos". 18 "Romantik" gab Anlass zu 13
Lastarria 1967(1885), 105. Zit. nach Promis 1977, 119. Lastarria 1967 (1885), 106. 16 Cf. für Einzelheiten Pinilla 1943. di Filippo 1957 und Stuven 2000, 207-13. Die allgemeine Einschätzung von Stuven verweist ebenfalls auf den hier evidenten Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft: "La polémica en torno al romanticismo, que involucró a la generación liberal de 1842, tuvo como sustrato el punto de vista común a toda la elite en tomo a la concepción utilitaria de la cultura. Surgió, en realidad, por la lectura del contenido socio-político del texto romántico más que por un problema de critica literaria. Y en esto, los americanos nuevamente se distinguen de los europeos, en la medida en que incluso novelas de tesis europeas, como las escritas por Víctor Hugo, Eugène Sue, y George Sand, recubren lo ideológico con pasiones y suspenso, revelando [...] fe en la literatura y en la imaginación, una creencia en la misión profética del escritor." Ebenso urteilt Fraysse 1975,184-85. 15
17 18
Cf. Stuven 2000, 203. Stuven 2000,195.
37
dezidierter Distanzierung, wenn sie mit dem Egozentrismus und der Morbidität assoziert wurde, die aus den europäischen Zusammenhängen bekannt waren: Ni somos ni queremos ser románticos. Ni es gloria para Schlegel ni para nadie el ser romántico; porque el romantismo [sic] de origen feudal, de instinto insocial, de sentido absurdo, lunático misántropo, excéntrico, acogido eternamente por los hombres del ministerio, rechazado por los de la oposición, aparecido en Alemania en una época triste, en Francia en época peor, por ningún titulo es acreedor a las simpatías de los que quieren un arte verdadero y no de partido, un arte que prefiere el fondo a la forma, que es racional sin ser clásico, libre sin ser romántico, filosófico, moralista, progresivo, que expresa el sentimiento público y no el capricho individual, que habla de la patria, de la humanidad, de la igualdad, del progreso de la libertad, de las glorias, de las victorias, de las pasiones de los deseos, de las esperanzas nacionales, y no de la perla, de la lágrima, del Ángel, de la luna, de la tumba, del puñal, del veneno, del crimen, de la muerte, del infierno, del demonio, de la bruja, del duende, de la lechuza, ni de toda esa cáfila de zarandajas cuyo ridículo vocabulario constituye la estética romántica."
Diese Abqualifizierung entstammt La moda und damit einem Organ, das als Sprachrohr der romantischen argentinischen Generation von 1837 fungierte. Folglich ist davon auszugehen, dass sich die polemische Kritik letztlich nur auf einen Teilaspekt bezog, der eben nicht jene Strömung betraf, die in der Linie Victor Hugos bereits 1830 die Romantik als Transposition des Liberalismus in die Literatur definierte.20 Eine weitere landläufige Auffassung war die Gleichsetzung von Romantik mit manirierter, francophiler Lebensart: ¿Enamoras: Eres romántico? ¿No enamoras: Romántico. ¿Vives a la fasionablel ¡Qué romántico! ¿Vives a la bartola? Idem pero ídem. ¿Usas corsé, pantalón a la fulana, levita a la sutana y sombrero a la parejanal Romántico. Tienes bigotes con pera, pera sin bigotes y patillas a la patriarcal? Romántico refinado. ¿Cargas bastón gordo y nudoso a la tambor mayor? No hay más que hacer. ¿Te peinas a la inocente? No hay más que desear. ¿Hueles a jazmín, o hueles pero no a jazmín? Te pones camisa, sin cuellos, o cuellos sin camisa? ¿Sabes saludar en francés? II suffit. Tu es fierment romantique.2I
Das Zitat entstammt der Feder des konservativen Jotabeche, der mit seinen artículos de costumbres die zeitgenössischen Gepflogenheiten kommentierte. Die Kritik an der Romantik erfolgte sowohl von liberaler wie auch von konservativer Seite, und es vermischten sich in der Diskussion um den romanticismo mindestens drei Kategorien: Er konnte sich auf ästhetische Aspekte beziehen, auf Modalitäten des gesellschaftlichen Umgangs und auf soziopolitisches Engagement. Dieser letzte Aspekt, die Identifikation von Romantik mit der gesellschaftspolitischen Stellungnahme, dürfte letztlich dafür verantwortlich zeichnen, dass sowohl die Vertreter der argentinischen "Generación de 1837" als auch die Mitglieder der chilenischen "Generación de 1842" in den nationalen Literaturgeschichten - und hier unmissverständlich - als Romantiker geführt werden. Die Heftigkeit der Diskussionen um das Konzept verwies mehr als alles andere auf die " "Al anónimo del Diario de la Tarde", La Moda, Buenos Aires, 6 de enero de 1838, zit. nach Batticuore 2005, 107, nota 117. 20 Cf. Préface zu Hernani (1830): "Le romantisme, tant de fois mal défini, n'est, à tout prendre, et c'est là sa définition réelle, si l'on ne l'envisage que sous son côté militant, que le libéralisme en littérature" (Hugo 1996 [1830], 20). 21 El Mercurio de Valparaíso, 23 de julio de 1842, zit. nach Stuven 2000, 195. 38
Sichtbarkeit der gesellschaftlichen Veränderungen, auf die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses, der vornehmlich von einer "Generation der Söhne" getragen wurde. Diese zweite mit dem Aufbau der unabhängigen Gemeinwesen befasste Generation integrierte junge Liberale, die nicht aus den oligarchischen Familien stammten und um die Aufnahme in die Elite bemüht waren. Um an dieses Ziel zu gelangen, bot sich ihnen vor allem die intellektuelle Aktivität und das Durchlaufen der neu gegründeten Bildungsinstitutionen wie die Universität oder, in Santiago, das Instituto Nacional. 22 Die Vertreter dieser Schicht strebten konsequenterweise nach Partizipation im politischen Prozess, was sich z.B. an Lastarrias stetiger Präsenz im chilenischen Parlament feststellen lässt.23 Vor diesem Hintergrund ist die Gleichsetzung von Romantik mit Jugend ein wichtiger Gesichtspunkt, der die Attraktivität des romantischen Registers noch einmal deutlich erhöht. Das liberale Engagement der jungen lateinamerikanischen Intellektuellen dominierte die gesellschaftliche Entwicklung und hatte über die folgenden Jahrzehnte hinweg Bestand. So formierte sich eine Generation staatstragender Persönlichkeiten, die im Falle Chiles von Cristián Gazmuri als "48 chileno" bezeichnet wurde. In Argentinien hatte die französische Juli-Revolution von 1830 ein vergleichsweise höheres Gewicht, weil sich das Klima gegen Ende der 1840er Jahre gewandelt hatte und sich dann zum Teil schon eine Haltung anbahnte, die Vorbehalte gegen allzu demokratisierende Tendenzen hegte. 24 Doch ist auch hier unbestritten, dass eine große personelle Kontinuität im Hinblick auf den gesellschaftspolitischen Diskurs besteht und die Generation der romantischen RosasGegner während der "Organización Nacional" und nach der Gründung der Republik Argentinien die prominentesten politischen Ämter bekleideten. 25 Sowohl in Chile als auch in Argentinien dominierten im 19. Jahrhundert die kreolischen Oberschichten den gesellschaftlichen Prozess. Die Eliten bestanden aus wenigen Familien, die untereinander eng verflochten waren. Es handelte sich
22
Lastarria ist hier das einschlägige Beispiel, cf. Subercaseaux 1997,35-42. Cf. Collier/Sater 1996, 106. Cf. Halperin Donghí 1980. Ohnehin gingen die Vorstellungen von der definitiven Organisation des Staates Argentinien weit auseinander: Cf. Lettieri 1999, 99-100: "En efecto, ya durante la etapa de elaboración de ese pensamiento, los acuerdos entre los miembros de la comunidad letrada al momento de pensar la Argentina moderna, parecen haber expresado una decidida cohesión ante la prueba común del exilio, antes de que la adhesión a un modelo compartido de país. Tras las coincidencias sobre la urgente necesidad de una transformación, e incluso, sobre las variables ñindamentales sobre las que ella debería descansar - l a inversión extranjera, la inmigración, el avance de los transportes, la educación y la institucionalización política-, los proyectos elaborados expresaron marcadas diferencias en cuanto a la forma en que esos factores deberían ser combinados, ofreciendo un abanico de opciones escasamente compatibles. Particularmente en lo referido a las características del liderazgo político y del consenso social indispensable para abordar la transformación definitiva de la República. Estas diferencias se irían agudizando en las décadas siguientes, provocando frecuentes enfrentamientos que condujeron a la adopción de posiciones polarizadas." 23 24
5 Verwiesen sei allein auf die beiden Staatspräsidenten Sarmiento und Mitre, auf den Protagonismus Juan Bautista Alberdis bei der Erstellung der Verfassung von 1853, auf die historiographischen Schriften von Mitre und Vicente Fidel López.
39
um eine "face-to-face-society",26 die wiederum eine starke Interdependenz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bewirkte: "Private" Zusammenkünfte hatten öffentlichen, repräsentativen Charakter. Privatheit wies so auch eine politische Dimension auf, und von einer Privatsphäre im Sinne moderner bürgerlicher Lebensweise konnte noch nicht die Rede sein.27 Dies hatte Auswirkungen auf den Aktionsradius von Frauen, die noch wenig auf den Status des ángel del hogar reduziert waren und in den Oberschichten durchaus aktiv, als "dueñas de casa", mit gesellschaftlicher Repräsentation befasst sein konnten. Conviene subrayar que en una sociedad en la que los roles sociales estaban fuertemente escindidos por género, tales reuniones constituían el ámbito por excelencia de las mujeres, el único espacio en el que ellas podían participar abiertamente y de un modo que pareciera acercarse a cierta "igualdad". Las "dueñas de casa" imponían el "tono", el estilo social que debía regir; y esa tendencia que había venido insinuándose desde comienzos del siglo llevaría a que el hogar rígidamente patriarcal en sus formas tanto cuanto en su fondo pareciera a los escritores de la generación romántica de 1837 un incomprensible anacronismo. Más aún, allí también podían ejercer aquellas damas su influencia no siempre demasiado sutil sobre los protagonistas de aquel espacio público del que estaban formalmente excluidas, el de la política. Para las mujeres de elite, las reuniones privadas ofrecían una oportunidad y un medio por el cual hacerse oír -respecto del destino de los hijos y maridos en primera instancia, pero también respecto de la marcha de los asuntos generales del Estado-. 28
Privatheit hatte also, wie Jorge Myers für Argentinien gezeigt hat, über das 19. Jahrhundert hinweg immer auch eine "permeabilidad a las demandas de lo 'público'".29 Myers führt dies vor allem auf die starke politische Polarisierung während des Rosas-Regimes zurück; in begrenzterem Maße trifft diese Diagnose aber sicher auch auf die chilenischen Verhältnisse zu. Pilar González Bernaldo hat für den chilenischen Zusammenhang gezeigt, dass Öffentlichkeit, wie sie in Zeiten der Unabhängigkeit unter Rückgriff auf die Presse möglich wurde, im Gegensatz zur Habermasschen These von der Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre das Private über lange Zeit noch sehr stark einbezog.30 Bei in der Presse "öffentlich" ausgetragenen Konflikten handelte es sich häufig noch um personalisierte, auf den privaten Bereich hin angelegte Polemiken. Presseerzeugnisse wurden von der kreolischen Elite zur "redefínición de jerarquías sociales"31 funktionalisiert.
26
Szuchman 1988, 1. Cf. Myers 1999, 117-22. "La estación social porteña estuvo puntuada por una larga serie de bailes, de fiestas, y de reuniones privadas en las casas de las principales familias. En esas reuniones los concurrentes revalidaban sus títulos de pertenencia a la elite, y tejían lazos de sociabilidad que por su mismo carácter informal tendían a ejercer un influjo poderoso en la vida pública del nuevo Estado" (120). "8 Ibid., 120. 29 Ibid., 137. 30 González Bernaldo (1999) untersucht Anklagen aufgrund öffentlicher Verleumdung in der Presse im Chile der ersten Jahrhunderthälfte und folgert: "El problema [...] reside, a mi juicio, en que la noción de honor que se está manejando no permite operar una distinción clara entre el espacio público y privado, esencial no obstante a la constitución de una esfera pública moderna según el modelo habermasiano" (253). 31 Ibid., 259. 27
40
Im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung wird in der jüngeren Geschichtsschreibung für beide Länder die Bedeutung der sociabilidad hervorgehoben. Auf einer zwischen Politischem und Privatem angesiedelten Ebene vollzogen sich soziale Zusammenkünfte z.B. im Kaffeehaus oder im Theater, formierten sich Vereine, Clubs, Freimaurerlogen oder Wohltätigkeitsgesellschaften. Auch das journalistische Engagement wie z.B. die Gründung einer Zeitschrift wurde als ein Phänomen der sociabilidad aufgefasst. Das Konzept scheint den gesellschaftlichen Bedingungen in den lateinamerikanischen Ländern besonders gut entsprechen zu können, da es Privatheit und Öffentlichkeit nicht kategorisch trennt, sondern vielmehr als graduelle Abstufung begreift. Die Beteiligten agierten hier nicht aus einer gesellschaftlichen Marginalisierung heraus, sondern hatten Zugang zur politischen Sphäre - sei es in der Regierung oder in der Opposition. Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Stand gab es also keine Segregation: La clase dirigente chilena no necesitó imponer su autoridad frente a grupos rivales. Era el grupo llamado naturalmente a gobernar, como heredero legítimo de la autoridad monárquica removida. Ella debía llenar el "espacio vacío" que dejaba el monarca en las legitimidades americanas. 52
In Chile existierte zu diesem Zeitpunkt keine "bourgeoisie conquérante", 33 und ebensowenig in Argentinien. Aber es bestand eine gewisse gesellschaftliche Dynamik, weil sowohl das persönliche Verdienst wie auch das Erlangen von Reichtum den Zugang zur gesellschaftlichen Elite nun ermöglichte. En este contexto intelectual y cultural transformado, la noción misma de "elite" no podía sino experimentar algún cambio. En la creencia de la mayoría de la población, la pertenencia a ella dependía ahora fundamentalmente de la posesión de algún mérito individual, reconocido por los demás miembros de la sociedad, como la acumulación de riquezas, de capital social y/o de poder. 34
González Bernaldo hat diese neuen Repräsentationsformen der sozialen Beziehungen in ihrer Studie Civilidad y política en los orígenes de la nación Argentina. Las sociabilidades en Buenos Aires, 1829-1862 auf der Grundlage eines "enfoque sociocultural de lo político" untersucht und dabei die Aufmerksamkeit auf ein Verständnis von der Nation als Zivilgesellschaft gelenkt: 35 32
Stuven 2000. 61-62. Collier/Sater 1996, 89. 34 Myers 1999, 114. Cf. auch Sabato 1999, 170: "El crecimiento económico y la modernización afectaban a todos, pero beneficiaban sobre todo a los más ricos, dedicados al gran comercio, la ganadería, las finanzas y hasta la especulación urbana. Compartiendo sus espacios de sociabilidad pero sólo en parte su riqueza, dirigentes políticos y hombres ilustrados también formaban en las filas de las elites porteñas. Estas estaban en plena definición, en la medida en que la velocidad del cambio y sus vaivenes abrían espacios para el ascenso pero también para el desplazamiento o la caída. - Era una sociedad dinámica, heterogénea, inestable, en transformación, donde se superponían nuevas y viejas relaciones y desigualdades. Múltiples tensiones y conflictos atravesaban a esta sociedad en transición, en las que los vínculos tradicionales parecían disolverse sin encontrar reemplazos evidentes y la violencia estaba presente en diversas formas." Zur Durchlässigkeit der Eliten in Chile cf. Collier/Sater 1996, 89-90. 33
35
González Bernaldo 2000, 21, cf. 342; Bernaldos Ansatz situiert sich im Kontext der mentalitätshistorischen Forderung nach der "sociabilidad como objeto histórico" (23).
41
El movimiento asociativo moderno y, más globalmente, las formas de sociabilidad contractuales fueron un factor de transformación de la sociedad y de las representaciones que ésta se daba de sí misma. En ese sentido, sirvieron para vehiculizar una nueva representación de la colectividad como "sociedad nacional". 36 Die
entstehenden
d e f i n i t i o n der ciudadanía.
Modalitäten Die
v o n sociabilidad
bewirkten
Bedeutung des Phänomens
eine
T a t s a c h e a b l e s e n , d a s s s i c h b e i d e n j e n i g e n , d i e in A r g e n t i n i e n n a c h politische Verantwortung übernahmen, zuvor nahezu ausnahmslos u n t e r s c h i e d l i c h e r R e g i s t e r v o n sociabilidad
Neu-
lässt s i c h an
der
Caseros
Aktivitäten
a u f w e i s e n lassen:
Mientras que, son contados los dirigentes rosistas que comienzan su carrera política con la redacción de un diario o la participación en un movimiento cultural, entre quienes llegan al poder después de 1852, son muchos los que tienen estos antecedentes. [...] Luego de 1852, [...] una de las particularidades que caracterizan a la clase dirigente es la intensidad de su vida asociativa. Esas prácticas pueden inducir a una nueva forma de poder que pone en primer plano un nuevo tipo de dirigente: una especie de "profesional" de la representación política. Lo cual equivale a decir que antes de 1852, la actividad política ligada al establecimiento de una república representativa no depende directamente de las formas de asociación vinculadas a la esfera pública; la política es aún el campo del enfrentamiento más que de la negociación, de la acción más que de la opinión. El auge del movimiento asociativo y su éxito entre los miembros de la clase dirigente constituyen el signo de una transformación importante de la estructura del poder. Por otra parte, las prácticas asociativas pueden cumplir un papel de importancia primordial en la organización de nuevas configuraciones relaciónales de la vida política. Asociaciones como el Club del Progreso, el Club de Mayo o la masonería sirven para tejer lazos fuera del marco tradicional de las redes de familia y clientela. Los políticos que se identifican con la esfera pública nacional pero que, como Mitre o Sarmiento, no cuentan con una parentela poderosa, pueden sumarse a través de la red asociativa a los diferentes grupos familiares que poseen, en el nivel provincial, el poder socioeconómico, político y cultural." Für C h i l e m a c h t Cristián G a z m u r i a n a l o g e B e o b a c h t u n g e n , w e n n er d i e Formen
privat
organisierter
politischer
Partizipation
in
seine
Untersuchung
e i n b e z i e h t . I m A n s c h l u s s an d a s P h ä n o m e n der S o c i e d a d d e la Igualdad konstatiert er a b 1 8 5 0 e i n e " n u e v a f o r m a d e s o c i a b i l i d a d política" u n d f o k u s s i e r t in diesem Zusammenhang nicht-politische Organisationen w i e die Feuerwehr oder d i e Freimaurer. 3 8 A u c h hier s i n d d i e p e r s o n e l l e n Ü b e r s c h n e i d u n g e n
zwischen
ihren M i t g l i e d e r n u n d d e n staatstragenden P e r s ö n l i c h k e i t e n a u g e n f ä l l i g . 3 9 N i c h t z u l e t z t ist i m H i n b l i c k
a u f das G e w i c h t
der redes
asociativas
ein
weiterer
G r a d m e s s e r in der T a t s a c h e z u s e h e n , d a s s d i e p o l i t i s c h e n U n r u h e n 1 8 5 8 m i t e i n e m Eklat d e n A n f a n g n a h m e n , bei d e m i m D e z e m b e r d i e T e i l n e h m e r an e i n e r i m C l u b d e la U n i ó n a b g e h a l t e n e n V e r s a m m l u n g zur D i s k u s s i o n der V e r f a s sungsreform festgenommen wurden.40 S o g r i f f e n die s o z i a l e n B e z i e h u n g e n d e s A l l t a g s l e b e n s ü b e r a u f d e n p o l i tischen
36
Prozess
und
förderten
das
republikanische
Selbstverständnis
in
der
Ibid., 25. González Bematdo 2000, 344. 38 Cf. Gazmuri 1992, 115. 39 Cf. ibid., 175. Unter den Mitgliedern der ersten chilenischen Freimaurerlogen (ab 1853) finden sich Jacinto Chacón, Guillermo Biest Gana, José Victorino Lastarria, aber auch der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento. 40 Cf. Stuven 2000,298. 37
42
Z i v i l g e s e l l s c h a f t . G a z m u r i bringt d i e s e Stärkung der ciudadanía sociabilidades
i m U m f e l d der
a u c h m i t der R e z e p t i o n v o n A u g u s t e C o m t e in C h i l e in V e r b i n -
dung. M i t d e r K o m b i n a t i o n v o n L i b e r a l i s m u s u n d s o z i a l e r G e r e c h t i g k e i t k o n n t e dessen Positivismus den lateinamerikanischen Zusammenhängen
offensichtlich
gut e n t s p r e c h e n : La tendencia positivista aportó la idea de privilegiar la sociedad civil, en calidad de cuerpo intermedio entre el individuo y el Estado, lo que naturalmente implicaba un debilitamiento de éste. Aspecto teórico que se adaptaba admirablemente a la contingencia chilena de los años que estamos estudiando: la lucha contra el autoritarismo encamado en el "estado portaliano". 4 ' A u c h in A r g e n t i n i e n f u n g i e r t e der P o s i t i v i s m u s als w i c h t i g e r Impuls. In k e i n e m der b e i d e n Länder w u r d e er als B r u c h w a h r g e n o m m e n , v i e l m e h r p a s s t e er s i c h ein in d a s v o r w ä r t s g e w a n d t e , liberal u n d d i d a k t i s c h a u s g e r i c h t e t e
gesell-
s c h a f t l i c h e Projekt. Im a r g e n t i n i s c h e n Z u s a m m e n h a n g erläutert Jorge M y e r s , w i e s i c h d i e R e z e p t i o n d e s P o s i t i v i s m u s mit d e m a n h a l t e n d e n r o m a n t i s c h e n Parad i g m a v e r e i n b a r e n ließ: El hecho de que esa recepción del pensamiento de Darwin y de Comte, de evidentes consecuencias para el desarrollo futuro del pensamiento argentino, fuera posible en un contexto cultural marcado aún por la hegemonía del romanticismo, se debió a que los románticos argentinos - a l contrario de los europeos y norteamericanos- no adoptaron un discurso en una actitud anticientificista. Ambivalente en cuanto a los resultados de la experiencia ilustrada, que los miembros de la Nueva Generación asociaban casi exclusivamente con Rivadavia, ese romanticismo no excluyó el ideal ilustrado de una progresiva perfectibilidad del conocimiento humano y de la sociedad. Más aún, en el contexto del proceso de formación del Estado nacional, que coincidía con una mayor inserción de la economía local en el mercado capitalista mundial, el prestigio de la ciencia moderna guardaba estrecha relación con los aportes que se esperaban de ella para facilitar y acelerar la modernización de la cultura que ese proceso parecía exigir como condición indispensable de su éxito.42 Gazmuris und González B e m a l d o s Feststellungen im Hinblick auf den S t e l l e n w e r t der sociabilidades "Sociabilidad
chilena"
l a s s e n a u c h an F r a n c i s c o B i l b a o s b e r ü h m t e n E s s a y
zurückdenken,
der
vor
allem
aufgrund
seines
Anti-
k l e r i k a l i s m u s 1 8 4 4 die G e m ü t e r erhitzt u n d die R e g i e r u n g zur S c h l i e ß u n g d e r Z e i t s c h r i f t El Crepúsculo auf
den
asociacionismo
v e r a n l a s s t hatte, aber a u c h an d i e f l a m m e n d e n R e d e n Daniel
a n t i r r o s i s t i s c h e m R o m a n Amalia
Bellos,
des
Helden
aus
José
Mármols
( 1 8 5 1 / 5 5 ) . 4 3 D i e T e r m i n o l o g i e war, o h n e p r ä z i s e
41
Gazmuri 1992,131. Myers 2003, 319-20. 41 Cf. zum Skandal um Bilbao Stuven 2000, 251-82: "Llama la atención que al diagnóstico sociopolítico y la proposición de cambios democratizantes en esas áreas se los englobara bajo el apodo de 'sociabilidad'. Sabemos que el término ya formaba parte del léxico intelectual de otros autores latinoamericanos, especialmente los argentinos de la llamada Generación de 1837, fuertemente influidos por el socialismo utópico francés y por los pensadores igualitaristas, quienes concebían las relaciones sociales en función de la igualdad. Algunos chilenos, entre ellos Francisco Bilbao, también tenían alguna familiaridad con el concepto de sociabilidad como justificación de lo liberal, sentido que le otorgaba el filósofo del derecho francés Jean-LouisEugéne Lerminier. La 'sociabilidad' se entiende como el sistema de relación entre los hombres y la sociedad como el ámbito donde las ideas sumen forma específica" (259). Zu Mármol z.B. Fernández 2000, 7: "Daniel Bello era en gran medida el portavoz de Mármol, para quien las causas 42
43
ausdefiniert zu sein, im gesellschaftspolitischen Programm des Liberalismus überaus präsent, und die genannten Beispiele verdeutlichen die politische Dimension, die dem Konzept der sociabilidad im zeitgenössischen Zusammenhang bereits inhärent war. Sociabilidad bezog sich nicht auf geselliges Beisammensein und Müßiggang, wie man aus der deutschen Verwendung des Begriffes "Soziabilität" ableiten würde. Sowohl im zeitgenössischen Kontext als auch in den modernen historiographischen Untersuchungen geht der Begriff hierüber, und auch über die im Deutschen gebräuchliche Definition von "Soziabilität" als einer individualpsychologischen Verfasstheit, weit hinaus. Die sociabilidades des 19. Jahrhunderts sind kollektive Erfahrungen, sie stehen im Dienst der ciudadanía und der Organisation des gesellschaftlichen Umgangs: En efecto, el discurso asociacionista es utilizado con frecuencia por las elites culturales y políticas para pensar el lazo social; la asociación es concebida por ellas como una forma de pedagogía cívica mediante la cual el ciudadano hace el aprendizaje de la cosa pública, constitutiva de la comunidad. 4 ''
Aufgrund dieser Verbindung des Konzeptes der sociabilidad mit der Konstruktion eines Gemeinwesens wurde die gesellschaftliche Verantwortung des Individuums fokussiert, was sich an Wendungen wie "sociabilidad pública" oder "sociabilidad civilizada" ablesen lässt.45 Mit dem Begriff der civilización wird wiederum ein Schlagwort des kreolischen Liberalismus aufgerufen. Seit Sarmiento haben sich die kulturtheoretischen Überlegungen zum lateinamerikanischen 19. Jahrhundert, ja zur lateinamerikanischen Identität überhaupt, bis auf den heutigen Tag an diesem Konzept abgearbeitet. Daher ist es sinnvoll, seinen Entstehungszusammenhängen und den Implikationen für den lateinamerikanischen Kontext etwas genauer nachzugehen. Die Vorstellung der liberalen Kreolen, in den von großer sozialer, ethnischer, politischer und wirtschaftlicher Heterogenität geprägten Ländern einen gesellschaftlichen Prozess nach europäischem Muster in Gang zu setzen, bildete zunächst die Grundlage für die Bewertung der autochthonen Situation nach der Kategorisierung eines angestrebten Ideales der Zivilisation auf der einen und eines últimas de la situación que atravesaba Argentina eran sobre todo culturales: el fanatismo español, la ignorancia, el individualismo. Por medio de su protagonista, el narrador proponía conjurarlas con el antídoto de la asociación, imposibilitado por el miedo a la represión, pero también por el fanatismo de los unitarios, herederos de las utopías de la revolución de Mayo." 44 González Bernaldo 2000,25. 45 Cf. ibid., 24: "En el Río de la Plata se comprueba que durante el siglo XIX, en torno de las prácticas de sociabilidad asociativa, circula, entre las elites portefias, un discurso sobre la 'sociabilidad' que la asocia con la idea de relaciones 'civiles' como constitutivas del lazo social. Ni siquiera es raro encontrar, en los artículos de la prensa periódica o los textos políticos de la primera mitad del siglo XIX, la palabra 'sociabilidad' para referirse a las características de lo que hoy llamaríamos 'nacionalidad'. Aquélla sería entonces no tanto el principio de la relación como el resultado de ésta: la nación. Las fuentes, sin embargo, emplean contadas veces el término 'civilidad'; prefieren la expresión 'sociabilidad culta' o, como en el caso de Sarmiento, 'sociabilidad civilizada' o 'sociabilidad pública'. Pero estas diferentes referencias coinciden con la noción de civilidad en los dos sentidos del término: cortesía y civismo, entonces profundamente imbricados. De acuerdo con ellas, la civilidad seria el sostén cotidiano de la civilización como dinámica de una cultura superior que sirve de base a la definición liberal de nación como unidad de desarrollo posible."
44
abzulösenden barbarischen Zustandes auf der anderen Seite. In Sarmientos Essay Facundo. Civilización i barbarie (1845) findet diese Vorstellung ihren wichtigsten literarischen Niederschlag. Die Dichotomie von civilización und barbarie ist jedoch gar nicht ausschließlich aus den autochthonen lateinamerikanischen Lebens- und Schreibbedingungen erwachsen. Vielmehr greift sie erstens Zusammenhänge auf, die auch in der innereuropäischen Diskussion im 19. Jahrhundert durchaus noch thematisiert wurden, und zweitens erscheint sie durch den Eurozentrismus der retrospektiven (Außen-)Perspektive des literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses motiviert. 46 Die Überlegungen von Norbert Elias zum "Prozess der Zivilisation" geben im Hinblick auf die lateinamerikanische Situation einigen Aufschluss, indem sie den Begriff der Zivilisation in seiner spezifisch französischen Ausgestaltung in Abgrenzung zum Kulturbegriff der deutschen Tradition diskutieren. Elias beschreibt den Zivilisationsprozess als eine fortschreitende Triebkontrolle im Verlauf der Geschichte, die bei der Sozialisation des Individuums gewissermaßen ständig neu vollzogen wird. Doch weniger als die materialreichen Ausführungen zu dieser Entwicklung interessiert im vorliegenden Zusammenhang, wie Elias den französischen Begriff der civilisation im Zusammenhang der Herausbildung des französischen Bürgertums situiert, das sich - im Gegensatz zum deutschen Fall in den gesellschaftlichen Prozess integrieren und vergleichsweise früh über politische Einflussmöglichkeiten verfügen konnte. 47 Civilisation meint sowohl bestimmte gesellschaftliche Umgangsformen wie auch Errungenschaften im technischen Bereich, wissenschaftliche Erkenntnisse, aber eben auch künstlerische Leistungen. Im französischen Sprachgebrauch bildet civilisation das - gleichwohl semantisch umfassendere - Pendant zum deutschen Kulturbegriff. In der deutschen Tradition wird über die Abgrenzung von "Kultur" und "Zivilisation" der Bereich geistiger, künstlerischer und religiöser Elemente von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren getrennt, wodurch auch eine gewisse Geringschätzung von "Zivilisation" im Vergleich zu "Kultur" impliziert wird. 48 Elias zeigt im Verlauf seiner Ausfuhrungen auf, wie sich über den Begriff der Zivilisation das "Selbstbewusstsein des Abendlandes" konstituiert. Damit ist eine umfassende gesellschaftliche Ziel Vorstellung formuliert, die zunächst einmal frei ist von abgrenzenden, partikularisierenden Tendenzen. Diese Reichweite des Zivilisationsbegriffes steht wiederum im Gegensatz zum deutschen Verständnis von Kultur, bei dem gerade die Eigenart einer Gruppe im Vordergrund steht.49 46
Cf. etwa Francine Masiellos Studie Entre civilización y barbarie. Mujeres, nación y cultura literaria en la Argentina moderna (1997, engl. Original 1992). So bildete sich weniger eine dezidierte Gegenposition zum aristokratischen Habitus aus, als dass sich vielmehr in den bürgerlichen Verhaltens- und Wertmaßstäben durchaus eine Tendenz zur Aristokratisierang erkennen ließ. Cf. Elias 1997, 132. 48 Cf. ibid., 90-91. 49 In diesem Zusammenhang werden auch die Grenzen der Applikation des Habermasschen Konzeptes der öffentlichen Sphäre auf die lateinamerikanischen Zusammenhänge manifest. M.E. wird häufig übersehen, dass sich die Öffentlichkeit bei Habermas als Konsequenz aus der gesellschaftlichen Ausgrenzung sozialer Gruppen konstituiert, was im lateinamerikanischen 47
45
Civilisation hat demgegenüber einen integrativen Akzent und "lässt die nationalen Differenzen zwischen den Völkern bis zu einem gewissen Grade zurücktreten". 50 "Civilisation" und "Kultur" besitzen jedoch in gleicher Weise eine Komponente der Wertschätzung, die deutlich aus einem nationalen europäischen Kontext erwächst und diesen dominant setzt. Der "Prozess der Zivilisation", den Elias als historischen Verlauf beschreibt, gerät deshalb schon vor der Wende zum 19. Jahrhundert zu einem "Rechtfertigungsbegriff der nationalen Ausbreitungs- und Kolonisationsbestrebungen Frankreichs": 51 In der Tat ist eine wesentliche Phase des Prozesses der Zivilisation in eben jener Zeit abgeschlossen, in der das Bewußtsein der Zivilisation, das Bewußtsein von der Überlegenheit des eigenen Verhaltens und seiner Substantialisierungen in Wissenschaft, Technik oder Kunst sich über ganze Nationen des Abendlandes hinweg auszubreiten beginnt. 52
In dieser normativen Verfasstheit geht civilisation in die lateinamerikanische Diskussion ein. Weil er über nationale Grenzen ebenso hinausreichen kann wie über die im engen Sinne kulturelle Betätigung, aber vor allem, weil er eben auch "einen Prozess oder mindestens das Resultat eines Prozesses" bezeichnet, kann dem Begriff dort eine derart zentrale Stellung zukommen. 53 Es handelt sich also nicht allein um die Perpetuierung des kolonialistischen Diskurses, sondern vor allen Dingen um ein Aufgreifen des Zivilisationsideals im Hinblick auf die zeitgenössische semantische Reichweite des Begriffes in seiner französischen Tradition, in der sich aus der Sicht der lateinamerikanischen Kulturträger alle Facetten des gesellschaftlichen Aufbaus unterbringen ließen. Er entsprach auf diese Weise ausgezeichnet dem allumfassenden gesellschaftlichen Projekt, das sie sich zum Ziel setzten. Bei der Rückbeziehung dieser Zusammenhänge auf die literarische Aktivität versteht es sich dann, dass Literatur hier weniger den Ausdruck gesellschaftlicher Opposition und damit eine Autonomisierung der Kunstproduktion, sondern vielmehr einen konstitutiven Akt bedeutet. Escribir, al menos durante la primera mitad del siglo XIX, respondía a la necesidad de ordenar e instaurar la lógica de la civilización; pero, a la vez, era un ejercicio previo y sobredeterminante de la modernización. Era dar forma anticipada al sueño modemizador. La palabra llena los vacíos: construye estados, ciudades, fronteras, diseña geografías para ser pobladas, modela a sus habitantes. 54
Das Verfassen literarischer Texte wurde im gesellschaftlichen Prozess mit konkreten Funktionen belegt. Die Vorstellung von einer zweckfreien, von gesellZusammenhang des 19. Jahrhunderts, wo die Träger des kulturellen Diskurses am politischen Prozess dezidiert mitwirkten, so nicht gegeben ist (cf. z.B. Unzueta 2001). 50 Elias 1997,91. 51 Ibid., 152. 52 Ibid., 153. Damit soll nicht bestritten werden, dass es sich bei Elias' Werk um die Beschreibung einer eminent eurozentristisch ausgerichteten Sachlage handelt. An dieser Stelle ist lediglich intendiert, mithilfe seiner Ausfuhrungen die lateinamerikanische Orientierung an diesem Begriff in ihrem historischen Kontext zu präzisieren. 53 Ibid., 91. 54 González Stephan 1994,449.
46
schaftlichen Belangen abgekoppelten Kunst war in dieser historischen Konstellation für Lateinamerika wenig brauchbar. Die Tradition der civilisation passte in der lateinamerikanischen Situation wesentlich besser als die Vorstellung einer autonomen Kunst bzw. Kultur. So erlangt die Orientierung der lateinamerikanischen Intellektuellen an diesen Vorstellungen von civilisation eine Begründung, die weit hinausgeht über das eher äußerliche Argument der Zugehörigkeit zum Kulturkreis der "Latinität", im Sinne der Zuwendung zu Frankreich und der damit einhergehenden Abwendung von der ehemaligen Kolonialmacht Spanien.55 Auf diese Weise wird dem Begriffspaar civilización und barbarie seine exponierte Stellung im lateinamerikanischen Zusammenhang in gewisser Weise abgesprochen, was seiner Bedeutsamkeit im gesellschaftlichen Diskurs jedoch keinen Abbruch tut. Weil Sarmientos Diktum in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung der lateinamerikanischen Geschichte immer wieder bemüht wurde, ist sein Facundo zu einer Ikone spezifisch lateinamerikanischer Identitätsfmdung geworden, die den Gegensatz zwischen civilización und barbarie auf den lateinamerikanischen Zusammenhang gewissermaßen festgeschrieben hat. Mit Elias wäre also zu überlegen, ob es sich bei dieser Dichotomie vielleicht gar nicht so sehr um ein lateinamerikanisches Spezifikum handelt, auch wenn sich aufgrund der historisch-kulturellen Situation auf dem Subkontinent eine entsprechende Diskussion in besonderem Maße angeboten zu haben scheint. Denn eine solche Kontextualisierung des Begriffspaares ermöglicht eine konstruktive Positionierung der lateinamerikanischen Verhältnisse innerhalb eines übergreifenden Diskurses, die einer Marginalisierung der lateinamerikanischen Literaturproduktion eigentlich zuwiderläuft. Die Frage ist dann nicht, wo sich Zivilisation bzw. Barbarei verorten lassen, sondern welche spezifischen "barbarischen" Zustände der "Zivilisation" jeweils entgegengesetzt werden. Diese müssen keineswegs ethnisch oder geographisch begründet sein (das sind sie ja auch bei Sarmiento zumindest nicht ausschließlich), sondern können sich z.B. ebenso auf soziale Kriterien beziehen, wie es zeitgleich etwa bei Balzac geschieht, wenn er das im 19. Jahrhundert neu entstehende Lesepublikum unterprivilegierter Herkunft mit größter Selbstverständlichkeit als "barbarisch" bezeichnet. 56
3.2. Zur Entwicklung des Buch- und Pressewesens Genau dieses "barbarische" europäische Publikum kam seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge der Alphabetisierung auf, aber vor allem auch im Zusammenhang mit den massiven Entwicklungen im Pressewesen. Die Fortschritte in der Drucktechnik und in der Papierentwicklung ermöglichten nun die
55 56
Cf. zum Konzept der "Latinität" Paatz 2001,180-81. Cf. Biermann 1999,257.
47
schnellere und preisgünstigere Herstellung größerer Auflagen. 57 Die Verleger wussten die kommerziellen Möglichkeiten zu nutzen. In der französischen Tagespresse kam es mit dem Erfolg des roman-feuilleton zum wohl spektakulärsten Medienereignis des 19. Jahrhunderts: 1836 entschieden sich Emile de Girardin und Armand Dutacq, in ihren Tageszeitungen La Presse und Le Siècle Fortsetzungsromane zu veröffentlichen und damit das Publikum kontinuierlich an die Organe zu binden. Der Durchbruch gelang mit Eugène Sues Les mystères de Paris, die von Juni 1842 bis 1843 im Journal des Débats erschienen. Mit der Publikation von Le juif errant (Juni 1844 bis August 1845) gewann dann Le Constitutionel zu seinen 3.600 Abonnenten weitere 20.000 hinzu. 58 Diese Entwicklungen und das enge Zusammenwirken von Literaturproduktion und Presse wirkten sich auf die Professionalisierung des Schreibens aus, wie sich an Schriftstellern wie Sue, Dumas oder Balzac unschwer feststellen lässt. Vor allem aber bedeutete es auch einen massiven Schub hin zur Entwicklung der Unterhaltungsliteratur als einer "nueva y fascinante mercancía". 59 Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich im übrigen im Bereich der Zeitschriften der Wandel von den autorenzentrierten Periodika, wie sie bis dahin dominiert hatten, zu der an einem breiteren Leserkreis ausgerichteten Publikumspresse. 60 Mit der Revue wird in Frankreich ab ca. 1830 ein Format bereitgestellt, dessen Inhalt aus einer Mischung von vergleichsweise populär aufbereiteten Sachtexten, Reiseberichten, Chroniken, Literatur und Literaturkritik besteht, die den Leseerwartungen eines an Information wie an Unterhaltung interessierten Publikums entgegenkam. 61 Im lateinamerikanischen Zusammenhang waren die medialen Entwicklungen von der Größenordnung her zwar mit den europäischen Dimensionen wenig vergleichbar, aber dafür umso bedeutsamer, da sie parallel verliefen zu den Prozessen des nationalen Aufbaus. Die Formierung eines neuen Publikums stand hier in unmittelbarer Beziehung zur Entwicklung der kreolischen Gemeinwesen und ihrer kollektiven Identität. Diese Prozesse vollzogen sich vornehmlich im Urbanen Raum und wiederum parallel zu einem beträchtlichen Anstieg der Bevölkerungszahlen in den Städten. Die Einwohnerzahl von Buenos Aires verdoppelte sich zwischen 1800 und 1850 von 40.000 auf 83.000, und in Santiago verdreifachte sie sich sogar von 30.000 auf 93.000. 62 Benedict Anderson hat aufgezeigt, wie über die Lektüre gleicher Inhalte bei diesem neuen Lesepublikum 57
Cf. Subercaseaux 1993, 68-75, Rivera 1998, 5. Cf. Quefïélec 1989, 11-17. 59 Rivera 1998,7. 60 Cf. Faulstich 1994 zur Entwicklung von autor- zu leserorientierten Zeitschriften. 61 Cf. zum Format der Revue Straßner 1997, 76: "In diesen Zeitschriften soll das geistige Leben der gesamten Nation in periodischem Zyklus anschaulich, unterhaltsam und belehrend, in vornehmer und dennoch allgemeinverständlicher Sprache reflektiert werden." Cf. außerdem Haacke 1970/71. 62 Cf. van Oss 1993, 48. 1900 beträgt die Bevölkerungszahl dann 885.000 für Buenos Aires und 288.000 fiir Santiago. Es zeigt sich also einmal mehr, dass Argentinien und Chile im Zeitraum der vorliegenden Untersuchung vergleichbare Bedingungen aufweisen, wovon gegen Ende des Jahrhunderts dann nicht mehr die Rede sein kann. 58
48
ein kollektives Bewusstsein begründet wird, wobei dieser Bildung von imagined communities seiner Ansicht nach vor allem die in Romanen bereitgestellten Gesellschaftsentwürfe forderlich waren. 63 Anderson bezieht das nicht nur auf die Urbanen Schichten, sondern verweist insbesondere auch darauf, dass über die Distribution der Presseerzeugnisse Leser an weit auseinander liegenden Standorten erreicht werden konnten. Auf jeden Fall kann davon ausgegangen werden, dass die sociabilidad deutlich geprägt war von der Verfügbarkeit einer ganzen Bandbreite unterschiedlicher Periodika. Zur Auswahl standen erstens ausländische Bücher und Periodika, die meist fremdsprachig waren und nach Chile und Argentinien importiert wurden, zweitens autochthone Publikationen und drittens Produkte, die auf die besseren technologischen Bedingungen in Europa zurückgriffen und ganz oder teilweise dort hergestellt wurden, aber explizit an ein lateinamerikanisches Publikum gerichtet waren und entsprechend auf Spanisch erschienen. Bei den ausländischen Periodika sind vor allem die Zeitschriften von Interesse, weil sie aufgrund ihres Publikationsrhythmus besser fur den Export nach Übersee geeignet waren als die aktualitätsbezogenere Tagespresse. So gelangten vor allem die Revues und reviews auf den lateinamerikanischen Subkontinent. Die 1829 gegründete Revue de Paris dürfte hier gerade im Hinblick auf ihre Kombination von Information und Unterhaltung eine herausragende Rolle gespielt haben, zumal auch sie bereits Fortsetzungsromane integrierte, bevor der große Boom des Feuilletons begann. Ebenso erfreute sich die in ihren Anfangsjahren vom esprit de juillet geprägte Revue des Deux Mondes in allen Teilen Lateinamerikas großer Beliebtheit, obwohl sie dem programmatischen Titel, die "alte" wie auch die "neue" Welt zu integrieren, nur sehr bedingt gerecht wurde. 64 Diese Organe gehörten zum kulturellen Kapital der europhilen Eliten. Es gab Subskriptionsstellen in den lateinamerikanischen Zentren, und Buchhandlungen, "Gabinetes de lectura", "Circulos Literarios" oder Clubs rühmten sich mit den Listen der von ihnen geführten Abonnements. Auf der Linie von Andersons imagined communities wäre noch zu ergänzen, dass durch die Zeitschriften ein gemeinsames Lektüreangebot nicht nur auf nationaler, sondern vor allem auch auf pan-lateinamerikanischer Ebene bereitgestellt wurde, das die Eliten miteinander in Verbindung brachte. Nicht selten erfuhr man über die Verhältnisse in den anderen lateinamerikanischen Nationen nicht über deren nationale Presse, sondern über die Berichterstattung der Edinburgh Review oder der Revue des Deux Mondes. Sarmiento ist für eine Rezension seines Facundo in der Revue des Deux Mondes eigens bei ihrem Herausgeber François Buloz
63
Das Beispiel von Anderson ist der mexikanische Roman El Periquillo Sarniento (1816) von José Joaquín Fernández de Lizardi. 64 Die Interkulturalität der Revue des Deux Mondes und ihre Aufnahme auf dem lateinamerikanischen Subkontinent habe ich an anderer Stelle untersucht. Cf. Paatz 2001.
49
vorstellig geworden, weil er wusste, dass dadurch die Verbreitung seines Textes in ganz Lateinamerika gewährleistet sein würde. 65 Das zunehmend kosmopolitische Klima der 1840er Jahre fand auch in der editorischen Aktivität seinen Niederschlag. Seit 1842 erschien in Paris der extrem langlebige Correo de Ultramar, zunächst zweisprachig französisch-spanisch und bald ganz in spanischer Sprache. Es handelte sich hier explizit um ein kommerzielles Unternehmen, um eine Publikumszeitschrift, die bald, den technologischen Vorsprung der europäischen Metropole nutzend, mit aufwändigen Illustrationen erschien. 66 Der Correo de Ultramar ist ein gutes Beispiel für die massive Aufnahme französischen Lebensstils in Lateinamerika; in der Teilpublikation Revista literaria y de modas fanden sich neben Chroniken des Pariser Gesellschaftslebens figurines de moda und Noten beliebter Musikstücke als Beigaben. 67 Der Correo de Ultramar war also bemüht, sich in einem kulturellen Klima zu situieren, in dem europäische Lebensart als Distinktionsmerkmal für die Elite fungierte. Los viajeros, deseosos de dar la información esperada por sus gobiernos o las empresas de su país sobre las tierras que recorrían, prestaban atención a las formas modernas de sociabilidad, los nuevos gustos en la vestimenta o en el arreglo de las viviendas, sin descuidar la presencia del libro. Xavier Marmier describe el peso de la cultura francesa en la Buenos Aires de 1850 [...]: "un sastre coloca en su vidriera el nuevo figurín del Journal des Modes que ha llegado la víspera por el paquebote del Havre y que será la atracción de los elegantes; un librero dispone cuidadosamente sobre sus estantes una colección de libros. El librero se sentiría perplejo si alguien le pidiera las obras de Garcilaso de la Vega o de algún otro historiador español antiguo, pero siempre tiene a mano las novelas de Dumas, de Sandeau y las poesías de Alfred de Müsset. 68
In den einschlägigen Arbeiten zur Entwicklung lateinamerikanischer Kulturzeitschriften wird der Correo de Ultramar trotz seiner offensichtlichen Präsenz im lateinamerikanischen Kulturbetrieb gewöhnlich nicht oder kaum berücksichtigt. Dies mag damit zusammenhängen, dass es sich um eine europäische Initiative handelte, die für die autochthone Kulturentwicklung eher Konkurrenz als Bereicherung bedeutete. Justo Arteaga Alemparte beklagte sich jedenfalls
65
Tatsächlich erschien im November 1846 in der Revue des Deux Mondes eine vielbeachtete Rezension von Sarmientos Werk: Charles de Mazade, "De l'américanisme et des républiques du sud". Auch wurden Beiträge aus der Revue des Deux Mondes und anderen Organen übersetzt in der autochthonen Presse veröffentlicht, cf. Paatz 2001. 66 Der Correo de Ultramar erschien 1842-1886 mit diversen Änderungen in Titel und Erscheinungsform, jedoch kontinuierlich als zwei separate Publikationen: eine illustrierte Revista literaria sowie ein auf Politik und Wirtschaft spezialisierter Periódico Político, Literario, Mercantil e Industrial als großformatige Zeitung. Beide Publikationen veröffentlichten Romane, der Periódico político im typischen feuilleton-Format im unteren Drittel auf nahezu jeder Seite, teils Französisch, teils Spanisch, teils zweisprachig. Cf. Paatz 2001,167-71. 67 In El Correo de Ultramar. Parte literaria ilustrada 12.28 (1853) ist zu lesen: "Este periódico sale á luz cincuenta y dos veces al año, con más de 800 dibujos ó grabados sobre madera de los mejores artistas de Paris, Madrid y Londres. Cada número se compone de 16 páginas de impresión sobre papel de lujo con magníficas láminas, retratos y trozos de música intercalados en el texto. Cada mes los suscritores recibirán dos figurines de última moda, uno de mujer y otro de hombre, y varios patrones de bordado de todo género" (439). 68 Zanetti 2003, 132.
50
1859 aus Anlass seiner Rezension der ersten Romane Alberto Biest Ganas in der von ihm herausgegebenen Semana: I mientras tanto ¿qué hacíamos i qué hacemos? -Leer las mal traducidas i muchas veces insípidas novelas que, por conducto del Correo de Ultramar, nos envian los traditores españoles.- Esas novelas vienen firmadas Dumas, Sue, Joije Sand, Feval, Emmanuel Gonzalez, i esto nos basta. Sobretodo su acción pasa en Paris, en Londres o en Marruecos, i no en Chile. 69
Arteaga Alemparte bezieht sich hier auf die sogenannten primas, Romanlieferungen, die den Subskribenten des Correo de Ultramar kostenfrei überlassen wurden. Auch in der Zeitschrift selbst erschienen Übersetzungen französischer feuilletons mit minimaler zeitlicher Verzögerung, so dass zuweilen sogar die Lieferung der Fortsetzungen ausgesetzt werden musste, weil der Schreibprozess des entsprechenden Romans ins Stocken geraten war. 70 Insofern belief sich die Rezeption des Correo de Ultramar in erster Line auf die literatura de entretenimiento, die literatura amena, die analog den europäischen Entwicklungen in der Freizeitgestaltung des kreolischen Publikums immer mehr Raum einnahm. Hierauf ist sicher zurückzuführen, dass die Zeitschrift als ein vornehmlich der Unterhaltung dienendes Medium ein weniger seriöses Image hatte als andere Publikationen. Der Langlebigkeit des Correo war dies offensichtlich nicht abträglich: Er erschien bis 1886 und ging dann in die Ilustración Española y Americana ein, die im Kontext der großen Einwanderungsbewegungen aus Spanien am Ende des 19. Jahrhunderts unvermindert Attraktivität besaß. Im Februar 1843 begrüßte Sarmiento in El Progreso die neue Initiative des Correo de Ultramar. Er hob zunächst die Persönlichkeit des Herausgebers Granier de Cassagnac hervor, indem er ihn nicht nur als "uno de los literatos y publicistas más distinguidos de la Francia actual" und als "escritor de juicio, observador, prudente, moderado y eminentemente socialista" bezeichnete, sondern auch konkret auf einige seiner Publikationen hinwies.71 Der eigentliche Zweck seines Textes war es jedoch, für die zukünftigen Nummern einige Desiderate an den Herausgeber heranzutragen: Die Verpflichtung besserer Übersetzer war eine Bitte, vor allem aber ging es Sarmiento darum, dass der Correo mehr "trabajos de importancia" beinhalten solle.72 Er forderte explizit ein, das intellektuelle Niveau in der an das hispanoamerikanische Publikum gerichteten Publikation zu wahren:
69
Arteaga Alemparte 1859, 209. Die sukzessive Übersetzung des Juif errant wird im Periódico político mit dem 28.6.1844 aufgenommen, die erste Lieferung des Originaltextes erschien am 25.6. in Le Constitutionnel. Am 28. Mai 1847 ist zu lesen: "Hallándose hace tiempo interrumpida la publicación francesa de la novela: Memorias de un médico, por Alejandro Dumas, nos vemos precisados á suspender su traducción hasta la continuación de aquella, que esperamos no tardará. Entretanto publicaremos la novela del mismo célebre novelista: Los Cuarenta y Cinco, y otra del no ménos célebre Balzac, intitulada: Los parientes pobres." 71 Sarmiento 2001 (1843), 84. 72 Ibid., 85. 70
51
En primer lugar, que no atienda a esa vulgaridad demasiado común en Europa que tratan de hacer entender que cuando se escribe para la América, debe escribirse sin dar a las teorías literarias y filosóficas toda la importancia científica que tienen. Por el contrario, desearíamos que se nos dieran pensamientos fuertes, bien trabados con las doctrinas y teorías absolutas que dominan hoy en todas las ciencias. En fin, queremos que escriba para nosotros poco más o menos como escribía sus trabajos de critica literaria, histórica y política. Le rogamos que no se vulgarice para hablarnos, pues que estamos cansados de las vulgaridades que oímos y que decimos cada día. (84-85) Hieraus spricht einmal mehr das Bedürfnis der Lateinamerikaner, Europa auf Augenhöhe zu begegnen und aus der durch die koloniale Vergangenheit begründeten Ultramar
nachgeordneten
Position
herauszutreten.
Und
der
Correo
de
war aus der Sicht Sarmientos durchaus eine sinnvolle Maßnahme, um
dieses Ziel zu erreichen. Zumindest schloss er seinen Artikel mit dem folgenden Aufruf: El Progreso se lisonjea en creer que es el primero que quizá saluda y tributa sus respetos al nuevo campeón que viene de Europa a defender entre nosotros los intereses de la civilización y de la industria, y que trae los productos de la riqueza y de la inventiva europea para regar nuestras inteligencias. Quiera Dios que sus esperanzas se cumplan; las nuestras estarán cumplidas mientras no se interrumpa tan bella como importante publicación. Recordamos a todos los jóvenes chilenos que participan de las ideas propias de la civilización moderna, se suscriban a esta preciosa publicación; pues que no pocas veces ella vendrá a ser el texto de importantes discusiones sobre intereses que nos son vitales.73 In den folgenden Jahren seines Erscheinens zeigte sich der Correo Ultramar
sehr
wohl
bemüht,
die
kulturellen
Aktivitäten
in
den
de
latein-
amerikanischen Ländern zu würdigen und als Forum für lateinamerikanische Autoren zu fungieren. So publizierte José Antonio Torres Caicedo, in Paris ansässiger Venezolaner und Chefredakteur des Correo
de Ultramar,
seit 1855
eine Artikelserie mit dem Titel "Hombres ilustres de la América española", die 1863 und 1868 in Buchform unter dem Titel Ensayos literaria
sobre
los principales
poetas
y literatos
biográficos
latino-americanos
y de
critica
herauskam. 74
Und Manuel Concha, einer der wenigen Verfasser von Erzählprosa im Chile der 1850er Jahre, war ebenfalls Redakteur des Correo de Ultramar. fügte in seiner Galería
de escritores
chilenos
Pedro P. Figueroa
seiner Notiz über Concha einen
durchaus positiven Kommentar über die Zeitschrift hinzu: "Aquella publicación europea siempre ha prestado hospitalidad a los trabajos literarios de nuestros poetas i publicistas. Nuestros mas notables escritores han colaborado en El de Ultramar
Paris ansässige Unternehmung w i e der Correo
73
Correo
con bellísimas obras de literatura."75 Vor allem aber konnte eine in de Ultramar
dazu dienen, die
Ibid. Sarmientos Forderungen an die Publikation können umso mehr als eingelöst betrachtet werden, als zum ersten Band der Ensayos 1864 eine lange und überaus positive Rezension in der Revue des Deux Mondes erschien: Elisée Reclus, "La poésie et les poètes de l'Amérique espagnole". Revue des Deux Mondes, 15.02.1964,902-29. Cf. Paatz 2001, 176-82, Paatz 2002, 535-36. 75 Figueroa 1885, 262. 74
52
nationalen Produktionen der einzelnen Länder im gesamten lateinamerikanischen Raum zu verbreiten. 76 Die Rezeption europäischer und lateinamerikanischer Literatur vollzog sich also keineswegs ausnahmslos in unterschiedlichen Publikationen, die womöglich gar unterschiedlichen sozialen Sphären zuzuordnen wären - man beachte den Gebrauch der ersten Person Plural in der oben zitierten Aussage von Arteaga Alemparte (S. 52), der sich und seine Weggefährten auf diese Weise eindeutig in die Reihe der Adepten französischer Romane einreihte. 77 Auf jeden Fall dürfte am Beispiel des Correo de Ultramar deutlich geworden sein, wie sehr die europäische Romanentwicklung im Untersuchungszeitraum auf den lateinamerikanischen Raum ausgriff. Die einheimische Presse machte dabei keine Ausnahme, zumindest seit die Tagezeitungen Feuilletons integrierten. In Sarmientos Progreso begann dies 1844, in El Mercurio aus Valparaiso bereits 1841. Laut Sarmiento habe sich die novela-folletín um 1845 in den Zeitschriften des Landes weitgehend etabliert, die dem Publikum zudem in den seit 1845 existierenden "Bibliotecas Populares" zugänglich gemacht wurden. 78 Und wie die Zeitungen über die Publikation von folletines Subskribenten gewinnen wollten, so gingen sie mit der Zeit zu diesem Zweck außerdem dazu über, als Zugaben für die Abonnenten separate Bücher zu vertreiben: Algunos periódicos desempeñaron un rol importante en la producción y difusión de libros, sobre todo el diarismo independiente o de tendencia liberal. El Mercurio de Valparaíso, por ejemplo, difundía folletines románticos a los pocos años que estos aparecían en Europa. También en 1863 creó la Biblioteca de Amena Lectura, con libritos de 48 páginas, que obsequiaba a sus suscriptores o vendía a 20 centavos el ejemplar. Utilizaba los folletines y los libros como gancho para aumentar la circulación del periódico. Este tipo de prácticas contribuyó a fomentar la lectura y fue perfilando un determinado gusto literario. 79
Die Feuilletons waren zum Teil zum nachträglichen Binden bestimmt und wurden schon umgebrochen und mit separaten Seitenzahlen abgedruckt. Die Zugaben in Buchform enthielten nicht selten aufwändige Illustrationen. Es ging also nicht nur um die Lektüre, sondern auch um die sichtbare, materielle Präsenz der Bücher als Gegenstände gesellschaftlicher Ostentation. In Bezug auf die autochthone Zeitschriftenproduktion zeigt sich im Untersuchungszeitraum bereits ein ausgesprochen vielfaltiges Bild, das in beiden Ländern geprägt ist von einer Vielzahl - häufig allerdings sehr kurzlebiger Zeitschriftenprojekte. Dieter Janik hat die Entwicklung für Chile und Argentinien für die ersten Jahre der Unabhängigkeit eingehend untersucht und aufgezeigt, dass das in den Periodika zu Tage tretende pragmatische Literaturkonzept einen
76
Cf. die Einschätzung des Uruguayers Alejandro Magariños Cervantes in Bezug auf seine in Paris ins Leben gerufene Buchreihe "Biblioteca Americana": "Nadie ignora que [...] es mas fácil la comunicación entre París y cualquiera de las nuevas repúblicas, que de estas entre sí. La Biblioteca, impresa en Francia, podrá esparcir fácilmente y con regularidad por todo el hemisferio americano" (Magariños Cervantes 1854, 1). Zur "Biblioteca Americana" s. Kap. 5.1.2. 77 Arteaga Alemparte 1859, 209. 78 Cf. Subercaseaux 1993, 59-60. 79 Ibid., 76.
53
"radikalen Aufklärungsprozess" in Angriff nahm. 80 Eine wichtige, noch in London erfolgte Unternehmung waren die beiden (Einzel-)Bände der Americana
(1823) und des Repertorio
Americano
Biblioteca
(1826-27) von Andrés Bello
und Juan García del Río mit ihrem "gemäßigt-liberalen politischen Anspruch", wie er von Manfred Engelbert herausgearbeitet wurde.81 Im Hinblick auf die explizit kulturell orientierten, auf Soziabilität ausgerichteten Organe ist an erster Stelle La Moda zu nennen, die unter der Federführung von Alberdi 1837-1838 in Argentinien erschien, bevor sie der Zensur des Rosas-Regimes zum Opfer fiel. Mit dem emblematischen Titel verschrieb sich die Zeitschrift dem Modernisierungsprozess, gleichzeitig enthielt sie satirische Gesellschaftskritik (Alberdi verwendete das Pseudonym "Figarillo" als Hommage an den Spanier Mariano José de Larra, der dem Argentinier mit seinen ironischen artículos de
costumbres
ein Vorbild war), Beiträge über Literatur und Kultur, aber auch explizit an ein weibliches Publikum gerichtete Sektionen. [S]u fórmula vahada, su mezcla de frivolidad y sutileza, de toque mundano y enciclopedismo, y su misma ambigüedad política, prefiguran el estilo de muchas publicaciones que ya responden a los esquemas y exigencias de la "literatura industrial", aunque sus redactores afirmen que La Moda "no ha sido establecida con miras de un lucro pecuniario", y acoten que si "la frivolidad de sus primeros números pudo presentar visos de seducción mercantil" no se trataba con ello de seducir a los lectores para sacarles su dinero, sino para hacerles aceptar sus ideas. 82
So präsentiert sich La Moda als ein weiterer Beleg für die Tatsache, wie Politik und Literatur, Seriosität und Unterhaltung nebeneinander ihren Platz fanden in der Ausgestaltung kreolischer Soziabilität. El periódico aparecía los sábados y - s i tenemos en cuenta el espectro de materiales que ofrecía (desde partituras musicales hasta traducciones filosóficas, desde cielitos hasta comentarios bibliográficos) y el tono zumbón que caracterizó sobre todo a sus primeros números- se puede inferir un público integrado por hombres y mujeres jóvenes y cultos con capacidad de participación en el juego irónico de sus páginas. 8 '
In den 1840er Jahren hielt auch die Revue Einzug in den Cono Sur. Sarmiento situierte das Format zwischen Zeitung und Buch und sprach ihm so einen besonderen Stellenwert in einem kulturellen Umfeld zu, in dem die Buchproduktion ein Desiderat symbolischen Kapitals war: La "revista" ocupa un término medio, entre el periódico y el libro, puesto que tratando con extensión y madurez los diversos asuntos que interesan al público, difunde conocimientos y propaga ideas que sus antecesores no pueden desenvolver. La "revista" es un verdadero
80
Janik 1995,103. Engelbert 2001, 87. 82 Rivera 1998, 15. 83 Iglesia/Zuccotti 1997, 64. Die Autorinnen unterstreichen die Wertschätzung der costumbres als Faktor nationalen Aufbaus seitens der Herausgeber und die Bedeutung der Frauen in diesem Zusammenhang, ebenso wie die Geringschätzung der von ihnen konstatierten weiblichen Frivolität. Offensichtlich gehen diese Zusammenhänge parallel mit der Einschätzung von "Romantik", s.o. 81
54
prontuario del pensamiento de la época, y el libro que más relaciones tiene con la sociedad. El "libro" ocupa el último tramo de esta escala sucesiva de las producciones originales. 84
1842 gründete der Argentinier Vicente Fidel López im chilenischen Exil die Revista de Valparaíso, 1848 entstand die von Guillermo Biest Gana verantwortete Revista de Santiago}5 Weitere Projekte waren die Revista del Pacifico (1858-60) 86 oder La Semana (1859-60) der Brüder Arteaga Alemparte. 87 Die Revista de Buenos Aires von Vicente Quesada und Miguel Navarro Viola, die zwischen 1863 und 1871 erschien, ist das solideste und prestigereichste Beispiel am Rio de la Plata. Explizit an der Revue des Deux Mondes war die Revista Española de Ambos Mundos orientiert, ein in Spanien realisiertes Projekt des Uruguayers Alejandro Magariflos Cervantes, das zwischen 1853 und 1855 existierte und dann - wie viele andere Zeitschriften - aufgrund der prekären kommerziellen Bedingungen eingestellt werden musste. 88 Diese Zeitschriften waren Foren kulturpolitischer Debatten, Träger beginnender Literaturkritik, aber vor allem auch Publikationsort für die ersten autochthonen Romane: So erschien Don Guillermo von José Victorino Lastarria 1860 erstmals in La Semana, Rosario Orregos Alberto el jugador wurde in der Revista del Pacífico publiziert, und selbst Alberto Biest Ganas Martin Rivas kam 1862 zunächst in La voz de Chile heraus. Von einem qualitativen ästhetischen Unterschied zwischen Zeitschriften- und Buchpublikationen konnte also zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede sein. Auch für die Tageszeitungen trifft dies zu, wenn auch in begrenzterem Ausmaß, denn sie erlangten erst relativ spät eine hinreichende Stabilität. In Chile zeigt sich hier wiederum der Standortvorteil von Valparaiso: Der Mercurio de Valparaiso erschien seit 1827, während in Santiago de Chile mit El Ferrocarril erst ab 1855 eine kontinuierlich erscheinende Tageszeitung zur Verfügung stand. In Argentinien war La Tribuna (1853-84) der Brüder Varela während der "Organización Nacional" eines der wichtigsten Blätter. Die bedeutendste Neugründung des 19. Jahrhunderts war jedoch 1870 Bartolomé Mitres La Nación, die bis heute existiert. All diese Initiativen medialer Kommunikation, seien es Revues oder Tageszeitungen, bewegten sich noch in einem relativ begrenzten Radius: Beiträger und Leser kannten sich meist gegenseitig, die Auflagenzahlen waren relativ niedrig. An anderer Stelle wurde bereits erwähnt, dass die Presseorgane häufig der Austragung privater Konflikte dienten. 89 So zeigt sich wieder - in eklatanter Abweichung von der Prämisse eines dispersen Publikums, wie sie der massenmedialen Kommunikation eigentlich zugrunde liegt - die fehlende Anonymität, die Begrenztheit der sozialen Kreise, die an diesen kulturellen Prozessen beteiligt waren. Die besondere Attraktivität von La Tribuna bestand 84 85 86 87 88 89
Sarmiento in El Progreso, 18.12.1842, zit. nach Martínez Baeza 1982, 155-56. S.u., Kap. 4.1.1. S.u.. Kap. 4.2.1. S.u., Kap. 4.2.2. Cf. Paatz 2001; s.u., Kap. 5.1.2. Cf. González Bernaldo 1999. 55
offensichtlich in der Rubrik "Hechos Locales", die eine geradezu persönliche Beziehung zwischen Zeitung und Lesepublikum aufbaute. Überhaupt war La Tribuna geprägt von "gestos de sociabilidad" wie "movilizaciones, mitines, banquetes, comparsas". 90 Junto con este despliegue personal en la relación con el público, que tiñe muchas de sus columnas, los "Hechos locales" suelen ser terreno para las informaciones sobre La Tribuna misma y sobre otros diarios: novedades respecto del folletín, recomendaciones de alguna columna, rectificaciones jocosas de las informaciones de los "colegas", ocasionales incorporaciones al plantel de redactores. Haciendo del periódico un vecindario por el que pasean los ojos de los lectores, los "Hechos locales" exhiben el atraigo de sus redactores e incitan al público a asomarse a otras secciones."
Es lohnt sich dieser etwas eingehendere Blick auf La Tribuna, weil sich hier gleich mehrere Aspekte des kulturellen Horizonts der Zeit erschließen: Die Brüder Varela sind die Söhne von Florencio Varela, eines unitarischen RosasGegners, der im montevideanischen Exil El Comercio del Plata (1845-57) gegründet hatte. Die Söhne profitierten also von der Prominenz und Erfahrung des Vaters und befanden sich in einem intellektuellen Umfeld, das ihnen Autoren und Publikum garantierte: La reunión, en el padre, de pobreza económica y riqueza simbólica hace de ésta una virtud heredable. A la vez, para los hijos, Héctor y Mariano Varela (1834-1902), la herencia se traduce en términos absolutamente materiales: contactos personales, facilidades contractuales para acceder a una imprenta, protección de las autoridades de tumo. La Tribuna (1853-1884), su producto más importante, es un diario "joven". Lo es el público con el que dialoga -precisamente de los "jóvenes" del exilio- y lo son sus directores - sólo ocasionalmente asume su dirección un hombre de más de treinta años-, Pero esa juventud se muestra sobre todo en La Tribuna cuando se propone el diario como sinónimo y legitimación de su marca distintiva: el tono irreverente con el que presenta la información. Parte importante de ese espíritu zumbón se expresa en su inconsecuencia partidaria y política. 9 "
Politik ist auch hier eingebunden in ein vielfältiges Netz gesellschaftlichen Umgangs, und das Ganze ist geprägt vom Enthusiasmus der Jugend. Diese Art medialer Funktionalisierung erscheint wiederum zentral in Bezug auf den Stellenwert, den das Romangenre innerhalb der meisten Periodika einnahm. Es ging hier sicher weniger um den kommerziellen Aspekt als vielmehr um die Bereitstellung eines umfassenden Angebots an Information und Unterhaltung, das alle Bereiche des Alltagslebens integrierte. Die schon durch die Persönlichkeit ihres Herausgebers Mitre auf Seriosität hin angelegte La Nación geriet in ihrem Bemühen um die Einlösung eines solchen Programms von sociabilidad zu einem regelrechten "Familienunternehmen": Mitres Ehefrau Delfina de Vedia und die Töchter Delfina und Josefina kümmerten sich um die Auswahl von Feuilletons und Auslandsnachrichten und besorgten deren Übersetzung. 93 In diesem umfassenden Anspruch des medialen Engagements setzten die Romantiker ihre 90 Román 2003, "Tipos...", 473-74. Miguel Cañé Padre war der Schwager von Florencio Varela und stellte der Zeitung einige seiner Manuskripte zur Verfügung. S.u. Kap. 5.1.2. 91 Román 2003, "La prensa...", 454-55. 92 Román 2003, "Tipos...", 475. 93 Cf. ibid., 478.
56
gesellschaftspolitischen Prinzipen aus den 1840er Jahren mit erstaunlicher Kontinuität fort: Desde los tiempos del exilio montevideano, Mitre -apenas menor que la mayoría de la "joven generación"- es quien logra realizar con mejores resultados la transacción entre armas y letras, probablemente porque todas sus actividades están orientadas a un único objetivo persistente: la formación de públicos, sean políticos, periodísticos, masivos o de elite. Se trata, en rigor, del intento de formar un único público que reúna a todos los sectores.
Das Bemühen um die Integration eines möglichst breiten Publikums kann für das gesamte Projekt der autochthonen Presse angeführt werden, auch wenn das Ausmaß der tatsächlichen Zielgruppen begrenzt war und noch keine massenmedialen Dimensionen erreichte. Es bestätigt erneut die Nicht-Existenz einer Unterscheidung zwischen Elite- und Populärkultur und integriert explizit das weibliche Publikum. Insofern stand die Institutionalisierung des Pressewesens in Argentinien und Chile im Dienste des gesellschaftlichen Projekts von sociabilidad und civilización im Kontext der Formierung eines autochthonen Gemeinwesens. Die Veröffentlichung von Romanen im Feuilleton blieb so über lange Zeit die Regel, Buchpublikationen die Ausnahme. Als 1841 der Katalane Rivadeneyra in Valparaiso die Druckerei des Mercurio übernahm, kündigte er die Produktion von Büchern an und verwies in aller Deutlichkeit auf den Konkurrenzdruck der periodischen Presse: Esperamos que los buenos ciudadanos contribuyan con sus esfuerzos a la feliz realización de nuestras miras, justificando nuestro concepto de que ya es llegado el momento de dar en el país un grande y nuevo impulso a la prensa, saliendo del limitado y efímero círculo del folleto o el periódico. 95
Die Druckereien fungierten häufig gleichzeitig als Buchhandlungen, was zur Folge hatte, dass die nationale Produktion und der Vertrieb von Importware in einer Hand lagen. Weil also das Angebot an Büchern zunächst auf Lehrbücher oder religiöse Werke beschränkt war, bedeutete die in den 1840er Jahren zögerlich aufkommende kommerziell motivierte Herstellung von Büchern etwas völlig Neues. "La edición de libros es por cierto escasa y de factura eminentemente pragmática", so Rivera in Bezug auf das Verlagswesen in den auf die argentinische Unabhängigkeit folgenden Jahren. 96 Für Chile kommt Subercaseaux zu einem analogen Befund: La producción de libros nacionales estuvo prácticamente limitada a libros de carácter funcional, o a algunos impresos encargados por el gobierno. La producción de libros para el comercio fue por ende casi inexistente. La mayoría de los libros en circulación (que no eran
94
Ibid., 477. Mit "armas y letras" appliziert die Autorin das Ideal aristokratischer Lebensart im Siglo de Oro, so dass das bürgerlich-liberale Engagement Mitres hier in gewisser Weise "geadelt" erscheint. " Subercaseaux 1993, 73. % Rivera 1998, 10.
57
muchos) provenían, entonces, del extranjero y habían ingresado al país por la vía de la importación." Dennoch
stellte sich die
Situation
nicht g a n z
so defizitär dar,
wie
g e m e i n h e i n a n g e n o m m e n w u r d e . 9 8 S o k o n n t e der E i n z u g der R o m a n t i k a m Rio d e la Plata ü b e r die H e r a u s g a b e der T e x t e Esteban Echeverrias in d e n 1830er Jahren d u r c h die I m p r e n t a A r g e n t i n a erfolgen: Elvira 1834 Los Consuelos
o ¡a Novia del Plata erschien 1832,
u n d 1837 schließlich Rimas."
Diese T e x t e w u r d e n in der
p e r i o d i s c h e n Presse rezensiert u n d stehen so a m A n f a n g der journalistischen Literaturkritik in Argentinien. Novedad en cuanto a fondo y forma, identificación con el estilo de producción de las grandes metrópolis, donde el libro cuenta también como objeto industrial y como mercancía, manipulación crítica y elección de una temática "nacional", reconocible para el lector, son aspectos indudablemente originales, signos de "modernidad", que contribuirán al éxito editorial de los libros de Echeverría y posibilitarán las reediciones de 1842 (Los Consuelos) y 1846 (Rimas).'00 B u c h d r u c k u n d B u c h h a n d e l b e f a n d e n sich h ä u f i g in ausländischer H a n d , so dass sich selbst die e i n h e i m i s c h e P r o d u k t i o n a b h ä n g i g zeigte v o m europäischen M a r k t . D i e s betraf nicht n u r die bereitgestellten Inhalte, s o n d e r n v o r allem auch die M o d a l i t ä t e n der Produktion. O f t w u r d e auf Ü b e r s e t z u n g e n o d e r a u f spanische Literatur z u r ü c k g e g r i f f e n : El rol más activo de las imprentas -en una perspectiva editorial- fue sin embargo en el área de las traducciones o reimpresiones de autores europeos. Hay que distinguir, en este sentido, entre la edición de obras ya traducidas en España o de autores españoles, en las cuales las imprentas no pagaban derecho y se limitaban simplemente a reimprimir; y las versiones realizadas en el propio país, que implicaban una inversión previa por concepto de traducción. Con respecto al primer grupo sabemos que ya en 1844, "se imprimían en Valparaíso poesías de Zorrilla y Espronceda, pirateadas y tan admirablemente hechas como ediciones de origen." En este grupo hay que incluir también las reimpresiones de novelas y folletines franceses e ingleses, traducidos en España.10' W e i l die Fabrikation in Ü b e r s e e viel k o s t e n g ü n s t i g e r war, w u r d e n B ü c h e r o f t m a l s dort hergestellt u n d in L a t e i n a m e r i k a m i t e i n e m n e u e n pie de
imprenta
versehen, d e r sie als nationale P r o d u k t i o n e n auswies. 1 0 2 D a s B u c h w u r d e z u m
97
Subercaseaux 1993, 36. Cf. auch die von ihm zitierte Äußerung Sarmientos: "Cuáles son los libros que más circulan entre nosotros?: 1. los tratados elementales de educación, 2. las novelas que se colectan de los folletines [...] de las cuales circulan ya en el país millones de ejemplares, 3. las obras serias que se imprimen bajo la protección del gobierno, y que pocos leen; y uno que otro libro original que viene, ya por serlo, desfavorecido en los ánimos" (56). 98 Cf. Rivera 1998,13. 99 Cf. ibid., 13f. 100 Ibid., 14. "" Subercaseaux 1993, 77. Subercaseaux zitiert seinerseits Lago 1934. Auch in Argentinien wird die parallel zur Produktion autochthoner Texte erfolgende vergleichsweise massive Publikation ausländischer Romane beklagt. Cf. Buonocuore für die Zeit ab 1850: "Por lo tanto, las obras del género -alimento preferido del grueso público nuestro- debían llegar necesariamente de afuera, sobre todo de España. Las novelas de Pérez Escrich y de su fecundo continuador, Fernández y González; a ratos, las de Ayguals de lzco, en la madre patria; las de Eugenio Sué y Alejandro Dumas, en Francia; las de Bulwer-Lytton y algún otro de Inglaterra, hacen el gasto y son las de mayor consumo"; Buonocuore 1974, 87-88. 102 Cf. Eujanián 1999,571. 58
Konsumobjekt, und die Auswahl von Themen und Genres folgte damit immer deutlicher kommerziellen Überlegungen. "El librero de París o de Barcelona", so Sarmiento, consulta en la impresión la seguridad de vender sus productos, por lo que allá como aquí, huyen las imprentas de dar a luz obra seria ninguna. Treinta ediciones se han hecho en español de los Misterios de París; y no sabemos que se haya hecho una sola de La Democracia en América de Tocqueville, o de la Historia de ta civilización de Guizot. 103
In Argentinien ließ sich während der Ära Rivadavia, als Buenos Aires zum "Atenas del Plata" 104 wurde, ein gewisser Aufschwung erkennen, der wiederum durch eine enge Anbindung an die europäischen Gegebenheiten gekennzeichnet war. Por otra parte, desde 1830, el comercio bibliográfico con las ciudades europeas -activado, luego, por el romanticismo literario de Francia, que pronto sus epígonos difundirían en el Río de la Plata- era singularmente intenso en Buenos Aires, donde había ya varias imprentas y librerías de cierta importancia. 105
Die wohl wichtigste Institution war Marcos Sastres Librería Argentina, die von 1833 bis 1837 bestand. Zu dieser Buchhandlung gehörte auch der Salón Literario, in dem die jungen, meist oppositionellen Literaten zusammenkamen und der 1837 auf Geheiß von Rosas geschlossen wurde. Sastre betrieb überdies ein "Gabinete de Lectura" (1835), das Lektüre leihweise zur Verfügung stellte und die wichtigsten einheimischen und europäischen Presseerzeugnisse abonniert hatte. Bei diesem internationalen Angebot behielt die französische Importware nach der Julirevolution Priorität: [A] partir de 1830 la presencia de la literatura francesa se hará todavía más evidente, y las librerías de Ezeiza, Larrea, Mercet, Minvielle, Riesco, Duportail, Laty, Halbach, Ocantos y Sastre comenzarán a exhibir una nueva mercancía literaria, producida en París al calor de los sucesos revolucionarios de Julio. Abundan ahora los textos de Hugo, Constant, Destut de Tracy, Leroux, Nodier, Lamartine, Dumas, etc.' 06
In Chile eröffneten die ersten Buchhandlungen etwas später, zumindest konstatiert Subercaseaux, dass Bücher dort Ende der 1830er Jahre noch in Gemischtwarenhandlungen vertrieben wurden. 107 Die Bedingungen des Buchmarktes sind jedoch vergleichbar, besonders im Hinblick auf die Kombination nationaler Produktion mit ausländischer Ware und mit ausländischem knowhow. Dies lässt sich unschwer an der Tatsache ablesen, dass ein Großteil der mit der Produktion und dem Vertrieb von Büchern befassten Personen aus dem Ausland kam. Als Rivadeneyra 1842 enttäuscht über die Möglichkeiten des Buchhandels in Chile nach Spanien zurückkehrte, ging El Mercurio in den Besitz von Santos Tornero über, der ebenfalls Spanier war und seit 1834 in Chile lebte.108 Unter ihm 103
Sarmiento zit. nach Subercaseaux 1993, 56. Buonocuore 1974, 19. Ibid., 19. Cf. auch Rivera 1998, 17. 106 Rivera 1998, 16. 107 Cf. Subercaseaux 1993, 37. 108 Cf. Silva Castro 1958, 139. Rivadeneyra initiierte in Spanten die Biblioteca Españoles, eine bis heute maßgebliche Reihe spanischer Klassiker. 104
105
de
Autores
59
konsolidierte sich der Mercurio als eine der wichtigsten Zeitungen des Landes; er arbeitete u.a. mit Lastarria und Vicuña Mackenna zusammen. 1840 eröffnete Santos Tornero in Valparaíso mit seiner Librería Española die erste Buchhandlung Chiles, 1842 eine weitere in Santiago. Seit 1845 nannten sich die Buchläden "Librerías de El Mercurio", und in den folgenden Jahren errichtete Santos Tornero Filialen in Copiapó, La Serena und San Felipe. 109 1849 gab es in Valparaiso mindestens fünf Buchhandlungen, darunter zwei im Besitz von Spaniern (Santos Tornero, Ezquerra Gil), weitere zwei unter der Leitung von Franzosen (José Desplangues, Fernando Floury) sowie die chilenische der Brüder Cueto. Aus einem Katalog der Buchhandlung Cueto von 1849 geht hervor, dass sich die nationale Produktion in diesem Jahr auf weniger als 1 % des Gesamtangebots belief. 110 Bei mehr als 75% der Bücher handelte es sich um Übersetzungen französischer Autoren. Bernardo Subercaseaux zählt für den Zeitraum von 1840 bis 1850 74 Übersetzungen (Sue, Dumas, Saint-Foix) und für 1850 bis 1860 96 (Dumas, Lamartine). 1 ' 1 In Argentinien erlangte der Buchhandel mit dem Ende des Rosas-Regimes eine neue Dynamik. Rivera entnimmt dem Almanach von La Tribuna von 1855, dass zu diesem Zeitpunkt in Buenos Aires zehn Druckereien, zwei Lithographieanstalten und elf Buchandlungen betrieben wurden, auch hier in vielen Fällen von immigrierten Europäern." 2 Bereits 1838 war der Bestand der Librería Argentina von Marcos Sastre von einem Franzosen mit Namen Lucien aufgekauft worden, der seine 1848 offiziell gegründete Buchhandlung 1858 wiederum seinem Landsmann Joly übergab, "librero nato, poseído de una vocación firme y contagiosa". 113 La librería y papelería de Claudio M. Joly -tal fue la leyenda usual de la casa- contó invariablemente con un extenso surtido de obras extranjeras, siendo frecuentada, además, por una distinguida clientela de carácter cosmopolita. Joly fue el primero que organizó en Buenos Aires un servicio regular de revistas y periódicos procedentes de Francia, Italia y España, que pronto hizo extensivo a otros países. Especializó su comercio en libros de materias científicas y técnicas: agronomía, veterinaria, medicina, química, ciencias naturales. Posteriormente, incorporó a su fondo obras de derecho y economía y editó algunas de este carácter, entre las que figura el Curso de derecho crimina/, 1871, de Carlos Tejedor. 114
Ebenso wie in Chile waren auf dem argentinischen Buchmarkt spanische Händler aktiv. Ende 1852 gründete Benito Hortelano die Librería Hispano-
109 Lastarria urteilt in seinen Recuerdos literarios über Santos Tornero anlässlich der Gründung der in seiner Druckerei erscheinenden Revista deI Pacifico durch Guillermo Biest Gana 1858: "[D]on Santos Tornero, quien, como empresario del establecimiento tipográfico y librería de El Mercurio de Valparaíso, prestaba mano generosa a la prensa literaria y liberal, y quien tanto se ha distinguido por sus esfuerzos en fomentar el progreso intelectual de la patria de sus hijos." Lastarria 1967 (1885), 285. 1,0 Subercaseaux 1993, 78. 111 Ibid., 77. " 2 Cf. Rivera 1998, 19. " 3 Ibid., 45. " 4 Rivera 1998,46.
60
Americana," 5 und ab dem Folgejahr funktionierte die Buchhandlung La Española der Brüder Teodomiro, Federico und Hipólito Real y Prado." 6 Auch hier integrierten sich die Spanier in den autochthonen Literaturbetrieb, Sarmiento und Mitre verkehrten in der tertulia von Teodomiro Real y Prado." 7 Die Lichtgestalt des argentinischen Buchmarkts jener Zeit war jedoch Carlos Casavalle mit seiner Imprenta y Librería de Mayo, "la gran figura del libro y de la imprenta que señorea por sus virtudes personales y profesionales durante 40 años en el Buenos Aires intelectual de la época"." 8 Seit 1853 war er der maßgebliche Büchermann der "Organización Nacional", "el impresor por antonomasia y el librero de la patria". 119 In seinem Verlag publizierten die proceres: 1854 erschienen die Erstausgaben von Mitres Rimas und Sarmientos Viajes, 1860 die Apuntes biográficos de escritores, oradores y hombres de Estado de la República Argentina von Juan María Gutiérrez. 120 Das bedeutendste Projekt von Casavalle war wohl Mitres Historia de Belgrano, die drei Auflagen zu 1.000 Exemplaren zu einem Zeitpunkt erreichte, als sich die übliche Auflagenhöhe zwischen 300 und 500 bewegte. 121 Der argentinische Buchhandel erlebte ab 1862, dem Gründungsjahr der República Argentina, einen regelrechten Boom: "El año 1862 [...] es el comienzo de lo que podríamos llamar la 'edad de oro' del libro argentino, con la fundación de varias casas que habrían de ser, luego, los grandes emporios de las artes gráficas hasta los días actuales." 122 Es handelte sich wie bei Casavalle vornehmlich um kombinierte Unternehmen von Buchhandel und Druckerei, zu nennen sind vor allem Pablo E. Coni (1863), "juntamente con Casavalle, el editor de las primeras publicaciones periódicas de carácter científico y literario que vieron la luz entre nosotros", sowie die Unternehmen der deutschstämmigen Guillermo Kraft (1864) und Jacobo Peuser (1867). 123 Der Buchhandel erlangte nach und nach eine Stabilität, die sich auch auf die Professionalisierung der Schreibenden niederschlug. Zunächst fanden sie im aufkommenden Zeitschriftenwesen ein Betätigungsfeld, wobei Herausgeber- und Autorentätigkeit in vielen Fällen noch in einer Hand lagen und auch die Leserschaft einen überschaubaren, weitgehend namentlich bekannten Kreis gebildet haben dürfte. 124 Die editorischen Projekte mussten meist über die Subskription 115
Cf. Buonocuore 1974, 39. Cf. ibid., 42. In der Librería del Comercio, die Teodomiro Real y Prado 1865 in alleiniger Verantwortung eröffnete. Cf. ibid., 42. 118 Ibid., 51. Ibid., 55. 120 Cf. ibid., 51. 121 Cf. ibid., 57. 122 Ibid., 38. 123 Cf. ibid., 57-61, Zitat 57. Cf. auch Rivera 1998, 19-20. 124 Gerade diese personelle Übersichtlichkeit des Literaturbetriebs behinderte nach Ansicht von Joaquín Biest Gana die Herausbildung einer unabhängigen Literaturkritik autochthoner Werke: "Es verdad que hemos visto sábias y profundas criticas, pero sobre autores extranjeros, sin que pueda citarse casi ninguna relativa a la literatura chilena. Bien manifiestas son las causas que 116 117
61
realisiert werden, und die in den Büchern oder Zeitschriften abgedruckten Subskriptionslisten geben Auskunft darüber, wie wenig anonym sich der Literaturbetrieb zu dieser Zeit noch gestaltete. Sicher war der Konkurrenzdruck aus dem Ausland über lange Zeit ein erschwerender Faktor, wie Miguel Luis Amunátegui 1852 in seinem Aufsatz "Literatura americana" vermerkt: Los libros de ultramar son muí bien escritos i mui baratos para que la concurrencia pueda sostenerse. Desde que los autores no se proporcionen con su pluma medios de susistencia, serán rarísimos los que sólo por la gloria se condenen a la miseria [sie]. 125
In diesen Jahren des gesellschaftlichen Aufbruchs zählte aber nicht nur die technologische und wirtschaftliche Infrastruktur, sondern darüber hinaus die Möglichkeit des intellektuellen Austauschs, die sich über die verschiedenen buchhändlerischen Initiativen ergab. Seit Marcos Sastres "Salón Literario" waren die Buchhandlungen immer auch Orte der Begegnung, wo sich neue Szenarien kreolischer Soziabilität präsentierten. In den tertulias begegnen uns wieder die bekannten Namen - bei Casavalle trafen sich Gutiérrez, López, Mitre, Lamas und Sarmiento, 126 der Spanier Teodomiro Real y Prado empfing unter anderen Sarmiento und Miguel Cañé. 127 Die internationale Prägung des Buchhandels gab offensichtlich wenig Anlass zu nationalem Ressentiment, zumindest erscheint die spanische Beteiligung in Argentinien wie in Chile relativ integriert. Im Fall der Franzosen ist dies aufgrund des Prestiges von Frankreich als Kulturnation ohnehin weniger problematisch, vor allem, weil der Buchhandel als Teil umfassender Soziabilität ein männliches wie weibliches Publikum ansprach. Un factor de activa propaganda que contribuyó a popularizar la librería, fue la publicación periódica - m u y de estilo por esa época- de un almanaque con noticias de actualidad social, política e informaciones de la casa. Joly editó, también, otro repertorio similar durante varios años -Almanaque de las porteños- muy celebrado, especialmente entre el público femenino. 128
Das Szenario im Buch- und Pressewesen zeigte sich so geprägt von persönlichen Kontakten und von einer erstaunlichen Gleichzeitigkeit männlicher und weiblicher Publika und folglich von obras serias und literatura
amena.129
circunscriben i encadenan la crítica nacional; siendo mui pequeña nuestra sociedad, estrechamente eslabonada, temeroso el escritor de herir con sus tiros el delicado blanco de las preocupaciones patrias, o de sublevar en contra suya el resentimiento mezquino de los que se creen ofendidos, o de romper tal vez las relaciones de amistad o sociales que mantiene, guarda para sí sus opiniones, medroso de los funestos resultados que pudiera acarrearle el emitirlas" (J. Blest Gana 1848, "Causas...", 67). 125 Amunátegui 1852, 464. 126 Cf. Buonocuore 1974, 56, Eujanián 1999, 559-60. 127 Cf. Buonocuore 1974, 43. 128 Buonocuore 1974, 46. In Argentinien entstand auch eine beeindruckende Anzahl explizit an Frauen gerichteter Kulturzeitschriften, allerdings erst ab ca. 1875 und damit außerhalb des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Arbeit. Cf. Auza 1988. 129 Cf. Subercaseaux 1993, 81 im Hinblick auf die Begrenztheit der betroffenen Kreise: "Otro factor fue el hecho de que los miembros de la elite intelectual de la época formaban parte de un mismo 'vecindario decente'. Todos o casi todos habían estudiado en el Instituto Nacional y estaban vinculados a la Universidad de Chile. Se conocían entre sí y por lo tanto se obsequiaban los libros mutuamente. Este tipo de práctica les restaba mercado a ediciones que rara vez sobrepasaban los 500 ejemplares." Für Argentinien schreibt Eujanián 1999, 570-71: "En este período,
62
Und
die
seit
Mitte
des
Jahrhunderts
zu
beobachtenden
Tendenzen
Institutionalisierung d e s B u c h - u n d P r e s s e w e s e n s s c h u f e n für das
einer
literarische
H a n d e l n n e u e B e d i n g u n g e n , u n d z w a r w e n i g e r in quantitativer als in qualitativer H i n s i c h t . N a t i o n a l e R o m a n e v e r z e i c h n e t e n d i e B u c h h a n d l u n g e n n o c h in e i n e m sehr
reduzierten
Maß,
die
Präsenz
ausländischer
Titel
war
demgegenüber
e r s c h l a g e n d . 1 3 0 D o c h w u r d e d a s L e s e n , u n d a u c h d i e unterhaltende Lektüre, m e h r u n d m e h r z u e i n e m integralen B e s t a n d t e i l k r e o l i s c h e r Soziabilität. D i e i m F o l g e n den vorgestellten Romane
sind erste V e r s u c h e , d i e s e n n e u e n
Anforderungen
gerecht zu werden.
salvo casos aislados, es el propio autor el que financia la publicación, recurriendo para ello a su propio patrimonio y a la suscripción, para la que suele comprometer a sus amigos. Ajeno a las particulares condiciones del mercado y a los canales de circulación formales, el mundo de lo privado, cruzado por las relaciones interpersonales, a la vez que era un puente de diálogo entre intelectuales constituía un medio de circulación y difusión de las obras. Sarmiento, en su correspondencia durante los años previos a Caseros, alterna los comentarios respecto a la situación política de Buenos Aires con pedidos de reseñas de sus libros e incluso reclamos a amigos como Modestino Pizarro, para que encuentre suscriptores para algunas de sus obras." 130 "[D]urante la tiranía de Rosas empezó la introducción de novelas extranjeras, cuyo aviso de venta solían publicar las librerías en La Gaceta Mercantil; pero que antes de Caseros, no se imprimían novelas en el país, salvo pocas excepciones, entre las que puedo citar La marquesa de Bellajlor o el Niño de la Inclusa, de Ayguals de Izco (Buenos Aires, 1833), que es libro extranjero, y las Cartas a Genuaria, de Marcos Sastre (1840), que no es propiamente novela" (Rojas 1960, Los modernos, Bd. 2,382). 63
E ciRi M u m m res »»»«s oisrams FAUTE
/T
PARTE
?1
POliïICA ILUSTRADA
MODA BE Là KOXUÜGIA PAKBIEiSS ABMTKtSTfUCK« GtMEKAl. EN PARIS ••> 1*7«. .w panga Umbkn A nívrí, 49 núrrmrsi — 4X figurines mstnvoh* - [>ti* 4 de kmbres y »¡gas** de
mfm), 2)tii h h Mods*oiitMnenâr 10 (rnncm, ¡at£io d& h i'nfíHtdvi'iitícioi!.
Ptrh. SI Í>t.*;tU \'«t»ftrrnl» Koiofl», t»lk ir I» Admi»,
M.
Ittlvt IM*
Titelblatt von Soledad (1848). Biblioteca Nacional de Chile, Santiago.
Das Album Zur Applikation des im Jahre 1826 situierten Romangeschehens in die zeitgenössischen Lebenszusammenhänge seines Publikums bediente sich Mitre einer heterodiegetisehen Erzählinstanz, die immer wieder auf die zeitliche Distanz hinweist und sich so mit den expliziten Leserinnen und Lesern der späten 1840er Jahre solidarisiert. Besonders deutlich wird dies in seinem bereits erwähnten Kommentar, dass das gemeinhin auf dem Klavier befindliche Album, "que en nuestros dias se ha hecho un mueble obligado de toda dama elegante, para servir de alimento á la vanidad y de martirio a los poetas" (106), nicht zum Inventar des beschriebenen Interieurs gehörte, da es zum Handlungszeitpunkt noch nicht in Mode gekommen war. Dieser Hinweis auf das Album verdient nähere Beachtung, weil er direkt auf die Lebensart der kreolischen Eliten Bezug nimmt. Dem jungen Mitre war dieser Brauch aus eigener Anschauung bekannt, schließlich war er 1847 gerade einmal 25 Jahre alt.41 Das Album wurde, ganz ähnlich wie der Roman, sehr kontrovers diskutiert, und es fand in Lateinamerika wie dieser ganz dezidierte Fürsprecher, die selbst diese häufig als frivol abgewertete Gewohnheit in den Dienst des literarischen Fortschritts stellten. Zunächst im privaten Bereich der persönlichen Beziehungen situiert, verweist es doch über die kollektive Lektüre dieser individuellen Textsammlungen auf die zwischen öffentlicher und privater Sphäre situierte Dimension des gesellschaftlichen Umgangs in den kreolischen Salons. Gänzlich im öffentlichen Bereich sind dann die gedruckten "Alben", d.h. an das weibliche Lesepublikum gerichtete Periodika, die diesen Ausdruck in ihrem Titel tragen: El Album de las señoritas, El Album del bello sexo, etc. In Mitres bolivianischer La Epoca wurde in der Sektion "El Album de las damas" vornehmlich die europäische Mode vorgestellt. Unzueta zitiert eine Anspielung auf die in den kreolischen Haushalten existierenden Alben innerhalb dieser Rubrik: Uno de ellos describe lo que es "Un Album": "un librito con pájinas doradas ... propio para el dibujo y hasta para el grabado. Es de nueva invención; importado de Europa a nuestra América como el romanticismo y los botines de punta cuadrada...". [...] La idea de "importar" un artefacto o discurso cultural "de Europa a nuestra América" de manera análoga a la de un artículo de consumo, de última moda, describe bien la misión de este periódico y de gran parte de la cultura letrada. 42
So stand das Album gleichsam emblematisch für die Einbeziehung eines weiblichen Publikums in den kulturellen Diskurs, aber auch für die fließenden Übergänge zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in der kreolischen Gesellschaft. Das Album war eine Art kulturelles Statussymbol, das in den Salons der Elite zur Schau gestellt wurde. 41
Arguedas' Projektion über Mitre in Bolivien liest sich z.B. wie folgt: "Entonces era Mitre un mozo elegante, altivo, intrépido y soñador. Acababa de cumplir 25 años y ya su fama de poeta y de soldado ponía en relieve su nombre sonoro y breve" (Arguedas 1968,1). 42 Cf. Unzueta 2006,249. Das Zitat entstammt l a Época, 21,24.05.1854, 1.
200
Der seitens der "Generación de 1837" hoch geschätzte José Mariano de Larra hatte in Spanien bereits 1835 diesem zeitgenössischen Phänomen des gesellschaftlichen, häufig zwischengeschlechtlichen Umgangs Tribut gezollt. Das Urteil seines costumbristischen Artikels "El album" war vernichtend, für ihn bedeutete die Modeerscheinung nichts als Ausdruck weiblicher Eitelkeit und männlicher Geltungssucht.43 Dieser Text ging offensichtlich in das kollektive Gedächtnis der lateinamerikanischen Literaten ein; zumindest griff ihn Sarmiento 1842 im Feuilleton des chilenischen Progreso auf: "Hay tanto picaro envidioso en este mundo que no es de extrañar que Larra se hubiese puesto a vomitar pestes contra el álbum."44 Sarmientos Meinung über das Album weicht von deijenigen Larras jedoch ab: Volvamos al álbum que por dos días habita sobre la mesa, hasta que la camarera lo lleva medio dormido a su lugar conocido, que es la cubierta del piano. Allí se vuelve marmota, se está sin chistar palabra meses enteros; nadie lo acaricia, nadie le pregunta nada, ni le dan un verso ni unas flores, hasta que por fortuna una nueva reputación literaria llama a la puerta. Entonces despierta el álbum y se engulle unas décimas argentinas, unas flores de Aconcagua, unos endecasílabos de Lindsay, o unas armonías de Chacón, o unas quintillas de Matta, nombres literarios que acaban de romper la cáscara, y han salido piando lindos versos de la nidada que ha incubado la sociedad literaria bajo el ala fecundante de Lastarria. 45
Sarmiento qualifiziert den Usus des Albums - das bei ihm ebenso wie bei Mitre seinen Platz auf dem Piano hat - nicht als Frivolität ab, sondern kommentiert ihn allenfalls liebevoll-ironisch. Die in den Alben niedergeschriebenen Texte stammen bei ihm von den maßgeblichen zeitgenössischen Literaten und werden keineswegs als paraliterarische Gelegenheitsdichtung abgetan. Mit dem Verweis auf die Sociedad Literaria stellt er explizit den Zusammenhang zu höchsten literarischen Ansprüchen her. Sicher sind Sarmientos im Glossenstil gehaltene Äußerungen nicht ganz ernst zu nehmen - aber zumindest verdeutlichen sie einmal mehr, dass Elite- und Populärkultur im gleichen diskursiven Raum verhandelt wurden. Dicen que no tenemos literatura, al menos así decían antes; pero que vayan las malas lenguas a hojear un álbum, y allá hallarán los gérmenes de la literatura nacional, el repertorio, la biblioteca; y no dudo que si el álbum no hubiese venido a Chile, ni soñaríamos todavía en hacer versos. ¡Si no hay estímulo para el cultivo de las letras como un lindo álbum y un dueño bello! Se quejan las sílfides de que los jóvenes chabetas las dejan por Víctor Hugo y los otros babiecas. ¡Locura grande y no más chica simpleza! Compren álbum, niñas lelas, y pongan a contribución a clásicos y a románticos, a castizos, a gálicos, y a toda la literaria ralea. Las palabras se las lleva el viento; pero quod scriptum scriptum, y no hay que andarse con fiestas. Les dirán melindres en acompasados metros; y la posteridad más remota encontrará un día entre trastones viejos un álbum del siglo pasado, dirán de la época de la Sociedad de Industria y Población, allá por los años de 1842, en cuyas róidas páginas tropezarán con un verso fósil y una pintura de la antigua escuela. Compren álbum todas y harán un gran servicio a las bellas artes y letras. 46
43 44 45 46
Cf. Larra 1985 (1835). Sarmiento 2001 (1842), 58. Ibid.. 59. Ibid., 59-60.
201
Sarmientos Vision ist apart: Im Bewusstsein der Notwendigkeit literarischer Traditionsbildung schreibt er den im persönlichen Besitz befindlichen Alben die Funktion der Archivierung zu. Von "literatura nacional" über "repertorio", "biblioteca" bis zu "bellas artes y letras" finden sich in der zitierten Passage einschlägige Begrifflichkeiten, die allesamt hinweisen auf die Vorstellung von Literatur als zu bewahrendem patrimonio cultural*1 Im projizierten Rückblick auf das 19. Jahrhundert als Zeit der "Sociedad de Industria y Población" darf die literarische Produktion nicht fehlen. Ihre Niederschrift im privaten Album erscheint so als ein erster Schritt zur öffentlichen Kenntnisnahme, bevor sie in gedruckter Form zu kollektiver Erinnerung werden kann. Als Ausdruck kreolischer Lebensart findet das Album auch in der literarischen Aktivität von Bartolomé Mitre einen weiteren Niederschlag, und zwar in seiner kurzen, 1848 entstandenen Erzählung Memorias de un botón de rosa.AS Der Text ist eine literarhistorische Rarität, wie schon Pedro Pablo Figueroa bemerkte, als er ihn 1907 gemeinsam mit Soledad unter dem Titel Dos perlas literarias americanas herausgab. Jene titelgebende Rosenknospe erzählt nämlich in ausgesprochen eigenartiger narrativer Anlage, wie sie von einem jungen Mann gebrochen und an die Dame seines Herzens verschenkt wurde, um schließlich gemeinsam mit ihrer Mutter, einer schönen Rosenblüte, zwischen den Seiten eines Albums zu enden. So wird deutlich, wie sehr der junge Militär Bartolomé Mitre eigene lebenspraktische Erfahrungen in seinem literarischen Werk zur Sprache brachte und, wichtiger noch, welches Maß an Bedeutung damit solchen leicht als frivol abzuqualifizierenden Umgangsformen offensichtlich zugemessen wurde. Sie bildeten einen festen Bestandteil der kreolischen Bemühungen um civilización und beweisen daher, dass auch der weiblichen Lebensphäre zugeordnete Elemente ihr Gewicht im gesellschaftlichen Prozess hatten. Die Memoiren der Rosenknospe sind 1864 erneut in der "Sección Literaria" einer chilenischen Zeitschrift erschienen, die schon mit ihrem Titel "La Mariposa" eindeutig auf ihre Funktion als Unterhaltungsmedium verweist. Im Untertitel bezeichnete sich das üppig illustrierte Blatt als "Periódico quincenal / De modas, costumbres, música y amena literatura" und markiert auf diese Weise die Hauptbeschäftigungsbereiche seiner weiblichen Leserschaft. 49 Mitres Text hatte damit im Chile der 1860er Jahre einen medialen Ort gefunden, der seinem Inhalt nicht besser entsprechen könnte.
47
Insbesondere "biblioteca" und "repertorio" verweisen auf Andrés Bellos Zeitschriften Biblioteca Americana und Repertorio Americano. 48 Das Ersterscheinungsdatum dieses Textes konnte bisher nicht bestimmt werden. Pagés Larraya hat zwei bibliographische Verweise auf 1848 bzw. 1850 bei Briseño, Estadística bibliográfica de la literatura chilena, ermittelt: "Lenguaje de las flores i de los colores, con una novela orijinal titulada Memorias de un botón de rosa, Valparaiso, Imprenta Europea, 120 pp., in 4.°, 1848"; "Nuevo lenguaje de las flores i colores, con una novela original titulada Memorias de un botón de rosa, etc., Valparaiso, Europea, 1850". Pagés Larraya 1943, 112. 49 Cf. Pagés Larraya 1943, 112.
202
5.1.2. Miguel Cañé (1812-1863): Esther (1858) "No ser romántico en el siglo XIX es no ser patriota, no ser progresivo, no ser cristiano, no ser hombre!" 1 Miguel Cañé
Romantischer porteño Esther, der 1851 verfasste und 1858 publizierte Roman von Miguel Cañé, reiht sich ein in den sentimental-romantischen Schreibstil und in die Riege der Romane, die den Namen einer Frau im Titel tragen. Auch hier funktioniert die Liebesgeschichte als disimulo, denn das thematische Spektrum des Romans geht weit über die sentimentale Handlung hinaus und seine eigentliche Hauptfigur ist nicht die titelgebende Esther, sondern ein junger argentinischer Reisender. Der Text ist fest verankert im Erlebnishorizont der argentinischen Intellektuellen der 1840er Jahre. Während Soledad noch zur Zeit des Exils seines Autors Bartolomé Mitre entstand und um zwanzig Jahre zurückdatiert ist, führt Cañé in seinem Roman einen exilierten Argentinier nach Europa und integriert so die aktuellen Konflikte viel expliziter in die Romanhandlung. Miguel Cañé ist selbst wenig bekannt, er steht zurück hinter seinem berühmten gleichnamigen Sohn aus zweiter Ehe, einem herausragenden Vertreter der "Generación del 80". Der Autor des hier zur Diskussion stehenden Textes verdient Beachtung, weil er sich mitten in den gesellschaftspolitischen Kontroversen bewegte, die während der Regierungszeit von Juan Manuel de Rosas erbittert um die Konstitution einer eigenständigen argentinischen Kultur geführt wurden. Er gehörte der Gruppe junger Intellektueller um Esteban Echeverría an, die unter dem Eindruck der französischen Julirevolution standen und im Laufe des RosasRegimes ins chilenische, bolivianische und uruguayische Exil getrieben wurden. Die Mitglieder dieser Gruppe sahen sich als Vertreter einer nachfolgenden Generation, denen die Dichotomie zwischen unitarios und federales obsolet erschien. Sie strebten nach den romantischen Idealen von persönlicher wie sozialer Freiheit und fanden sich daher auch nicht von ungefähr 1838 in Anlehnung an europäische Vorbilder zum Geheimbund der Asociación de la Joven Generación Argentina zusammen, der sich später "Asociación de Mayo" nannte. An vielen dieser Aktivitäten war Miguel Cañé beteiligt. Schon zu Studentenzeiten hatte er gemeinsam mit Vicente Fidel López die Asociación de Estudios Históricos y Sociales gegründet, die Jorge Mayer als "primera simiente de la Joven Argentina" bezeichnet hat.2 Im Gründungsmanifest der Joven Argentina finden sich bereits jene "palabras simbólicas", die in Echeverrias berühmter Schrift Dogma socialista (1846)
1 Miguel Cane in einem Brief an Juan Bautista Alberdi, Montevideo, o.D. (ca. 1837). Zit. nach Mayer 1963, 142. 2 Cf. Mayer 1963, 96.
203
zu ihrer endgültigen Ausformung finden sollten. Unter den etwa 30 Mitgliedern der Vereinigung fanden sich Bartolomé Mitre, José Mármol, Juan María Gutiérrez, Félix Frías und auch der damals noch in San Juan ansässige Domingo Faustino Sarmiento. Ihr Mitbegründer Juan Bautista Alberdi, dessen Schrift Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina (1852) der Verfassung von 1853 zu Grunde liegt, war Cañé in lebenslanger Freundschaft verbunden. Cañé war 1835 nach Abschluss seines Jura-Studiums nach Montevideo übersiedelt, "porque me pesaba sobre el alma la atmósfera política que la influencia de Rosas había formado en mi patria". 3 Dort lebte bereits seine Schwester mit ihrem Ehemann Florencio Varela, einem der wichtigsten unitarischen RosasGegner. Varela führte Cañé in die Oppositionellenzirkel Montevideos ein; in der tertulia des Doctor Agüero war Cañé einer der Jüngsten und damit auch Vertreter der nachfolgenden Generation, die von den eingesessenen Oppositionellen zuweilen auch mit einiger Skepsis betrachtet wurden: Los unitarios observaban con tanto recelo como los federales a los partidarios de las ideas nuevas, esas ideas que, encauzadas por Esteban Echeverría, amenazaban con crear una tercera fracción política entre las dos que desgarraban la patria. Cañé no fué unitario, como su cuñado ilustre, director indiscutido de ese movimiento. Fué, en todo instante, un fogoso propagandista del ideario de la Joven Argentina, cuyos postulados célebres - l a "Creencia Social" y sus palabras simbólicas- verían la luz en el último número de El Iniciador, redactado por él y por Andrés Lamas. Confundidos en la proscripción, los unitarios y los campeones del "Dogma" de Echeverría disintieron en más de una oportunidad. Pertenecían a dos generaciones distintas y les separaban fundamentos teóricos. El propósito de abatir a Rosas les alistó en las mismas filas en Montevideo, pero en el fondo y a pesar de que combatieron con bravura desde las murallas de la ciudad sitiada y desde los periódicos donde a menudo sus nombres se mezclaban en la defensa común, abrióse entre unos y otros una hendidura sutil que la intolerancia de algunos ahondó, mientras que la cordura de los más trató de cerrarla.
In Montevideo traf das rebellische Gedankengut der Joven Argentina zusammen mit gleichen oder ähnlichen Ansinnen aus den europäischen Revolutionsbewegungen, vor allem in Bezug auf die Giovine Italia. Deren Mitglieder Giuseppe Garibaldi und Giovanni Battista Cuneo wirkten selbst eine Zeit am Rio de la Plata, so dass die Ideen der Bewegung und vor allem auch ihr Gründer Giuseppe Mazzini dort beträchtlichen Einfluss erlangten. 5 Aufgrund der in Buenos Aires verhängten Zensur war die liberale und oppositionelle Presse nach Montevideo ausgewichen, und Cañé polemisierte in einer Vielzahl wichtiger, wenn auch häufig kurzlebiger Zeitschriften heftig gegen das Rosas-Regime. Im April 1838 rief er El Iniciador ins Leben, wo sich die gesamte oppositionelle Prominenz versammelte: 3
Brief von Miguel Cañé an Juan Bautista Alberdi, zit. nach Mayer 1963, 221. MujicaLáinez 1942,48. Cf. Mayer 1963, 156, 163. Auch hier überschneiden sich politische und private Bezüge. Alberdi und Juan Maria Gutiérrez haben eine Reihe von Empfehlungsschreiben von Giambattista Cuneo "para los 'uomini saggi' de rango en Génova, Milán y Turin" im Gepäck, als sie sich 1843 nach Europa einschiffen (Mayer 1963, 276). - Garibaldi kämpfte in Montevideo seit Ende der 1830er Jahre gegen Rosas und seinen uruguayischen Verbündeten Oribe mit einer ausschließlich aus Italienern zusammengesetzten Einheit. Cf. Vogel 1992, 354-55.
4
5
204
Véase [...] quiénes fueron, junto a Cañé y a Lamas, los colaboradores: Félix Frías, Juan María Gutiérrez, Florencio y Juan Cruz Varela, Bartolomé Mitre, Juan Bautista Alberdi, Esteban Echeverría, Carlos Tejedor, Miguel de Irigoyen. Luis Méndez, Rafael J. Corvalán y un italiano mazzinista, Juan Bautista Cúneo. Es la flor de la época. AI lado de figuras consagradas ya, como las de los Varela, alistanse quienes borronean sus primeras carillas, como Mitre, que es a la sazón un artillero poeta que elogia a Quintana; como Frías, adalid del cristianismo social al modo de Lacordaire y de Lammenais; como el mismo Cañé, tal vez el más apasionado de todos. 6 "Esta e s p e c u l a c i ó n " , s o C a ñ é in e i n e m B r i e f an s e i n e n Freund A l b e r d i ü b e r El Iniciador,
"no n o s dá plata, p e r o producirá a l g o m á s útil q u e el dinero.
N o s h e m o s e n t r e g a d o a la h u m a n i d a d , al p r o g r e s o y n o hay s e n t i m i e n t o a l g u n o d e e g o i s m o , que n o nos merezca un profundo desprecio".7 El Nacional,
d e n M i g u e l C a ñ é e b e n f a l l s in M o n t e v i d e o g e m e i n s a m mit
A l b e r d i zur Z e i t der f r a n z ö s i s c h - b r i t i s c h e n H a f e n b l o c k a d e ( 1 8 3 8 - 4 0 ) ins L e b e n rief, w u r d e v o n der Gaceta
Mercantil,
d e m o f f i z i e l l e n Organ d e s R o s a s - R e g i m e s
w e g e n seiner F r a n k o p h i l i e s c h a r f a n g e g r i f f e n . "Alberdi e m p r e n d i ó e n las c o l u m n a s d e El Nacional
la c a m p a ñ a m á s brillante d e su carrera, q u e s e e x t i e n d e d e s d e
el m e s d e n o v i e m b r e d e 1 8 3 8 hasta abril d e 1 8 3 9 , y t r a n s f o r m ó el p e n s a m i e n t o d e la e m i g r a c i ó n hasta c o l o c a r al general L a v a l l e al frente del ejército libertador." 8 M i g u e l C a ñ é s j o u r n a l i s t i s c h e s E n g a g e m e n t b l i e b s e i n L e b e n l a n g konstant. E s u m f a s s t e die Mitarbeit in Z e i t s c h r i f t e n m i t s o p r o g r a m m a t i s c h e n w i e z e i t g e m ä ß e n N a m e n : El Grito Revista
del Plata,
Argentino,
La Guillotina,
El Corsario,
Muera
Rosas...
El Talismán,
El Porvenir,
La
Später, n a c h s e i n e r R ü c k k e h r
nach B u e n o s Aires 1857 (und damit z u m Publikationszeitpunkt seines R o m a n s Esther),
v e r a n t w o r t e t e er El
literaria" der T a g e s z e i t u n g La
Comercio
del
Plata
und die "sección judicial
y
Tribuna.9
A l b e r d i s c h r i e b z u m T a g e s a b l a u f der F r e u n d e in d e n 1 8 3 0 e r Jahren: Durante la redacción del El Nacional, Lamas, Cañé y yo vivimos juntos. Son los cuatro meses de mi vida en que he pasado el tiempo del modo más conforme a mis instintos por la vida pública y tumultuosa. Escribía para el diario solo un momento de la mañana. Mi composición era siempre, no solamente improvisada, sino precipitada, como las columnas de "El Nacional" de entonces lo acreditan. El resto del día, a la acción revolucionaría, en la calle, en los círculos conspiradores de los hombres de espada, en las discusiones y conferencias sobre los medios de organizar una empresa argentina. La noche, un poco de sociedad amena; el resto en la conversación política. El momento de la comida... imagínelo el que ha visto ocho, diez jóvenes reunidos, llenos de esperanza, calor y vida, consagrados enteramente a los trabajos de una revolución de libertad. Nuestra casa era entonces el
6
Mujica Láinez 1942,68-69; cf. auch Mayer 1963, 148-49. Zit. nach ibid., 149. Mayer 1963, 185. In der "Correspondencia de Montevideo" der Gaceta ist zu lesen: "Hay también aqui un club que se titula de Románticos y Sansimonianos. Alberdi es el presidente (un miserable que hacía en otro tiempo elogios para la prensa del Restaurador) y cuenta en su seno a Andrés Lamas, Miguel Cañé y un francés que se titula Marqués de Routti, que anduvo con Rivera, varios unitarios, italianos y otros extranjeros. Los tres primeros viven juntos, son los colaboradores del inmundo periódico, vendido a los franceses, que se llama 'Nacional'. El objeto de sus reuniones es puramente político y en favor de los franceses" (La Gaceta Mercantil, 25 de enero de 1839, zit. nach Mujica Láinez 1942, 73-74). 9 Mujica Láinez 1942, 76; Magariflos Cervantes 1858, 19-20; zu La Tribuna s.o., Kap. 3.2..
7
8
205
centro más popular de los hombres de acción. [...] La preponderancia de la juventud en aquellos momentos era incontrastable. 10
Diese Beschreibung zeigt, wie eng sich die Verbindung der Intellektuellen am Río de la Plata gestaltete, die unter einem Dach wohnten und in unermüdlicher Aktivität für die gemeinsame Sache kämpften, ohne ganz auf unbeschwertere Formen von Geselligkeit zu verzichten. Dass auch Cañé die Konventionen der sociedad
amena im Blick hatte, zeigt sich etwa in den composiciones
líricas, die
er 1837 für den Ramillete musical a las damas orientales beisteuerte, eine Zusammenstellung von Liedtexten und Notenblättern für das weibliche Publikum." Im August 1839 heiratete Cañé die französischstämmige und sehr junge Luciana Himonet. Manuel Mujica Láinez gibt diese Lebensphase ausgesprochen plastisch wieder, wenn er das Kennen- und Liebenlernen Lucianas wie eine romantische Liebesgeschichte inszeniert. 12 Das fast noch unbeschriebene Blatt Bartolomé Mitre verfasste für Luciana ein Lied mit dem Titel "La violeta", 13 und in ihrem Album finden sich weitere illustre Namen wie Echeverría, Mármol, Sarmiento, die sich alle bei den Gesellschaften des Hauses Cañé in Montevideo eingefunden haben: Los emigrados aprendieron a respetar y a querer a doña Luciana Himonet de Cañé. Consérvase aún su álbum y con él el testimonio de ese cariño. Allí Mármol evoca la imagen resplandeciente que la pequeña francesa dejó en su infancia: "Mi amiga, ¿lo recuerdas? Yo era niño y dichoso todavía Cuando miré la flor de tu hermosura Su cáliz entreabrir al alba pura Que anunció de tu cielo el claro día". Allí rima Echeverría el recogido encanto de la casa de los esposos Cañé: "El hogar de la familia Es el santuario bendito Donde la esposa del bien Fecunda el germen divino Donde la paz y la dicha Tienen perdurable asilo Y el amor y la esperanza Su terrenal atavío". Allí grabó Sarmiento páginas de admirable contextura, en las que narra el afligido rondar del proscripto en torno a la Patria. "Así pensando -concluye- sigo tristemente el camino que por el destino inflexible me fué trazado. Al volver la vista sobre los que dejo en pos, a la par del recuerdo de la madre y las hermanas que abandoné no sé dónde, la imagen de V. Luciana se me presentará apacible, como el tipo de la dicha que hubiera deseado para mí, como la idealización de la familia, la amistad y el amor." 14
10
Zit. nach Mayer 1963, 185. " Cf. Rojas 1960, Los Proscriptos, Bd. 2, 696 und Mujica Láinez 1942, 55. Mit "Damas orientales" sind die Einwohnerinnen Uruguays gemeint. Die "Banda Oriental" war das Gebiet östlich des Uruguay-Flusses, das als Nation Uruguay 1828 als Pufferstaat zwischen Argentinien und Brasilien gegründet wurde. 12 Cf. Mujica Láinez 1942, 56-66. 13 Ibid., 85. 14 Zit. nach ibid., 65-66.
206
In einem Zusammenhang, in dem die Selbstinszenierung der Literaten so eng an die Interdependenz von Literatur und Gesellschaft gebunden war, erscheint es nicht mehr verwunderlich, dass Cañé neben seiner ausgiebigen journalistischen Betätigung auf den Roman zugriff. Auch in seinem Fall zeigt sich die starke Alltagspräsenz der Romanlektüre, die wohl alle Vertreter seiner Generation von Kindheit an prägte. Der Freund und Weggefahrte Juan Bautista Alberdi erinnert sich in diesem Zusammenhang an die gemeinsame Lektüre der Nouvelle Héloise: La escuela de latín ejerció un influjo decisivo en los destinos de mi vida. Allí adquirí dos amistades, que no fueron las de Horacio y Virgilio: he dado en mi vida cinco exámenes de latín en que he sido sucesivamente aprobado, y apenas entiendo ese idioma muerto. Los amigos que allí contraje fueron Miguel Cañé y el estilo de Juan Jacobo Rousseau: por el uno fui presentado al otro. Nos tocó, á Cañé y á mí, sentarnos juntos en el primer banco, tan cercanos de la mesa del profesor, que quedábamos ajenos á su vista. [...] Entre los bostezos que nos causaba la lectura monótona que el profesor D. Mariano Guerra nos hacía de Virgilio, un día sacó Cañé un libro de su bolsillo, para leerlo por vía de pasatiempo. —¿Qué libro es ese?—le pregunté, tomándolo de sus manos. —Una novela de amor, que se titula Julia ó la Nueva Eloísa. Leí dos ó tres renglones de la primera carta y cerré, hechizado, el libro, rogando á Cañé que no dejase de traerlo todos los días. Rousseau fué desde ese día, por muchos años, mi lectura predilecta. Después de la Nueva Eloísa, el Emilio; despues el Contrato Social. En la Universidad y en el mundo, Cañé y yo quedamos inseparables hasta el fin de nuestros estudios.L