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German Pages [330] Year 2018
Aline Maldener und Clemens Zimmermann (Hg.)
Jugendmedien im 20. Jahrhundert
Aline Maldener, Clemens Zimmermann (Hrsg.)
LET’S HISTORIZE IT! Jugendmedien im . Jahrhundert
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN: 978-3-412-51228-6 Umschlagabbildung: Jugendliche in ihrem Zimmer, 1980, © Christa Petri/Süddeutsche Zeitung Photo
© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie Lindenstraße 14, D-50674 Köln Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Satz: le-tex publishing services, Leipzig Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt
Inhalt Jugendmedien im 20. Jahrhundert
Aline Maldener, Clemens Zimmermann
Einleitung ....................................................................................
Teil 1 Jugendmedien als Selbstermächtigungsorgane: Politisierung, Agitation und Subversion Stefan Rindlisbacher
Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (–).... Julia Gül Erdogan
Computerkids, Freaks, Hacker: Deutsche Hackerkulturen in internationaler Perspektive ...............................................................
Teil 2 Jugendmedien als Erziehungs- und Erbauungsinstrumente: Information, Bildung und Unterhaltung Friederike Höhn
Zwischen Adenauer-Jugend und christlichem Pazifismus: Die Debatte um die westdeutsche Wiederbewaffnung in den frühen er Jahren in Jugendmedien der katholischen und evangelischen Kirche .. Christoph Hilgert
Der junge Hörer, das unbekannte Wesen: Programmangebote für Jugendliche im westdeutschen Hörfunk in der Mitte des . Jahrhunderts .......................................................................... Michael Kuhlmann
Jugendradio in Deutschland – politisch (zu) explosiv? ............................
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Inhalt
Teil 3 Jugendmedien als Vergemeinschaftungs-Agenten: Identität, Publiken und (mediales) Gedächtnis Andre Dechert
Zwischen Kindern, Jugendlichen und der Familie: Fury, Am Fuß der Blauen Berge und das Deutsche Fernsehen, – ............................. Michael G. Esch
„Wir haben keine Go-Go-Girls mehr“: Der Beat Club als Quelle und Akteur in der Kanonisierung des Rock.......................................... Karl Siebengartner
Fanzines als Jugendmedien: Die Punkszene in München von – ..... Nikolai Okunew
Schwere Zeiten – Medien(praktiken) der Heavy-Metal-Szene in der DDR .. Zusammenfassungen und Abstracts ................................................... Autorenverzeichnis........................................................................ Sachverzeichnis ...........................................................................
Aline Maldener, Clemens Zimmermann
Einleitung Jugendmedien in Wissenschaft und Forschung
Eine konsequent geschichtswissenschaftliche Erforschung von Jugendmedien steckt noch in den Kinderschuhen. Nicht nur in der deutschen, auch in der internationalen Historiographie werden Jugendmedien kaum als eigene Gattung wahrgenommen. Ebenso in der historischen Publikumsforschung bilden Jugendliche einen blinden Fleck, während Frauen oder Arbeiter als spezifische Publiken durchaus zum festen Bestandteil des akademischen Kanons geworden sind. Sowohl in einschlägigen Überblicksdarstellungen zur deutschen als auch in Handbüchern zur britischen und US-amerikanischen Mediengeschichte wurden Jugendmedien als eigenes Forschungsfeld vollkommen ausgespart. Zumeist existieren nur Abhandlungen zu spezifischen Jugendmedienformaten oder konkreten Einzelmedien. So finden sich z. B. Arbeiten zum Jugendradio in der DDR oder zum Jugendradioprogramm des NDR und BBC sowie AFN . Daneben dominieren in der deutschen Geschichtsschreibung Abhandlungen zu sogenannten Schmutz- und Schunddebatten des . und frühen . Jahrhunderts .
Vgl. u. a. Elisabeth Cheauré, Hg., Geschlecht und Geschichte in populären Medien, Bielefeld ; zum Stellenwert von Arbeitern im großstädtischen Kinopublikum vgl. u. a. Tobias Becker, Hg., Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um , Bielefeld . Vgl. Frank Bösch, Mediengeschichte: vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt a.M. ; Ders., Mass media and historical change. Germany in international perspective, to the present, New York . Vgl. Anthony Fellow, American Media History, Boston . Aufl. ; Asa Briggs/Peter Burke, A Social History of the Media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge . Aufl. ; Kevin Williams, Get Me a Murder Day! A History of Media and Communication in Britain, London . Aufl. . Vgl. Heiner Stahl, Jugendradio im Kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (–), Berlin . Vgl. Christoph Hilgert, Die unerhörte Generation. Jugend im westdeutschen und britischen Hörfunk, –, Göttingen . Vgl. Anja Schäfers, Mehr als Rock‘n‘Roll: Der Radiosender AFN bis Mitte der Sechziger Jahre, Stuttgart . Vgl. Kaspar Maase, Die Kinder der Massenkultur: Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt a.M. .
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Einleitung
Werfen wir einen Blick auf die bisherige akademische Beschäftigung mit dem Thema, so lassen sich seit Mitte des . Jahrhunderts vornehmlich medien- und kommunikationswissenschaftliche sowie pädagogische Studien in der deutschsprachigen Forschung ausmachen. In Großbritannien hat insbesondere das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham um Persönlichkeiten wie Stuart Hall , Dick Hebdige , Paul Willis und Angela McRobbie mit seinen Jugendstudien von sich reden gemacht. In frühen Abhandlungen von Heinz Bonfadelli oder Dieter Baacke werden Inhalte und Nutzer kommerzieller Jugendmassenmedien primär quantitativ, deskriptiv und anhand nur weniger soziodemographischer Dimensionen – zumeist Alter und Geschlecht – über einen kurzen Zeitraum hinweg untersucht. Die Idee von Medien als zwangsläufige Sozialisationsinstanzen und die Quantifizierung von Tageszeitbudgets jugendlicher Mediennutzung standen dabei im Vordergrund. Demnach war die Forschung insbesondere der er Jahre im Geiste kritischer Theorie noch stark vom Credo der unwiderstehlichen Manipulationskraft und bedingungslosen Wirkungsmächtigkeit von Massenmedien geprägt. Angenommene Wirkungen und Effekte der Medien auf Jugendliche wurden primär als schädlich und gefährdend erachtet, Medieninhalte als trivial oder gar primitiv diffamiert und kommerzielle Jugendmedien, insbesondere Zeitschriften, Comics und das aufkommende Fernsehen derart als Risikofaktoren, jugendlichen „Medienopfern“ antagonistisch gegenübergestellt. Doch während der er Jahre setzten sich verstärkt sogenannte uses-and-gratification-Ansätze durch, die anstelle des vormaligen passiven jugendlichen Medienkonsumenten als willfährigem Instru-
Vgl. Stuart Hall, Resistance through rituals: youth subcultures in post-war Britain, London . Vgl. Dick Hebdige, Subculture: the meaning of style, London . Vgl. Paul Willis, Profane culture, London . Vgl. Angela McRobbie, Jackie: an ideology of adolescent femininity, Birmingham . Vgl. u. a. Heinz Bonfadelli, Die Massenmedien im Leben der Kinder und Jugendlichen, Zug ; Ders., Jugend und Medien: eine Studie der ARD/ZDF-Medienkommission und der BertelsmannStiftung, Frankfurt a.M. ; Ders./Ulrich Saxer, Lesen, Fernsehen und Lernen. Wie Jugendliche die Medien nutzen und die Folgen, Zug ; Dieter Baacke, Jugendliche im Sog der Medien, Opladen . Vgl. u. a. Ulrich Sander, Axel Springer als „Erzieher der Jugend“. Umfrage, Report und Dokumentation über die Konzentration der Jugendpresse und über die Situation im Bereich der Jugendzeitschriften, Wiesbaden ; Dieter Baacke, Der internationale Markt der Popzeitschriften in der BRD, in: Deutsche Jugend, , S. –; Martin Keilhacker/Erich Wasem, Jugend im Kraftfeld der Massenmedien, Bd. , München ; Horst Holzer/Reinhard Kreckel, Jugend und Massenmedien: eine inhaltsanalytische Betrachtung der Jugendzeitschriften Bravo und Twen, in: Soziale Welt, , S. –.
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ment einer kapitalistischen „Kulturindustrie“ den Typus des aktiven jugendlichen Mediennutzers als Novum in die Forschungsdiskussion einbringen. Auch die Hinwendung zu nicht- oder semikommerziellen Jugendmedien, ausgelöst durch zeitgenössische Tendenzen von Pressekonzentration und der steigenden Dominanz des Springer-Konzerns, findet während der er Jahre statt. Manfred Knoche, Monika Lindgens und Michael Meissner widmen sich in ihrer Studie Jugendpresse in der Bundesrepublik Deutschland von / speziell den bis dato vernachlässigten Jugendzeitschriften, die traditionell von Verbänden, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen oder alternativ von Jugendlichen selbst herausgegeben werden. Dabei analysieren die Kommunikationswissenschaftler nicht nur rein quantitativ die Inhalte dieser Jugendpresse, sondern auch ihre Produktionsform, beurteilen den Einfluss der Werbung auf die finanzielle Basis, betrachten den Bestand der Redaktion, der Technik und des Vertriebs und bewerten letztlich Form und Grad der Organisation der Printprodukte als auch ihren Zweck. Im Laufe der er und er Jahre wird in der Forschung die Position jenes selbstbestimmten jugendlichen Medienkonsumenten und -anwenders gestärkt, der eigene Erwartungen und Bedürfnisse an seine Mediennutzung stellt und dadurch aktiv seine eigene Mediensozialisation betreibt. Mit dem Aufkommen von Video- und Computerspielen und der Idee des sozialen Gebrauchs von Medien durch Jugendliche als Identitätskonstrukteure und peer-group-builder hat sich im Vergleich zum früheren „Kulturpessimismus“ so etwas wie ein „Medienoptimismus“, insbesondere in der pädagogischen Forschung, eingestellt, der durch neue Internetmedien aktuell noch gesteigert wird. Diese Figur des jungen, aktiv-eigeninitiativen „Medienprosumenten“ soll auch im Rahmen dieses Bandes
Vgl. u. a. Heinz Bonfadelli, Jahre quantitative Jugendmedienforschung im Rückblick. Fragestellungen, theoretische Perspektiven und empirische Zugriffe im Wandel, in: Gudrun MarciBoehncke, Hg., Jugend – Werte – Medien: Der Diskurs, Weinheim/Basel , S. –, hier S. . Zum uses-and-gratification-Ansatz generell vgl. u. a. Philip Palmgreen, Der „Uses-andGratifications-Approach“. Theoretische Perspektiven und praktische Relevanz, in: Rundfunk und Fernsehen, , , S. –; vgl. Alan M. Rubin, Uses and gratifications: Quasi-functional analysis, in: Joseph R. Dominick/James E. Fletcher, Hg., Broadcasting research methods, Boston , S. –. Vgl. Manfred Knoche/Monika Lindgens/Michael Meissner, Jugendpresse in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin . Vgl. u. a. Bonfadelli, Jahre Jugendmedienforschung, S. ; vgl. weiter Daniel Süss, Mediensozialisation von Heranwachsenden. Dimensionen – Konstanten – Wandel, Wiesbaden , vor allem Kapitel . Als philosophische Speerspitze im Rahmen einer medienoptimistischen Haltung vgl. Nobert Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, München ; Vilém Flusser, Digitaler Schein, in: Florian Rötzer, Hg., Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a.M. , S. –.
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Einleitung
konsequent weitergeführt und in genau jener Doppelfunktion einerseits als Kreateur und andererseits als Aneigner von Medien durchgängig und insbesondere schon vor der Entstehung audiovisueller und digitaler Jugendmedien berücksichtigt werden, also seit Ende des . bzw. Anfang des . Jahrhunderts. Dabei reicht das durch diesen Band abgedeckte thematische Spektrum von der Produktion von jugendbewegten Zeitschriften und Fanzines bis hin zur eigenwillig-kreativen Konsumption von Radio-, Fernseh- oder Computermedien. Neben dem Ausbau der Idee des aktiven jugendlichen Mediennutzers prägte abermals Dieter Baacke die er und er Jahre mit der Einnahme einer sogenannten medienökologischen Perspektive durch die Erhebung von Medienorten und Medien(um)welten. So forderte er die Beachtung konkreter Kontexte und Räume jenseits von Medien-Wirkungen und -Effekten auf Jugendliche. Baacke erkennt derart die Omnipräsenz von Medien in der jugendlichen Lebenswirklichkeit an und leistet damit aktuellen, in diesen Band eingegangenen medienhistorischen Ansätzen Vorschub, die von einer starken Medialisierung des Alltags, speziell ab Mitte des . Jahrhunderts, ausgehen. Die Studien der Birminghamer Kulturwissenschaftler zum Thema youth, die zwischen und den er Jahren entstanden sind, fußen auf einer Mischung aus marxistischer Sozialtheorie, der Kulturalismus-These von Williams und Thompson sowie auf den ethnographischen Ansätzen von Goffman, Becker und anderen US-amerikanischen Soziologen. Angela McRobbie, die in den er Jahren den engen Forschungsfokus ihrer Kollegen auf deviante, männliche und weiße troublemaker kritisiert, reichert diese Perspektive durch eine zusätzliche feministische Lesart von sogenannten girls magazines an, allen voran der Mädchenzeitschriften Jackie und Seventeen. McRobbie analysiert insbesondere die darin verankerte „romantic fiction“, die fiktionalen, als Comics angelegten Liebesgeschichten. Im Zuge einer psychoanalytisch-dekonstruktivistischen Herangehensweise untersucht sie die weiblichen Protagonisten jener Geschichten im Hinblick auf ihr Potential als Konstrukteure spezifischer Formen von „feminity“ und „romance“, die – so McRobbie – leitgebend für junge working-class girls der er und er Jahre gewesen sein sollen. Zeitgenössisch wird McRobbies Ansatz von Martin Barker, Dorothy Holland u. a. kritisch betrachtet. Laut Barker kreiere McRobbie durch ihre semiotische Textanalyse eine „false girls community“, die auf den Faktoren „romance“, „beauty“, „pop“ und „domesticity“ beruhe und darüber entscheidende Vgl. Dieter Baacke/Frank Günter, Medienwelten – Medienorte: Jugend und Medien in NordrheinWestfalen, Opladen . Vgl. Angela McRobbie, Feminism and youth culture: from „Jackie“ to „Just Seventeen“, London .
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Unterschiede von „class“ und „ethnicity“ innerhalb der Rezipientinnenschaft der Magazine überdecke. Darüber hinaus wird auch schon in den er und er Jahren die grundsätzliche kultur- und kapitalismuskritische Implikation moniert, die nicht nur McRobbies, sondern auch anderen Studien des Birminghamer Centers zu eigen ist. legte der britische Kommunikations- und Medienhistoriker Bill Osgerby mit „Youth Media“ eine einschlägige Studie vor. Osgerby fragt nicht nur aus kultur- und sozialgeschichtlicher Sicht, sondern auch vor dem Hintergrund politischer und ökonomischer Entwicklungen in Großbritannien aus einer Langzeitperspektive seit nach der Verbindung von „youth“ und „media“. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach Medien von oder für Jugendliche, sondern auch um Repräsentationen von Jugendlichen in Medien, weiterhin um jugendliche Mediennutzung und Rezeption, um die Rolle der New Media als auch um das Spannungsfeld von globaler Medienproduktion und lokal-regionaler Medienaneignung. Osgerby gelingt dabei nicht nur eine integrale Mediengeschichte, sondern auch eine Aussöhnung zweier eher divergierender theoretischer Ansätze. Er lotet das Verhältnis von „youth“ und „media“ sowohl politisch-ökonomisch, d. h. entlang von Machtstrukturen, als auch gemäß der Maxime der Cultural Studies aus, die die Position der agency des jugendlichen Medienkonsumenten als selbstbestimmtem Akteur stärken, was – wie schon betont – auch das Hauptanliegen des Bandes ist. Dieser basiert auf der Idee, dass die historische Jugendmedienforschung eine Chance darstellt, die Felder der Sozial- und Mediengeschichte zu dynamisieren, neue Zusammenhänge zwischen Kultur- und Zeitgeschichte aufzuzeigen und erste Schneisen in ein bislang brachliegendes Gebiet der Medienforschung zu schlagen. Grundsätzlich muss es sich die Geschichtswissenschaft zur Aufgabe machen, die bislang überwiegend aktualistische Jugendmedienforschung zu historisieren, sie in längere, weitere und tiefere Zusammenhänge zu stellen, sie anders und umfassender zu kontextuieren. Dazu werden sowohl strukturelle Zusammenhänge als auch Bedeutungs-Aspekte auf Makro- wie Mikroebene zu eruieren sein. Insofern sind weder die bisher stark in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung vertretenen Inhaltsanalysen von Magazinen, Filmen oder Fernsehserien, die zumeist auf die Konstruiertheit und Fiktivität von Bildinhalten oder die Narration Vgl. Lorraine Gamman, Rezension zu: Feminism and youth culture: from „Jackie“ to „Just Seventeen“, in: Feminist Review, H. , , S. –; vgl. Dorothy Holland, Rezension zu: Feminism and youth culture: from „Jackie“ to „Just Seventeen“, in: American Journal of Sociology, Jg. , H. , , S. f. Vgl. Bill Osgerby, Youth Media, London .
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Einleitung
des Textes abheben, zufriedenstellend noch soziale Mikrostudien, die als Beispiel lediglich einen konkreten Fall beleuchten können.
Was sind Jugendmedien?
Bevor ein konzises Programm für eine denkbare Historisierung von Jugendmedien vorgeschlagen werden kann, müssen zunächst definitorische Überlegungen erfolgen, um den Untersuchungsgegenstand näher zu bestimmen. Dies geschieht durch eine Annäherung an die beiden Bestandteile des Kompositums: Jugend und Medien. „Jugend“ wurde erst seit dem Aufklärungsdiskurs als eigene Kategorie wahrgenommen und emanzipierte sich mit der Jugendbewegung als distinkte Selbstbeschreibung. Insofern ist der Bezug auf eine bestimmte Altersgruppe bei Jugendmedien historisch und sozialgeschichtlich variabel. Seit etwa / – unter Einfluss der sich rasch verändernden Konsum- und Musikkultur – würde man das Jugendalter auf zwölf oder bis Jahre ansetzen, während sich im . Jahrhundert die Jugendzeit häufig auf ganz wenige Jahre reduzierte – die Zeit von bis , vielleicht Jahren. Geht man noch weiter zurück, so war die Lehre ein Teil der „Jugend“ im männlichen Handwerksmilieu, nicht aber mehr die Gesellenzeit. Bei jungen Frauen war die Definition von „Jugend“ sehr stark vom sozialen Status sowie bei beiden Geschlechtern definitiv vom Eintritt in die Ehe und einer eigenen Haushaltsführung abhängig. Ferner verlief „Jugend“ im . und in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts im Bürgertum und bei Arbeitern völlig unterschiedlich. Auch heute bestehen große soziale, bildungs- und geschlechtsbezogene Unterschiede, die in der gegenwartsbezogenen Forschung immer wieder neu entdeckt und wenig in ihren Kontinuitäten gesehen werden. Grundlegend für das Verständnis von Jugendmedien ist zudem die Unterscheidung von Medien für Jugendliche und von Jugendlichen. Eigenproduzierte Jugendmedien traten in den er bis er Jahren erstmals deutlicher hervor, Empirische Daten bei: Konrad Dussel, The Triumph of English-Language Pop Music: West German Radio Programming, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried, Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies, –, New York/Oxford , S. –; vgl. auch Gunter Mahlerwein, Zwischen ländlicher Tradition und städtischer Jugendkultur? Musikalische Praxis in Dörfern –, in: Franz-Werner Kersting/Clemens Zimmermann, Hg., Stadt-Land-Beziehungen im . Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn , S. –. Vgl. Ulrich Herrmann, Familie, Kindheit, Jugend, in: Karl-Ernst Jeismann/Peter Lundgreen, Hg., Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. III: –, München , S. –.
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obgleich Schülerzeitschriften und einige jugendbewegte Organe – wie z. B. die von Stefan Rindlisbacher in diesem Band diskutierte Lebensreform-Zeitschrift Tao –, die zumindest partiell innerhalb der eigenen peer group konzipiert und produziert wurde, schon in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts eine Rolle gespielt haben. Eine Katalysatorfunktion hatten sicherlich die sogenannte er- und die aus ihr hervorgehende Frauen-Bewegung, in deren Kontext vor allem Flugblätter, Flugschriften, Plakate und semiprofessionell gestaltete Magazine auch von jungen Studentinnen und Studenten entstanden, und die mitunter linke Buchläden eröffneten, woran sich die wichtige Verknüpfung von Medialisierungsprozessen und (autonomen, politischen) Medienräumen offenbart. Im späten . Jahrhundert ergänzten Videos , englischsprachige, dann selbstproduzierte Musik das Jugendmedien-Ensemble. Heute sind es Zulieferungen für YouTube oder Assemblagen aus eigenem und fremdem Material. Dabei ist die entscheidende Frage, ob wir es wirklich in Reinkultur mit digital natives zu tun haben oder vielmehr mit einem Typus von jugendlichem Mediennutzer, der lediglich eine Weiterentwicklung bereits bekannter und gängiger Anwendungs- und Aneignungspraktiken von Medien betrieben hat. Grundsätzlich sensibilisiert diese Unterscheidung von Medien von und für Jugendliche den Blick dafür, wie stark sich in diesen Vgl. Klaus Wernecke, Flugblatt und Flugschrift in der Studentenbewegung der sechziger Jahre, in: Werner Faulstich, Hg., Die Kultur der sechziger Jahre, München , S. –; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und achtziger Jahren, Berlin . Vgl. Sarah Banet-Weiser, Branding the Post-Feminist Self: Girls’ Video Production and You Tube, in: Mary Celeste Kearney, Mediated Girlhoods. New Explorations of girls’ media culture, New York , S. –. Zu Raubkopien: Peter Dachille, Steal This Article, in: Shirley Steinberg u. a., Hg., Contemporary Youth Culture. An International Encyclopedia, Vol. , Westport , S. –. Digital natives scheinen gekennzeichnet durch ihre globalisierten Netzwerke einerseits, durch abgeschirmte Privatsphären, andererseits im Rahmen von Freunden und Familie. Es werden ausgeprägte Rollen eingenommen: die des Kreativen, des Innovators, des Aggressors, des Aktivisten. Weiterhin scheinen Lernbereitschaft und die Bereitschaft, bestimmte soziale Normen zu überschreiten, typische Merkmale dieses neuen Mediennutzers zu sein; vgl. John Palfrey/Urs Gasser, Born digital: Understanding the first generation of digital natives, New York . Joe L. Kincheloe betont die Fähigkeit von Jugendlichen, mittels Multitasking Arbeitsaufgaben und eigene Unterhaltung miteinander zu verbinden: Ders., MTV: Killing the Radio Star, in: Shirley Steinberg u. a., Hg., Contemporary Youth Culture. An International Encyclopedia, Vol. , Westport , S. –. Roland Eckert u. a., Auf digitalen Pfaden: die Kulturen von Hackern, Programmierern, Crackern und Spielern, Opladen sah im Zeichen einer Veralltäglichung des Computers einen kontrovers geführten Diskurs über dessen Folgen, z. B. befürchteten manche Zeitgenossen die Verkümmerung der Schriftsprache und die Enteignung der Erfahrungsdimension; die Erschließung neuer Wirklichkeitsdimensionen bis zur aufsprengenden Praxis der Hacker erschien auf der positiven Seite. Zum mediengeschichtlichen Hintergrund vgl. Werner Faulstich,
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Einleitung
Medien tatsächliche Sichtweisen und Bedürfnisse von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen artikulieren können oder inwieweit ein normativ-intentional gelagertes jugendliches „Programm von oben“ vorliegt. Bei Jugendmedien handelt es sich entweder um kommerzielle, marktorientierte Produkte, von denen dann ein jugendspezifischer, selektiver Gebrauch gemacht wird, oder aber es dreht sich um Produktionen, die zum Selbstkostenpreis in Eigenregie hergestellt wurden. Sowohl bei kommerziellen als auch bei semi- oder nichtkommerziellen Jugendmedien sollte die Forschungsperspektive nicht zu stark auf eine explizite Politisierung durch Jugendmedien eingeengt werden, auf Jugendmedienpolitiken (von Kommunisten, Nationalsozialisten, Jugendmedienreformern, katholischen Aktivisten u. a.), oder auf das indirekt oder untergründig Politische in Jugendbuchtexten. Auch der Bereich der Unterhaltung und potenzieller Verhaltens-Selbstmodellierung ist relevant. So dürfen Jugendliche im Rahmen einer historischen Medienforschung nicht ausschließlich als Konsumenten von industriell gefertigten Medien gedacht, sondern müssen in gleichem Maße, wie schon ausgeführt, als Produzenten bzw. als „Prosumenten“ begriffen werden, d. h. in der Wechselwirkung ihrer doppelten Funktion. Damit verbunden ist zwangsläufig die Frage nach speziellen jugendlichen Publiken und Vorlieben, ferner nach nationalen und internationalen Märkten und Marktsegmenten für solche Medien. Mediengeschichtlich betrachtet waren Jugendmedien zunächst Teil eines stark definierten Printmarktes mit spezialisierten Verlagen und klaren Genres, Stilrichtungen und Adressierungen. Die Entwicklung im späten . Jahrhundert lief in Richtung wachsender Multimedialität, Crossover-Effekten und der Bildung subjektiv autonomer Medienräume bzw. als autonom wahrgenommener Räume. Während im Printbereich entweder Erwachsenenmedienkonzepte (Literatur, Illustrierte) an jugendliche Konsumstile und Lebenswelten angepasst wurden oder sich Jugendliche diese Konzepte z. B. in Form von Fanzines oder selbst aufgenommenen und kopierten Kassetten – wie Karl Siebengartner und Nikolai Okunew am Beispiel des Punk und des Heavy Metal in diesem Band zeigen – autonom und kreativ aneigneten, kam es mit der Ausdifferenzierung von Medien und durch ihre spezifische technische Entwicklung zu Formen, die von Anfang an auf Jugendliche konzentriert waren und wo kaum ein Pendant für ein erwachsenes Publikum existierte: Darunter fallen ab den frühen er Jahren insbesondere audiovisuelle Medien wie Musikvideos auf MTV, am Ende des Jahrzehntes sind es sogenannte born digital-Medien wie Facebook und Whatsapp, die selbst von Die Anfänge einer neuen Kulturperiode: der Computer und die digitalen Medien, in: Ders., Hg., Die Kultur der er Jahre, München , S. –.
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jungen Erwachsenen dezidiert für eine jugendliche Klientel entwickelt, späterhin allerdings auch von Erwachsenen stark genutzt wurden. Umgekehrt muss die historische Jugendmedienforschung die jugendspezifische Nutzung von primären Erwachsenenmedien reflektieren und damit die lange Zeit auf das „Jugendbuch“ fixierte Forschungsperspektive aufbrechen. Der Beitrag von Andre Dechert zum Verhältnis von Familien- und Jugendprogramm der ARD in diesem Band verweist genau auf jene definitorischen Komplexitäten. Es stellt sich demnach generell die Frage, inwieweit Jugend-, Kinder- und Erwachsenenmedien im Einzelfall immer trennscharf voneinander abzugrenzen sind oder ob wir es nicht vielmehr, wie auch John Storey für den Begriff der popular culture grundsätzlich konstatiert, mit einer „empty conceptual category“ zu tun haben, „one that can be filled in a wide variety of often conflicting ways, depending on the context of use“.
Historisierung von Jugendmedien – Theoretische und methodische Überlegungen
Das Historisierungsprojekt, das der vorliegende Band weiterführen und neu konzipieren möchte, geht von den mediengeschichtlich gebräuchlichen Leitkategorien Produktion, Inhalt und Rezeption aus, die konsequent zusammen, d. h. in ihrer wechselseitigen Bedingtheit gedacht werden müssen. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage nach dem Zusammenhang der Entwicklung von „Jugend“ und „Medien“ bzw. Medialisierungsprozessen . Theoretisch und methodisch verfolgt der Band eine konsequente Doppelperspektive: Einerseits geht es um eine Art „jugendliche Nabelschau“, d. h. die Innensicht jugendlicher Akteure auf Medien, die von ihnen zum Zwecke kollektiver Vergemeinschaftung, Selbstvergewisserung oder zur Selbsthistorisierung eigens produziert und spezifisch angeeignet wurden. Andererseits geht es um die Produktion und Wahrnehmung der Jugendmedien Vgl. John Storey, Cultural theory and popular culture: an introduction, Harlow u. a. , S. –, hier S. . Auch Geisthövel und Mrozek begreifen das Konzept des „Pop“, ohne das Zeitgeschichte im . Jahrhundert aus Sicht der Herausgeber nicht mehr geschrieben werden könne, weniger als starre analytische Kategorie denn als Quellenbegriff, vgl. Alexa Geisthövel/Jürgen Danyel/Bodo Mrozek, Hg., Popgeschichte. Bde. und , Bielefeld . Zum Begriff der Medialisierung im hier verstandenen Sinn: Nick Couldry/Andreas Hepp, Conceptualizing Mediatization: Contexts, Traditions, Arguments, in: Communication Theory, Jg. , H. , , S. –; Andreas Fickers, Der „Transistor“ als technisches und kulturelles Phänomen: die Transistorisierung der Radio- und Fernsehempfänger in der deutschen Rundfunkindustrie bis , Bassum ; Johan Fornäs, Mediatization of Popular culture, in: Knut Lundby, Hg., Mediatization of Communication, Berlin/Boston , S. –.
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Einleitung
von „außen“, wobei das Spektrum der Intentionen, aus denen heraus Medien „von oben“ für Jugendliche geschaffen oder wahrgenommen wurden, von Politisierung und Erziehung bis hin zu Information und Erbauung reichte. Methodisch ist eine Geschichte von Jugendmedien speziell des . Jahrhunderts durch die notwendige Einbeziehung von Medienformaten jenseits von Textlichkeit stark herausgefordert. So ist es der gesamte Komplex von audiovisuellen Medien, vom Film über die Fernsehserie bis hin zu Video- und Computerspielen, die gleichsam auf den Ebenen von Produktion, Inhalt und Rezeption untersucht werden müssen. Generell muss der multimodale Charakter von Medien selbst unbedingt berücksichtigt werden. So ist beispielsweise eine Schallplatte laut Daniel Morat zugleich „Ton-, Text- und Bildspeicher“ und verlangt dementsprechend eine Analyse auf auditiver, visueller wie textlicher Ebene. Perspektivisch gesehen sind es allen voran die sogenannten born digital-Medien, häufig Internetquellen, die durch ihren prozessualen Charakter und der schwierig zu klärenden Frage nach ihrer individuellen oder kollektiven Urheberschaft neue, extrem hohe Anforderungen an eine historische Quellenkritik und -interpretation stellen werden und einer mehrdimensionalen Untersuchung bedürfen. Werfen wir einen Blick auf die Genese und Entwicklung eines Wikipedia-Artikels, von Chatroom-Kommunikation oder auf die Nutzung von Suchmaschinen, so wird dies sehr deutlich, denn die Prozesshaftigkeit und Interaktivität ihrer Herstellung als auch die Komplexität und Heterogenität ihres Adressatenkreises machen eine solch vielschichtige und mehrstufige Betrachtung unabdingbar. Insofern sollten neben klassisch hermeneutischen Perspektiven der Geschichtswissenschaft methodische Instrumentarien aus den Nachbardisziplinen fruchtbar gemacht werden. Zur Analyse institutioneller wie personeller Produktionskontexte und -strukturen von Jugendmedien bieten sich Netzwerk-Analysen an, um die entscheidenden Akteure und ihre Interdependenzen aufzuzeigen. So lassen sich wechselseitige und insbesondere transnationale Kontakte zwischen Verlegern, Print- und Rundfunkredakteuren, aber auch zwischen jugendlichen Medienproduzenten alternativer Milieus, z. B. aus der Hausbesetzerszene, nachweisen, die entscheidenden Einfluss auf Inhalt und Gestaltung der jeweiligen Jugendmedien gehabt haben. Um die inhaltlich-programmatische Ebene von Jugendmedien zu fassen, können Historiker und Historikerinnen auf einen breiten Fundus an Instrumenten aus
Vgl. Daniel Morat, Der Klang der Zeitgeschichte. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, /, http://www.zeithistorische-←forschungen.de/-/id= (..).
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den Nachbarwissenschaften zurückgreifen. So kommt grundsätzlich für Inhaltsanalysen die gesamte Palette an musik-, bild-, sprach- und literaturwissenschaftlichen Methoden infrage, die auch gerade für die im . Jahrhundert so wichtigen audiovisuellen Quellen Analyserüstzeug liefern. Debatten über Probleme und Potentiale der Implementierung solcher Instrumentarien in die geschichtswissenschaftliche Praxis haben Daniel Morat mit seiner sound history und Gerhard Paul mit seiner visual history angestoßen. Morat und Paul machen deutlich, dass die Dimensionen des Auditiven und Visuellen bei Songs und Radiobeiträgen oder Filmen und Fernsehserien nicht hinter den Songtexten und Drehbuchskripten verschwinden dürfen. Das Einfangen des „Sounds“ der Geschichte als auch ihrer „Ikonizität“ sowie die dabei notwendigen „Übersetzungsleistungen“ von Bild und Ton hin zu Text gehören zu den zukünftigen Aufgaben einer historischen Jugendmedienforschung. Für dezidierte Rezeptionsstudien erweisen sich Methoden der empirischen Sozialforschung oder Experten- sowie Zeitzeugeninterviews im Sinne einer Oral History als sinnvoll. Insbesondere lokale oder regionale Mikro-Studien, auch Grenzraumbetrachtungen, können derart realisiert werden. Um der technischen Dimension Genüge zu tun, kann die Einnahme einer „medienarchäologischen“ Perspektive, d. h. die Respektierung der Dinglich- oder Geräthaftigkeit, der Materialität, von Jugendmedien einen Erkenntnisgewinn bringen. Zur Analyse von Anwendungs- und Nutzungspraktiken sowie -kontexten, sowohl bei älteren Jugendmedien wie Schallplatten, Radio(-geräten) als auch bei den Neuen Medien wie Video- und Computerspielen sowie Smartphone und Tablet-Geräten kann die Analyse der materiellen Dimension von Jugendmedien aufschlussreich sein: Welche Gebrauchsvorschriften sind den Jugendmedien durch ihre spezifische Materialität sozusagen „eingeschrieben“? Und welche Rolle spielt die Materialität generell
Vgl. Daniel Morat, Wissensgeschichte des Hörens in der Moderne, Berlin/Boston ; Ders., Sounds of modern history: auditory cultures in th and th century Europe, New York ; Ders., Hg., Politik und Kultur des Klangs im . Jahrhundert, Göttingen . Vgl. Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Annette Vowinckel, Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen ; Gerhard Paul, BilderMACHT. Studien zur Visual History des . und . Jahrhunderts, Göttingen ; vgl. Ders., Visual History: ein Studienbuch, Göttingen . Vgl. exemplarisch zum Ansatz der Medienarchäologie: Andreas Fickers, Hands-on! Plädoyer für eine experimentelle Medienarchäologie, in: Technikgeschichte, Jg. , H. , , S. –; Simon Huber, Zur Geschichte der Cutscenes. Versuch einer Medienarchäologie kommerzieller Videospiele, in: Florian Kerschbaumer, Hg., Frühe Neuzeit im Videospiel: geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld , S. –; Burkhardt Lindner, Filmraum und Tonraum: zur Medienarchäologie des frühen Tonfilms, in: Henning Engelke, Hg., Film als Raumkunst: historische Perspektiven und aktuelle Methoden, Schüren , S. –.
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Einleitung
für ihre Portabilität und das seit einiger Zeit omnipräsente „To-Go-Phänomen“ bei Jugendmedien? Ferner waren und sind Jugendmedien stets eingebettet in eine Geschichte allgemeiner wie auch selektiver Medialisierung. Sie werden wie alle Medien an besonderen Orten angeeignet, sodass neben anhaltenden Stadt-Land-Unterschieden auch Tendenzen der Internationalisierung, die Transfers und Modifizierungen von Produkten und Formaten zu reflektieren sind. Trotz der Übernahme amerikanischer Muster sind nationale Varianten und Unterschiede in Europa z. B. bei bevorzugten Filmgenres bedeutend, ebenso sind innereuropäische Transfers von Formaten der Kinder- und Jugendmedien hoch relevant, über die bislang fast nichts bekannt ist. Die jeweilige Mikro- sollte konsequent auf die Makroebene bezogen werden, was aber keineswegs heißen soll, dass man auf Fallstudien völlig verzichtet. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes wissen sich einem solchen Programm verpflichtet und darin liegt, nicht zuletzt, sein systematischer Stellenwert, denn gegenüber einer gegenwartsbesessenen und stark aufgesplitterten Forschung mit einem gewaltigen Defizit an historischen Studien gilt es künftig, Voraussetzungen für komparative Ansätze, insbesondere transnationale Vergleiche im Sinne einer connective comparison , und für die Untersuchung von Transferprozessen zu schaffen, um Jugendmedien, die in ihrem Wesen stets kulturelle Hybride und zum Teil internationale Mélangen darstellen, überhaupt gerecht werden zu können. Auch hier bieten sich wiederum methodische Anleihen bei den Kulturwissenschaften an, die Berücksichtigung von Konzepten und Ideen interkultureller Kommunikation wie die Analyse nationaler Eigen- und Fremdwahrnehmungen in und von Jugendmedien oder die Untersuchung von Transferprozessen der durch Jugendmedien hergestellten und damit kolportierten Ausformungen von „Jugendkultur“, die auch Julia Erdogan in ihrem Beitrag zur jugendlichen Computernutzung subkultureller Hackergruppen in der BRD und der DDR in diesem Band in den Fokus stellt. Auch die Zusammenarbeit in multinationalen Forscherverbünden Vgl. Gunter Mahlerwein, Alternative Cinema in the Youth Centre Movement in Germany in the s and s, in: Judith Thissen/Clemens Zimmermann, Hg., Cinema beyond the City. SmallTown and Rural Film Culture in Europe, London , S. –; Mélisande Leventopoulos, Catholic Cinephilia in the Countryside: The Jeunesse Agricole Chrétienne and the Formation of Rural Audiences in s France, in: Thissen/Zimmermann, Cinema beyond the City, S. –. Vgl. dazu Pablo Dominguez, Rezension zu: Eve Weinbaum u. a., Hg., The Modern Girl Around the World: Consumption, Modernity, and Globalization, Durham http://hsozkult.←geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/-- (..). Vgl. zum Konzept des dynamischen Kulturbegriffes u. a.: Alfred Hirsch, Hg., Interkultur – Jugendkultur. Bildung neu verstehen, Wiesbaden ; einschlägig zum Forschungsfeld der Interkulturellen Kommunikation: Hans-Jürgen Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart
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kann die Durchsetzung einer grenzübergreifenden Perspektive in der historischen Jugendmedienforschung gewährleisten. Historisierung zielt darauf ab, zu erkennen, was wirklich neu ist in der „Gegenwart“. Die heutige Jugendmedienforschung betont, dass trotz Fernsehunterhaltung und der Nutzung von Informationen aus Fernsehen und Radio das Lesen immer noch wichtig sei, alte Medien, so Treumann u. a., würden durch neue nur ergänzt. Generell habe die Entstehung neuer Medien im Ensemble retrospektiv in der Regel nicht zu einer Substitution etablierter Medientypen geführt, sondern lediglich deren Funktion vom Leit- zum Begleitmedium verändert, wie sich beispielsweise an der Bedeutungsverschiebung des Radios durch den Siegeszug des Fernsehens seit den er Jahren beobachten lässt. Ausgehend von dieser Prämisse muss Jugendmedienforschung immer die epochen- und sozialspezifische Zusammensetzung von tatsächlich genutzten Medienensembles untersuchen. Diese Ensembles waren komplexer als man sich durch die Fixierung der Forschung auf das literarische Buch lange vorstellte, z. B. in der Thürungen-Studie Alfred Schmidts von zeigte sich, dass Jugendliche unterschiedliche Teile der Lokalzeitung intensiv lasen und zwar geschlechtsspezifisch ausgeprägt. Stehen Whatsapp und YouTube also nur in der Tradition der penny magazines und des Jugendbriefes des . Jahrhunderts? Und ist der Tomboy im zeitgenössischen Hollywoodfilm lediglich eine Weiterentwicklung des jugendlichen Wildfanges aus den Backfischromanen? Was ist tatsächlich „neu“ an Neuen Medien; diese Frage stellt sich in der gegenwärtigen Mediengeschichte auch an anderen Stellen. Zur Klärung dieser Frage muss notwendigerweise – insbesondere für das ausgehende . Jahrhundert – auch die ; Matthias Otten, Hg., Interkulturelle Kompetenz im Wandel : Grundlegungen, Konzepte und Diskurse, Berlin . Vgl. Klaus-Peter Treumann u. a., Medienhandeln Jugendlicher. Mediennutzung und Medienkompetenz. Bielefelder Medienkompetenzmodell, Wiesbaden . Diese Studie basierte auf einer Befragung von Jugendlichen und leitfadengestützten Interviews. Sie stellte heraus, dass Fernsehen trotz eines umfassenden Angebots neuer Medien immer noch das beliebteste war. Jugendliche könnten über die verschiedenen Genres (Serien, Nervenkitzel durch Horror, Action, Katastrophenfilme, Komödien) die individuellen Gefühle „managen“, aber sie nutzen auch die Informationsangebote und könnten klar zwischen Realitätsdarstellung und Fiktionalität unterscheiden. Die alten Medien würden nicht verdrängt, sondern ergänzt. Die Interessen der Jugendlichen wurden demnach weniger durch Medien bestimmt, als dass die Interessen und Hobbys die Medienbenutzung steuerten. Jugendliche nutzten demnach Medien sehr different, deswegen seien Schlagworte nicht angebracht, vielmehr sei eine Typologie zu entwickeln, z. B. Bildungsorientierten stünden Positionslose gegenüber (ebd., S. f.). Einschlägig dazu vgl. Helmut Schanze, Integrale Mediengeschichte, in: Ders., Hg., Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart , S. –. Vgl. Kristen Hatch, Little Butches: Tomboys in Hollywood Film, in: Mary Celeste Kearney, Hg., Mediated Girlhoods. New Explorations of girls’ media culture, New York , S. –.
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Intermedialität real existierender Jugendmedien-Ensembles berücksichtigt werden. So verweisen Medienhistoriker wie Andreas Fickers u. a. zu Recht darauf, dass gerade eine integrale Mediengeschichte eine synchrone oder diachrone Betrachtung trans- und intermedialer Bezüge zwischen einzelnen Medien innerhalb eines größeren Medienverbundes erfordere. Auch in zeitgenössischen medienpädagogischen und kommunikationswissenschaftlichen Studien wird deutlich, dass die Parallel- und Mehrfachnutzung unterschiedlicher Jugendmedientypen seit den er Jahren ubiquitär soziale Realität von Jugendlichen war. Unauflöslich verquickt mit einer als integral gedachten Jugendmediengeschichte ist die Kategorie der Generation bzw. Generationalität. Eine historische Betrachtung von Jugendmedien kommt nicht umhin, Generationen von Jugendbuchautoren und ihre Leserschaften als analytische Kategorie miteinzubeziehen, ferner sich wandelnde Konzepte von Zeitschriftenredaktionen, die sich auf diese Generationen einstellten. Bereits hat Helmut Fend das Konzept der „Jugendgenerationen“ in die medienpädagogische Forschung eingebracht. Seiner Ansicht nach zeichneten sich Jugendliche derselben Alterskohorte durch ähnliche Sozialisations- und Medienerfahrungen aus und bildeten darüber eine eigene, spezifische (Medien-)Generation aus. Bei der Frage nach (Jugendmedien-) Generation bzw. Generationalität sind aber nicht nur normative Positionen zum Mediengebrauch zu reflektieren, sondern Milieus von Mediennutzung zu eruieren und damit auch generationelle Mediensozialisationen zu rekonstruieren, etwa über Befragungen und die Rekonstruktion von generationsspezifischen Bestsellern. Historisierung bedeutet nicht zuletzt, die impliziten Kategorien von Jugendforschung des . Jahrhunderts selbst zu reflektieren, auch die Datengrundlage heutiger und vergangener Studien, ebenso deren zugrunde liegenden sozialen Interessen und Diskurse. Denn Jugendmedien waren und sind seit der Frühen Neuzeit Gegenstand sozialpsychologischer, ästhetischer und soziologischer, vor allem aber pädagogischer Diskurse, die ungeheuer normativ aufgeladen waren und teils immer noch sind. Insofern hatten und haben die Jugendmedien zwei Vgl. Andreas Fickers, Eventing Europe: europäische Fernseh- und Mediengeschichte als Zeitgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. , , S. –, hier S. . Vgl. wiederum Bonfadelli, Massenmedien, Zug ; Hertha Sturm/J. Ray Brown, Hg., Wie Kinder mit dem Fernsehen umgehen. Nutzen und Wirkung eines Mediums, Stuttgart . Vgl. Helmut Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt a.M. . Vgl. z. B. Susan Talburt/Nancy Lesko, Historizing Youth Studies, in: Awad Ibrahim/Shirley R. Steinberg, Hg., Critical Youth Studies Reader, New York , S. –. Diese Studie greift für die USA solche jugendpädagogischen Debatten in einer Längsschnittanalyse beginnend mit „pastoralen Impulsen“ während der Hochurbanisierung der er und er Jahre bis in die
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Publiken: die Jugendlichen selbst und diejenigen, die in beruflichen Feldern agieren bzw. sich als pädagogische Autoritäten und als Politikberater positionierten. Zu diesen Diskursen existiert reichhaltiges, empirisches Material, das historiographisch noch viel zu wenig genutzt wird. Insbesondere die eingangs erwähnten Ansätze einer frühen Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie vor allem die späteren, stärker selbstreflexiven Studien der britischen cultural studies erweisen sich für eine historische Jugendmedienforschung als anschlussfähig. Zum einen, so schlägt Heinz Bonfadelli vor, könne auf die quantitativen Daten zur jugendlichen Mediennutzung und Publikumsprofilierung aus früheren Jahrzehnten zurückgegriffen und dieses Sample durch qualitative Untersuchungen ergänzt werden. Zum anderen sollten, so Frank Bösch, empirische Daten vergangener Medienwirkungsforschung seit Mitte des . Jahrhunderts definitiv genutzt, aber unserer Ansicht nach hinsichtlich ihrer Wirkungsannahmen radikal infrage gestellt und zu Gunsten von diversifizierten Aneignungspraktiken und -mustern relativiert werden. Befreit vom ideologischen Ballast früherer Kulturkritik sind auch die Kategorien des Birminghamer Centres for Contemporary Cultural Studies (CCCS) – „class“, „ethnicity“, „gender“ und „race“ – als Untersuchungskriterien noch brauchbar, wie doch auch die Studie von Bill Osgerby zu britischen Jugendmedien beweist. Trotz latenter Pädagogismen und unbewiesener Wirkungsannahmen bietet eine methodisch und theoretisch reflektierte Zweitauswertung früherer empirischer Studien Erkenntnismöglichkeiten, wie auch hier vor allem der Beitrag von Christoph Hilgert zum Jugendprogramm des NWDR bzw. NDR zeigt.
Gegenwart auf. Für die Zeit nach sehen die Autorinnen die neoliberale Wende einer „cando-attitude“, mit der – auch in der Schulpädagogik – das Vertrauen gegenüber Jugendlichen bezeichnet wurde, alles selbst zu entdecken und Erfolg damit zu haben. Dann folgte eine Phase der Diskussionen über Gewalttaten, zuletzt die Wende zum Versuch, Außenseiter aller Art und überhaupt Schüler über schulische Medienaktivitäten wie das Jugendradio zu aktivieren und zu integrieren. Wie weit dieses Schema auf Westeuropa übertragbar ist, sei hier dahingestellt, anregend aber ist es. Vgl. z. B. Margarete Keilhacker, Kino und Jugend, München ; Martin Keilhacker/Erich Wasem, Jugend im Kraftfeld der Massenmedien, München . Vgl. Bonfadelli, Jahre Jugendmedienforschung, S. ; Frank Bösch/Annette Vowinckel, Mediengeschichte, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, .. http://docupedia.de/zg/←Mediengeschichte_Version_._Frank_BCBsch_Annette_Vowinckel (..). Relevante zeitgenössische Studien sind u. a. Viggo Graf Blücher, Freizeit in der Industriellen Gesellschaft. Dargestellt an der jüngeren Generation, Stuttgart ; Fritz Stückrath/Georg Schottmayer, Fernsehen und Großstadtjugend, Braunschweig ; Heinz Bonfadelli u. a., Jugend und Medien. Eine Studie der ARD/ZDF-Medienkommission und der Bertelsmann Stiftung, Frankfurt a.M./Berlin .
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Sozialpsychologische Weiterungen der Jugendmedienforschung?
In der bisherigen Jugendkulturforschung wird immer noch stark mit „Wirkungen“ oder „Funktionen“ von Jugendmedien argumentiert, z. B. wenn Kategorien wie „Nervenkitzel“ angeführt werden. Dies stellt jedoch ein dorniges Terrain dar, da sich die alten Fragen der Medienwirkungsforschung stellen. Hingegen Ingrid PausHaase u. a. zeigten in einer Analyse von „Talkshows im Alltag von Jugendlichen“, dass bestimmte Talkshows ein spezifisches Jugendangebot darstellen, deren Rezeption von Geschlecht und Bildung sowie von den lebensweltlichen Bedingungen abhängig ist, und dass direkte Zusammenhänge zwischen Talkshow-Nutzung und besonderen Realitätsvorstellungen nicht nachweisbar sind. Schwierig ist auch der in der aktuellen Jugendmedienforschung vielfach zu essentialistisch gedachte Identitätsbegriff. Aus Medienanalysen können nur jeweilige Identitätsangebote herausgelesen werden. Auf „tatsächliche“ Identitäten zu schließen erweist sich hingegen als schwierig. Dennoch sollten in historischer Perspektive die Deutungsangebote der aktuellen Jugendforschung nicht einfach verworfen werden: Etwa die Begriffe des identity testing oder des taste-testing, die nach Gruppen mit demselben Geschmack innerhalb der populären Kultur suchen, können auch für andere Zeiten und Orte geeignete Kategorien sein. Genau dies zu überprüfen, wäre ein gewichtiger Aspekt des Gesamtprojekts einer historischen Jugendmedienforschung. Den Mehrwert einer solchen Herangehensweise zeigt z. B. die Studie von Kirsten Pike, bei der geschlechtergeschichtlich anhand von Leserbriefen in der US-amerikanischen Mädchenzeitschrift Seventeen der er Jahre das Leitbild eines „new activist girls“ und einer „cultivating feminity“ herausgearbeitet wurden. In der Tradition von Vordenkerinnen wie Angela McRobbie vom CCCS wird auch in der aktuellen feministischen Jugendforschung von der Entwicklung von „gendered identities“ aufgrund der Lektüre von Zeitschriften für junge Frauen bzw. im Zuge einer „girls‘ culture“ gesprochen. Positiv daran ist, dass die Grenzen einer „internen“ Mediengeschichte überschritten, kulturelle Kontexte aufgezeigt werden und nach der Bedeutung von Zeitschriften im Medienensemble gefragt wird. Das beruht allerdings nicht auf einem wirklich zu Ende gedachten empirischen Design. Es wird bereits dem Konsum der medialen Angebote eine Wirkung für solche Identitäten zugeschrieben. Man kann zwar unterstellen, dass Ingrid Paus-Haase u. a., Talkshows im Alltag von Jugendlichen. Der tägliche Balanceakt zwischen Orientierung, Amüsement und Ablehnung, Opladen . Kirsten Pike, „The New Activists“: Girls and Discourses of Citizenships, Liberation, and Feminity in Seventeen, –, in: Mary Celeste Kearney, Mediated Girlhoods. New Explorations of girls’ media culture, New York , S. –, hier S. f.
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z. B. zwischen expressiven Kleidungsstilen wie bei Madonna und dem „rebellischen“ Habitus junger Frauen Zusammenhänge qua Medialität bestehen. Wie dabei jedoch auf „Identität“ geschlossen werden kann, ist eine Frage des Identitätsbegriffs, bei dem sich in historischer Perspektive verschiedene methodische Probleme stellen, da hierbei nicht einfach Gruppenverhalten oder interaktive Kommunikation beobachtet werden können. Davon abgesehen dürften individuelle Identitäten immer wieder zu Gruppenidentitäten in Kontrast geraten sein, die wiederum erzwungen oder nur symbolischer und nicht praktischer Natur waren. Von daher verspricht die Verwendung des Individualisierungsbegriffes auch in der historischen Jugendmedienforschung neue Erkenntnisse, da über diesen Begriff längere Zeiträume seit dem . Jahrhundert abgedeckt werden können und der Zusammenhang zu jeweiligen Medienensembles hergestellt werden kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Einbettung von Fallstudien in größere Kontexte und die Anlage systematischer Samples im Rahmen einer historischen Jugendmedienforschung sinnvoll ist. Hierbei werden auch die medialen Institutionen zu berücksichtigen sein, in deren Mitte die Produktion von Jugendmedien geschah und die auf Inhalte und Formen erheblichen Einfluss nahmen, etwa bei den spezifischen Jugendprogrammen des Rundfunks oder den kirchlichen Jugendzeitschriften, wie dies in diesem Band von Michael Kuhlmann und Friederike Höhn demonstriert wird. In der gegenwärtigen Forschungssituation ist die Aneinanderreihung isolierter Fallstudien kaum noch sinnvoll, vielmehr ist deren Einbettung in die longue durée und in einen strukturellen Rahmen angebracht, außerdem stehen transnationale und komparative Ansätze auf der Tagesordnung, wie dies in diesem Band vielfältig angegangen wird. Dadurch wird auch jeweils klarer, welches Konzept von Jugend und Jugendlichen in ihren sozial Vgl. Dawn H. Currie, Girl Talk: Adolescent Magazines and Their readers, Toronto/Buffalo/London . Auch die Autorin betont, dass „gender scripts“ in „women’s magazines“ eine Form der Propaganda darstellen, man aber keinen empirischen Zusammenhang zwischen der Lektüre und der Entwicklung bestimmter Formen von Geschlechterrollen nachweisen könne; ebd., S. . Zahlreiche Beispiele für erinnerte Individualisierungsprozesse bzw. ihre medialisierte Form in: Richard van Dülmen, Hg., Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien ; insbesondere Andreas Gestrich, Kindheit und Jugend – Individuelle Entfaltung im . Jahrhundert, in: ebd., S. –; zum Begriff vgl. Flavia Kippele, Was heißt Individualisierung? Die Antworten soziologischer Klassiker, Opladen/Wiesbaden . „Sozial“ bedeutet hier, wie schon mehrfach angedeutet, durchaus auch „mikrosozial“, wie aus dem Beispiel der Hardcore-/Punkmode hervorgeht, deren Untersuchung im Zusammenhang mit Szeneaktivitäten und medialen Eigenproduktionen wie Fanzines erfolgte; Marc Calbach, More Than Music. Einblicke in die Jugendkultur Hardcore, Bielefeld .
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und geschlechtshistorischen Dimensionen jeweils zugrunde liegt, oder inwiefern z. B. Jugendsendungen wie der Beat-Club, den Michael Esch in diesem Band beleuchtet, einen neuen Zugang zur gesamten Gesellschaftsgeschichte bieten. Insgesamt hat sich der vorliegende Band die Aufgabe gestellt, auf einen erweiterten Gegenstandsbegriff von „Jugendmedien“ hinzuweisen, der sich von den Printmedien zwar nicht abgewandt hat, aber einen weiten und pluralen Medienbegriff zugrunde legt, bei dem nicht mehr einzelne Szenen und ins Auge fallende Phänomene im Mittelpunkt stehen, sondern auch die langfristigen Entwicklungen der gesellschaftsrelevanten Mainstreammedien – ebenso wie rezeptive Praktiken der jugendlichen Publiken. Schließlich vermittelt dieser Tagungsband zahlreiche neue Einsichten in die Jugendmediengeschichte des . Jahrhunderts, deren Umrisse hier zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit sichtbar werden: zu Zielgruppen und Partizipationsformen, zu zeitgenössischen Reflexionen von Rezeptionsverhalten und deren Verwissenschaftlichung, zur Selbstverortung jugendlicher Teilöffentlichkeiten und zur Translokalität selbstproduzierter Jugendmedien.
Aufbau des Bandes und einzelne Beiträge
Im ersten Kapitel des Bandes werden Jugendmedien „von unten“ als Selbstermächtigungsorgane in ihrer politischen bzw. politisierenden Funktion sowie hinsichtlich ihres agitatorischen und subversiven Potentials betrachtet. Hierbei spielen Jugendmedien in alternativen Milieus eine Rolle, die nicht- oder lediglich semikommerziell produziert wurden und das politisch-institutionelle System, in das sie jeweils eingebettet waren, vornehmlich konterkarierten als es zu reproduzieren und damit langfristig gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang setzten. Stefan Rindlisbacher zeigt in seinem Beitrag auf, wie verschiedene Zeitschriften der deutschen und schweizerischen bürgerlichen Jugendbewegung als Kommunikations- und Informationsplattform für ihre Vereinsmitglieder und Sympathisanten dienten, ferner zur Sichtbarmachung und Selbststilisierung der Akteure beitrugen. Dabei zeichnet Rindlisbacher die Periode zwischen und den er Jahren anhand von Publikationen der Wandervogel- und Lebensreformbewegung nach. In Leserbriefen und Reiseberichten wurden gemeinsame Freizeitaktivitäten jugendlicher Mitglieder zelebriert, die neben den politischen Debatten über neue Erziehungsmodelle und moderne Ernährungs- und Gesundheitspraktiken, auch dem Wunsch der Bewegung nach Autonomie Rechnung trugen. Rindlisbacher verdeutlicht, dass jene Publikationen, deren Gestaltung und Produktion von den betreffenden Jugendlichen selbst beeinflusst wurden,
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derart zum konstituierenden Element für die sich ausdifferenzierende bürgerliche Jugendbewegung im Deutschen Kaiserreich und der Schweiz avancierten. Am vergleichenden Beispiel der bundesdeutschen und der Hackerszene der DDR verfolgt Julia Erdogan die Geschichte einer milieuspezifischen, jugendlichen, sub- bzw. gegenkulturellen Aneignung des Heimcomputers seit den er Jahren. Die Aktivisten des bundesdeutschen Chaos Computer Clubs (CCC) sowie des deutschdemokratischen Hauses der jungen Talente (HdjT), die als „Hacker“ einen neuen, subversiv auftretenden Typus des jugendlichen Medienkonsumenten hervorbrachten, begnügten sich nicht damit, den Computer – wie von seinen Machern intendiert – als reines Konsumgut zum Spielen oder Arbeiten zu verwenden. Vielmehr nutzten sie das Medium darüber hinaus auf kreativ-eigensinnige und hoch avantgardistische, technologisch höchst versierte Weise, indem sie selbstprogrammierten und durch ihre „Hacks“, d. h. ihr programmatisches Eindringen in fremde Datensysteme wie die der NASA oder des KGBs, Sicherheitslücken aufdeckten – mitunter auch jenseits der Grenze der Legalität. Als jugendlicher Expertenzirkel und „Störfaktor“ entfalteten Hacker in der BRD wie in der DDR dadurch gleichermaßen gesellschaftspolitisches Konfliktpotential und zeichneten sich trotz ihrer Eingebundenheit in unterschiedliche politische Regime durch weitgehend ähnliche Praktiken und Strategien der Medienaneignung aus. Das zweite Kapitel betrachtet die Jugendmedien „von oben“, d. h. solche Medien, die – wenn auch nicht unbedingt stark kommerzialisiert – deutlich als Repräsentation und Manifestierung der zeitgenössischen soziopolitischen und sozioökonomischen Machtstrukturen zu erachten sind, aus denen heraus sie entstanden. Hierbei geht es vornehmlich um die Rolle von Jugendmedien als Bildungsinstanzen, Erziehungsinstrumente und Informationsorgane, denen mitunter größere Bedeutung zukam als anderen gesellschaftspolitischen Institutionen mit ähnlichem Auftrag wie Schulen, kirchlichen oder sozialpädagogischen Einrichtungen. Mit der Frage nach der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um Wehrdienst und Remilitarisierung greift Friederike Höhn eine spezifische bundesrepublikanische Debatte der er Jahre auf. Konkret thematisiert sie deren inhaltlich-diskursive Ausgestaltung, aber auch ihre Wahrnehmung von Jugendlichen im christlich geprägten Milieu anhand der Analyse der beiden zeitgenössisch wichtigsten, konfessionell gelagerten Jugendzeitschriften: der katholischen Wacht und der evangelischen Jungen Stimme. Dabei gelingt es Höhn nachzuzeichnen, dass im Vergleich zur allgemeinen politischen Debatte ein spezifischer jugendmedialer Diskurs durch die beiden Zeitschriften etabliert wurde, der sich durch eine besondere Informationspolitik und Diskussionskultur innerhalb der Magazine
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äußerte. Höhn zeigt dabei das Spektrum unterschiedlicher, mitunter kontrastierender Meinungen der jungen Leserinnen und Leser sowie die mal partizipative, mal unilaterale Informationsvermittlung seitens der Redaktionen auf und erstellt damit ein Kaleidoskop von Befürwortern der Wiederbewaffnung bis hin zu ihren Gegnern, die im Geiste christlicher Nächstenliebe und als Verfechter persönlicher Freiheitsrechte eine Remilitarisierung rundweg ablehnten. Christoph Hilgert beleuchtet in seinem Beitrag die Funktion des Radios als facettenreiches Unterhaltungs- und Informationsmedium für Jugendliche während der er und frühen er Jahre. Dabei zeichnet er die Genese eines Typus nach, der seitens der bundesdeutschen Radiomacher sozusagen im trial-anderror-Verfahren gleichermaßen aufgespürt wie kreiert wurde: der jugendliche Hörer. Während seine Ansprache durch den Jugendfunk nach dem Zweiten Weltkrieg noch stark pädagogisch bzw. pädagogisierend war, d. h. der Diskurs über Jugendliche von oben dominierte, wandelte sich diese Adressierung im Laufe der er Jahre hin zu einer direkteren, unmittelbaren Hinwendung zum jugendlichen Hörer, zu einem partizipativen Diskurs mit Jugendlichen und einer Orientierung an deren Hörpräferenzen – zumindest im Wortprogramm. Die vielseits gewünschte populäre Musik, wie sie vornehmlich von US-amerikanischen und britischen Soldatensendern oder Radio Luxemburg gespielt wurde, hatte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch keinen Ort, bewirkte aber auf lange Sicht Innovations- und Modernisierungsschübe in einzelnen Sendeanstalten der Bundesrepublik. Inwiefern diese Neuerungen in puncto Jugendsendungen in den öffentlichrechtlichen Sendeanstalten in den darauffolgenden Jahrzehnten eine Zeit lang Früchte trugen, allerdings weiterhin durchaus kontrovers diskutiert wurden, zeigt sich am Beitrag von Michael Kuhlmann. Am Beispiel der Sendung Radiothek des WDR Köln, die gemäß dem Anspruch ihrer Macher gleichermaßen unterhaltsam wie informativ sein sollte, zeigt Kuhlmann auf, wie die Reformbestrebungen der er Jahre auch Sendungen des Jugendfunks in ihrer inhaltlichen wie gestalterischen Machart während der er Jahre veränderten. Täglich zwei Stunden sendete der WDR in seiner Radiothek live geschaltete Wortbeiträge mit Themen aus dem Bereich Politik, Arbeit, Bildung und Kultur, verfolgte aber auch eine Service- und Ratgeberfunktion und ließ Raum für freie und kuriose Themen. Eingerahmt waren die Beiträge durch ein stark diversifiziertes Musikprogramm mit Schwerpunkt auf Pop und Rock – eine Innovation, die der starken Abwanderung der Hörerschaft vor allem zu RTL Luxemburg aufgrund dessen stärkerer Ausrichtung auf Populärmusik geschuldet war. Insbesondere das starke partizipative Element, das sich in der direkten Einbindung der Jugendlichen als Zielgruppe
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im Rahmen von O-Tönen in der Sendung selbst offenbarte, wurde gleichermaßen unter konservativen Jugendlichen wie der Elterngeneration zum Stein des Anstoßes. Das letzte Kapitel des Bandes betrachtet Jugendmedien als „VergemeinschaftungsAgenten“ und Konstrukteure (kollektiver) Erinnerungskultur. Unbestritten gilt insbesondere das . Jahrhundert als Zeitalter der Massenmedien. Eine Geschichte dieses Säkulums lässt sich ohne die Beachtung seiner – vor allem visuellen – Medien nicht mehr schreiben. Es ist davon auszugehen, dass Erinnerungsbilder häufig Medienbilder sind bzw. Medienbilder das Potential haben, eigene Erinnerungen wenn nicht zu formatieren, dann zumindest derart zu transformieren, dass in der Retrospektive eine Unterscheidung von eigens Gesehenem und medial vermittelten Bildern kaum noch trennscharf auseinanderzudividieren ist. Die Annahme zugrunde gelegt, dass insbesondere in der Phase der Adoleszenz ein großes Repertoire an Erinnerungsbildern generiert wird, macht eine Betrachtung gerade von Jugendmedien als „Bild-Speicher“ und „Bild-Fundus“ unumgänglich. So wird in diesem Kapitel einerseits auf inhaltlich-programmatischer als auch auf Rezeptionsseite jenes Potential von (Jugend-)Medien überprüft und der Frage nachgegangen, welche konkreten Strategien der Mediennutzung und -aneignung sich dabei ausmachen lassen, ferner welche konkreten Publiken dadurch entstehen. Andre Dechert verweist in seinem Aufsatz darauf, dass Kinder- und Jugendmedien unweigerlich in spezifische Ideen und Konstruktionen von „Familie“ eingebettet sind, d. h. das jeweilige Kinder- und Jugendmedium liegt subkutan unter dem Deckmantel des „Familienprogramms“. Dies zeigt er am Beispiel der US-amerikanischen TV-Serien Fury und Am Fuß der Blauen Berge. Dechert verfolgt einen rezipientenorientierten Ansatz und definiert Jugendmedien als mediale Produkte, die sich seinerzeit durch große Popularität in jugendlichen Zuschauerkreisen auszeichneten und von diesem Publikum – mitunter auch unabhängig oder gar der Intention der Medienmacher entgegensetzt – aktiv angeeignet wurden. Dechert knüpft damit bewusst an die auch diesem Band generell zugrunde liegende Auffassung Schweigers vom „aktiven Mediennutzer“ an, der „Medien als
Vgl. u. a. Christoph Classen, Thomas Großmann, Leif Kramp, Zeitgeschichte ohne Bild und Ton? Probleme der Rundfunk-Überlieferung und die Initiative „Audiovisuelles Erbe“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe (), H. http://←www.zeithistorische-forschungen.de/-/id=, Druckausgabe: S. – (..). Vgl. u. a. Sabine Moller, Erinnerung und Gedächtnis, Version: ., in: DocupediaZeitgeschichte, .. http://docupedia.de/zg/Erinnerung_und_Ged.C.Achtnis?oldid=←, S. (..).
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Mittel der Bedürfnisbefriedigung und Nutzenmaximierung in freier Entscheidung auswählt und rezipiert“. Michael Esch spürt in seinem Beitrag in einer Doppelfunktion als Historiker und Zeitzeuge der Jugendmusiksendung Beat Club auf Radio Bremen nach. Jenseits von nostalgischer Verklärung bemüht sich Esch darum, seine eigene Empirie, seine Erinnerung an die Zeit als jugendlicher Mediennutzer und Rezipient dieser Sendung als analytische Kategorie zur Untersuchung des Beat Clubs für eine bundesdeutsche Kultur- und Sozialgeschichte der er und frühen er Jahre nutzbar zu machen. Dabei geht es ihm vornehmlich darum, das Verhältnis zwischen der Entwicklung einer musikalischen Formensprache, wie sie der Beat Club als medialer Akteur in revolutionärer Weise hervorbrachte, und der Konstruktion einer als authentisch gedachten medialen Gemeinschaft einer jugendlichen Subkultur auszuloten. Ein vollkommen anderes Jugendmedium, das allerdings nicht minder zur Konstitution und Organisation einer eigenen, spezifischen Gruppe dienen sollte, betrachtet Karl Siebengartner mit den in der Münchner Punkszene am Ende der er und am Anfang der er Jahre produzierten Fanzines. Siebengartner nimmt dabei eine dezidiert translokale bzw. transnationale Perspektive ein und kann aufzeigen, inwieweit eigenproduzierte Jugendmedien, die in einem begrenzten urbanen Kontext entstehen, trotzdem als internationale Kommunikationsräume und jugendkulturelle Transmissionsriemen fungieren konnten. Weiterhin macht Siebengartner deutlich, dass Punk-Fanzines als Jugendmedien nur im Rahmen von intermedialen Referenzen verstanden werden können. So bedienten sich die Hefte in ihrer Machart gleichermaßen des visuellen und inhaltlichen Repertoires aus anderen Medien des Undergrounds, aber auch der Mainstreampresse, die zwar in ihren formalen Schemata kopiert, in ihren Inhalten jedoch häufig persifliert wurde. Darüber hinaus fungierten Fanzines als transnationale Kauf- und Tauschbörse für andere Medien wie Kassetten oder Schallplatten. Auch Nikolai Okunews Beitrag ist eine deutsch-deutsche Geschichte transnationaler Aneignungspraktiken von Jugendmedien in einem spezifischen jugendlichsubkulturellen Milieu: der Heavy-Metal-Szene der er Jahre. Dabei betrachtet Okunew allerdings nicht nur Fanzines als Printmedien, sondern stärker auch Schallplatten und selbsthergestellte Tonkassetten. Okunew beschreibt dabei eine doppelte Perspektive jugendlicher Mediennutzung: Zum einen bedienten sich bundesdeutsche, aber vor allem Jugendliche aus der DDR unterschiedlicher massenmedialer Formate wie der Sendungen US-amerikanischer und britischer Truppenradios oder westdeutscher Jugendzeitschriften, um sich Inspirationen für
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szenespezifische Kleidung und Verhalten zu holen und darüber ihre kollektive Identität auszubilden. Zum anderen stellten sie ihre eigenen Jugendmedien wie selbst mitgeschnittene Tonbänder und Kassetten her, die auch transnational getauscht wurden. Die in diesem Band mehrfach verfolgte Perspektive auf die Rolle des jugendlichen „Medienprosumenten“ wird hier überdeutlich.
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Einleitung
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Einleitung
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Teil 1
Jugendmedien als Selbstermächtigungsorgane: Politisierung, Agitation und Subversion
Stefan Rindlisbacher
Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924) Die deutsche Jugend steht an einem entscheidenden Wendepunkt. Die Jugend, bisher nur ein Anhängsel der älteren Generation, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und auf eine passive Rolle angewiesen, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen.
Als sich am . und . Oktober bis junge Menschen auf dem Hohen Meißner in Hessen zum Ersten Freideutschen Jugendtag trafen, glaubten sie am Anfang einer neuen Zeit zu stehen. Die Berliner Ortsgruppe des Deutschen Bundes abstinenter Studenten hatte zusammen mit der Deutschen Akademischen Freischar zu diesem „Fest der Jugend“ aufgerufen, um die verschiedenen Gruppen der bürgerlichen Jugendbewegung in Kontakt zu bringen. Auch Jugendliche aus Österreich und der Schweiz nahmen daran teil. In der berühmt gewordenen „Meißnerformel“ forderten sie ein Leben „nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit“. Tatsächlich hatte sich die gesellschaftliche Position der Jugendlichen im frühen . Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen „westlichen“ Staaten stark verändert. Ein „Wendepunkt“ in der Geschichte der Jugend war der Erste Freideutsche Jugendtag aber nicht. Vielmehr war es eine geschickt inszenierte und publizistisch ausgeschmückte Manifestation einer wachsenden Sozialgruppe, die sich seit dem ausgehenden . Jahrhundert immer stärker bemerkbar machte. Jeder Mensch durchläuft den körperlich-hormonellen Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Aber wie dieser Transformationsprozess medizinisch beurteilt, juristisch geordnet, rituell begleitet und mit Sinn ausgestattet wird, hängt O.A., Der zweite Aufruf, in: Arthur Kracke, Hg., Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner, Jena , S. . Die Ereignisse rund um den Ersten Freideutschen Jugendtag wurden in der historischen Forschung ausführlich dargestellt. Ein Übersichtswerk mit Quellenbeispielen ist zum hundertsten Jahrestag erschienen: Barbara Stambolis/Jürgen Reulecke, Hg., Jahre Hoher Meißner (–). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen . An der nachträglichen Mythisierung des „Hohen Meißners“ und der „Meißnerformel“ hat auch die Geschichtsforschung mitgearbeitet. Dazu eine kritische Aufarbeitung: Christian Niemeyer, Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, Weinheim , S. –.
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
vom soziokulturellen Umfeld ab. Die Jugend unterliegt damit dem historischen Wandel. Die biologischen Prozesse sind unzertrennbar mit soziokulturellen Bedeutungszuschreibungen verwoben. Sie ordnen den Ablauf dieser Übergangsphase, bestimmen ihre Dauer, geben ihr Ziele und Ambitionen vor, warnen vor Problemen und Gefahren und verteilen soziale Positionen und gesellschaftlichen Einfluss. Meistens formten die Erwachsenen die Jugend nach ihren Vorstellungen. Zwar traten immer wieder Jugendliche als historische Akteure in Erscheinung, aber erst die Jugendbewegung begann um die eigene Lebensphase zu hinterfragen und sich als eigenständige Sozialgruppe mit spezifischen Wünschen, Bedürfnissen und Eigenheiten zu definieren. Der vorliegende Artikel untersucht die Mechanismen dieser Sichtbarmachung und Selbststilisierung der Jugendlichen in ausgewählten Periodika der bürgerlichen Jugendbewegung. Es werden sowohl Zeitschriften aus Deutschland wie auch aus der Schweiz untersucht. Dabei geht es nicht nur um eine inhaltliche Analyse, sondern auch um den Einfluss der Jugendlichen auf die Gestaltung und Produktion der Zeitschriften. Seit dem . Jahrhundert gab es immer mehr fiktionale Literatur, die sich an eine spezifisch jugendliche Leserschaft richtete. Kinder und Jugendliche rückten als Protagonisten ins Zentrum der Handlung und typische Themen und Problemfelder der Heranwachsenden wurden behandelt. Im Unterschied zu dieser Literatur für Jugendliche waren die untersuchten Zeitschriften auch Medien von Jugendlichen. Zudem ermöglichten die regelmäßig erscheinenden Jugendzeitschriften im Unterschied zur monographischen Jugendliteratur einen direkten Austausch zwischen den Jugendlichen und eine Rückkoppelung der Inhalte der
Die Forschungsliteratur zur bürgerlichen Jugendbewegung ist sehr umfangreich. Erste quellenkritische Studien kamen in den er und er Jahren heraus: Walter Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln ; Ulrich Aufmuth, Die deutsche Wandervogelbewegung unter soziologischem Aspekt, Göttingen ; für neuere Studien siehe u. a.: Ulrich Herrmann, Hg., „Mit uns zieht die neue Zeit . . . “. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, München/Weinheim ; Barbara Stambolis, Hg., Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahme, Göttingen . Parteipolitische, proletarische und konfessionell-religiöse Jugendgruppen werden nicht einbezogen. Auch die große Anzahl neuer Zeitschriften in der bündischen Phase der bürgerlichen Jugendbewegung in der Zwischenkriegszeit wird nicht berücksichtigt. Bekannte Beispiele sind Die Abenteuer des Tom Sawyer (), Heidi () oder Die Schatzinsel (). Diese Bücher wurden zwar noch nicht unter dem Label „Jugendliteratur“ veröffentlicht – die Bezeichnung etablierte sich erst deutlich später –, jedoch erreichten sie vor allem bei Kindern und Jugendlichen große Beliebtheit. Siehe dazu u. a.: Reiner Wild, Hg., Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart ; Hans-Heino Ewers, Erfahrung schrieb‘s und reicht‘s der Jugend. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendbuchliteratur vom . bis . Jahrhundert, Frankfurt a.M. .
Stefan Rindlisbacher
Zeitschriften mit den Aktivitäten der Jugendgruppen. Die Untersuchung beginnt mit den Wandervogelzeitschriften in den er Jahren, wirft dann einen Blick auf die Durchmischung mit alkoholabstinenten und lebensreformerischen Konzepten vor und nach dem Ersten Weltkrieg und schließt mit den hybriden Jugend- und Lebensreformzeitschriften der er Jahre. Dabei geht es um die Frage, welchen Einfluss die Jugendlichen auf die Debatten über die Alkoholabstinenz und die lebensreformerischen Körper-, Ernährungs- und Gesundheitspraktiken hatten und wie sich diese Auseinandersetzungen auf die bürgerliche Jugendbewegung auswirkten.
Der deutsche Wandervogel zwischen Jugenderziehung und Gemeinschaftserlebnis
Als sich im Verlauf des . Jahrhunderts die ländlichen Agrargesellschaften zu urbanen Industrie- und Konsumgesellschaften wandelten, mussten die Jugendlichen eine neue Position im Gesellschaftsleben einnehmen. Die rückläufigen Geburtenzahlen ebneten den Weg zur Kleinfamilie. Zudem stieg durch die Industrialisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung der Bedarf an spezialisierten Angestellten. Die Förderung jedes einzelnen Kindes gewann dadurch an Bedeutung. Das führte zu einer Aufwertung und Demokratisierung der Schulbildung. Wegen neuer Kinderschutzgesetze und der Ausdehnung der obligatorischen Schulzeit verschob sich zudem der Einstieg ins Berufsleben auf zwölf bis Jahre. In Berufs-, Mittel- und Hochschulen verweilten Jugendliche sogar bis zum . oder . Lebensjahr und darüber hinaus im Ausbildungsprozess. Die Phase zwischen Kindes- und Erwachsenenalter begann sich dadurch immer weiter zu verlängern. Heute dauert sie sogar bis zum . oder . Lebensjahr und ist kaum noch an den Eintritt ins Berufsleben oder die Gründung einer Familie gekoppelt. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wirkte sich diese voranschreitende Entgren-
Die untersuchten Zeitschriften lassen sich im Kontext der bürgerlichen Periodika des . Jahrhunderts verorten, die sich als Plattformen für sozial- und kulturpolitische Debatten etablierten. Um erreichte der Zeitschriftenmarkt erstmals ein Massenpublikum. Siehe dazu u. a.: Clemens Zimmermann u. a., Hg., Die Zeitschrift – Medium der Moderne. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Bielefeld . Zur historischen Entwicklung der Jugend: Winfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom . bis zum . Jahrhundert, Göttingen ; Zu soziologischen und psychologischen Aspekte der Jugend: Klaus Hurrelmann, Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, Weinheim . Aufl. .
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
zung der Jugendphase bereits im frühen . Jahrhundert auf die untersuchten Jugendzeitschriften aus. Mit den Bildungsexpansionen der Zwischenkriegszeit und vor allem der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erfasste die Ausweitung der Jugendphase immer weitere Gesellschaftsschichten. Das mediale, wissenschaftliche und politische Interesse an dieser Entwicklung erreichte aber schon um große Aufmerksamkeit. Vor allem die wachsende Freizeit der Jugendlichen wurde immer stärker problematisiert. In urbanen Räumen fiel die familiäre Erwerbsarbeit in der Landwirtschaft oder Heimarbeit weg, wodurch die frei verfügbare Zeit nach der Schule, an Sonntagen und den Schulferien zunahm. Die jungen Leute folgten den Erwachsenen ins Wirtshaus oder in die Sport- und Singvereine. Mit neuen Jugendabteilungen versuchten politische Parteien, religiöse Institutionen und soziale Bewegungen, die Jugendlichen für ihre Anliegen zu rekrutieren. Der Staat sorgte sich vor allem um die Jugendkriminalität und begann deshalb altersspezifische Sozialprogramme zu entwickeln. Mit der bürgerlichen Jugendbewegung trat eine zusätzliche Form altershomogener Vergemeinschaftung in Erscheinung, die sich an keine (Erwachsenen-)Organisation angliederte. Zu den bekanntesten Vertretern avancierte der Wandervogel, der sich im ausgehenden . Jahrhundert aus privaten Wanderausflügen einiger Mittel- und Hochschüler aus Steglitz bei Berlin entwickelte. Am . November bildete sich der Ausschuß für Schülerfahrten e.V. als erster offizieller Verein des Wandervogels. Weil nach preußischem Recht minderjährige Schüler (unter Jahre) keine Vereine gründen konnten, mussten Lehrer, Eltern und philanthropische Förderer die formale Leitung übernehmen. Der Einfluss der Erwachsenen auf den Wandervogel war damit von Anfang an groß und führte immer wieder zu hitzigen Auseinandersetzungen über Macht- und Einflussfragen. Auch die emanzipierende Wirkung des Wanderns war umstritten. Die Jugendlichen konnten sich zwar auf ihren Fahrten aus den direkten Ein kurzer Überblick zur Entstehung des Wandervogels in Deutschland: Winfried Mogge, Aufbruch einer Jugendbewegung. Wandervogel: Mythen und Fakten, in: Sabine Weissler, Hg., Fokus Wandervogel. Der Wandervogel in seinen Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg, Marburg , S. –. Diese Einschränkung blieb auch in den Folgejahren für die meisten Wandervogelgruppen bestehen. Siehe dazu u. a. die Satzung des Jung-Wandervogels: „§ Schüler und junge Leute, die sich zur Teilnahme an den Fahrten melden, sind nicht Mitglieder des Bundes. Sie werden in ein Buch der Wandervögel eingetragen. [. . . ] § Mitglieder des Bundes sind die Mitglieder des Eltern- und Freundes-Rates (Eufrat) und die eingetragenen Führer.“; Satzung des „Jung-Wandervogel“, in: Jung-Wandervogel, Zeitschrift des Bundes für Jugendwandern „Jung-Wandervogel“, Jg. , H. , , S. .
Stefan Rindlisbacher
Kontrollsphären der Eltern und Schule entfernen und selbstverantwortlich ihren Tagesablauf planen und bewältigen, ein revolutionäres Aufbegehren, wie es vor allem Hans Blüher (–) heraufbeschwor, waren diese Ausflüge aber nicht. Die minderjährigen Wandervögel wurden durch ältere Gruppenleiter – meistens Studentinnen und Studenten – begleitet. Zudem konnte die Bewegung auf großen Rückhalt in der Gesellschaft und insbesondere in bildungsbürgerlichen Schichten zählen. Schließlich gehörte das Wandern zur bürgerlichen Bildungstradition. Viele Eltern und Lehrer ermutigten deshalb ihre Kinder und Schüler, dem Wandervogel beizutreten. Mit dieser wohlwollenden Unterstützung konnte sich der Wandervogel schnell ausbreiten und bald auch Gruppen außerhalb von Steglitz und Berlin gründen. Um die Kommunikation innerhalb der Bewegung weiterhin zu gewährleisten und den Expansionskurs voranzutreiben, veröffentlichte der Wandervogel ab Februar unter dem Titel Wandervogel, Illustrierte Monatsschrift (ab : Zeitschrift des Bundes für Jugendwanderungen, „Alt-Wandervogel“ ) eine eigene Zeitschrift. Wie bei der Gründung des Steglitzer Ausschusses lag auch die Kontrolle über die Zeitschrift bei den älteren Männern aus dem bildungsbürgerlichen Unterstützungszirkel. So beschrieb der Schriftsteller und Universitätsprofessor Heinrich Albrecht (–) den Wandervogel im Geleitwort der ersten Ausgabe der Zeitschrift als pädagogisches Unternehmen zur Körperertüchtigung und Disziplinierung der städtischen Jugend. Im Sommer spaltete sich der Alt-Wandervogel vom Steglitzer Verein ab. Bis fächerte sich die Bewegung in immer neue Strömungen auf. Manchmal führten personelle Konflikte oder lokale Autonomiebestrebungen zur Gründung einer neuen Splittergruppe, oft steckten auch Zielkonflikte und Strategiediskussionen hinter den Abspaltungen. In der Regel veröffentlichte jede neue Gruppe eine
Hans Blüher gehörte zu den einflussreichsten Vertretern des deutschen Wandervogels. Schon begann er mit seiner Buchreihe zum Wandervogel die bürgerliche Jugendbewegung zu historisieren. Kontrovers wurden vor allem seine Überlegungen zur männlichen Homoerotik in den Wandervogelgruppen diskutiert. Siehe dazu: Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (–), Köln . Siehe dazu vor allem Ulrich Aufmuths These, dass bildungsbürgerliche Kreise den Wandervogel unterstützen, um die idealistischen Bildungstraditionen gegen die „instrumental-funktionale[n]“ Bildungskonzepte der aufsteigenden, kapitalistisch orientierten Mittelschichten zu verteidigen: Aufmuth, Wandervogelbewegung, S. –. Vgl. Heinrich Albrecht, Geleitwort, in: Wandervogel, Illustrierte Monatsschrift, Jg. , H. , ; Zit. Werner Kindt, Hg., Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung –, Düsseldorf/Köln , S. f.
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
eigene Zeitschrift. Die organisatorische Entwicklung der Bewegung war damit untrennbar an die publizistischen Tätigkeiten der Wandervogelgruppen gekoppelt. Normalerweise erschienen die Wandervogelzeitschriften im Eigenverlag ohne professionellen Vertrieb. Die Zustellung erfolgte durch die jeweiligen Gruppen über den Postweg. Die Auflagen erreichten bis zum Ersten Weltkrieg nur einige Hundert bis wenige Tausend Exemplare. Im Aufbau und der Gestaltung unterschieden sich die verschiedenen Zeitschriften nur unwesentlich. Zu den wichtigsten Funktionen gehörten jeweils die Ankündigungen der Ausflüge, Fahrten und Treffen. Dieser grundlegende Informationsauftrag wurde durch unzählige Reiseberichte ergänzt. Der folgende Ausschnitt illustriert dieses typische Beitragsformat: Müde von langem Marsch, läßt alles sich am Waldrand nieder. Doch bald kommt Leben in die Horde. Ein mächtiges Feuer lodert empor und die Feldküche wird eröffnet. Zwar raucht das Feuer tüchtig, daß unserm hagern Küchenchef die Augen tränen. Nachdem der Schlamm zu Ende ist, lassen die einen sich am Feuer rösten, andere halten drüben am Wasser große Wäsche, wieder ein andrer bringt seine Erlebnisse zu Papier und rechnet mit sorgenvoller Miene, ob wohl der ,Draht‘ ihm reicht. Als dann der Mond hinter den dunklen Tannen emporsteigt und das Feuer langsam erlischt, da ziehen wir uns in die warme Scheune zurück. Noch ein munteres Lied, und alles schläft. Leise bimmeln die ganze Nacht hindurch die Glocken der Kühe im nahen Stall, doch wenig stört dies unsere Ruhe.
Die subjektiven, manchmal in nüchtern-deskriptivem, oft in emphatischüberschwänglichem Stil verfassten Beschreibungen der Wanderungen produzierten einen Kanon an Erlebnissen, auf den sich alle Mitglieder einstimmen konnten. Die flüchtige Wandervogelerfahrung wurden auf diese Weise in „dauerhafte[n], sublime[n] Formen“ konserviert. Wie das oben genannte Beispiel zeigt, gehörte die Verschriftlichung der Erlebnisse in einer Reihe mit den typischen Naturerfahrungen, Kochpraktiken und Übernachtungsweisen zu den gängigen Aktivitäten im Wandervogel. Auf einer weiteren Ebene produzierten diese Erzählungen auch Die Wandervogelzeitschriften sind zwar viel verwendete Quellen, eine systematische Darstellung existiert aber bis heute nicht. Einen guten Überblick gibt Malte Lorenz in seinem Kapitel zur Quellenlage seiner Abhandlung über den Wandervogel: Malte Lorenz, Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung –, Göttingen , S. –. F. Knorr, Bilder von unserer Vogesen- und Schwarzwald-Fahrt, in: Der Wandervogel, Zeitschrift des Bundes für Jugendwanderungen, „Alt-Wandervogel“, Jg. , H. , , S. . Vgl. Lorenz, Zwischen Wandern und Lesen, S. –. Rüdiger Ahrens, Bündische Jugend. Eine neue Geschichte –, Göttingen , S. .
Stefan Rindlisbacher
neue Erwartungen und Ansprüche an zukünftige Ausflüge. Entsprechend eng waren die Erlebnisberichte in den Zeitschriften mit den alltäglichen Praktiken in den Wandervogelgruppen verbunden. Die Wirkung dieser Beiträge war besonders stark, weil auch die jüngeren Wandervögel eigene Texte einreichen konnten. Auf diese Weise beteiligten sich potentiell alle Mitglieder an der Konstruktion einer spezifischen Wandervogelidentität. Die Zeitschriften fungierten aber nicht nur als Informations- und Identifikationsorgane, sie festigten und akzentuierten auch die Ein- und Abgrenzungsbestrebungen der verschiedenen Strömungen innerhalb der Wandervogelbewegung. Spätestens mit der Abspaltung des Alt-Wandervogels dienten sie als Plattformen für ausführliche Strategie- und Ideologiedebatten. Die neuen Wandervogelbünde versuchten in den Zeitschriften ihre Alleinstellungsmerkmale hervorzuheben und möglichst viele Mitglieder hinter sich zu scharen. Auch wenn alle Gruppen die Wanderausflüge teilten, waren sie sich nicht einig, welches weiterführende Ziel die Bewegung verfolgen sollte. Die einen sahen in der Ziellosigkeit – dem unbeschwerten Wandern, Singen und Beisammensein – den einzigen Zweck des Wandervogels. Andere wollten aus dem Wandervogel mehr herausholen. Sie sehnten sich nach einer Jugendbewegung, die sich für soziale oder politische Ziele einsetzte.
Die Fliehkräfte der Abstinenzfrage und die Gründung des Schweizer Wandervogels
In den Jahren nach der Aufteilung der Bewegung zwischen Steglitzer Verein und Alt-Wandervogel entwickelte sich u. a. die Alkoholfrage zum Spaltpilz. Über die gesundheitliche Wirkung des Wanderns waren sich die meisten Beteiligten einig, umstritten war jedoch die Bedeutung des Alkohols für diese Gesundheitsbestrebungen. Die Abstinenz gehörte nicht von Anfang an zur Wanderpraxis. In den ersten Jahren orientierte sich der Steglitzer Wandervogel unter der Führung Hermann Hoffmanns (–) und Karl Fischers (–) noch stark an studentischen Verbindungsritualen mit Festen und Trinkgelagen. So ließ man die Wanderungen häufig in Wirtshäusern bei Bier und Tabak ausklingen. Die Abstinenzforderung wurde vor allem durch abstinente Schüler- und Studentenverbindungen in den Wandervogel getragen. kam es deshalb zur zweiten Vgl. Ulrich Linse, „Wir sträuben uns auch ein wenig gegen fanatische Reformer“. Jugendbewegter Lebensstil oder lebensreformerische Jugenderziehung?, in: Hermann, „Mit uns zieht die neue Zeit . . . “, S. –.
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
großen Aufspaltung der Wandervogelbewegung. Neben der Uneinigkeit über die Aufnahme weiblicher Mitglieder und personeller Streitigkeiten führte vor allem die Forderung nach einem vollständigen Alkoholverbot zum Bruch. Die neue Gruppe nannte sich Wandervogel – Deutscher Bund für Jugendwanderungen und veröffentlichte unter dem Titel Blätter für den Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwanderungen eine eigene Zeitschrift. Fast zur gleichen Zeit formierte sich in der Schweiz eine weitere Wandervogelgruppe als Schweizerischer Bund abstinenter Jugendwanderungen. Neben der „Hebung des Jugendwanderns“ setzte sich der Schweizer Wandervogel von Anfang an für eine „alkoholfreie Lebensweise“ ein. Sämtliche Aktivitäten mussten abstinent durchgeführt werden. Eine Änderung dieses Prinzips führte automatisch zur Auflösung des Bundes. Im Unterschied zu Deutschland wuchs der Wandervogel direkt aus der akademischen Abstinenzbewegung heraus. Er wurde am . April an der fünfzehnten Hauptversammlung der abstinenten Mittelschulverbindung Helvetia gegründet. Während die studentische Abstinenzbewegung in Deutschland erst im Deutschen Verband abstinenter Studenten eine überregionale Organisation bildete, hatten sich die akademischen Abstinenzgruppen in der Schweiz schon zehn Jahre früher zusammengefunden. Am . Juli schlossen sich mehrere abstinente Mittelschulverbindungen zum Zentralverein Helvetia zusammen. Im Herbst folgte mit der Libertas ein Ableger an den Universitäten. Zusammen veröffentlichten die beiden Verbindungen ab das Correspondenzblatt für studierende Abstinenten. Die Zeitschrift berichtete vor allem über die Versammlungen und gemeinsamen Aktivitäten sowie über die internationalen Vereine und Verbände. Die Jugend war kein explizites Thema, jedoch
Zu den Debatten innerhalb der Zeitschrift: Ivonne Meybohm, Krisenwahrnehmung im Wandervogel (–), in: Michel Grunewald/Uwe Puschner, Hg., Krisenwahrnehmungen in Deutschland um . Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich, Bern , S. –. Die Literatur zum Schweizer Wandervogel ist sehr dünn. Eine kurze Darstellung gibt es in: Andreas Petersen, Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz –, Zürich , S. –; eine ausführlichere Darstellung, jedoch von einem Mitglied des Schweizer Wandervogels: Fritz Baumann, Der Schweizer Wandervogel. Das Bild einer Jugendbewegung, Aarau . Statuten des „Wandervogel“. Schweizer Bund für Jugendwanderungen, in: Correspondenzblatt für studierende Schweizer Abstinenten, Offizielles Organ des Centralverbandes der schweiz. akademischen Abstinenzvereine und der „Helvetia“, Abstinentenverbindung an den schweiz. Mittelschulen, Jg. , H. , , S. . Vgl. Heinz Polivka, Wider den Strom. Abstinente Verbindungen in der Schweiz, Bern , S. –.
Stefan Rindlisbacher
spielten die spezifischen Bedürfnisse und Schwierigkeiten der abstinenten Studierenden eine wichtige Rolle. Anstelle des Duell- und Trinkzwangs organisierten die Ortsgruppen Wanderungen, Sportanlässe, Vorträge und Diskussionsabende. In Deutschland strebten Knud Ahlborn (–) und Hans Harbeck (–) ab mit der Deutschen Akademischen Freischar eine ähnliche Reform des Studentenlebens an. Die lange Vorgeschichte des Schweizer Wandervogels in der akademischen Abstinenzbewegung führte zu einer tiefgreifenden Verflechtung der Wandervogelideen mit der Abstinenzforderung und einer außerordentlich gesundheitsorientierten Wanderpraxis. In den ersten Jahren konnten nur Mitglieder der abstinenten Mittelschul- und Studentenverbindungen in den Schweizer Wandervogel eintreten. Zudem waren unter den Mitgliedern vor allem mehrtägige, hochalpine Touren beliebt. Mit dem „gesunden Bergsport“ versuchte sich der Schweizer Wandervogel von den „Schlemmtouren“ der deutschen Gruppen abzugrenzen. Auch in Bezug auf die organisatorischen Freiheiten sahen sich die Schweizer Wandervögel einer anderen Tradition verpflichtet. In der Schweiz waren die gesetzlichen Bestimmungen über die Mitgliedschaft minderjähriger Schüler und Schülerinnen in Vereinen weniger streng als in Deutschland. Zwar gab es ein relativ hohes Eintrittsalter von Jahren und minderjährige Jugendliche (unter Jahren) mussten die Unterschrift der Eltern vorweisen, um einer Ortsgruppe beitreten zu können, ansonsten mischten sich die Erwachsenen aber kaum in die alltäglichen Organisationstätigkeiten ein. Entsprechend inszenierten sich die Schweizer Wandervögel immer wieder als besonders frei und eigenständig im Vergleich zu anderen Jugendorganisationen und insbesondere auch gegenüber den deutschen Wandervogelgruppen: Alle die genannten Organisationen, wie übrigens auch der deutsche Wandervogel sind Verbände der Eltern, Vormünder, Lehrer und Freunde der Jugend; sie haben die Leitung und alle Rechte; den Jungen bleibt in diesen Vereinen nur eine einzige
Vgl. Sigrid Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft –, Köln , S. –. O.A., Zum Kapitel Wandervogel, in: Wandervogel, Jg. , H. , , S. . Siehe dazu die Satzung des Schweizer Wandervogels: „Als Wandervögel werden Jünglinge und Mädchen im Alter von mindestens . Jahren, mit Zustimmung (Unterschrift) der Eltern oder deren Stellvertreter aufgenommen. Hochschüler und Gleichaltrige bedürfen zum Eintritt letzterer Formalitäten nicht.“ In: Schweizer Wandervogel: Statuten des „Wandervogel“, in: Correspondenzblatt für studierende Schweizer Abstinenten, Jg. , H. , , S. .
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
Funktion – das Wandern. Der Schweizer Wandervogel ist in dieser Hinsicht demokratischer. Wir regieren uns selbst, leiten selbst unsere Wanderungen, wie unsere Geschäfte.
Seit gab der Schweizer Wandervogel unter dem Titel Wandervogel, Offizielles Organ des „Wandervogel“, Schweiz. Bundes für Jugendwanderungen eine eigene Zeitschrift im Selbstverlag heraus, die sich stark an den deutschen Wandervogelzeitschriften orientierte. Die Informationen über anstehende Wanderungen und Treffen waren ebenso vorhanden wie die typischen Reiseberichte und die bekannten Auseinandersetzungen über die Ziele des Wandervogels. Obwohl den deutschen Zeitschriften eine größere Professionalität zugestanden wurde, lehnten die Schweizer Wandervögel ein gemeinsames Publikationsorgan aus Sorge um einen Autonomieverlust ab. Die beiden Länder würden zwar die Wandervogelidee teilen, der „spezifisch deutsche Geist“ vertrage sich aber nicht mit der „Schweizerart“. Mit der eigenen Zeitschrift grenzte sich der Schweizer Wandervogel nicht nur von einer länderübergreifenden Gesamtbewegung ab, er stellte sich auch zunehmend in den Dienst der nationalistischen Identitätskonstruktion, die vor dem Ersten Weltkrieg auch die Schweiz erfasste.
Vortrupp und Junge Menschen: Zwischen Jugendbewegung und Lebensreform
Die Alkohol- und Tabakabstinenz wurde am Ersten Freideutschen Jugendtag als zweiter Zusatz in die „Meißnerformel“ aufgenommen. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg breiteten sich aber noch weitere Gesundheits-, Ernährungs- und Körperpraktiken im Wandervogel aus. Parallel zur Jugendbewegung hatte sich seit dem ausgehenden . Jahrhundert im Umkreis der sogenannten Lebensreformbewegung eine Vielzahl an Vereinen und Bünden mit ebenso vielen Zeitschriften entwickelt. In der Lebensreform ging es um die Optimierung der individuellen Emmi Bloch, Selbstvernichtung? In: Wandervogel, Offizielles Organ des „Wandervogel“, Schweiz. Bundes für Jugendwanderungen, Jg. , H. , , S. . Adolf Bärfuss, Die Interessensgemeinschaft, in: Wandervogel, Jg. , H. , , S. f. Wegen der enormen Vielfalt und komplexen Vernetzung der Akteure gibt es in der Geschichtsforschung bis heute Schwierigkeiten, die verschiedenen Strömungen, Teilbewegungen und Einzelbestrebungen sinnvoll zu ordnen und einzugrenzen. Bernd Wedemeyer-Kolwe hat in seinem neuesten Buch die seit Jahrzehnten andauernden „Definitionsschwierigkeiten“ zusammengefasst und die wichtigsten Akteure der Lebensreformbewegung vorgestellt: Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt .
Stefan Rindlisbacher
Gesundheit und des persönlichen Wohlbefindens durch eine Umgestaltung des alltäglichen Lebensstils: z. B. durch eine andere Ernährungsweise mit Vollkornprodukten, Frucht- und Gemüsediäten oder dem Verzicht auf Alkohol, Tabak, Kaffee, Salz und Fleisch, verschiedene Körperpraktiken wie Massagen, Gymnastik und Sonnenbäder oder naturheilkundliche Behandlungen mit Licht-, Luft- und Wasserkuren. Zwar setzte die Lebensreform am Individuum an, die Erfolge der Gesundheitsoptimierung sollten jedoch der ganzen Gesellschaft – der sogenannten Volksgesundheit – zugutekommen. Lebensreformerische Praktiken etablierten sich in einem sehr breiten politisch-ideologischen Spektrum von linken Proletariergruppen über liberal-bürgerliche Vereine bis zu völkischen Zusammenschlüssen. Die lebensreformerischen Vereinigungen hatten großes Interesse an der Diffusion ihrer Konzepte und Praktiken innerhalb der verschiedenen Jugendgruppen. Es ging ihnen um die Erziehung der Jugendlichen zu einem neuen, gesünderen Lebensstil. Am Ersten Freideutschen Jugendtag setzten sich vor allem Hans Paasche (–) und Hermann Popert (–) für die Bekanntmachung der Lebensreform in der Jugendbewegung ein. Die beiden veröffentlichten ab die Zeitschrift Vortrupp, Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit als Sammelbecken verschiedener Lebensreformbestrebungen. Neben der Abstinenzfrage thematisierte die Zeitschrift auch ernährungsreformerische und naturheilkundliche Praktiken, Vegetarismus, neue Erziehungsmodelle und sexualreformerische Ansätze, aber auch Wohnungsfragen, Naturschutz, Bodenreform und Reformsprachen wie Esperanto. Im Unterschied zu den selbstpublizierten Wandervogelzeitschriften erschien der Vortrupp mit einer hohen Startauflage von . Exemplaren im Leipziger Georg Wigand Verlag. Ab dem zweiten Jahrgang übernahm der Hamburger Alfred Jansen Verlag die Zeitschrift. Das Interesse an Immer noch ein wichtiges Grundlagenwerk: Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformistischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen ; sowie die beiden umfangreichen Sammelbände: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke, Hg., Handbuch der deutschen Reformbewegungen –, Wuppertal ; Kai Buchholz u. a., Hg., Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um , Bde., Darmstadt . Die Zeitschrift bewegte sich zwischen liberal-konservativer Aufbruchsstimmung und völkischen Niedergangsszenarien. Siehe dazu: Ulrich Linse, Der Vortrupp (–). Ein lebensreformerisches Organ des fortschrittlich-liberalen Konservatismus, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner, Hg., Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (–), Bern , S. –. Siehe dazu das Editorial der Zeitschrift: Der Vortrupp, Halbmonatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit, Jg. , H. , . Zum Alfred Jansen Verlag: Wiebke Wiede, Rasse im Buch. Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik, Oldenburg , S. f.
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
einem finanziellen Erfolg der Zeitschrift war entsprechend größer als bei den Wandervogelgruppen. Im Unterschied zu den Wandervogelzeitschriften war der Vortrupp an keine Organisation gebunden. Die Zeitschrift sollte vielmehr die bereits bestehenden Lebensreformvereine und Jugendgruppen untereinander in Kontakt bringen. Aber schon nach den ersten Ausgaben organisierten sich Leser und Leserinnen in sogenannten Vortrupp-Gruppen. In diesen Lesezirkeln wurden die Themen der Zeitschrift besprochen und die praktische Umsetzung der Lebensreformen im Alltag erprobt. Ab dem zweiten Jahrgang schlossen sich die Vortrupp-Gruppen zum Deutschen Vortrupp-Bund zusammen und erarbeiteten eine Satzung. Eine regelmäßig erscheinende Beilage berichtete ab dem zweiten Jahrgang des Vortrupps über die Aktivitäten des Bundes und veröffentlichte eine Liste mit Kontaktadressen. Die Ortsgruppen agierten weitgehend autonom und wählten ihre bevorzugten Lebensreformbestrebungen selber aus. Die Kontrolle über die Themensetzung in der Zeitschrift und damit die Leitlinien des Deutschen Vortrupp-Bundes lagen jedoch bei Popert und Paasche. Anfang hatten sich Mitglieder in über Ortsgruppen in Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz zusammengeschlossen. Der Vortrupp-Bund versuchte sich als „Führer der Jugend“ zu positionieren, hatte damit aber nur wenig Erfolg. Wie schon bei der Abstinenzfrage formierte sich auch gegen die Lebensreform eine starke Opposition. Zwar wurden einige Ortsgruppen von Wandervögeln geleitet, eine weitgehende Durchmischung mit der Jugendbewegung erfolgte aber nicht. Deshalb musste sich der Deutsche Vortrupp-Bund nach dem Ersten Freideutschen Jugendtag aus der Planung der Freideutschen Jugend zurückziehen. Auch spezifische Jugend-Vortrupp-Gruppen blieben hinter den Erwartungen zurück. Die Vortrupp-Zeitschrift erschien bis
Vgl. H. F., Wir marschieren!, in: Mitteilungen des Deutschen Vortrupp-Bundes, Jg. , H. , , S. und S. f. O.A., Was ist, was will der „Vortrupp“? In: Mitteilungen des Deutschen Vortrupp-Bundes, Jg. , H. , , S. . Die Entwicklung der Freideutschen Jugend wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges stark gehemmt. Sie konnte trotz der großen Resonanz des Ersten Freideutschen Jugendtages nie eine führende Rolle in der Jugendbewegung übernehmen und löste sich bereits Anfang der er Jahre wieder auf. Beispielsweise die abstinenten Mittelschulvereinigungen am Katharineum zu Lübeck: o.A., Der erste Jugend-Vortrupp, in: Mitteilungen des Deutschen Vortrupp-Bundes, Jg. , H. , , S. ; der Schriftsteller Thomas Mann (–) hatte an der gleichen Schule schon unter dem Titel Der Frühlingssturm eine der ersten deutschsprachigen Schülerzeitungen herausgegeben.
Stefan Rindlisbacher
und ging dann in die Kulturzeitschrift Kunstwarte (–) über. Der Vortrupp-Bund gliederte sich in den Dürerbund ein. Der Versuch, die Jugend für lebensreformerische Bestrebungen zu gewinnen, war damit aber nicht am Ende. Eine neue Initiative startete Walter Hammer (–) ab mit seiner Zeitschrift Junge Menschen, Halbmonatsschrift für die Jugend Deutschlands. Ähnlich wie die Wandervogelzeitschriften erschien Junge Menschen im Eigenverlag, jedoch mit einer relativ hohen Auflage von . bis . Exemplaren. Als Hammer am Ersten Freideutschen Jugendtag teilnahm, leitete er sowohl eine Vortrupp-Gruppe als auch eine Wandervogelgruppe. Gemeinsam mit dem Freischar-Pionier Knud Ahlborn versuchte er, in seiner Zeitschrift die beiden Bewegungen zusammenzufügen. Aber im Unterschied zur Vortrupp-Zeitschrift positionierte Hammer die Jungen Menschen explizit als „Jugendzeitschrift“. Der Aufruf zur Bekanntmachung der neuen Zeitschrift ging deshalb nicht an lebensreformerische Vereinigungen, sondern an die „Jugendbünde und jugendlichen Gemeinschaften“. Aber weil die Zeitschrift an keine konkrete Jugendgruppe angebunden war und Walter Hammer auch keine eigenen Wanderungen organisierte, fehlten die typischen Reiseberichte des Wandervogels. Stattdessen gab es in der Kategorie „Jugendbewegung“ Berichte über die organisatorische Entwicklung der verschiedenen Gruppen und Strömungen. Zudem befasste sich die Rubrik „Schule und Beruf“ mit Schulpolitik, Unterrichtsformen und reformpädagogischen Ansätzen. Dadurch entfiel der bisherige Austausch zwischen den Jugendlichen über die Erlebnisberichte. Hammer betonte jedoch, dass viele der Mitarbeiter erst Jahre alt seien. Die Partizipationsmöglichkeiten verschoben sich damit zunehmend auf die redaktionelle Ebene. Vor allem in der Rubrik „Lebenskunst und Körper“ (später „Lebensreform“) verfassten die Jugendliche nun auch eigene Beiträge über Sexualität, Körperkultur, Abstinenz, Ernährung und viele weitere Gesundheitsthemen.
Zu Walter Hammers Leben und Wirken: Jürgen Kolk, Mit dem Symbol des Fackelreiters. Walter Hammer (–), Berlin ; eine Faksimile-Ausgabe der Zeitschrift mit einer Zusammenstellung ausgewählter Beiträge: Walter-Hammer-Kreis, Hg., Junge Menschen. Monatshefte für Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der jungen Generation der zwanziger Jahre, –, Frankfurt a.M. . Im Editorial der ersten Ausgabe: Junge Menschen, Halbmonatsschrift für die Jugend Deutschlands, Jg. , H. , . „Diese ,Stimmen der Jugend‘ werden hinfort nicht mehr als besondere Unterabteilung der ,Jungen Menschen‘ erscheinen, sondern aufgehen namentlich in ,Streitfragen‘ und ,Freier Aussprache‘. Jugend kommt überwiegend in diesen Blättern zu Wort (viele unserer Mitarbeiter sind erst Jahre alt), sodaß den Herausgebern jene Unterabteilung ,Stimmen der Jugend‘ überflüssig erscheint.“: Walter Hammer, Stimmen der Jugend, in: Junge Menschen, Jg. , H. /, , S. .
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Tao: Eine Jugendzeitschrift für junge Erwachsene?
Ab veröffentlichte der Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann (–) unter dem Titel Tao, Monatsblätter zur Verinnerlichung und Selbstgestaltung (ab : Tau, Monatsblätter für Verinnerlichung und Selbstgestaltung, für Erkenntnis und Tat) eine ähnliche Zeitschrift wie Junge Menschen. Zimmermann wurde in der Zwischenkriegszeit als Autor, Redner, Übersetzer und Publizist für lebensreformerische Themen im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt. Seine populären Bücher Weltvagant () und Lichtwärts () wurden auch in Walter Hammers Junge Menschen beworben. Im Unterschied zu Hammer hatte er aber keine Kontakte zu den Wandervogelgruppen der Vorkriegszeit. Trotzdem verortete er seine Zeitschrift in der Tradition der bürgerlichen Jugendbewegung. Um Tao als neuartiges Jugendmedium zu positionieren, schloss er sich der weit verbreiteten Deutung an, die Jugendbewegung befinde sich seit dem Ersten Weltkrieg im Niedergang und brauche neue Impulse, um sich zu erneuern. Anstelle der bisherigen Wandervogelbünde forderte er deshalb eine neue, lebensreformerisch orientierte „befreiungsbewegung“, die „auf allen lebensgebieten“ wirken sollte. Die Leser und Leserinnen seiner Zeitschrift suchte Zimmermann im Unterschied zu Walter Hammer nicht in den bestehenden Jugendbünden. Vielmehr versuchte er eine andere, nicht organisierte Leserschaft für sich zu gewinnen. Im Laufe seiner Karriere als Autor und Redner traf Zimmermann auf viele junge Menschen, die sich mit ihren Sorgen und Nöten allein gelassen fühlten. Die Zeitschrift sollte diese Sinn- und Hilfesuchenden zu einer „gemeinshaft gegenseitigen gebens und nehmens und vereinten wachsens“ zusammenschließen. Jede Ausgabe
Zur Bedeutung der Tao-Zeitschrift für die lebensreformerische Freikörperkultur: Stefan Rindlisbacher, Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (–), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Jg. , H. , , S. –. Zu Werner Zimmermann: Eva Locher/Stefan Rindlisbacher, „Innere Verwandtschaft braucht keine Organisation“. Der Schweizerische Lichtbund im . Jahrhundert, in: Frank-Michael Kuhlemann/Michael Schäfer, Hg., Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation –, Bielefeld , S. –. Hans Blüher hatte schon in seiner Geschichte einer Jugendbewegung den „Niedergang“ des Wandervogels konstatiert. In den er Jahren war diese Lesart weit verbreitet. Mehr zu Blüher in Anmerkung . Werner Zimmermann, Jugendbewegung, in: Tao, Monatsblätter zur Verinnerlichung und Selbstgestaltung, Jg. , H. , , S. ; alle Zitate aus der Tao-Zeitschrift werden unverändert in Reformschreibweise wiedergegeben. Mehr zur Reformschreibweise folgt in diesem Kapitel weiter unten. Werner Zimmermann, Zum Geleit, in: Tao, Jg. , H. , , S. .
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enthielt deshalb eine umfangreiche Leserbriefsektion, die alle möglichen Lebensfragen behandelte. In Anlehnung an psychoanalytische Behandlungsmethoden bezeichnete Zimmermann diesen Austausch mit seinen Lesern und Leserinnen als „Aussprache“. Das Aussprechen der inneren Konflikte und Unsicherheiten gehörte über den gesamten Erscheinungszeitraum zum festen Bestandteil der Zeitschrift. Es ging dabei häufig um sexuelle Fragen, Schwangerschaften, Kindererziehung und Beziehungsprobleme, aber auch um psychische Notlagen wie Depressionen, Ängste und Einsamkeit sowie Probleme im Berufsleben wie Stress, Überforderung und Arbeitslosigkeit. Damit sprach Tao nicht mehr die - bis -jährigen Jugendlichen in Ausbildung an, sondern junge Erwachsene zwischen und Jahren, die in der Regel schon berufstätig waren, sich aber immer noch den jugendbewegten Ausdrucksformen und Freizeitaktivitäten verbunden fühlten. Auch die redaktionellen Beiträge behandelten Fragen, die sich vor allem an junge Menschen in der Übergangsphase zwischen Jugend- und Erwachsenenalter richteten. Dazu gehörten für diese Zeit sehr offene Debatten über Beziehungsprobleme, Verhütungsmethoden und Sexualpraktiken. Wie der Titel der Zeitschrift andeutete, spielten auch Glaubens- und Spiritualitätsfragen eine wichtige Rolle. Vor Zimmermann kam in seiner Ausbildung am Lehrerseminar in Bern durch seinen Lehrer Ernst Schneider (–) mit der Psychoanalyse in Kontakt. Er folgte dabei aber keiner der bekannten Richtungen, sondern verknüpfte die Methoden auf eigenwillige Weise mit reformpädagogischen Modellen und lebensreformerischen Praktiken. Siehe dazu: Kaspar Weber, Es geht ein mächtiges Sehnen durch unsere Zeit. Reformbestrebungen der Jahrhundertwende und Rezeption der Psychoanalyse am Beispiel der Biografie von Ernst Schneider –, Bern , S. –; siehe dazu auch die Tao-Ausgabe zum Thema Beichte: Tao, Jg. , H. , . Ein typisches Beispiel für einen Leserbrief: „Unter menshen gleiche ich einem eiszapfen, den man gerne meidet. [. . . ] Sobald ich mit fremden menshen zusammen komme, krampft sich in mir etwas zusammen, wie angst, ausgelacht zu werden, meine rede wird stockend, mein ganzes benehmen gezwungen, sodaß ich fon menshen gemieden werde. [. . . ] Die krampfhafte sheu, die angst, der falshe stolz, sie machen mich immer fliehen. – Kannst du mir helfen?“, in: o.A., Innere hemmungen, in: Tao, Jg. , H. , , S. . Ein Ferienlagerbericht ermöglicht einen Einblick in die Sozialstruktur der Tao-Leser- und Leserinnen: „Es dauerte von . bis . juli und war von siebzig teilnehmern, hauptsächlich von Schweizern, Deutschen und Österreichern, besucht. Etwa gleichviel frauen wie männer im alter zwischen und jahren, doch gab es auch einige ältere. Dem beruf nach waren sie lehrer, handwerker (merkwürdigerweise mehrere schneider und schneiderinnen), kaufleute, künstler (maler und musiker), siedler und studenten.“: Ernst Breuer, Ferienlager, in: Tau, Jg. , H. , , S. . Die dritte Nummer von Tao widmete Zimmermann unter dem Titel „Liebe“ der Sexualität und Partnerschaft. Darin plädierte er für eine Enttabuisierung des Körpers und der sexuellen Lust, kritisierte die Misshandlung der Frau in der Ehe und trat für die Legalisierung des Konkubinats ein. Die weiteren Artikel behandelten Verhütungsmethoden, Eheprobleme und Selbstbefriedigung:
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allem asiatische Religions- und Philosophiesysteme wie der Taoismus, Buddhismus und Hinduismus wurden ausführlich diskutiert. Nach der Umbenennung in Tau konzentrierte sich die spirituelle Suche auf Elemente des Neopaganismus und Urchristentums. Neureligiöse Richtungen wie die Theosophie, Anthroposophie und Mazdaznan wurden hingegen nur wenig rezipiert. Aus der Lebensreform kommende Gesundheits-, Ernährungs- und Körperpraktiken ergänzten die Sinnund Identitätssuche. Die Alkohol- und Tabakabstinenz bildete die offensichtlichste Kontinuität zu den früheren Jugendgruppen. Jedoch bot Tao wesentlich ausführlichere Ernährungsmodelle an. Neben dem Vegetarismus ging es auch um Rohkosternährung und Fruganismus, zudem gab es Tipps für biologisch hergestellte Produkte, vegetarische Restaurants und Reformhäuser. Vom Wandervogel übernahm Zimmermann die typischen Wanderungen mit einfacher Verpflegung und spartanischen Unterkünften. Aber anstatt sich den Überresten des Schweizer Wandervogels anzuschließen, organisierte er eigene Bergwanderungen und Klettertouren. Wichtige Treffpunkte waren zudem die Ferienlager in Zimmermanns Haus in Ringgenberg im Berner Oberland. Ferienwochen fanden aber auch in verschiedenen Berghütten in den schweizerischen und österreichischen Alpen oder an der Nord- und Ostsee in Deutschland statt. Auch die dazugehörigen Reiseberichte fehlten nicht. Die Leser und Leserinnen konnten wie in den Wandervogelzeitschriften ihre Erlebnisse teilen. Ein Bericht vom Ferienlager im Sommer in den Appenzeller Alpen enthält die bekannten Wandervogelideale der Einfachheit in der Lebensweise, das ausgelassene Singen und Tanzen und das starke Gemeinschaftserlebnis: Ja – und wie wir uns jeden morgen in den großen brunnentrog legten – und wie wir sangen und sprangen und tanzten – und wie unsere leiber leuchteten auf einsamer bergwiese – und wie wir im käskessi kräutertee brauten und einmal – soll ich’s verraten? sogar einen maisbrei rührten mit einem bergstock, als wir sonst fast nichts mehr zu beißen hatten! Tao, Jg. , H. , ; zudem veröffentlichte Zimmermann mehrere Bücher zur Sexualität, darunter Liebe (), Liebesklarheit () und Leuchtende Liebe (). Die erste Ausgabe der Zeitschrift behandelte eine Taoismus-Rezeption des niederländischen Schriftstellers Henri Borel (–). Die Beschäftigung mit asiatischen Religions- und Philosophiesystemen war in den er Jahren in Europa auch außerhalb der Jugend- und Lebensreformbewegung sehr populär. Siehe dazu: Ulrich Linse, Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität, in: Hans Kippenberg/Brigitte Luchesi, Hg., Religionswissenschaft und Kulturkritik, Marburg , S. –. Werner Zimmermann, Ferienwoche, in: Tao, Jg. , H. , , S. .
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Die ersten Ausgaben der Zeitschrift finanzierte Zimmermann mit seinem eigenen Tao-Verlag in Solothurn. Ab dem zweiten Jahrgang übernahm der Verlag Die Neue Zeit in Bern und Jena (ab : Lauf bei Nürnberg) die Herausgabe der Zeitschrift. Während der Reformbuchhändler Eduard Fankhauser (–) in der Schweiz den Vertrieb der Zeitschrift regelte, war der deutsche Verleger Rudolf Zitzmann (–) für Deutschland und den internationalen Vertrieb verantwortlich. Damit schlug Tao wie zuvor der Vortrupp und Junge Menschen einen gewinnorientierten Weg ein. Mit den Abonnenten im ersten Jahrgang bewegte sich die Zeitschrift in der Größenordnung der Wandervogelzeitschriften der Vorkriegszeit. Bis verdoppelte sich die Bezugszahl auf , aber wegen der wachsenden Konkurrenz durch vergleichbare Zeitschriften klagte der Verlag über massive wirtschaftliche Schwierigkeiten. Trotzdem erschien die Zeitschrift unter dem Namen Tau noch bis zur Inhaftierung Rudolf Zitzmanns durch die Nationalsozialisten und der Auflösung des Verlags in Lauf bei Nürnberg im Jahr . Eine Besonderheit der Tao-Zeitschrift war die Reformschreibweise. Nur Eigennamen und Worte am Satzanfang wurden großgeschrieben. Im ersten Jahrgang mussten einige Di- und Trigraphe (zwei oder drei Buchstaben, die eine Lautung beschreiben) verschwinden (sch = sh; ph= f; dt und th = t). Im zweiten Jahrgang folgten weitere Anpassungen, um die Schriftsprache stärker an die Lautsprache anzugleichen (v = f; c und tz = z; w = v). Es ging dabei nicht nur um eine vereinfachte, intuitivere Lesbarkeit der Texte, sondern auch um reduzierte Druckkosten durch den geringeren Aufwand bei der Setzung der Buchstaben. Nicht zuletzt war es auch ein bewusstes Stilelement, um den progressiven Anspruch der Zeitschrift durch das Schriftbild zu verstärken. Entsprechend war auch die Typografie sehr einfach gestaltet: Die einspaltigen Seiten mit wenigen Überschriften, einer zurückhaltenden Schriftauszeichnung (fett, kursiv etc.) und fast keinen Bildern sollten den Fokus auf den Inhalt der Texte lenken. Zudem erschien die außergewöhnlich kleinformatige Zeitschrift (x Zentimeter) über den gesamten Vgl. Rudolf Zitzmann, Tao, in: Tao, Jg. , H. , , S. . Vgl. Werner Zimmermann/Rudolf Zitzmann, Tau-Dämmerung, in: Tau Jg. , H. /, , S. . Nach dem Krieg führten Zitzmann und Zimmermann die Zeitschrift unter dem Titel Die Gefährten, Monatszeitschrift für Erkenntnis und Tat (–) weiter. Zimmermann orientierte sich dabei an der Reformschreibweise des bekannten Jugendstilmalers und Illustrator der Lebensreformbewegung Hugo Höppener alias Fidus (–). Siehe dazu: Fidus, Shreibweise, in: Tao, Jg. , H. , , S. ; über die Reformschreibweise auch das Themenheft „Rechtschreibung“: Tao, Jg. , H. , . Vgl. Heinrich Petersen, die einschrift tut not, in: Tau, Jg. , H. , , S. .
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Abb. : Das Cover der Zeitschrift blieb bis unverändert, jedoch ab unter dem Namen Tau.
Abb. : Die erste Seite der ersten Ausgabe der Tao-Zeitschrift mit der Reformschreibweise.
Zeitraum in einem wiedererkennbaren, mattgelben Einband mit geheimnisvoller, runenartiger Zeichnung auf der Vorderseite. Ohne Übung waren die Texte in den ersten Tao-Jahrgängen nur mit Mühe lesbar. Wer sich nicht darauf einließ, legte die Zeitschrift schnell wieder aus den Händen. Das schränkte zwar die Breitenwirkung ein, aber für die kollektive Identität der Leserschaft waren diese Ein- und Abgrenzungsmechanismen durch diese „Geheimschrift“ sehr nützlich. Das kam aber nicht bei allen Lesern und Leserinnen gut an. Auch der Verlag kritisierte, dass dadurch die Ausbreitung der Zeitschrift gehemmt werde. Deshalb verzichtete Zimmermann gegen Ende des dritten Jahrganges auf die meisten Reformelemente, die Kleinschrift blieb aber bis bestehen. Wie bei der Vortrupp-Zeitschrift sammelten sich einige Leser und Leserinnen schon nach den ersten Ausgaben in kleinen Lesezirkeln. Ab dem zweiten Jahrgang gab es Aufrufe für „gemeinsame [. . . ] ausflüge und ausspracheabende [. . . ]“ in mehreren Schweizer Städten, wenig später auch in Deutschland und Österreich.
Vgl. Rudolf Zitzmann, Unsere hefte, in: Tao, Jg. , H. , , S. . O.A., Mitteilungen der sharen, in: Tao, Jg. , H. , , S. .
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Ab wurden Adresslisten mit sogenannten Sammelpunkten veröffentlicht. Bis Anfang der er Jahre wuchs diese Liste auf über Orte im gesamten deutschsprachigen Raum an. Auch in einigen Aussiedlerdestinationen in Nord- und Südamerika gab es „Sammelpunkte“. Tao entwickelte sich dadurch immer mehr zur transnationalen Zeitschrift. Im Unterschied zu den Wandervogelgruppen, die sich durch eigene Zeitschriften regional und national voneinander abgrenzten, suchte Zimmermann mit Tao eine grenzüberschreitende Leserschaft. Mit den Lesern und Leserinnen in Übersee nahm sie sogar globale Züge an. Ähnlich wie die Vortrupp-Gruppen trafen sich die sogenannten Tao- bzw. TauFreunde regelmäßig, um über die neuesten Themen in der Zeitschrift zu sprechen und sich gegenseitig bei der Umsetzung der verschiedenen Lebensreformen in Alltag zu unterstützen. Aber im Unterschied zum Deutschen Vortrupp-Bund hatte Zimmermann kein Interesse an einem Tao-Bund. Die Gruppen verzichteten auf eine Satzung, verbindliche Richtlinien oder konkrete Ziele. Die Zeitschrift blieb über den gesamten Erscheinungszeitraum die einzige Klammer zwischen den Lesern und Leserinnen: Dem bedürfnis, eine möglichkeit des zusammenshlusses ohne die geringste bindung und verpflichtung zu shaffen, ist diese zeitshrift entsprungen, und sie kommt der erfüllung ihrer aufgabe immer näher. Ohne äußerliche bindung und verpflichtung! [. . . ] Wer aus freude ,Tao‘ liest, der fühlt sich innerlich mit uns allen verbunden, ohne im geringsten gebunden zu sein; kann er doch jeden augenblick ruhig wegbleiben, sobald unsere art ihm nichts mehr – oder weniger als eine andere art – bietet.
Tao vermittelte damit ein neuartiges Gefühl der Bindungslosigkeit in einer zunehmend flexibilisierten und individualisierten Konsumgesellschaft. Die Leser und Leserinnen konnten aus einem vielfältigen Selbstfindungs- und Selbstverwirklichungsangebot auswählen, um sich einen passenden Lebensstil zusammenzufügen. Eine starre Ideologie mit klaren Regeln und Zielen gab es nicht. Die transnationale Ausrichtung zeugte zudem von einer neuen, jugendlich-urbanen Lebenswelt, die sich zunehmend an globalen Trends orientierte. Die gesundheitsorientierten Ernährungs- und Körperpraktiken funktionierten genauso gut in Zürich wie in Siehe dazu u. a.: Sammelpunkte-Liste, in: Tau, Jg. , H. , , S. –. Zum Spannungsverhältnis zwischen individualistischen Autonomieforderungen bei Werner Zimmermann und den organisatorischen Herausforderungen beim Aufbau einer Jugendgruppe: Locher/Rindlisbacher, „Innere Verwandtschaft braucht keine Organisation“, S. –. Werner Zimmermann, Organisation, in: Tao, Jg. , H. , , S. .
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Berlin, London, New York oder Rio de Janeiro. Diese Entwicklungen werden meistens erst für die Zeit nach diagnostiziert. Vor allem seit den er Jahren hätten sich die traditionelle Bindungen und vorstrukturierte Lebensläufe der Menschen und insbesondere der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Gunsten wachsender Wahloptionen aufgelöst oder zumindest abgeschwächt. In Zeitschriften wie Tao manifestierten sich erste Ansätze dieser Prozesse aber schon in der Zwischenkriegszeit.
Fazit
In der Philosophie und Politik gehörte die Jugend seit der Antike zum viel diskutierten Phänomen. Sie war Experimentierfeld für neue Erziehungsmethoden und Projektionsfläche für unterschiedlichste Gesellschaftsentwürfe. Seit dem . und . Jahrhundert war sie auch Zielgruppe für spezialisierte Literaturangebote. Aber erst um erschienen erste Medien, die einen Austausch zwischen den Jugendlichen anregten. Durch den soziokulturellen Wandel hatte sich nicht nur die Bedeutung der Jugend in der Gesellschaft verändert, auch die Anzahl Jugendlicher, die in altershomogenen Gruppen ihre Freizeit verbrachten, nahm im frühen . Jahrhundert stetig zu. Neue Jugendmedien wie die Wandervogelzeitschriften setzten sich mit diesen wachsenden Entfaltungsräumen außerhalb der direkten Kontrollsphäre der Eltern und Schulen auseinander. Zwar blieb der Einfluss der Erwachsenen weiterhin groß, jedoch konnten sich die Jugendlichen an der diskursiven Konstruktion einer spezifisch jugendlichen Gruppenidentität beteiligen. Die langen Fußwanderungen, unkomplizierten Mahlzeiten am offenen Feuer, einfachen Übernachtungsmöglichkeiten auf Heuböden und in Zelten, die typische Kleidung und das intensiv empfundene Gemeinschaftsgefühl verdichteten sich in unzähligen Reiseberichten zu einer abgrenzbaren Jugendkultur. Die verschriftlichten Erlebnisse verschmolzen nicht nur mit den individuellen Erfahrungen, sie prägten immer auch die alltägliche Wanderpraxis, indem sie die Erwartungen an die Ausflüge vorstrukturierten und die Vorfreude anregten. In den Wandervogelzeitschriften wurden aber auch Stimmen laut, die sich mit den Freizeit- und Erziehungsangeboten des Wandervogels nicht zufriedengaben. Vor allem die älteren, meist studentischen Gruppenführer strebten eine Jugendbewegung mit sozialreformistischen oder politisch-revolutionären Zielen an. Es Siehe dazu u. a.: Wilhelm Heitmeyer/Jürgen Mansel/Thomas Olk, Hg., Individualisierung von Jugend. Zwischen kreativer Innovation, Gerechtigkeitssuche und gesellschaftlichen Reaktionen, Weinheim/Basel .
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ging nun auch um die Rolle der Jugendlichen in der Gesellschaft, um Schulpolitik und die Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen. Im vorliegenden Artikel konnte gezeigt werden, wie stark die Alkoholfrage und die Einstellung zur Lebensreform die Ausdifferenzierung der bürgerlichen Jugendbewegung vorantrieb. Bei diesen Richtungskämpfen manifestierten sich aber auch die Grenzen der jugendlichen Partizipationsmöglichkeiten in den untersuchten Jugendzeitschriften. Während sich einige tonangebende Führungspersonen untereinander stritten, hatten jüngere Mitglieder nur wenig Einfluss auf die Debatten. Der Vergleich zwischen Deutschland und der Schweiz legte jedoch einige Unterschiede offen. In Deutschland schränkte die Gesetzgebung die Kompetenzen der minderjährigen Mitglieder von Anfang an stärker ein als in der Schweiz. Die unterschiedlichen Handlungsbefugnisse wirkten sich vor allem auf die Selbstpositionierung der Jugendlichen aus. So inszenierte sich der Schweizer Wandervogel in seiner Zeitschrift immer wieder als Vereinigung mit außergewöhnlichen Freiheiten für seine jugendlichen Mitglieder und grenzte sich damit von anderen Jugendgruppen im In- und Ausland ab. Die nachhaltige Durchdringung der Jugendbewegung mit lebensreformerischen Bestrebungen erfolgte erst in den er Jahren. Waren die Wandervogelzeitschriften vor dem Ersten Weltkrieg in erster Linie auf die minderjährigen, ca. - bis -jährigen Leser und Leserinnen ausgerichtet, gab es in den er Jahren vermehrt Jugendmedien, die sich an über -Jährige wandten. Damit reagierten hybride Jugend- und Lebensreformzeitschriften wie Junge Menschen und Tao auf die zunehmende Entgrenzung der Jugendphase. Die lebensreformerischen Körperund Ernährungspraktiken, Sexual-, Verhütungs- und Partnerschaftsfragen, die spirituelle Sinnsuche, die Siedlungsbestrebungen und Naturschutzthemen richteten sich an eine ältere Leserschaft. Es ging darin nicht mehr nur um Freizeitangebote für Jugendliche, sondern um die Vermittlung umfassender Lebensstile für junge Erwachsene. Die erste Wandervogelzeitschrift war ein lokales, selbstpubliziertes Vereinsorgan, Jahre später verkaufte Werner Zimmermann die Tao-Zeitschrift als kommerzialisiertes, transnationales Lifestyle-Magazin für junge Erwachsene. Die Evolution der Jugendzeitschriften im frühen . Jahrhundert illustriert damit nicht nur die Veränderungen der bürgerlichen Jugendbewegung, sie verweist auch auf die Umgestaltung der Jugendphase und der jugendlichen Lebenssituation im Kontext neuer Bildungssysteme, Familienformen und Konsumwelten.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Ders., Asien als Alternative? Die Alternativkulturen der Weimarer Zeit: Reform des Lebens durch Rückwendung zu asiatischer Religiosität, in: Hans Kippenberg/Brigitte Luchesi, Hg., Religionswissenschaft und Kulturkritik, Marburg . Ders., Der Vortrupp (–). Ein lebensreformerisches Organ des fortschrittlich-liberalen Konservatismus, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner, Hg., Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (–), Bern , S. –. Eva Locher/Stefan Rindlisbacher, „Innere Verwandtschaft braucht keine Organisation“. Der Schweizerische Lichtbund im . Jahrhundert, in: Frank-Michael Kuhlemann/Michael Schäfer, Hg., Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation – , Bielefeld , S. –. Malte Lorenz, Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung –, Göttingen . Ivonne Meybohm, Krisenwahrnehmung im Wandervogel (–), in: Michel Grunewald/Uwe Puschner, Hg., Krisenwahrnehmungen in Deutschland um . Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich, Bern , S. –. Winfried Mogge, Aufbruch einer Jugendbewegung. Wandervogel: Mythen und Fakten, in: Sabine Weissler, Hg., Fokus Wandervogel. Der Wandervogel in seinen Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg, Marburg , S. –. Christian Niemeyer, Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, Weinheim . Andreas Petersen, Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz –, Zürich . Heinz Polivka, Wider den Strom. Abstinente Verbindungen in der Schweiz, Bern . Stefan Rindlisbacher, Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (–), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Jg. , H. , , S. –. Winfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom . bis zum . Jahrhundert, Göttingen . Barbara Stambolis, Hg., Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahme, Göttingen .
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Jugendzeitschriften zwischen Wandervogel und Lebensreform (1904–1924)
Dies./Jürgen Reulecke, Hg., Jahre Hoher Meißner (–). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen . Walter-Hammer-Kreis, Hg., Junge Menschen. Monatshefte für Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der jungen Generation der zwanziger Jahre, –, Frankfurt a.M. . Kaspar Weber, Es geht ein mächtiges Sehnen durch unsere Zeit. Reformbestrebungen der Jahrhundertwende und Rezeption der Psychoanalyse am Beispiel der Biografie von Ernst Schneider –, Bern . Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt . Wiebke Wiede, Rasse im Buch. Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik, Oldenburg . Reiner Wild, Hg., Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart . Clemens Zimmermann u. a., Hg., Die Zeitschrift – Medium der Moderne. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Bielefeld .
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Computerkids, Freaks, Hacker: Deutsche Hackerkulturen in internationaler Perspektive „Der wohl wichtigste Wandel im kulturellen System in den achtziger Jahren war die Verbreitung des Computers und die Entstehung einer ganz neuen Kultur [...]“ , stellte der Medienwissenschaftler Werner Faulstich fest. Und diese Computerkultur sei vor allem eine Kinder- und Jugendkultur gewesen. Seit den späten er Jahren zogen Heimcomputer in bundesdeutsche Haushalte ein und wirkten zunehmend in den Alltag hinein. war die Zahl der verkauften Heimcomputer, inklusive Spielekonsolen, auf drei Millionen in der Bundesrepublik gestiegen. Die Computertechnologie revolutionierte die Medienwelt und vereinte zunehmend Radio, Zeitung, Buch, Musikträger oder Plakat in einem. Vor allem aber trugen Computer dazu bei, wie diese Medien produziert wurden. Dieser Aspekt soll hier hingegen nicht behandelt werden, wenngleich die Medienqualität des Computers eine entscheidende Rolle für seinen Erfolg in den er Jahren hatte und hier skizziert werden soll. Im Folgenden sollen die konstituierenden Merkmale jugendlicher Computernutzer in der Bundesrepublik und in der DDR in den er Jahren genauer untersucht werden. Gemeint sind die „Freaks“ und „Fans“ unter den Nutzern, bei denen der Computer eine wichtige Rolle in der Freizeit einnahm und die, u. a. als „Hacker“ bekannt, Grenzen der Technologie und deren Anwendung ausloteten. Wie eigneten sich diese Jugendlichen die Computer an? Gegen welche Vermarktung und Zuschreibung der neuen Technologie wendeten sie sich? Und warum war es gerade die Jugend, die Computerkulturen maßgeblich beeinflusste? Im Gegensatz zu einer Geschichte des Computers an sich ermöglicht eine Geschichtsschreibung der alltäglichen und subkulturellen Nutzung des neuen Mediums, den Erfolg und die Einflüsse der neuen Technologie auf die Gesellschaft besser zu verstehen. Abseits von Firmen und universitärer oder militärischer
Werner Faulstich, Die Anfänge einer neuen Kulturperiode. Der Computer und die digitalen Medien, in: Ders., Hg., Die Kultur der er Jahre, München , S. –, hier S. f. Hier nach Roland Eckert u. a., Auf digitalen Pfaden. Die Kulturen von Hackern, Programmierern, Crackern und Spielern, Opladen , S. .
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Forschung wurden spezialisierte Computersysteme für den Privatgebrauch entwickelt und damit verbunden auch verschiedene Anwendungsmöglichkeiten. Insbesondere die Jugend, die sich die neue Technologie leichter aneignen konnte und ihr Wissen später in die Berufswelt hineintrug, vermag die Computerisierung genauer zu erfassen. Die Begeisterung für die Rechner beschrieben die Jugendlichen ausführlich, sodass man in Computerzeitschriften detaillierte Ausführungen dazu finden konnte, was genau mit den Computern getan wurde und welchen Stellenwert diese im Leben der Heranwachsenden hatten. Auch die Probleme, die sich mit der neuen Technik verbanden, unbekannte Programmierschwierigkeiten und die Eingliederung in den Alltag lassen sich hierbei nachverfolgen. Eine „deutsche“ Hackergeschichte bietet dabei die Gelegenheit, die Aneignung der neuen Technologie vergleichend in systemübergreifender Weise zu untersuchen. Für die Bundesrepublik schaue ich im Folgenden exemplarisch auf den Chaos Computer Club (CCC) und für die DDR stelle ich die Computeraneignung im Computerclub im Haus der jungen Talente (HdjT) dar. Welchen Einfluss nahm das politische System auf die Computernutzung und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich bei Computerfans aufzeigen? Dabei sollen immer wieder internationale Verflechtungen aufgezeigt werden. Vor der Analyse der Hackerkulturen erfolgt zunächst eine kurze Darstellung des Heimcomputers als Medium.
Der Heimcomputer als (Jugend-)Medium
Die Geschichte der Computer ist vielfältig und ebenso wenig, wie es den Computer gibt, gibt es nur eine Geschichte. Dies zeigen auch die vielfältigen Synonyme: Heimcomputer, Mikrocomputer, Personal Computer (PC) oder die Übersetzung „Rechner“. Auf verschiedenen Wegen entwickelten sich Computer von Rechenmaschinen hin zu den Multimedia-Geräten, die uns heute vertraut sind. Entscheidend für die private Nutzung der Computer war in den er Jahren die Entwicklung der Chip-Technologie. Zuvor waren Rechner von Militär, Wissenschaft und im wirtschaftlichen Bereich genutzt worden. Für den Heimgebrauch eigneten sich die teuren und großen Maschinen nicht. Erst Mitte der er Jahre wurden So z. B. in Griechenland, vgl. hierzu Theodore Lekkas, Legal Pirates Ltd. Home Computing Cultures in Early s Greece, in: Gerard Alberts/Ruth Oldenziel, Hg., Hacking Europe. From Computer Cultures to Demoscenes, New York , S. –. Vgl. z. B. Michael Friedewald, Der Computer als Werkzeug und Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin .
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Computer für den privaten Gebrauch entwickelt und zogen langsam in Haushalte ein. In den USA vollzog sich die Verbreitung vor der Bundesrepublik, in der seit Mitte der er Jahre von einer zunehmenden Durchdringung von Computern im privaten Bereich gesprochen werden kann. Vorboten des Erfolgs der Computer im Kinderzimmer waren außerdem die Spieleautomaten, die in Geschäften und eigenen Spielarkaden aufgestellt wurden. Auf der Jagd nach dem nächsten Highscore pilgerten Jugendliche zuhauf an diese Automaten. Im Gegensatz zu den Spielekonsolen und den Rechenmaschinen, die noch mit Lochkarten programmiert wurden, vereinten die Heimcomputer einzelne Anwendungen in einer Maschine. Für den häuslichen Gebrauch waren sie nicht nur durch den Charakter eines Unterhaltungsmediums geeignet, sondern weil sich an ihnen Verwaltungsund Finanzaufgaben erledigen ließen, was sie besonders für Selbstständige, wie beispielsweise Ärzte oder Anwälte, attraktiv machte. Der Computer, der nun in die Haushalte einzog, war folglich nicht ausschließlich für die Jugend gedacht, sondern für jedermann. Durch ihre Multifunktionalität wurden die Heimcomputer auf verschiedene Weise genutzt. Entscheidend dafür war, dass Computer programmierbar waren. Mehrere Medien wurden zu einem neuen verknüpft: Man konnte mit dem Computer schreiben, an ihm lesen, Bilder und Töne erzeugen und ihn zur Kommunikation benutzen, wenn man über ein Modem verfügte, durch das der Computer mit dem Telefonnetz verbunden werden konnte. Neben der Möglichkeit, private Nachrichten zu verschicken, gab es Mailboxen, auf denen man Informationen austauschen konnte. Diese funktionierten wie elektronische schwarze Bretter. In der DDR setzte die Verbreitung der Heim- bzw. Mikrocomputer etwas später ein und war weniger durchdringend als in der Bundesrepublik. Die Planwirtschaft des sozialistischen Staates erzielte nicht den Lebensstandard der bundesdeutschen Marktwirtschaft, wenngleich die DDR ab Mitte der er Jahre die Computerisierung als eine zentrale Aufgabe formulierte und der Umgang mit Computern stark beförderte. Die Mikroelektronik habe in den schulischen und außerschulischen Jugendeinrichtungen an Bedeutung gewonnen, hieß es in Berichten an
Vgl. Jürgen Danyel, Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Jg. , H. , http://www.←zeithistorische-forschungen.de/-/id= (..), Druckausgabe S. –. Werner Faulstich, Die Mediengeschichte des . Jahrhunderts, München , S. . Vgl. hierzu bspw. Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, Wiesbaden . Aufl. , S. . BArch Lichterfelde DR//, Unterrichtsmittel und Schulversorgung; Beschleunigung der Informatikausbildung im Bildungswesen, –.
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das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen Ende der er Jahre. Jedoch seien Zugangsmöglichkeiten beschränkt, was vor allem einer explorativen Aneignung der neuen Technik im Wege stehe. In der DDR konnten unter anderem Heimcomputer aus dem Westen genutzt werden, wobei sie im Privaten meistens durch Familie und Freunde sowie ab zu hohen Preisen im Intershop, angeschafft werden konnten. Doch selbst wenn viele importierte Westrechner geduldet wurden, so befürchtete man vor allem durch die Beziehungen ins Ausland, dass DDR-Bürger in Abhängigkeitsverhältnisse geraten könnten und Schadsoftware wohlmöglich über den Import eingeschleust würde. Das Coordinating Committee for Multilateral Exports Controls (CoCom) verbot zudem seit den Export bestimmter Gegenstände, u. a. Technologie, in die Staaten des Ostblocks. In Ostdeutschland wurden gleichwohl eigene Mikrocomputer entwickelt, beispielsweise durch die Firma Robotron. Da diese Rechner in erster Linie Unternehmen zur Verfügung gestellt wurden, waren diese Geräte seltene Konsumgüter im privaten Bereich. So fand sich in den er Jahren noch eine Bastlerpraxis in der DDR, bei der, wie in den er Jahren in den USA, Platinen selbst zu einem Rechner zusammengelötet wurden. Es gab z. B. den Amateurcomputer (AC ), der von einer kleinen Gruppe Amateurfunker entwickelt wurde und dessen Bauanleitungen über die Zeitschrift Der Funkamateur bezogen werden konnte. Die neue Technologie und die damit verbundene Freizeitgestaltung wirkten vornehmlich auf Kinder und Jugendliche attraktiv. Dabei verband sich die Ausweitung der Freizeit von Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ausbau eines Marktes für Jugendliche. In diesem Spektrum ist auch der Heimcomputermarkt zu sehen, der gezielt Kinder und Jugendliche als Zielgruppe erfasste. Videospiele trugen entschieden zu dem Erfolg des Computers im Kinderzimmer und bei Erwachsenen bei. Dabei wurden Computer oft gleichzeitig als Lern-
BArch Lichterfelde DR//, Ausbildung im Fach Mathematik/Informatik; Stand der EDV, . Vgl. bspw. BStU, MfS, BV Berlin, Abt. II , Information zu ersten Erkenntnissen bei der Nutzung dezentraler Rechentechnik im Freizeitbereich, . Vgl. z. B. Jürgen Danyel/Annette Schuhmann, Wege in die digitale Moderne. Computerisierung als gesellschaftlicher Wandel, in: Frank Bösch, Hg., Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland –, Bonn , S. –, hier S. . Vgl. Der Funkamateur. Praktische Elektronik für alle, Jg. , . Vgl. z. B. Danyel/Schuhman, Digitale Moderne, S. ; Axel Schildt/Detlef Siegfried: Youth, Consumption, and Politics in the Age of Radical Change, in: dies: Between Marx and Coca-Cola: youth cultures in changing European societies, –, New York u. a. , S. –, hier S. . Vgl. z. B. Eckert, Auf digitalen Pfaden, S. .
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und Unterhaltungsmedium vermarktet und die „kinderleichte“ Bedienung herausgestellt (siehe Abb. ). Den Nutzern wurde hier zum einen der Werkzeugcharakter der Computer vermittelt, der sinnvolle Aufgaben erledigte und beim Lernen half. Zum anderen, was die verstrubbelten Haare verdeutlichen, entstand über dasselbe Gerät die Möglichkeit, eine losgelöste, spaßige Seite ausleben zu können. Arbeit beziehungsweise Ausbildung und Freizeitangebot wurden in einem Objekt vereint. In diesem Beispiel brachte er in beiden Bereichen sogar Väter und Söhne zusammen. Das Angebot an Computerspielen war vielfältig und reichte von Logik- und Lernspielen über Sportspiele und Jump-and-Runs bis hin zu pornographischen und gewalttätigen Spielen. In der DDR wurden solche Spiele aus den westlichen Ländern kopiert und durch Modifikation harmloser gestaltet. Teilweise sollten Videospiele, deren Nutzung in Ostdeutschland stark befördert wurde, um die junge Generation an die neue Technologie heranzuführen, außerdem zu Propagandazwecken genutzt werden. Selbst wenn Eltern und Schule einerseits den Kontakt mit der neuen Technologie beförderten, wurden andererseits die Gefahren des neuen Mediums vielfältig diskutiert. Insbesondere die Auswirkungen auf die junge Generation wurden zum Thema – ein Phänomen, das für Neue Medien keine Besonderheit darstellt. Der Suchtfaktor durch Computerspiele und digitale Bilder stand in den er Jahren maßgeblich im Fokus der Besorgnis – vor allem, wenn es um gewalttätige und pornographische Inhalte ging. Der Computer besetzte eine durchaus ambivalente Position. Die Zahlen, Buchstaben und Farben, die über den Bildschirm huschten, ließen die Computer als Störer konzentrierter Arbeit erscheinen. Und dieser Vorwurf hielt sich, selbst wenn die Fans unter den Nutzern durchaus intensiv und aufmerksam Programme schrieben oder Probleme lösten. Am Computer wurde diese Konzentrationsfähigkeit oft nicht positiv hervorgehoben. Vor allem brachte die Beziehung von Mensch und Maschine, die in Artikeln und Büchern zahlreich behandelt wurde, Grund für Beunruhigung hervor. Aber Vgl. Jens Schröder, Auferstanden aus Platinen. Die Kulturgeschichte der Computer- und Videospiele unter besonderer Berücksichtigung der ehemaligen DDR, Stuttgart , S. . Vgl. ebd., S. . Vgl. Werner Faulstich, „Jetzt geht die Welt zugrunde . . . “. „Kulturschocks“ und MedienGeschichte. Vom antiken Theater bis zu Multimedia, in: Ders., Medienkulturen, München , S. –. Vgl. Werner Faulstich/Hannelore Faulstich-Wieland, Computer-Kultur. Erwartungen – Ängste – Handlungsspielräume, München , S. . Vgl. z. B. Thomas von Randow, Hacker sind nicht gefragt. Über die schwierige Geburt des Fachs Informatik in der Schule, in: Die Zeit, . Februar , S. ; Joseph Weizenbaum, Die Macht
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Abb. : Werbung für einen Computer der Firma Atari aus dem Jahr . Quelle: http://bit-museum.de/
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insbesondere dies schien die jungen Heranwachsenden zu faszinieren. Auf der Suche nach der eigenen Identität und dem eigenen Können sowie der Auseinandersetzung mit sozialen Beziehungen lieferte das neue Medium ein ausgezeichnetes Experimentierfeld. Die Soziologin Sherry Turkle lieferte zu Beginn der er Jahre eine Untersuchung über die Begeisterung junger Männer und Frauen in den USA für die Rechner und erforschte dabei die Rolle der Computer beim Heranwachsen. Jene Momente spielen eine besondere Rolle, wenn Kinder und Jugendliche beginnen, etwas zu kontrollieren. Beim Programmieren vermochte man es, diesem Prozess der Beherrschung solange nachzugehen, bis es funktionierte. „Zu den ersten Erfahrungen gehörte, daß ich mit Hilfe des Geräts so viele Fehler in so kurzer Zeit machen konnte, wie nie zuvor. Es war wundervoll!“ , beschrieb Peter Glaser seine ersten Erfahrungen am Computer mit Mitte zwanzig. Und ebenso wirkte der Computer als Medium auf die Jugendlichen, da man mit jedem Programm nicht nur einer Aufgabe Herr werden konnte, sondern sich darin ein bisschen selbst einbrachte. Ein Programm entsprang einer eigenen Idee und man vermochte „sich im Programmierstil und den Programmierresultaten wiederzuerkennen“. Die private Computernutzung lag in der Bundesrepublik der er Jahre meist bei - bis -Jährigen. Der Computer besetzte in gewisser Weise eine Sphäre zwischen „subversiv und konform“ , denn die Veränderungen durch die Computerisierung waren für die Elterngeneration schwieriger zu erfassen. Was die Jugendlichen an den Computern trieben, war den Eltern meist unbekannt und unverständlich. Zugleich waren sie es zum großen Teil, die den Computer anschafften. Dies geschah meist, um dem Nachwuchs Ausbildungsmöglichkeiten zu geben – man nahm an, dass Computer einen wichtigen Part in der Zukunft spielen würden. Eine Studie, die Ende der er Jahre durchgeführt wurde, zeigte, dass Jugendliche über diese berufliche Bedeutung des Computers wussten
der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a. M. . Original Computer Power and Human Reason. From Judgement to Calculation, New York . Sherry Turkle, The Second Self. Computers and the Human Spirit, Cambridge/London (). Peter Glaser, Das BASIC-Gefühl. Vom Leben mit einem Mikrocomputer, in: Chaos Computer Club, Hg., Die Hackerbibel I, Löhrbach , S. . Eckert, Auf digitalen Pfaden, S. . Vgl. ebd., S. . Mathias Horx, Chip-Generation. Ein Trip durch die Computerszene, Reinbek bei Hamburg , S. .
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und „als Druckmittel zum Kauf“ einsetzten. Manche Jugendliche sparten auch gezielt auf einen eigenen Rechner, denn selbst wenn die Preise für Heimcomputer zunehmend sanken, handelte es sich immer noch um eine teure Anschaffung, die je nach Modell über Mark kosten konnte. Die Schule oder die Universität war meist der Ort des ersten Kontakts mit Computern. Dies gilt nicht nur für beide deutschen Teilstaaten. Wegen der hohen Preise war die Vergemeinschaftung um den Computer im außerschulischen Bereich sehr hoch. Es gab Gründungen von Computerclubs, darunter solche, die aus der Initiative von Jugendlichen entstanden. Außerdem gehörten Treffen bei Freunden, die einen Rechner hatten, fortan zum Alltag. Auch das Kaufhaus wurde zum Ort des wilden Treibens von männlichen Jugendlichen, die die Rechner dort mit ihren neuen Programmen fütterten. Aber die Preise waren nicht der alleinige Grund, dass man Computer gemeinsam nutzte. Für viele bot er die Möglichkeit, neue Freundschaften zu schließen und man kam bei Treffen mit Gleichinteressierten zusammen, um neue Programme zu zeigen oder zu tauschen. Teilweise übte das Hobby Computer einen immensen Druck auf die Jugendlichen aus, sodass man sich mit ihnen auseinandersetzte, damit man im Freundeskreis noch mitreden konnte. Denn für die sogenannten Computerfreaks oder Computerfans wurde der Computer in den er Jahren zu einer der Hauptfreizeitaktivitäten. Der Besitzanteil von Computern bei einem Drittel der Jungen reichte dann in Deutschland bereits nah an den Besitz der „alten“ Medien heran. Allerdings zeigte sich, dass der Computer nur für einen kleinen Teil von Jugendlichen eine tagesfüllende Rolle einnahm und weiterhin andere Hobbys und Medien sowie Freunde, Familie und Schule von großer Bedeutung blieben. Die sich bildenden Jugendkulturen waren merkwürdig und besorgniserregend, aber auch faszinierend zugleich. Dies umso mehr, da die Klientel nicht nur exzessiv am Computer ihre Zeit verbrachte, sondern dieses neue Medium kinderleicht zu bedienen verstand. In den späten er Jahren und zu Beginn der er Jahre zeigten zahlreiche Studien auf, dass viele der Diskurse um den Werteverfall und die Peter Noller/Gerd Paul, Jugendliche Computerfans. Selbstbilder und Lebensentwürfe – Eine empirische Untersuchung, Frankfurt a.M./New York , S. . Die Hauptstudie vollzog sich in den Jahren bis . Vgl. Gleb Albert, „Micro-Clochards“ im Kaufhaus. Die Entdeckung der Computerkids in der Bundesrepublik, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, Jg. , , S. –, hier S. . Vgl. Noller/Paul, Computerfans, S. . Werte nach Eckert, Auf digitalen Pfaden, S. ; Studie von Baacke aus dem Jahr . Vgl. Noller/Paul, Computerfans, S. –. Vgl. Albert, Micro-Clochard, S. .
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Entfremdung bzw. Entmenschlichung der Jugend durch den Computer, wie sie zu Beginn des Jahrzehnts noch die Diskussion angeführt hatten, unbegründet waren. Neben dem schnellen Erlernen des Bedienens und Programmierens der Computer eigneten sich die Computerkids weitere Fähigkeiten an. Die Jugendlichen erwarben beispielweise neue Sprachkenntnisse, da am Computer auf Englisch programmiert wurde und zahlreiche Spiele nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Ganz besonders tiefgehende Kenntnisse über die Computer eigneten sich Hacker an, deren Handeln über den virtuellen Raum hinaus wirkte.
Hackerkulturen – Subkulturen um ein neues Objekt
Hacker entstanden durch und um das neue Objekt Computer, womit sie genuin verbunden sind. Im Gegensatz zu anderen Jugendmedien, wie beispielsweise Jugendzeitschriften oder Schallplatten, war der Computer nicht Medium für die Inhalte, die Hacker begehrten, sondern der Computer selbst war das Objekt des Interesses. Vergleichen lässt sich diese Jugendkultur am ehesten mit der alternativen Videoszene. Videogruppen entstanden in der Bundesrepublik in den er und er Jahren, in denen es den Filmmachern darum ging, die SenderEmpfänger-Beziehung zu verändern und den Zuschauer aus der Rolle eines reinen Konsumenten ohne aktiven Part herauszuholen. Ähnlich verhielt es sich mit den Funkamateuren, bei denen es ebenso Verknüpfungen mit den Hackerkulturen gab. Der Sammelband Hacking Europe hat bereits auf die verschiedenen Ausprägungen von Hackerkulturen hingewiesen. Dabei nahmen das politische System, die Ökonomie und die kulturellen Praktiken aus anderen Lebensbereichen Einfluss auf die verschiedenen Ausprägungen dieser neuen Kulturen. Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) wurde der Begriff „Hacker“ vom ModelleisenbahnbauClub in die Computersphäre übertragen. Dies geschah damals noch an Großrechnern, lange bevor Heimcomputer entwickelt wurden. „Hacker“ umfasste einen Typus Computernutzer, der sich intensiv mit den Rechnern befasste, der verstehen wollte, wie ein System funktioniert und der vor allem Ausprobieren und direktes Erfahren vor Theorie stellte. Dabei ging es darum, Möglichkeiten und Chancen von Computertechnologie auszuloten, eigene Welten durch Programmierung Vgl. hierzu das Vorwort von Margret Köhler, Hg., Alternative Medienarbeit. Videogruppen in der Bundesrepublik, Opladen , S. . Gerard Alberts/Ruth Oldenziel, Hg., Hacking Europe. From Computer Cultures to Demoscenes, New York .
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zu erschaffen und die Grenzen des Mediums auszutesten bzw. infrage zu stellen. Ein „Hack“ war eine gelungene, kreative Problemlösung, bei der sozusagen um die Ecke gedacht wurde. Einzelne Teile wurden zu einem Neuen zusammengefügt oder für etwas anderes genutzt als die Entwickler es sich gedacht hatten. Sowohl hier wie später in den er Jahren, als sich Computerhobbyisten in Clubs zusammenfanden und die neue Technologie in die Gesellschaft hineintragen wollten, waren es die unter -Jährigen, meist Studenten aus Natur- und Ingenieurwissenschaften, die zu den Hackern zählten. In San Francisco waren es diese Computerenthusiasten, die erste Bausätze für Heimcomputer vermarkteten und später mit dem Apple I die Entwicklung der privaten Computernutzung voranbrachten: The increasing number of Homebrew [Computer Club, J.E.] members who were designing or giving away new products, from game joysticks to I/O boards for the Altair, used the club as a source of ideas and early orders, and for beta-testing of the prototypes.
Diese „Hobbyisten“, wie sie sich u. a. selbst bezeichneten, waren somit mit die ersten Produzenten von Mikrocomputern, die fernab von Universitäten, Wirtschaft und Militär genutzt werden konnten. Zugleich zeichneten sich diese Hackerkulturen vor allem durch Gemeinschaftssinn und freien Austausch von Informationen aus. Hacker waren primär Autodidakten, die jedoch häufig beruflich eine technische Ausbildung verfolgten oder gar ohne klassischen Bildungsweg in die neuen Berufszweige der Informatik und Informationsverarbeitung einstiegen. Hacker faszinierte der Versuch, in Computersysteme einzudringen. Sie nutzten Schwachstellen aus und lieferten sich online mit Systemoperatoren und IT-Experten einen Wettkampf. Aber auch untereinander war eine Konkurrenz vorhanden, wenn es beispielsweise darum ging, als Erster den Zugang zu einem Account zu erhalten oder eine bessere Lösung für ein technisches Problem zu finden. Hacken heißt aber nicht nur online Passwörter zu knacken, sondern ebenso offline tief in die Funktionsweise von Computer-Systemen einzudringen, sie zu verbessern oder den Computer bisher scheinbar unmögliche Funktionen ausführen zu lassen. Die Cracker beispielsweise, die man den Hackerkulturen zurechnen kann, knackten die Kopiercodes von Programmen und machten gar ungenutzten Speicher für
Steven Levy, Hackers. Heroes of the Computer Revolution, New York (), S. .
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selbstkreierte Bilder und Animationen nutzbar. Unweigerlich erhielten diese Jugendlichen Computerfähigkeiten, die oft über das Wissen klassisch ausgebildeter Informatiker hinausgingen. Zwangsläufig gerieten sie in Konflikte mit Softwarefirmen, deren Produkte sie kopierten und verbreiteten, Telefongesellschaften und anderen Institutionen, denn es standen sich zwei konträre Positionen gegenüber. Für Hacker war „jede symbolische Operation eines Computers [. . . ] eine ,richtige‘ Benutzung“ und somit legitim, „welche Fragen der Legalität es auch immer eröffnen“ mochte. In den er Jahren untersuchte der Journalist Steven Levy die Hacker in den USA. Er stellte in seinem Buch eine Ethik auf, die heute noch wichtiges Fundament der „guten“ Hacker darstellt. Sie beeinflusste wiederum die Praktiken der Hacker und förderte, durch die Publikation des Buchs, die Verbreitung der Hacker-Werte – sogar über die Grenzen der USA hinaus. Computernutzer fanden sich in den Beschreibungen wieder, wodurch sich ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Philosophie und zwangsläufig Abgrenzungen herausbildeten. Es handelt sich in seiner ursprünglichen Form um folgende Punkte: Access to computers – and anything that might teach you something about the way the world works – should be unlimited and total. Always yield to the Hands-On Imperative! All information should be free. Mistrust Authority – Promote Decentralization. Hackers should be judged by their hacking, not bogus criteria such as degrees, age, race, or position. You can create art and beauty on a computer. Computers can change your life for the better.
In den USA gab es die erste Hackerzeitschrift überhaupt, die TAP. Cheshire Catalyst, der Hausgeber der TAP wurde, erklärte in einem Spiegel-Interview , was es mit diesem Newsletter auf sich hatte: „Wir schreiben nur, was die Kids nicht tun sollen, und zwar ganz detailliert.“ Diese erste Hackerzeitschrift ging aus der Aus dieser Cracker-Szene entstand die Demoszene, die digitale Kunst in Programmen kreierte. Vgl. dazu Daniel Botz, Kunst, Code und Maschine. Die Ästhetik der Computer-Demoszene, Bielefeld . Claus Pias, Der Hacker, in: Eva Horn/Stefan Kaufmann/Ulrich Bröckling, Hg., Grenzverletzer. Figuren politischer Subversion, Berlin , S. –, hier S. . Steven Levy, Hackers. Heroes of the Computer Revolution, New York (), S. –. Jürgen Petermann, „Zack, bin ich drin in dem System.“ Interview mit Richard Cheshire, in: Der Spiegel, H. , , S. .
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Youth International Party Line hervor, die von den sogenannten anarchistischen Yippies gegründet wurde. Zunächst war dies ein Magazin für Phonefreaker, eine Gruppe, die den Hackern sehr ähnlich war. Diese „hackten“ Telefonnetzwerke und erkundeten Wege, kostenlos um die Welt zu telefonieren. Besondere Berühmtheit erlangte John T. Draper, der mithilfe einer Spielzeugpfeife den Verbindungston der Telefongesellschaft simulieren konnte, durch den eine kostenlose Verbindung aufgebaut wurde. Diese Pfeife fand er in den Frühstücksflocken der Marke Cap‘n Crunch, was ihm seinen Nicknamen einbrachte. Dadurch, dass er zwei eigentlich nicht in Verbindung stehende Objekte zusammenbrachte und das Telefonsystem überlistete, war dies ein Paradebeispiel für einen Hack. Die Yippies verbanden diesen ungehorsamen Umgang der Phreaks mit der Telefongesellschaft mit politischen Statements: Da durch die Telefongebühren u. a. das amerikanische Militär finanziert wurde, war ihr Argument, dass kostenloses Telefonieren gegen den Krieg in Vietnam vorging. Dadurch, dass viele der jungen Hacker beispielsweise in der Friedensbewegung aktiv und von den Hippies beeinflusst waren, vereinte sich ihre Technikbegeisterung für den Computer mit einer politischen und gesellschaftlichen Komponente. Dabei war diese US-amerikanische Hackerkultur der er und er Jahre vor allem mit ihren Institutionen verbunden. Zunächst an den Universitäten, wo sie an den Rechnern Probleme lösten, dann durch das Wissen, das sie dort und in Clubs generiert hatten, das sie in Firmen und Unternehmen einbrachten. Damit trieben sie die Verbreitung und Entwicklung der Computertechnologie voran. Die Jugendlichen, die dann in den er Jahren mit dem Heimcomputer zusammen aufwuchsen, hatten eine andere Lebenswelt und damit andere Herausforderungen und Probleme der Computertechnologie erfahren. In den USA entwickelten sich dann Hackerkulturen, deren Treiben wilder und aggressiver war als das ihrer Vorgänger. In der zunehmenden Vernetzung von Computern untereinander drangen diese Jugendlichen in fremde Online-Zugänge ein und störten die Alltagswelt, was die Trennung von digitaler und realer Welt zunehmend aufbrach. Douglas Thomas folgend lässt sich das Hacken als eine herausragende Möglichkeit der Rebellion begreifen, deren Funktionsweise der Elterngeneration unbegreiflich war.
Vgl. z. B. Boris Gröndahl, Hacker, Hamburg , S. . Vgl. hierzu Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Steward Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago . Vgl. Douglas Thomas, Hacker culture, Minneapolis , S. XI. Vgl. ebd., S. XIV.
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Die Hackerkultur kann man aufgrund dieser Ausführungen zweifelsohne den Subkulturen zurechnen. Dazu gehört nicht nur, dass es sich im Verhältnis um eine kleinere Gruppe von Menschen handelt, was für die Hacker in jedem Fall zutrifft. Subkulturen zeichnen sich durch ein abweichendes Verhalten aus. Hacker unterschieden sich von anderen Computernutzer insofern, da sie nicht einfach nur Computer nutzten, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen oder an den Rechnern spielten. Natürlich konnte ein Hacker als Programmierer arbeiten, sein technisches Wissen hierbei einbringen, doch Hacken lag auf einer Ebene der eigenen Unterhaltung, was diese Figur von den Berufsprogrammierern unterschied. Nicht zwangsläufig müssen sich Subkulturen gegen eine Mehrheitskultur auflehnen, jedoch von einer solchen abgrenzen. Selbst bei den Computerkulturen findet man mit den Gamern eine Subkultur, die sich nicht gegen eine Mehrheitskultur auflehnt. Und zugleich sind diese Subkulturen nicht abgeschottet von anderen kulturellen Gruppen, von sozialen und ökonomischen Beziehungen, sondern wirken auf diese zurück. Zur Abgrenzung müssen sie im gewissen Grad eigene Strukturen aufbauen, eigene Orte besetzen und eigensinnige Praktiken mit Objekten und untereinander aufbauen. Ein Bewusstsein der Andersartigkeit, sowohl von innen wie von außen, sowie eigene Werte und Verhaltensformen zeichnen Subkulturen ferner aus. Wenngleich sie sich dabei von einer Mehrheits- und Konsumgesellschaft abgrenzen, so nutzten Subkulturen wiederum die gängigen Konsumgüter, verbanden aber eine eigensinnige Nutzung mit diesen. Subkulturelle Praktiken waren nicht zwangsläufig politisch oder sozial ausgerichtet, obschon sie in die Gesellschaft hineinwirkten. Sie waren vor allem Ausdruck eines Wandels von Lebensstilen, die seit den er Jahren diffundierten. Die Hacker als Subkultur waren einerseits einfach Technikenthusiasten, denen es nur um das neue Medium Computer ging. Andererseits zeichneten sich viele durch eine Rebellion gegen herrschende Systeme aus, die über das Technische
Vgl. z. B. Linus Torvalds, Prologue, in: Pekka Himanen. The Hacker Ethics and the spirit of the Information Age, New York u. a. , S. XIV–XVI. Vgl. Dieter Rucht, Das alternative Milieu in der Bundesrepublik. Ursprünge, Infrastruktur und Nachwirkung, S. –, hier S. . Vgl. Reichardt/Siegfried, Das Alternative Milieu, S. . Als ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Rückwirkung auf die Ökonomie wäre im Falle der Hacker die Free- und Open-SoftwareBewegung zu nennen. Vgl. hierzu z. B. Christiane Funken, Modellierung der Welt. Wissenssoziologische Studien zur Software-Entwicklung, Opladen ; Johan Söderberg, Hacking Capitalism. The Free and open Source Software Movement, New York . Vgl. John Clarke u. a., Subcultures, cultures and class, in: Stuart Hall/Tony Jefferson, Hg., Resistance through rituals, London/New York , S. –, hier S. . Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried, Youth, Consumption, and Politics, hier S. .
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hinausging. Die Hackerkultur war, mit wenigen Ausnahmen, rein männlich. Im San Francisco der er Jahre fasste die Hobbyistin Jude Milhorn diesen Umstand knapp mit dem Ausdruck „the boys and their toys“ zusammen. Die Verteilung von Computern in der Bundesrepublik, in der Mitte der er Jahre, unterstreicht diesen Umstand einer männlichen Jugendkultur. Zwischen , und Prozent der Jugendlichen besaßen in der Mitte des Jahrzehnts einen Computer bzw. eine Videospielkonsole. Ende der er Jahre waren es bereits um die Prozent, wobei mehr als ein Drittel der männlichen Kinder und Jugendlichen einen eigenen Computer hatten, während nur , Prozent der Mädchen bzw. weiblichen Jugendlichen einen eigenen Rechner besaßen. In Hackerkreisen wurden Ende der er Jahre durch die Künstlerin Rena Tangens mit der Einführung des Begriffs „Haecksen“ und durch Vernetzung von weiblichen Computerfans gezielte Maßnahmen dagegen eingeleitet – eine Bezeichnung, die durch das Wortspiel dahinter eine deutsche Eigenart darstellte. Auch bei der Hacker-Ethik ergänzte der CCC die Kategorie „Geschlecht“ unter Punkt vier, wonach Hacker nicht zu beurteilen seien. Diesen gab es nicht in der ersten Version, die der CCC aus dem amerikanischen Original übersetzt hatte. Radikale Änderungen beim Geschlechterverhältnis gab es dennoch nicht. Eine der Ursache könnte sein, dass die Computertechnologie, obwohl es sich um ein neues Medium handelte, dem naturwissenschaftlichen Zweig zugeschrieben wurde. So verhielt es sich bereits bei der Schulausbildung mit den Computern, wie mit den anderen mathematischnaturwissenschaftlichen Fächern, in denen Frauen unterrepräsentiert waren. Doch selbst in der DDR, wo Frauen in technischen Berufen nicht so ungewöhnlich waren wie in West-Deutschland, waren sie in den Computer-Subkulturen eine Ausnahme. Soziologische Untersuchungen, u. a. durch Uta Brandes Ende der er Jahre, stellten heraus, dass Frauen einen sehr respektvollen, fast schon ängstlichen Umgang mit dem neuen Objekt pflegten. Eine junge Enthusiastin berichtet selbst davon, dass sie Rechner lange Zeit als hochkomplexe Maschinen angesehen hatte, die nur Genies bedienen könnten. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie das erste Mal
Levy, Hackers, S. . Eckert, Auf digitalen Pfaden, S. . Gespräch Julia Erdogan mit Marc Schweska am . März . Uta Brandes, Beziehungskisten und Geschlechterdifferenz. Zum Verhältnis der Frauen zum Computer, in: Werner Rammert, Hg., Computerwelten – Alltagswelten. Wie verändert der Computer die soziale Wirklichkeit. Sozialverträgliche Technikgestaltung. Material und Berichte, Bd. , hrsg. vom Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Opladen .
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selbst an einem Rechner arbeiten konnte und direkt begeistert war. Nun sparte sie auf einen eigenen Computer. Den meisten Mädchen gefiel es nicht, was sie da am Computer tat, da sie nicht sahen, „was für eine Happyness da bei [ihr] vorliegt, wenn [sie] stundenlang an einem Programm rumprobiert“, bis es läuft. Und dennoch habe sie Freundinnen vom Computer fast gewaltsam entfernen müssen, wenn diese mal an den Maschinen rumspielen durften. Das Bild und die Zuschreibung des Computers als rationale Rechenmaschine und die Angst, an den komplexen Maschinen etwas zu beschädigen, wirkten sich so anscheinend hemmend auf die Nutzung bei den Mädchen aus. Dies war entgegensetzt zu dem Treiben der männlichen Hacker, die sozusagen einfach drauflosprobierten. Hinzu kam wohl auch der sehr kompetitive Umgang der Hacker untereinander. In Rückgriff auf die Untersuchungen von Anthony Rotundo zur männlichen Jugend erklärt Douglas Thomas, dass es beim Hacken maßgeblich um Beherrschen von Fähigkeiten und sozialen Bindungen gehe und sich der Konkurrenzcharakter durch „friendly play“ und „rough hostility“ auszeichnete. Bei den Hackern habe diese physische Austragung eine Veränderung erfahren: „The absence of the body makes physical contact impossible. Such contact is replaced by tropes of emotional aggression and ownership.“ Diese Szene setzte sich vor allem aus „uncoolen“ Nerds zusammen, sodass diese hiermit eine peer group gefunden hatten, die meist unsichtbar war. „Hacken ist eine Männerdomäne“, bedauerte ein Teilnehmer des ersten Chaos Communication Congress in Hamburg, jedoch sei „es ein Vergnügen, so viele pickelige unattraktive Jünglinge, so gut drauf zu erleben. Die Jungs wissen, daß sie ein Ding gefunden haben, das spannender ist als Disco“.
Astrid Appel, Mädchen und Computer, in: MENSCHENsKINDER. Zeitschrift von Kindern und Jugendlichen – auch für Erwachsene geeignet, o.J., hier Zit. CCC, Hg. Die Hackerbibel I, Löhrbach . Da die Jugendzeitschrift erst gegründet wurde, muss der Artikel oder erschienen sein. Vgl. E. Anthony Rotundo, American Manhood. Transformations in Masculinity from the Revolution to the Modern Era, New York . Thomas, Hacker Culture, S. XVI. Vgl. zum „weicheren Umgang“ von Mädchen und Frauen mit dem Computer auch Turkle, Second Self, S. . Werner Pieper, Datenschleuderer unter sich. Die . Hackertagung in Hamburg, in: Hackerbibel I, S. .
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Junge Computerfreaks in der Bundesrepublik und der DDR – zwischen Sub- und Gegenkultur Überraschend vielen Kindern, wenngleich wohl nicht der Mehrheit, ergeht es wie dem kleinen Stephan. Nach anfänglicher Begeisterung an den Spielen aus der Programmkonserve bekommen sie Spaß am logischen Reiz des Programmierens. Er kann zum wahren Rausch ausarten und Züge einer Sucht annehmen [. . . ].
So stellte Thomas von Randow, der zahlreiche Artikel zu Computern und Hackern geschrieben hat, die jugendliche Obsession für die Computer und das Programmieren im Jahr heraus – wenngleich er bescheinigte, dass Erwachsene gegen die Computersucht nicht immun seien. Hackerkulturen waren vor allem Jugendkulturen, wie sich auch schon im Falle der Hacker in den USA gezeigt hat. Damit ging teilweise ein Generationenkonflikt und damit verbunden die Kritik an bestehenden Strukturen einher. In beiden deutschen Teilstaaten entstanden Hackerkulturen in den er Jahren. Diese verfolgten vor allem einen explorativen, spielerischen und kreativen Umgang mit den Rechnern. Die Computerclubs, die sich in Ostdeutschland gründeten, erwuchsen ebenso wie im deutschen Nachbarland der Initiative von Jugendlichen selbst, andere wurden staatlich initiiert. Alle zwei Wochen trafen sich z. B. in Ost-Berlin ab vornehmlich männliche Jugendliche im Haus der jungen Talente (HdjT), um Erfahrungen am Computer zu sammeln und zu teilen. Seit wurde der Ort für Veranstaltung und Club-Treffen der Jugend genutzt. Der Leiter des hiesigen Computerclubs betonte, dass es ihm ganz und gar nicht darum gehe, ins Akademische zu verfallen, sondern darum, Praxis und Spaß an den Rechnern zu vermitteln. Ziel sei es nicht, im Club spezielle NischenProgramme zu schreiben oder etwas für die Berufsausbildung zu tun, sondern es ginge schlichtweg um ein Hobby, das man dort teilen und ausbauen konnte. In der DDR wurde der Begriff Hacker selbst in den er Jahren nicht für solche obsessiven Programmierer verwendet, man sprach stattdessen von „ComputerFans“ oder „Bastlern“.
Thomas von Randow, Liebe auf den ersten Byte. Die Computer-Intelligenz im Kinderzimmer. Vorbereitung auf das Informationszeitalter, in: Die Zeit, . November , S. . Thomas Otto, Mit einem eigenen Programm auf den Bildschirm, in: Junge Welt, Dezember , o.S.
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In der Bundesrepublik war „der Hacker“ als exzessiver Computernutzer zunächst nur als ein Typus bekannt, den es in den USA gab. Texte über Hacker und die Obsession für die Computer fanden sich in der Literatur und in Zeitungen hingegen zahlreich. Besonders die kritische Beschreibung Joseph Weizenbaums der Hacker in Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft Ende der er Jahre ließ die Computerisierung im Privaten schon vor ihrem Beginn in der Bundesrepublik große Schatten vorauswerfen. Maßgeblich die enge Bindung dieser exzessiven Programmierer an die Rechner war besorgniserregend. Insbesondere die Jugend müsse man mithilfe „geschickter pädagogischer Führung“ von diesem Programmierzwang abhalten. Mitte der er Jahre zeigte sich durch den Chaos Computer Club (CCC) in der Bundesrepublik ein anderes Bild von Hackern. Hier verband sich diese Subkultur mit einer gegenkulturellen Computernutzung und sozialem Aktivismus. Initiativen wie der CCC bewarben die Computertechnik öffentlich, wobei sie stark gegen einen unkritischen Computerkonsum argumentierten. Zumindest wollen die Hacker des Clubs einen solchen ausgemacht haben, wobei sie den Umgang mit der neuen Technologie mit einer allgemeinen Gesellschaftskritik verbanden: Dass die innere Sicherheit erst durch Komputereinsatz möglich wird, glauben die Mächtigen heute alle. Dass Komputer nicht streiken, setzt sich als Erkenntnis langsam auch bei mittleren Unternehmen durch. Dass durch Komputereinsatz das Telefon noch schöner wird, glaubt die Post heute mit ihrem Bildschirmtextsystem in ,Feldversuchen‘ beweisen zu müssen. Dass der ,personal computer‘ nun in Deutschland dem videogesättigten BMW-Fahrer angedreht werden soll, wird durch die nun einsetzenden Anzeigenkampagnen klar. Dass sich mit Kleinkomputern trotzalledem sinnvolle Sachen machen lassen, die keine zentralisierten Großorganisationen erfordern, glauben wir. Damit wir als Komputerfrieks nicht länger unkoordiniert vor uns hinwuseln, tun wir wat und treffen uns [. . . ].
Vgl. z. B. CCC-Archiv Ordner , Brief aus Paderborn an den CCC, Januar . Der Verfasser hatte in der taz gelesen, dass der CCC eine ähnliche „chaotische Computersituation, wie sie in den USA üblich ist, einführen“ will. Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer. Thomas von Randow, Hacker sind nicht gefragt, S. . Tom Twiddlebit, Wau, Ungenannt (~),Tuwat,txt, in: Taz, . September , o.S. Die Schreibweise von Computer mit „k“ beruht hier auf der Vorliebe Klaus Schleisieks (Tom Twiddlebit). Auch das Wort Hackern wurde in der Bundesrepublik nicht mit englischem „a“ ausgesprochen.
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Dies war der Aufruf zu einem ersten Treffen des CCC im Jahr . Erst einige Jahre später gründete sich aus dem hierbei entstandenen losen Netzwerk der Club in Hamburg, der sich als Sprachrohr und Katalysator einer Hackerkultur in der Bundesrepublik herausbildete. Die intensive Auseinandersetzung der Hacker mit Computern sorgte dafür, dass sie sich aktiv in die Diskurse einbrachten. Damit ging bei den jungen Hackern außerdem eine subversive Computernutzung einher, die politische und gesellschaftliche Strukturen und damit verbundene Machtgefüge angriff. Viele der Hacker waren von den Einflüssen des linksalternativen Milieus geprägt, in dem es um eine Lebensweise von Selbstverwirklichung, Ganzheitlichkeit und das Streben nach Idealen gemeinschaftlicher Solidarität ging, mit dem „Ziel, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern“. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass das erste organisierte Hackertreffen im Rahmen des TUWAT-Kongresses im September stattfand, der eine Zusammenführung der auseinandergedrifteten linken Szene zum Ziel hatte. Wau Holland, Mitbegründer des CCC, arbeitete zuvor u. a. in linken Buchläden. Der Hacker Steffen Wernéry, der zu den Hamburger Hackern dazustieß, war u. a. in der Hausbesetzerszene aktiv gewesen. Vieles aus diesem linksalternativen Milieu trugen die Hacker in den CCC hinein, sodass Werte und Praktiken dieser Szene auf die Computernutzung in der Bundesrepublik einwirkten. Zu diesem alternativen Lebensstil gehörten Attribute wie Basisdemokratie, humoristische Provokationen, unkonventionelles Verhalten, Kreativität und Vergemeinschaftung. Diese Hacker richteten sich gegen proprietäre Software, gegen hohe Telefonund Gerätegebühren und gegen eine reine Werkzeugfunktion des Computers. Für die Hacker als Avantgarde der Computernutzung ging es in der Bundesrepublik um eine Verteidigung der Offenheit des Mediums und seiner Nutzung. Außerdem ging es bei diesen aktivistischen Hackern darum, sich das neue Medium anzueignen: „Technologie muß man nicht bekämpfen, sondern beherrschen.“ Dieses Werben wurde auf einer theoretischen Ebene durch Texte, Interviews, Diskussionen und Vorträge vorangetrieben. Der CCC veröffentlichte seit
Sven Reichardt/Detlef Siegfried, Das Alternative Milieu. Konturen einer Lebensform, in: Dies., Hg., Das Alternative Milieu, S. . O.A, Widerliche Auswüchse. Berliner Besetzer in Bewegung. Nach Tunix jetzt TUWAT, in: Taz, . August , o.S. Vgl. u. a. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaftsbindung. Politik und Lebensstil im linksalternativen Milieu vom Ende der er bis zum Anfang der er Jahre, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. , H. , , S. –, hier S. . Zitat Wau Holland in Werner Heine, Die Hacker. Von der Lust, in fremden Netzen zu wildern, Reinbek bei Hamburg , S. .
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Die Datenschleuder – Das Wissenschaftliche Fachblatt für Datenreisende. Die Datenschleuder war dabei, wie viele Alternativzeitschriften, bewusst unprofessionell gestaltet und eng angelehnt an die TAP aus den USA. Mitwirken konnte jeder, der Interesse hatte, und es wurde bewusst dazu aufgerufen, die Zeitschrift weiterzugeben und zu kopieren. Für Jugendliche und Personen mit wenig Einkommen bot der CCC von Beginn an ein kostenloses Abo an. Informationen konnten so besser verbreitet werden, denn trotz wachsender Zahl waren eigene Computer keine Selbstverständlichkeit, vor allem solche, die an Netzwerke angeschlossen waren. Gedruckte Hackerzeitschriften waren keine Ausnahme und spielten so, trotz Online-Kommunikationsmedien, folglich immer noch eine Rolle. So gab es im deutschen Sprachraum außerdem Die Bayrische Hackerpost und kam mit der Hack-Tic in den Niederlanden eine neue gedruckte Hackerzeitschrift heraus. Informationen wurden außerdem in beiden deutschen Teilstaaten bei Treffen oder über Computer-Zeitschriften getauscht. Im sozialistischen Staat war es vor allem die Zeitschrift Der Funkamateur, der ein breites Angebot von Computerthemen lieferte. Als Verlags-Zeitschrift findet man nicht den subversiven Charakter einer Datenschleuder, aber fürs Basteln mit Technik, Veröffentlichung von Programmcodes und um Kontakte zu knüpfen, wurden solche Printmedien ebenfalls genutzt. Ebenso verhielt es sich mit anderen Computerzeitschriften in der Bundesrepublik, wie der c’t, ’er oder Happy Computer. In beiden deutschen Teilstaaten wurden auch die anderen Massenmedien, Fernsehen und Radio, genutzt, um Programme zu beschaffen und sich über die Computer fortbilden zu lassen. In der DDR war es jedoch nicht einfach möglich, über Datennetze zu surfen, selbst wenn in den späten er Jahren vereinzelt Akustikkoppler auftraten, die man zum Einwählen in das Telefonnetz benötigte. Wie beim CCC findet sich beim Computerclub im HdjT der Aufruf, Computer nicht einfach nur zu benutzen oder sich durch Spielen zu unterhalten. In einer dem Hackerclub aus Hamburg sehr ähnlichen Sprache rief der Organisator des Clubs in Ost-Berlin Stefan Seeboldt dazu auf:
Vgl. Daniel Kulla, Der Phrasenprüfer. Szenen aus dem Leben von Wau Holland, Mitbegründer des Chaos Computer Clubs, Löhrbach , S. . Es gab jedoch Hacker-Newsletter, die ausschließlich online publiziert wurden, wie das Beispiel der amerikanischen Phrack zeigt. Vgl. Eckert, Auf digitalen Pfaden, S. . BStU, Nutzung dezentraler Rechentechnik im Freizeitbereich, S. .
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Die meisten von uns werden lernen müssen, Computer zu bedienen und auch mal ein kleines Programm zu schreiben oder zu ändern. Und dazu gehört etwas mehr, als bunte Computerspiele zu bedienen. Also ran an die Computer und sie erobert!
Auch in der DDR war das Argument von Computerfans folglich, dass Computer nicht gebremst werden könnten und eine wichtige Rolle in der Zukunft einnehmen würden. Deswegen dürfe man sich ihnen nicht verwehren, sondern solle sie sich im Gegenteil aneignen. Das Argument, an die Ausbildung und Zukunft zu denken und den Umgang mit Computern zu lernen, findet sich darüber hinaus als Motivation bei den Clubteilnehmern. Allerdings war dies nicht die Hauptmotivation, sich mit Computern zu befassen. Auf die Frage hin, ob es berufliche Gründe für Stefan Seeboldt gab, sich mit Computern zu befassen, verneinte dieser. habe es einfach „gefunkt“, wobei ihn diese Computersucht dann eine Weile von anderem ferngehalten habe, bis er sich dachte, „nicht mehr bloß im stillen Kämmerlein vor sich hinzufriemeln“ und einen Club zu gründen. Im Vergleich zum Aufruf des CCC zur Medienaneignung verband sich hiermit keine politische Agenda. Aber in beiden Fällen ging es darum, Computer und Programme zu verstehen und sie nicht nur als Konsum- und Unterhaltungsmedium zu nutzen. Aber eben auch nicht als reines Werkzeug, sodass im Computerclub des HdjT das Spektrum „vom Lösen mathematischer Aufgaben über elektronische Textverarbeitung bis zur Grafik- oder Musikschöpfung“ abgedeckt wurde. Computer sollten schöpferisch und kreativ genutzt werden. Adressat waren für den Club im HdjT vor allem die Jugendlichen, wobei jeder willkommen war. Der Großteil der Besucher war unter Jahre, das Spektrum reichte aber teilweise bis zu - und -Jährigen. Der Club bot zu Anfang „etwa Jugendlichen“ jeweils verschiedener Erfahrungsstufen „die Möglichkeit, mit dem elektronischen Partner ins Gespräch zu kommen“. Ein -jähriger Besucher des Clubs beschrieb seine Teilnahme an den Veranstaltungen knapp und schlicht: „Mich interessieren Computer halt. Da ich selbst keinen habe, komme ich hierher.“ In der Bundesrepublik verband sich ein solch kreativer Umgang mit Computern mit Fragen zur Datensicherheit und zum Datenschutz. Das Bildschirmtext-System Stefan Seeboldt, Programmierer Olympiade, in: Neues Leben, o.J., o.S. Vgl. ebd. Thomas Otto, Mit einem eigenen Programm auf den Bildschirm, in: Junge Welt, Dezember , o.S. O.A, Haus der jungen Talente hat jetzt Computerklub, in: Berliner Zeitung, . Januar . O.A., Im Dialog mit dem Rechner. Computerklub im Berliner Haus der Jungen Talente eröffnet, in: Berliner Zeitung am Abend, . Januar , o.S. Stefan Seeboldt, Computer – enorm fleißig aber doof, in: Neues Leben, H. , , S. .
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(Btx), das seit bundesweit als ein erstes Online-System genutzt wurde, wurde von Hackern des CCC oft angegriffen. Über Btx konnten, neben dem Abrufen von Reiseinformationen, Bankgeschäfte oder Versandhausbestellungen von Zuhause getätigt werden. Beim CCC wurde die Deutsche Bundespost, die diesen Dienst betrieb, häufig sprachlich diskreditiert. Statt Post wurde oft der Name „Pest“ benutzt oder man bezeichnete sie als „der Gilb“. Dies bezog sich auf das Vergilben alter Gegenstände und spielt auf den Werbespot der Firma Dato an, in dem „der Gilb“ ein gemeines Männchen war, das durch Berührung Textilien ihrer Reinheit beraubte. Hiermit kritisierten die Hacker den unflexiblen und starren Apparat der Deutschen Bundespost, die dieses System betrieb. Umgekehrt dazu sahen sich Hacker als offen und flexibel. Und vor allem sahen sie sich als Experten der Computertechnologie. So wurde der Mitbegründer des CCC, Wau Holland, nicht müde zu betonen, dass man diese Computersysteme lieber der jungen Generation überlassen sollte. Bei einer Datenschutztagung im Herbst plädierte er dafür, Transaktionen von Finanzen aus Btx herauszunehmen und das ganze System „zum Spielplatz für Computerkids“ zu machen. Wau Holland provozierte mit der eben genannten Aussage die Post, von der sich Vertreter auf der Tagung befanden. Ihrem „Vorzeigeprojekt“ schrieb er alleine die Rolle zu, als Plattform zum Erkunden und Erlernen von Computersystemen zu dienen. Kurz darauf erzielten die Hacker des Clubs ihren größten Coup: Durch ein selbstgeschriebenes Programm ließen sie eine Nacht lang ihre eigene kostenpflichtige Seite in Btx aufrufen, was jedes Mal fast DM kostete. Dies taten sie über den Account der Hamburger Sparkasse, an dessen Nutzerdaten sie durch einen Hack gekommen sein wollten. Bereits die Seite des CCC war ein Affront gegen die Post, die bis dato behauptet hatte, bewegte Bilder seien in Btx nicht möglich. Beim CCC konnte man sich jedoch eine Animation ansehen, auf der das „Chaos-Mobil“ kleine Posthörner abschoss. Das Geld, immerhin knapp . DM, gaben sie nach medienwirksamer Inszenierung wieder zurück, da es ihnen um eine Veranschaulichung der Sicherheitsprobleme gegangen sei. Deutlicher konnten sie ihre bis dahin oft ignorierte Kritik nicht machen als durch einen öffentlichen Hack. Ein solches Vorgehen kritisierte die Bundespost wiederum und ging dagegen vor. Das Handeln der Hacker sei „unsinnig“ und ihr Treiben „atypisches Nutzerverhalten“, worauf eine Hacker-Vereinigung erwiderte: „Wir stehen auf dem Standpunkt, dass ein Auto vom Hersteller zwar zum Fahren gebaut wurde, man
Wau Holland, Btx – Eldorado für Hacker?, In: Hans Gliss, Hg., . DAFTA, Köln , verschriftlichter Vortrag vom . November, S. –, hier S. .
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kann es aber trotzdem dazu benutzen, um darin Liebe zu machen.“ Die Beschreibung von außen eigneten sich die Hacker subversiv an: „Wir sind unbequem und legen, wie die Post sagt, atypisches Nutzerverhalten an den Tag (oder die Nacht). Wir meinen: das ist nötig.“ Damit widersprachen sie der Post nicht in ihrer Charakterisierung, jedoch war die Interpretation eine andere. Anstatt eine Computernutzung, die von der Norm abweiche, als falsch anzusehen, unterzogen die Hacker durch die Resignifikation eine Legitimation für sich und ihr Tun. Der Medienwissenschaftler Douglas Thomas hat bereits darauf hingewiesen, dass Hacken nicht nur das Ausloten von technischen Grenzen betrifft. „Gehackt“ werden im gewissen Grad kulturelle und soziale Normen. Die Hacker, mit einem subversiven Charakter und der Verbindung zu politischen Gruppen und Bewegungen, wie der Friedensbewegung, Hausbesetzern und linken Buchläden, stellten somit bestehende Ordnungen infrage. In Hackerzeitschriften wurde nicht nur die technische Ebene vermittelt, sondern auch soziale Gefüge verhandelt. Das neue Medium, dessen Nutzung und Möglichkeiten noch in einem Aushandlungsprozess waren und das durch seine Offenheit kreative Arbeitsmöglichkeiten bot, passte bestens zu diesen Personen. Sie stellten sich explizit gegen die Diskurse von Rationalisierung und Entfremdung, die mit dem Computer verbunden wurden. Aus ihrer Position heraus, mit ihrem technischen Wissen und ihren Handlungen waren die Hacker in der Rolle der Herausforderer. Die starren Vorgaben und die festgefahrenen Institutionen, die festgefahrenen Institutionen wollten sie ändern und sie fühlten sich dazu geradezu aufgefordert. Sie hätten die „Narrenfreiheit“, andere Wege zu gehen und diese Freiheit zu nutzen, habe der CCC als Aufgabe angenommen: Eben nicht nur wie kleine Kinder mit einem neuen, schönen Spielzeug rumzuspielen, sondern auch zu überlegen, was das für Folgen hat und welche Möglichkeiten man da hat, das aufzuzeigen, möglichst exemplarisch, möglichst plastisch und verständlich.
Statement der Deutschen Hackervereinigung, Hacker sind keine Bankräuber, .., in: Uwe Jonas u. a., Passwords to Paradise – Eine neue soziale Computerbewegung? Projektarbeit an der FU Berlin bei Margit Mayer und Roland Roth, Sommersemester , Anhang. Vorwort zur Hackerbibel I. Thomas, Hacker Culture, S. f. Die List und Lust der Hacker, überarbeitetes Gespräch von Joachim Hans Müller und CCC der Deutschlandfunk-Sendung am .., in: Hackerbibel I, S. .
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Ihre Praktiken und ihr Technikverständnis entwickelten sich so für sie zu einer Bestimmung, aber auch zu einer Verantwortung. Es ging ihnen weder um den Boykott der neuen Technologie noch um unkritischen Konsum, sondern um die Aneignung des neuen Mediums Computer: Wenn man bereits mit einem veralteten Kleinrechner, einem Modem und etwas Programmiererfahrung die Hürden der großen Firmen-, Militär- und Geheimdienstnetze überwinden konnte, blieb der Computer gewissermaßen in menschlicher Reichweite,
konstatierte der Medienhistoriker Jürgen Danyel. Aber es ging nicht nur um Gegenkontrolle, was sich an einem Zitat Wau Hollands besonders herausstellt: „Was ist denn das einen Rechner aufzumachen, dagegen die Gesellschaft aufzumachen.“ Der Club im HdjT unterschied sich von Clubs wie dem CCC in der Bundesrepublik, da man in der DDR vom Wohlwollen und der Unterstützung der Ministerien abhing. Die Obrigkeiten mussten Freizeitangebote und Individualität ermöglichen, während sie gleichzeitig das Wertesystem des Sozialismus zu verteidigen versuchten, wodurch Kirchen und kleinere Clubs zu Räumen für die Ausgestaltung einer „autonomen“ Lebensweise werden konnten. In dem sozialistischen Staat war frei verfügbare Software beispielsweise auf einer Linie mit der kollektivistischen Ideologie. Tauschen und Bereitstellen von Software war genauso in der DDR gang und gäbe unter den Hobbyisten, etwas, das Hackerkulturen weltweit verband. In den USA, wo die Free- und Open-Software-Bewegung durch Hacker in Gang gesetzt wurde, sowie in anderen westlichen Industriestaaten, war der freie Zugang zu Software ein Gegenzug zum proprietären Softwaremarkt. In der DDR hatte die Freizeitgestaltung mehr noch als in der Bundesrepublik eine Funktion von Vergesellschaftung. Dies ist zurückzuführen auf das geringere Angebot an Konsumgütern, was jedoch beeinflusste, dass in Ostdeutschland viel mehr selbst produziert wurde und eine Tauschkultur stark ausgeprägt
Danyel, Informationsgesellschaft, Abs. . Zitat Wau Hollands in: Nika Bertram, Radio Wauland, Hörspiel des Westdeutschen Rundfunks, http://www.wdr.de/radio/wdr/programm/sendungen/wdr-hoerspiel/radio-wau-holland.html (..). Manfred Stock, Jugendliche Subkulturen in Ostdeutschland, in: Peter Büchner/Heinz-Hermann Krüger, Hg., Aufwachsen hüben und drüben. Deutsch-deutsche Kindheit und Jugend vor und nach der Vereinigung, Wiesbaden , S. –.
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war. Programme verbessern, durch den praktischen Umgang den Computer zu erfahren, basteln und technische Komponenten zusammensetzen, waren in der DDR somit eine gängige Praktik. Diese hatten Computerfans mit den westlichen Pendants gemeinsam, wenngleich sie vornehmlich aus einer Notwendigkeit heraus praktiziert wurden. Dies schloss die Begeisterung und das Interesse am Selbermachen keinesfalls aus. Hacker des CCC beanspruchten außerdem eine Deutungshoheit über das Medium Computer. Zugleich versuchte der Club hiermit die Jugend zu lenken. Hacken sollte schon einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch haben und mit Verantwortung verbunden sein. Nicht ohne Grund proklamierten Mitglieder des CCC den Zugang zu Informationen mithilfe des Computers als ein „neues Menschenrecht“ . Normabweichender Umgang sei dabei das entscheidende Mittel, Innovationen zu befördern, Technikerfahrung zu sammeln und zeitgleich Menschen vor Missbrauch persönlicher Daten zu schützen. Der Club sah sich dazu berufen, den richtigen Umgang mit Computern zu vermitteln. Und daran anschließend proklamierten sie ihren Umgang, das Hacken, als den korrekten Umgang mit Computern. Aus Hackersicht fanden sich die Attribute Neugier, Grenzen austesten und Kreativität, vor allem bei Jugendlichen und Kindern. Das wahre Alter war damit nicht zwingend gemeint. Jugend definierte sich mehr noch über die Einstellung, offen für Neues zu sein und seiner Neugier nachzugehen. Wenngleich sich dies eben vor allem bei der jüngeren Generation finden ließ. Und auch der Aspekt des Spiels wurde stets für das Hacken hervorgehoben. Der Ursprung der jugendlichen Hackerkultur entwuchs dem Spielen. Zieht man die Betrachtungen Johan Huizingas zum Ursprung der Kultur im Spiel hinzu, zeigt sich, warum gerade ein spielerischer Umgang mit Computern eigene kulturelle Praktiken hervorbrachte. Spiel ist nach Huizinga eine grundlegende menschliche Handlung. Es ist zwar nicht auf ein Ziel gerichtet und verfolgt keinen direkten Nutzen, jedoch erlernt man Verhaltensweisen und erkundet Unbekanntes. Und ebenso näherten sich Hacker dem neuen Medium, beeinflussten Regeln und förderten kreatives Denken an dem Objekt, dem ein eintöniger Gebrauch zugeschrieben wurde. Denn die Anwendungsbereiche von Computern, ebenso wie legale und illegale Nutzungen, waren noch in einem Aushandlungsprozess. Vgl. Sibylle Schade/Anke Wahl, Lebensstile in West- und Ostdeutschland, in: Jörg Hagenah/Heiner Meulemann, Hg., Alte und Neue Medien. Zum Wandel der Medienpublika in Deutschland seit den er Jahren, Berlin u. a. , S. –, hier S. . Der CCC stellt sich vor in: Die Datenschleuder, H. , Februar . Vgl. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, dt. Übersetzung, Reinbek bei Hamburg , S. .
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Jugend und die Zukunft blieben wichtige Themen bei den Hackern. verfasste der CCC gemeinsam mit Hackern der Bayrischen Hackerpost beispielsweise den Text The kids can’t wait. Youngsters without means – what a future . Darin wurde eine europaweite Kritik geübt, an Beschränkungen durch Telefon- und Postgesellschaften sowie an mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten an Schulen im Bereich der Computernutzung. Eine Abgrenzung von neuer und alter Welt wurde zudem unterstrichen, wenngleich der Text eigentlich nur von der Bundesrepublik sprach. Vergleichswert waren dabei die USA, die vor allem auf einem technologischen Level überlegen seien. Der Grund dafür wiederum sei, dass die junge Generation nicht genügend Förderung und Möglichkeiten in Deutschland bekämen; Schulen seien zu schlecht mit Computern ausgerüstet und wenn überhaupt konzentrierten sich Computerangebote auf große Städte. Schlussendlich müsse man die Traditionen und Strukturen durchbrechen, um eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Denn gerade in Europa seien eingesessene Eliten das Problem einer offeneren Zukunft: „Progress is the result of the creative power of innovators. A small, however well paid elite, can’t be a substitute for this big group in the end.“ Selbst für die DDR wurde ein offenerer Computerumgang unterstellt. Im Zusammenhang mit einer Computerbeschlagnahmung hieß es in einem Artikel, dass in der DDR der Betrieb und die Einfuhr von Computern erlaubt sei und man über Akustikkoppler angeblich nachdenke: „Derartiges Vorgehen bewirkt, daß die BRD computermäßig ein Entwicklungsland bleibt.“ Dabei war die Durchdringung von Computern in der DDR geringer als in der Bundesrepublik und Computertechnologie wurde an den Grenzen oft als Schmugglergut beschlagnahmt. Und Akustikkoppler im Privaten sollten weitestgehend verhindert werden, da hier der Transfer von Daten nicht zu überblicken war. Privater Computerbesitz sowie Clubs, die sich rund um den Computer vor allem in größeren Städten gründeten, wurden von der Staatssicherheit überwacht.
Und sind es heute noch. So gibt es die Initiative „Jugend hackt“, die eine kritischere Auseinandersetzung mit Computertechnologie befördert und, angelehnt an Programme wie „Jugend forscht“, Kindern und Jugendliche im Bereich der Programmierung Förderung und Vernetzung anbieten will https://jugendhackt.org/was-ist/ (..). Der CCC hat seit das Programm „Chaos macht Schule“, zur expliziten Förderung von Jugendlichen im kritischen Umgang mit Mediennutzung https://ccc.de/schule (..). Die Datenschleuder, H. , Dezember , o.S. Ebd. Ebd. Im Bereich von , Millionen Mark lag bis dahin die Arbeit des Zolls gegen spekulative Computerschmuggel. Vgl. hierzu BStU MfS BV Bln AKG , Information der Abt VI über Schmuggel mit elektronischen Geräten, ...
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Auch wenn die Computerfreaks in der DDR nicht subversiv auftraten, war nicht auszuschließen, dass sich unter ihnen Gegner des Regimes befanden. So wurde in der DDR durch die Stasi unter dem Begriff „Fan“ eine eigene überwachte Personengruppe geschaffen. Allgemein bedeuteten die Vergemeinschaftung und die Kontakte in den Westen, durch die Computer und Software oft besorgt wurden, eine Gefahr für das repressive Regime. Denn was an Programmen und Texten verfasst und getauscht wurde, konnte nicht überblickt werden. Teilweise gelang es Aktivisten aus der DDR sogar, Informationen über digitale Netzwerke zu verbreiten. nutzten Aktivisten in der DDR das Zerberus-Netzwerk, ein westdeutsches Mailbox-System, das vor allem von Umweltgruppen genutzt wurde, um kritische Texte und Aufforderungen zu Demonstrationen hierüber durch den eisernen Vorhang zu schleusen. Im deutschen Nachbarstaat stieß der CCC bei jugendlichen Computerfans vor allem wegen des subversiven Charakters auf hohen Anklang. Ein - und ein Jähriger schrieben dem Club z. B.: „Wir sind überzeugt davon, daß Wiederstand [sic] mit Hilfe von Computern wichtig ist, und diverse Wiederstandsbewegungen [sic] sinnvoll unterstützen kann.“ Es werde „langweilig mit dem Computer nur vernünftige Sachen zu machen“ oder die Jugendlichen wünschten sich nicht „nur blöde Spiele zu spielen oder andere langweilige Programme einzutippen“, sondern „was flippiges mit dem Gerät anstellen“ zu können. Viele der Zuschriften an den CCC zeugen davon, dass es den vornehmlich jugendlichen Computerenthusiasten nicht mehr ausreiche, nur zu spielen. Mehr noch verschaffte es der Hamburger Hackerclub sogar bei technikfeindlichen Akteuren, durch die gesellschaftliche und politische Komponente Interesse zu wecken: „Bis vorgestern hielt ich Computer und ,Anwender‘ für beknackt. Dann habe ich etwas von ,Hackern‘ gehört“, schrieb eine Interessentin dem CCC.
Vgl. z. B. BStU BV Berlin XX , . Vgl. z. B. Christian Stöcker, Nerd Attack! Eine Geschichte der digitalen Welt vom C bis zu Twitter und Facebook, München , S. . CCC-Archiv, Ordner , Brief aus Düsseldorf, ... CCC-Archiv, Ordner , Brief aus Stuttgart, ohne Datum, wohl im ersten Quartal . Der Verfasser war Jahre alt. CCC-Archiv, Ordner , Brief aus Karlsruhe, ohne Datum, wohl im ersten Quartal . Der Verfasser war Jahre alt. CCC-Archiv, Ordner , Brief aus Bochum, ohne Datum, wohl im ersten Quartal . Leider ohne Altersangabe. Hier handelt es sich um eine von insgesamt neun Zuschriften, die definitiv von Frauen bzw. Mädchen an den CCC im Jahr verfasst wurden, bei fast Zuschriften in diesem Ordner.
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Im Sinne der Hacker-Ethik war der CCC basisdemokratisch organisiert und ermöglichte jedem Interessierten mitzumachen. Dafür musste man kein Mitglied sein und auch ein politisches Interesse war nicht notwendig. Diese Offenheit und die gleichzeitige Deutungshoheit über die Hackerkultur brachten Probleme für den Club mit sich. Dies äußerte sich am stärksten am Ende der er Jahre, als die Werte und das Gefüge des CCC auf eine harte Probe gestellt wurden. Über den Zugang des CERN-Forschungszentrums, das wegen seiner schlechten Sicherheitsvorkehrungen in der Szene „Hacker-Fahrschule“ genannt wurde, gelangen deutsche Hacker an Unterlagen der NASA und Philips Frankreich. Im Jahr wandten sich diese Hacker, die u. a. an Baupläne eines Atomkraftwerks gelangt waren, an den CCC. Das sorglose Hineinblicken in fremde Systeme entwickelte sich für sie zum handfesten Ernst. Die Club-Sprecher entschieden nach langen Diskussionen, sich an die zuständigen Behörden zu wenden und mit diesen zu kooperieren. Sie arbeiteten dabei präventiv, aber gaben die Informationen anonym weiter, schützten also die betroffenen jungen Hacker. Der CCC geriet dadurch selbst ins Visier der Fahnder. Im Zuge dessen fanden in den Clubräumen des CCC und in privaten Räumen von Wau Holland und Steffen Wernéry Hausdurchsuchungen statt. Das Verfahren wurde in der Bundesrepublik eingestellt, da man kein belastendes Material gegen die Hacker des CCC finden konnte. Als der -jährige Steffen Wernéry allerdings später nach Frankreich reiste, um dort einen Vortrag zu halten, wurde er am Flughafen direkt verhaftet und drei Monate in Untersuchungshaft gesteckt. Der CCC kritisierte das Vorgehen der französischen Behörden aufs Schärfste, denn ohne Beweise sei eine Inhaftierung in Untersuchungshaft auf diese Dauer nicht zu rechtfertigen. Doch das Vorgehen gegen Hacker war im Nachbarland restriktiver. Hier wurde der Name des CCC infolgedessen vom französischen Geheimdienst kopiert und ein Club zur Infiltrierung der Hackerszene genutzt. Das Vorgehen gegen Hacker wurde so verschärft, wodurch die französische Szene vielmehr im Untergrund blieb, während es in der Bundesrepublik für Hacker-Clubs wie dem CCC weiterhin möglich war, sich aktiv in Diskurse zur Computernutzung einzubringen. Jedoch veränderte sich die Wahrnehmung von Hackern und die öffentlichen Auftritte des CCC nahmen in den er Jahren ab. Ein Grund dafür war vor allem der KGB-Hack, der Ende der er Jahre bekannt wurde. Er hatte noch weitreichendere Auswirkungen auf den Club und die internationalen Hackerszenen, wobei mehrere Konflikte zusammenfielen. Der Hannoveraner Hacker Karl
Vgl. Nicholas Ankara, A personal view on the french underground (–), in: Phrack http://phrack.org/issues//.html (..).
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Koch hatte gemeinsam mit einem Freund Informationen an den KGB verkauft, die sie von amerikanischen Servern besorgt hatten. Im ARD Brennpunkt bezeichnete man die Hacks übereilt als „den größten Spionagefall seit Guillaume“ . Dabei handelte es sich um kein brisantes Material, das die jungen Hacker weitergegeben hatten, doch im Kontext des Kalten Kriegs waren hackende Spione eine Sensation. Für den jungen Hacker endete diese Episode im Selbstmord. Die Hacker rund um den CCC erkannten durch diese Hacks, dass das leichtsinnige Eindringen in Computersysteme handfeste Folgen haben konnte. Die Bemühungen, die Szene in ihrer ganzen Dimension zu lenken und in legalen Bahnen zu halten, erfuhren einen harten Dämpfer. In der Folge kam es zu Konflikten und die Diskussion über Ein- und Ausschluss in die Hackerkultur trugen zu Zerwürfnissen innerhalb des Clubs bei. Konnte man ein Hacker sein, wenn man bezahlte Aufträge, allen voran noch für Geheimdienste, annahm? Und konnte man Heranwachsende fallen lassen, weil sie einmal einen Fehler begangen hatten? Musste man sich nicht viel mehr um solche Fälle kümmern? Und durften Hacker, wie im Fall des NASA-Hacks, mit den Behörden kooperieren? Der Hamburger Computerclub zerbrach an diesen Herausforderungen beinahe. Der Umzug Andy Müller-Maguhns, der vor dem Wehrdienst nach Westberlin flüchtete, rettete den Club jedoch. Hier wurde ein weiterer CCC eröffnet, der durch den Mauerfall neue Akteure mit sich brachte. West- und ostdeutsche Hacker fanden im Club in Berlin schnell zueinander, was sich vor allem auf den ähnlichen Umgang mit Rechnern zurückführen lässt und gleichfalls auf den Umgang miteinander. Es war vor allem der Charakter des Teilens, ob bei technischen Komponenten, Zeit am Rechner oder Informationen, der diese jungen Computerfreaks zusammenkommen ließ. Das Verhältnis nach soll fast : von Ost- und West-Hackern gewesen sein. In den USA wiederum verschärfte sich durch die Spionageaktivitäten des jungen deutschen Hackers das Vorgehen gegen diese Gruppe. Zum einen waren sie als ausspioniertes Land selbst betroffen, zum anderen fiel dieser Hack mit dem Treiben der US-amerikanischen Szene zusammen. Mit der polizeilichen Maßnahme gegen Hackeraktivitäten „Operation Sundevil“ wurden Razzien in zahlreichen Städten der USA vorgenommen. Es kam zur Sicherstellung zahlreicher Hard- und Software sowie zu drei Festnahmen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Vgl. o.A., Er konnte an jedem Ort der Welt sitzen, in: Der Spiegel, H. , , S. –. Am . Mai wurde seine verbrannte Leiche nahe eines Waldstücks aufgefunden. Bis heute ranken sich Theorien in Hackerkreisen, dass Karl Koch von Geheimdiensten getötet wurde. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, vor allem in Anbetracht einer psychischen Erkrankung Karl Kochs, jedoch Suizid als Todesursache.
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Hacker, die meist Teenager waren, sorgte für die Gründung der Electronic Frontier Fundation (EFF), die sich ähnlich wie der CCC für den Schutz von Hackern und Netzaktivisten einsetzen wollte. Auch in der DDR hatte man diese Hacks beobachtet. Da es jedoch keine vergleichende Hackerszene gab, die online in Systeme eindrang, hatte dies keine weitreichenden Auswirkungen auf die jungen Computerfans.
Schlussbetrachtung
Computer waren nicht als Medien für die Jugend gedacht. Sie entsprangen der Forschung, um Arbeitsprozesse zu erleichtern. Hobbyisten entwickelten jedoch eigene Computer und trugen einen entscheidenden Teil dazu bei, dass diese im Privaten genutzt wurden. Eine zunehmende feste Zuschreibung und Grenzen der Computer stellten diese Akteure, die sich zunehmend als „Hacker“, als eine eigene Figur begriffen, infrage. Dadurch, dass der Computer vielseitig einsetzbar war, dadurch, dass er mit Programmen stets neue Aufgaben lösen konnte und dadurch, dass er kreatives Schaffen beförderte, war er nicht nur die graue Rechenmaschine, die viele Zeitgenossen in ihm sahen. Computer waren programmierbar, wodurch man selbst zum Produzenten von Programmen, Spielen und Kommunikationsplattformen werden konnte. Die zunehmende Freizeit- und Konsumkultur ermöglichte das Aufkommen von Hackerkulturen ferner. Hacker und Freaks schufen Gemeinschaften um dieses Objekt, die durch ähnliche Praktiken und Zuschreibungen gefestigt wurden, wobei Zeitschriften und Treffen dieses Zusammengehörigkeitsgefühl beförderten. Zum größten Teil setzte sich diese Szene aus Jugendlichen zusammen, bei denen Frauen und Mädchen wenig bis gar nicht vertreten waren. Statt Computer wie von Schule, Eltern oder der Post vorgeschrieben zu nutzen, fanden Hacker andere Möglichkeiten und Räume der Computernutzung. Es ging ihnen um Spaß und um das Austesten von Grenzen. In der Bundesrepublik avancierten Hacker als Avantgarde so zu gefragten Experten in der Computerisierung, trotz ihres jungen Alters. Dabei waren Hacker Spiegel ihrer Zeit und bewegten sich in anderen Subkulturen. Ihr subversives und bewusst unprofessionelles Auftreten war dabei nicht von jedem gern gesehen. Aber gerade diese Andersartigkeit störte gewinnbringend in einem aus Hackersicht intransparenten, ungleichen und festgefahrenen System. Vor allem der Jugend
Vgl. bspw. BStU MfS-HA III , , Gesprächsaufzeichnung des BKA in der von Karls Computer Klub Hamburg die Rede ist.
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wurde diese Fähigkeit zur Veränderung zugeschrieben, da diese sich durch Neugier und Offenheit auszeichne. Jugendliche waren noch nicht in festen Strukturen eingebunden und testeten ihre Grenzen aus: Ebenso gingen sie mit dem Computer um, was ihr Treiben oft an den Grenzen zur Illegalität kratzen oder gar überschreiten ließ. In der DDR, wo der Anspruch an Konsumgüter zwar nicht durchdringend realisiert wurde, zog die Computertechnologie dennoch in den Alltag einiger begeisterter Jugendlicher ein. Nicht zuletzt, weil die Computertechnologie nicht vor der Mauer Halt machen konnte; zu dringend waren das Bedürfnis mitzuhalten und das Bestreben nach Rationalisierung. Die Computertechnologie ließ sich nicht aufhalten. Und dennoch gab es auch hier Jugendliche, die nicht einfach nur „sinnvolle“ Aufgaben am Computer verwirklichten, ihn als reines Werkzeug betrachteten, sondern sich spielerisch und durch ungerichtetes Treiben diese Technologie aneigneten und hierdurch eigene Gemeinschaften formten. Ein explorativer und spielerischer Umgang mit dem neuen Medium war überall möglich, wo es auftrat – unabhängig vom politischen System. In diesem erkundenden Umgang mit Rechnern unterschieden sich Hackerkulturen nicht, alleine im öffentlichen Auftreten. In der Ablehnung oder sogar Beförderung von Hackerpraktiken sind wiederum nationale Unterschiede zu verzeichnen. So sind verschiedene Ausprägungen von Hackerkulturen zu erklären, die sich aber gleichfalls aus den vorausgegangenen kulturellen Praktiken wie auch Zugängen zur Technik bedingten. Die Hackerkulturen lebten nicht abgeschottet voneinander, was vor allem die internationalen Auswirkungen des NASA- und KGB-Hacks aufzeigten.
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Teil 2
Jugendmedien als Erziehungsund Erbauungsinstrumente: Information, Bildung und Unterhaltung
Friederike Höhn
Zwischen Adenauer-Jugend und christlichem Pazifismus: Die Debatte um die westdeutsche Wiederbewaffnung in den frühen 1950er Jahren in Jugendmedien der katholischen und evangelischen Kirche Einführung
Am . November überreichte der westdeutsche Verteidigungsminister, Theodor Blank, den ersten freiwilligen Soldaten ihre Ernennungsurkunden – die Bundeswehr war geboren. Dieser Gründungsstunde waren jahrelange Debatten um die Frage der Wiederbewaffnung vorausgegangen, welche nicht nur in den zuständigen Behörden und Parlamenten sowie der Tagespresse, sondern auch in gesellschaftlichen Organisationen und deren Medien geführt worden waren. Hierzu gehörten auch die beiden christlichen Kirchen und die zahlreichen religiösen Laienverbände, die das gesellschaftliche, kulturelle und vor allem auch politische Leben der Nachkriegsjahre und der jungen Bundesrepublik mitaufgebaut hatten und anschließend maßgeblich beeinflussten. Auch etwa zwei Millionen junge Menschen engagierten sich in christlichen Jugendverbänden, die über eigene Presseorgane verfügten. Auf ihr Leben sollte die Wiederbewaffnung unmittelbare biographische Auswirkungen in Form der Wehrpflicht haben. Für die Politik galt die Stimmungslage der Jugendlichen als besonders schwer einschätzbar; basierend auf Ergebnissen von Jugendstudien wurden sie in den militärpolitischen Planungen der Regierung Adenauer als „besondere[r] Unsicherheitsfaktor“ angesehen. In den einschlägigen Untersuchungen zur Wehrdebatte wurden die konfessionell organisierten Jugendlichen randständig behandelt und als „kongruent“ zur Meinung ihrer jeweiligen Kirchenobersten abgetan. Dies mag im Endergebnis richtig sein, unterschlägt aber jegliche Beschäftigung mit deren Meinungsbildung Hans-Erich Volkmann, Die innenpolitische Dimension Adenauerscher Sicherheitspolitik in der EVG-Phase, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hg., Anfänge Westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. : Die EVG-Phase, München , S. −, hier S. . Ebd., S. ; vgl. ebenso Hans-Jürgen Rautenberg, Zur Standortbestimmung für künftige deutsche Streitkräfte, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hg., Anfänge Westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. : Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München , S. −, hier S. ;
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und der Informationsvermittlung zur Remilitarisierung speziell an die jungen Menschen. Aber gerade sie galten in der Nachkriegszeit und in den er Jahren als politisch unbelastet und dazu prädestiniert, mit ihrer Erfahrung und ihrer moralischen Integrität den demokratischen Neubeginn Deutschlands mitzugestalten; deshalb lohnt es sich, einen tieferen Blick auf die Strukturen und Prozesse der Jugendpresse zu werfen. Im Folgenden soll daher anhand einer exemplarischen Untersuchung zweier herausragender konfessioneller Jugendzeitungen, der katholischen Wacht und der evangelischen Jungen Stimme, eine Analyse der Informationspolitik und insbesondere der Diskussionskultur innerhalb der organisierten christlichen Jugend und ihrer Medien durchgeführt werden, um zu zeigen, wie sich diese Jugendlichen zur Wiederbewaffnungsfrage äußerten und inwiefern ihr Meinungsaustausch und ihre Positionen die gesamtgesellschaftliche Diskussion widerspiegeln bzw. kontrastieren. Da der Jungen Stimme im Gegensatz zur Wacht in der Forschung bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ergibt sich in der Untersuchung ein kleines Ungleichgewicht zu Gunsten ersterer Zeitung. Die Festlegung des Untersuchungszeitraums von bis ist erstens der Erscheinungsdauer der Zeitungen und zweitens dem Verlauf der Debatte geschuldet, welche in den Jugendverbänden begann und mit der Gründung der Bundeswehr abebbte. Als Leitfragen sollen folgende Gesichtspunkte dienen: Welche Meinungen vertraten Jugendverbände, Redaktionen und Leserschaften? Welche Themen spielten eine wichtige Rolle? Wie funktionierte die Kommunikation zwischen Medium und Rezipientinnen und Rezipienten? Zuerst allerdings folgen ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Wehrdebatte bis und ein Versuch zur Profilierung der Jugend der er Jahre sowie die Vorstellung der beiden untersuchten Zeitungen und ihrer Leserinnen und Leser.
nicht beachtet u. a. bei Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland −, Paderborn . Zur Jugenddebatte siehe Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die „Kriegsjugendgeneration“ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen . Hierzu vor allem Anselm Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage – (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe B, Forschungen ), Mainz .
Friederike Höhn
Historischer Hintergrund
Eines der vier Ds für die deutsche Nachkriegsordnung der Alliierten war die Demilitarisierung, die am . August im Potsdamer Abkommen beschlossen worden war. Mit dem Beginn des Kalten Krieges jedoch änderte sich die Bedrohungslage für Mitteleuropa und damit auch für die junge Bundesrepublik. Bundeskanzler Konrad Adenauer, bedacht auf die Rückgewinnung staatlicher Souveränität und mit einem starken Sicherheitsbedürfnis gegenüber der als aggressiv wahrgenommenen Sowjetunion ausgestattet, strebte daher eine westdeutsche Wiederbewaffnung an. Nach dem Scheitern der Idee von einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) , in deren supranationalen Rahmen der westdeutsche Staat eingebunden und kontrolliert werden sollte, wurde die Bundesrepublik im Mai schließlich Mitglied der NATO und stellte eine nationale Armee unter NATO-Oberbefehl auf. Mit der erwähnten Ernennung der ersten Soldaten begann dann die Geschichte der Bundeswehr. Innenpolitisch war die Wiederbewaffnung mehr als umstritten. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnte sie ab. Jedoch formierte sich keine organisierte Protestbewegung, die echten politischen Einfluss hätte generieren können. Nur vereinzelt kam es zu größeren Bündnissen, etwa / zur Paulskirchen-Bewegung, an der sich die Gewerkschaften, prominente SPD-Politiker wie Erich Ollenhauer und Carlo Schmid sowie kritische Stimmen aus der Evangelischen Kirche wie Gustav Heinemann und Helmut Gollwitzer beteiligten. Gerade Letztere gehörten zu Kommuniqué über die Konferenz von Potsdam, .., abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, II. Reihe, Bd. I: Die Konferenz von Potsdam, Dritter Drittelband, bearbeitet von Gisela Biewer, Neuwied/Frankfurt a.M. , S. −, hier S. . Ausführlich hierzu Detlef Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte −, München , S. −; Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München , S. −; Klaus A. Meier, Die internationalen Auseinandersetzungen um die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland und um ihre Bewaffnung im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hg., Anfänge Westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. : Die EVG-Phase, München , S. −; Bruno Thoß, Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur WEU und NATO im Spannungsfeld von Blockbildung und Entspannung, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hg., Anfänge Westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. : Die NATO-Option, München , S. −. Vgl. Tabelle XI zu Umfrageergebnissen bis mit konstanten Werten über Prozent, in: Volkmann, Innenpolitische Dimension, S. . Vgl. Hans Ehlert, Innenpolitische Auseinandersetzungen um die Pariser Verträge und die Wehrverfassung bis , in: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hg., Anfänge Westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. : Die NATO-Option, München , S. −, hier S. −; Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik, S. −; Michael Werner, Zur Relevanz der „Ohne
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den vehementesten Gegnern von Adenauers Politik; die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) blieb in der Wehrfrage gespalten und bezog offiziell keine Position. Dabei spielte vor allem auch die Tatsache eine Rolle, dass die EKD ein gesamtdeutsches Gremium war und auch die Kirchen aus der DDR vertrat. Die Wiedervereinigung hatte oberste Priorität und schien durch die Remilitarisierung Westdeutschlands gefährdet. Anders in der Katholischen Kirche: Dort fand Adenauers Wiederbewaffnungspolitik von Beginn an loyale Unterstützung. Insbesondere der Widerstand gegen den Bolschewismus war ihr ein Anliegen, der Aufbau einer eigenen Armee wurde als wirksames Mittel zur Abschreckung und notfalls Verteidigung betrachtet. In den katholischen Laienorganisationen war die Frage nicht unumstritten, doch die hierarchische Disziplinierung innerhalb der Kirche ließ die vorhandenen Gegenstimmen nicht laut genug werden, um eine öffentlich geführte Debatte zu erzeugen.
Skeptisch und angepasst? Zur westdeutschen Jugend in den frühen 1950er Jahren
Die Leserinnen und Leser der beiden untersuchten Zeitungen waren zwischen und Jahren alt; sie wurden entsprechend zwischen und geboren. Zu ihren prägenden Kindheitserinnerungen gehörten Krieg, Hunger und Entbehrung, in vielen Fällen auch Heimatvertreibung und der Verlust von Familienangehörigen. Zwar war ihnen ein direkter Kriegseinsatz erspart geblieben, aber die älteren unter ihnen waren von den nationalsozialistischen Jugendorganisationen geprägt worden und hatten dort eine vormilitärische Ausbildung erhalten. Nach dem Krieg folgte im Rahmen der alliierten Re-Education-Programme ein extremer erzieherischer Wandel.
mich“-Bewegung in der Auseinandersetzung um den Wehrbeitrag, in: Detlef Bald/Wolfram Wette, Hg., Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges. −, Essen , S. −. Vgl. Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg, S. −; Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach , Stuttgart , S. −. Siehe Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung; Frederic Spotts, Kirchen und Politik in Deutschland, Stuttgart , S. f.; Martin Stankowski, Linkskatholizismus nach . Die Presse oppositioneller Katholiken in der Auseinandersetzung für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft, Köln . Vgl. Friedhelm Boll, Jugend im Umbruch vom Nationalsozialismus zur Nachkriegsdemokratie, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. , , S. −, hier S. ; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. : Bundesrepublik und DDR −, München , S. f. Vgl. Rolf Steininger, Deutschland und die USA. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Reinbek , S. f.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. : Vom Beginn
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Kein Wunder also, dass der Soziologe Helmut Schelsky dieser Generation in seiner veröffentlichten Studie das Label „skeptisch“ verpasste, sie als misstrauisch gegenüber Ideologien, politischen Versprechungen und Massenorganisationen charakterisierte und ihnen ein nüchternes Verhältnis zur Lebenswirklichkeit attestierte. Sie sei eine Generation „ohne Pathos, Programme und Parolen“. Statt gesellschaftliche Ziele zu verfolgen, strebten die jungen Menschen nach individuellem Glück, das heißt beruflichem Fortkommen, Wohlstand, Familiengründung und sozialem Aufstieg. Tatsächlich bildete die Berufstätigkeit ein typisches Merkmal der Leserinnen und Leser der untersuchten Zeitungen, was sich in deren Themenauswahl widerspiegelt: Hier nahmen Fragen des Arbeitslebens einen hohen Stellenwert ein; die Junge Stimme richtete sich sogar „in erster Linie an die werktätige Jugend“. Wichtig sei den jungen Menschen, so Schelsky weiter, die „unbedingte persönliche Freiheit“ – woraus sich bereits ein Konflikt mit dem staatlichen Eingriff in das eigene Leben durch die mögliche Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht andeuten könnte. Doch Politik interessiere die junge Generation nicht, ein Aufbegehren sei von ihr nicht zu erwarten, denn sie habe sich mit den Gegebenheiten arrangiert, so Schelsky: Aber was sich auch ereignen mag, diese Generation wird nie revolutionär, in flammender kollektiver Leidenschaft auf die Dinge reagieren. [. . . ] In allem, was man so gern weltgeschichtliches Geschehen nennt, wird diese Generation eine stille Generation werden [. . . ].
Aufbauend auf Schelsky attestierte auch der Politikwissenschaftler Elmar Wiesendahl der Jugend eine kleinbürgerlich-konventionalistische Anpassungskultur, die traditionelle Normen und Werte wie „Sitte, Respekt und Anstand, gutes Benehmen und Betragen, Disziplin und Ordnung, Höflichkeit, Takt, Zurückhaltung“
des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten −, München , S. . Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln , insb. S. −. Ebd., S. . EZA /, Junge Stimme: Schreiben von Dr. Böhm (Evangelisches Konsistorium BerlinBrandenburg) an die Pfarrer in Westberlin, Berlin, ... Zur Werktätigkeit siehe Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der er Jahre, Hamburg , S. −. Schelksy, Skeptische Generation, S. . Ebd., S. f.
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schätzte . Rebellisches Verhalten sei ihr nicht zu eigen gewesen, vielmehr habe eine „Untertanenkultur“ vorgeherrscht, sodass Wiesendahl die Jugendgeneration jener Jahre mit dem Siegel „Adenauerjugend“ versah. Ein Resultat dieser Angepasstheit sei die glückende Aufstellung einer Wehrpflichtigenarmee gewesen, die sich keiner „widerborstigen“ Jugend habe widersetzen müssen. Als Belege dafür macht Wiesendahl die geringe Zahl der Wehrdienstverweigerer aus, die als „Drückeberger“ und „Feiglinge“ geächtet worden seien, sowie die kaum geführte politisch-moralische Debatte über Krieg und Militär, die von einem zwar amilitärischen und distanzierten, jedoch nicht abwehrenden Verhältnis zur Wehrpflicht zeuge. Im Hinblick auf die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehenden Jugendlichen wird sich zeigen, dass das von Schelsky entworfene Bild einer politisch desinteressierten Generation ebenso wenig auf die Leserinnen und Leser der Jungen Stimme – und in eingeschränkterem Maße auch nicht auf jene der Wacht – zutrifft wie die von Wiesendahl bescheinigte Angepasstheit. Der Blick in diese Jugendmedien offenbart ein durchaus anderes Bild, das sich auch in den EmnidJugendstudien von und zeigt. gaben Prozent der Jugendlichen an, täglich oder sehr regelmäßig die Tageszeitung zu lesen und sich dabei auch besonders dem Politikteil zu widmen. Allgemeines Interesse am politischen Geschehen bekundeten Prozent der Befragten, dabei war der Anteil bei den Jungen höher als bei den Mädchen und der bei den protestantischen Jugendlichen höher Elmar Wiesendahl, Jugend und Bundeswehr. Eine jugendsoziologische Epochenanalyse, in: Frank Nägler, Hg., Die Bundeswehr bis . Rückblenden − Einsichten − Perspektiven, München , S. −, hier S. . Ebd., S. . Ebd., S. f. Diese Studien wurden im November und mittels mündlicher Interviews an einer als „nach den üblichen Verfahren der repräsentativen Statistik“ ausgewählten Stichprobe unter Jugendlichen zwischen und Jahren im damaligen Bundesgebiet (ohne Saarland und WestBerlin) durchgeführt. Befragt wurden und jeweils rund Schülerinnen und Schüler, Schulentlassene aller Schularten sowie Studierende in bzw. regional strukturierten Bezirken. Zur Methode und Stichprobe vgl. Emnid-Institut für Meinungsforschung, Hg., Jugend zwischen und . Eine Untersuchung zur Situation der deutschen Jugend im Bundesgebiet, Bielefeld , S. f.; Emnid-Institut für Meinungsforschung, Hg., Jugend zwischen und . Zweite Untersuchung zur Situation der deutschen Jugend im Bundesgebiet, Bielefeld , S. –, Zitat ebd., S. . Der Anteil der an Politik interessierten Jugendlichen war bei Jungen sehr viel größer als bei den Mädchen ( zu Prozent) und stieg mit zunehmendem Alter ( Prozent bei den männlichen, Prozent bei den weiblichen Jugendlichen über Jahren). gaben noch Prozent der Befragten an, regelmäßig Tageszeitungen zu lesen; auch hier zeigten sich die Älteren interessierter am Politikteil. Vgl. Emnid , S. f.; Emnid , S. −.
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als bei denen katholischer Konfession. Diese Werte unterschieden sich weder von den Zahlen, die im gleichen Zeitraum in Umfragen unter der erwachsenen Bevölkerung erhoben wurden, noch von dem politischen Interesse, das zuvor oder danach unter Jugendlichen ausgemacht werden konnte, und entsprechen in etwa jenen Werten, die auch in aktuellen Jugendstudien ermittelt werden. Von einer ausgesprochen apolitischen Jugendgeneration kann also keine Rede sein. Auch zur Einstellung der jungen Menschen hinsichtlich einer westdeutschen Wiederbewaffnung geben die Jugendstudien von und Auskunft: Sätze wie „Die Soldatenzeit ist die beste Erziehung für einen jungen Menschen“ und „In Uniform sieht ein Mann viel besser aus als in zivil“ erhielten zwar mehrheitlich Zustimmung; aus Überzeugung selbst Soldat werden, wollten allerdings nur Prozent der befragten jungen Männer, ebenso viele lehnten dies sogar kategorisch ab. Der Anteil Letzterer stieg sogar auf Prozent. Damit war die Wehrbereitschaft der Jugend deutlich niedriger ausgeprägt als die der Gesamtbevölkerung. Der Rest der Befragten zeigte sich pragmatisch und gab an, unter besonderen Umständen, wie etwa dem Verteidigungsfall, den Dienst an der Waffe aufzunehmen. Auf etwa zwei Drittel bis drei Viertel der jungen Männer treffen die Diagnosen Angepasstheit und ausgeprägter Realitätssinn also zu; ob dieses Bild auch mit den Äußerungen der Leserinnen und Leser der christlichen Jugendzeitungen in Übereinstimmung zu bringen ist, wird zu zeigen sein.
Wacht und Junge Stimme: Profile, Leserschaft, Herausgeber
Laut der Jugendstudie von war etwa ein Drittel aller befragten Jugendlichen in Organisationen – zumeist in Sportvereinen – aktiv; etwa zwölf Prozent aller
Bei den befragten Jungen gaben Prozent an, sich für Politik zu interessieren, bei den Mädchen Prozent, bei den evangelischen Jugendlichen lag der Wert bei Prozent, bei katholischen bei Prozent. Vgl. Emnid-Studie , S. f. Im September gaben Prozent der vom Allensbacher Institut für Demografie Befragten an, im Allgemeinen ausreichend über Politik informiert zu sein. Vgl. Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann, Hg., Jahrbuch der öffentlichen Meinung −, Allensbach . Aufl. , S. ; Boll, Jugend im Umbruch, S. . In der aktuellen Shell-Jugendstudie von gaben Prozent der Jugendlichen an, sich für Politik zu interessieren – ein Ergebnis, das die Demografen positiv beurteilten. Vgl. Jugend . Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt a.M. , S. . Emnid-Studie , S. − und −; Emnid-Studie , S. −. Vgl. Ehlert, Innenpolitische Auseinandersetzungen, S. ; Volkmann, Innenpolitische Dimension, S. f.
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Jugendlichen gehörten einer christlichen Jugendgruppe an. Die von Schelsky aufgestellte These von der Skepsis gegenüber Vergemeinschaftung und Massenorganisationen lässt sich daher nicht ohne deutliche Abstriche aufrechterhalten. Allein der Bund der Katholischen Jugend (BDKJ) hatte im Untersuchungszeitraum nach eigenen Angaben etwa eine Million Mitglieder. Sein Zentralorgan war die Wacht, die wiedergegründet worden war. Der BDKJ selbst wurde im Jahr zuvor auf Betreiben der katholischen Bischöfe als Sammelverband der bis zersplitterten katholischen Jugendorganisationen ins Leben gerufen. Martin Schwab bezeichnet ihn als „Kompromiß aus der katholischen Jugendarbeit der Weimarer Republik mit ihrer verbandlichen Vielfalt“ – zu nennen wären hier etwa die Kolpingjugend, Quickborn und Bund Neudeutschland – „und der eher einheitsorientierten Pfarrjugend der NS-Zeit“. Die Schaffung eines gemeinsamen Pressewesens sollte das Gemeinschaftsgefühl der sehr heterogenen Mitgliederstruktur fördern, doch mangelte es seitens des Bundes an Unterstützung, Verständnis und Bereitstellung von finanziellen Mitteln für die eigenen Zeitungen und Zeitschriften. So musste auch die Wacht ihr Erscheinen einstellen; ihre Inhalte wurden in Die Allgemeine Sonntagszeitung integriert, dem gemeinsamen Organ verschiedener katholischer Laienverbände. Bis zu diesem Zeitpunkt war auch die Auflage von . () auf . Exemplare gefallen. Dank einer durchgeführten und in kleinerem Umfang wiederholten Umfrage lässt sich ein sehr genaues Bild der Leserinnen und Leser des Blattes rekonstruieren: Sie kamen aus dem gesamten Bundesgebiet und waren mehrheitlich zwischen und Jahren alt; das Verhältnis von Lesern zu Leserinnen lag bei : und verschob sich im darauffolgenden Jahr auf :. Sofern sie nicht noch zur Schule gingen oder studierten, übten die Leser ein Handwerk aus oder waren Arbeiter, die Leserinnen waren kaufmännische Angestellte oder in der Landwirtschaft tätig. Allesamt waren sie keine aktiven Sportlerinnen und
Emnid-Studie , S. ; Emnid-Studie , S. . Nach den Angaben im Informationsdienst des BDKJ, vgl. Martin Schwab, Kirche leben und Gesellschaft gestalten. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in der Bundesrepublik Deutschland und der Diözese Würzburg −, Würzburg , S. . Die Wacht war bereits von bis zum Verbot / als Schrift des Katholischen Jungmännerverbandes erschienen. Schwab, BDKJ, S. . Zur Geschichte des BDKJ siehe auch Mark Edward Ruff, The Wayward Flock. Catholic Youth in Postwar West Germany, −, Chapel Hill , S. −; Reiner Tillmanns, Der BDKJ in historischer und kirchenrechtlicher Betrachtung, Berlin . Vgl. Schwab, BDKJ, S. , Tillmanns, BDKJ, S. . Vgl. Die deutsche Presse . Zeitungen und Zeitschriften, hg. vom Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin, Berlin , S. ; Schwab, BDKJ, S. .
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Sportler, sondern zu fast Prozent im BDKJ aktiv. Sie waren mehrheitlich (noch) nicht verheiratet, Prozent waren schon einmal ins Ausland gereist. Politisch orientierten sich die Leserinnen und Leser an den Unionsparteien, wenngleich auch nur sieben Prozent Mitglied in der CDU oder CSU waren. In einer Studie von wurden die katholischen Jugendmedien durchweg als „moderner, lebendiger, vielseitiger“ und besser auf die jeweiligen Altersgruppen zugeschnitten beurteilt , während bei den evangelischen Blättern hingegen der Eindruck entstehe, „sie seien nicht für Kinder oder Jugendliche, sondern für Erwachsene gemacht“. Insbesondere eine aktive Miteinbeziehung der Leserinnen und Leser durch Leserbriefe oder Zusendungen wurde bemängelt. Es gab allerdings eine Ausnahme: die Junge Stimme, „eine Jugendzeitschrift, wie man sie sich besser kaum denken kann“. Anders als die Wacht war die Junge Stimme keine explizite Verbandsveröffentlichung, kann aber durchaus als das inoffizielle Gegenstück der organisierten evangelischen Jugend angesehen werden. Sie erschien im Auftrag der Jugendkammer der EKD und mithilfe einer Startfinanzierung aus Mitteln des Bundesjugendplans von bis in Stuttgart. Die Auflage betrug . Exemplare, wovon Prozent im Abonnement bezogen wurden. Der monatliche Preis betrug Pfennig, womit sie etwas teurer als die Wacht war, die Pfennig im Monat kostete. Im Aufbau ähneln sich die beiden analysierten Zeitungen: Sowohl Wacht als auch Junge Stimme boten ihren Leserinnen und Leser zweimal im Monat auf acht Seiten eine Mischung aus politischer Information und Kommentaren, Beiträge zum Zeitgeschehen, zu Fragen der Bildung, des Berufslebens und der Lebensführung, zu Kirche und Glauben. Beide hatten einen Sportteil und ein Feuilleton, in dem neue Bücher, Filme und andere Kulturangebote besprochen wurden. In beiden Zeitungen wurden auch Fortsetzungsromane, Rätsel, Witze und Karikaturen
Die Umfrage wurde zum Jahreswechsel / durchgeführt, die Ergebnisse wurden veröffentlicht in: Wacht, Jg. , H. , . Die zweite Umfrage wurde im Dezember gestartet und deren Ergebnisse veröffentlicht in: Wacht, Jg. , H. , . Ursula Loch, Die Schüler- und Jugendzeitschriften, in: Walter Hagemann, Hg., Die deutsche Zeitschrift der Gegenwart, Münster , S. −, hier S. . Ebd., S. . Ebd., S. . So von Zeitgenossen gesehen, vgl. Aktionsgemeinschaft der Jugendverbünde gegen den Militarismus?, in: Die deutsche Jugend, Jg. , H. , , S. f., hier S. . EZA /, Junge Stimme: Rundschreiben von Manfred Müller (Vorsitzender der Jugendkammer der EKD), Stuttgart, November und Schreiben von Dr. Böhm, Berlin, ... Vgl. Die deutsche Presse , S. und S. .
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veröffentlicht. Dabei blieb stets deutlich, dass es sich um christliche Jugendzeitungen handelte, die jungen Menschen dabei helfen wollten, ihren Platz als christliche Männer und Frauen in der Gesellschaft zu finden. Wie die Wacht richtet sich die Junge Stimme an Leserinnen und Leser zwischen und Jahren, wobei aus den Zuschriften hervorgeht, dass auch Pfarrer, Vikare, Leiterinnen und Leiter von Jugendgruppen zur Leserschaft gehörten. Von offizieller Seite stellte sie einen „neuartigen Versuch [dar], in Form einer modernen Zeitung aktuelle Probleme anzufassen und sie in die Sicht des Glaubens zu stellen“. Dass dieser Versuch bei den Leserinnen und Leser ankam, zeigen etliche Zuschriften: „Immer wieder muß ich die Vielseitigkeit der Zeitung bewundern“, schreibt etwa der Lehrling Hermann K. aus Stuttgart. Er hebt lobend hervor, dass die Art der Zeitung „allem Anschein nach doch die Gedanken der Leser mehr in Beschlag nehmen“ könne, was sich in den zahlreichen Zuschriften zeige: „Ich habe den Eindruck, daß die Leser in ihren Zuschriften eher aus sich herausgehen, da sie ihre Gedanken einer echten Kritik ausgesetzt wissen.“ Auch anderen Leserinnen und Leser gefiel an der Jungen Stimme vor allem die Diskussionsfreude und hohe Leserbeteiligung, die sich nicht nur in der Rubrik „Stimmen an die Jungen Stimme“, also den Leserbriefen, niederschlug, sondern von der Redaktion auch explizit gewünscht wurde. Mittels der Leserzuschriften wurde ein reges und anhaltendes Diskussionsforum geschaffen, in welchem nicht nur die redaktionellen Beiträge kommentiert, sondern in hohem Maße auch Bezug auf vorherige Lesermeinungen genommen wurde und dadurch direkte Leser-Leserinnen-Kommunikation stattfand. Ausgewählte Leserbriefe zu umstrittenen Themen oder mit starker Meinung wurden zudem besonders durch eine redaktionelle Einleitung hervorgehoben und mit dem Aufruf zur Diskussion versehen, etwa zum Ordensgesetz oder zum Verhältnis von Christentum und Sozialismus. Hierin lässt sich auch der große und im Rahmen dieser Untersuchung auch wichtige Unterschied zwischen Wacht und Junger Stimme feststellen: In der Wacht fanden solche intensiven Diskussionen nicht statt. Sie druckte sehr viel weniger Leserzuschriften ab – übrigens ein allgemeines Merkmal der katholischen Jugend-
EZA /, Junge Stimme: Schreiben von Dr. Böhm. Zuschrift von Hermann K., Lehrling, Stuttgart, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Vgl. Der Leser schreibt mit, in: ebd. Dietrich G., Ordensträger sind Helden, in: Junge Stimme, Jg. , H. , und dazu mehrere Zuschriften in den darauffolgenden Heften; Leserbrief eines anonymen Lesers aus Berlin, in: Junge Stimme, Jg. , H. , und Diskussionsforum in Junge Stimme, Jg. , H. , .
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presse – und setzte auf unilaterale Kommunikationswege. Erst im März veröffentlichte die Wacht kritische Leserzuschriften zur Wehrfrage, eine Regelmäßigkeit entwickelte sich daraus jedoch nicht – erst mehr als ein Jahr später lassen sich die nächsten Zuschriften, die sich mit der Wiederbewaffnung auseinandersetzen, in der Zeitung finden. Auch deshalb lässt sich die Wacht als weitaus weniger politisch orientiert als die Junge Stimme charakterisieren. Sie berichtete sehr viel mehr zu Themen aus der Kirche und zu Glaubensfragen und kam ihren Aufgaben als Verbandsblatt nach, indem sie über die katholische Jugendarbeit informierte. Im Gegensatz dazu konnte die Junge Stimme als freies Jugendmagazin, das sich einen Markt schaffen und erhalten musste, ungebundener die eigene Themenwahl bestimmen. Hierzu bezog sie auch regelmäßig Persönlichkeiten aus Kirche und Politik in die Debatte ein. Eine wichtige Rolle in beiden Blättern spielten die Chefredakteure Willi Weiskirch für die Wacht und Eberhard Stammler für die Junge Stimme. Sie schrieben die überwiegende Mehrheit der Artikel zur Wiederbewaffnungsfrage und bestimmten die politische Positionierung ihres jeweiligen Blattes. Weiskirch, Jahrgang , und Stammler, geboren , gehörten nicht zur Generation ihrer Leserinnen und Leser und hatten – anders als diese – schon persönliche Erfahrungen als Soldaten gesammelt: Stammler, eigentlich Jugendpfarrer, diente während des Zweiten Weltkrieges bei den Fallschirmjägern; Weiskirch wurde im Krieg mehrfach schwer verwundet. Beide übernahmen das jeweilige Amt des Chefredakteurs. Politisch standen sie der CDU nah und machten die Verteidigungspolitik zu ihrem Lebensthema: Weiskirch zog für die CDU in den Bundestag ein und wurde verteidigungspolitischer Sprecher seiner Fraktion sowie Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestages. wählte ihn der Bundestag zum Wehrbeauftragten, was er bis blieb. Er starb an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzungen. Weiskirch bezeichnete sich selbst zunächst als dezidierten Gegner der Wiederbewaffnungspolitik, bis ihn der Kanzler zum Gespräch einlud und ihn persönlich von der Notwendigkeit eines deutschen Wehrbeitrags überzeugen konnte. Stammler, bis ebenfalls Mitglied der CDU, begründete Vgl. Loch, Schüler- und Jugendzeitschriften, S. . Neben zahlreichen Bundestagsabgeordneten schrieben u. a. auch der bekannte katholische Publizist Walter Dirks sowie die evangelischen Bischöfe Hanns Lilje und Hermann Kunst Artikel für die Junge Stimme. In der Wehrdebatte meldeten sich auch Verteidigungsminister Theodor Blank und dessen Mitarbeiter Wolf Graf von Baudissin, verantwortlich für die Innere Führung, zu Wort. Willi Weiskirch, Staatsbürger in Uniform, in: Bruno Thoß, Hg., Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit. Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte bis , München
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den Beirat für Fragen der Inneren Führung und war bis dessen Mitglied und zeitweise dessen Sprecher. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Chefredakteurs der Jungen Stimme blieb er in der evangelischen Presse aktiv und war bis zu seinem Tod einer ihrer bekanntesten Publizisten.
Zur Wehrdiskussion der Jugend
Startpunkt der Diskussion in den Jugendverbänden und damit auch in den angeschlossenen Jugendmedien war die sechste Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR) Ende April . Im Mittelpunkt der Zusammenkunft in Elmstein stand die Diskussion um die Wiederaufrüstung. Erstmals positionierten sich die Verbände im Namen ihrer insgesamt vier Millionen Mitglieder zur Frage eines westdeutschen Wehrbeitrags. Während sich die Sozialistische Jugendbewegung Deutschlands – Die Falken entschieden gegen einen Wehrbeitrag aussprach und auf die drohende Gefahr einer erneuten Militarisierung Deutschlands hinwies , unterließ die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend eine eindeutige Festlegung: Analog zur EKD gingen auch innerhalb dieses sehr heterogenen Verbandes die Meinungen stark auseinander, sodass seine Vertreter betonten, „ihre Mitglieder nicht durch politische Anweisungen“ binden zu
, S. −, hier S. f. Zu dessen Biografie siehe: Weiskirch, Willi, in: Rudolf Vierhaus, Ludolf Herbst, Hg., Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages −, Bd. , München , S. . Zu Stammlers Biografie: Eberhard Stammler, Innere Führung im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Der Beirat Innere Führung, in: Bruno Thoß, Hg., Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit. Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte bis , München , S. −; Ein reiches Lebenswerk, in: epd, . Juli ; Mit Pfeife und Hintersinn. Eberhard Stammler, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, . August . Anzumerken ist, dass die Junge Stimme erst ab erschien; in der Wacht war bis zu der Elmsteiner Versammlung aber auch nur ein Bericht zum Thema Wiederbewaffnung erschienen: Gibt es Deutschland noch?, in: Wacht, Jg. , H. , . Auch die Naturfreundejugend schloss sich dieser scharfen Ablehnung an. In der Mitte positionierten sich die Jugendverbände des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Deutschen Angestelltengewerkschaft, die auf eine kluge Entscheidung der politisch Verantwortlichen hofften; der Bund der Deutschen Landjugend und der Bund Deutscher Pfadfinder gaben sich neutral und verwiesen auf interne Meinungsverschiedenheiten, die Deutsche Sportjugend enthielt sich gar einer eigenen Stellungnahme. Vgl. Sollen wir wieder Waffen tragen? und Zwischen Nein und Ja, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Alle Erklärungen im Wortlaut abgedruckt in: Der deutsche Soldat in der Armee von morgen. Wehrverfassung, Wehrsystem, Inneres Gefüge (Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik e.V., Mainz ), München , S. –.
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wollen, sondern dazu aufforderte, eine individuelle und echte Gewissensentscheidung nicht „aus Eigennutz oder Angst, sondern aus dem Gehorsam des Glaubens“ heraus zu treffen. Einzig der BDKJ bekundete seine klare Unterstützung der gegenwärtigen Wehrpolitik. In der sogenannten Elmsteiner Erklärung bekannte sich der Bund zur Verteidigung der europäisch-demokratischen Werte gegen den Kommunismus auch mit militärischen Mitteln: Der leninistisch-stalinistische Kommunismus bedeutet [. . . ] eine ständige und akute Bedrohung höchster Rechts- und Lebensgüter all der Menschen und Völker, die seiner Herrschaft noch nicht unterworfen sind. [. . . ] Es ist unsere Überzeugung, daß auch die Weiterentwicklung der bisherigen großen Nachkriegserfolge letztlich von der Sicherung gegen innere und äußere Feinde abhängt. Zu einer solchen Sicherung müssen wir in Anbetracht der Gegebenheiten auf die militärische Abwehrbereitschaft zählen. Darum halten wir es für konsequent, daß die Bemühungen um eine europäische Solidarität zur Erhaltung und Sicherung des Friedens Verteidigungsmaßnahmen gegen einen möglichen Angriff einschließen.
Der westdeutsche Beitrag, so die Forderungen, solle aber in gleichberechtigter Form erfolgen, politisch kontrolliert werden und jede Wiederkehr von Kommissgeist ausschließen; auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, wie es im Grundgesetz bereits verankert wurde, müsse voll anerkannt und geschützt werden. Mit der Elmsteiner Erklärung positionierte sich die organisierte katholische Jugend erstmals öffentlich als Unterstützer der Adenauer’schen Politik – intern war dies seitens der Bundesführung schon seit unumstritten gewesen. Damit stellte der BDKJ zwar innerhalb des DBJR eine Ausnahme dar, fügte sich aber nahtlos in den allgemeinen Tenor der katholischen Laienverbände ein, die ihrerseits zur etwa gleichen Zeit ähnliche Stellungnahmen veröffentlichten und damit der Politik der Bundesregierung den Rücken stärkten. Mit der Elmsteiner Versammlung war die Thematik aus den Verbandsstuben und Jugendräumen heraus ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden. Dies Erklärung der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands, abgedruckt in: Der deutsche Soldat in der Armee von morgen, S. f. Elmsteiner Erklärung namens des Bundes der deutschen katholischen Jugend zum deutschen Verteidigungsbeitrag vom ./.., in: Heinz Hürten, Hg., Katholizismus, staatliche Neuordnung und Demokratie −, Paderborn , S. −, Zitat S. f. Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung, S. . Dazu gehörten die Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Männerwerke Deutschlands, die Kolpingfamilie und die Katholische Arbeiterbewegung, vgl. ebd., S. −, insb. S. .
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verlangte nun auch eine regelmäßige Information seitens der Jugendpresse; ab sofort berichteten sowohl Wacht als auch Junge Stimme in großer Regelmäßigkeit über die politischen Entwicklungen in Sachen Wiederbewaffnung, Wehrbeitrag und Wehrpflichtfrage. In der Wacht musste Chefredakteur Willi Weiskirch zunächst die Elmsteiner Erklärung gegen die Kritik verteidigen, diese stelle eine „Kapitulation vor der Front der Barras-Verfechter“ und eine Forderung zur Einführung der Wehrpflicht dar. Er hielt diesem Vorwurf in einem Leitartikel vom Juli entgegen, dass die Erklärung keinesfalls Begeisterung ausdrücke, sondern die Verteidigungsplanungen der Regierung zum Erhalt der Freiheit und Sicherheit abwägend und kritisch unterstütze. Die Erklärung selbst bezeichnete Weiskirch als Ergebnis umfassender Diskussionen und Spiegel der mehrheitlichen Meinung der Mitglieder. Damit war die Debatte innerhalb des Verbandes aber keineswegs wie gewünscht beendet. Linkskatholische Jugendliche sahen ihre gegensätzliche Meinung durch die Erklärung übergangen, wurden aber von der Bundesführung aus dem Verband ausgeschlossen. In der Wacht unterstützte Weiskirch die Mutmaßungen des BDKJ, dass „über deren kommunistische Fernsteuerung [. . . ] selbst bei eingefleischten Gegnern eines deutschen Verteidigungsbeitrages kein Zweifel mehr [bestehe]“. Eine Diskussion wurde verhindert und die Wacht folgte dem Kurs des Bundes und der Kirche, die ihre Mitglieder unter „Konformitätsdruck“ (Anselm Doering-Manteuffel) setzte: Eingegangene kritische Leserbriefe zum Thema Elmstein wurden nicht veröffentlicht. Auch die Junge Stimme erhielt negative Rückmeldung, weil sie nach Ansicht einiger Leserinnen und Leser trotz der nach wie vor gespaltenen Haltung in der Evangelischen Kirche und Jugend zunehmend Stellung für einen Wehrbeitrag zu beziehen schien. So schreibt der -jährige Oberschüler Dietrich G., er wolle keine vorgefertigte Meinung eines Erwachsenen lesen, sondern sich eine eigene bilden und fordert daher, dass die Junge Stimme es unterlasse, „uns eine Meinung in politischen Dingen zu empfehlen“. Auch Friedrich G. aus Bremen warnt die
Vgl. Willi Weiskirch, Endlich wieder Soldaten. Schlagzeilen unter der Lupe, in: Wacht, Jg. , H. , . Die linkskatholische Jugend formierte sich im Arbeitskreis katholischer Jugend gegen die Wiederaufrüstungspolitik. Siehe hierzu Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung, S. −; zu ihrer Presse ausführlich bei Stankowski, Linkskatholizismus, S. −. Willi Weiskirch, Elmsteiner Erklärung gebilligt, in: Wacht, Jg. , H. , ; DoeringManteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung, S. . Vgl. ebd., S. ; Spotts, Kirchen und Politik, S. . Zuschrift von Dietrich G., in: Junge Stimme, Jg. , H. , .
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Redaktion davor, „in dieser ganz bestimmten politischen Angelegenheit eine einseitige und – sanft-kluge Beeinflussung dieser Jugend in Ihrem Sinne“ zu versuchen; lieber solle die Zeitung auf Diskussion setzen. Der Eindruck der Leserinnen und Leser bestätigt sich in der Lektüre: Die Zustimmung der Jungen Stimme, vertreten insbesondere durch die Artikel von Chefredakteur Stammler, war aber keineswegs eine Zustimmung aus voller Überzeugung, sondern formte sich aus rationaler Einsicht, da der Wehrbeitrag mehr oder weniger beschlossene Sache war. Im Unterschied zur Wacht scheute Stammler aber nicht die Auseinandersetzung mit und zwischen den Leserinnen und Lesern, sondern richtete im September ein eigenes Diskussionsforum ein, um die Meinung der Jugendlichen zum Thema Kriegsdienstverweigerung einzuholen. Es wurde aber vor allem dazu genutzt, sich allgemein zum Thema Wehrbeitrag zu äußern.
Was schreiben die Leserinnen und Leser? Zur unterschiedlichen Debattenführung in der konfessionellen Jugendpresse Junge Stimme – Breite Debatte um das Für und Wider
Aus den Beiträgen zum eröffneten Forum und den vielen weiteren Zuschriften, die in der Rubrik „Stimmen an die Junge Stimme“ abgedruckt wurden, lässt sich ein Profil der Positionierung der Leserschaft erstellen und mit jenen Argumentationen vergleichen, die von Seiten der Redaktion sowie aus der Kirche, Politik und der westdeutschen Öffentlichkeit vorgelegt wurden, um sich damit entweder für oder gegen die Wiederbewaffnung zu äußern. Bei der Analyse der Befürworter bestätigen sich unter den Leserinnen und Leser der Jungen Stimme zunächst die Thesen von Schelsky und Wiesendahl: Die Angst vor der sowjetischen Bedrohung, vor dem Kommunismus und dem Untergang des christlichen Abendlandes bildete das hauptsächliche Motiv, die Remilitarisierung zu unterstützen: Alle Welt weiß, daß der Kommunismus darauf bedacht ist, viel Raum zu gewinnen. In Europa sind wir Westdeutschen vielleicht sein nächstes Ziel. Also müssen wir unser Land vor ihm schützen. – Horst Werner L., Jahre, Bäckerlehrling Zuschrift von Friedrich G., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Siehe etwa zum Abschluss der Diskussionsreihe: Der Krieg erfasst einen jeden. Unsere Stellungnahme zur Diskussion über die Kriegsdienstverweigerung, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Diskussionsreihe in: Junge Stimme, Jg. , H. −, . Zuschrift von Werner L., in: Junge Stimme, Jg. , H. , .
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Abb. : Diskussionsforum zu Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung. Quelle: Junge Stimme, Nr. , Jg. von .
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Ich bin der Meinung, daß die deutsche Jugend dem Kommunismus keinen besseren Dienst tun kann, als den Militärdienst abzulehnen. – Alexander N., Jahre, Werkzeugmacher
Damit segelten sie auf dem Kurs von Adenauer und dessen CDU. Diese hatten jenes Bedrohungsszenario in der Debatte entworfen; zur Ikone wurde das Wahlplakat der CDU von mit der Aufschrift „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“ unter dem bedrohlichen Blick eines sowjetischen Soldaten. Zugleich lässt sich auch der von Schelsky attestierte große Freiheitsdrang hierin als Wunsch der Freiheit vom Kommunismus wiederfinden und diese im Notfall auch mit der Waffe zu verteidigen: [W]as mich dazu veranlaßt, für eine Remilitarisierung einzutreten, ist die Tatsache, daß ich später einmal [. . . ] meinem Beruf frei nachgehen möchte und nicht mein ganzes Leben unter dem Druck und der Tyrannei eines kommunistischen Regimes zubringen will. – Günter H., Jahre, Schüler Entweder sagen wir „Ja“, nehmen die Waffe wieder zur Hand und kämpfen gegen den Bolschewismus und sterben, wenn es sein muß, als freie Menschen, oder wir sagen „Nein“ und werden damit zu Knechten der russischen Machthaber, müssen für den Bolschewismus kämpfen und gehen als Sklaven elendig zu Grunde. – Dietmar B. Die Sowjetunion möchte zu gerne aus ganz Deutschland eine DDR machen. Das deutsche Volk will aber in Freiheit leben und nicht in Knechtschaft. – Claus-Jürgen A., Jahre, und Wolfgang R., Jahre, Bergmannslehrlinge
Andere positive Begründungen spielen für die Leserinnen und Leser der Jungen Stimme keine Rolle: Die Wiederbewaffnung wurde von ihnen nicht als Wegmarke für die europäische Einigung, für die Erreichung staatlicher Souveränität oder für die deutsche Wiedervereinigung wahrgenommen – Argumente, die in der politischen und gesellschaftlichen Debatte eine große Rolle spielten. Besonders Letzteres verwundert, da die evangelische Gemeinde doch in viel stärkerem Maße als die katholische von der Teilung betroffen war. Jedoch waren protestantische Zuschrift von Alexander N., in: ebd. „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“, Plakat der CDU zur Bundestagswahl am .., Haus der Geschichte, Bonn. Zuschrift von Günter H., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Dietmar B., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Claus-Jürgen A. und Wolfgang R., in: Junge Stimme, Jg. , H. , .
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Kritiker wie Gustav Heinemann auch überzeugte Gegner der Argumentation, eine Wiedervereinigung Deutschlands könne nur mit einem starken, d. h. militärisch gerüsteten Westdeutschland erreicht werden. Gleichzeitig zeugen einige Einsendungen auch davon, dass die Zustimmung zum Wehrbeitrag nicht aus Überzeugung erfolgte, sondern – wie bei Stammler und Weiskirch – als Notwendigkeit akzeptiert und als staatsbürgerliche Pflicht anerkannt wurde, ohne eine positive individuelle Begründung zu enthalten. Die Argumente der Gegner und Kritiker waren vielfältiger und spiegeln das breite Spektrum der gesamtgesellschaftlichen Debatte wider. In vielen Fällen begründete sich die Ablehnung aus einer eher unbestimmten, individuellen „Ohne mich“-Haltung, die aus persönlicher Erfahrung mit Krieg und Kriegsfolgen resultierte und häufig mit einem grundsätzlichen Pazifismus und Friedenswillen verbunden war. Damit in Zusammenhang stehen auch jene ablehnenden Beiträge, die jede Form von kriegerischer Gewalt aufgrund der fortschreitenden Technisierung, Stichwort Atomwaffen, ablehnten. Groß war auch die Angst vor einem Wiedererstarken von Militarismus durch Wiederaufrüstung: [Wir sollten] uns überlegen, ob nicht die moderne Technik denen, die meinen nicht ohne Kriegführen in der Welt auszukommen, Vernichtungsmittel in die Hand gibt, die einfach alles menschliche Maß übersteigen. – F.V.L., Jahre Mir ist eines klar: Wir müssen unter allen Umständen verhindern, daß in Deutschland Krieg geführt wird. [. . . ] Krieg ihrem Krieg! Das hieße: Passiver Widerstand in Ost- und Westdeutschland, keinen Handschlag für ihren Krieg leisten. – Erich W., Jahre Bei manchem, der aus dem Kriege zurück kam, ist sein Bedarf an Schädelspalten so gedeckt, daß er lieber seinen eigenen Schädel hinhalten würde, als daß er noch einmal einem einzigen anderen Menschen ein Haar krümmen wolle. – Jürgen S., Student Außerdem bezweifle ich, daß der Kommunismus die ganze freie Welt überrollen könnte, falls keine deutschen Soldaten da wären. – Peter G., Jahre, Schriftsetzerlehrling Eine ausführliche Übersicht zu den verschiedenen Argumenten und ihren Vertretern bietet Sören Philipps, Die Frage der Wiederbewaffnung im Hörfunkprogramm des Nordwestdeutschen und Süddeutschen Rundfunks von bis /, Berlin , S. −. Zuschrift von Armin Sch., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von F.V.L., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Erich W., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Jürgen S., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Peter G., in: Junge Stimme, Jg. , H. , .
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Die Wiederbewaffnungsgegner innerhalb der Evangelischen Kirche um Niemöller und Heinemann kritisierten, dass die Remilitarisierung nicht nur auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit erfolge, sondern dass sie die deutsche Teilung zementiere und unweigerlich zu einem deutschen Bruderkrieg führen würde, in der Deutsche auf Deutsche schießen müssten. Diese Positionen fanden in der Jugend durchaus Unterstützung: Für die Linderung der Flüchtlingsnot fehlte bisher das nötige Geld. – Hans Heinz T., Jahre, Student Ich werde mich aber niemals freiwillig zur Verfügung stellen, solange Deutschland in zwei Teile gespalten ist. [. . . ] Welcher deutsche Staatsmann kann mir eine hundertprozentige Sicherheit geben, daß ich im Falle eines Krieges nicht auf einen anderen Deutschen schießen muß? – Wolf Dieter F.
Wacht – Renitente Jungkatholiken?
Für die Wacht kann die Positionierung der Leserschaft nur bedingt eruiert werden, da hier wie gesagt nur wenige Leserbriefe abgedruckt wurden. Jedoch wurden in den bereits erwähnten Umfragen von und auch einige Fragen zur Haltung der Leserschaft bezüglich der Wehrfrage gestellt, wodurch ein recht gutes, wenn auch wenig ausdifferenziertes Bild erschlossen werden kann. Die Leserinnen und Leser wurden u. a. gefragt, ob sie für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag seien und ob sie sich freiwillig zum Waffendienst melden würden. Nach Auswertung von Zuschriften, zu etwa gleichen Teilen aus Nord- und Süddeutschland und zu zwei Dritteln von männlichen Lesern zwischen und Jahren, stimmten Prozent dem EVG-Vertrag zu. Zehn Prozent (darunter Stimmen von Mädchen) würden sich auch freiwillig zum Wehrdienst melden, während Prozent diese Frage mit einem klaren Nein beantworteten. In der christlich-konservativen Presse wurden die Umfrageergebnisse nicht rezipiert, „allzu beschämend“ seien die nur zehn Prozent Freiwilligen, wie es in der Wacht hieß. Dabei werde aber nicht beachtet, so der Kommentar der Redaktion weiter, wie schwer der Wehrbeitrag in der Jugend zu vermitteln war und dass nun keiner mit „Hurra-Stimmung“ und einem „Run der deutschen Jugend auf
Vgl. Spotts, Kirchen und Politik, S. . Zuschrift von Hans Heinz T., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Wolf Dieter F., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Vgl. Was die Wachtleser meinen, in: Wacht, Jg. , H. , .
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Abb. : Ergebnisse der Umfrage von Dezember . Quelle: Die Wacht, Nr. , Jg. von .
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Kasernen und Uniformen“ habe rechnen dürfen – dieser Soldatenkult sei „Gott sei Dank“ von den Alliierten ausgetrieben worden. In der Tat wichen die Ergebnisse der Lesererhebung doch deutlich von denen der Emnid-Jugendstudie ab, die im November erhoben wurde: Dort hatten Prozent der (hier nur männlichen) Befragten angegeben, gerne Soldat werden zu wollen. Bei der Wiederholung der Umfrage im Jahr mit u. a. der Frage „Halten Sie den deutschen Verteidigungsbeitrag in der NATO für gerechtfertigt?“ antworteten Prozent und damit ein wenig mehr als im Vorjahr mit Ja. Die Frage nach der Freiwilligenmeldung wurde leider nicht wiederholt. Jedoch wurden im Frühjahr erstmals Leserzuschriften zur Wehrfrage in größerem Umfang veröffentlicht und seitens der Redaktion um Diskussionsbeiträge gebeten. Die bisherige, restriktive Politik des BDKJ, der einen offenen Austausch von Argumenten auch unter den Leserinnen und Leser der Wacht verhindert hatte, wurde harsch kritisiert. Auch noch zwei Jahre nach der Elmsteiner Erklärung konnte von einer Geschlossenheit innerhalb der katholischen Jugend nicht die Rede sein. Dabei wurde aber weniger der eigentliche Inhalt, nämlich das Ja zur Wiederbewaffnung, infrage gestellt, sondern die – gerade im Vergleich zur Jungen Stimme – betriebene „einseitige Meinungslenkung“ seitens des Bundes und der Wacht. Irene M. schrieb, so würden „Jugendliche in ihrer persönlichen Entwicklung und Entfaltung zur Mündigkeit in Kirche und Gesellschaft“ nicht gefördert, sondern gehemmt. Dem schlossen sich auch andere an, u. a. ein erwachsener Leser, der kritisierte, dass hier „politische Entscheidungen ohne weiteres im Namen von einer Million dem Bunde der Deutschen Katholischen Jugend angehörigen Christen als selbstverständlich für diese alle hingestellt“ worden seien. Eine inhaltliche Diskussion zum Für und Wider des Wehrbeitrags fand allerdings nicht statt; lediglich drei Beiträge hierzu wurden abgedruckt. Ob dies aus mangelnden Zuschriften oder dem Unwillen der Redaktion resultierte, ist leider nicht rekonstruierbar. Zwei Leser bekundeten ihre Ablehnung zu Krieg und Militärdienst; und Valentin D. bat darum, „das abgedroschene Thema [. . . ] endlich einmal ruhen zu lassen“ und sich stattdessen lieber darüber zu unterhalten, wie sich die künftige Truppe gestalten solle.
Tendenz lustlos, in: Wacht, Jg. , H. , . Vgl. Emnid-Studie , S. − und S. −. Vgl. Stimmen gegen deutsche Soldaten, in: Wacht, Jg. , H. , . Zuschrift von Irene M., in: ebd. Zuschrift von Direktor Ferdinand K., in: ebd. Zuschrift von Valentin D. Alle abgedruckt in: Wacht, Jg. , H. , .
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What would Jesus do? – Christliche Argumentationen
Da es sich bei den Leserinnen und Lesern beider Zeitungen um junge Christinnen und Christen handelte, spielten in der Diskussion neben politischen Ansichten auch Glaubensfragen eine wichtige Rolle. Gerade die Gegner der Wiederbewaffnung beriefen sich sowohl in der Jungen Stimme als auch in der Wacht häufig auf die Lehren Jesu Christi, um ihre Ablehnung mit christlichen Argumenten zu untermauern: Christus muss unser Vorbild sein! [. . . ] Wo steht etwas im Neuen Testament von Verteidigung, Wehrhaftigkeit, Rüsten und Aufrüsten? – Sigurd D., Jugendleiterin der Sozialistischen Jugend Wer zur Waffe greift, auch nur um sich zu verteidigen, wer bewußt zu einem Krieg beiträgt, ist kein Christ. Durch eine derartige Haltung beweist er, daß er kein Vertrauen hat in die Macht Gottes, die ihn in der schlimmsten Gefahr führen wird. – Peter W., Jahre, Student [I]ch lehne den Kriegsdienst nicht aus „Feigheit“ ab, sondern weil Christus es nicht will, und es mir unmöglich ist, das Leben eines Menschen zu verkürzen, an dem Gott noch wirken könnte! – Dietrich G., Jahre, Schüler Immer dann, wenn ein Unrecht geschieht, weil die Untat von einem denkenden Menschen begangen wird, ist die wirksamste Waffe die waffenlose Gewalt, wie sie uns Christus lehrte! – K.H.B., Metallarbeiter und Jungscharführer Fragen wir uns einmal, was würde Christus – unser Herr – wohl zur Wehrpflicht und zur EVG sagen. Würde er sich – wenn er heute unter uns als Mensch lebte – der Wehrpflicht nicht entziehen, wie der heilige Pfarrer von Ars sich ihr entzogen hat? [. . . ] Haben wir als Christen nicht die Pflicht, so zu handeln, wie Christus wohl an unserer Stelle handeln würde? – Fritz B.
Auch bei den Befürwortern des Wehrbeitrages wurden gelegentlich christliche Motivationen genannt – verbunden mit der Abwehr des Kommunismus zum Schutz des Glaubens und der abendländisch-christlichen Kultur. Insbesondere die Zuschrift von Kaspar L. vom Frühjahr an die Junge Stimme sorgte für Aufregung und anhaltende Diskussion. Der -Jährige schrieb:
Zuschrift von Sigurd D., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Peter W., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Dietrich G., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von K.H.B., in: Wacht, Jg. , H. , . Zuschrift von Fritz B., in: ebd.
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Der Kommunismus würde die ganze freie Welt überrollen und die Kirche müßte sich ihm, wie die russische Kirche, anschließen oder ein Katakombendasein führen. Also könnte der deutsche Wehrbeitrag sogar als eine Verteidigung des Christentums angesehen werden.
Die Redaktion verwahrte sich – ebenso wie die EKD und das Positionspapier der Evangelischen Jugend von in Elmstein – gegen die Vereinnahmung des Christentums für den Wehrbeitrag. Stammler schrieb in einem Leitartikel als Reaktion auf Kaspar L.s Leserzuschrift, dass im Namen Christi niemand zu den Waffen greifen dürfe und dass die Wiederbewaffnung nicht mit einer Verteidigung des Christentums begründet werden könne: „Es wäre ein Hohn für den, der am Kreuz starb, wenn im Zeichen dieses Kreuzes Armeen mobilisiert würden.“ Die Mehrheit der Leserzuschriften, die auf Kaspar L.s Brief antworteten, sah dies ähnlich. Gleichzeitig jedoch erteilte Stammler auch den vielen pazifistischen Stimmen, die in Nachfolge Christi die Gewalt ablehnten und einen Wehrbeitrag als Vertrauensbruch mit Gottes Willen deuteten, eine Absage: „Wer im Namen Christi grundsätzlich auf jede Verteidigung verzichtet, muß zu den gleichen Konsequenzen bereit sein wie er“, schreibt Stammler, und dies könne keiner der jungen Menschen heute für sich in Anspruch nehmen. Ein akzeptiertes und auch von Stammler und insbesondere von den Wehrgegnern in der EKD benutztes Motiv war jedoch die Frage des Bruderkrieges, den es zu verhindern gelte und die Sorge um den Teil der evangelischen Gemeinde, der in der DDR lebte. In vielen Beiträgen wurde die christliche Solidarität mit den Brüdern und Schwestern im Osten als Punkt genannt, sich gegen einen Wehrbeitrag auszusprechen. Die starke Reaktion auf die von Kaspar L. angedeutete Vereinnahmung des Glaubens für den Krieg lässt sich mit einem Blick auf die Geschichte der beiden Weltkriege erklären. Insbesondere im Ersten Weltkrieg hatten sich die Kirchen, vor allem die Evangelische Kirche, für die Kriegspropaganda vereinnahmen lassen. Die Pfarrer predigten von den Deutschen als dem auserwählten Volk, das sich seinen Platz in der Welt erstreiten müssegneten Waffen und schickten ihre jungen Gemeindeglieder in den Krieg, ohne deren Gewissenszweifel anzuhören. Kriegsdienstverweigerung wurde strikt abgelehnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg
Zuschrift von Kaspar L., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Eberhard Stammler, Wohlstand ohne Waffen?, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Leserzuschriften in: Junge Stimme, Jg. , H. −, . Stammler, Wohlstand ohne Waffen? Vgl. u. a. Zuschrift eines Abiturienten in: Junge Stimme, Jg. , H. , ; Zuschriften von Klaus H., in: Junge Stimme, Jg. , H. , und von Eberhard B., in: Junge Stimme, Jg. , H. , .
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begann in der Evangelischen Kirche ein Umdenken, welches sich hier niederschlägt. Hierbei trat die EKD vor allem für die konsequente Durchsetzung des Verweigerungsrechtes ein. Der BDKJ und damit auch die Wacht hatten sich in der Frage der Wiederbewaffnung früh positioniert und hielten auch an diesem Entschluss fest. Auch in der Jungen Stimme kann ab eine zunehmende Tendenz zur Akzeptanz des Wehrbeitrags herausgelesen werden. Beide Redaktionen wendeten sich daher vor allem der Gestaltung der neuen Wehrmacht zu, worauf im Folgenden eingegangen werden wird. In der Leserschaft hingegen war dies noch lange nicht akzeptiert und so gingen die Diskussionen in der Jungen Stimme bis Ende noch darum, ob überhaupt eine Wiederbewaffnung erfolgen solle – auch wenn diese Frage zu diesem Zeitpunkt politisch längst entschieden war. In der Wacht hingegen führte die monologe Kommunikation ohne Einbezug der Leserinnen und Leser dazu, dass keine Diskussion geführt wurde. Dies sorgte für Unmut, jedoch änderte sich nach einer einmaligen Veröffentlichung von kritischen Leserzuschriften die Interaktionsstrategie nicht.
Die inhaltliche Mitgestaltung an den neuen Streitkräften
Wie würde die zukünftige deutsche Wehrmacht aussehen? Aus der Elmsteiner Erklärung ging klar hervor, dass die Zustimmung der katholischen Jugend zur Wiederbewaffnung abhängig von der Umsetzung eines seit unter der Ägide von Wolf Graf von Baudissin im Amt Blank, dem Vorläufer des Verteidigungsministeriums, ausgearbeiteten Reformkonzepts zur inneren Verfasstheit der Streitkräfte gemacht wurde. Auch jene Teile der evangelischen Jugend, die ihre Unterstützung bzw. Akzeptanz der Remilitarisierung signalisiert hatten, schlossen sich dieser Bedingung an. In einem Beitrag für die Junge Stimme erläuterte Baudissin das Konzept der Inneren Führung: Aufgabe der Innern Führung ist es [. . . ], die institutionellen, erzieherischen und betreuerischen Vorbedingungen zu schaffen, damit sich in der Truppe ein Geist
Vgl. Ehlert, Innenpolitische Auseinandersetzungen, S. −. Vgl. Elmsteiner Erklärung vom ./... Wenn eine Wehrmacht kommen sollte, in: Junge Stimme, Jg. , H. , .
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entwickeln kann, der in vollem Einklang mit den sittlichen Grundlagen und Wesensformen unserer freiheitlichen Lebensordnung steht.
Denn, so Baudissin weiter, nur so könne er diese Werte auch unter Einsatz seines Lebens verteidigen. Das heißt, der Soldat verpflichtet sich den Werten der Demokratie und verrichtet seinen Dienst als vollwertiger Staatsbürger – frei von militärischer Willkür und Schikane (Stichwort Kommiss), unter parlamentarischer wie öffentlicher Kontrolle und mit (eingeschränkten) Grundrechten ausgestattet. So sollten die Loslösung des Soldaten von der Gesellschaft, wie sie in der Vergangenheit erfolgt war, verhindert und überholte Traditions- und Wertevorstellungen überwunden werden. Die Umsetzung dieses Reformansatzes wurde von der Presse mit Argusaugen überwacht – sowohl die Wacht als auch die Junge Stimme berichteten regelmäßig über neue Entwicklungen. Über den Stand der Konzeption und Umsetzung waren beide Redaktionen sehr gut informiert, denn die Jugendverbände und Redakteure trafen schon von an regelmäßig mit Blank, Baudissin und anderen Mitarbeitern der Planungsstelle zusammen, um Meinungen auszutauschen und Kritik zu üben. Ihr Einfluss dabei sollte nicht unterschätzt werden, auch im Bundestag und in dessen Verteidigungsausschuss wurden die Stimmen aus der Jugend und ihrer Presse gehört und diskutiert. Schon vor der Elmsteiner Tagung war es zu einem ersten Treffen gekommen, im August richtete der DBJR einen umfangreichen Fragenkatalog an das Amt Blank, welcher, so Hans-Jürgen Rautenberg, deutlich vom starken Individualismusbedürfnis der Jugend gekennzeichnet war und der verdeutlichte, dass die junge
Wolf Graf von Baudissin, Der alte Kommiss darf nicht wiederkommen, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Vgl. auch Vortrag Baudissins vor dem Bundesjugendring, gedruckt als: Wolf Graf von Baudissin, Das Leitbild des zukünftigen Soldaten, in: Deutsche Jugend, Jg. , H. , , S. −. Vgl. Dietrich Genschel, Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitung der Inneren Führung −, Hamburg , S. ; Ehlert, Innenpolitische Auseinandersetzungen, S. f.; „Wenn eine Wehrmacht kommen sollte ...“, in: Junge Stimme, Jg. , H. , ; Wir sind nicht gefragt worden (Leserbericht über eine Veranstaltung mit Vertretern des Amts Blank), in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Siehe etwa die Beiträge der Bundestagsabgeordneten Adolf Arndt und Fritz Erler, der Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers und Eugen Gerstenmeier sowie Conrad Ahlers, des Pressechefs von Blank, in der Jungen Stimme; dazu zitierte Fritz Erler, stellv. Vorsitzender des Verteidigungsausschusses Ausschnitte aus einem offenen Brief Stammlers an Blank im Plenum des Bundestages, siehe: Stenographische Protokolle des Deutschen Bundestages, . Sitzung, .., S. −, hier S. f.
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Generation ihre erworbenen Freiheitsrechte nicht angetastet wissen wollte. Auch die Leserzuschriften zeigen, welche Befürchtungen angesichts der neuen Armee bestanden: Angst vor Kommiss und Drill, Angst vor einem wiedererstarkenden Militarismus, Angst vor Beschränkung der persönlichen Rechte und Freiheiten. Das Misstrauen gegen alles, was altes Militär ist, kann nicht groß genug sein und es ist unerläßlich, das absolute Sicherheiten geschaffen werden, daß man die Jugend nicht wieder malträtieren kann. – R. Sch. Nach meiner persönlichen Meinung ist das die größte Gefahr: der deutsche Offizier wird in Kürze wieder ein Mensch erster, ja allererster Klasse sein, daran werden keine Bundestagsbeschlüsse noch Gehaltskürzungen etwas ändern. Das liegt uns im Blut. – Rudolf K. Bitte, machen Sie Ihren, oder sonstigen Einfluß geltend, daß Ausgang ab . Tag auch ohne Uniform möglich ist. – Theodor Sch. [N]ichts wäre angesichts der kommenden Wiederbewaffnung schädlicher als ein neuer Einfluß jener Kreise, die heute den ,Stahlhelm‘ [Wehrverband, F.H.] repräsentieren. – Willi K.
Die Mitarbeiter des Amts Blank beantworteten den Fragebogen ausführlich und versuchten, Vorbehalte und Argwohn abzubauen. Verteidigungsminister Blank selbst versprach in einem Zeitungsbeitrag kurz nach der Bundestagswahl , dass der Kommiss nicht wiederkommen werde: „Die deutsche Jugend würde es nicht verstehen, wenn sie noch einmal in dem Geist erzogen werden sollte, der das Unglück zweier Kriege mit herbeigeführt hat.“ Der BDJK indes veröffentlichte wiederum eine eigene umfangreiche Stellungnahme, die als Diskussionsgrundlage über die Gestaltung der Streitkräfte dienen sollte. Darin pochten die jungen Katholikinnen und Katholiken auf umfangreiche
Rautenberg, Standortbestimmung, S. . Zuschrift von R. Sch., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Rudolf K., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Theodor Sch., in: Wacht, Jg. , H. , . Zuschrift von Willi K., in: ebd. Vgl. Ein Fragenkatalog des Bundesjugendringes und die Antworten der Dienststelle Blank (August ), in: Der deutsche Soldat in der Armee von morgen, S. −. Siehe hierzu Genschel, Wehrreform und Reaktion, S. f. Theodor Blank, Deutschlands Beitrag zur Verteidigung, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Jg. , H. , , S. f., hier S. . Der Beitrag wurde ursprünglich im Londoner Abendblatt Star veröffentlicht.
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Maßnahmen zur zivilen Kontrolle, gleichzeitig unterstützten sie die Regierungspläne zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Ausdrücklich betonte die Denkschrift aber auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Die Dienststelle und der DBJR blieben stets in Kontakt. Dabei hatte insbesondere die von Baudissin an den Tag gelegte Gesprächsbereitschaft gegenüber der Jugend großen Anteil am Wandel von Ablehnung zu „skeptischer Tolerierung“ der Wiederbewaffnung. In den Redaktionen und auch in der Leserschaft fanden Baudissin und seine Reformpläne große Unterstützung, die deutlich wurde, als dunkle Wolken aufzogen: Schon seit warnte insbesondere die Wacht vor der Gefahr einer Rückkehr von Kommissgeist und Militarismus. Um die Gefahr zu veranschaulichen, verfasste Weiskirch eine kleine Broschüre: In Nie wieder Kommiß! erzählt er von seinen eigenen Erfahrungen in der Kaserne, von der Misshandlung von Kameraden durch die Ausbilder und der Sinnlosigkeit von Drill und starrer Disziplin im Kriegseinsatz. Die Sorgen waren dabei durchaus nicht unbegründet, denn in militärischen Kreisen war das Baudissin’sche Konzept durchaus umstritten, da die „Traditionalisten“ die militärische Effizienz gefährdet sahen und mit den alten soldatischen Tugenden, die im Widerspruch zu den Reformplänen standen, nicht abschwören wollten. Daher rief Weiskirch wiederholt seine Leserinnen und Leser dazu auf, sich stärker gegen militaristische Tendenzen zu engagieren, wachsam zu bleiben und gegen die zunehmende Vergangenheitsvergessenheit zu arbeiten. Doch Reaktionen darauf können in der Wacht nicht ausgemacht werden; ob dies nun mit einem mangelnden Interesse oder mit der Leserbriefpolitik begründet werden kann, lässt sich leider nicht feststellen. Stellungnahme des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend zu Fragen des Inneren Gefüges der deutschen Streitkräfte in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in: Der deutsche Soldat in der Armee von morgen, S. −, hier S. . Siehe dazu auch Thomas Greif, Noch kann man mitreden, in: Wacht, Jg. , H. , . Rautenberg, Standortbestimmung, S. . Baudissin nahm mehrmals an Sitzungen des Rings und an Diskussionsrunden mit Jugendlichen zum Thema Wiederbewaffnung teil, vgl. Jeder Jugendliche ist heute erholungsbedürftig, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Willi Weiskirch, Nie wieder Kommiß! Es muss alles anders werden. Acht Kapitel für Rekruten und solche, die es werden wsollen, Würzburg . Vgl. Dieter Krüger/Kerstin Wiese, Zwischen Militärreform und Wehrpropaganda. Wolf Graf von Baudissin im Amt Blank, in: Rudolf J. Schlaffer/Wolfgang Schmidt, Hg., Wolf Graf von Baudissin −. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung, München , S. −, hier S. −. Vgl. u. a. Wir haben Sorgen. Oder: Die Nazis sind unter uns, in: Wacht, Jg. , H. , ; Nazis unter uns, in: Wacht, Jg. , H. , ; Theodor Blank, in: Wacht, Jg. , H. , .
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In der Jungen Stimme, deren Redaktion dem Problem des erstarkenden Militarismus weniger Beiträge widmete , wurde hingegen auch zu diesem Thema freudig diskutiert, wobei sich vor allem die Befürworter von Drill und Disziplin zu Wort meldeten. Andere sahen sich wohl mit den Äußerungen der Redaktion gut vertreten und verzichteten daher auf kritische Zuschriften: Diese Haltung [. . . ] ist in den meisten Fällen der Ausdruck von Feigheit, Mangel an Opferbereitschaft und Verständnislosigkeit gegenüber der gemeinsamen Gefahr unseres Volkes, nur weil durch den Kommiß die persönliche Freiheit beschränkt wird. – Dieter B., Jahre, Jurastudent Wenn man das ständige Gerede nach Aufsicht des Parlaments, nach Kontrolle und nach Sicherheit hört, könnte man meinen, diese Herren Volksvertreter halten die neue Wehrmacht für eine weit größere Gefahr, als sämtliche kommunistische Unterwanderungsbestrebungen etwa im DGB. – Gerhard Sch., Jahre, Banklehrling
Am Ende zeigte sich, dass sich der Kampf und die ständige Ermahnung gelohnt hatten: Die Forderungen, die der BDKJ formuliert hatte und die in den Zeitungen immer wieder ins Gedächtnis gerufen worden waren, wurden mehrheitlich umgesetzt, wenngleich sie nicht von allen gern akzeptiert wurden und Ideal und Wirklichkeit in mancher Hinsicht auseinanderklafften. In der verankerten politischen und zivilen Kontrolle der Bundeswehr durch das Ministerium, Parlament und die Öffentlichkeit spielten − wie bereits erwähnt – auch die beiden Chefredakteure eine persönliche Rolle: Stammler begründete den Beirat für Fragen der Inneren Führung zur Beratung des Verteidigungsministers, Weiskirch bekleidete in den er Jahren das eingeführte Amt des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags.
Zusammenfassung
Gezeigt werden konnte, dass die Wiederbewaffnung in der konfessionell organisierten Jugend ein vieldiskutiertes Thema war, bei dem unterschiedliche Meinungen vorherrschten und ausgetauscht wurden. Diese standen bei Weitem nicht immer Vgl. etwa Eberhard Stammler, Wir bleiben wachsam, in: Junge Stimme, Jg. , H. , ; ders., Vor der Zerreissprobe, in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Dieter B., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Zuschrift von Gerhard Sch., in: Junge Stimme, Jg. , H. , . Vgl. Bald, Bundeswehr, S. f.
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im Einklang mit denen der Kirchenorganisationen, sondern es entwickelten sich eigene Schwerpunkte. Vor allem die Kritikerinnen und Kritiker der Remilitarisierung meldeten sich zu Wort: Hier nahmen besonders der Schutz der persönlichen Freiheit hinsichtlich staatlicher Eingriffe auf die eigene Lebensgestaltung und die aus dem Selbstverständnis als Christinnen und Christen hervorgehende Nächstenliebe großen Raum ein. Doch auch die Befürworterinnen und Befürworter der bundesrepublikanischen Wehrpolitik waren zahlreich und wortstark. Die Redaktionen beider Zeitungen gingen jedoch sehr unterschiedlich mit ihrer Leserschaft und deren Diskussionsbedürfnis um: Während die Junge Stimme unentwegt den Austausch mit den Leserinnen und Leser suchte und den Dialog zwischen den Jugendlichen förderte, verlief die Kommunikation der Wacht weitgehend einseitig und beschränkte sich auf Information; über die Meinungen der Leserinnen und Leser lässt sich daher nur wenig erfahren. Daraus jedoch zu schlussfolgern, die katholische Jugend habe sich einem kirchlichen Konformitätsdruck gebeugt und sei weniger diskussionsfreudig gewesen als ihre evangelischen Altersgenossinnen und Altersgenossen, wäre falsch. Die Hinweise aus den wenigen veröffentlichten Zuschriften und den beiden Umfragen sowie den Querelen innerhalb des Bundes deuten darauf hin, dass auch innerhalb der katholischen Jugend über dieses politische Thema nachgedacht und diskutiert wurde – allerdings wurde den kritischen Stimmen in der Wacht kein Forum geboten. Gemeinsam war beiden Zeitungen, dass sie die Wiederbewaffnung pragmatisch unterstützten und im Interesse ihrer Leserinnen und Leser kritisch begleiteten. Dazu gehörte neben der Berichterstattung über die politischen Entwicklungen auch die aktive Einmischung in die öffentliche Debatte mittels Artikeln und direkter Konfrontation mit den Verantwortlichen im Amt Blank und im Parlament. Hierbei profilierten sich vor allem die beiden Chefredakteure als Experten für Wehrpolitik, was ihren weiteren Lebensweg maßgeblich prägen sollte. Auch die Jugendlichen konnten sich mit ihren Leserbriefen Gehör für ihre politischen Anliegen verschaffen. Dieses rege genutzte Mittel relativiert zumindest für den hier betrachteten Ausschnitt der Jugend die zeitgenössischen Aussagen des Soziologen Helmut Schelsky. Wie in der Analyse herausgearbeitet wurde, können die Leserinnen und Leser der Jungen Stimme und in weniger ausgeprägtem Maße auch die der Wacht kaum als entpolitisiert bezeichnet werden. Jedoch ließ sich auch feststellen, dass sich die Leserinnen und Leser trotz der ab spätestens unumstößlich feststehenden Entscheidung für westdeutsche Streitkräfte wenig für deren innere Gestaltung interessierten, obwohl sie durch die Redaktion dauerhaft und umfassend über die aktuellen Entscheidungen und Probleme informiert wurden. Sie verharrten in der Grundsatzdiskussion um ein „Ob“ und schienen
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die sich gewandelten realen Gegebenheiten nicht wahrzunehmen oder nicht hinnehmen zu wollen.
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Evangelisches Zentralarchiv, Berlin EZA /, Junge Stimme Zeitungen und Pressedienste Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt epd Junge Stimme Wacht Gedruckte Quellen Aktionsgemeinschaft der Jugendverbünde gegen den Militarismus?, in: Deutsche Jugend, Jg. , H. , , S. f. Wolf Graf von Baudissin, Das Leitbild des zukünftigen Soldaten, in: Deutsche Jugend, Jg. , H. , , S. −. Theodor Blank, Deutschlands Beitrag zur Verteidigung, in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Jg. , H. , , S. f. Der deutsche Soldat in der Armee von morgen. Wehrverfassung, Wehrsystem, Inneres Gefüge (Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik e.V., Mainz ), München . Elmsteiner Erklärung namens des Bundes der deutschen katholischen Jugend zum deutschen Verteidigungsbeitrag vom ./.., in: Heinz Hürten, Hg., Katholizismus, staatliche Neuordnung und Demokratie −, Paderborn , S. −. Emnid-Institut für Meinungsforschung, Hg., Jugend zwischen und . Eine Untersuchung zur Situation der deutschen Jugend im Bundesgebiet, Bielefeld . Emnid-Institut für Meinungsforschung, Hg., Jugend zwischen und . Zweite Untersuchung zur Situation der deutschen Jugend im Bundesgebiet, Bielefeld . Jugend . Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt a.M. . Kommuniqué über die Konferenz von Potsdam, .., abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, II. Reihe, Bd. I: Die Konferenz von Potsdam,
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Dritter Drittelband, bearbeitet von Gisela Biewer, Neuwied/Frankfurt a.M. , S. −. Ursula Loch, Die Schüler- und Jugendzeitschriften, in: Walter Hagemann, Hg., Die deutsche Zeitschrift der Gegenwart, Münster , S. −. Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann, Hg., Jahrbuch der öffentlichen Meinung −, Allensbach . Aufl. . Stenographische Protokolle des Deutschen Bundestages, . Wahlperiode. Willi Weiskirch, Nie wieder Kommiß! Es muss alles anders werden. Acht Kapitel für Rekruten und solche, die es werden wsollen, Würzburg . Sekundärliteratur Detlef Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte −, München . Friedhelm Boll, Jugend im Umbruch vom Nationalsozialismus zur Nachkriegsdemokratie, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. , , S. −. Die deutsche Presse . Zeitungen und Zeitschriften, hg. vom Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin, Berlin . Anselm Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage – (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe B, Forschungen ), Mainz . Hans Ehlert, Innenpolitische Auseinandersetzungen um die Pariser Verträge und die Wehrverfassung bis , in: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hg., Anfänge Westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. : Die NATO-Option, München , S. −. Dietrich Genschel, Wehrreform und Reaktion. Die Vorbereitung der Inneren Führung −, Hamburg . Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München . Martin Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland −, Paderborn . Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach , Stuttgart , S. −. Dieter Krüger/Kerstin Wiese, Zwischen Militärreform und Wehrpropaganda. Wolf Graf von Baudissin im Amt Blank, in: Rudolf J. Schlaffer/Wolfgang Schmidt, Hg., Wolf Graf von Baudissin −. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung, München , S. −.
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Christoph Hilgert
Der junge Hörer, das unbekannte Wesen: Programmangebote für Jugendliche im westdeutschen Hörfunk in der Mitte des 20. Jahrhunderts Am Mittwoch, dem . Februar , begrüßte Hörfunksprecherin Margot Steiert um Uhr die Hörerinnen und Hörer der aktuellen Ausgabe der JugendfunkSendereihe Wir jungen Menschen im Mittelwellenprogramm des Südwestfunks (SWF) mit folgender Ansage: Liebe Freunde! Wie Ihr beim Abhören unseres Programms schon selbst festgestellt haben werdet, ist der Jugendfunk bemüht, den Wünschen aller Jugendlichen nachzukommen. In der letzten Zeit nun, da hat Euch der Jugendfunk mit den Gegenwartsproblemen in Berührung bringen wollen. Innerhalb unserer Sendungen kamen verschiedene Jugendgruppen zu Wort, Fragen des Tages wurden aufgegriffen, so Fragen der Jugendamnestie, der Entnazifizierung usw. In unserer heutigen Sendung bringen wir Euch nun einen Vortrag, der sich besonders an jene an den geistigen Problemen unserer Jugend interessierten Hörer wendet. Herr Direktor Wollasch verliest seine ,Bemerkungen zur geistigen Lage der jungen Generation‘.
Die Anmoderation ist charakteristisch für die Art und Weise, wie junge Hörerinnen und Hörer in jenen Jahren im westdeutschen Hörfunk, speziell im Jugendfunk, angesprochen wurden. Das betrifft den vertraulichen, durch das Duzen verbrüdernden, insgesamt aber doch verbindlich formellen Stil der Ansprache. Das gilt ferner für den für Jugendliche eher ungünstigen Sendeplatz am frühen Nachmittag eines Werktags. Die annoncierten Darstellungsformen und die Themen sind gleichfalls typisch für diese Zeit: Der Vortrag war bis weit in die er Jahre hinein ein dominantes Format im Hörfunk und die „Fragen des Tages“ verweisen auf drängende Probleme der gesellschaftlichen Neuorientierung in der
O.A., Sendemanuskript „Wir jungen Menschen“, .., .–. Uhr, Südwestfunk (SWF), Mittelwelle (MW), o.S., Historisches Archiv des Südwestrundfunks (HA SWR): SWF /I/ Ms., Unterstreichung im Original.
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Der junge Hörer, das unbekannte Wesen
Nachkriegszeit. Ebenso verhält es sich mit dem angekündigten Redner. Hans Wollasch war Leiter einer Einrichtung der Wohlfahrtspflege für Jugendliche in Freiburg im Breisgau. Diese berufspraktische und regionale Expertise empfahlen ihn für eine Stellungnahme im Jugendfunk des SWF. Steierts Ansage verdeutlicht, in welchem Spannungsverhältnis der prominent formulierte Anspruch einer an „den Wünschen aller Jugendlichen“ orientierten Programmgestaltung und dessen tatsächliche Umsetzung in einem redaktionellen Kontext stand, der bei aller betonten Offenheit vor allem jugendpädagogisch motiviert war und tendenziell paternalistisch agierte. Inwiefern kann der Hörfunk in der Mitte des . Jahrhunderts also als ein Jugendmedium gelten? Das Urteil über die Jugendprogramme des öffentlichrechtlichen Rundfunks zwischen den späten er Jahren und dem Ende der er Jahre fiel in der rundfunk- und jugendhistorischen Forschung bislang fast einhellig negativ aus. „Offensichtlich“, so bilanzierte etwa Karl-Christian Führer mit Blick auf den Jugendfunk des für die britische Zone gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), mangelte es diesem Anfang der er Jahre „erheblich an einem ,feeling‘ für die Interessen junger Menschen“. Das Ergebnis sei eine „Teenagersendung für Rentner“ gewesen. Ähnlich kritisch fiel Axel Schildts Einschätzung aus, der dem westdeutschen Jugendfunk jener Jahre eine „weitgehende Nichtbeachtung spezifisch jugendlicher Interessen“ und eine „Ignoranz jugendlicher nichtschulischer Belange“ attestierte. Und wenn es um den jugendlichen Wunsch nach moderner und populärer Tanz- und Unterhaltungsmusik geht, fällt das Verdikt über die Leistungen des öffentlich-rechtlichen Hörfunks in der Bundesrepublik üblicherweise noch verheerender aus. Weil neuartige, angloamerikanische Musikstile wie der Rock’n’Roll in ihren Programmen bis in die späten er Jahre hinein kaum Berücksichtigung fanden, gelten sie auch in dieser Hinsicht als wenig attraktiv für die damalige Jugend. Wolfgang Rumpf konstatierte eine andauernde, „seltsame, fast beängsti Ebd. Karl Christian Führer, Medienmetropole Hamburg. Mediale Öffentlichkeiten – (Forum Zeitgeschichte ), München/Hamburg , S. . Ebd. Axel Schildt, Das Radio und sein jugendliches Publikum von den Zwanziger zu den Sechziger Jahren – Eine Skizze, in: Inge Marßolek/Adelheid von Saldern, Hg., Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (–) (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs ), Potsdam , S. –, hier S. –. Vgl. Konrad Dussel, The triumph of English-language pop music: West German radio programming, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried, Hg., Between Marx and Coca-Cola: Youth Cultures in Changing European Societies, New York/Oxford , S. –.
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gende Popmusik-Funkstille im öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ und kritisierte dies blumig als „ARD-Pop-Tabu“. Den an solcherlei Musik interessierten Jugendlichen blieb demnach wenig anderes übrig, als zu Hörfunkanbietern jenseits des bundesdeutschen Rundfunksystems zu wechseln. Verwiesen wird dabei auf einzelne Unterhaltungsmusiksendungen des DDR-Rundfunks oder damals westdeutsche Hörer ansprechende DDR-Propagandasender sowie vor allem auf die westalliierten Soldatensender British Forces Network (BFN) und American Forces Network (AFN) sowie auf kommerzielle Radioangebote im Ausland, insbesondere auf Radio Luxemburg. In der historischen Forschung wie auch in der populären Erinnerung wird die Beziehung von Jugend und Hörfunk in der Mitte des . Jahrhunderts also vorwiegend mit einem anwachsenden Verlangen nach Freizeitorientierung und Populärmusik charakterisiert, das von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbietern nicht ausreichend befriedigt wurde. Das ist nicht falsch. Und es lohnt, die Hintergründe näher zu beleuchten. Zugleich sollten die Vorboten der jugend(sub)kulturellen Strömungen, die mit diesen Trends verknüpft sind, für die er Jahre in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Dieser Beitrag nimmt die Entwicklung jugendorientierter Hörfunkangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Westdeutschland nach , insbesondere in den er und frühen er Jahren, und ihre Bedeutung für die jugendlichen Hörerinnen und Hörer in den Blick: zum einen die Wortprogramme des Jugendfunks, zum anderen jugendorientierte Populärmusikprogramme. Beide Programmbereiche waren, wie aufgezeigt wird, Bestandteil des jugendlichen Medienalltags. Den sich verändernden Hörbedürfnissen passte sich der Hörfunk mit formalen und inhaltlichen Programminnovationen an. Doch dazu mussten die Programmverantwortlichen ihre jungen Hörerinnen und Hörer erst einmal näher kennenlernen.
Wolfgang Rumpf, Music in the Air. AFN, BFBS, Ö, Radio Luxemburg und die Radiokultur in Deutschland, Berlin , bes. S. –, Zitate S. . Vgl. Jürgen Wilke, Radio im Geheimauftrag. Der Deutsche Freiheitssender und der Deutsche Soldatensender als Instrumente des Kalten Krieges, in: Klaus Arnold/Christoph Classen, Hg., Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin , S. –. Rumpf, Music in the Air. Zur weiteren Entwicklung des Jugendradios in den er und ern siehe den Beitrag von Michael Kuhlmann in diesem Band. Vgl. zudem Christoph Hilgert, Auf der Suche nach dem jugendlichen Hörer. Zum Wandel jugendspezifischer Programmangebote im deutschen Hörfunk zwischen und den er Jahren, in: Deutschland Archiv, Jg. , H. , , S. –.
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Der junge Hörer, das unbekannte Wesen: Hörfunk im jugendlichen Medienalltag
Über die Bedingungen, Hintergründe und Formen jugendlicher Hörfunknutzung, ihre spezifischen Hörerwartungen und die Bedeutung des Hörfunks als Jugendmedium war bis Anfang der er Jahre noch vergleichsweise wenig bekannt. Eine in Deutschland durchgeführte Umfrage zur Stellung der Jugend zum Hörfunk war nie systematisch zu Ende gebracht worden. In der Fachzeitschrift Funk erschien lediglich ein Zwischenbericht, der vermerkte, dass sozial schlechter gestellte Volks- und Berufsschüler sowie Mädchen weniger Radio hörten als ihre höher gebildeten, männlichen Altersgenossen. Mit Erstaunen war zudem registriert worden, dass die befragten Junghörer Unterhaltungsmusik als Programmangebot bevorzugten, während sie „der ihnen gewidmeten“ Sparte des Wortprogramms, der sogenannten „Jugendstunde, außerordentlich geringes Interesse“ entgegenbrachten. Abgesehen von einer schematischen Alterskategorisierung und individuellen Erfahrungen im Umgang mit Heranwachsenden hatten die Programmverantwortlichen auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nur vage Vorstellungen von dieser potenziellen Zielgruppe. Aus einem für den Nordwestdeutschen Rundfunk erstellten Bericht des Instituts für Demoskopie in Allensbach ging immerhin hervor, dass Hörfunkprogramme üblicherweise gemeinsam mit den Familienangehörigen in der heimischen Wohnung angehört wurden. Die Hörgewohnheiten und -präferenzen von Erwachsenen und Jugendlichen waren zu diesem Zeitpunkt durchaus ähnlich und kompatibel. Belastbare Informationen darüber, was die Jugend jener Jahre bewegte und vom Hörfunk konkret erwartete, förderte für Westdeutschland eigentlich erst
Hansjörg Bessler, Hörer- und Zuschauerforschung (Rundfunk in Deutschland ), München , S. . Ebd., S. . Vgl. Brunhild Elfert, Die Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks in Deutschland von bis am Beispiel der Berliner Funk-Stunde AG, Frankfurt a.M./Bern/New York (Europäische Hochschulschriften : Kommunikationswissenschaft und Publizistik ). Einfluss auf die weitere Programmgestaltung hatten diese Erkenntnisse nicht mehr. Im Zuge der Selbstgleichschaltung des Hörfunks im Nationalsozialismus wurden die „Jugendstunden“ zudem in einen explizit propagandistischen „Hitler-Jugendfunk“ umgewandelt. Vgl. dazu: Christoph Hilgert, Die unerhörte Generation: Jugend im westdeutschen und britischen Hörfunk, – (Medien und Gesellschaftswandel im . Jahrhundert ), Göttingen , S. f. Institut für Demoskopie – Gesellschaft zum Studium der öffentlichen Meinung m.b.H., NWDR. Hörerforschung in Stichworten, Bd. I, Allensbach , S. .
Christoph Hilgert
die groß angelegte Studie „Jugendliche Heute“ zutage. Diese wurde / von der Abteilung Hörerforschung des NWDR in enger Abstimmung mit dem hauseigenen Jugendfunk durchgeführt , um auf Basis „möglichst sachlich[er] und exakt[er] Unterlagen“ Entscheidungen zur Struktur des Programms treffen zu können. Denn „[p]ersönliche Begegnungen und ,allgemeine Erfahrungen‘“ seien „auf die Dauer eine zu schmale Basis für wirklich verantwortungsbewusste Arbeit“, erläuterte Wolfgang Ernst, der Leiter der NWDR-Hörerforschung, im Vorwort. Die Studie kam zum Schluss, dass „[f ]ast alle Jugendlichen [. . . ] zu der einen oder anderen Zeit vom Rundfunk erreicht [würden] und bei der Mehrzahl der Jugendlichen [. . . ] das Rundfunkhören zur täglichen Gewohnheit“ gehöre. Längst war der Hörfunk also zum selbstverständlichen Bestandteil des alltäglichen Medienhandelns einer großen Mehrheit der Gesellschaft geworden. So bekannten Prozent der im Sendegebiet des NWDR befragten Jugendlichen im Alter zwischen und Jahren, dass sie „viel“ Rundfunk hören würden, Prozent stuften ihr Hörverhalten als „durchschnittlich“ ein. Insgesamt gesehen hörten Jugendliche dabei mehr Radio als die Angehörigen älterer Jahrgänge. Und während der Unterschied zwischen den Hörgewohnheiten männlicher und weiblicher Jugendlicher alles in allem „nur gering“ sei, deute sich an, so die Studie, dass sich vor allem der Bildungsgrad auf die Nutzung auswirke: je höher die for-
Nordwestdeutscher Rundfunk – Hörerforschung: Jugendliche Heute. Ergebnisse einer Repräsentativ-Befragung , unveröffentl. Berichtband I: Kommentar, [Hamburg ]. Die Studie wurde im juventa-Verlag als Buch veröffentlicht und stand zugleich am Beginn des Booms jugendsoziologischer Forschungen in der Bundesrepublik der er und er Jahre. Wolfgang Ernst, Vorwort, in: Nordwestdeutscher Rundfunk – Hörerforschung: Jugendliche Heute. Ergebnisse einer Repräsentativ-Befragung , unveröffentl. Berichtband I: Kommentar, [Hamburg ], S. IV–V. Ebd. [Gerhard Schroeter], Interesse der Jugend an publizistischen Mitteln, in: Nordwestdeutscher Rundfunk – Hörerforschung: Jugendliche Heute. Ergebnisse einer Repräsentativ-Befragung , unveröffentl. Berichtbd. I: Kommentar, [Hamburg ], S. . Gerhard Maletzke, Der Rundfunk in der Erlebniswelt des heutigen Menschen. Untersuchungen zur psychologischen Wesenseigenart des Rundfunks und zur Psychologie des Rundfunkhörens, Dissertation, Hamburg , S. . Vgl. auch: Inge Marßolek, Radio in Deutschland – . Zur Sozialgeschichte eines Mediums, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. , H. , , S. –; Axel Schildt, Hegemon der häuslichen Freizeit: Rundfunk in den er Jahren, in: Ders./Arnold Sywottek, Hg., Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der er Jahre, Bonn , S. –. Weitere Prozent bekundeten, „wenig“ zu hören und lediglich zwei Prozent gaben zu Protokoll, „nie“ Radio zu hören (Nordwestdeutscher Rundfunk, Jugendliche Heute, Teil A, Tabelle , S. ). Ebd., S. , Tabelle .
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male Bildung, desto seltener werde Radio gehört; dafür erfolge die Programmwahl in diesen Fällen offenbar bewusster und zielgerichteter. Jugendliche zwischen dem . und . Lebensjahr machten in der ersten Hälfte der er Jahre grundsätzlich „rund ein Fünftel“ der Gesamthörerschaft des Nordwestdeutschen Rundfunks aus. Entsprechend hatte „nahezu jede Rundfunksendung [. . . ] mit einem grossen Teil“ jugendlicher Hörer zu rechnen. Trotz des allgemeinen jugendlichen Zuspruchs für die Angebote des Hörfunks gab es gleichwohl Sendungen, die von ihnen besonders geschätzt wurden. Das galt vor allem – und in klarer Kontinuität zur Vorkriegszeit – für leichte und „flotte“ Unterhaltungsmusik, die Prozent aller befragten Jugendlichen „spontan“ bekundeten, „besonders gern“ zu hören. Generell machte die Studie bei Jugendlichen ein sehr großes Bedürfnis nach „leichte[r] Unterhaltung“ aus. Der Hörfunk wurde als diesbezüglich vielseitiges Medium geschätzt, das der Unterhaltung und Entspannung, aber auch der unkomplizierten Information in den heimischen vier Wänden diente: In der Liste der beliebtesten Formate folgten der Unterhaltungsmusik daher insbesondere Hörspiele ( Prozent) – wobei junge Hörer vor allem Kriminalhörspiele präferierten –, „Bunte Sendungen“ ( Prozent) – gemeint waren unterhaltsame Spiel- und Quizshows wie Das ideale Brautpaar –, gehobene Musik ( Prozent), Sportsendungen ( Prozent), der Schulfunk ( Prozent), politische und kulturelle Wortsendungen (zwölf Prozent), Nachrichten (sieben Prozent) und Jazz (sieben Prozent). Bezeichnenderweise wurde ausgerechnet der Jugendfunk, als sich explizit an junge Hörerinnen und Hörer richtendes Programmsegment, nicht gesondert erwähnt; er dürfte unter der Kategorie „andere Sendungen“ (zehn Prozent) subsumiert worden sein. Die Ergebnisse der Studie deckten sich mit jenen, welche die junge Münchner Zeitungswissenschaftlerin Elisabeth Merkle auf Basis demoskopischer Erhebungen für den Bayerischen Rundfunk (BR) im gleichen Zeitraum herausgearbeitet hatte. Die Nutzung des Radioapparats und die Programmwahl scheinen für Jugendliche im Kontext der Familie erstaunlich unproblematisch gewesen zu sein. „[D]ie überwiegende Mehrzahl aller Jugendlichen“ durfte „völlig selbstständig und ohne
Ebd., S. . Ernst, Vorwort, S. IV. [Schroeter], Interesse der Jugend, S. , Tabelle . Unterstreichung im Original. Die folgenden Werte aus ebd., S. f. Vgl. Hilgert, Die unerhörte Generation, S. –. [Schroeter], Interesse der Jugend, S. , Tabelle . Wie die Studie bemerkte, blieben Sendungen, „die dem Zuhörer durch tägliche Übertragung zur Selbstverständlichkeit geworden sind“, weniger in Erinnerung als Einzelübertragungen (ebd.). Elisabeth Merkle, Das Verhältnis der Jugend zu Zeitung und Rundfunk, München .
Christoph Hilgert
jede Kontrolle Radio hören“, wie etwa Merkle bemerkte. Mit dem Einzug des Fernsehapparats in die bundesdeutschen Haushalte nahmen die Verfügbarkeit und die selbstbestimmte Nutzung des familiären Radioapparats für Jugendliche noch einmal zu, weil zunächst vor allem die Erwachsenen das Fernsehen für sich entdeckten. Die Ausbreitung von Koffer- und Transistorradios, in manchen Fällen auch von Autoradios, verstärkte individualisierte Nutzungsformen durch Jugendliche im Verlauf der er Jahre zusätzlich, weil die Programmangebote des Hörfunks nun gewissermaßen überall und abseits familiärer oder anderer erzieherischer Kontrollinstanzen verfügbar wurden. Das veränderte unwillkürlich den Stellenwert des Mediums, die Ansprüche an seine (Musik-)Programme und die Hörerloyalität gegenüber den öffentlich-rechtlichen Angeboten. Die autonome Nutzung des Mediums durch Jugendliche und seine Einbindung in soziale Praktiken mit Gleichaltrigen wurde durch das Aufkommen des Transistorradios noch einmal verstärkt. Rasch avancierte es zum begehrten Accessoire und jugendkulturellen Statussymbol. Denn nunmehr konnte – ähnlich dem mobilen Plattenspieler – auch im Park, in der Laube, am Badesee oder an anderen Treffpunkten die für solche Anlässe gewünschte, d. h. zumeist musikalische Klangkulisse erzeugt und der öffentliche Raum durch Jugendliche akustisch in Besitz genommen werden. Entsprechende Nutzungssituationen, die jugend(sub)kulturelle Differenzierungen ermöglichten, wurden von der zeitgenössischen Werbefotografie oder in Spielfilmen nicht nur imaginiert, sondern auch tatsächlich gelebt. Die Dynamisierung, Pluralisierung und Kommerzialisierung jugendlicher Lebensstile in den er Jahren sowie die Medialisierung und kommunikative Durchdringung des gesellschaftlichen Alltags, Trends, an denen der Hörfunk entscheidenden Anteil hatte, sind zwei Seiten einer Medaille. Der Besitz eines eigenen Radiogeräts war für die
Ebd., S. ; vgl. auch Institut für Demoskopie: NWDR, S. f. Henning Wicht, Der Hörfunk im Zeitalter des Fernsehens. Die Programme der ARD-Anstalten, in: Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD), Hg., ARD-Jahrbuch , Hamburg , S. –, hier S. . Vgl. Heiner Stahl, Straßenkreuzungen des Pop. Berliner Jugendkulturen und ihre Sounds beim Übergang in die sechziger Jahre, in: Michael Lemke, Hg., Konfrontation und Wettbewerb. Wissenschaft, Technik und Kultur im geteilten Berliner Alltag (–), Berlin , S. – . Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren (Schriftenreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung), Hamburg , S. ; Heike Weber, Vom Ausflugs- zum Alltagsbegleiter: Tragbare Radios und mobiles Radiohören –, in: Jutta Röser, Hg., MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien, Wiesbaden , S. –.
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meisten Jugendlichen allerdings noch bis in die er Jahre hinein ein unerfüllter Wunschtraum. Zudem darf nicht übersehen werden, dass der Rundfunk eben nur ein Bestandteil des damaligen Medienensembles und der jugendlichen Medienrepertoires war.
Jugendfunk: Zwischen Verbandsfunk und Jugendforum
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte sich die Frage, inwiefern der Hörfunk gesonderte Programmangebote für jugendliche Hörerinnen und Hörer bereitstellen sollte, grundsätzlich neu. Der „jungen Generation“ wurde im besetzten Nachkriegsdeutschland eine Schlüsselrolle in den Bemühungen um eine Re-education der deutschen Gesellschaft beigemessen. Sobald es technisch und redaktionell zu bewerkstelligen war, entstanden daher in den unter alliierter Hoheit neu geschaffenen Rundfunkprogrammen Sendungen, die gezielt jugendliche Hörer anzusprechen gedachten. Bereits zum Jahreswechsel / entstand z. B. beim NWDR in loser Anknüpfung an entsprechende Vorläufer des Weimarer Rundfunks wieder ein konzeptionell vom Schulfunk abgegrenzter Jugendfunk. Dieser sollte insbesondere die „schulentlassene Jugend“ ansprechen, also eine Altersgruppe zwischen dem Ende der Schulpflicht und der Familiengründung, was zeitgenössisch üblicherweise als Zeitraum zwischen dem . und . Lebensjahr definiert wurde. Ein spezifisches Bild dieser Zielgruppe über diese Altersdefinition hinaus oder gar demoskopisch gesicherte Informationen über ihre Zusammensetzung und ihre Interessen gab es nicht. Vielmehr lagen den Programmentscheidungen die persönlichen Erfahrungen der Redakteure und der von ihnen konsultierten Fachleute zugrunde.
Für die Anschaffung eines eigenen Apparats spielte dabei weniger die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht eine Rolle als vielmehr die Höhe des eigenen oder des familiären Monatseinkommens. konnten insgesamt etwa Prozent aller im Sendegebiet des NWDR befragten Heranwachsenden zwischen dem . und . Lebensjahr den Besitz eines eigenen Radios vorweisen. verfügten nach einer Erhebung der Hamburger „Gesellschaft für Marktforschung“ dann immer noch nur etwa Prozent der männlichen Jugendlichen und Prozent der weiblichen Jugendlichen im Alter von bis Jahren über ein eigenes Radiogerät; in der einkommensstärkeren Altersgruppe bis Jahre waren es jeweils etwa Prozent der Jugendlichen ([Schroeter], Interesse der Jugend, S. f.; Dorothea-Luise Scharmann, Konsumverhalten von Jugendlichen [Überblick zur wissenschaftlichen Jugendkunde ], München , S. und S. ). Hilgert, Die unerhörte Generation, S. f.
Christoph Hilgert
Die anderen westdeutschen Rundfunkanstalten, die nach und nach ihren Sendebetrieb aufnahmen, verfuhren ähnlich. Bei Radio Bremen, im Südwestfunk, im Berliner RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) sowie im Süddeutschen, Saarländischen, Hessischen und Bayerischen Rundfunk entstanden entweder kombinierte Schul- und Jugendfunkredaktionen oder die Jugendsendungen wurden von den Frauen- bzw. Familienfunkredaktionen mitbetreut. Einzig der NWDR Köln und der daraus hervorgehende Westdeutsche Rundfunk (WDR) verzichteten bis in die er Jahre hinein darauf, im Wortprogramm eigene Sendungen für Hörer dieser Altersgruppe anzubieten. Zunächst entstand eine Art „Jugendverbandsfunk“, der vor allem über Jugendliche beziehungsweise zu ihnen sprach und sie vor allem mit Nachrichten und Berichten aus den wiederentstehenden Jugendorganisationen und mit allgemeinbildenden Beiträgen versorgte. Jugendbewegte Traditionen und bildungsbürgerliche Ideale waren unverkennbar. Aufgrund begrenzter personeller Ressourcen waren die Programmmacher anfangs auch auf die Zusammenarbeit mit christlichen, gewerkschaftlichen und parteipolitischen Jugendverbänden angewiesen. In der Programmgestaltung stimmte man sich überdies eng mit staatlichen Behörden und Einrichtungen der Jugendfürsorge oder der Bildung ab. Dies erleichterte die Themenfindung sowie die Einbindung von Experten und ausgewählten, überdurchschnittlich eloquenten Jugendlichen in die Programmarbeit. Zugleich beeinflussten die Funktionäre der Kirchen-, Gewerkschafts- und Parteijugend die Agenda der Redaktionen, die vor allem pädagogische Motive verfolgten. Mithin orientierte sich der Jugendfunk wie selbstverständlich am Ideal der „organisierten Jugend“, also an Jugendlichen, die ihre Freizeit außerhalb der Familie vorwiegend in der Obhut von Vereinen und Jugendgruppen unterschiedlicher Couleur verlebten, anstatt ohne Aufsicht umherzustreifen. Der Jugendfunk gab vor, zu seinen jugendlichen Hörern zu sprechen und deren Interessen gewissermaßen als Anwalt auch gegenüber der Erwachsenenwelt zu vertreten. Erklärtes Ziel der Redaktionen war es, mit dem Jugendfunk die Kritikfähigkeit und das gesellschaftliche Engagement der Heranwachsenden zu fördern und auf diese Weise einen nachhaltigen Beitrag zum Aufbau der jungen westdeutschen Demokratie zu leisten. Ein Austausch mit und zwischen Der langjährige Kölner Funkhausdirektor bzw. Intendant Hanns Hartmann lehnte es – mit Ausnahme des Kinderfunks – ab, Sendungen für bestimmte Altersgruppen vorzusehen. Erst unter Intendant Klaus von Bismarck in den er Jahren gab der WDR diese Haltung auf und nahm Jugendsendungen ins Programm auf; vgl. ebd., S. . Christoph Hilgert, „. . . den freien, kritischen Geist unter der Jugend zu fördern“: Der Beitrag des Jugendfunks zur zeitgeschichtlichen und politischen Aufklärung von Jugendlichen in den
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den angesprochenen Jugendlichen fand zumeist aber nur mittelbar statt; etwa durch die Einbeziehung und redaktionelle Verwertung der Hörerpost. Alternativ erörterten einzelne Diskussionsrunden, an denen ausgewählte, oft aber schon im Grundstudium stehende Heranwachsende teilnahmen, gesellschaftlich drängende Fragen der Nachkriegszeit „aus der Sicht der Jugend“. Das mochte einer politischen Selbstverständigung der Jugendlichen dienlich sein, sollte aber vor allem den erwachsenen Hörern die Perspektive der „jungen Generation“ auf die Herausforderungen der Gegenwart nahebringen und diese der gesellschaftlichen Diskussion hinzufügen. Größtes Manko war, dass die Sendungen des Jugendfunks wie auch anderer Zielgruppenprogramme oft zu Uhrzeiten jenseits der allgemeinen Kernsendezeiten am frühen Morgen, Mittag und vor allem am Abend ausgestrahlt wurden. Sendetermine am frühen Werktagnachmittag, wie die SWF-Reihe Wir jungen Menschen, schlossen jedoch erhebliche Teile der „schulentlassenen Jugend“ – etwa berufstätige Angestellte und Arbeiter – systematisch vom Empfang aus. So kann es am Ende nicht verwundern, wenn solche Sendungen tatsächlich von vergleichsweise wenigen Jugendlichen, dafür aber in erheblichem Umfang von Senioren angehört wurden. Anfang der er Jahre befand sich der westdeutsche Jugendfunk dann offenkundig in der Krise. Die ohnehin wenigen, teils ungünstig gelegten Sendeplätze und die jeweils zur Verfügung stehende Zeit waren im Verlauf der späten er Jahre als Minderheitenprogramme stetig reduziert worden. Beim BR entfiel im August des Jahres gar weniger als ein Prozent des Gesamtsendeaufkommens auf den Jugendfunk. Beim NWDR waren es im Juni immerhin „mindestens viereinhalb Stunden im Monat“. Bei einer durchschnittlichen Wochenproduktion von damals rund . Sendeminuten für die Mittelwellen- und Ultrakurzwellenprogramme waren es gerade einmal „ oder oder allenfalls Minuten“
er Jahren, in: Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer, Hg., Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen – (Nassauer Gespräche der Freiherr vom Stein-Gesellschaft ), Stuttgart , S. –. Unter den Diskutanten beim NWDR befand sich u. a. der junge Ralf Dahrendorf, der dann und wann auch kleinere Texte für den Jugendfunk beisteuern durfte. Beim SWF waren in ähnlichen Sendeformaten etwa die späteren Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer und Hans Maier sowie der Schriftsteller und Publizist Hans Magnus Enzensberger zu hören (Hilgert, Die unerhörte Generation, S. und S. ). Vgl. Fritz Eberhard, Der Rundfunkhörer und sein Programm. Ein Beitrag zur empirischen Sozialforschung (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik ), Berlin , S. . Merkle, Das Verhältnis der Jugend, S. . O.A., Jugendfunk im NWDR: Stimme der jungen Generation, in: Die Ansage, Nr. , , S. –, hier S. .
Christoph Hilgert
pro Woche, die den westdeutschen Jugendfunk-Redaktionen / eingeräumt wurden, kritisierte ein Beitrag in der Fachzeitschrift Rufer und Hörer. Erschwerend kam hinzu, dass viele Zielgruppensendungen wie der Jugendfunk Anfang der er Jahre vom reichweitenstarken Mittelwellenprogramm in die neuen Ultrakurzwellenprogramme verlagert wurden. Einerseits standen so zwar neue, zeitlich besser gelegene Sendeplätze, eine insgesamt größere Programmvielfalt sowie eine tendenziell bessere Klangqualität zur Verfügung. Andererseits waren zunächst nur wenige UKW-empfangsbereite Geräte in Gebrauch, sodass die Sendungen nur noch von einem Bruchteil der (bisherigen) Hörer angehört wurden. Die geringe geographische und topographische Reichweite der UKW-Sender erforderte zudem den Aufbau einer kleinteiligeren Sendeinfrastruktur, was einige Zeit in Anspruch nahm. Auch inhaltlich mehrte sich Kritik. Alfred Christmann, Geschäftsführer des Stuttgarter Jugendausschusses und Vertreter des Landesjugendrings im Rundfunkrat des Süddeutschen Rundfunks, befand die Arbeit des hauseigenen Jugendfunks am . März schlichtweg als „nicht befriedigend“. Ein Jahr später vertrat er abermals „die Auffassung, daß es der Funk noch nicht fertiggebracht hat, eine Sendereihe aufzubauen, die die Jugend ansprechen [kann]“. Und ehe diese Grundsatzkritik im Rundfunkrat des SDR nachließ, vermerkte das Protokoll einer entsprechenden Ausschusssitzung noch : Der Jugendfunk in seiner bisherigen Form befriedigt nicht. Diese Feststellung gilt nicht nur dem Süddeutschen Rundfunk sondern auch den anderen westdeutschen Sendern. Immer noch wird auf diesem Gebiet experimentiert.
Und doch ist mit Beginn der er Jahre im westdeutschen Jugendfunk prinzipiell so etwas wie eine Aufbruchsstimmung zu erkennen. Anfang des Jahres hatte Wolfgang Jäger beim NWDR die Leitung des Jugendfunks übernommen Paul Wallnisch, Viel zu wenig Zeit für die junge Generation, in: Rufer und Hörer, Jg. , /, S. –, hier S. . Protokoll über die . Sitzung des Ausschusses „Unpolitisches Wort“ am .., S., hier S. , HA SWR: SDR O/- Intendanz „Rundfunkrat-Ausschussprotokolle: Unpolitisches Wort“ –. Protokoll über die Sitzung des Ausschusses „Unpolitisches Wort“ am .., S., hier S. , HA SWR: SDR O/- Intendanz „Rundfunkrat-Ausschussprotokolle: Unpolitisches Wort“ –. Protokoll über die Sitzung des Ausschusses „Unpolitisches Wort“ am .., S., hier S. , HA SWR: SDR O/- Intendanz „Rundfunkrat-Ausschussprotokolle: Unpolitisches Wort“ –.
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und schuf schrittweise ein Programmangebot, das die Intendanz, die Kritiker und nicht zuletzt eine große Zahl jugendlicher Hörer billigten und bisweilen gar zu schätzen wussten. Begünstigt wurde dies durch eine Erhöhung der Sendezeiten des zuvor fast völlig marginalisierten Angebots und die Zunahme politischer beziehungsweise politisch bildender Beiträge, die aber viel lebensnaher gestaltet waren als entsprechende Schulfunkbeiträge (vor allem durch Hörszenen). Zudem wurden allgemeinbildende Beiträge und Berichte aus den Jugendverbänden reduziert. Entscheidend dürfte jedoch gewesen sein, dass die Jugendfunksendungen zunehmend nicht nur als Angebot über und für junge Hörer konzipiert wurden, sondern auch mit ihnen. Der jugendliche Hörer verfolge nur das, was ihn interessiere, ob es sich dabei um eine Jugendsendung handele oder nicht, so Jäger rückblickend. Wenn man sich nicht darauf beschränken wolle, in der Jugend lediglich „eine Interessengruppe zu sehen, die man mit Nachrichten aus den Jugendverbänden und Reportagen von Jugendveranstaltungen befriedig[en]“ könne, sondern sie als „Entwicklungsstufe“ ernst nehme, müsse „ein Weg gefunden werden, die jungen Hörer direkt anzusprechen“. Jäger schwebte dafür ein „Erwachsenenrundfunk für junge Leute“ vor, mit „alle[n] Themen und Formen, die der Rundfunk zu bieten hat“. Darin sollten alle Themen und alle Ausdrucksformen des Hörfunks jugendgerecht aufbereitet werden, ohne die Hörer dabei zu infantilisieren oder zu bevormunden. Zugleich sollte ihnen aber auch nicht nach dem Munde geredet werden oder sich die Beiträge in einer jugendlichen Selbstbeschau erschöpfen. Idealerweise sollte weiterhin ein Dialog zwischen den Generationen in Gang gebracht werden. Insofern sorgte der Befund, dass auch viele Senioren die Sendungen einschalteten, eher für Zufriedenheit als für Verunsicherung. Zur zweiten Hälfte der er Jahre entstand dann insbesondere beim NWDR tatsächlich ein „neuer Typus“ des Jugendfunks. Dieser wies neue Themen, Arbeitsweisen und Formate, eine stärkere Mischung aus Wort- und Musikbeiträgen, vor allem aber eine systematischere Einbindung von Jugendlichen in die Programmarbeit auf. Jugendliche waren als Verfasser von Hörerzuschriften, als
Wolfgang Jäger, Über den Umgang mit jungen Hörern, unveröff. Ms., [Hamburg ], S., hier S. f. (Norddeutscher Rundfunk: Abteilung „Recherche Presse & Buch“: Pressedokumentation, Ordner „Programm: Sendung: Hörfunk: Abend für junge Hörer von /“). Hilgert, Die unerhörte Generation, S. . So die rückblickende Einschätzung der SWF-Jugendfunkleiterin, Hertha Sturm, in einem Schreiben vom . Mai an SWF-Programmdirektor Lothar Hartmann. Zit. n. Hilgert, Die unerhörte Generation, S. .
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Sprecher in Hörspielen, als Gesprächs- und Diskussionspartner, als Interviewer oder gar als Autoren kurzer Beiträge beteiligt. Auf diese Weise konnten die Redakteurinnen und Redakteure nicht nur besser einschätzen, was die „junge Generation“ jeweils bewegte. Es erleichterte ihnen auch die Ansprache der jugendlichen Hörerschaft, der überdies ein Forum zur Verfügung gestellt wurde. Aus einer solchen Position heraus, die vielleicht an das Auftreten von älteren Geschwistern erinnert, war es dann auch möglich, den jugendlichen Hörern in den Sendungen bestimmte Schlussfolgerungen, Positionen und Leitlinien vorzustellen, an denen sich diese nach Möglichkeit orientieren sollten. Eine zentrale programmgeschichtliche Zäsur stellte in dieser Hinsicht die Erfindung der monatlichen Sendereihe Abend für junge Hörer dar, die am . Mai im UKW-Programm des NWDR startete. Das innovative Konzept sah einen zweieinhalbstündigen, „direkt“ (d. h. live) aus dem Großen Sendesaal des NDR in Hamburg oder von anderen Orten des Sendegebiets übertragenen Themenabend vor, der das damals übliche, kleinteilige Programmschema („Kästchenprogramm“) durchstieß und „unter den sonstigen Jugendfunksendungen der europäischen Sender ohne Vorbild“ war. In den Sendungen ergründeten Gastgeber Wolfgang Jäger, sein Redaktionsteam samt Schauspielern und Musikern sowie ein jugendliches Saalpublikum – im Großen Sendesaal fanden bis zu Besucher Platz – und zahlreiche Radiohörer unterschiedlichen Alters jeweils ein gesellschaftlich relevantes Thema, das keinen dezidiert jugendspezifischen Charakter haben musste. Behandelt wurden beispielsweise folgende Themen: „Hoffnungen und Träume“ (Juli ), „Wer muß unter die Soldaten“ (August ), „Jugendkriminalität und Strafvollzug“ (September ), „Erste Liebe“ (Oktober ), „Jugend hinter dem Eisernen Vorhang“ (Oktober ), „Geschäfte mit dem Aberglauben“ (Juni ). Berichte und Features, Interviews, Diskussionsrunden, Quizspiele sowie ein Live-Hörspiel, das im Studio von Schauspielern eingesprochen wurde,
Vgl. Christoph Hilgert, Der „Abend für junge Hörer“ – Vom Experiment zur Institution. Beitrag in der Reihe „NDR-Geschichte(n)“, Norddeutscher Rundfunk, Hamburg , http://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/geschichte/Der-Abend-fuer-junge-Hoerer-←Vom-Experiment-zur-Institution,jungehoerer.html (..). Die Ansage, Nr. , , S. . Axel Schildt spricht von „einem Konglomerat allgemein menschlich interessierender und jugendspezifischer Themen“ (Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der er Jahre, Hamburg , S. ). Eine Aufstellung der Themen ist enthalten in der Broschüre: Norddeutscher Rundfunk – Öffentlichkeitsarbeit/Redaktion Jugendfunk, Mal „Ein Abend für junge Hörer“, bis , Hamburg .
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halfen, einzelne Facetten näher zu beleuchten und regten zur Debatte an. Abgerundet wurden die Abende durch klassische Musik, zunehmend auch durch populäre Tanzmusik, die zumeist von sendereigenen Klangkörpern, oft auch von Schülerorchestern und jungen Amateurmusikern intoniert wurde. Die Sendereihe traf unmittelbar den Nerv der Hörer und der Kritiker. Die sonst oft mäkelige Hör Zu lobte, dass der NWDR mit der Sendung „einen Schuß ins Schwarze getan“ und eine „frische Brise“ ins Programm gebracht habe. Und schon im November des Auftaktjahres vermeldete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine durchschnittliche Hörerzahl von stattlichen , Millionen je „Abend“. Bald erhielt die Jugendfunk-Redaktion eine solche Fülle an begeisterten Hörerzuschriften und Anfragen nach Eintrittskarten, dass diese kaum noch zu bewältigen war. Die Sendereihe bot dem Saalpublikum die Gelegenheit, einmal hinter die Kulissen des Radios zu schauen. Und während man sich mit Altersgenossen in diesem Rahmen Gedanken über ein mehr oder weniger relevant empfundenes Thema machte, lockte auch die Aussicht, zu den beschwingteren Musikeinlagen den einen oder anderen Standardtanz zu wagen. Der Abend für junge Hörer wurde von den jungen Besuchern offenkundig als ein speziell für Jugendliche organisiertes „gesellschaftliches Ereignis“ geschätzt, für das sich das Saalpublikum die gute Garderobe anzog und von der „Schokoladenseite“ zeigte. Diese Atmosphäre übertrug sich auch auf die Hörerinnen und Hörer. Die Reihe wurde von den meisten Heranwachsenden des Sendegebiets, quer durch alle Bildungsschichten, „bewusst und von Prozent der Befragten sogar regelmäßig gehört“, wie die hauseigene Hörerforschung Ende der er Jahre ergründete; phänomenale Prozent von ihnen beurteilten die Sendereihe positiv. Beflügelt durch diesen Zuspruch strahlte der NDR einzelne Sendungen bald nicht mehr nur im UKW-Programm, sondern auch im damals immer noch mehrheitlich eingeschalteten Mittelwellenprogramm aus. Auf das Erfolgsformat im Norden aufmerksam geworden, hob der Süddeutsche Rundfunk mit den Abenden mit dem Jugendfunk am . Dezember eine sehr ähnliche Reihe aus der Taufe. Die Adaption sah eine stärkere Einbindung Hör Zu, Nr. , , S. . O.A., Das glückliche Brautpaar, in: Der Spiegel, Nr. , , S. f., hier S. . Jäger, Umgang mit jungen Hörern, S. . Seit geschah dies sogar regelmäßig. Im September wurde das Sendekonzept unter dem Titel „Abend für junge Leute“ zudem für das NDR-Fernsehen adaptiert; wegen des enormen Zusatzaufwands endete der Ausflug ins Fernsehen jedoch bald wieder. Langfristigen Erfolg hatte die Ende der er Jahre entstandene NDR-Hörfunkreihe Schulfunk mit Gästen, die auf die Vermittlung von Bildungsinhalten setzte, ansonsten aber die bewährte Mischung verschiedener Darstellungsformen und die Idee einer Sendung mit Saalpublikum übernahm.
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von Kabarett-Elementen vor und fand für einige Jahre ebenfalls eine stattliche Hörerschaft. Themen des Abends waren etwa: „Zieht mit uns die neue Zeit?“ (Dezember ), „Politische Verantwortung, was heißt das schon?“ (Oktober ), „Gespenster? Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalismus“ (April ). Letztlich konnte der SDR aber nicht an den Erfolg des Hamburger Vorbildes anschließen. Selbst der DDR-Rundfunk sah sich genötigt, auf die Abende für junge Hörer zu reagieren. Auf Beschluss des Staatlichen Rundfunkkomitees vom . Oktober sollte „[e]inmal wöchentlich – freitags – auf sämtlichen Mittelwellensendern von Radio DDR in der Zeit von . bis . Uhr ein besonderes Programm für die Jugend“ zu hören sein. Seit dem . Dezember strahlte Radio DDR I dann tatsächlich von wechselnden Orten – öffentlichen Sälen oder Jugend-Klubhäusern – Abende der Jugend aus, die Jugendthemen aufgriffen und „jugendgemäße“ Musik präsentierten. Später stand diese Reihe Pate bei der Programmplanung des DDRJugendsenders DT. Der Clou des Sendekonzepts des Abends für junge Hörer und seiner Adaptionen war die innovative Verbindung aus jugendpädagogisch motivierten und unterhaltenden Inhalten. Die Themen standen dabei eindeutig im Mittelpunkt des Abends, wurde aber mit allen darstellerischen Mitteln des Mediums und unter steter Einbeziehung der Zielgruppe aufbereitet. Eine stärkere Orientierung am Unterhaltungsbedürfnis mancher junger Hörerinnen und Hörer lag den Machern indes (noch) fern. verlieh Karl Dummler, Vertreter der Evangelischen Landeskirche Württemberg und der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland im Rundfunkrat des SDR, dieser Haltung folgendermaßen Ausdruck: Der Jugendfunk und seine Autoren wären überfordert, wenn man von ihnen verlangte, etwas zu bieten, was für eine Elite von Jugendlichen und das junge Volk, das abends die Königstrasse bevölkere, die Kinoeingänge umlagere und das Wasenpublikum darstelle, soweit es den Schnellrichter beschäftige, gleichermassen passe.
Vgl. Hilgert, Die unerhörte Generation, S. f. Zit. n. Stahl, Straßenkreuzungen des Pop, S. f. Kurzprotokoll über die Sitzung des Rundfunkratsausschusses „Unpolitisches Wort“ am Mittwoch, den .. im Funkhaus in Stuttgart, S., hier S. , HA SWR: SDR O/- Intendanz „Rundfunkrat-Ausschussprotokolle: Unpolitisches Wort“ –.
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Wie selbstverständlich orientierte sich der westdeutsche Jugendfunk insbesondere an jenen jungen Hörerinnen und Hörern, die dem klein- und bildungsbürgerlichen Milieu entstammten. Junge Arbeiter blieben, trotz enger Kontakte zur Gewerkschaftsjugend, unterrepräsentiert. Angestellte, Hausfrauen, Oberschüler/Gymnasiasten und junge Studierende stellten dann auch in der Tat das Gros der Hörerschaft. Und sie standen den meisten Redakteuren, Programmstrategen und Rundfunkräten schon aufgrund der eigenen Biographie nahe. Das zeigt sich auch daran, dass Phänomene wie das der „Halbstarken“ im Jugendfunk sehr argwöhnisch betrachtet wurden. Halbstarke, als zeitgenössische Projektionsfläche jugendlicher Devianz, galten nicht als Zielgruppe – im Gegenteil: Dieses in der zweiten Hälfte der er Jahre aufgrund einer veritablen moral panic kurzzeitig nahezu allen Jugendlichen angeheftete Etikett wurde im Jugendfunk mal ironisch, mal scharf zurückgewiesen.
Englischsprachige Populärmusik erwünscht? Innovationen im jugendorientierten Musikprogramm
Nicht nur im Wortprogramm, sondern auch im Musikprogramm tat sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk mitunter schwer, den Erwartungen junger Hörerinnen und Hörer zu entsprechen. Insbesondere die Zurückhaltung gegenüber damals modernen Formen US-amerikanischer Tanz- und Unterhaltungsmusik wie dem Rock’n’Roll ist erklärungsbedürftig. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war es in den westdeutschen Hörfunkprogrammen, auch dank der alliierten Rundfunkkontrolle, für einen kurzen Moment zu einer Blüte der Jazzmusik gekommen, die während der Zeit des Nationalsozialismus offiziell verpönt war. Allerdings stieß bei der überwiegenden Mehrheit der Hörerschaft – die kleine, oft jugendliche Fangemeinde ausgenommen – zunächst „[k]eine andere Sendung [. . . ] auf soviel [sic!] Ablehnung wie Jazz-Musik“, sodass die Sendeplätze für diese Musik wieder reduziert wurden. Der musikalische Massengeschmack war weit weniger progressiv als dies rückblickend häufig vermutet wird. Das allgemeine, durch die Hörerforschung gut dokumentierte Verlangen nach „leichter Musik“ bedarf hier einer genaueren Einordnung. Denn diese Kategorie umfasste eine große Bandbreite unterhaltungsorientierter Stile von der Operette über Salonmusik, Vor- und Nachkriegsschlager sowie seichten Liedern singender Schauspielerinnen und Schauspieler bis hin zu internationaler, eben Institut für Demoskopie, NWDR, S. .
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meist US-amerikanisch geprägter Tanzmusik (gemeint waren Swing, Blues und melodischer Dixieland-Jazz). Rock’n’Roll, progressiver Jazz und ganz generell englischsprachige Populärmusik – in dem Sinne, wie wir es heute definieren – waren in Deutschland bis in die er Jahre hinein auch unter Jugendlichen zumindest kein Mehrheitsphänomen. Aufgrund der volkspädagogischen Prägung des Hörfunks sollten zudem auch im Musikprogramm kulturelle Standards gewahrt bleiben. Das galt nicht nur für die E-Musik, sondern auch für die U-Musik und beeinflusste die Musikauswahl. Über solche kulturpolitischen Erwägungen hinaus waren den Programmverantwortlichen oft aber auch die Hände gebunden, wenn aktuelle, populäre internationale Tanz- und Unterhaltungsmusik präsentiert werden sollte. So sprachen verschiedene rechtliche und ökonomische Gründe gegen eine extensive Berücksichtigung von Schallplatten mit solcher Musik. Der Erwerb und die Vergütung von Aufführungs- und Verwertungsrechten waren durchaus kostspielig. Überdies galt es, tunlichst eine Instrumentalisierung des Hörfunks für die Werbeabsichten der Schallplattenindustrie zu vermeiden. Diese populärmusikalische Lücke wurde von AFN, BFN und Radio Luxemburg zumindest ansatzweise gefüllt, die mit ihren entsprechend ausgewiesenen Musikprogrammen zunehmend auch deutsche Jugendliche als Hörerinnen und Hörer gewannen. Große Anziehungskraft hatten etwa der Swing-Club auf BFN oder Frolic at Five auf AFN. Für den Zuspruch dürfte zunächst vor allem die große Zuverlässigkeit, mit der hier moderne, internationale Populärmusik im regulären Programm zu hören war, entscheidend gewesen sein. Und dieser kleine Grenzverkehr im Äther bereitete die transnationalen Jugend(sub)kulturen des späteren . Jahrhunderts mit vor. Die Popularität dieser Programme sollte für die Zeit vor den späten er Jahren allerdings auch nicht überschätzt werden. AFN und BFN gewannen zahlreiche deutsche Zaungäste, die englische Sprache blieb aber ein Hemmnis. Radio Luxemburg führte sein deutschsprachiges Programm erst ein und die signifikante Ausweitung seiner deutschen Hörerschaft in den er Jahren verdankte es nicht zuletzt dem Aufbau einer leistungsstärkeren Sendetechnik sowie der dann noch einmal verstärkten Berücksichtigung englischsprachiger
Vgl. Andreas Vollberg, „Weit mehr als eine bloße Musikfabrik“ – Programm-Hegemon mit Kulturmacht. Die Musik im NWDR-Hörfunk, in: Hans-Ulrich Wagner, Hg., Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, Bd. , Hamburg , S. –, hier S. –. Vgl. Christoph Hilgert, Irreguläre Impulsgeber? Der öffentlich-rechtliche Rundfunk im asymmetrischen Wettbewerb um seine Hörer in den er und er Jahren, in: Thomas Birkner/Maria Löblich/Alina Laura Tiews/Hans-Ulrich Wagner, Hg., Neue Vielfalt. Medienpluralität und -konkurrenz in historischer Perspektive, Köln , S. –.
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Populärmusik samt einer klaren Jugendorientierung. Diese Programme erwiesen sich aufgrund ihrer markant anderen Klangfarbe trotzdem frühzeitig als „stete Herausforderung“ und hartnäckige Konkurrenz für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogramme. Und dies wirkte auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk durchaus innovierend. So sind dort Annäherungsversuche an wachsende populärmusikalische Begehrlichkeiten in der Hörerschaft zu erkennen. Im Juli hatte sich beispielsweise der junge Engländer Christopher Howland, der beim British Forces Network in Hamburg die Popmusik betreute, dem NWDR mehr oder minder kurzentschlossen eine vollkommen neuartige Musik-Radioshow nach BFN-Vorbild vorgeschlagen. Großspurig versprach er dem NWDR, jene Millionen Hörer zurückzuholen, die dieser an den britischen Soldatensender verloren habe. Ab dem . September präsentierte Howland den NWDR-Hörern dann als „Schallplattenjockey“ aktuelle Populärmusik aus den USA und Großbritannien. Dass dies den Nerv insbesondere jugendlicher Zuhörer traf, lag offenkundig nicht nur an der sonst selten, jedenfalls nicht so verlässlich gespielten Musik – es handelte sich dabei vor allem um aktuelle englischsprachige „Schlager“ aus den Bereichen Jazz, Swing und Blues. Es lag auch an der unkonventionellen, für das damalige deutsche Radio geradezu anarchischen Präsentationsweise, welche die Musik mit spontanen „Nonsens-Geräuschen, mitgesungenen Refrains oder Jauleffekten durch Drehung des Plattentellers“ und Howlands „in einem radebrechenden Deutsch“ vorgebrachten Moderationen garnierte. Trotz der überwiegend positiven Hörerresonanz stellte der NWDR die Sendung bereits im Frühjahr wieder ein. Dass daraus mehr als nur eine Fußnote der Rundfunkgeschichte wurde, lag pikanterweise am Kölner Zweig des NWDR. Dieser bot Howland für das ungewohnte Sendeformat wenig später einen Sendeplatz in seinem eigenen UKW-Programm an. Im April starteten schließlich die Spielereien mit Schallplatten, eine Reihe, die bis ausgestrahlt wurde und die anderen Popmusik-Sendungen den Weg ins Programm des Westdeutschen Rundfunks ebnete. Mitte der er Jahre stieß etwa der AFN-Discjockey Mal Sondock zum WDR, wo er neben Howland-Vertretungen Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte ), Göttingen , S. . Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz . Aufl. , S. . Vollberg, Weit mehr als eine bloße Musikfabrik, S. f. Andreas Vollberg, Lebensfunke der Hörfunk-Ära. Unterhaltungsmusik im NRW-Nachkriegsradio, in: Ders., Hg., Von Trizonesien zur Starlight-Ära. Unterhaltungsmusik in Nordrhein-Westfalen (Musikland NRW ), Münster , S. –, hier S. –; Robert von Zahn, Reset or Reeducation: Musikalischer Neubeginn, in: Westdeutscher Rundfunk, Hg., Am Puls der Zeit. Jahre WDR, Bd. : Die Vorläufer –, Köln , S. –, hier S. .
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bald auch eigene Sendungen produzieren durfte. Seit moderierte er die Montagnachmittagsmelodie, ab die Sendung Diskothekenbummel, aus der sich die zeitweilig legendäre Diskothek im WDR entwickelte. Zukunftsweisend war dabei vor allem die Einführung des moderierenden Discjockeys in den westdeutschen Hörfunk. Mitte der er Jahre fasste dieser als Repräsentant einer neuen Präsentationsform populärer Unterhaltungsmusik und als neues Berufsbild im öffentlich-rechtlichen Rundfunk schrittweise Fuß. Der Radio-DJ verkörperte die Exotik und Wildheit der neuen und unbekannten internationalen Populärmusik. Und die aufreizende Lockerheit der Moderation und der Musikpräsentation setzte damals in jeder Hinsicht einen Kontrapunkt zur uniformierten Nazizeit, zur um Stabilität und Ruhe bemühten Nachkriegszeit und zu jedweder national orientierten Kleinbürgerlichkeit. Zugleich versprach sie den deutschen Hörern Teilhabe an der anglo-amerikanischen Weltläufigkeit und Moderne – nicht von ungefähr stammten die ersten deutschen Radio-DJs aus England (Chris Howland) und den USA (Mal Sondock). Gerade auf junge, orientierungsbedürftige Hörer in der Adoleszenz übte dies eine große Faszination aus. Der Südwestfunk nahm eine Sendereihe mit dem Namen Teenager-Party! Rhythmus für junge Leute ins Programm auf, die mittwochabends zwischen und Uhr im UKW-Programm ausgestrahlt wurde. Trotz grundsätzlich positiver Resonanz waren solche solitären Musiksendungen noch lange nicht selbstverständlich geworden. So wurde etwa die im BR ausgestrahlte Reihe Teenagerparty nach nur einem Sendejahr bereits wieder eingestellt. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem fehlenden Bedarf an solchen spezialisierten PopulärmusikSendungen. Diese habe bei der jugendlichen Zielgruppe nicht verfangen, auch wenn fleißige Hörerbriefschreiber zuvor einen anderen Eindruck erweckt hätten. Vgl. Tina Raubenheimer, Die Entwicklung der Berufsbilder im Hörfunk. Der Saarländische Rundfunk, in: Clemens Zimmermann/Rainer Hudemann/Michael Kuderna, Hg., Medienlandschaft Saar von bis in die Gegenwart, Bd. : Medienpolitik und mediale Strukturen (–), München , S. –, hier S. –. startete Howland mit der Reihe Musik aus Studio B dann auch eine Musiksendung im Fernsehen, das sich in den er Jahren im Hinblick auf popkulturelle Formate für Jugendliche generell noch etwas experimentierfreudiger als der Hörfunk zeigte. Das unterstreicht etwa der seit von Radio Bremen produzierte Beat-Club. Siehe dazu den Beitrag von Michael Esch in diesem Band. Schildt, Das Radio und sein jugendliches Publikum, S. ; Siegfried, Time is on my side, S. f. Norbert Linke: Der Kontakt zwischen Hörer und Massenmedien, in: Siegmund Helms, Hg., Schlager in Deutschland. Beiträge zur Analyse der Popularmusik und des Musikmarktes, Wiesbaden , S. –, hier S. .
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Innovative Musikformate für populäre Tanz- und Unterhaltungsmusik, die junge Hörerinnen und Hörern ansprachen, entstanden z. B. auch durch eine Zusammenarbeit der Jugendfunkredaktion mit Redakteuren der jeweiligen UMusik-Abteilung. führte der SDR in seinem Jugendfunk etwa die Reihe Tanztee der Jugend (seit Heisse Sachen – Tanzmusik und Zeitkritik) ein, in der kabarettistische Beiträge mit Tanzmusik gemischt wurden. Dennoch kam auch diese Reihe als innovatives, äußere Impulse adaptierendes Format gut an. Gleiches gilt für die ebenfalls im SDR geschaffene Reihe Mal was anderes, „ein Zwischending zwischen Wunschkonzert und einer für junge Menschen gemachten Musiksendung“, wie der damalige SDR-Jugendfunkleiter Hans Weber befand. Aus ihr ging die Mittwochsparty hervor: Es war ein durchaus rhythmisch betontes Programm, in dem Elvis Presly (sic!) und Conny [Froboess; C.H.] nicht fehlten, das aber auf keinen Fall in die Schnulzenrichtung ging [. . . ]. Zwischen den einzelnen Stücken haben wir Gespräche eingeblendet, die wir mit dieser Gruppe aufgenommen haben.
Wie die Hörerpost mit den Musikwünschen belegt, dominierten auch in dieser Sendung zunächst melodische, „massenkompatible“ Swing-Titel, Blues und Schlager – und eben keineswegs der Rock’n’Roll. Insgesamt blieben die populärmusikalischen Freiräume im westdeutschen Hörfunk allerdings bis in die er Jahre und der Etablierung der Autofahrerservicewellen überwiegend auf solche Programmplätze beschränkt. Sie waren gewissermaßen „musikalische Fremdkörper“ im klanglichen Erscheinungsbild des Gesamtprogramms, konnten aber auf eine treue Anhängerschaft rechnen. Im Verbund mit der Jukebox in den von Jugendlichen frequentierten Gaststätten, Tanzlokalen, Cafés und Jugendclubs, mit dem entstehenden Massenmarkt für Schallplatten, mit Kinofilmen, die diese moderne Musik präsentierten, und mit den kommerziellen Jugend- und Musikzeitschriften, welche die für Fankulturen „Referat des Herrn Weber über den Jugendfunk“, Anlage zum Kurzprotokoll über die Sitzung des Rundfunkratsausschusses „Unpolitisches Wort“ am Mittwoch, den .. im Funkhaus in Stuttgart, S., hier S. , HA SWR: SDR O/- Intendanz „RundfunkratAusschussprotokolle: Unpolitisches Wort“ –. Vgl. Doris Jahnke, Entstehung und Entwicklung des Jugendfunks im Süddeutschen Rundfunk. Von der „Jugendstunde“ der SÜRAG bis zur „Jungen Welle“ des SDR, unveröffentl. Magisterarbeit, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg , S. f. Heiner Stahl, Wie Popmusik zum neuen Sound des Kalten Krieges wurde. Die Wechselwirkungen zwischen „Jugendstudio DT“, „s-f-beat“ und „RIAS-Treffpunkt“ in den er Jahren, in: Rundfunk und Geschichte, Jg. , H. –, , S. –, hier S. .
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notwendigen Hintergrundinformationen und Gerüchte beisteuerten, entwickelte sich so das jugendkulturelle Phänomen der inter- oder transnationalen Populärmusik.
Fazit
Radiohören gehörte Anfang der er Jahre längst zum alltäglichen Medienhandeln der westdeutschen Jugend. Geschätzt wurde der Hörfunk vor allem für seine Rolle als vielseitiges Informations- und Unterhaltungsmedium in Wort und Musik. In der Erinnerungs- und Forschungsliteratur wird Radio hingegen häufig auf Letzteres reduziert und auf die offensichtlichen Unzulänglichkeiten bei der Ansprache Jugendlicher hingewiesen. Dieser Beitrag plädiert für einen differenzierten Blick. Der junge Hörer war für Redakteure und verantwortliche Programmplaner, wie letztlich für die westdeutsche Gesellschaft insgesamt, lange Zeit ein unbekanntes Wesen. Inwiefern gesonderte Programmangebote für Jugendliche – in Abgrenzung zu Kindern, Schülern und Erwachsenen – angeboten werden sollten, welche Hörinteressen und -erwartungen diese Jugendlichen hatten und wie Sendungen, die an diese Zielgruppe gerichtet waren, gestaltet werden sollten, war bis in die er Jahre reichlich unbestimmt. Die Programmgestaltung ignorierte Jugendliche daher zunächst oft als eigenständige Zielgruppe; schließlich unterschieden sich ihre Hörgewohnheiten kaum von denen der Erwachsenen. Oder aber man folgte in speziellen Jugendsendungen ganz grundsätzlich den damals für das Medium und die Jugendarbeit typischen pädagogischen Überlegungen. Allgemeinbildende, staatsbürgerkundliche Inhalte, Nachrichten und Berichte aus Jugendverbänden, Beiträge zu Ausbildungsfragen und zur Berufswahl bestimmten daher die ersten Jugendsendungen. Die Geschichte des Umgangs mit jugendlichen Hörern ist eine Geschichte des Kennen- und Dazulernens. Dazu trugen nicht zuletzt auch Erkenntnisse der Hörerforschung bei. Sprachen jugendorientierte Wortprogramme wie der Jugendfunk nach anfangs vor allem über Jugendliche oder zu ihnen, kam es in den er Jahren zu einer schrittweisen Anpassung an jugendliche Hörerwartungen, weil mit ihnen gesprochen wurde. Einige Sendekonzepte des Jugendfunks wirken aus heutiger Sicht ausgesprochen bieder – allerdings trafen sie den Zeitgeist und die Erwartungen vieler Heranwachsender besser als in der Rückschau gerne unterstellt. Der Jugendfunk wandelte sich von einem „Jugendverbandsfunk“ zu einem Jugendfunk neuen Typs, zu einem Forum, in dem sich – auch weil Jugendliche verstärkt in die Programmgestaltung einbezogen wurden – informierende, unterhaltende
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und vor allem kommunikative Elemente stärker als zuvor miteinander verbanden. Der schwierige Spagat zwischen freundschaftlicher Anleitung und erwachsener Bevormundung scheint im Jugendfunk der zweiten Hälfte der er Jahre vielfach geglückt zu sein. Er präsentierte sich als bedeutsames Experimentierfeld für neue Programmformate und als Ort des Austauschs zwischen Jugendlichen. In der zweiten Hälfte der er Jahre nahm der politische und gegenwartskritische Charakter der Jugendfunksendungen dann noch einmal zu. Im Bereich der jugendorientierten, internationalen Populärmusik, die in den er Jahre an Bedeutung gewann, waren die öffentlich-rechtlichen Anstalten hingegen im Hintertreffen. Rock’n’Roll war hier kaum zu hören, allerdings auch kein Massenphänomen. Die daran Interessierten wechselten zu AFN, BFN oder Radio Luxemburg. Der daraus erwachsende asymmetrische Wettbewerb bewirkte parallel zum Aufstieg der Musikindustrie und der Neuausrichtung des Hörfunks als Tagesbegleitmedium zukunftsweisende Innovationen in den U-Musikprogrammen. In Adaption eines Erfolgsmodells der Truppenbetreuungssender und von Radio Luxemburg fasste etwa der – selbst wieder aus den USA importierte – Radio„Discjockey“ als Repräsentant einer neuen, legeren Präsentationsform populärer Unterhaltungsmusik und als neues Berufsbild im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Bundesrepublik Fuß. Bis in die er Jahre hinein blieben solche Musiksendungen „Inseln“ im Gesamtprogramm. Aber diese hatten eine treue Hörerschaft und ermöglichten die Entwicklung zukunftsträchtiger Sendekonzepte. Die er Jahre sind als „programmgeschichtliche Sattelzeit“ zu bezeichnen. Innovative Sendekonzepte, die thematisch wie formal neue Wege gingen und dabei das traditionelle „Kästchenprogramm“ durchstießen, bereiteten wichtige Programmentwicklungen der er- und er Jahre vor: den Weg vom bildenden Wort zur unterhaltenden Musik im Jugendbereich und generell vom Leitmedium zum Begleitmedium. Eine Entwicklung, die durch die Konkurrenz des Fernsehens und die Mobilisierung der Radionutzung durch Transistorradio und Autoradio angetrieben wurde. Als Jugendmedium kann gelten, wenn ein Medium bzw. zentrale Bestandteile davon für Jugendliche konzipiert werden oder aber wenn bestimmten, (zunächst) nicht speziell an sie gerichteten Medienangeboten im Alltag von Jugendlichen eine herausragende Bedeutung zukommt. Im Falle des Hörfunks der er Jahre sind beide Dimensionen erfüllt – das gilt für die Programme des öffentlich-rechtlichen Hörfunks wie für dessen außerhalb des Rundfunksystems stehenden Konkurrenten. Der Hörfunk begleitete das Leben seiner jungen Nutzer dabei nicht einfach nur als Gegenwartschronist und Musikdistributor, sondern prägte Jugend durch die in den Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsangeboten enthaltenen
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Weltsichten und Darstellungen jugendlichen Lebens sowie als parasozialer Partner auch selbst. Sowohl die Wort- als auch die Musikprogramme beeinflussten die individuelle und kollektive Identitätsarbeit ihrer Hörerinnen und Hörer im Übergang vom Kindes- in das Erwachsenenalter. Dies beförderte wiederum die jugendkulturellen Entwicklungstrends der er und er Jahre.
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Jugendradio in Deutschland – politisch (zu) explosiv? Die Wogen gingen hoch im Streit um diese Sendung: Während der damalige FDPGeneralsekretär Günter Verheugen betonte, hier handle es sich „um eines der ganz wenigen Instrumente, mit denen die jungen Leute überhaupt noch angesprochen werden konnten“ , bemängelte der Rheinische Merkur „eindeutig systemverändernden oder klassenkämpferisch-radikalsozialistischen Charakter“ der Beiträge ; und mehr als einmal erreichte den Westdeutschen Rundfunk Hörerpost wie dieser Brief aus dem Sauerland, : Ich höre gerade von Ekel geschüttert [sic!] die Sendung Radiothek [...], ein Gipfel ordinärster Untergrund-Klassenkampf-Propaganda. [. . . ] Dazwischen ordinärste, schwülste Beat-Schlagermusik, teilweise in englischer Fäkaliensprache. – Das also ist für den WDR: Bildungsarbeit an deutschen Jugendlichen!
Vom . Dezember bis zum . Dezember strahlte der WDR seine erste tägliche Jugendsendung aus: Fünf nach sieben – Radiothek nannte sich die Reihe, die Hörer zwischen und Jahre ansprechen sollte. Unterhaltsam und zugleich informativ sollte die Sendung sein; vor allem war der Redaktion daran gelegen, „es dem jungen Menschen [zu] ermöglichen [. . . ], seine eigene Lage zu erkennen, zu
Verheugen zur „Radiothek“ – Kluft zwischen den Generationen darf nicht größer werden, in: Freie Demokratische Korrespondenz, . Februar , o.S. – Das Papier gelangte zu den Akten der Intendanz: Historisches Archiv des WDR (künftig: HA WDR), unverzeichneter Bestand des Intendanten von Sell, Akte WDR Allgemeine Programmangelegenheiten – RADIOTHEK – Absetzung der Live-Wort-Beiträge L–Z – .. Zitat nach dem Schriftstück in der Akte. O.A., Agitprop im Kölner Funkhaus. Systemveränderung und Klassenkampf werden von Mitarbeitern des WDR großgeschrieben, in: Rheinischer Merkur, . April , o.S. Wenn in diesem Beitrag von „Hörern“, „Akteuren“ oder „Redakteuren“ etc. die Rede ist, sind damit in der Regel Personen beiderlei Geschlechts gleichermaßen angesprochen. Albert J. aus Neheim-Hüsten an den WDR, .., HA WDR . Ausführlich zu dieser Sendereihe: Michael Kuhlmann, „Fünf nach sieben – Radiothek.“ Der Streit um eine Jugendsendung des Westdeutschen Rundfunks Köln bis , Köln (zugl. Diss. Münster ). Nach Erscheinen dieser Arbeit sind im WDR-Archiv einige weitere, noch unverzeichnete Akten zur Radiothek aufgefunden worden; sie sind in diesem Beitrag berücksichtigt.
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beurteilen, gegebenenfalls zu verändern“ . In den frühen siebziger Jahren hatten sämtliche ARD-Anstalten eine solche „Zielgruppensendung für Jugendliche“ in ihr Programm aufgenommen. Man kann diese Sendungen als Vorläufer der späteren Jugendwellen betrachten; erstmals fand die junge Zielgruppe hier ein tägliches umfangreiches Angebot vor. Die Radiothek bietet sich als Fallbeispiel an, denn offensichtlich folgte ihre Redaktion am konsequentesten der ZielgruppenPhilosophie.
Radio für Jugendliche: neue Ansätze um 1970
In dieser Philosophie schlug sich der gewandelte Blick auf die junge Hörergruppe nieder – und auf die Jugend an sich: eine eigenständige Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein. Der BR-Redakteur Hanns Helmut Böck fasste die Motivation zusammen: Jugendliche müssten mit ihren Problemen ernst genommen werden. Jugendsendungen könnten dem einzelnen Jugendlichen „seine Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gemeinschaft“ bewusst machen und ihn zugleich ermutigen, seine „Urteils- und Kritikfähigkeit“ zu gebrauchen. Dass jugendliche Mentalität häufig durch „Übereifer, Einseitigkeit, Übertreibung, Zitiert nach dem Einspielband der Sondersendung „Radiothek über Radiothek“ (.. – Moderator war Ulrich Teiner, der Wortredaktionsleiter der Sendereihe), WDR-Schallarchiv . Zu diesem Begriff: Helga Kirchner/Ulrich Teiner, Zielgruppensendungen – Anmerkungen einer umstrittenen Sache am Beispiel Radiothek, in: Funk-Report, H. , , S. –. Vgl. zu diesen Sendungen ARD-Jahrbuch, Jg. , , S. ; Jg. , , S. ; Jg. , , S. und S. ; ferner Heiner Stahl, Jugendradio im kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (–), Berlin ; sowie Christoph Lindenmayer, Zielgruppenprogramme im Bayerischen Rundfunk. Identitätsstiftung zwischen Tradition und Innovation, in: Margot Hamm u. a., Hg., Der Ton – Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk – – , Augsburg (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur /), S. –, hier S. . Der Zündfunk des BR existiert als einzige dieser Sendungen bis heute und stellt ein vergleichsweise anspruchsvolles und eigenwilliges Jugendprogramm dar: http://www.zuendfunk.de (..). Zahlreiche Äußerungen in der Presse und redaktionelle Weichenstellungen bei anderen Sendern legen diesen Schluss nahe – so sprach auch der Spiegel schon von der „meistumstrittene[n] Hörfunksendung in der Bundesrepublik“: zit. nach o.A., Trojanischer Teppich, in: Der Spiegel, H. , , S. –, hier S. . Zum damaligen Gesamtbild der ARD-Zielgruppensendungen für Jugendliche vgl. das Themenheft Jugendfunk – Pickel im Programmgesicht der Zeitschrift Medium, Jg. , H. , . Vgl. ARD-Jahrbuch, Jg. , , S. ; Jg. , , S. ; Jg. , , S. ; Jg. , , S. . Vgl. Detlef Siegfried, Draht zum Westen. Populäre Jugendkultur in den Medien bis , in: Monika Estermann/Edgar Lersch, Hg., Buch, Buchhandel und Rundfunk. und die Folgen, Wiesbaden (Mediengeschichtliche Veröffentlichungen ), S. –, hier S. .
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Kritiklust, Skeptizismus usw.“ gekennzeichnet sei, müssten die Sendungen bewusst in Rechnung stellen. Ausgewogenheit sei in Jugendsendungen „nicht zu verstehen als ein Beitrag zur Einübung in formal-demokratisches Proporzdenken, sondern als Verpflichtung der Verantwortlichen, durch das Programm Toleranz als demokratische Grundtugend zu propagieren“. Der WDR Köln begann in dieser Hinsicht ein ungewöhnliches Projekt: die monatliche Sendung Panoptikum – Minuten für junge Leute. In einer dramaturgisch ausgefeilten Collage aus Musik und Moderation, Sketchen, Originaltönen und Wortbeiträgen wurden aktuelle Themen aus Gesellschaft, Politik und Kultur pointiert aufs Korn genommen. Die Redakteurin Gretel Rieber begründete: Früher machte man Jugendfunk aus dem Gefühl heraus: Da ist die heile Welt der Jugendlichen und der Kinder, und die interessieren sich für ’n Bisschen Wandern und ’n Bisschen Klampfe und vielleicht Basteln. [...] Inzwischen hat man doch aber gesehen [...], dass sich gerade junge Leute sehr ernsthaft engagieren – jetzt mal ganz vage gesprochen: gegen Unrecht. [...] Sodass man heute also Jugend anders definieren müsste.
Zum Jahresende ging der WDR deshalb noch einen Schritt weiter: Panoptikum wurde ersetzt durch die täglich zweistündige Radiothek.
Vierzigmal so viel Sendezeit wie zuvor: Der WDR bekommt eine „Jugendschiene“
Dies vollzog sich im Rahmen einer allgemeinen Auffrischung des zweiten Programms, mit der Hörer vor allem von Radio Luxemburg zurückgewonnen werden
Vgl. Hanns Helmut Böck, Zur Situation des Jugendprogramms im Deutschen Fernsehen, in: Jugend, Film, Fernsehen, H. , , S. –, hier S. f.; direkte Zitate dort entnommen. Sämtliche Panoptikum-Sendungen sind im WDR-Schallarchiv erhalten; beispielhaft nennen kann man das Debüt vom .. (WDR-Schallarchiv ), ferner die Ausgaben vom .. () und .. (). – Zu Form und Gestalt der Materialien in einem ARDSchallarchiv vgl. Michael Kuhlmann, Exemplarische Studie: Das Jugendradio in den Archiven. Erfahrungen am Beispiel der WDR-Sendereihe Fünf nach sieben – Radiothek (–), in: Markus Behmer u. a., Hg., Das Gedächtnis des Rundfunks. Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung, Wiesbaden , S. –. Zit. nach der Sendung „Journalisten fragen WDR-Redakteure über die Sendereihe PANOPTIKUM“ (..), WDR-Schallarchiv .
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sollten. So entwickelte die Hauptabteilung Kultur den Plan einer täglich zweistündigen Jugendsendung am frühen Abend. Musik und Wort spielten darin gleichermaßen eine Rolle; sie wurden jeweils von einem separaten Moderator präsentiert. Zwar konnten diese Moderatoren zumeist kaum die Brüche kaschieren, die sich zwischen der unterhaltenden Popmusik und den intensiv mit ihrem Thema befassten Wortbeiträgen ergaben. Dass die beiden versetzt zueinander im Studio saßen – der Musikmoderator einige Meter entfernt im Rücken des Wortmoderators, beide mit Blick zur Regie –, erschwerte ihr Miteinander. Die sogenannte Doppelmoderation gewährleistete aber, dass Wort- und Musikstrecken gleichermaßen kompetent moderiert wurden. Ein einzelner Moderator hätte dies – wie die Hörerfahrung in vielen Wort/Musik-Sendungen zeigt – kaum leisten können. Der Ansatz war bestimmt von einem Denken, das zeittypisch auf Demokratisierung, Partizipation und gesellschaftliche Reformen abzielte. Wenn die Radiothek beanspruchte, „emanzipativ“ zu wirken, so folgte sie einem zeittypischen Emanzipationsbegriff, der auf die „Befreiung der Subjekte [. . . ] aus Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken“ , abzielte. Hinzu gesellte sich der jugendspezifische Akzent. Die federführende Gretel Rieber betonte: Selbstverständlich gehören zum Spektrum ,Jugendkultur‘ auch politische, soziale und Bildungselemente. Information, Hilfestellung bei der Schärfung eines kritischen Bewußtseins, konkret ,Lebenshilfe‘ für junge Arbeiter, Lehrlinge, Schüler und Studenten müssten innerhalb des Programmrahmens ,Jugendschiene‘ ausreichend Platz finden, nicht nur, weil dies dem Programmauftrag des WDR entspricht, sondern auch, weil die jungen Hörer dies immer wieder in Briefen und Gesprächen wünschen.
Vgl. Siegfried, Draht zum Westen, S. f. Protokoll eines Gesprächs zum Thema „Jugendschiene“ vom ..; vgl. außerdem Schreiben Gretel Riebers an Heinz Linnerz und Waltraud Blain vom .., beide in HA WDR . Hermann Giesecke, Die Jugendarbeit, München (Grundfragen der Erziehungswissenschaft ), S. . Wolfgang Lorig, Aussteigermentalität und politische Apathie Jugendlicher. Eine zentrale Herausforderung für die politische Bildung der achtziger Jahre, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. –, , S. –, hier S. . Schreiben Gretel Riebers an Heinz Linnerz vom .., HA WDR .
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Somit sollten Vertreter dieser Zielgruppe selbst zu Wort kommen: im Originalton, kurz: O-Ton.
Zur jugendspezifischen Gestalt der Sendung
Dieser Ansatz folgte einem zeittypischen Trend. Indem sie ausgiebig O-Töne verwendeten, kamen die Radiomacher Gedanken näher, wie sie Bertold Brecht entwickelt hatte: Er hatte sich das Radio als einen „Kommunikationsapparat“ vorgestellt, in dem „das Publikum nicht nur belehrt werden, sondern belehren“ können müsse. Ein Radio „von Jugendlichen für Jugendliche“ war die Radiothek also in einer mittelbaren Form: Jugendliche kamen relativ ungefiltert zu Wort; die Federführung lag gleichwohl bei professionellen Journalisten, denn die Redaktion war in die Struktur des WDR eingegliedert, es herrschte die gewohnte Aufgabenverteilung unter festangestellten und freien Mitarbeitern. Eine Sendung, die die Redaktion über ihre eigene Arbeit herstellte, lässt freilich vermuten, dass die jugendlichen Interviewpartner mitunter auch an der inhaltlichen Ausrichtung eines Beitrags beteiligt wurden. Zusätzlich sollten die O-Töne in der Radiothek ein Identifikationsobjekt darstellen. Der Redaktionsleiter Ulrich Teiner erläuterte: Der junge Hörer muß erkennen, dass in diesen Programmen seinesgleichen in seiner Sprache seine Probleme und Fragen artikulieren. Und dieses bedeutet, dass junge Leute in solchen Programmen mit Selbstaussagen und Selbstdarstellungen beteiligt werden müssen.
Jugendspezifische Ästhetik freilich wies das Wortprogramm eher im Detail auf – deutlich etwa im Falle der preisgekrönten Feature-Serie Geschichte der Comics, die Ästhetiken des gedruckten Mediums mittels aufwendiger Studioproduktionen in akustische Formen zu übertragen suchte. Jugendspezifische Ästhetik gewann die Radiothek also vor allem durch ihre Rock- und Popmusik. Vgl. Bertold Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks, in: Ders., Schriften zur Literatur und Kunst –, Bd. , Frankfurt a.M. , S. –, hier S. . Über die Entstehung der nächsten Freitagsradiothek (..), WDR-Schallarchiv . Moderation Teiners in der Sendung Radiothek über Radiothek, WDR-Schallarchiv . Vgl. Geschichte der Comics Teil : Pro und Contra des Gebrauchs und Lesens von Comics (..), WDR-Schallarchiv , und die weiteren elf Folgen im Schallarchiv.
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Die Sende-Inhalte der Radiothek Das Musikprogramm
Charakteristisch für das Musikprogramm war seine stilistische Spannweite mit einem individuellen Akzent an jedem Wochentag. Am einen Ende der Skala standen die vom US-Amerikaner Mal Sondock moderierte Discothek im WDR und eine weitere, samstägliche Hörer-Hitparade unter dem Titel Schlagerrallye, die stärker die Präsenz deutschsprachiger Musik gewährleistete. Den stilistischen Konterpart bildete die donnerstägliche Sendung mit „progressiver Popmusik“, die Winfried Trenkler verantwortete und in der ohne Weiteres Musik des RockAvantgardisten Frank Zappa oder gar eine Platte der Rock-Jazz-Formation Weather Report auftauchte. An den anderen Tagen bestimmten vor allem MainstreamPop-Klänge das Programm. Pop mit einem auf Soul-Musik hin orientierten Schwerpunkt legte Dave Colman auf, dessen Laufpläne am umfangreichsten dokumentiert sind und an denen sich die Gestaltungsprinzipien eines Radiothek-Musikprogramms ablesen lassen. Colmans Programm am . März etwa begann mit der gerade erschienenen Single I Can Do It, einer noch leicht von Klängen der sechziger Jahre beeinflussten Nummer der an sich eher als mittelmäßig bekannten britischen Gruppe The Rubettes, die aber in einer Mischung aus Leichtigkeit, zügigem Tempo und rockigen Tönen durchaus eine passende Eröffnung abgab. Mit dem People’s Choice-Titel Party Is A Groovy Thing schloss sich typische Soulmusik der Zeit an; sie nahm gegenüber dem energiereichen Eröffnungsstück etwas Tempo zurück und wirkte auch in ihrer Monotonie entspannend. Auf Al Wilsons Willoughby Brook folgte mit Roger Glovers Love Is All ein Stück, das triolischen Shuffle-Grundrhythmus und einige wenige Folk-Elemente einbrachte. Nach Eddie Kendrix’ höchst erfolgreicher Version des Shoeshine Boy schloss sich mit People Gotta Move eine Single des kanadischen Sängers Gino Vannelli an: soulinspirierte, wenngleich etwas oberflächliche Tanzmusik mit Klängen zeittypischer Synthesizer-Musik, die gegenüber Love Is All die Lautstärke und klangliche Dichte deutlich zurücknahm. Das in der Popmusik der siebziger Jahre allgegenwärtige Fender Rhodes Mitschnitte der aus dem sogenannten Lunchroom des Kölner Funkhauses in der Regel direkt übertragenen Discothek im WDR sind im WDR-Schallarchiv nicht erhalten; dort finden sich nur einige wenige vorproduzierte Sendungen. Die Sendung vom .. ließ sich auf der Grundlage der früher auf http://www.mal-sondock-fanpage.de/ (..) hörbaren Moderationen rekonstruieren. Die Schlagerrallye vom .. ist als Mitschnitt erhalten, WDR-Schallarchiv . Vgl. beispielhaft Trenklers Musiklaufplan zur Sendung vom .., HA WDR . Vgl. Colmans handgeschriebenen Laufplan, HA WDR .
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Piano bestimmte eingangs die Klangfarben im folgenden It’s A Miracle von Barry Manilow, mit dem das Tempo wieder etwas anzog: ein zwar belangloses, jedoch abwechslungsreich arrangiertes Stück. Barry White war anschließend abermals vertreten: mit What Am I Gonna Do With You, einer orchestralen Nummer, voller Klischees des gerade aktuellen streichergesättigten Philadelphia Soul. Auch Al Wilson tauchte – mit Jifty Fifty – ein zweites Mal auf; daran schloss sich die süßliche Ballade Star On A TV Show der Soulband The Stylistics aus Philadelphia an. Das gemäßigte Tempo der Musik war nun offenbar der späteren Tageszeit – nach dem Wortbeitrag – angemessen. Mit Neil Sedakas und Elton Johns gerade erschienenem Bad Blood brachte Colman noch einmal maßvoll rockigere Klänge ins Spiel. In Gestalt von Johns fünfeinhalbminütigem Philadelphia Freedom folgte dann einer der längsten Titel des Programms – abermals in einer recht „weiß“ klingenden Soul-Stilistik, die Anklänge der Disco-Welle vorwegnahm. Das Motown-Soul-Quintett Detroit Spinners war im Anschluss mit dem streckenweise etwas schwülstigen Jivin’ A Little, Laughin’ A Little vertreten. I Am Love, Einstiegstitel der jüngsten und sehr erfolgreichen LP der Jackson Five, nahm dann das Tempo für einige Minuten noch weiter zurück, bevor es nach einer wieder etwas energischeren Rock-Jazz-Instrumentalpassage ausgeblendet wurde. Barry Manilows My Baby Loves Me schloss sich an, gefolgt von Roberta Flacks gerade erst erschienenem Old Heartbreak Top Ten. Al Wilson tauchte sodann mit La La Peace Song gar noch ein drittes Mal in dieser Sendung auf, die schließlich mit einem Überraschungs-Hit der Gruppe Tymes ausklang: Miss Grace. Solche Musikprogramme standen für das Bestreben, Einstiegs- und Schlussnummern mit Bedacht auszuwählen, dazwischen für Abwechslung in Klangfarbe, Stilistik, Tempo und Rhythmik zu sorgen, dabei allerdings musikalische Widerhaken und sperrige Klänge möglichst zu vermeiden. Musik, die über den Tag hinaus Bedeutung erlangen sollte, war freilich kaum vertreten. Offenkundig ging es darum, ein unterhaltsames Programm zu schaffen, das zu Beginn der Sendung für Aufmerksamkeit sorgte und die Hörer gegen Uhr mit einem für die Tageszeit immer noch recht hohen Tempo in den Abend entließ. Das Wortprogramm und seine inhaltlichen Akzente
Die Musik in der Radiothek umrahmte ein tägliches Wortprogramm, das zumeist live moderiert wurde – mit der Folge, dass es redaktionell schwerer zu kontrollieren war als ein vorproduziertes Programm. Überlieferte Sendelaufpläne zeigen das Gerüst aus Musikstrecken, dem eingelagertem Wortbeitrag und seiner Struktur aus Moderationen und vorproduzierten „Takes“, die vom Band eingespielt wurden.
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Abb. : Ein typischer Laufplan, wie ihn Moderatoren, Redakteure und Techniker während der Sendung vor sich liegen hatten. Quelle: Archiv des WDR, HA WDR ZUR-, unverz. Bestand der Radiothek-Sendeunterlagen .
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An jedem Wochentag wurde ein fester thematischer Schwerpunkt gesetzt. Montags ging es um Politik, dienstags um die Arbeitswelt; mittwochs standen typische private Probleme Jugendlicher auf dem Programm, donnerstags Service und Ratgeberfunktion. Der Freitag brachte Themen aus Schule, Hochschule und Bildungssystem; samstags ging es im Rahmen der Schlagerrallye um Kultur, während der Sonntag unter dem Rubrum Open Box einen Platz für Sonderformate und ungewöhnliche Themen bot. Dort fanden sich auch Beteiligungssendungen unterschiedlicher Art. Mitunter behandelte die Redaktion eine Materie in einer monothematischen „Sendewoche“: Dort ging es etwa um Jugendarbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Umweltschutz oder den sogenannten Radikalenerlass. Wie die Redaktion ihre Themen in den dokumentierten Beiträgen behandelte, lässt sich angesichts des kaum überschaubaren Quellenfundus am ehesten darstellen, indem man die grundsätzlichen Tendenzen bezüglich der einzelnen Themenfelder zusammenfasst. Der politische Themenbereich
Die Beiträge zu politischen Themen suchten die Hörer mit den Mechanismen parlamentarischer Demokratie vertraut zu machen, sie über Ziele und Vorgehensweisen der Akteure zu informieren und ihre Partizipationsbereitschaft zu wecken. Ins Auge fällt der Detailreichtum der Darstellungen. Sympathien für sozialdemokratische oder linksliberale Anschauungen sind in vielen Fällen spürbar, dazu eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber den gerade entstehenden Alternativparteien. Zeitgeschichtliche Sendungen wandten sich vornehmlich der nationalsozialistischen Diktatur sowie der Geschichte der Arbeiterbewegung zu; die Beiträge zu letzterem Thema allerdings sympathisierten an vielen Stellen mit dieser Bewegung und ließen Neutralität vermissen. Das nationalsozialistische Deutschland hingegen wurde in einer Reihe differenzierter und detaillierter Sendungen betrachtet.
Aus zahlreichen überlieferten Beiträgen lassen sich herausgreifen: „Schaufensterdebatten – darf im Parlament jeder reden, wann und was er will?“ (..), HA WDR ; „Die Gründung der Partei der Grünen. Studiogespräch mit zwei Parteimitgliedern“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Jugendverbände und Jugend. Diskussion mit Vertretern deutscher Jugendverbände über das Verhältnis der Jugend zu den etablierten Parteien“ (..), WDR-Schallarchiv . Beispiel ist der Beitrag „,Den Karl Liebknecht haben wir verloren, die Rosa Luxemburg starb durch Mörderhand.‘ Karl Retzlaw erinnert sich anläßlich des . Todestages der beiden Führer der deutschen Arbeiterbewegung“ (..), WDR-Schallarchiv .
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Sie appellierten nur in relativ geringem Maße an Emotionen und zeigten sich eher bemüht, historische Sachkenntnisse der Hörer zu vertiefen. Zum Ende des Jahrzehnts widmete sich die Radiothek auch der gerade aufgekommenen Umweltbewegung, wies auf Sicherheitsmängel in Atomkraftwerken und das ungelöste Problem der Entsorgung atomarer Brennstoffe hin, informierte über alternative Anbaumethoden der Landwirtschaft; sie warb dafür, im Alltag Energie zu sparen. Die Sendungen zur Innen- und Rechtspolitik befassten sich häufig mit der Jugendkriminalität und dem Jugendstrafvollzug. Sie wiesen auf erzieherisches Versagen der Eltern vieler junger Straftäter hin, auf das zerrüttete persönliche Umfeld. Immer wieder kamen Schwächen des Strafvollzuges zur Sprache. Die Sendungen beschrieben hoffnungsvolle Resozialisierungsprojekte. Beim Blick auf die Arbeit von Polizei und Sicherheitsbehörden kritisierte die Radiothek mehrfach ein aus ihrer Sicht überzogenes Handeln – etwa beim Vorgehen staatlicher Stellen gegen unbequeme Bürgerinitiativen oder Schülerzeitungen. Zur Zielscheibe der Kritik geriet der Radikalenerlass: Die Radiothek-Beiträge beklagten, dass er dazu beigetragen habe, das Klima in der bundesdeutschen Gesellschaft zu vergiften; denn viele Menschen – so hieß es – fürchteten sich, ihre Meinung frei zu äußern. Die Sendung leitete aus dem Grundgesetz ein weit libera-
Beispiele sind die Beiträge „Aus der Sicht der Opfer – ein Pole erzählt vom deutschen Überfall auf Polen vor Jahren“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Navajos und Edelweißpiraten – über den Jugendwiderstand gegen den Faschismus in Köln“ (..), WDR-Schallarchiv . Beispiele sind die Beiträge „. Intenationales Sommercamp der Atomkraftgegner in GorlebenGartow – Atomdeponie, Wiederaufbereitungsanlage“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Kann mir mal jemand sagen, was hier eigentlich los ist? – Umweltzerstörung am linken Niederrhein“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Landwirtschaft – mal mit Chemie, mal ohne – Biologisch-dynamischer Ackerbau als Alternative“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Muß sich die Gesellschaft ändern, damit die Umwelt überlebt?“ (..), WDR-Schallarchiv . Beispiele sind die Beiträge „Lebenslänglich“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Über die Praxis des Strafvollzugs in der Hamburger Jugendstrafanstalt Vierlande. Ein Gespräch mit der Anstaltsleiterin Eva Maria Rühmkorf und vier jugendlichen Häftlingen“ (..), WDRSchallarchiv ; ferner die Serie „Einmal geklaut – immer kriminell? Über Jugendkriminalität – Motive, Ursachen, Vorbeugung“ (. und ..), WDR-Schallarchiv . Zu beobachten in Beiträgen wie „Foltert die Polizei? Bericht über ein Frankfurter Tribunal“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Polizei im Kleverhof“ (..), WDRSchallarchiv ; „Bürger beobachten die Polizei. Aus der Arbeit einer Berliner Bürgerinitiative“ (..), WDR-Schallarchiv .
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leres Gesellschaftsmodell her als sie es im Radikalenerlass wiederfand. Deutlich zurückhaltender geriet die Sendewoche zum RAF-Terrorismus unmittelbar im Anschluss an den „Deutschen Herbst“ . Hier gelang es der Redaktion über weite Strecken, die Argumente beider Seiten – konservativer Verfechter wie liberaler Kritiker der gesetzgeberischen und polizeilichen Maßnahmen – einander gegenüberzustellen und dem Hörer auf dieser Grundlage das Urteil zu überlassen. Eine durchweg ablehnende Haltung nahmen die Mitarbeiter der Radiothek in ihren Sendungen schließlich gegenüber dem Rechtsextremismus der siebziger Jahre ein; sie ließen dessen Verfechter zwar zu Wort kommen, widerlegten deren Ansichten anschließend jedoch entschieden und wiesen mitunter auf Parallelen neonazistischer und stalinistischer Vorstellungen hin. Sie betrachteten die Aktivitäten türkischer MHP-Rechtsextremisten in der Bundesrepublik und betonten deren Nähe zu militanten Islamisten. Beim Blick über die Grenzen der Bundesrepublik galt das Interesse u. a. der DDR. Berichte über den SED-Staat arbeiteten aus liberal-westlicher Perspektive: Sie zeigten keinerlei Sympathie für das Regime und wiesen auf gesellschaftliche Reformrückstände hin – gerade mit Blick auf die Rolle der Frau, die nur scheinbar emanzipiert und de facto einer Doppelbelastung in Haushalt und Arbeitsleben ausgesetzt sei. In den Sendungen über diese DDR-Arbeitswelt allerdings fiel die Kritik an Missständen, wiewohl vorhanden, mitunter etwas moderater aus, als man das von vielen Beiträgen über einschlägige bundesdeutsche Verhältnisse kannte. Die Unterdrückungsmechanismen des SED-Staates kamen in den dokumentierten
Behandelt wurde das Thema z. B. in den Beiträgen „Ist die Freiheit in Gefahr? Die Gesinnungsprüfung des Helmut Leonhardt“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Radikale unerwünscht bei der Post?“ (..), WDR-Schallarchiv . Zu hören in „Ursachen des Terrorismus“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Terrorismus – Die Sympathisanten“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Reaktionen des Rechtsstaates auf den Terrorismus“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Terrorismus – mit der Fahndung befaßt, von der Fahndung betroffen“ (..), WDR-Schallarchiv . Beispiele sind die Beiträge „Landser-Hefte“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Der deutschen Sache dienen. Rechtsradikale Jugend in der Bundesrepublik“ (..), WDRSchallarchiv . Radiothek vom .., HA WDR, unverz. Best., Akte der Intendanz WDR Allgemeine Programmangelegenheiten – RADIOTHEK – –. Mit der DDR befassten sich u. a. die Beiträge „Zur Lage der Frauen in der DDR“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Nicht mehr in der DDR – Stellungnahmen zur Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Wir sind sozial, sicher und geborgen – Jugend in der DDR“ Teil (..), WDR-Schallarchiv .
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Sendungen nur selten zur Sprache – besonders bei der Betrachtung der DDRRockszene sprang das ins Auge. Sendungen über die Dritte Welt forderten, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern faire Handelsbedingungen zu schaffen. Sie wiesen auch auf die Verantwortung des einzelnen Konsumenten in den reichen Ländern hin. Sie berichteten schließlich über gelungene Projekte der Entwicklungszusammenarbeit. Mit Blick auf die Weltwirtschaft schlugen sich die Autoren in einigen Fällen entschieden auf die Seite der Verfechter zeitgenössischer Dependenztheorien: Sie blieben wie Letztere Erklärungen im Detail schuldig, wenn sie in einer separaten ökonomischen Entwicklung der Drittweltländer das Allheilmittel ausmachten. Scharfe Kritik übte die Radiothek am Apartheid-System Südafrikas; auch im Falle südamerikanischer Militärdiktaturen legten die Sendungen westlichen Wirtschaftsunternehmen und der Bundesregierung zur Last, aus ökonomischem Eigeninteresse über Menschenrechtsverletzungen vor Ort hinwegzusehen. Vergleicht man die Sendungen unter diesem Aspekt mit jenen über die DDR, so fällt auf, dass die Redaktion hier also zweierlei Maß anlegte. Die Themenbereiche Gesellschaft und Kultur
Die Sendungen über Probleme gesellschaftlicher Minderheiten sollten vor allem Informationen vermitteln. Im Falle ethnischer Gruppen schilderte die Radiothek deren Lebensweise und ihre Probleme. Die Sendungen betrachteten die Bundesrepublik der siebziger Jahre als Einwanderungsland und machten sich für größere So vermied die Sendung „Deutschrock Made in DDR“ vom .., WDR-Schallarchiv , jeglichen Hinweis auf die politische Rolle der Rockgruppe Renft in den sechziger und siebziger Jahren und auch auf das Vorgehen des Staates gegen die Leipziger Beat-Szene um . Vgl. dazu Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR –, Bonn (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung ), S. ; sowie Michael Rauhut, Rock in der DDR bis , Bonn , S. und S. . Eine emanzipativ ausgerichtete Jugendsendung wie die Radiothek hätte zwingend darauf eingehen müssen. Mit Problemen der Dritten Welt befassten sich z. B. die Beiträge „Welternährungskonferenz Rom – Welche Konsequenzen hat sie?“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Weizen als Waffe. Über die Ursachen des Hungers in der Dritten Welt“ (..), WDR-Schallarchiv . Vgl. zu den Dependenztheorien und zu ihren Schwächen Hermann Sautter, Unterentwicklung und Abhängigkeit als Ergebnis außenwirtschaftlicher Verflechtung. Zum ökonomischen Aussagewert der Dependencia-Theorie, in: Hans-Jürgen Puhle, Hg., Lateinamerika – Historische Realität und Dependencia-Theorien, Hamburg (Historische Perspektiven ), S. –, hier S. –. Beispiele sind die Beiträge „Terror und Rezession. Ein Jahr Militärjunta in Chile“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Argentinien ein Jahr nach dem Putsch“ (..), WDRSchallarchiv ; „Guerilleros oder Terroristen? Gespräch mit einem Afrikaner über Freiheitsbewegungen im südlichen Afrika“ (..), WDR-Schallarchiv .
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Akzeptanz ausländischer Bevölkerungsgruppen stark. Hinsichtlich behinderter Menschen beklagten die Beiträge, dass die Betroffenen allzu oft an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden – gefordert wurde auch hier ein soweit wie möglich gleichberechtigtes Miteinander. Die Sendung forderte von Randgruppen gerade nicht die Anpassung an herrschende Gepflogenheiten, sondern sie klagte eine größere Toleranz der Mehrheitsgesellschaft ein. Die Wortbeiträge zur Jugendkultur sparten nicht mit Kritik an kommerziell ausgerichteter Popmusik; sie distanzierten sich vom profitorientierten Verhalten vieler Produzenten und Plattenkonzerne. Dies geschah mitunter in Beiträgen, die inhaltlich einer Schulfunksendung glichen. Von Starkult ist in den dokumentierten Wortstrecken nichts zu spüren. Die Beiträge wandten sich vor allem gegen einen unkritischen materiellen oder kulturellen Konsum: wenn sie dafür warben, statt einer kommerziellen Discothek ein Jugendzentrum zu besuchen und sich dort zu engagieren – wenn sie über Missstände in den gerade aufgekommenen Schnellrestaurants informierten – wenn sie schließlich beißende Kritik an Katastrophenfilmen des massenattraktiven Kinos übten. Sendungen zu Themen des Sports wandten sich spektakulären Großereignissen allenfalls in distanzierter, kritischer oder ironischer Form zu. Sie informierten stattdessen über von Massenmedien seltener betrachtete Erscheinungen des Sports: etwa über das Leben Jugendlicher in Sportvereinen oder auch über den in dieser Zeit noch vielfach mit Geringschätzung betrachteten Frauenfußball. Auch im Sport waren Stars durchweg nicht von Interesse. Zu hören in „Warum kamen sie nach Deutschland?“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Analphabeten in zwei Sprachen? Türkische Jugendliche“ (..), WDR-Schallarchiv ; „,Bitte kein Mitleid¡ Wie Behinderte in der Öffentlichkeit oft dargestellt werden und was sie selber dem entgegensetzen“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Bequem angeschoben oder gut aufgehoben – geistig behinderte Jugendliche in Schule und Heim“ (..), WDR Schallarchiv ; „Das schöne beschissene Leben – Tippelbrüder, Stadtstreicher und Nichtseßhafte“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Langeweile. Wir sind ziemlich hirnlos, aber wir machen uns nichts draus – ein Hörbild der deutschen Punk-Szene“ (..), WDR-Schallarchiv . Derlei Themen behandelten die Beiträge „,Jimme [sic!] Money‘ – ökonomische Fakten in der Schallplattenwirtschaft“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Diskothek im Jugendzentrum“ (..), HA WDR ; „Portrait des Rocktheaters M.E.K. Bilk – Mobiles EinsatzKommando Düsseldorf-Bilk“ (..), WDR-Schallarchiv . Beispiele sind: „Der große Frust – Freizeit auf dem Lande“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Heißer Markt für heiße Öfen – Motorradfahrer leben gefährlich“ (..), HA WDR ; „Katastrophenfilme“ (..); „McDonald’s“ (..), WDR-Schallarchiv . Zu hören etwa in „Aus Jux spielt doch keiner Fußball, oder: Eine Frau sollte eine Frau bleiben. Faszination und Probleme des Damenfußballs“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Und
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Wohlwollend betrachtete die Radiothek wiederum viele Erscheinungen der Alternativkultur: die Lehrlingstheater, die Liedermacher und aufmüpfigen Rockbands, vor allem die Initiativen zur Einrichtung selbstverwalteter Jugendzentren. Beim Blick auf aus ihrer Sicht vergängliche Moden stellte die Redaktion den Sinn modeorientierten Verhaltens infrage, sofern es der Ablenkung von unbefriedigenden Lebensverhältnissen diente. Von starkult-geprägten Jugendzeitschriften distanzierte sich die Radiothek denn auch ebenso wie von der Boulevardpresse. Die Themenbereiche Wirtschaft und Arbeitswelt Wirtschaftsthemen im engeren Sinne behandelte die Radiothek meist in einer informierenden Weise; sie ließ Verfechter angebots- wie auch nachfrageorientierter Denkweisen zu Wort kommen, die Sendungen vermittelten mitunter eine Vielzahl Details. Während sie sich in diesen Beiträgen weitgehend neutral verhielt, neigte die Redaktion bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in hohem Maße gewerkschaftsnahen Ansichten zu. Sie forderte Lehrlinge und junge Arbeitnehmer auf, ihre Interessen tatkräftig und vereint mit ihren Kollegen zu vertreten. Sie versäumte es im Allgemeinen, ihren Hörern die Notwendigkeit eines Ausgleichs auch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor Augen zu führen. Wohl verdeutlichten Portraits junger Arbeitgeber, dass es nicht nur Arbeitnehmer waren, die sich drückenden Belastungen ausgesetzt sahen.
selbst mit Jahren noch ... Live-Veranstaltung vom Lenauplatz in Köln-Ehrenfeld anläßlich der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien“ (..), WDR-Schallarchiv . Beispielhaft: „Theaterinitiative Dortmund, Dortmunder Lehrlingstheater“ (..), HA WDR ; „Was ist los mit der Berliner Rockgruppe Ton, Steine, Scherben?“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Rodenkirchen: Jugendliche fordern Jugendzentrum“ (..), HA WDR ; „Das Georg-von-Rauch-Haus – ein besetztes Haus in Berlin-West“ (..), WDR-Schallarchiv . Deutlich in „,Bravo‘ contra ,ran‘“ (..), HA WDR ; „Wen erschlägt die Schlagzeile? Über die Methoden der Boulevardpresse“ (..), WDR-Schallarchiv ; vgl. außerdem die Serie „Walle walle, der Schlabberlook ist alle – Mode“ (./..), HA WDR . Zu hören in „Tips von Lehrlingen für Lehrlinge“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Gewerkschaftliche Bildungsarbeit – Freizeitvergnügen oder Erziehung zum Klassenkampf?“ (..), WDR-Schallachiv ; „Woher kommt die Wirtschaftskrise?“ (..), HA WDR ; ferner die Sendewoche „Jungarbeiter im Abseits“ (.–..), WDRSchallarchiv -. Beispiele sind die Beiträge „räume vom Aufstieg Teil : Lieber ein kleiner Herr als ein großer Knecht – der Traum vom Aufstieg als kleiner Unternehmer“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Ungleiche unter Gleichen. Zum Gesellschaftsbild junger Selbständiger“ (..), HA WDR .
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Bei der Betrachtung der Jugendarbeitslosigkeit nahm die Radiothek die Betroffenen gegen den landläufigen Vorwurf der Arbeitsscheu in Schutz. Sie verwies darauf, dass besonders Ungelernte von Arbeitslosigkeit betroffen seien – und dass Fehlschläge in dem Bemühen um eine Lehrstelle vielfach schon im widrigen Lebensumfeld des Betroffenen begründet lägen. Der Themenbereich Bildung
Radiothek-Sendungen zu Bildungsthemen befassten sich mit individuellen ebenso wie mit gesellschaftlichen Faktoren, die den Erfolg des Bemühens um Bildung bestimmten. So wiesen sie auf Chancen des Einzelnen hin, durch Eigeninitiative sein Wissen zu vermehren und damit auch seine beruflichen Chancen zu verbessern. Sie betonten allerdings auch die Notwendigkeit, neue maßgeschneiderte Angebote für bislang bildungsferne Schichten zu entwickeln, und nahmen Staat und Gesellschaft in die Pflicht. Zur Frage schulischer Bildung kritisierte die Redaktion das Konkurrenzprinzip und den aus ihrer Sicht ausufernden Leistungsdruck. Die Folgen seien Verhaltensauffälligkeiten, Gewalt gegen Mitschüler und Lehrer, seelische Belastungen und jugendliche Selbstmorde. Die Sendungen zeichneten sich durch Detailreichtum aus; sie vermieden monokausale Erklärungsmuster. Die Radiothek kritisierte die geringe Durchlässigkeit des dreigliedrigen Schulsystems, die mangelnde Förderung bildungsschwacher Kinder. Sie zeigte sich aufgeschlossen gegenüber der Idee der integrierten Gesamtschule. Mehrere Beiträge beleuchteten den Schulalltag aus einer anderen, der Lehrer-Perspektive. Sendungen zur Hochschulbildung beklagten häufig die Belastungen im Zuge des Studiums an einer Massenuniversität. Sie plädierten für einen freien Zugang zu den Hochschulen, sprachen von einer Überforderung der Studenten während der Examina. Im Hintergrund vieler Sendungen stand die Forderung, Studenten eine
Zu hören in „Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen an sozialen Brennpunkten“ (..), WDRSchallarchiv ; „Portrait einer arbeitslosen Familie im Sauerland“ (..), WDRSchallarchiv ; ferner die Serie „Jugendliche Arbeitslose“ (. und ..), HA WDR . Beispielhaft die dokumentierten Teile der Serie „So dumm bin ich gar nicht, oder: Was man durch Lernen alles verändern kann“ (. und ..), HA WDR . Vgl. etwa „Nicht für die Schule, sondern für das Leben – Schüler proben den demokratischen Konflikt“ (..), HA WDR ; „Lernen alternativ – Bürger suchen neue Wege in der Erziehung (Teil ): Lernen ohne Angst – Initiative Freie Schule Essen“ (..), WDRSchallarchiv ; „Auch Lehrer haben Angst – Bericht über die ersten Schultage eines Junglehrers“ (..), HA WDR ; ferner die Serie „,Halt Dein Maul, sonst passiert was.‘ Über Gewalt in der Schule“ (. und ..), HA WDR .
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„kritische Aneignung und Auseinandersetzung mit bestimmten Lehrinhalten“ zu ermöglichen, statt die universitäre Bildung auf das Auswendiglernen abfragbaren Prüfungswissens zu beschränken. Die Themenbereiche Sexualität und Verhältnis der Geschlechter
Die dokumentierten Sendungen weisen hier in hohem Maße Ratgebercharakter auf, auch wenn es um brisante oder tabuisierte Themen ging. Ablesbar sind die Intentionen vor allem an Beiträgen zur Sexualität: Frei von jeglichem Voyeurismus, mitunter geradezu trocken kamen diese Wortbeiträge daher. Mit Blick auf das Verhältnis der Geschlechter machte sich die Radiothek für eine konsequente Emanzipation der Frau bis in Details des Alltags hinein stark. Sie wandte sich gegen hergebrachte Rollenbilder, die Erziehung und Eheleben vielfach prägten und die auch die Berufswahl vieler Mädchen beeinflussten. Die umstrittenen Fragen des Abtreibungsrechts behandelte die Redaktion differenziert: Sie suchte in erster Linie Verständnis für die Situation der Frau zu wecken. Die Beiträge betonten die Belastungen, die eine unerwünschte Schwangerschaft und deren Abbruch nach sich zögen. Das Motiv einer Abtreibung liege oftmals in schwierigen Lebensumständen einer Frau – und dafür sei die Betroffene nicht alleine verantwortlich. In der Gesamtschau bieten die Wortstrecken ein ambivalentes Bild. Ihre Qualität kann man daran messen, wie umfassend sie über Fakten und Zusammenhänge informierten, kontroverse Auffassungen möglichst fair darstellten. Gerade wenn sie ihre Ratgeber- und allgemeine Informationsfunktion wahrnahm, konnte die Radiothek ihre Stärken ausspielen: Die reichliche Sendezeit erlaubte es, ein Thema eingehend zu behandeln. Andere Beiträge allerdings stellten Konfliktfelder und Interessenlagen unzureichend dar oder schlugen sich offen auf die Seite einer Partei; „Zur psychologischen Lage an der Massenuniversität“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Vorm Examen zum Gericht – Kölner Lehrerstudenten im Streit mit ihrem Prüfungsamt“ (..), HA WDR . Das direkte Zitat entstammt der Sendung „Wozu taugen Hochschulprüfungen?“ (..), HA WDR . Beispiele sind die Sendung „Verlassen und verlassen werden – Beziehungen, die kaputtgehen“ (..), WDR-Schallarchiv , sowie die Serie „Jugendliche und Partnerschaft“ (. und ..), HA WDR ; schließlich die dokumentierten Teile der Reihe „Sexuelles Verhalten junger Leute. Diskussion mit Jugendlichen“ (.., ., . und ..), WDR-Schallarchiv , , , . Zu hören war das in Sendungen wie „Jugendschutz in zarter Hand – Mit der weiblichen Kriminalpolizei unterwegs“ (..), WDR-Schallarchiv ; „Mädchen erzählen über sich“ (..), WDR-Schallarchiv . Abzulesen an der Sendung „Eine Bilanz nach einem Jahr Reform des §“ (..), WDRSchallarchiv .
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sie argumentierten aus linksliberaler oder gesellschaftsreformerischer Perspektive. Kritiker empfanden es wie das damalige Mitglied des WDR-Programmbeirats Peter Rinsche: Die gesamte Tendenz war eben so, dass man sagte: Das kann man nicht ertragen! [...] Diese gesamte Sichtweise veränderte ja das Gefühl der Menschen – vor allem der Jugendlichen eben – für die Umgebung, in der sie lebten! Und die eigentliche Intention von Radiothek war ja: Wir erklären euch, wie eure Umgebung ist; wie das funktioniert, was dahintersteht!
So entspann sich um die tägliche Jugendsendung schon bald ein politischer Konflikt, der bundesweit Schlagzeilen machte.
Zur Reichweite beim Publikum
Zunächst allerdings konnten die WDR-Verantwortlichen nach der Reform des zweiten Programms von / eine ermutigende Bilanz ziehen: Die Hörerzahlen waren merklich angewachsen. „Die ,Radiothek‘“, schloss Hörfunkdirektor Manfred Jenke im Sommer , „hat das höchste gemessene Einschaltergebnis irgendeiner WDR-Sendung nach . Uhr.“ Einer Infratest-Untersuchung von zufolge machte die - bis -jährige Zielgruppe die Hälfte der Radiothek-Hörerschaft aus. Jeder dritte Hörer besuchte Realschule, Gymnasium oder Hochschule; jeder zweite war erwerbstätig. Männer schalteten doppelt so häufig ein wie Frauen. Die Medienforschung des WDR veranschlagte eine „tägliche Stammhörerschaft von –“ der Zielgruppe, Prozent hörten mindestens zweimal pro Woche zu.
Interview mit Peter Rinsche im Februar . Vgl. Rainer Kabel/Josef Eckhardt, Interessen und Probleme von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zwei Umfragen des SFB und des WDR, in: Media Perspektiven, H. , , S. –, hier S. f., sowie Susanne Wankell, Der Hörfunk im Wandel. Grundsätze – Formen – Reformen, in: Klaus Katz u. a., Hg., Am Puls der Zeit. Jahre WDR, Bd. : Der Sender: weltweit nah dran –, Köln , S. –, hier S. . Schreiben Manfred Jenkes an Heinz Linnerz vom .., HA WDR ; Hervorhebung übernommen. Vgl. die Anlage zum Schreiben Uwe Magnus’ an Harald Banter und Michael Franzke vom ..: Infratest-Tabelle Hörer pro Tag des Westdeutschen Rundfunks, . Programm (Montag– Samstag), HA WDR .
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Unter den vom WDR befragten Vertretern der Zielgruppe lobte gut die Hälfte, die Radiothek bringe „Probleme der jungen Generation an die Öffentlichkeit“; Prozent empfanden, dass die Sendung Jugendliche sogar ermutige, „selbst für ihre Rechte einzutreten“. Dass die Radiothek selbst die Rechte Jugendlicher vertrete, fanden Prozent. Immerhin ein gutes Drittel bemängelte, die Wortstrecken brächten zu häufig uninteressante Themen aus der Gewerkschaftssphäre und der Arbeitswelt, zur internationalen Politik und zu Hochschulfragen. Weniger als ein Zehntel allerdings störte sich an der intensiven Beteiligung der Zielgruppe, etwa in O-Tönen. Die Mitarbeiter Hörfunkdirektor Jenkes schlossen aus den Ergebnissen, „daß die RADIOTHEK von der Mehrheit ihrer Hörer als Zielgruppensendung akzeptiert wird und daß sie nach Inhalt und Form breite Zustimmung findet“. Indizien lassen freilich erkennen, dass das Hörerinteresse an der Radiothek zum Ende des Jahrzehnts hin nachließ, besonders was die Wortstrecken betraf. Jenke wies auf eine nicht näher bezeichnete Untersuchung hin, die die Reichweite des zweiten WDR-Programms im Regierungsbezirk Köln mit derjenigen des größten Konkurrenten – des SWF – verglichen hatte und zu einem beunruhigenden Ergebnis gekommen war: Sie offenbarte für WDR einen Rückgang der Hörerzahlen um ein Drittel mit Sendebeginn der Jugendstrecke; darüber hinaus – korrekte Wiedergabe der Ergebnisse vorausgesetzt – ein abermaliges Schrumpfen um vier Fünftel während der ersten Viertelstunde des Wortbeitrags. Das passte zu Erkenntnissen der ARD-Jugendredakteure: Im März hatten sie festgestellt, dass viele Wortthemen „nur den politisch schon überdurchschnittlich interessierten jungen Hörer“ erreichten. Das lässt sich sicherlich u. a. aus einem gewandelten Lebensgefühl der Zielgruppe erklären. Unter den Jugendlichen waren Reformeuphorie und Optimismus geschwunden. Schon in der Shell-Studie hatten fast Prozent der Befrag Zu den hier zusammengefassten Resultaten der Studie vgl. HÖRFUNK UND JÜNGERE GENERATION. Zusammengefaßte Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts für Jugendforschung, München, im Auftrag des WDR, HA WDR ; sowie das von Josef Eckhardt aus der WDR-Medienforschung verfasste undatierte Papier Ausgewählte Ergebnisse und Vergleich der Untersuchungen „Hörfunk und jüngere Generation“ und „Jugend in Berlin (West)“, HA WDR . Vgl. Jenkes Stellungnahme zur Weiterführung von Jugendsendungen im Hörfunkprogramm des WDR vom .., HA WDR, unverz. Best. des Intendanten von Sell, Akte WDR Allgemeine Programmangelegenheiten – RADIOTHEK – Vorgänge um die „..-Sendung“, die Absetzung der Live-Wort-Beiträge etc. – .. Vgl. das Protokoll der Konferenz der Hörfunk-Redakteure für Jugendprogramme in der ARD am .. und .. in München, HA WDR . Vgl. Arthur Fischer, Bearb., Jugend . Lebensentwürfe – Alltagskulturen – Zukunftsbilder. Studie im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell, Bd. , Hamburg , S. ; Karl Werner
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ten ihre beruflichen Zukunftschancen für allenfalls „mittelmäßig“ befunden. Auch politisch waren Hoffnungen zerstoben: Die heutige Generation lebt in dem Bewußtsein, daß alles umsonst war und daß die Studentenbewegung letztlich nichts erreicht hat [. . . ], daß in dieser Republik absolut keine Veränderung mehr möglich ist und sämtliche Perspektiven verschüttet worden sind.
Die Forscher machten zwei Arten der Reaktion aus: Prozent der jungen Generation zögen sich zurück in die private Sphäre; die restlichen Prozent gingen sogar auf Distanz zu den allgemeinen Wertvorstellungen der Gesellschaft. Eine Umfrage der Medienkommission von ARD und ZDF zeigte den längerfristigen Trend: Die junge Zielgruppe verlor das Interesse an Themen aus Politik, Ökonomie und Gesellschaft; sie wünschte sich „materielle und soziale Sicherheit“ sowie „emotionale Geborgenheit“. Das lässt darauf schließen, dass diese Hörer vom Radio zunehmend Unterhaltung und Zerstreuung erwarteten; ein Jugendprogramm, das in seinen Wortbeiträgen mit Vorliebe gesellschaftliche Probleme aufgriff und das Themen zeitintensiv aufarbeitete, sendete an solchen Ansprüchen vorbei. Hörfunkdirektor Jenke beklagte , WDR habe darüber hinaus schon durch ein jugendspezifisches Angebot „eher Hörer verloren als gewonnen“ . Für die anstehende Programmreform forderte er, das zweite Programm müsse „grundsätzlich immer für
Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. , S. –; Arthur Fischer u. a., Jugendliche und Erwachsene : Generationen im Vergleich, Bd. : Biografien, Orientierungsmuster, Perspektiven, Leverkusen , S. . Viggo Graf Blücher/Klaus-Peter Schöppner, Jugend in Europa. Ihre Eingliederung in die Welt der Erwachsenen. Siebente Untersuchung zur Situation der Jugend, anläßlich „ Jahre Shell in Deutschland“, durchgeführt vom EMNID-Institut für Meinungs- und Marktforschung, Bde., o.O. , S. ; direktes Zitat dort entnommen. Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Von der APO nach TUNIX, in: Claus Richter, Hg., Die überflüssige Generation. Jugend zwischen Apathie und Aggression, Königstein , S. –, hier S. . Vgl. Lorig, Aussteigermentalität und politische Apathie Jugendlicher, S. . Vgl. die Wiedergabe der Ergebnisse bei Heinz Bonfadelli, Jugend und Medien. Befunde zum Freizeitverhalten und zur Mediennutzung der - bis -Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland (), in: Media Perspektiven, H. , , S. –, hier S. f., S. , S. , S. f.; direkte Zitate den S. und S. entnommen. Manfred Jenke, Gegenwart und Zukunft des Hörfunks, in: Walter Först, Hg., Nach fünfundzwanzig Jahren. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des WDR, Köln (Annalen des Westdeutschen Rundfunks ), S. –, hier S. .
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alle Hörer interessant und akzeptabel sein“ . Es bleibt freilich Spekulation, inwiefern die Reform von bezüglich der Radiothek einzig auf sinkende Reichweiten reagierte – und nicht auch auf politischen Druck.
Die Radiothek in der zeitgenössischen Diskussion
Seit Jahren nämlich hatte sich der WDR ständiger Kritik an der Radiothek ausgesetzt gesehen. Bereits in den ersten Wochen hatten sich Beobachter an der inhaltlichen Ausrichtung der Wortbeiträge gestoßen. Im Frühjahr dann nahm der Programmbeirat des WDR die Radiothek systematisch unter die Lupe. Die Fachpresse empfand diese Enquête „als bisher einmalig in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland“ . Die Beobachter erstellten freilich zwei kontroverse Voten. In ihrem Mehrheitsvotum bemängelten Jens Feddersen, Chefredakteur der Neuen Ruhr-Zeitung, sowie Clemens Herbermann und Peter Rinsche, dass nur ein Drittel der Radiothek-Wortbeiträge den selbstgestellten Anforderungen genüge – nämlich „Hintergrund und Information [...] zu liefern, zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit zu mahnen und Erkenntnis und Kriterien [sic!] der Wirklichkeit herbeizuführen“. Viele Beiträge ließen die nötige Objektivität vermissen und vermittelten „ein Zerrbild der Wirklichkeit“. „Massiver ist ein Vorwurf des Gremiums selten formuliert worden“, kommentierte die Kölnische Rundschau. In seinem Minderheitsvotum widersprach der Direktor der Bundeszentrale für politische Bildung, Horst Dahlhaus: „Im großen und ganzen“ sei die Redaktion den Anforderungen an die Sendung sehr wohl gerecht geworden, denn viele
Stellungnahme zur Weiterführung von Jugendsendungen im Hörfunkprogramm des WDR vom .., HA WDR, unverz. Best. des Intendanten von Sell, Akte WDR Allgemeine Programmangelegenheiten – RADIOTHEK – Vorgänge um die „..-Sendung“, die Absetzung der Live-Wort-Beiträge etc. – .. HA WDR R Kritik – Radiothek. Mitschriften und allg. Schriftverkehr ..–.. sowie Kritik – Radiothek. Mitschriften und allg. Schriftverkehr ..–.. [sic!]. Zum Beschluss des Gremiums vgl. den Bericht des Vorsitzenden des Programmbeirats über „Radiothek“ in der Sitzung des Rundfunkrats des WDR am Freitag, den . Oktober in Köln, HA WDR D . Fernseh-Dienst, H. , , o.S. Vgl. beide Papiere in HA WDR . Der Funk-Report publizierte die Voten im Heft / am .., S. I–II unter dem Titel „,Radiothek‘-Urteile von unterschiedlicher Qualität“. E. Gravenstein, Massive Kritik an der Jugendsendung „Radiothek“, in: Kölnische Rundschau, . Juli , o.S.
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Beiträge hätten „zielgruppengerecht und sachgemäß Informationen und Orientierungshilfe vermittelt“. Wohl befand Dahlhaus, dass „eine positivere Haltung zum Kompromiß und eine stärkere Ermutigung zum Engagement in demokratischen Institutionen vermittelt werden“ müsse. „Zur Förderung von Konfliktfähigkeit und Konfliktbereitschaft wäre künftig eine breitere Darstellung der Konfliktfelder zu empfehlen.“ Im Plenum machte sich der Programmbeirat das Mehrheitsvotum zu eigen. Er konstatierte, dass man von der Radiothek infolge ihrer „herausragende[n] Stellung“ ein besonderes Maß an „Objektivität, Fairneß und journalistischer Präzision“ verlangen müsse. Dies sei in den beurteilten Sendungen jedoch „nur teilweise“ erfüllt worden. Die überlieferte Korrespondenz sowie Gesprächsprotokolle lassen erkennen, dass zwischen der Beobachtergruppe und der Radiothek-Redaktion von Beginn an ein gespanntes Verhältnis herrschte. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Peter Rinsche, die sporadischen Unterredungen mit den Redakteuren seien „außerordentlich unerfreulich“ verlaufen: „Da bin ich dann fast ausgeflippt zum Schluss – die haben gemauert, wie sie konnten!“ Horst Dahlhaus äußerte rückblickend Verständnis, dass die Redakteure auf die Kritik der Kommissionsmehrheit mit einer „Verteidigungshaltung“ reagiert hätten. Er selbst habe versucht, auf einen Kompromiss hinzuarbeiten, jedoch ohne Erfolg. Intendant von Bismarck machte sich Horst Dahlhaus’ Sichtweise zu eigen, wenn er auch eine gewisse Einseitigkeit der Radiothek-Wortbeiträge bemängelte; und Hörfunkdirektor Jenke warf der Kommissionsmehrheit vor, sich mit dem der
Vgl. Protokoll der Programmbeiratssitzung vom .., HA WDR, unverz. Best. der Hörfunkdirektion, Akte . – ; direkte Zitate dort entnommen. Ferner: Bericht des Vorsitzenden des Programmbeirats über „Radiothek“ in der Sitzung des Rundfunkrats des WDR am Freitag, den . Oktober in Köln, HA WDR D . – Dazu auch Peter Bellon, „Radiothek“ nun auch auf der Tagesordnung des WDR-Rundfunkrats, in: Funk-Korrespondenz () (..). Vgl. die undatierte Notiz Worte des Vorsitzenden Jens Feddersen auf der ersten Tagung Programmbeiratskommission und Redaktion Radiothek, HA WDR ; Gedächtnisprotokoll der Redaktion RADIOTHEK über die Sitzung mit Vertretern des Programmbeirates am .., HA WDR . Interview mit Peter Rinsche im Februar . Interview mit Horst Dahlhaus im Oktober . Vgl. die WDR-Information / der sendereigenen Pressestelle vom .. sowie das Protokoll der Direktorensitzung vom .., beide HA WDR .
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Sendung zugrunde liegenden Denkansatz gar nicht befasst zu haben. Beide stellten sich hinter die Redaktion. Rasch meldeten sich nun politische und publizistische Stimmen zu Wort. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Carl-Dieter Spranger zeigte sich „erschüttert darüber, daß der Intendant die Redaktion ,Radiothek‘ in Schutz nimmt“ . Die Frankfurter Allgemeine konstatierte, die Aufsichtsgremien des WDR seien nicht mehr fähig, den Sender zu kontrollieren. Der SPD-Politiker Björn Engholm entgegnete, dass die Kontrollgremien des Senders „nicht mehr in der Lage seien, den Attacken der Konservativen auf einzelne Sendungen zu widerstehen“. Die Zeitschrift Hörzu stellte Jens Feddersens Sicht bezüglich der Radiothek unmittelbar derjenigen des Medienpublizisten Hans Janke gegenüber – für den die Sendung „ein wichtiges Stück alternativer Vermittlung im Hörfunk“ darstellte. „Anstöße geben – ja! Mißstände aufdecken – ja!“, räumte Feddersen ein. „Aber ein klares ,Nein‘ zu allen Versuchen, jungen Menschen täglich einzuhämmern, dass sie eigentlich auf die Barrikaden zu gehen hätten.“ Über die folgenden Jahre hinweg entzündete sich die Kritik immer wieder an streitbaren Wortbeiträgen. „Lieber Herr Jenke, mir fehlt die Zeit, um diese Sendung wirklich gründlich zu analysieren“, schrieb das Verwaltungsratsmitglied Heinrich Windelen (CDU). „Wir haben uns nun wirklich in allen Gremien oft genug über die Radiothek unterhalten. Geändert hat sich offenbar nichts.“ Zwi Die Redaktion erläuterte diesen Ansatz in einer Stellungnahme der Redaktion RADIOTHEK zur Erklärung des Programmbeirats (..) vom ... Festgehalten hatte sie ihre Ideen bereits zuvor in den Anmerkungen zum Selbstverständnis der Redaktion RADIOTHEK. Beide Papiere in HA WDR . Vgl. Jenkes Stellungnahme des Hörfunkdirektors zum Bericht der „Radiothek“-Kommission in der Sitzung des Programmbeirates am .. vom .., HA WDR . – Zum Meinungsbild in der Presse vgl. Michael Föster, WDR-Chefs Bismarck und Jenke stehen zur Sendung „Radiothek“. Massive Kritik des Programmbeirats wurde abgeschmettert, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, . Juli , o.S.; ferner o.A., Schützenhilfe für „Radiothek“, in: Bonner Rundschau, . Juli , o.S. Schreiben Sprangers an von Bismarck vom .., HA WDR . Vgl. Lothar Bewerunge, Ein Zerrbild aus Köln. Muß die Kritik an der „Radiothek“ des Westdeutschen Rundfunks im Sand verlaufen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, . September , o.S. O.A., SPD-MdB Engholm und WDR-Programmbeiratsmitglied Dahlhaus fordern verstärkten Schutz von Jugendsendungen, in: Funk-Report, H. , , o.S. Hans Janke, Radikal dem Paragraphen (WDR-Gesetz) verpflichtet. Die „Radiothek“: Täglich ein Stück alternatives Radio, das es zu verteidigen gilt, in: EPD Kirche und Rundfunk, H. , , S. –, hier S. . Zit. nach: o.A., Pro und contra „Radiothek“, in: Hörzu, H. , , S. . Schreiben Windelens an Manfred Jenke vom .., HA WDR .
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schenzeitlich löste eine Radiothek-Sendewoche zum Radikalenerlass eine Debatte im nordrhein-westfälischen Landtag aus; der CDU-Abgeordnete Peter Giesen sprach von „einer Fülle einseitiger Beiträge“, in denen die Redaktion „eine Gesamtkampagne gegen die Freihaltung des öffentlichen Dienstes von Gegnern der Verfassungsordnung geführt“ habe. Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) gab Giesen zwar in Details recht; er lehnte es jedoch ab, fragwürdigen Rundfunksendungen „administrativ und mit disziplinären Maßnahmen“ begegnen zu wollen. „Ich wünsche eine Diskussionsauseinandersetzung.“ Eine Sendung zum Radikalenerlass ließ denn auch die Debatte ein letztes Mal aufflammen. Nun verlor der Hörfunkdirektor offenkundig die Geduld mit der Redaktion. Jenke und Intendant Friedrich-Wilhelm von Sell ließen überraschend im Januar die bisher gewohnten Live-Moderationen der Wortbeiträge einstellen. Vorübergehend wurden die Strecken vorproduziert; damit war eine genaue redaktionelle Kontrolle der Inhalte gewährleistet. Keine drei Monate später kündigte der Hörfunkdirektor auf einer Pressekonferenz das Ende der Radiothek an. WDR-Pressechef Michael Schmid-Ospach fiel aus allen Wolken; er wunderte sich noch lange danach, dass Jenke sein Vorgehen zuvor weder mit ihm noch mit Intendant von Sell abgestimmt habe. „Mit welchem Stück Dynamit“ der Hörfunkdirektor „da hantiert“ hatte, wurde freilich rasch deutlich, denn den WDR erreichten in den folgenden Monaten Tausende Protestbekundungen erboster Hörer in Gestalt zahlreicher Briefe und Unterschriftenlisten. Schon im Februar hatten Jungsozialisten, Landesschülervertretung, Naturfreundejugend, Gewerkschaften, Falken und Grüne zu einer Solidaritätskundgebung in Köln aufgerufen. Unter dem Slogan „Kein Maulkorb für die Radiothek!“ war dies
Zitate nach dem Plenarprotokoll / vom .., in: Plenarprotokolle des Landtags Nordrhein-Westfalen, . Wahlperiode, Bd. , .–. Sitzung (..–..), S. – . „Radikale unerwünscht bei der Post?“ (..), WDR-Schallarchiv . Besprechungsnotiz v. Sell/M. Jenke betr. Radiothek, .., HA WDR . H. Sch., WDR-Hörfunkdirektor: „Zielgruppenkonzept bei Jugendsendungen gescheitert“. Hörfunk-Reform soll „Masse des Publikums“ gewinnen, in: EPD Kirche und Rundfunk, H. , , S. . Zu Begleitumständen der Pressekonferenz vom ..: Interview mit Michael Schmid-Ospach im April . Vgl. die Aufstellung: HA WDR, unverz. Best. des Intendanten von Sell, Akte WDR Allgemeine Programmangelegenheiten – RADIOTHEK – Absetzung der Live-Wort-Beiträge A–K – .. Der Großteil der Protestierenden hatte freilich vorbereitete Formblätter genutzt oder seine Solidarität auf Unterschriftenlisten bekundet.
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Abb. : Eine charakteristische Hörerzuschrift an den WDR aus dem Jahre ; das undatierte Schreiben trägt zusätzlich Vermerke des Redaktionsleiters Ulrich Teiner.
Abb. : Flugblatt der nordrhein-westfälischen Grünen, mit dem sie sich am Aufruf zu einer Solidaritätsdemonstration im Februar beteiligten.
nur eine von vielen Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen. „Kommunikationslage ist katastrophal“, bilanzierte Stephan Piltz für die WDR-Intendanz gut zwei Wochen später. Alle Proteste allerdings konnten nicht vergessen machen, dass sich hier nurmehr eine Minderheit der Zielgruppe zu Wort meldete. Einzelne Hörer ließen offen erkennen, dass ihnen zumindest an einem Überleben von Mal Sondocks Discothek im WDR gelegen war – die existierte denn auch in der Tat weiter: in verkürzter Form als Mal Sondocks Hitparade. Die brisante Jugendreihe wurde durch die auch für ältere Hörergruppen gedachte Sendung WDR zwei zu eins: Thema heute ersetzt. „Ausgesprochen brav“ Vgl. die von den Jungsozialisten NRW herausgegebene undatierte Broschüre WDR Rotfunk– Todfunk. Dokumentation zur Radiothek, Sammlung Frank Baier; ferner o.A., SPD-Plan soll die Radiothek retten, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, . Juni ; Arnold Hohmann, Ein schaler Nachgeschmack bleibt. Live-Diskussion um die „Radiothek“ im WDR, in: Süddeutsche Zeitung, . März ; sowie das Fernschreiben Christa Cloppenburgs, WDR-Studio Düsseldorf, an den WDR Köln vom .., HA WDR . Vermerk Betr. Radiothek vom .., HA WDR, unverz. Bestand des Intendanten von Sell, WDR Allgemeine Programmangelegenheiten – RADIOTHEK – UNTER-Allgemeinakte der Allgemeinakte a – . – .
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fanden sie die Westfälischen Nachrichten, „einige Hörer sollen sich sogar gefragt haben, ob sie nicht auf den Arm genommen werden sollten – so groß war der Unterschied zu früher“. Die Radiothek hatte sich am vorletzten Abend des Jahres mit einer viereinhalbstündigen Sondersendung aus der Stadthalle Köln-Mülheim verabschiedet: „eine[r] Art Revue“ unter Mitwirkung zahlreicher prominenter Kabarettisten wie Hanns Dieter Hüsch oder Walter Mossmann sowie Musikgruppen wie Kraan oder BAP. Kabarettensembles wie Karl Napps Chaos Theater und Die Tornados sorgten mit ihren aufmüpfigen Beiträgen dafür, dass die Veranstaltung aus dem Ruder lief. Das „Gipfeltreffen linker Lästermäuler“ vor einem aufgewühlten Publikum zog einen Skandal nach sich, der die Presse auch überregional monatelang beschäftigte. Der letzte Protestbrief erreichte den WDR noch fast drei Jahre später.
Rückblick: Die Radiothek als soziokultureller Akteur
Über eine Bedeutung der Radiothek für ihre Hörer im Ganzen freilich kann man nur spekulieren, denn sie wurde empirisch nicht erfasst. Wohl beobachtete der Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings, Erik Bettermann, ein auffälliges Verhalten Jugendlicher im Rhein-Erft-Kreis: „Dort in den Jugendzentren hieß es am frühen Abend: Alles, was wir gerade noch gemacht haben, lassen wir liegen – wir hören jetzt Radiothek!“ Doch auch hier sprachen die Wortstrecken also vorwiegend eine Minderheit besonders aktiver oder politisch engagierter Jugendlicher an. Für die ersten Jahre wird man der Sendung eine gewisse Relevanz beim Publikum bescheinigen können. / hingegen scheinen sich dessen Interessen und Hörgewohnheiten in einer Weise gewandelt zu haben, dass die Radiothek gerade im Wortbereich ihr Publikum verlor. Die Hörerzuschriften zur Radiothek zeigen freilich epochenunabhängig, dass eingehende Darstellungen auch abseitiger Themen die Chance haben,
Bernhard Gervink, Nicht nur das Pausenzeichen ist neu. Über manche Finesse ist man sich auch im WDR noch nicht klar, in: Westfälische Nachrichten, . Januar , o.S. Schreiben Teiners an den Hauptabteilungsleiter Kultur, Heinz Linnerz, vom .., HA WDR . Mitschnitt der Sendung „Das war‘s – Radiothek“ (..), WDR-Schallarchiv . O.A., Klötze drin, in: Der Spiegel, H. , , S. f., hier S. . Zuschrift von German S. aus Rottweil vom .., HA WDR . Interview mit Erik Bettermann im Juni .
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selbst sogenannte bildungsfernere Hörergruppen ein Stück weit zu erreichen – handwerklich gelungene Machart vorausgesetzt. Freilich neigte die RadiothekRedaktion nie dazu, ihre Hörer zu unterschätzen. Aber auch eine entschlossen reformierte Jugendstrecke unter dem bisherigen Titel im Programm zu halten – wie es die Hörerschaft sicher am ehesten zusammengehalten hatte – wäre politisch wohl kaum durchsetzbar gewesen. Erst später stellten Verantwortliche des WDR fest, dass es ein Fehler war, die Jugendlichen fortan auf das allgemeine Programm zu verweisen. Der Sender habe zu dieser Hörergruppe die Verbindung verloren, bilanzierte der einstige Radiothek-Moderator und spätere WDR-Hörfunkdirektor Wolfgang Schmitz. „Die haben uns irgendwann nicht mal mehr zugetraut, dass wir junges Programm machen können.“ Erst sollte der Sender diese Lücke mit der Einrichtung der Jugendwelle EinsLive schließen. Zu dieser Zeit waren die Eigenheiten der ersten WDR-Jugendstrecke von bis längst vergessen. Nicht einmal der bloße Titel Radiothek ist in den Programmen des Kölner Senders jemals wieder aufgetaucht.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Analphabeten in zwei Sprachen? Türkische Jugendliche, Radiothek vom .. (). Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen an sozialen Brennpunkten, Radiothek vom .. ().
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Argentinien ein Jahr nach dem Putsch, Radiothek vom .. (). Aus Jux spielt doch keiner Fußball, oder: Eine Frau sollte eine Frau bleiben. Faszination und Probleme des Damenfußballs, Radiothek vom .. (). Aus der Sicht der Opfer – ein Pole erzählt vom deutschen Überfall auf Polen vor Jahren, Radiothek vom .. (). Bequem angeschoben oder gut aufgehoben – geistig behinderte Jugendliche in Schule und Heim, Radiothek vom .. (). Eine Bilanz nach einem Jahr Reform des §, Radiothek vom .. (). „Bitte kein Mitleid!“ Wie Behinderte in der Öffentlichkeit oft dargestellt werden und was sie selber dem entgegensetzen, Radiothek vom .. (). Bürger beobachten die Polizei. Aus der Arbeit einer Berliner Bürgerinitiative, Radiothek vom .. (). Das war’s – Radiothek, Radiothek vom .. (). Deutschrock Made in DDR, Radiothek vom .. (). Einmal geklaut – immer kriminell? Über Jugendkriminalität – Motive, Ursachen, Vorbeugung, Radiothek-Serie vom . und .. (). Foltert die Polizei? Bericht über ein Frankfurter Tribunal, Radiothek vom .. (). Ist die Freiheit in Gefahr? Die Gesinnungsprüfung des Helmut Leonhardt, Radiothek vom .. (). Das Georg-von-Rauch-Haus – ein besetztes Haus in Berlin-West, Radiothek vom .. (). Geschichte der Comics Teil : Pro und Contra des Gebrauchs und Lesens von Comics, Radiothek vom .. (). Gewerkschaftliche Bildungsarbeit – Freizeitvergnügen oder Erziehung zum Klassenkampf?, Radiothek vom .. (). Der große Frust – Freizeit auf dem Lande, Radiothek vom .. (). Die Gründung der Partei der Grünen. Studiogespräch mit zwei Parteimitgliedern, Radiothek vom .. (). Guerilleros oder Terroristen? Gespräch mit einem Afrikaner über Freiheitsbewegungen im südlichen Afrika, Radiothek vom .. (). „Jimme [sic!] Money“ – ökonomische Fakten in der Schallplattenwirtschaft, Radiothek vom .. (). Journalisten fragen WDR-Redakteure über die Sendereihe PANOPTIKUM, Sendung vom .. ().
Michael Kuhlmann
Jugendschutz in zarter Hand – Mit der weiblichen Kriminalpolizei unterwegs, Radiothek vom .. (). Jugendverbände und Jugend. Diskussion mit Vertretern deutscher Jugendverbände über das Verhältnis der Jugend zu den etablierten Parteien, Radiothek vom .. (). Jungarbeiter im Abseits, Radiothek-Sendewoche vom .–.. (). Kann mir mal jemand sagen, was hier eigentlich los ist? – Umweltzerstörung am linken Niederrhein, Radiothek vom .. (). „Den Karl Liebknecht haben wir verloren, die Rosa Luxemburg starb durch Mörderhand.“ Karl Retzlaw erinnert sich anläßlich des . Todestages der beiden Führer der deutschen Arbeiterbewegung, Radiothek vom .. (). Katastrophenfilme, Radiothek vom .. (). Landser-Hefte, Radiothek vom .. (). Landwirtschaft – mal mit Chemie, mal ohne – Biologisch-dynamischer Ackerbau als Alternative, Radiothek vom .. (). Langeweile. Wir sind ziemlich hirnlos, aber wir machen uns nichts draus – ein Hörbild der deutschen Punk-Szene, Radiothek vom .. (). Das schöne beschissene Leben – Tippelbrüder, Stadtstreicher und Nichtseßhafte, Radiothek vom .. (). Lebenslänglich, Radiothek vom .. (). Lernen alternativ – Bürger suchen neue Wege in der Erziehung (Teil ): Lernen ohne Angst – Initiative Freie Schule Essen, Radiothek vom .. (). Mädchen erzählen über sich, Radiothek vom .. (). McDonald’s, Radiothek vom .. (). Muß sich die Gesellschaft ändern, damit die Umwelt überlebt?, Radiothek vom .. (). Navajos und Edelweißpiraten – über den Jugendwiderstand gegen den Faschismus in Köln, Radiothek vom .. (). Nicht mehr in der DDR – Stellungnahmen zur Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR, Radiothek vom .. (). Panoptikum. Minuten für junge Leute, Sendungen vom .. (), .. (), .. (). Polizei im Kleverhof, Radiothek vom .. (). Portrait einer arbeitslosen Familie im Sauerland, Radiothek vom .. ().
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Jugendradio in Deutschland – politisch (zu) explosiv?
Portrait des Rocktheaters M.E.K. Bilk – Mobiles Einsatz-Kommando DüsseldorfBilk, Radiothek vom .. (). Radikale unerwünscht bei der Post?, Radiothek vom .. (). Radiothek über Radiothek, Radiothek vom .. (). Reaktionen des Rechtsstaates auf den Terrorismus, Radiothek vom .. (). Der deutschen Sache dienen. Rechtsradikale Jugend in der Bundesrepublik, Radiothek vom .. (). Schlagerrallye, Radiothek vom .. (). Sexuelles Verhalten junger Leute. Diskussion mit Jugendlichen, Radiothek-Serie vom .., ., . und .. (, , , ). Terror und Rezession. Ein Jahr Militärjunta in Chile, Radiothek vom .. (). Terrorismus – mit der Fahndung befaßt, von der Fahndung betroffen, Radiothek vom .. (). Terrorismus – Die Sympathisanten, Radiothek vom .. (). Tips von Lehrlingen für Lehrlinge, Radiothek vom .. (). Träume vom Aufstieg Teil : Lieber ein kleiner Herr als ein großer Knecht – der Traum vom Aufstieg als kleiner Unternehmer, Radiothek vom .. (). Über die Entstehung der nächsten Freitagsradiothek, Radiothek vom .. (). Über die Praxis des Strafvollzugs in der Hamburger Jugendstrafanstalt Vierlande. Ein Gespräch mit der Anstaltsleiterin Eva Maria Rühmkorf und vier jugendlichen Häftlingen, Radiothek vom .. (). Und selbst mit Jahren noch ... Live-Veranstaltung vom Lenauplatz in KölnEhrenfeld anläßlich der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien, Radiothek vom .. (). Ursachen des Terrorismus, Radiothek vom .. (). Verlassen und verlassen werden – Beziehungen, die kaputtgehen, Radiothek vom .. (). Warum kamen sie nach Deutschland?, Radiothek vom .. (). Was ist los mit der Berliner Rockgruppe Ton, Steine, Scherben?, Radiothek vom .. (). Weizen als Waffe. Über die Ursachen des Hungers in der Dritten Welt, Radiothek vom .. (). Welternährungskonferenz Rom – Welche Konsequenzen hat sie?, Radiothek vom .. ().
Michael Kuhlmann
Wen erschlägt die Schlagzeile? Über die Methoden der Boulevardpresse, Radiothek vom .. (). Wir sind sozial, sicher und geborgen – Jugend in der DDR Teil , Radiothek vom .. (). . Intenationales Sommercamp der Atomkraftgegner in Gorleben-Gartow – Atomdeponie, Wiederaufbereitungsanlage, Radiothek vom .. (). Zur Lage der Frauen in der DDR, Radiothek vom .. (). Zur psychologischen Lage an der Massenuniversität, Radiothek vom .. ().
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Teil 3
Jugendmedien als Vergemeinschaftungs-Agenten: Identität, Publiken und (mediales) Gedächtnis
Andre Dechert
Zwischen Kindern, Jugendlichen und der Familie: Fury, Am Fuß der Blauen Berge und das Deutsche Fernsehen, 1956–1963 Wir wollen am Nachmittag keine Sendungen für Kinder oder für Mütter oder für Jugendliche machen, sondern bunte Programme zusammenstellen, die für jeden der drei Interessentenkreise, die um diese Zeit zu Hause sind, etwas bringen.
Mit diesen Worten erklärte Clemens Münster, Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks (BR), im Jahr die Einführung eines sogenannten nachmittäglichen Familienprogramms durch seine Rundfunkanstalt. Der BR brach so mit der gängigen Gestaltung des ARD-Gemeinschaftsprogramms, dem sogenannten Deutschen Fernsehen (kurz DFS). Dieses gemeinsam von den regionalen Rundfunkanstalten gestaltete Programm kennzeichnete sich vor allem nachmittags durch eine Fokussierung spezifischer Zielgruppen. So waren für dieses werktags – hier Montag bis Freitag – zunächst Sendeslots im Umfang von jeweils etwa Minuten für Kinder bzw. Jugendliche oder auch Frauen vorgesehen, während das Wochenendprogramm Mitte der er Jahre zu dieser Sendezeit vor allem Live-Übertragungen verschiedener Sportereignisse bot. Erst in den späten er Jahren begann innerhalb der ARD die Suche nach einem unterhaltsamen Pro-
Diese Aussage Münsters ist in einem Zeitungsausschnitt mit dem Titel „Familienprogramm mit bayerischer Note: Was Dr. Münster von den neuen Nachmittagssendungen erwartet“ als Teil eines Nachlasses (BR, Historisches Archiv, NL/) überliefert. Die Zeitung, in der dieser Artikel publiziert wurde, ist nicht bekannt. Michael Schmidbauer, Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Dokumentation (Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen ), München , S. , S. ; Dirk Ulf Stötzel/Bernhard Merkelbach, Das Kinderfernsehen der ARD in den er Jahren: Quantitative und qualitative Ergebnisse zum Programmangebot für Kinder, in: Hans-Dieter Erlinger/Dirk Ulf Stötzel, Hg., Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland: Entwicklungsprozesse und Trends, Berlin , S. –, hier S. f. Knut Hickethier, Dispositiv Fernsehen, Programm und Programmstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland (Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland ), in: Ders., Hg., Institution, Technik und Programm: Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens, München , S. –, hier S. .
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Zwischen Kindern, Jugendlichen und der Familie
gramm für die Wochenend-Nachmittage, da der Sonnabend „in vielen Familien immer häufiger arbeitsfrei war“. Sowohl im dem DFS zugelieferten Familienprogramm des BR als auch in einem zunehmend die ganze Familie fokussierenden DFS-Programm für die WochenendNachmittage etablierten sich seit den späten er Jahren vor allem auch USamerikanische TV-Serien. Anhand des Beispiels zweier dieser Serien, die im DFS ausgestrahlt wurden, werde ich in diesem Beitrag zeigen, dass sowohl Kinder- als auch Jugendmedien – bzw. hier Kinder- und Jugendserien – nicht losgelöst vom Konzept der Familie gedacht werden können und dürfen. Diese können, wie ich hier zeigen werde, auch Teil eines Angebots sein, das sich nominell an die gesamte Familie richtet, und somit unter einem Begriff wie Familienprogramm verborgen liegen. So ist zu berücksichtigen, dass Kinder- und Jugendmedien (vor allem) aus zwei verschiedenen Perspektiven definiert werden können. Erstens kann eine Perspektive angelegt werden, bei der gefragt wird, ob „Jugendmedien emanzipative Produkte von Jugendlichen für Jugendliche“ sind oder vielmehr „Produkte mit pädagogisierend-didaktischem Impetus von Erwachsenen“. Zweitens kann aber – wie auch von mir in diesem Beitrag – eine Perspektive eingenommen werden, in der Kinder- und Jugendmedien über die Rezipienten bzw. das Publikum definiert werden. In einer solchen rezipientenorientierten Perspektive sind Kinder- und Jugendmedien solche Medien, die unter Kindern und/oder Jugendlichen eine jeweils spezifisch ausgeprägte Popularität entfalten und im entsprechenden (hier von den Zeitgenossen variabel definierten) Alterssegment – unabhängig von anderen Zuschauergruppen – als „eigenes“ Medium begriffen und angeeignet werden. Kinder- und Jugendmedien sind in einem solchen Verständnis also diejenigen Medien, die Kinder und/oder Jugendliche konsumieren und sich unabhängig Ebd. Siehe zudem Axel Schildt, Der Beginn des Fernsehzeitalters: Ein neues Massenmedium setzt sich durch (Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte ), in: Ders./Arnold Sywottek, Hg., Modernisierung im Wiederaufbau: Die westdeutsche Gesellschaft der er Jahre, Bonn , S. –, hier S. . Zur zunehmenden Ausstrahlung US-amerikanischer Serien im Fernsehen der BRD siehe Angela Krewani, Amerikanisierung am Nachmittag: Amerikanische Serien in ARD und ZDF. Ein Überblick über quantitative Entwicklungen (Reihe Siegen, Medienwissenschaft ), in: Irmela Schneider, Hg., Amerikanische Einstellung, Heidelberg , S. –. Let’s historize it! Jugendmedien im . und . Jahrhundert, ..–.. Saarbrücken, in: H-Soz-Kult, .. www.hsozkult.de/event/id/termine- (..). Ebd. Daneben existieren natürlich noch verschiedene weitere Möglichkeiten, Kinder- und Jugendmedien zu differenzieren. So können Kinder- und Jugendmedien durch eine Verschiebung der Perspektive auf Akteursebene z. B. auch als solche Medien definiert werden, die von Erziehungsexperten als für die jeweiligen Altersgruppen geeignete bzw. empfohlene Medien definiert werden.
Andre Dechert
von der jeweiligen Intention der Produzenten oder der diese distribuierenden Medieninstitutionen auf potenziell vielfältige Weise zu eigen machen. Eine solche Definition von Kinder- und Jugendmedien knüpft maßgeblich an die Vorstellung von dem aktiven Mediennutzer bzw. der aktiven Mediennutzerin an, der oder die „Medien als Mittel der Bedürfnisbefriedigung und Nutzenmaximierung in freier Entscheidung auswählt und rezipiert“. Während eine auf der Intention der Produzenten beruhende Definition von Kinder- und Jugendmedien den Begriff über die Zielgruppe des jeweils spezifischen Mediums und seiner dementsprechenden inhaltlichen Gestaltung setzt, beruht eine rezipientenorientierte Definition von Kinder- und Jugendmedien vielmehr auf dem faktischen Publikum, das tatsächlich ein Medium oder einen Medieninhalt rezipiert und sich diesen aneignet. In diesem konkreten Fall stellten Kinder und Jugendliche, die das DFS und seine Sendungen in den er Jahren rezipierten und sich mit diesen auseinandersetzten, zwar zunächst einen begrenzten Ausschnitt der bundesrepublikanischen Bevölkerung dar. So gab es in der Bundesrepublik Deutschland nur , Millionen offiziell angemeldete TV-Geräte, nur jeder elfte von Haushalten hatte direkten Zugriff auf einen eigenen Fernseher. Die Verbreitung der TV-Geräte stieg aber rapide an und das Fernsehen gewann (daher) als Freizeit- und Unterhaltungsmedium schnell an Bedeutung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. besaß zwar immer noch keine Mehrheit der westdeutschen Haushalte einen eigenen Fernseher, die , Millionen TV-Geräte verteilten sich aber bereits auf ca. Prozent aller Haushalte in der BRD. In einem ersten Schritt werde ich in diesem Beitrag zunächst die Entwicklung von einem zielgruppenspezifischen Kinder- und Jugendprogramm hin zu einem parallel ausgestrahlten Familienprogramm mit Unterhaltungsorientierung für das Deutsche Fernsehen der er Jahre skizzieren und die Hintergründe dieser Entwicklung aufzeigen. Dabei kann dieser Beitrag insbesondere auf Michael
Siehe dazu auch Uwe Mattusch, Das kritische Jugendprogramm in der BRD: Ein Programm auf der Suche nach seiner Zielgruppe (Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland ), in: Hans-Dieter Erlinger/Hans-Friedrich Foltin, Hg., Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme, München , S. –, hier S. . Wolfgang Schweiger, Theorien der Mediennutzung: Eine Einführung, Wiesbaden , S. f. Torsten Oltmanns, Das öffentlich-rechtliche TV-Angebot bis und seine Nutzung (Reihe Arbeitspapiere des Instituts für Rundfunkökonomie an der Universität Köln ), Köln , S. . Siehe Schildt, Der Beginn des Fernsehzeitalters, S. –. Oltmanns, Das öffentlich-rechtliche TV-Angebot bis und seine Nutzung, S. . Zur Verbreitung des neuen Mediums in der Bundesrepublik Deutschland siehe zudem Schildt, Der Beginn des Fernsehzeitalters.
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Zwischen Kindern, Jugendlichen und der Familie
Schmidbauers Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland aufbauen. In einem zweiten Schritt richte ich den Fokus auf zwei im DFS ausgestrahlte US-amerikanische TV-Serien: Fury und Am Fuß der Blauen Berge. Ich beleuchte, wie sich diese in den späten er und frühen er Jahren, d. h. in jener Phase, in der die ARD bis zum Start des ZDF am . April alleiniger Programmanbieter war, als Kinder- bzw. Jugendserien etablierten, obwohl sie von Seiten des DFS bzw. der ARD-Rundfunkanstalten als Programme positioniert worden waren, die die Familie fokussierten. In beiden Fällen ist dies in der zeitgeschichtlichen Forschung noch nicht näher untersucht worden, auch wenn z. B. Am Fuß der Blauen Berge Teil einer „nostalgische[n] und vergnügliche[n] Erinnerung an vergangene Jahrzehnte und Fernsehkulte“ ist. Dies ist wohl nicht zuletzt auch im lange Zeit begrenzten Zugang der Forschung zu den Archiven der Rundfunkanstalten begründet. Mittlerweile stehen hier jedoch zumindest in Teilen wertvolle Quellen bereit. Die Analyse zu Fury beruht zum einen auf Recherchen im Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunks, welcher sich zunächst die Rechte an der Serie für die Bundesrepublik Deutschland gesichert hatte und diese dann in das Gemeinschaftsprogramm der ARD einbrachte. Zum anderen greife ich ergänzend auch auf verschiedene wissenschaftliche Studien aus den späten er und frühen er Jahren zum Programm des DFS zurück, in denen auch Fury in jeweils mehr oder weniger großem Umfang thematisiert worden ist. Am Fuß der Blauen Berge wurde von dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) in das DFS eingebracht. Da im Historischen Archiv des WDR aber keine Dokumente vorliegen, mit denen die historische Rezeption der Serie durch Jugendliche näherungsweise zu rekonstruieren wäre, dient in diesem Beitrag die Jugendzeitschrift B als Quelle. Judith Keilbach/Matthias Thiele, Für eine experimentelle Fernsehgeschichte, in: Hamburger Hefte zur Medienkultur, H. , , S. –, hier S. . Siehe dazu Markus Behmer/Birgit Bernard/Bettina Hasselbring, Hg., Das Gedächtnis des Rundfunks: Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung, Wiesbaden . Mit dem Hinweis auf die Thematisierung der Serie in diesen Studien Schmidbauer, Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, S. , S. , S. . Oral History-Interviews werden hier nicht herangezogen, da die Erinnerungen der Zeitgenossen verklärt sein können. Bereits auch mit diesem Argument im Rahmen einer historischen Rezeptionsforschung: Aniko Bodroghkozy, Black Weekend: A Reception History of Network Television News and the Assassination of John F. Kennedy, in: Television & New Media, Jg. , H. , , S. –, hier S. . Dagegen mit einem Plädoyer für Oral History-Interviews als Quellen einer historischen Rezeptionsforschung: Frank Bösch/Jérôme Bourdon/Michael Meyen/Lynn Spigel, Roundtable: Writing (Media) History in the Age of AudioVisual and Digital Media, in: Journal of Modern European History, Jg. , H. , , S. –, hier S. –.
Andre Dechert
Mittels dieser wird hier herausgearbeitet, dass Am Fuß der Blauen Berge als in der Bundesrepublik der frühen er Jahre populäre Jugendserie zu werten ist. So ist davon auszugehen, dass die B nicht nur Themen selektierte und verbreitete, sondern auch gegenüber ihren Leserinnen und Lesern eine maßgebliche Definitionsmacht entfaltete und so deren Meinungen prägte. Die B startete zwar zunächst als „Zeitschrift für Film und Fernsehen“, wie es in ihrem Untertitel hieß. Trotz des Versuchs, Leserinnen und Leser aller Generationen einzubinden, etablierte sie sich aber bereits in ihren frühen Jahren als zeitgenössisches Jugendmedium, wie Kasper Maase gezeigt hat. Sie diente Jugendlichen als „Informationsquelle über die neuesten Stars, Trends und Moden aus den USA“. Wie die B ihre Leserschaft konkret über die US-amerikanische TV-Serie Am Fuß der Blauen Berge informierte, wird hier basierend auf den Ergebnissen einer qualitativen Inhaltsanalyse präsentiert, deren Kategorien entsprechend der Fragestellung (Publikum der Serie) und festgelegt aus dem Material heraus ergänzt worden sind („Schauspieler“ sowie zusammenfassend „allgemeine Informationen zur Serie“). Zusätzlich ist auch die formale Kategorie „Platzierung des Artikels“ berücksichtigt worden.
Vom Kinder- und Jugendprogramm zum unterhaltungsorientierten Familienprogramm
Bereits im „Programm für den Aufbau und die Durchführung des öffentlichen Fernsehens“ von , das dem erfolgenden Start des Deutschen Fernsehens vorausging, war für den (Spät-)Nachmittag eine Kinderstunde im Umfang von Minuten vorgesehen. Diese sollte insgesamt sechsmal in der Woche ausgestrahlt Von einer solchen Definitionsmacht der Massenmedien geht auch das Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Klaus aus. Siehe Elisabeth Klaus, Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozess und das Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit: Rückblick und Ausblick, in: Dies./Ricarda Drüeke, Hg., Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: Theoretische Perspektiven und empirische Befunde, Bielefeld , S. –. Kaspar Maase, B Amerika: Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg , S. . Bereits im Frühjahr , so eine zeitgenössische Repräsentativbefragung, besaß die B in der BRD und Westberlin wohl , Millionen Leserinnen und Leser. Ebd., S. . Die Tatsache, dass Am Fuß der Blauen Berge in der B thematisiert wurde, hat bereits Thommi Herrwerth aufgezeigt, jedoch ohne sich analytisch näher mit der Berichterstattung über die Serie auseinandersetzen. Siehe Thommi Herrwerth, Partys, Pop und Petting: Die Sixties im Spiegel der Bravo, Marburg .
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Zwischen Kindern, Jugendlichen und der Familie
und im wechselnden Rhythmus von einzelnen Rundfunkanstalten der ARD produziert werden. Im Zuge der Erweiterung der Sendekapazitäten und der daraus resultierenden Ausweitung des Programms bot sich den Programmverantwortlichen des DFS bald auch die Möglichkeit, verschiedene Altersgruppen anzusprechen. Im Rahmen dieser Entwicklung adressierte die am Nachmittag ausgestrahlte Kinderstunde mehrheitlich bereits zwei verschiedene Alterskohorten: Eine halbe Stunde richtete sich an Kinder ab vier Jahren, eine weitere an Kinder über acht Jahren. Bereits ein Jahr später hatte die ARD das Angebot noch weiter ausdifferenziert. Ein Programmschema für das ARD-Nachmittagsprogramm der Jahre / sah Sendungen für Kinder und Jugendliche im Alter von jeweils fünf bis sieben, acht bis elf und zwölf bis Jahren vor. Insbesondere eine Novellierung des Jugendschutzgesetzes (d. h. dem Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit) im Jahr beeinflusste die Programmplanung des Deutschen Fernsehens nachhaltig. Nachdem das Jugendschutzgesetz in seiner novellierten Fassung Kindern unter sechs Jahren den Kinobesuch untersagte, verschärfte auch die Ständige Programmkonferenz (SPK), die das Programm des DFS koordinierte, ihre Regeln für das Kinderprogramm. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse, nach denen Kinder vor vermeintlichen Folgen des neuen Mediums TV wie einer „Reizüberflutung und medizinischen Schäden“ zu bewahren seien, beschloss das Gremium, keine Sendungen für Kinder unter acht Jahren mehr auszustrahlen. Jene Verantwortlichen innerhalb der ARD, die die Überzeugung teilten, dass – wie der Fernsehdirektor vom Süddeutschen Rundfunk (SDR), Helmut Jedele, es ausdrückte – „diese Altersgruppe noch nichts vor dem Fernsehschirm zu suchen hat“ , setzten sich trotz interner Widerstände durch. Die Programme richteten sich nach Beschluss der SPK vom
Schmidbauer, Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Zur Novellierung des Jugendschutzgesetzes siehe Bruno W. Nikles, Immer komplexer: Die Entwicklung der rechtlichen Regelungen zum Jugendschutz, in: Kind, Jugend, Gesellschaft: Zeitschrift für Jugendschutz, Jg. , H. , , S. –, hier S. f. Claudia Lipp, Das Kinderfernsehen in der BRD: Dramatisch – dokumentarisch – spielerisch (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen ), in: Klaus Jensen/JanUwe Rogge, Hg., Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik, Tübingen , S. –, hier S. . Zit. Schmidbauer, Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, S. .
Andre Dechert
September nur noch an Kinder und Jugendliche zwischen acht und zwölf bzw. und Jahren. Auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen um die Auswirkungen des Mediums Fernsehen auf Kinder und Jugendliche und der diesbezüglichen Gesetzgebung brachte Gertrud Simmerding, Diplom-Psychologin und Leiterin des Nachmittagsprogramms des Bayerischen Rundfunks (BR), ein Jahr nach der Novellierung des Jugendschutzgesetzes erneut einen Vorschlag für die Gestaltung des ARD-Gemeinschaftsprogramms in die interne und öffentliche Diskussion ein, der, wie eingangs ausgeführt, bereits vom BR für die Werktage umgesetzt worden war. In Jugend Film Fernsehen. Vierteljahresschrift des Wissenschaftlichen Instituts für Jugendfilmfragen München (heute: merz | medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik) plädierte Simmerding öffentlich für eine Gestaltung des DFS-Programms, die im Gegensatz zu einer Orientierung auf eingegrenzte Zielgruppen stand. Dabei orientierte sie sich maßgeblich an ihren Eindrücken vom US-amerikanischen TV, die sie im Rahmen einer Studienreise hatte gewinnen können. Von dieser Studienreise ist zwar kein Reisebericht in konventioneller Form überliefert. Simmerding führte aber in ihrem in Jugend Film Fernsehen publizierten Artikel bezüglich des Fernsehprogramms in den USA aus: In Amerika ist Fernsehen Geschäft. Nur zugkräftige Programme sind rentabel. Und auch nur dann, wenn sie einen möglichst breiten Zuschauerkreis ansprechen. Man macht Kinderprogramme und bezieht selbst jüngere Zuschauer von zwei Jahren ein. Im Gegensatz dazu werden in Deutschland Stimmen laut, Fernsehprogramme nur für größere Kinder, also etwa ab Jahren vorzusehen. Die Zukunft wird
Ebd., S. , S. f. Mit dieser Definition von Kindern und Jugendlichen wich die SPK von jener im Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit von ab. Bis zum Alter von Jahren zählte man dem Gesetz nach als Kind, bis zum Alter von Jahren als Jugendlicher. Siehe Nikles, Immer komplexer, S. . Zu Simmerding und ihrer Karriere im BR siehe ihre kurze biographische Schilderung in Gertrud Simmerding, Kinderfernsehen beim Bayerischen Rundfunk, in: Hans-Dieter Erlinger/Dirk Ulf Stötzel, Hg., Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland: Entwicklungsprozesse und Trends, Berlin , S. –, hier S. . Dies indiziert der mit dem handschriftlichen Vermerk „SZ Nr. /..“ versehene Zeitungsausschnitt „Kinder vor dem Fernseh-Schirm“, der Teil des im Historischen Archiv des BR zugänglichen Nachlasses von Gertrud Simmerding ist. Siehe BR, Historisches Archiv, NL/. Zu Studienreisen von Programmverantwortlichen des DFS bzw. der regionalen Rundfunkanstalten und der Integration US-amerikanischer Serie in das Programm des DFS in den er und frühen er Jahren siehe Andre Dechert, A Case of Asynchronous Media Change in the s: How US-American TV Series Came to Early West German Television, in: Global Media Journal German Edition, Jg. , H. (..).
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Zwischen Kindern, Jugendlichen und der Familie
zeigen, ob wir damit nicht eine Vogel-Strauß-Taktik betreiben. Kleinere Kinder sitzen im Familienkreis mit ihren Geschwistern oder Freunden vor dem Schirm. Sie lassen sich sicher nicht ausschalten oder nachmittags vom Fernsehschirm verjagen: Unsere Frage sollte nicht lauten: Verbannung der Kleinkinder von Fernsehschirmen oder nicht? sondern: welches Programm ist für sie das beste und entsprechende? Allerdings werden Kleinkinder, wenn sie kindgemäße Programmstücke zugeteilt bekommen, versuchen, in der übrigen Zeit Zaungäste zu bleiben. Aus diesem Grund ist der amerikanische Versuch, phasengerechte Programme mehr und mehr durch einen spannenden Eintopf zu ersetzen, nicht uninteressant. Ein gutes Allgemeinprogramm für Kinder von bis Jahren ist von diesem Gesichtspunkt aus eine Lösung, die keiner Altersgruppe schadet, aber weitgehend im vergnüglichen Miteinander des Zusehens alle Altersunterschiede verwischt.
Ein gutes Allgemeinprogramm für Kinder zwischen und Jahren – oder anders ausgedrückt: ein gutes Allgemeinprogramm für die gesamte, mehrere Generationen umfassende Familie – glaubte Simmerding im Programm der USamerikanischen Networks, vor allem deren Serien, gefunden zu haben. Dies verdeutlicht das Beispiel der TV-Serie Fury, die in den USA von bis produziert und auf den Sendern des Network NBC ausgestrahlt worden ist. Nur zunächst war die um die Abenteuer des auf einer Ranch lebenden Waisenjungen Joe und dessen Pferd Fury kreisende Serie Teil des vom BR ausgestrahlten Kinderprogramms.
Fury zwischen Kinderstunde und Familienprogramm
Bereits vor der Publikation ihres Artikels in Jugend Film Fernsehen hatte Simmerding / dem BR die Ausstrahlungsrechte an Fury-Episoden für die Bundesrepublik Deutschland gesichert. Nach erfolgter Synchronisation brachte der BR zunächst sechs Episoden der Serie in das Programm des Deutschen Fernsehens ein. Diese wurden zunächst sonntags um : Uhr als Teil der regelmäßigen
Gertrud Simmerding, Kinderfernsehen in der alten und in der neuen Welt, in: Jugend Film Fernsehen, Jg. , H. , , S. –, hier S. . Siehe Simmerding, Kinderfernsehen beim Bayerischen Rundfunk, S. ; BR, Historisches Archiv, FS/.
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„Kinderstunde“ (siehe Abb. ) ausgestrahlt. Entsprechend der Platzierung im Kinderprogramm entfaltete die Serie auch in dieser Zielgruppe eine besondere Popularität. Nachdem die sechste Episode von Fury gesendet worden war, zeigten sich zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer der Serie enttäuscht über das Ende der regelmäßigen Ausstrahlung der Serie im Deutschen Fernsehen, wie ein im Nachlass von Gertrud Simmerding überlieferter Zeitungsausschnitt unbekannter Herkunft indiziert. In dem mit „Wir wollen alle Fury und Joe wiedersehen!“ betitelten Artikel heißt es, dass der BR zahlreiche Zuschauerbriefe erhalten hatte, welche den Wunsch zum Ausdruck brachten, dass die Serie im Deutschen Fernsehen fortgesetzt würde. Legt man den Inhalt des Zeitungsartikels als Maßstab an, so waren es vor allem Kinder, die regelmäßig Fury schauten und auf eine Fortsetzung der Serie hofften: Der Artikel zitierte aus verschiedenen Zuschauerbriefen, nahezu alle dieser Zitate stammten von Kindern. Demnach schloss z. B. die achtjährige Erika ihren Brief mit den Worten: „,Warum wird uns diese Freude jetzt genommen.‘“ Die achtjährige Karin bat: „,Wir wollen alle Fury und Joe wiedersehen. Bitte balt [sic!] wiederkommen.‘“ Und „ein offensichtlich noch sehr kleiner Ulrich“ schrieb: „,Lieber Furie. Es ist schade, daß du nicht mehr wiederkommt. Ich bin gans traurik.‘“ Angesichts dieser positiven Resonanz auf Fury setzte der BR die Ausstrahlung der Serie auch in den folgenden Jahren fort. Schon bald wurde die Serie aber von Seiten des BR zunehmend (auch) dem Familienprogramm zugeordnet, wie ein internes Sendungsprotokoll des BR (siehe Abb. ) anzeigt. Auch Ausgaben der Programmvorschau des Familienprogramms des BR, „Die Kleine Information“, indizieren, dass Fury-Episoden zunehmend als Teil eben jenen Familienprogramms begriffen und positioniert worden sind. So werden z. B. auch in einem handschriftlich auf den . Oktober datierten Heft der Programmvorschau für Dezember Irmela Schneider/Christian W. Thomsen/Andreas Nowak, Hg., Lexikon der britischen und amerikanischen Serien, Fernsehfilme und Mehrteiler in den Fernsehprogrammen der Bundesrepublik Deutschland –, Bd. , Berlin , S. . Dieser ist Teil eines der „Tagebücher“ (hier Nr. ) Simmerdings, in dem sie die unter ihrer Leitung ausgestrahlten Sendungen protokollierte und welche als Teil ihres Nachlasses (BR, Historisches Archiv, NL/) überliefert sind. Von zahlreichen Zuschauerbriefen berichtet auch „Die Kleine Information“, eine Programmvorschau des Familienprogramms des BR, in ihrer Ausgabe vom . Oktober (BR, Historisches Archiv, NL/). Es wird dort jedoch nicht spezifiziert, welcher Altersgruppe die Verfasserinnen und Verfasser der Briefe angehören. Nach Auskunft des Historischen Archivs des BR ist die Zuschauerpost aus den er und er Jahren leider nicht überliefert. BR, Historisches Archiv, NL/. Ebd. Ebd.
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und Januar mehrere, nicht auf obigem Sendeprotokoll aufgeführte Episoden der Serie angekündigt und deren Inhalt näher beschrieben. Zurückzuführen ist die zunehmende Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie im Rahmen eines Familienprogramms wohl nicht zuletzt darauf, dass Gertrud Simmerding die US-amerikanische Serie tatsächlich nur bedingt als spezifisches bzw. geeignetes Kinderprogramm erachtete. In einem im Nachlass von Gertrud Simmerding überlieferten Zeitungs-Interview (mit dem Titel „stippvisite im studio“), das ein handschriftlicher Vermerk dem Juni zuordnet, wurde Simmerding folgende Frage gestellt: Sind Sie denn nun der Meinung, daß etwa die ,Fury‘-Sendungen am Sonntagnachmittag [. . . ] in die Welt unserer Kinder passen? Wenn diese Dinge überhand nehmen würden, wären doch wohl ziemliche Gefahren für die Welt des Kindes gegeben, oder . . . ?
Simmerding erwiderte, dass die Sendung „im Grunde nicht für Kinder, sondern für Jugendliche ab zwölf bis dreizehn Jahren gedacht sei, sie „habe aus unendlich vielen ,Fury‘-[Filmen] [. . . ] einfach einen Prozentsatz ausgesucht, der [..] noch verantwortbar erscheint“. Angesichts dessen, dass Kinder nicht nur die für ihr Alter intendierten Sendungen verfolgten, plädierte Simmerding ganz ihren Ausführungen in Jugend Film Fernsehen von entsprechend für eine Anwesenheit der Eltern beim Fernsehkonsum ihrer Kinder: „Wenn bei diesen [..] Sendungen wenigstens noch ein Erwachsener mit zusehen würde, könnte man vieles vielleicht auch noch verantworten.“ Trotz der zunehmenden Ausstrahlung von Fury als Familienprogramm blieb die Serie aber weiterhin vor allem eine Kinderserie: Die Popularität der Serie unter Kindern setzte sich in den folgenden Jahren fort, wie verschiedene wissenschaftliche Studien indizieren, die in den späten er und frühen er Jahren durchgeführt worden sind. Im Rahmen einer inhalts- und formfokussierten Analyse des Kinderprogramms des DFS, die unter dem Titel Das Fernsehen BR, Historisches Archiv, NL/. Ebd. Ebd. Tatsächlich stützen auch zahlreiche im Historischen Archiv des BR überlieferte Evaluationsbögen (BR, Historisches Archiv, FS/) sowie der Schriftwechsel des BR mit Synchronisationsfirmen (BR, Historisches Archiv, FS/-FS/) Simmerdings Aussage, dass sie sich intensiv mit den jeweiligen Episoden auseinandersetzte. Die überlieferten Dokumente erlauben aber überwiegend nur wenig Rückschlüsse bezüglich der konkreten Auswahl-Hintergründe. Siehe dazu Dechert, A Case of Asynchronous Media Change in the s, S. f. BR, Historisches Archiv, NL/.
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Abb. : Internes Sendeprotokoll des BR. Quelle: BR, Historisches Archiv, FS/.
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in pädagogischem Aspekt von Horst Wetterling, Professor an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück, publiziert worden ist, waren auch die Programmvorlieben von Kindern im Alter von zehn bis elf Jahren ermittelt worden. Die Befragung ergab, dass Kinder insbesondere Tierfilme und Abenteuerstücke (unter welchen Wetterling explizit auch Fury subsumierte) gerne sahen: Mehr als jedes zweite Kind in diesem Alter hatte diese als Programmpräferenz benannt. Eine auf Gruppendiskussionen und Fragebögen basierende Studie des Wissenschaftlichen Instituts für Jugend- und Bildungsfragen in Film und Fernsehen, München, hatte sich im selben Jahr ebenfalls näher mit den Programmpräferenzen von Kindern im Alter von sechs bis Jahren befasst. Von insgesamt Kindern, die allesamt die Volksschule in Traunstein – einer Gemeinde mit einer „in Deutschland einmalige[n] Fernsehdichte“ – besuchten, war in diesem Kontext auch die jeweils beliebteste Sendung erfragt worden: Sowohl unter den Erst- (sechs bis sieben Jahre) als auch den Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern (acht bis neun Jahre) gewann jeweils Fury. Einige Jahre später stellten auch Fritz Stückrath und Georg Schottmayer vom Pädagogischen Institut der Universität Hamburg basierend auf einer zwischen und durchgeführten Studie, in deren Rahmen Schülerinnen und Schüler im Alter von neun bis Jahren befragt worden sind, allgemein fest: „Filmgeschichten mit Tieren gehören zu den beliebtesten Sendungen der Kinder bis zum zwölften und . Lebensjahr.“ Insbesondere auch Fury war bei den befragten Schülerinnen und Schüler diesen Alters populär, während die Beliebtheit der US-amerikanischen Serie bei älteren Schülerinnen und Schüler deutlich abnahm. Die Hamburger Wissenschaftler erklärten bezüglich der elf bis zwölf Jahre alten Schülerinnen und Schüler, bei denen die Serie ihren Ergebnissen nach besonders beliebt war: Man darf annehmen, daß die Schüler in den Hauptdarstellern der beiden KinderTier-Abenteuer [Fury und die ebenfalls beliebte Serie Lassie] nach Alter und Erlebnis eine ideale Identifikationsmöglichkeit finden.
Horst Wetterling, Das Fernsehen in pädagogischem Aspekt: Bemerkungen zur Wirksamkeit, zu den Möglichkeiten und Aufgaben eines Jugendprogramms im Fernsehen (Evangelische Akademie für Rundfunk und Fernsehen ), München , S. . Georg Wodraschke, Kinder als Fernsehkonsumenten, in: Jugend Film Fernsehen, Jg. , H. , , S. –, hier S. . Ebd., S. . Fritz Stückrath/Georg Schottmayer, Fernsehen und Großstadtjugend, Braunschweig , S. . Ebd., S. –. Ebd., S. .
Andre Dechert
Jugendliche, die B RAVO und Am Fuß der Blauen Berge
Nachdem sich Fury unter westdeutschen Zuschauerinnen und Zuschauer – insbesondere Kindern – als populär erwiesen hatte, zogen bald weitere westdeutsche Rundfunkanstalten nach und brachten zusätzliche TV-Serien US-amerikanischer Herkunft in das Programm des DFS ein. Unter diesen US-amerikanischen TVSerien befand sich auch die Western-Serie Am Fuß der Blauen Berge, die in den USA unter dem Titel Laramie zwischen und produziert und auf den Sendern des Network NBC ausgestrahlt worden ist. Die Serie kreist in ihren jeweils etwa -minütigen Episoden um die Wildwest-Abenteuer der zwei Ranchund Postkutschenstation-Betreiber Jess Harper und Slim Sherman in Wyoming. Angesichts zahlreicher in der Serie gezeigter Prügeleien und Schießereien fasste die US-amerikanische TV-Zeitschrift TV Guide den Inhalt der Serie folgendermaßen zusammen: „In Laramie the theme is [..] hardy fellows against half the people in Wyoming.“ Von der Ständigen Programmkonferenz des Deutschen Fernsehens wurde Am Fuß der Blauen Berge durch die Platzierung auf wechselnden Sendeslots am Samstag- und Sonntagnachmittag als Teil eines generationenübergreifenden Programmangebots positioniert. Dennoch etablierte sich die Serie aber vor allem als Jugendsendung, wie eine qualitative Auswertung von Artikeln nahelegt, die bis in der B publiziert worden sind und Am Fuß der Blauen Berge erwähnten oder thematisierten. Als Randnotiz sei hier noch vorab erwähnt, dass auch der WDR, der Am Fuß der Blauen Berge für die ARD im DFS ausstrahlte, die B zumindest Mitte der er Jahre aufmerksam sichtete. So heißt es in einem internen Scheiben vom . April , dass Robert Fuller, der einen der beiden Protagonisten der Serie verkörperte, zum „beliebtesten Fernseh-Darsteller in der Bundesrepublik gewählt worden“ sei, die Umfrage sei von der „leichtgewichtigen, aber auflagestarken Zeitschrift, B‘ veranstaltet“ worden. US-amerikanische Serien hatten nach Beginn ihrer Ausstrahlung im DFS zunächst nur wenig Aufmerksamkeit in der B gefunden und waren – wenn überhaupt – in kurzen Meldungen erwähnt oder angesprochen worden. Nachdem Laramie bzw. Am Fuß der Blauen Berge zwischen März und Februar Zit. Alvin H. Marill, Television Westerns: Six Decades of Sagebrush Sheriffs, Scalawags, and Sidewinders, Lanham , S. . WDR, Historisches Archiv, Signatur . Eine Ausnahme bildet der folgende Artikel: Vater ist doch der Beste!, in: B, H. ,, S. f. Ein Beispiel für eine kurze Meldung, in der eine US-amerikanische Serie thematisiert wurde, ist: Mattscheibe, in: B, H. , , S. .
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mit etwa einem Dutzend Episoden seine Premiere im Deutschen Fernsehen gefeiert hatte, waren jedoch auch die Redakteure der B auf die Serie aufmerksam geworden. In einem Artikel des Heft Nr. aus dem Jahr mit dem Titel „Cowboys bei uns zu Hause: Jess und Slim aus ,Laramie‘ gewinnen immer mehr Freunde“ stellten sie ihren Leserinnen und Leser die Schauspieler der beiden Protagonisten, Robert Fuller und John Smith, und deren bisherige Karrieren vor. Man begründete in dem Artikel: Welcher Beliebtheit sich die Western-Fernseh-Serie ,Am Fuß der Blauen Berge‘ erfreut, beweisen unzählige Briefe von B-Lesern. Sie alle wollen mehr über die beiden sympathischen Burschen wissen.
Entsprechend dieser von B konstatierten Popularität der Serie und ihrer Schauspieler belegte John Smith, der Slim Sherman spielte, dann auch bei der Wahl der Stars des Jahres bereits Platz in der Rubrik der männlichen Fernsehstars, während Robert Fuller, der Jess Harper spielte, es noch nicht geschafft hatte, sich unter den Top zu platzieren. Als populäre Jugendserie beschrieb und positionierte die B Am Fuß der Blauen Berge insbesondere in einem Artikel vom Jahresende . In diesem Artikel mit dem Titel „Kämpft um Euren Slim“ berichtete die Zeitschrift, dass der WDR plane, die Ausstrahlung der „beliebte[n] Wildwest-Serie“ einzustellen, obwohl die Serie weiter in den USA produziert werde – eine „traurige Kunde für die jungen Fernsehzuschauer“, wie die B konstatierte, diese würden schließlich „Slim und Jesse nicht verlieren“ wollen. Damit „alle Freunde und Anhänger Slim Shermans und Jesse Harpers“ demnächst nicht „vergeblich auf ihre Lieblinge warten“ würden und „das Deutsche Fernsehen [..] sich eines Besseren [besinne]“, rief die Zeitschrift ihre Leserinnen und Leser daher in dem Artikel auf, sich direkt
Die Anzahl der zu diesem Zeitpunkt im DFS ausgestrahlten Episoden kann nicht eindeutig bestimmt werden. Dies beginnt bereits damit, dass in der wissenschaftlichen Literatur die Premiere der Serie entweder auf den März (Schneider/Thomsen/Nowak, Lexikon der britischen und amerikanischen Serien, S. ) oder „Ende “ (Michael Reufsteck/Stefan Niggemeier, Das Fernsehlexikon: alles über Sendungen von Ally McBeal bis zur ZDF-Hitparade, München , S. ) datiert wird. Da die Serie zudem zunächst zumindest teils nicht unter dem Serientitel, sondern unter wechselnden Einzeltiteln ausgestrahlt worden ist, wie auch in genanntem Eintrag im Fernsehlexikon von Reufsteck und Niggemeier angemerkt wird, gestaltet sich eine Identifikation der ausgestrahlten Episoden über die Sendeprotokolle des DFS zumindest problematisch. Cowboys bei uns zu Hause, in: B, H. , , S. . Stars des Jahres, in: B, H. , , S. . Kämpft um Euren Slim, in: B, H. , , S. .
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an den WDR zu wenden: „B meint dazu: Nicht die Flinte ins Korn werfen. Rührt Euch! Kämpft um Eure Lieblinge! Vielleicht erweicht ein tausendfacher Protestschrei den Sender Köln . . . “ Durch die an die Leserinnen und Leser der Zeitschrift in Überschrift und Text gerichteten Aufforderungen, gegen ein Ende der Ausstrahlung der Serie in der Bundesrepublik zu kämpfen, positionierte die B Am Fuß der Blauen Berge als für Jugendliche bedeutsame Serie – insbesondere die Nutzung des Possessivpronomens „Euren“ impliziert dabei, dass sich westdeutsche Jugendliche, zumindest in der Wahrnehmung der B-Redakteure, die USamerikanische Serie bereits als ihre Serie und damit als Jugendserie angeeignet hatten. Ob und inwiefern es tatsächlich zu Protesten kam, die den WDR in seiner Entscheidung beeinflussten, die Ausstrahlung der Serie fortzusetzen, kann zwar nicht anhand der im Historischen Archiv des WDR überlieferten Bestände rekonstruiert werden. Zumindest aber lässt sich konstatieren, dass sich die Popularität der Serie unter Jugendlichen – zumindest unter jenen, die die B lasen – fortsetzte und gemessen an der Popularität der Schauspieler sogar noch anstieg. In den Wahlen zum Star des Jahres von und , die jeweils zu Beginn des folgenden Kalenderjahres durchgeführt wurden, belegten die Hauptdarsteller aus Am Fuß der Blauen Berge vordere Plätze in der Rubrik der männlichen Fernsehstars. So platzierte sich Robert Fuller in der Wahl für den männlichen Fernsehstar des Jahres auf dem fünften Platz. Es folgte im Jahr darauf der zweite Platz, nachdem die B ihn zuvor in der Rubrik „Star von heute“ als „Weltstar“ vorgestellt und zweimal auf ihrem Titelblatt gezeigt hatte. Zudem hatte die B ihre Leserschaft informiert, dass Am Fuß der Blauen Berge regelmäßig im Deutschen Fernsehen übertragen werde und sich „einen festen Platz im deutschen Nachmittagsprogramm gesichert“ habe. In einer weiteren Ausgabe hatte die
Ebd. Im weiteren Verlauf der er Jahre (d. h. nach dem hier behandelten Untersuchungszeitraum), gab die B, wie in der Literatur ohne nähere Behandlung des Themas bereits angemerkt worden ist, ihren Leserinnen und Leser sogar Ratschläge, wie man seine Eltern überzeugen könnte, Serien wie Am Fuß der Blauen Berge schauen zu dürfen und zitierte in diesem Zusammenhang Robert Fuller. Siehe Herrwerth, Partys, Pop und Petting, S. . In späteren Jahren sollte Robert Fuller die Wahl gar gewinnen. Siehe Herrwerth, Partys, Pop und Petting, S. f. Stars des Jahres , in: B, H. , , S. . Stars des Jahres , in: B, H. , , S. f. ARGUS, Robert Fuller: Pech mit Kinokarten, in: B, H. , , S. f., hier S. . Es handelt sich um die Titelblätter folgender Hefte: B, H. , ; B, H. , . Zum Titelblatt, in: B, H. , , S. .
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Zeitschrift weiterhin von einem im Regionalprogramm des NDR ausgestrahlten Fuller-Interview berichtet und konstatiert: „Nun hoffen die Fuller-Fans im Westen und Süden des Landes, daß auch ihnen dieser ,Treffpunkt‘ gezeigt werde. Und B hofft mit ihnen!“ John Smith belegte in den Wahlen zum männlichen Fernsehstar der Jahre und immerhin zunächst den achten und dann den siebten Platz. Auch Smith war in der Rubrik „Star von heute“ vorgestellt und die Serie Am Fuß der Blauen Berge dort als „Super-Sendung“ bezeichnet worden.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Programmangebot des Deutschen Fernsehens an Nachmittagen zunächst eng eingegrenzte Zielgruppen von Kindern und Jugendlichen adressierte. Im Zuge von Debatten um die Auswirkungen auf und die Eignung des Mediums TV für Kinder und Jugendliche etablierte sich aber auch ein sogenanntes Familienprogramm im DFS, welches maßgeblich vom BR initiiert worden war. Sowohl in diesem Familienprogramm als auch einem zunehmend die Familie fokussierenden Nachmittagsprogramm der Wochenenden strahlte die ARD seit den späten er Jahren vor allem US-amerikanische Serien aus. Diese Serien adressierten zwar nominell die gesamte Familie, entfalteten aber in spezifischen Zielgruppen – hier Kinder und Jugendliche – eine besondere Popularität. Dies erfolgte teils losgelöst von der Intention der ausstrahlenden Rundfunkanstalten bzw. ihrer jeweiligen Entscheidungsträger. So betrachtete z. B. Gertrud Simmerding Fury nur in wenigen Fällen als für Kinder geeignet. Besonders Kinder wiederum fühlten sich aber von der Serie angesprochen. Zeitgenössische Studien indizieren dabei eine zentrale Bedeutung der beiden Figuren Fury und Joe für die Popularität der US-amerikanischen TV-Serie. Im Falle von Am Fuß der Blauen Berge ist hingegen davon auszugehen, dass die Serie ihre Popularität vor allem über die Schauspieler der beiden Protagonisten entfaltete. Diese standen im Mittelpunkt der Berichterstattung der Jugendzeitschrift B Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Begriff Familienprogramm durch den mit ihm einhergehenden Fokus auf die Ebene der Programmgestaltung, den Blick auf die Aneignung spezifischer Sendungen als Kinder- und Jugendsendungen verdeckt. Trotz der Einbettung der Serien in einen familiären Kontext bildeten Der Geisterreiter, in: B, H. , , S. . Stars des Jahres , in: B, H. , , S. ; Stars der Otto-Wahl, in: B, H. , , S. . ARGUS, John Smith: Cowboy von der Portokasse, in: B, H. , , S. f., hier S. .
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Fury und Am Fuß der Blauen Berge Teile der Kinder- bzw. Jugendkultur, wie ihre Popularität in den jeweiligen Altersgruppen indiziert. Kinder- und Jugendmedien können so nicht allein über Produktionsintentionen bzw. den direkten Einfluss von Jugendlichen auf die jeweiligen Medien im Sinne einer gestalterischen Einflussnahme definiert werden. Auch eine rezipientenorientierte Perspektive ist zu berücksichtigen. Vereinfacht gesagt: Was ein Kinder- bzw. Jugendmedium ist, ist auch immer eine Frage des Blickwinkels.
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„Wir haben keine Go-Go-Girls mehr“: Der Beat Club als Quelle und Akteur in der Kanonisierung des Rock Eine Sendung wie der Beat Club ist besonderen Mystifikationen ausgesetzt – die, wie überall, wo es um Pop geht, ein Kernbestandteil des Gegenstands sind, aber auch die Realität der Sendung und ihre je wechselnden Kontexte so weit auf eine intrinsische Großartigkeit und Notwendigkeit zu reduzieren drohen, dass die zahlreichen Ebenen und Elemente, die sich aus dem Beat Club herausziehen lassen, verloren gehen. Der folgende Beitrag – der zunächst einmal auf einer Durchsicht fast aller Beat-Club-Folgen aufbaut – möchte das nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit ändern. Er soll vielmehr exemplarisch aufzeigen, dass und wie der Beat Club als Quelle für die Sozial- und Kulturgeschichte westdeutscher Jugendund Subkulturen und deren Verhältnis zur etablierten Kultur dienen kann. Der Beat Club war in den vergangenen Jahren bereits häufiger Thema historiographischer Verarbeitungen: Neben dem - und -jährigen Jubiläum, die beide zur Veröffentlichung fast aller Folgen auf DVDs Anlass gaben, befassten sich Medienwissenschaftlerinnen wie Kathrin Fahlenbrach und Sozial- und Kulturhistoriker wie Detlef Siegfried mit der Sendung. Meist wird dabei der Beat Club als Erscheinungs- und Darstellungsform pop- und subkultureller Phänomene innerhalb der „Kulturrevolution der langen Sechziger“ analysiert. Es ist dabei wenig überraschend, dass sich die Medienwissenschaft vor allem für die filmische Umsetzung von Musik und Bedeutung interessiert, am Rande wird auch die Einbettung der Sendung in ein sich insgesamt diversifizierendes Panorama von Jugendkulturen thematisiert. Überraschend – aber vor dem Hintergrund der oben erwähnten Probleme in gewissem Maße konsequent – ist allerdings, dass Detlef Siegfried in seiner großen Studie nicht die Sendungen selbst, sondern nur die Drehbücher zur Analyse herangezogen hat, was womöglich der Grund ist für einige Fehler und – meiner Ansicht nach – Fehleinschätzungen.
Kathrin Fahlenbrach/Reinhold Viehoff, Der Aufstieg des Beat Club, sein Niedergang – und die Folgen, in: Spiel. Eine Zeitschrift für Medienkultur, Jg. , H. , , S. –; Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der er Jahre, Göttingen . Aufl. , S. –.
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Audiovisuelle Quellen: Kontextualisierung und Subjektivität
Audiovisuelle Quellen werden in der letzten Zeit im Rahmen der neuesten turns – hier des iconic und sonic turn – recht intensiv beworben, aber nicht immer kritisch auf ihren Aussagewert hin gewichtet. Tatsächlich stellt sich die Frage – und dies ist eines der Phänomene, das sich am Beat Club zeigen lässt –, ob ein solcher Aussagewert überhaupt einigermaßen eindeutig festgemacht werden kann. Dagegen sprechen zwei Argumente: Es ist hinreichend oft betont worden, dass Erwachsene und Jugendliche die Sendung von Anfang an sehr unterschiedlich wahrnahmen. Verfolgt man die Sendung – oder die teils von Siegfried ausgewerteten Zuschauerbriefe –, dann war auch die Wahrnehmung innerhalb der Zielgruppe (jugendliche Beat-Fans) sehr unterschiedlich: Zwar sahen in der zweiten Hälfte der er bis zu , Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und den Beat Club, die Reaktionen wechselten aber auch hier von haltloser Begeisterung zu angewiderter Ablehnung. Dies sollte sich bei den späteren visuellen Form- und Technikspielereien, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, nicht ändern. Die Differenz in der Wahrnehmung nimmt vermutlich zu zwischen dem zeitgenössischen Publikum damals und heutigen, an Popgeschichte interessierten jungen Akademikerinnen und Akademikern, die vor dem Hintergrund einer mehr als jährigen Pop- und Mediengeschichte aufgewachsen sind: Ohne Zweifel haben sich seit den ern und ern die Hör- und Sehgewohnheiten und -kompetenzen wesentlich verändert. Einen Historiker, der entschieden nicht mehr zum jugendnahen Nachwuchs zählt, bringt dies in eine interessante Lage: Einem Bonmot zufolge wird er sein eigener größter Feind, nämlich ein Zeitzeuge. Ich habe die erste Sendung im Jahre gesehen, im Alter von acht Jahren, bei Vettern im Alter von und . Bei der Durchsicht einiger Beat-Club-Folgen ist mir manchmal erinnernd, manchmal eher empfindend eingefallen, wie ich bestimmte Dinge damals gesehen habe, was mich nachhaltig beeindruckt hat. Ich bin mir relativ sicher, dass die Arroganz und Aggressivität der englischen Mods, die etwa aus den Auftritten der Einen – in seiner Überzeugungskraft sehr heterogenen – Überblick bieten Gerhard Paul/Ralph Schock, Hg., Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen – bis heute, Göttingen sowie enger am hier gewählten Thema Carsten Heinze/Laura Niebling, Hg., Populäre Musikkulturen im Film. Inter- und transdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden . Siegfried, Time, S. –.
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Small Faces sprach, die zornige Ekstase von Tommy James’ Mony Mony oder die Respektlosigkeit, mit der die britische Gruppe Cream die Playback-Illusion aushebelte, sich einem heute Mitte -jährigen Akademiker nicht mehr ohne Weiteres vermittelt. Ebenso wenig der Eindruck unbekleideter weiblicher Brüste, die später häufig in der Sendung untergebracht wurden und mir als Neun- bis Zwölfjährigem einen ambivalenten Schauer einjagten – als Tabubruch, bei dem ich fürchtete, die Eltern würden mir die Sendung deswegen verbieten, und als Anspielung auf eine Sexualität, die sich erst noch entwickeln musste. In einem Seminar zum Thema „When the Mode of the Music Changes, the Walls of the City Shake: Musik und Revolte in den langen sechziger Jahren“ an der Universität Leipzig im Winter / hörten die Studentinnen und Studenten (Master) im live gespielten My Generation von The Who (BC , ..) zunächst ein braves Popliedchen und erst beim zweiten, aufmerksameren und angeleiteten Hören eine gewisse ruppige Aggressivität. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass das oben zitierte Bonmot nicht stimmt – und hier insofern nicht, als die Herausforderung natürlich darin besteht, sich einerseits über die autobiographische Verwicklung und ihre kognitiven Folgen Rechenschaft abzulegen und gleichzeitig die als Quelle problematische eigene Erinnerung als Korrektiv und Kontextualisierung einer möglichst strengen historisch-kritischen Analyse heranzuziehen. Es ließe sich diskutieren, ob und wie das gelingen kann. Als lesenswertes Beispiel erscheint mir Ulrike Heiders Buch Vögeln ist schön, das in recht überzeugender Weise die Rekonstruktion von Debatten über sexuelle Befreiung und Feminismus mit der Erinnerung an die eigenen zeitgenössischen Erfahrungen und ihrer Reflexion ergänzt und kommentiert. Die Einbeziehung der eigenen Wahrnehmung und Erinnerung erfordert aber eine äußerst sorgfältige Selbstreflexion in der Richtung der von Bourdieu geforderten und in der Ethnologie und Soziologie mitunter geübten Reflexivität
In BC , ..; BC , ..; BC , ..; BC , ... Sämtliche Beat Club-Sendungen werden zitiert nach: the story of BEAT CLUB vol. –, DVDs, Hamburg –. Zu Stil und Haltung der Mods siehe Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London , S. –; François Thomazeau, Mods. La révolte par l‘élégance, Bègles . BC , ... BC , ... Michael G. Esch, Zum Verhältnis zwischen individueller Erinnerung, öffentlichem Gedächtnis und Historiographie. Der „Komplex Vertreibung“, in: Sozial.Geschichte , , S. – http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-/_Esch_←Vertriebene.pdf (..). Ulrike Heider, Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von und was von ihr bleibt, Berlin .
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von Wissenschaft, da sich die Wahrnehmungsformen nicht nur zwischen Generationen und Milieus unterscheiden. Der Autor dieser Zeilen hat im Vorfeld der Abfassung dieses Beitrags etwa Bekannte beiderlei Geschlechts und im Alter zwischen und Jahren gebeten, sich Billie Davis’ Version des ChipTaylor-Songs Angel of the Morning anzuhören, wie sie im Beat Club ausgestrahlt wurde. Etwa ein Dutzend antwortete. Knapp zusammengefasst richtet sich Davis an eine (vermutlich männliche) Person, mit der sie die Nacht verbracht hat; eine von ihr erhoffte längere Liebe wird nicht daraus, und sie erklärt, dass sie in der Lage sei, mit dieser von ihr selbst herbeigeführten Situation fertigzuwerden. Der Autor selbst hält diese Nummer in dieser Version für ein präfeministisches Statement voller kaum unterdrückter Energie, Stolz und Trauer, das auf einer anderen Ebene und in weitaus melancholisch-emotionalerem Duktus eine ähnliche weibliche Selbstermächtigung formuliert wie Leslie Gores You Don’t Own Me oder die Ronettes, denen es gelang, ähnliche Publikumsekstasen hervorzurufen wie ihre männlichen Gegenstücke, mit Be My Baby oder Shout. In der eigenen Rezeption mischte sich diese eher nüchterne Analyse mit dem erinnerten Gefühl als Teenager, bei den wirklich tollen Mädchen (wie Davis) keine Chance gehabt zu haben, weil sie lieber die coolen, womöglich älteren Typen bevorzugten, bei denen sie eigentlich nicht froh wurden. Lediglich eine Antwort – die eines -jährigen Historikerkollegen, der übrigens ebenfalls aus nichtakademischer Familie stammt – ging in genau die gleiche Richtung. Die meisten anderen sahen (und in selteneren Fällen hörten, weil die meisten nicht auf den Text achteten) unabhängig vom Geschlecht und Alter: Schulmädchenerotik; Depression; eine irrelevante, aber eingängige Popschnulze. Bereits der Umstand, dass Davis beim Vortrag relativ unbeweglich dasteht und lediglich im instrumentalen Zwischenspiel mit den Fingern schnippt, wurde sehr unterschiedlich in der Spannweite von unbeholfen bis „cool“ wahrgenommen – ganz abgesehen davon, welche Ebenen der Darbietung (Kleidung; Bewegungen; Licht; Instrumentierung; Text; Phrasierung) in der Beschreibung dessen, was wahrgenommen wurde, überhaupt Pierre Bourdieu, Esquisse pour une auto-analyse, Paris . BC , .., story vol. , DVD . Das Video ist außerdem mehrfach auf YouTube vorhanden. Zu weiblicher (Selbst-)Ermächtigung im Beat der er Jahre siehe Christopher R. Martin, The Naturalized Gender Order of Rock and Roll, in: Journal of Communication Inquiry, Jg. , H. , , S. – sowie Uta Poiger, Rock‘n‘Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle over German Identities, in: The Journal of Modern History, Jg. , H. , , S. –; Siegfried, Time, S. –. Leslie Gore, You Don‘t Own Me (aus T.A.M.I.-Show ) https://www.youtube.com/←watch?v=JDUjeRwnU (..); The Ronettes, Be My Baby/Shout (aus Big T.N.T.Show ) https://www.youtube.com/watch?v=KHe_O_dE (..).
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Abb. : Billie Davis in BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
vorkamen. Eine ähnliche Bandbreite findet sich in YouTube-Kommentaren zu dieser Aufnahme: Von „so innocent, so idealistic, so very much a living symbol of her live“ (Kommentar Horst Veckner, ) über „a song sung by a woman, saying she’s up for blame-free one night stands“ (Kommentar moominpic, ) bis hin zu „destined to be a pedo classic“ (Kommentar von Mark Winberry, März ). Billie Davis, Angel of the Morning, hochgeladen von TheLegion am .. https://←www.youtube.com/watch?v=aQnimVmXM (..); Billie Davis, Angel of the morning.flv,
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Die Antworten spiegeln Hörgewohnheiten und Wahrnehmungsebenen nicht nur von Musik, sondern auch von weiblichen Kleidungsstilen, in gewissem Umfang auch persönliche Lebenswege, die nachvollziehende, erinnerte Erfahrung der eigenen Jugend, Zugänge zu Musik und die ihr beigemessene Bedeutung wider, Maß und Form eigener musikalischer Praxis, Häufigkeit des Anhörens. Der zitierte Kommentar von Veckner könnte eine informierte persönliche Identifizierung der Sängerin mit dem Inhalt des Liedes darstellen: Davis war auch dadurch bekannt geworden, dass sie als -Jährige ein Verhältnis mit dem -jährigen verheirateten Bassisten Jet Harris hatte. Dies alles verweist darauf, dass es eben eine Bedeutung und Wirkung von Musik weder synchron noch diachron gibt: Sie funktioniert auf mehreren Ebenen, von denen nicht alle immer – und erst recht nicht immer in gleicher Weise – wahrgenommen und interpretiert werden. Die sechs Standbilder in Abb. sind von daher eine subjektive Zusammenstellung, die aber einen Eindruck von der Inszenierung und ihrer Interpretierbarkeit vermitteln soll (auch wenn ganz wesentliche Bestandteile wie Instrumentierung und Phrasierung naturgemäß hier nicht wiedergegeben werden können). Es ließe sich bei entsprechender Auswahl der Gesichtsausdrücke und Gesten der Sängerin jede der oben angedeuteten Interpretationen begründen. In meiner Wahrnehmung ist Davis’ Version des Liedes die kraftvollste: wegen der kaum zurückgehaltenen Energie, die ihre Stimme ausdrückt, wegen ihrer selbstbewusst verzögernden Phrasierung, aber auch weil sie bestimmte Textstellen fortlässt, die in anderen Versionen beibehalten wurden – insbesondere die durchsichtige, die vorherige Haltung relativierende Zeile „I won’t beg you to stay with me | through the tears of the day and the years“, die ausgerechnet eine Rock’n’Roll-Feministin wie Chrissie Hynde in ihrer Version beibehält. Tatsache ist, dass Davis um / durchaus eine Mode- und Verhaltensikone gewesen ist. Angel of the Morning war in den konventionelleren Versionen von P. P. Arnold und vor allem Merrilee Rush aus
hochgeladen von eriksynkro am .. https://www.youtube.com/watch?v=HXZqdEAPRU (..). Drei der Antwortenden sowie der Autor sind selbst Amateur-, halbprofessionelle bzw. hauptberufliche Musiker. Ein biographischer Zusammenhang – auch für Davis‘ Entscheidung, genau diesen Titel für ein Comeback zu verwenden – liegt durchaus nahe: Als Harris bei einem Konzert im Jahre Davis als Gastsängerin auf die Bühne holt, spielt die Band die Anfangstakte von Angel of the Morning. Jet Harris & Billy Davis, No Other Baby https://www.youtube.com/watch?v=wp—muxfFY (..). The Pretenders, Angel of the Morning, auf: Music of Friends, USA (CD zur TV-Serie Friends, USA –).
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dem Folgejahr aber ein weitaus größerer Erfolg. Es besteht also die Gefahr, einer Darbietung, die kulturgeschichtlich eher irrelevant war, zu große Bedeutung beizumessen. Die ästhetisch-kognitiven Apriori betreffen dann aber auch wieder nicht nur den Forschenden – genauer gesagt, das spezifische Forschungsinteresse am und den methodisch-thematischen Umgang mit dem Gegenstand – sondern auch diejenigen, die sich um die Kanonisierung des hier besprochenen musikalischen Idioms bemüht haben. Dieser Aspekt lässt sich dann erstens erkennen und zweitens positiv wenden – dies soll hier gezeigt werden –, wenn Inszenierung und Wahrnehmung in möglichst vielfältiger Weise kontextualisiert werden. Die folgenden Seiten stehen dabei im Kontext eines Forschungsprojektes, das versuchen will, nicht nur Produktion, Rezeption und Wirkung von musikalischen Idiomen und Subkulturen, die sich auf sie beziehen, zu untersuchen, sondern in weitaus intensiverer Weise als bislang die musikalische Formensprache selbst – einschließlich der Darbietungsformen und des sich in ihnen ausdrückenden Verhältnisses zwischen Musikerinnen/Musikern und Publikum – mit einzubeziehen. Sie wollen zeigen, welchen Beitrag eine neuerliche, sowohl kultur-, medien- und sozialhistorisch als auch musikalisch und visuell informierte Rezeption des Beat Clubs zur Sozial- und Kulturgeschichte des Pop sowie der eigentümlichen Gemengelage von Musik und Revolte in den langen er Jahren zu liefern vermöchte. Sie stellen außerdem die Frage, wie die eigentümliche akustisch-klanggeschichtliche Enthaltsamkeit eines Großteils der einschlägigen Literatur überwunden werden kann und welches Verhältnis dabei die subjektive und objektivierende Rekonstruktion von Hörweisen – also letztlich das heutige Hören und Sehen in Verbindung mit der reflektierten Erinnerung an vergangene Wahrnehmungen durch die Person des/der Forschenden – spielen könnte. Ein Problem, das im Rahmen der folgenden Seiten nicht gelöst werden kann, ist, dass ein Buch keinen bewegten und keinen klanglichen Eindruck vermitteln kann. Fast alle zitierten Ausschnitte aus dem Beat Club finden sich auch auf einer allseits bekannten Internet-Plattform für die Veröffentlichung von Videos. Wegen der Unwägbarkeiten des aktuellen Urheberrechts wird darauf verzichtet, die entsprechenden Links anzugeben. Stattdessen wird bei den Musiktiteln und sonstigen Beiträgen auf die jeweilige Beat-Club-Sendung und die jeweilige DVD aus der offiziellen Veröffentlichung verwiesen.
Artikel Billie Davis, in: https://en.wikipedia.org/wiki/Billie_Davis (..). Die P.P.-ArnoldVersion wurde ausgestrahlt in: BC , ... Angaben zu weiteren Versionen siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Angel_of_the_Morning (..). The Story of Beat-Club, DVD in drei Teilen (–; –; –), Bremen (erweiterte Neuausgabe in einer Box ).
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„Wir haben keine Go-Go-Girls mehr“
Die Geschichte des Beat Clubs als Geschichte der Rezeption des Beats
Der Beat Club war nicht einfach eine Dokumentation des Musikgeschmacks junger Menschen und nicht nur eine televisionäre Meisterleistung oder Pioniertat: Er war, wie im Folgenden kurz beschrieben werden soll, in seinen Ursprüngen, aber auch in seiner weiteren Entwicklung ein soziokulturelles Statement und Werkzeug kulturellen Wandels und damit in gewissem Maße und bestimmter Form Akteur der Kulturrevolution der langen sechziger Jahre. In seinen ästhetischen Entscheidungen hinsichtlich Musik und optischer Aufarbeitung, seiner zunehmenden Abkoppelung von Verkaufszahlen folgte der Beat Club nicht nur einem mit der Bezeichnung „Beat“ musikalisch nur vage umrissenen, aber identitär sehr eindeutig bestimmten Segment der neuen musikalischen Formen und Sprachen, sondern war letztlich selbst – wie ein bestimmter Teil der einschlägigen Musikpresse – Akteur in der Feststellung der wichtigsten Qualität von Musik und Habitus in jeder Subkultur: Authentizität. Eines der ersten und vermutlich wichtigsten Themen, die sich am Beispiel oder auf der Grundlage des Beat Clubs bearbeiten lassen, ist sicherlich seine Positionierung und Rolle in der Geschichte des Beats. Er war die erste Sendung dieser Art in der BRD, deren Fernsehlandschaft sich noch sehr weitgehend am Mainstream der erwachsenen Kultur bzw. Kulturen orientierte: Musikalisch standen dem bürgerlichen Kulturkanon im wesentlichen Volksmusik, orchestrale Tanzmusik und Schlager gegenüber, eine Jugendsendung fehlte bis zum . September . Die erste Sendung wurde von dem seit im Fernsehen auftretenden Ansager Wilhelm Wieben mit einer Bitte um Verständnis seitens des erwachsenen Publikums, „die Sie diese Musik vielleicht nicht mögen“, eingeleitet. Die Verwendung des sowohl jugendlich als auch seriös
Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century –, London ; Arthur Marwick, The Sixties: Cultural Transformation in Britain, France, Italy and the United States, c. – c. . Social and Cultural Transformation in Britain, France, Italy and the United States, –, Oxford . Vgl. Hebdige, Subculture; Siegfried, Time, S. –. In eher denunziatorischem Duktus außerdem Grace Elisabeth Hale, A Nation of Outsiders. How the White Middle Class Fell in Love with Rebellion in Postwar America, Oxford ; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a.M. . Dies galt selbst im Radio. Siehe Christoph Hilgert, Die unerhörte Generation. Jugend im westdeutschen und britischen Hörfunk –, Göttingen . BC , ... Die Ansage ist – wegen ihres Kultcharakters – enthalten in der DVDVeröffentlichung.
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wirkenden, damals -jährigen Wieben ist interessant, weil sie im Nachhinein eine gewisse persönliche Nähe zu ambivalent wahrgenommenen jugendkulturellen Erscheinungen erahnen lässt – weniger wegen seiner bekannt gewordenen Homosexualität als wegen seiner Beteiligung am skandalisierten Video zu Jeanny von Falco aus dem Jahre . Zu Beginn der dritten Sendung taucht Wieben nochmals auf, als er vor dem Eingang zur Studiohalle die Ansage macht, in der folgenden halben Stunde „kommt die Jugend zu ihrem Recht“. Seine Nähe zum jugendlichen Publikum wird dadurch symbolisiert, dass er nach seiner Ansage sein Mikrophon abgibt und selbst in die Halle geht (siehe auch Abb. ). Bemerkenswert ist aber auch, dass Wiebens um Verständnis werbende Vorbemerkung nicht einzigartig blieb. Im Jahre erklärte der Moderator der WDR-Sendung Galerie der Entertainer einem vermutlich überraschten Publikum: Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herren, dass es jetzt unter Ihnen ein paar Zuschauer gibt, die sich fragen: Warum hat man uns das zugemutet? Nun, die Antwort ist relativ einfach: Weil es Gruppen wie The Can gibt, weil sie da sind, weil sie so denken, reden und spielen, weil sie – um es mit einem Modewort zu sagen – progressiv sind.
Die erste Beat-Club-Sendung begann dann durchaus mit einem Paukenschlag: Die erste Nummer der deutschen Band The Yankees ist nicht nur bemerkenswert, weil sie bis zur letzten Sendung der einzige deutschsprachige Titel im Beat Club bleiben würde. „Halbstark“ ließ sich vor allem als Statement, als ironische Ohrfeige für ebendiese „Damen und Herren“ und als Stigmaumkehrung lesen. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die ersten „unangepassten“ Jugendlichen um die Mitte der er Jahre noch einen schweren Stand hatten: Nicht nur in der DDR gab es polizeiliche und soziale Repressionen gegen Beatfans und Langhaarige, auch für die BRD und das großstädtische Berlin vermerkte Uwe Nettelbeck in einem Zeit-Artikel von Dezember : Wenn das ihr Junge wäre, würde sie ihn totschlagen, sagte eine Frau und wies erregt auf einen langhaarigen Knaben. Und um sie herum hob sich des Volkes Stimme: Dem müsse man die Hammelbeine langziehen, dem würden ein paar Jahre beim
Siehe Jeanny https://de.wikipedia.org/wiki/Jeanny (..). BC , ... Can, Galerie der Entertainer, WDR , in: https://www.youtube.com/watch?v=APoNpGKuq (..).
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Militär guttun, warum denn die Polizei da nicht einschreite, es sei ja unerhört, was man sich bieten lassen müsse.
Auch der Autor erinnert sich noch aus den frühen ern an elterliche Drohungen mit der Heckenschere, als er den Wunsch nach längeren Haaren äußerte, sowie gelegentliche elterliche Verzweiflung nach deren Durchsetzung um . Das Publikum, das in der ersten Sendung des Beat Clubs präsentiert wurde, war dagegen durchweg adrett – und elternkompatibel: Junge Frauen und Männer in ordentlicher Kleidung und mit zeittypischen, bei den Männern eher kurzen Haaren. „Freaks“, also rebellische Langhaarige, tauchten erst in späterer Zeit auf, meist in den Bildberichten des WDR und – natürlich – in den auftretenden Bands. Die faktisch rebellische Egalität im Tanz – die meisten Männer und Frauen tanzen einzeln, wodurch die traditionelle Aufteilung führender Mann/geführte Frau entfällt; ist deutlich zu sehen. Bereits in der ersten Sendung trat neben den Bremer Yankees und den schottischen John O’Hara & His Playboys eine britische Band auf, die in dieser Hinsicht interessant ist, weil es sich um eine der ersten echten Frauenbands handelte, nämlich die aus Liverpool stammenden Liverbirds. Das ursprüngliche Konzept zur Sendung stammte von dem Psychoanalytiker, Jazzkritiker und Sexualforscher Ernest Borneman, der – als Ernst Bornemann in Berlin geboren – als Jude, Marxist und Sympathisant der von Wilhelm Reich gegründeten Sexpol-Bewegung nach London gegangen war, wo er – nach einem USA-Aufenthalt – bis beim Fernsehen gearbeitet hatte. Als Borneman von Radio Bremen beauftragt wurde, ein Konzept für eine neue Jugendsendung zu entwickeln, verknüpfte er zwei Stränge, die in der zweiten Hälfte der er Jahre an vielen Orten zusammenliefen: Nach der Degeneration der kommunistischen Bewegung zum Stalinismus bis hin zur Haltung der Kommunistischen Parteien zum Einmarsch in Ungarn , dem Scheitern der sozialistischen Arbeiterbewegung im Versuch, den Faschismus zu verhindern, und der Auflösung der Arbeiterklasse in der Wohlstandsgesellschaft suchte eine Neue Linke andere Wege zur Formierung der Klasse, die die Aufhebung der Klassengesellschaft herbeiführen sollte. Einer der Wege, die dabei beschritten wurden, war die Neuentdeckung des Begriffs der Entfremdung, die nicht mehr nur auf die Enteignung Uwe Nettelbeck, In Liverpool ist etwas passiert, in: Die Zeit, Nr. (), . Dezember , Zit. http://www.zeit.de///in-liverpool-ist-etwas-passiert/komplettansicht (..). Brigitte Reinkohl, Rock Frauen, Reinbek , S. –. Siegfried, Time, S. –; Detlef Siegfried, Moderne Lüste. Ernest Borneman – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher, Göttingen .
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der Produktionsmittel, sondern nun vor allem auf soziokulturelle Isolierung und – nicht zuletzt sexuelle – Frustrationen, d. h. mehr auf sozioökonomische und kulturelle Aspekte des Alltagslebens bezogen wurde. Die sich damit aufdrängende Verbindung marxistischer und psychoanalytischer Aspekte, wie sie in der BRD schulbildend die Kritische Theorie betrieb, und ihr Antiautoritarismus sorgte bei manchen Linken – darunter auch Borneman – zu einer Hinwendung zu den seit den er Jahren aufkommenden und sehr rasch skandalisierten neuen Jugendkulturen, ihrem Habitus, ihren Verhaltensformen und ihrer Musik. Sicherlich erleichterte diese Vorstellung eine spätere zurichtende Aneignung des Pop durch die akademische Linke, auf die wir noch zurückkommen werden. Die zweite Entwicklungslinie war die sehr allmähliche Öffnung öffentlichrechtlicher Sendeanstalten und ihrer im „Bildungsauftrag“ festgeschriebenen kulturpädagogischen Mission für die neuen musikalischen Idiome. In den USA sorgte der privatwirtschaftliche Charakter von Radio und Fernsehen nicht nur sehr früh für die Ausstrahlung von Jazz, Rock’n’Roll und weiteren neuen Musikformen, sondern verschaffte ihnen durch die teils landesweite Ausstrahlung und gelegentliche Skandalisierung überhaupt erst die Bedeutung, die ihnen in den „langen Sechzigern“ zukommen sollte: Das marktorientierte Fernsehen und Radio schufen aus einem diffusen Bedürfnis Jugendlicher und einer neu entstandenen musikalischen Ware einen Bedarf, den es dann sofort auch bediente. In den europäischen Ländern hingegen verschlossen sich die öffentlich-rechtlichen Sender zunächst einer als ungebildet, emotional und sexuell aufgeregt wahrgenommenen Musik – die dann zunächst über Piraten- und Soldatensender zu einem aufnahmewilligen jungen Publikum kam. Der Beat Club war insofern Teil des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags: Ästhetisch und kulturell vermittelte er zwischen allgemeinen Wahrnehmungs- und Darbietungsformen, indem er einen Kontext schuf, der einerseits genügend Elemente einer eltern- und kulturbürokratieseitig misstrauisch bis ablehnend beobachteten Jugendkultur enthielt, um authentisch zu wirken, diese aber andererseits durch die Ausstrahlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und durch den Habitus der Akteurinnen und Akteure (mit wenigen Ausnahmen) entschärfte. In Vgl. Henri Lefebvre, Kritik des Alltagslebens, Bde., München ; Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied . Vgl. o.A., Der Kultur- und Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten, Ausarbeitung für die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, https://www.bundestag.de/blob//afdfcbdababd/wd---pdf-data.pdf (..). Siehe hierzu Hilgert, Generation; Siegfried, Time.
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Abb. : Eingangssequenz zum Beat Club , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
dieser Kombination und als audiovisuelle Darstellung des Beatschuppens sollte die Sendung die Unmittelbarkeit und Vitalität einer neuen, manchen kritischen Intellektuellen vielversprechend erscheinenden Jugendkultur für ein emanzipatorisches Programm nutzen, gegen den kulturellen Mief der Adenauer-Ära und des Kalten Kriegs. Auch dieses Ziel ließ sich ohne Weiteres mit dem erwähnten Bildungsauftrag zur Deckung bringen. Die Sendung bemühte sich daher zunächst, Beat als Musik, Mode, Bewegungsform möglichst unmittelbar – „authentisch“ – abzubilden: Sie fand live in einer alten Fabrikhalle statt. Die bereits erwähnte Eingangssequenz zum Beat Club zeigt, wie junge Männer und Frauen die Halle betreten, die Kamera folgt ihnen zu einem Kleiderständer, über den alle ihre Mäntel werfen, in der Halle wird bereits getanzt (siehe Abb. ). Es gibt mehrere Bühnen, auf denen die Bands spielen, das Publikum tanzt im Raum dazwischen. Zu John O’Hara & his Playboy’s sozialkritischem We’ve got to get out of this place wird „Memphis“, ein damals populärer Reihentanz, vorgeführt und zur Nachahmung erläutert. Die erste Sendung, moderiert von Uschi Nerke und Gerd Augustin, endet mit der Aufforderung an das Fernsehpublikum, neue Bands, Sängerinnen/Sänger und Tänzerinnen/Tänzer zu
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melden. Mit anderen Worten: Die Distanz zwischen Akteurinnen und Akteuren auf und vor der Bühne war zu diesem Zeitpunkt denkbar gering, der Beat Club wurde inszeniert als authentischer Beatschuppen mit Livebands, die nicht zur allerersten Garnitur der weltweit vermarkteten Interpreten gehören, sondern musikalische Dienstleister in einer Veranstaltungsform waren, deren Zentrum nicht die Musiker, sondern im Grunde das (tanzende) Publikum bildete. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Sendung Beat Beat Beat, die der Hessische Rundfunk von bis ausstrahlte. Eine weitere Ähnlichkeit der beiden Formate bestand darin, dass sie mit Sendern aus den Herkunftsländern der musikalischen Idiome kooperierten, um die es in den Sendungen ging: Der Beat Club übernahm die Hitparade von BBC und BFBS, mit Eddie Vickers tauchte ein britischer DJ als Gast auf, ab der . Sendung wurde Nerke der britische DJ David Lee Travis beigesellt. Ab der . Sendung erhielt die Sendung ihr bis heute bekanntes, an dem der Londoner U-Bahn orientiertes Logo. Beat Beat Beat hingegen entstand in direkter Kooperation mit dem NDR sowie dem amerikanischen Soldatensender AFN, bot allerdings gleichwohl meist britische und deutsche Bands sowie, als Besonderheit, in jeder Sendung mindestens eine Nummer eines Jazzduos, das aus der aus Südafrika stammenden Organistin Cherry Wainer und dem Schlagzeuger Don Storer bestand. Die Wahl des britischen bzw. amerikanischen Kooperationspartners hing nicht nur mit persönlichen Netzwerken zusammen – Borneman hatte lange in England gelebt und für das Fernsehen gearbeitet –, sondern auch damit, dass die Produktionsstätten in den entsprechenden Besatzungszonen lagen. Die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs beeinflussten auf diese Weise noch bis in die Mitte der er Jahre die Transferwege für die neue Musik – allerdings nur in begrenztem Maße: Nicht zuletzt Budgetbeschränkungen sorgten dafür, dass sowohl in Bremen als auch in Offenbach praktisch keine amerikanischen Interpreten auftraten, auch die Jazzorganistin Wainer lebte in London.
BC , ... Eine Episodenliste mit den auftretenden Musikerinnen und Musikern bietet: http://←herrbeutlin.beepworld.de/files/bbb.txt (..) Siehe z. B. Cherry Wainer & Don Storer Soul Organ Blues, hochgeladen von diegodobini am .. https://www.youtube.com/watch?v=BQpwTWlE (..) und weitere auf YouTube veröffentlichte Wainer/Storer-Auftritte aus der Sendung.
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Der Beat Club als Dokumentation und Motor der Entwicklung des Beats
Der Beat Club inszenierte sich in dieser Frühzeit als Dokumentation einer spezifischen Jugendkultur, eben des Beats, der mit dem transatlantischen Erfolg britischer Bands wie der Beatles, Rolling Stones und Kinks den amerikanischen Rock’n’Roll als globalisiertes Phänomen der Jugendkultur und der sie bedienenden Industrie abgelöst hatte. Trotz der Namensähnlichkeit hatte die Adepten der „Beatmusik“ mit der Subkultur der Beats und der sich an ihnen orientierenden Beatniks wenig zu tun: Während diese sich als eine literarisch-künstlerische Gegenkultur darstellten, war die Beatmusik eine Massenmusik mit gewissen Vernetzungen zu neueren, häufig ursprünglich proletarischen oder proletarisierenden Jugendsubkulturen wie den Mods. Konsequenterweise wurden die Live-Darbietungen (und später Playback-Auftritte) ergänzt durch Einspielungen je angesagter Stars, als erste Sonny & Cher. Auch der Auftritt unbegleiteter Sänger und Sängerinnen in der Halle selbst schuf einen Paradigmenwechsel: Hier tanzt das Publikum nicht mehr, sondern umringt die leicht erhöht stehenden Akteurinnen und Akteure – womit einerseits wiederum große Nähe suggeriert wird. Diese Nähe ist aber nun andererseits die zu einem Star und nicht zu einem Musiker als handwerklichem Dienstleister, der man auch selbst sein könnte. Diese Ambivalenz ist natürlich die des Beats selbst: Der Aufstieg der britischen Bands ermutigte in vielen Ländern Musiker und Nichtmusiker, Ähnliches zu versuchen und eigene Ausdrucksformen zu finden, während die Herstellung der Ware Popstar gleichzeitig eine Standardisierung der musikalischen Form und eine Heraushebung der charismatischen „Originale“ gegenüber den „Kopien“ und gegenüber dem Publikum generierte. Die zunehmende Verdrängung nichtprofessioneller bzw. eher regional erfolgreicher Bands zu Gunsten von Hitparadenbeats, die sich in England bereits im Übergang vom amateurhaften Skiffle zum Beat vollzogen hatte und mit der Abtrennung vermarktbarer von nicht hinreichend talentierten oder versierten Bands fortsetzte, stellte die Trennung zwischen agierenden professionellen Musikern und passiv rezipierendem Publikum wieder her – in einem Prozess, der sich ähnlich bereits in der Entwicklung der Konzertmusik des . Jahrhunderts im Übergang von Amateur- und gemischten zu professionellen Orchestern mit an Konservatorien ausgebildeten Musikern vollzogen hatte und die Entwicklung aller populären Musikformen vom Jazz und Folk über Rock’n’Roll, Rock, Punk bis hin zu Rap und Techno immer wieder geprägt hat. Siehe hierzu u. a. Etienne Jardin, Konzertsäle, in: Anna Langenbruch/Gesa zur Nieden, Hg., Orte und Räume der Musik (Handbuch der Musik der Klassik und Romantik, Bd. , erscheint );
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Bemerkenswert ist in diesem Kontext die . Sendung vom . April : Die German Bonds spielten hier mit der Sonata Facile die Beat-Version einer MozartSonate: Kanonisiertes musikalisches Material wird in beatmäßiger Bearbeitung einem jüngeren Publikum nahegebracht, gleichzeitig arbeiten die Musiker an ihrer eigenen Aufnahme in einen erweiterten Bildungskanon, indem sie klassische musikalische Bildung sowie instrumententechnische Professionalität und Virtuosität unter Beweis stellen. Gleichzeitig ist der Aufbau insofern bereits leicht verändert, als Nerke nun allein moderiert. Die Bildregie konzentriert sich inzwischen mehr auf den Teil des Publikums, der auf den umgebenden Tribünen sitzt; immerhin gibt es noch eine Tanzfläche. Ab der . Sendung änderte sich das: Leckebusch war das Tanzen des Publikums zu wenig aufregend, also hatte der Beat Club künftig zunächst sieben, später drei und schließlich zwei Go-Go-Girls, die zum Intro der Sendung gezeigt wurden und während der im Studio dargebotenen Nummern tanzten. Die Einführung der Go-Go-Girls ist als Übergang inszeniert: Den spontan Tanzenden der ersten Sendungen, die Leckebusch nun zu langweilig waren, folgen vier engagiert, aber eher unkoordiniert zu Playback tanzende junge Frauen. Bei einem Schlagzeugbreak schieben sich drei weitere Tänzerinnen in den Vordergrund; Beleuchtungswechsel und Professionalität der Choreographie weisen Letztere als die „eigentlichen“ Go-Go-Girls aus (Abb. ). Der Auftritt von Sandy Sarjeant und den WeidhaasZwillingen bedeutet hinsichtlich Technik und Energie einen Quantensprung in Richtung Professionalisierung – und stellt damit eine Distanz wieder her, die in Inszenierung und Kameraführung, letztlich aber auch durch die Provinzialität der live Auftretenden bis dahin überbrückt worden war: In Beat Club hatten selbst die damals populären Lords, eine der bekanntesten deutschen Beatbands,
Michael G. Esch, Music and Revolt: A Breakneck Ride through the Transnational Production of Jazz and Rock, in: Matthias Middell, Hg., Handbook of Transregional Studies, London (im Druck) sowie Hans-Erich Bödeker u. a., Hg., Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de à (France, Allemagne, Angleterre), Paris ; Sven Oliver Müller, Das Publikum macht die Musik: Musikleben in Berlin, London und Wien im . Jahrhundert, Göttingen sowie die für unser Thema interessanten Ansätze bei Nadja Geer, Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose, Göttingen ; Katherine Bergeron/Philip V. Bohlman, Disciplining Music. Musicology and Its Canons, Chicago/London . Ich werde an dieser Stelle nicht auf das komplexe und problematische Verhältnis zwischen Virtuosität und Musikalität im musiktheoretischen und ästhetischen Diskurs eingehen, weil dafür der Platz nicht reicht. Diese Debatte, die sich in der europäischen Kunstmusik über mehrere Jahrhunderte immer wieder verfolgen lässt, scheint auch in zeitgenössischen Kritiken insbesondere über den Progressive Rock und andere Debatten über Authentizität auf, ist aber bislang kaum systematisch untersucht worden.
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Abb. : Einführung der Go-Go-Girls in BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
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mit dem Publikum die Halle betreten, waren dann auf die Bühne gegangen und schalteten die Verstärker ein, bevor sie anfingen zu spielen. Das erste Auftauchen der Go-Go-Girls markiert zudem eine Ausweitung der musikalischen Bandbreite: Neben Beat- bzw. Rock-Gruppen lud der Beat Club in der Folge häufig schwarze und weiße Soulsängerinnen, Soulsänger und -bands ein, die Go-Go-Girls tanzten zu einer James-Brown-Nummer. Die unmittelbar vorangegangene . Sendung hatte dagegen den Charakter der Unmittelbarkeit insofern noch gesteigert, als er aus Auszügen aus einer Benefiz-Tanzveranstaltung der Gewerkschaftsjugend in der Hamburger Festhalle bestand – mit Auftritten der Lords, Rattles sowie der britischen Animals. Mit dem gewerkschaftlichen Umfeld positionierte sich der Beat Club erstmals auch politisch, und zwar eher sozialdemokratisch-links. Ansonsten aber wurden die nun meist im Playback eingespielten Darbietungen optisch immer aufwändiger inszeniert: zunächst durch Beleuchtung und Kamerapositionierung sowie (bei den mehrheitlich männlichen Interpreten) Beigabe von jungen Frauen. Ab Sommer experimentierte Leckebusch mit der nachträglichen Bearbeitung und Verfremdung des Bildmaterials: Die daraus resultierenden, immer rücksichtsloseren Polarisierungen, Überlagerungen und Drehungen der Bilder gelten als fernsehtechnische Pionierleistung für die visuelle Darstellung moderner Popmusik, und sie sind das Merkmal, das bis zur Einstellung der Sendung im Dezember und bis heute die Wahrnehmung des Beat Clubs prägen sollte. Die optischen Spielereien Leckebuschs lassen sich in gleicher Weise lesen wie die Entscheidung, Go-Go-Girls in die Sendung einzubauen: Beides entstand aus der Unzufriedenheit eines Akteurs, dessen eigentlicher Bezugsraum nicht Jugendkultur, sondern „Qualitätsfernsehen“ war – definiert als eine ästhetisch und technisch angemessene visuelle Darbietungsform für populäre, in irgendeiner Weise progressive Musik. Leckebuschs erstes Interesse war die Herstellung eines Produktes, das den zunehmenden qualitativen und kategorialen Ansprüchen an die übertragene Musik entsprach. Auch deshalb rechtfertigte Leckebusch seine Entscheidungen mitunter in Jugendzeitschriften wie der musik parade, die ihrerseits eine quasi erwachsenere Variante der im gleichen Verlag erschienenen B darstellte. Ab dem Sommer öffnete sich der Beat Club zunehmend neueren Entwicklungen in der Rockmusik, insbesondere dem Progressive Rock in seinen
BC , ... Vgl. die Fußnoten in Siegfried, Time sowie Ausgebuffte Jungs, in: Der Spiegel () , .., S. f.
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verschiedenen Spielarten; gleichzeitig positionierte er sich immer eindeutiger als Sendung abseits der Mainstream-Jugendkultur, mit Angriffen auf die Kommerzialisierung der Hippie-Kultur im Musical Hair und im Woodstock-Film sowie mit Seitenhieben auf Zeitschriften wie die B und kommerzielle Sender wie Radio Luxemburg, das für die Verbreitung neuer Musikformen seit den er Jahren in Europa eine immense Bedeutung gehabt hat. Hinzu wurden ab Beat Club vom . September mitunter äußerst politische, mitunter gewollt schräge und unzugängliche Filmbeiträge aus der eher links-sozialpädagogischen Redaktion der Jugendsendung Baff aus dem WDR Köln integriert, die eine eigene ausführliche Betrachtung wert wären. Wesentlich für unseren Kontext ist, dass sie zunächst versuchten, die Realität von Jugendlichen jenseits der schillernden Welt der Musikerinnen und Musiker abzubilden. Die Beat-Club-Redaktion rechtfertigte diesen Schritt vor allem damit, dass nun eine ganze Stunde Sendezeit anstatt einer halben für ein Programm für Jugendliche und junge Erwachsene zur Verfügung stand, da die WDR-Beiträge den Bildungsauftrag unterstrichen. Sie hatten aber auch Folgen für die Kontextualisierung der gebotenen Musik: Im Beat Club vom . September beispielsweise gibt es einen längeren Beitrag über die Rolling Stones, in dem Archivaufnahmen der Band sowie aktuellere Bilder vom Free Concert, das die Stones im Hyde Park gaben, mit Bildern von Straßenkämpfen in Paris vermengt werden. Der Off-Kommentar fügt Informationen über den Lebenswandel und Besitzstand hinzu und erklärt, die Stones seien eine Band, die ihren Erfolg von Anfang an im Wesentlichen der geschickten Nutzung aktueller und authentischer Motive – von den Beatles und dem Blues der „Neger“ bis hin zur Gegenkultur der Hippies – vereinnahmt und kommerziell ausgeschlachtet hätten. Der Auftritt im Hyde-Park wird so analysiert: An einem Sommertag, dem . Juli , lädt das Management ein: Die Band braucht Publicity, und dafür eine Show. Ein Free Concert im Hyde Park – der Werbegag des Showbusiness. Was einmal unkommerzielles Be-In [sic!], wird nun raffiniertes Werbehappening. Die folgende US-Tour bringt Millionen Mark.
Noch Monate zuvor, im Beat Club vom . August , hatte die Sendung eher unprätentiös und positiv („Dann gaben die Stones ein einmaliges Konzert“) im Rahmen eines Nachrufs auf den Anfang Juli verstorbenen Brian Jones berichtet: Das Hyde-Park-Konzert war auch als Trauerfeier inszeniert. folgt der Siegfried, Time, S. f. BC , ... BC , ...
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Abb. : Eingangssequenz (Auswahl) zu BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
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Abb. : Auftritt Hard Meat, Beitrag Piratensender, Auftritt Pretty Things, Beitrag Popfestival, Beitrag Rolling Stones in BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
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Hinweis auf das Altamont-Festival, das als Wiederholung von Woodstock und als Filmkulisse geplant war, aber insofern zu einer (dann filmisch dokumentierten ) Katastrophe wurde, als ein Hell’s Angel den Schwarzen Meredith Hunter erstach – und damit zum Ende des „Summer of Love“ beitrug. Der Off-Kommentator spricht von vier Toten, davon einem Opfer auf der Bühne. Tatsächlich verhielt es sich etwas anders: Die Idee zu einem zweiten Woodstock ging nicht vom Management der Stones aus, sondern von Akteuren des kalifornischen Undergrounds, nämlich den Grateful Dead und Jefferson Airplane. Die Teilnahme der Rolling Stones war eine Reaktion auf Kritik an exorbitant hohen Eintrittspreisen für die offiziellen Konzerte. Es kamen zwei Menschen bei einem Autounfall ums Leben, ein weiterer ertrank in einem Kanal. Hunter wurde nicht auf, sondern vor der Bühne erstochen, nachdem er – wie ein amerikanisches Gericht im Verfahren gegen den Täter urteilte – eine Schusswaffe gezogen hatte. Wesentlich ist hier nicht, dass der WDR – womöglich auch in Unkenntnis der Feinheiten – bewusst und vereinfachend skandalisierte, sondern dass sich die Authentizitätskonstruktion im Beat Club in vier Jahren grundlegend verändert hatte: Ursprünglich war es der Sendung darum gegangen, eine bestehende Jugendkultur abzubilden und – so Nerke in ihrer ersten Anmoderation im ersten Beat Club – „über das Neueste auf dem internationalen Beatmarkt zu informieren“. Authentisch waren in diesem Kontext zunächst die Musik selbst und der Raum, in dem sie aufgeführt wurde, dann die Stars, die in der Sendung erstmals „live“ zu sehen (wenn auch sehr rasch wegen des Übergangs zu Vollplayback nicht zu hören) waren. Im zitierten Beitrag über Altamont – wie auch an einigen anderen Stellen, etwa einem Beitrag über Jimi Hendrix im gleichen Jahr – war Authentizität aber nun zu einem Gradmesser dafür geworden, in welchem Verhältnis musikalische Aussagen, Rollen und außermusikalische Praxis zueinander standen. Diese Forderung nach Identität der Musikerinnen und Musiker mit ihrer Bühnenrolle stammte letztlich aus zwei miteinander verschränkten Quellen: Zum einen der „Politisierung des Privaten“ in der Folge der Studentenrevolte, zum anderen dem allgemein-pädagogischen Insistieren auf bestimmten, häufig nicht explizierten Eigenschaften einer Musik, die kein reines Industrieprodukt, sondern künstlerisch, sozial und kulturell hochwertig bzw. echt sein sollte – mit dem einzigen Unterschied zum „klassischen“ Kanon, dass abstrakte musikalische Bildung Gimme Shelter, USA . Vgl. die Darstellung und Nachweise in Altamont Free Concert, in: https://en.wikipedia.org/←wiki/Altamont_Free_Concert (..) und Death of Meredith Hunter, in: https://en.←wikipedia.org/wiki/Death_of_Meredith_Hunter (..). BC , ...
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im Beat- und Rockbereich unter Umständen durch Originalität ersetzt werden konnte. Letztlich traf sich der kommerzialisierungskritische Authentizitätsfetisch des Undergrounds mit dem kommerzialisierungskritischen Bildungsanspruch einer scheinbar marxistischen, letztlich bürgerlichen Musikkritik. Interessant ist der zitierte Beitrag aus Beat Club auch deshalb, weil er andeutet, dass die spätere Aussage, es habe sich bei der Kooperation mit dem WDR um eine reine Zweckehe gehalten und die Beiträge „zerhackten den Fluss der Sendung“, nicht ganz stimmen kann. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man den Gesamtablauf dieser Sendung betrachtet. Sie beginnt mit dem erst mit Beat Club vom . April eingeführten, inzwischen ikonischen A Touch of Velvet and a Sting of Brass, das aber sehr rasch abgelöst wird von einer Beat-Version der Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven; die dazu geschnittenen Bilder zeigten Demonstrationen in Kassel und Erfurt, Tänzerinnen, Richard Nixon, einen Feuerwehreinsatz, eine Fotosession, John Lennon und Yoko Ono und Ähnliches (Abb. ). Der Eingangssequenz folgt, wie Abb. andeutet, ein live gespieltes Stück der britischen ProgRock-Formation Hard Meat, danach ein Filmbeitrag über den Piratensender Capitol Radio, der die internen Hierarchien in dem von Radioprofis betriebenen Sender sowie die Orientierung dieses Senders an einem älteren Publikum zeigt – also implizit eine Entfernung von den vermuteten ursprünglichen Prinzipien der Piraten, die jedoch letztlich nie etwas anderes waren als eine liberal-kapitalistische Reaktion auf ethisch-ästhetische Einschränkungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Danach spielen die Pretty Things, eine Band, die sich von einem härteren, vor allem von den Mods goutierten britischen weißen Rhythm & Blues hin zu improvisationsbetontem „progressivem“ Bluesrock entwickelt hatten. Die gut sechs Minuten lange Nummer Cries from the Midnight Circus wird zwei Mal unterbrochen durch Nerke, die mit langen Hosen und Stirnband auf eine Kuhweide projiziert einen ironisch-sarkastischen Text darüber verliest, wie sich mit der Organisierung eines Pop-Festivals ohne jegliche Kenntnisse der Musik jede Menge Geld verdienen lässt. Auf das Ende des Beitrags von Nerke folgt dann der zitierte Film über die Stones. Einen ganz eigentümlichen Effekt macht es, dass die Pretty Things relativ unspektakulär – d. h. ohne optische Spielereien – in Farbe gezeigt werden; Nerkes Hineinkopieren in das Standbild einer Kuhweide wirkt künstlich mit knalligen Farben – sei es wegen Unvollkommenheiten der Technik oder bewusst als Ironisierung des Spektakels Festival –, der Beitrag über
Thorsten Schmidt, Beat Club. Alle Sendungen – alle Stars – alle Songs, Bremen , S. . BC , .., story vol. , DVD .
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die Stones hingegen ist in Schwarzweiß gehalten, was ihn als Blick zurück in eine andere Zeitebene erscheinen lässt und dadurch eine doppelte Distanz schafft: Von den musikalischen Akteuren, deren Marktwert mitunter von ihrer Zugehörigkeit zu der Subkultur abhing, die sie bedienten, aber auch von einer Zeit, in der Beat und Rock noch in unproblematischster Weise als Aufbruchsfanfare in eine neue, bessere Welt verstanden werden konnten. Die Beiträge des WDR und die Redeanteile Nerkes greifen jedenfalls hier durchaus ineinander, allein schon dadurch, dass Nerke und der WDR Festivals als Spektakel zeigen, die nicht in erster Linie (mehr) einer gegenkulturellen Vergemeinschaftung dienten, sondern der Vermarktung eines industriell hergestellten (und zudem im Falle der Stones minderwertigen) Produkts. Das „Zerhacken“ ist in dieser und einigen weiteren Sendungen eher das Werk Leckebuschs – und passte durchaus zu seinen visuellen und schnitttechnischen Experimenten und Spielereien. Alles andere wäre im Grunde auch verwunderlich: Immerhin begriffen sich sowohl die Baff -Redaktion, der mit dem Kölner Rolf Ulrich Kaiser oder dem Niederländer Gied Jaspars einige zentrale Medienaktivisten der europäischen Gegenkultur angehörten, als auch Leckebusch sowie vermutlich auch Nerke als Akteure in einer konsum- und popkritischen Bewegung, die ihre Auffassungen, ihre Ästhetik und ihren spezifischen Humor über den Beat Club entwickelte und vermittelte. Der Wandel, der hiermit zum Ausdruck kam, bedeutete auch einen grundlegenden Wandel im Begriff der Authentizität. Nicht nur in Bezug auf die immer experimentellere filmisch-visuelle Darbietung und die kritische Politisierung der Jugendkultur durch den WDR, sondern auch durch eine eigentümliche Mischung aus der Aufnahme möglichst großer Stars bzw. möglichst guter Musikerinnen und Musiker und der teilweisen Dekonstruktion ihres Habitus und des Kontexts, in dem sie agierten: Der Beat Club vom . September etwa beginnt mit einem Bericht über die Ehe von Maurice Gibb und Lulu von den Bee Gees. In der Art, wie der Beitrag geschnitten ist, sowie in Wortüberblendungen verrät er die Absicht, das Illusionäre und Nichtauthentische des Pop deutlich zu machen. In der Einleitung wird erklärt:
Vgl. Abspann des BC , .., story vol. , DVD . Kaiser beispielsweise war Konzertveranstalter, Plattenproduzent und Autor mehrerer Bücher, namentlich eines Wegweisers durch die globale Gegenkultur: Rolf-Ulrich Kaiser, Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, o.O. [Köln] o.J. []. Nerkes autobiographisches Büchlein gibt hier wenig her, da sie sich auf das Rekapitulieren ihrer Begegnungen mit Stars beschränkt: Uschi Nerke, Jahre mein Beat Club: Meine persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen, Braunschweig .
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Der Pop friert langsam ein. Gruppen gehen auseinander, die Stars werden bürgerlich. Nachdem sie den ersten Rolls Royce verdient haben, erinnern sie sich selten noch daran, woher sie einmal gekommen sind und was sie eigentlich einmal wollten.
Die Bemerkung, man wisse, wie man seine Karriere beschädigen könne („damage your career“), wird mehrmals wiederholt. Danach folgen Fat Mattress, eine kurz zuvor gegründete britische Blues- und Folk Rock-Band, sowie The Who, die längere Auszüge aus ihrer „Rockoper“ Tommy vorstellen. Fat Mattress spielen – erstmals seit den ganz frühen Sendungen wieder – live vor Publikum. Allerdings wird nun gar nicht mehr getanzt: Die bald vom Beat Club vollständig vollzogene Wende zur ostentativen Entkommerzialisierung und die Kanonisierung von Rock als Kunstmusik, die sich im Label „progressiv“ und in der Aneignung von Kategorien des klassischen musikalischen Bildungskanons – hier des Begriffs der Oper – äußert, verlangt natürlich ein anderes Publikumsverhalten, nämlich das des/der musikalisch gebildeten, aufmerksam Zuhörenden. Damit veränderte sich auch das Verhältnis zwischen Musikerinnen/Musiker und Rezipientinnen/Rezipienten: Die Band, die zum Tanz aufspielt, befindet sich in geringerer Distanz zum Publikum als die Band, der man in ekstatischer Weise möglichst nahe sein will. Das aufmerksame Zuhören ist dann insofern ambivalent, als es einerseits die musikalischen Akteurinnen/Akteure zu Künstlerinnen/Künstlern transformierte, andererseits aber das Verständnis für möglichst progressiv-antikommerzielle Musiken innerhalb der Subkulturen einen nicht zu unterschätzenden Distinktionsgewinn – und damit eine gewisse, mitunter vereinnahmende Nähe zu den Musikerinnen und Musikern – bot. In späteren Sendungen wurden zusätzlich zu den Bandnamen auch die Besetzungslisten eingeblendet, was insofern in die gleiche Richtung wies, als nun Einzelkünstler auch an minder publikumswirksamen Instrumenten wie Schlagzeug und Bass oder die gelegentliche Bläsersektion gewürdigt wurden. Dies blieb auch der Fall, als Nerke ab Anfang wieder stärker in ein Programm eingebunden wurde, das sich schon im Vorspann, der nur noch Musiker zeigte, auf den musikalischen Aspekt konzentrierte. Die Hebung der Qualitätsstandards
BC , .., story vol. , DVD . Dass dieser Wechsel genauso auch gemeint war, deuten die Bemerkungen zur DVD-Edition an. Vgl. auch Schmidt, Beat Club, S. . Vgl. hierzu Rick Moody, On Celestial Music. And Other Adventures in Listening, New York sowie sehr einsichtsvoll am Beispiel der New Yorker Velvet Underground Clinton Heylin, March of the Wooden Soldiers: The Velvets and Their Underground Reputation, in: Ders., All Yesterdays‘ Parties. The Velvet Underground in Print: –, Cambridge/Mass. . Vgl. etwa BC , .., story vol. , DVD .
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Abb. : Spiel nach innen. Oben: Chicago Transit Authority in BC , ..; Ashton, Gardner & Dyke in BC , ... Unten: Pretty Things in BC , .. und in BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD und DVD , vol. , DVD , vol. , DVD .
und die Entwicklung des Rock zur zeitgenössischen Kunstmusik war damit – wie eben am Beat Club und den ästhetischen Entscheidungen Leckebuschs deutlich wird – neben einer Professionalisierung auch eine Wiederherstellung der Barriere zwischen Bühne und Zuschauerraum, die in den Anfängen der hier zur Rede stehenden populären Musikformen tendenziell aufgehoben worden war. Der rezipierend-nachverfolgende Publikumshabitus ist interessant als Abschluss einer Entwicklung vom (unbeholfen) tanzenden Publikum der ersten Sendungen über das begeistert-ekstatische Zuhören bis hin zum aufmerksam-rezeptiven Nachverfolgen. Aus dem Beat-Schuppen als Ort wochenendlichen Tanzvergnügens wurde damit eine Symbolisierung des Konzertsaales mit einem vom klassischbürgerlichen leicht abweichenden, spezifischen Habitus. Freilich wurde auch Die Geschichte der Disziplinierung der Musik und des Publikums im Verlauf der er und er Jahre ist bislang nicht geschrieben worden; Anregungen fände sie in den vorliegenden Arbeiten zu den im Grunde sehr ähnlichen Vorgängen in der Kanonisierung der bürgerlichen Konzertmusik im . Jahrhundert.
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Abb. : Obere Reihe: Mitwippendes und tanzendes Publikum in BC , ... Untere Reihe links: Zuhörendes Publikum. Rechts: Tänzerinnen auf der Isle of White in BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
bei den „psychedelischen“ und „progressiven“ Konzerten der späten er und er Jahre getanzt. Die Autonomisierung und Entfesselung der Subjekte, die mit der erwähnten Auflösung des hierarchisch organisierten Paartanzes begonnen hatte, führte über die inszenierte Nähe zum Star letztlich zu einer Art tänzerischem Solipsismus, der auch in dieser Beat-Club-Folge – beim Bericht über das zweite Isle-of-Wight-Festival – dokumentiert ist (vgl. Abb. ). Der Beat Club war nun eindeutig keine Sendung mehr, in der eine neue Jugendkultur abgebildet wurde; diese wurde vielmehr – selten explizit, häufig in Nebenbemerkungen und Gesten – geprüft, kategorisiert und beurteilt. Auch viele Filmbeiträge der Kölner Baff -Redaktion, die die nichtmusikalischen Beiträge lieferte und sich eher an Twens – also junge Erwachsene – wandte, bilden nicht
Vgl. hierzu auch Astrid Eichstedt/Bernd Polster, Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit, Berlin , S. –. Siegfried, Time, S. –.
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eine vom Publikum praktizierte Subkultur ab, sondern bringen Beispiele aus dem Ausland für das, was als authentische Sub- oder Gegenkultur gelten sollte oder entmystifiziert diese: Selbstorganisierte Plattenabende in Holland, Straßenkommunen in London, die Yippies in den USA. Der Beat Club dokumentierte nicht mehr, sondern kommentierte und bewertete – und mauserte sich in gewissem Sinne zum Bildungsprogramm für authentischen Rock und authentische Gegenkultur in einer Zeit relativer kultureller Hegemonie der studentisch-mittelständischen Linken, die sich auf den „langen Marsch durch die Institutionen“ begeben und zu einem bestimmten Teil eine autoritäre Wende vollzogen hatte. Seit dem Beat Club vom . Februar erschien daher auch kein Publikum mehr auf dem Bildschirm, was immer aufwändigere Vorproduktion der wieder live spielenden Bands einschließlich immer komplexerer optischer Umsetzungen/Visualisierungen von Musik ermöglichte. Musikalisch wurde die Musik komplexer, die Stücke formal freier und vor allem deutlich länger als das zweieinhalb Minuten-Format des klassischen Popsongs; sie erforderte damit – ebenso wie die visuelle Aufarbeitung – ein höheres Maß an Aufmerksamkeit und/oder Hingabe. Die kapitalismusund konsumkritischen Beiträge des WDR spiegelten sich wider in ironischen Bemerkungen und Gesten Nerkes, in Überblendungen – etwa im erwähnten Beitrag über Umsatz und Lebensweise der Stones und ihre Selbststilisierung als Rebellen – und in der Selbstbezeichnung als Sendung für „Progressive Pop, Blues und Information“ zwischen Oktober/November und Februar . Dabei wurde die Musik fast zum Transmissionsriemen der „eigentlichen“, politisierendpädagogisierenden Botschaft degradiert, wenn Musikstücke von WDR-Beiträgen unterbrochen und nach diesen wieder aufgenommen werden. Angekündigt wurden solche Paradigmenwechsel in der Sendung selbst nicht; lediglich an einer Stelle, im Oktober , verkündet Nerke: „Wir wollten ja eigentlich von der Hitparade etwas abkommen, nun ist sie uns nachgekommen“, weil Joe Cocker und Chicken Shack, die im BC spielten, in den englischen Charts waren. Im Beat Club im Oktober fand mit der Münchner Ex-Kommune und nun Rockband Amon Düül II der deutsche „Underground“ Eingang ins deutsche Fernsehen, es folgten in späteren Sendungen die bereits erwähnten Can und Guru Guru sowie mit Weather Report und Klaus Doldingers Passport (am Schlagzeug Udo Lindenberg) die beiden angesehensten Jazzrock-Formationen. Alle diese Kari Palonen, Das „Webersche Moment“. Zur Kontingenz des Politischen, Wiesbaden , S. f. BC , .., story vol. , DVD . Tatsächlich zeichneten sich die späten er und frühen er auch dadurch aus, dass mitunter bis dahin musikalisch und/oder textlich eher randständige Stücke gegenkultureller Musikerinnen und Musikern in die Hitparaden geraten konnten.
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neueren, „progressiven“ Bands zeichneten sich dadurch aus, dass sie keinerlei Kontakt zum Publikum aufnahmen: Die Abwendung von Kommerzialisierung und Popstar-Kult erfolgte in einer Hinwendung zu Introspektion, Kunstwillen und Geniekult, auch wenn manche Bands des „Undergrounds“ sich bemühten, die Distanz zwischen Publikum und musikalischen Akteuren, sei es durch die Verteilung psychedelischer Drogen oder von Klanginstrumenten an das Publikum, sei es durch die Integration nichtmusikalischer Akteurinnen und Akteure oder bewusst reklamierte musikalische und instrumententechnische Amateurhaftigkeit, aufzuheben. Letztlich spielten aber solche Experimente ebenso wie „progressive“ Bands, denen es um eine qualitativ möglichst hochwertige Musik ging, mit dem Bild des nur sich selbst verpflichteten genialischen Künstlers, jener Figur, die im . Jahrhundert gleichzeitig mit dem Virtuosenkult in der Musik entstand und der unangepasste Verhaltensformen gestattet sind, denen das informierte Publikum staunend zusieht. Im Beat Club mit seinem immer höher steigenden industriekritischen Kultur- und Qualitätsanspruch spiegelte sich diese Entwicklung dadurch wider, dass die Bands nun in der Regel wieder live, aber ohne Publikum und nicht selten einander zugewandt im Kreis stehend spielten. Sie wandten sich quasi vom Publikum ab und kehrten sich nach innen (siehe Abb. oben). Besonders auffällig ist der Wandel bei den Pretty Things, die bereits in der ersten Live-Phase des Beat Clubs aufgetreten waren: Während sie im Beat Club aus einer Schaukastenbühne heraus aggressiven R&B an ein tanzendes Publikum adressieren, scheinen sie – ähnlich wie die stark jazzorientierten Chicago und AG&D – eher auf sich und die Musik selbst konzentriert (siehe Abb. unten). Bei dem Auftritt der Jazzrock-Formation Chicago (damals noch Chicago Transit Authority) wird diese Form von Authentizität noch dadurch gesteigert, dass das „Vorspiel“ zum eigentlichen Stück – der Dialogfetzen „Yeah, tell me when to go“ – die Distanz zwischen Inszenierung und Spielsituation im Studio aufzuheben scheint. Weniger einsichtig dürfte den meisten Zusehenden im Übrigen gewesen sein, dass eine solche Bühnenaufstellung insbesondere dann sinnvoll ist, wenn die gespielte Musik ein hohes Maß an strukturierter Improvisation enthält, weil Zeichen zum Wechsel
Die Band, die im Beat Club auftrat, war allerdings Amon Düül II – eine Abspaltung der ursprünglichen Kommune, die eher Musik als politische Statements machen wollte und an der Weiterentwicklung der eigenen Technik und musikalischen Kompetenz interessiert war. Vgl. dazu: Ingeborg Schober, Tanz der Lemminge. Amon Düül – eine Musikkommune in der Protestbewegung der er Jahre, Reinbek . BC , ...
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von Stückteilen, Übergänge zu Breaks usw. auf diese Weise leichter anzuzeigen sind. Die letztlich unaufhebbare innere Widersprüchlichkeit, die zwischen der Ware Musik und einer antikommerziellen, womöglich sogar antikapitalistischen Legitimation der musikalischen Praxis und ihrer Präsentation in hegemonialen Medien wie dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen entstand, wird sehr hübsch deutlich im bereits zitierten Auftreten der Kölner Band Can im WDR : Im Nachgang zu einer strukturierten Gruppenimprovisation, die deutlich von den bekannter gewordenen Stücken der Band wie Spoon ( auf Platz der westdeutschen Hitparade) abwich, erläutert Irmin Schmidt die eigene ambivalente Rolle, wobei er sich – was für die historisierende Eingrenzung des Begriffs natürlich nicht unwesentlich ist – sowohl in den Bereich des Beats als auch den der sozialistischen Jugendrevolte einordnet: Das Fernsehen ist unglaublich interessiert an der politischen Meinung von BeatMusikern, weil – die können nicht reden. [. . . ] Das Fernsehen ist absolut nicht interessiert an der politischen Meinung derer, die auch Sozialismus wollen und eine Gesellschaft die menschlicher ist, aber die’s reden können.
Schmidts Einlassung verweist auf ein komplexes Verständnis des Verhältnisses zwischen politischer Haltung des Musikers, seiner Rolle als künstlerischem und öffentlichem Subjekt und der Funktion der Medien: Die mögliche politischsoziale Botschaft der Musik drohe verloren zu gehen, wenn sie durch die Musiker verbalisiert werden soll: Ihre Ausdrucksfähigkeit ist musikalisch, nicht verbal. Die mögliche revolutionierende Wirkung von Musik werde aber bereits beschädigt durch das Dauerangebot, sich zu äußern: Der Musiker solle insofern die herrschende mediale Hegemonie legitimieren, als seine kritische, aber unzureichend formulierte Stellungnahme deren Liberalität nachweise. Laut Siegfried hatte der Beat Club zu diesem Zeitpunkt zwar eine ausgezeichnete Presse, aber kaum noch Publikum. Tatsächlich war – in der Erinnerung des Autors – der Beat Club unter denjenigen, denen an rebellisch-informierter Authentizität gelegen war, durchaus akzeptiert, ganz im Gegensatz zur ZDF-Sendung Siehe hierzu Christoph Wagner, Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground, Mainz , S. –, bes. S. . Galerie der Entertainer, WDR . Ebd.; siehe auch Alexander Simmeth, Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, –, S. . Siegfried, Time, S. –.
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disco, die sich von bis völlig der nationalen und internationalen Hitparadenmusik – und damit einer Integration populärer Musikformen von deutschem Schlager bis hin zu „progressivem“ Hard und Symphonic Rock sowie zusätzlich in der Person des Moderators Ilja Richter einer ambivalenten und mitunter schwer erträglichen Unsinnskomik verschrieb. Auch der Beat Club öffnete sich wieder den Hitparaden: In der gleichen Sendung wie Passport traten T. Rex (die später auch bei disco zu sehen waren) und die amerikanische „Pop-Groteske“ Alice Cooper – so Nerke – auf, die Pioniere des Glam-Rock wurden – einer Musikform, die sehr bewusst die musikalischen Mittel auf ein Minimum reduzierte, mit Geschlechtergrenzen und Glamour spielte und ab in den USA wie in Großbritannien vom Punk abgelöst werden sollte. Der Beat Club endete mit zwei eher „klassisch“ gehaltenen Sendungen: Einer Johnny-Cash-Show mit Anita und June Carter sowie dem Alt-Rock’n’Roller Carl Perkins sowie, im Dezember , einem Konzert der Osmonds, die durch die „Kinderschnulze“ Puppy Love berühmt wurden, aber auch Stücke spielten, „bei denen es richtig abgeht“. In gewissem Sinne war der Beat Club damit da angekommen, wo er einstmals angefangen hatte: bei dem, was junge Leute zum gegebenen Zeitpunkt am liebsten hörten. Was nun völlig fehlte, war die rebellische Attitüde. Auch dies entsprach weitgehend dem Zustand des Pop im Jahre : Auch wenn es gerade in der BRD, England und Frankreich mit der Selbstorganisation der Musiker im Rahmen der „Freak Left“ eine interessante, aber äußerst minoritäre Gegenbewegung gab, fand die ausdrückliche Rebellion in Form des „Undergrounds“ nur noch selten Eingang in die Hitparaden. Ändern sollte sich dies – erneut unter ganz anderen Vorzeichen Bemerkenswert ist, dass die Sendung im Gegensatz zum Beat Club in der Forschung kaum berücksichtigt worden ist. Als Beispiel für die anfängliche Spannweite der Beiträge in disco sei die . Sendung vom . Oktober angeführt: Neben der niederländischen Rockband Golden Earring und Schlagersängerinnen und Schlagersänger wie Tony Marshall, Marion März und Chris Roberts waren die Glam- und Schockrock-Pioniere Alice Cooper und Gary Glitter sowie die psychedelische Proto-Punk-Band Hawkwind zu hören. Die Sendung war auch geographisch weitaus offener als der Beat Club. So trat in der . Sendung vom . März mit plus eine polnische Band auf. Vgl. Jürgen Boebers/Uli Engelbrecht, Licht aus – Spot an! Die Musik der siebziger Jahre, Essen sowie die Liste aller Auftritte in den einzelnen Sendungen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_disco-Sendungen (..). Philip Auslander, Performing Glam Rock. Gender and Theatricality in Popular Music, Ann Arbor . BC , .., story vol. , DVD . Jonathyne Briggs, Sounds French. Globalization, Cultural Communities, and Pop Music in France, –, Oxford ; George McKay, Circular Breathing. The Cultural Politics of Jazz in Britain, Durham ; Wagner, Klang. Eine Ausnahme waren in diesem Jahre Silver Machine der britischen psychedelischen Band Hawkwind sowie in gewissem Maße Glamrock-Nummern wie School‘s Out von Alice Cooper und
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und ganz anderen auch medialen Bedingungen – erst wieder Ende mit der Veröffentlichung der ersten Single der Sex Pistols.
Beat Club als Visualisierung: Die Inszenierung des Beats in der Person Uschi Nerke
Dieser Wandel kommt auch in einem Detail zum Ausdruck, das in aller Regel auf seine Funktion als modisches Vorbild reduziert wird: der Figur der Moderatorin Uschi Nerke, die in gewissem Sinne die einzige Konstante in der siebenjährigen Geschichte des Programms darstellt. Zur Ikone wurde sie nicht nur wegen ihrer meist selbstgenähten Kleidung (erwähnt werden eigentlich nur ihre Miniröcke), sondern auch – bis zum Schluss leisteten sie und Regisseur Leckebusch sich Versprecher, Nuschler und Hänger – wegen ihrer anscheinend fröhlich-amateurinnenhaften Authentizität. Tatsächlich wandelte sich auch ihre Rolle – im doppelten Sinne als Funktion und als Art, in der sie ihre Funktion ausübte. Sie beginnt mit Gerd Augustin, nach englischem Vorbild, als weiblicher Teil eines jungen Moderatorenpaares, adrett gekleidet, fröhlich, kompetent, wobei die „intellektuelleren“ Teile wie englischsprachige Interviews von ihrem männlichen Kollegen bestritten werden. Beide bewegen sich im Publikum, Nerke meist bei Ansagen von jungen Frauen umgeben. Nach einigen Sendungen, in denen sie alleine moderiert, bekommt sie David Lee Travis zur Seite, der vorher bei dem Piratensender Radio Caroline tätig war. Travis, ebenso wie Nerke Jahre alt – und damit prinzipiell gerade noch zur Zielgruppe gehörend – ist für englische Ansagen und ComedyEinlagen zuständig. Geschlechtergeschichtlich besonders interessant ist sicherlich Beat Club vom März , der in London aufgenommen wurde: Nach Nerkes Anmoderation schiebt sich der englische Moderator Clem Dalton vor sie und verdeckt sie vollständig. Ob Dalton sie als Nichtengländerin oder als Frau für irrelevant hielt, lässt sich an dieser Stelle nicht klären. Nerke blieb trotz solchen Gehabes der eigentliche Star und die einzige Konstante des Beat Clubs. Im Oktober wurde Travis, der (in einer nicht untypischen Entwicklung vom Piraten über den medialen Arbeitsmigranten zur traditionellen Children of the Revolution von T. Rex. Vgl. die Singlecharts in http://www.musikmarkt.de/←Charts/Chartsgalerie/Singlecharts/Singlecharts- (..). Underground-Credibility hatten die letztgenannten Bands nicht mehr: Der Verfasser verließ als -Jähriger ein Konzert einer holländischen psychedelischen Rockband vorzeitig unter Angabe falscher Gründe gegenüber seinen Freunden: Sie sollten nicht erfahren, dass er unbedingt die angekündigte Uraufführung der neuen T. Rex-Nummer in disco (..) sehen wollte.
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Abb. : Standbilder aus der Eingangssequenz des BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
Karriere) im Sommer zur BBC gewechselt hatte, durch Dave Dee ersetzt, der zuvor bereits häufig als Sänger der englischen Beatband Dave Dee Dozy Beaky Mick & Tich in der Sendung aufgetreten war. Bereits in dieser Zeit wandelte sich Nerke von einem fröhlichen Spät-Teenager zu einer Figur, die sich wiederum an britischen Vorbildern, etwa an Emma Peel aus der bis mit Diana Rigg produzierten BBC-Serie The Avengers zu orientieren schien (so etwa in Beat Club , Abb. , S. ): Peel war schlagkräftig, ironisch-witzig, äußerst gebildet sowie durch immer wieder neue, auffällige Kleidung betont attraktiv – und in dieser
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Kombination sowohl Objekt der Begierde als auch Partnerin ihres männlichen Kollegen auf Augenhöhe. Nerke folgte diesem Muster nicht nur durch ihre von Sendung zu Sendung wechselnde Kleidung, sondern auch durch witzige, ironische, flapsige Bemerkungen zu ihren Co-Moderatoren, mitunter auch zu den Beiträgen in der Sendung. Beispiel . Sendung am . Dezember : Zu Beginn spielt eine bayerische Blaskapelle vor einer Scheune dem Beat Club ein Ständchen; es folgt das Intro, mit einem Hippie, der murmelt: „Show für Teens und Twens. Hähä. Blödsinn.“ Die Anmoderation von Nerke und Dave Dee lautet dann: Nerke: Nun sind die in Bremen wahnsinnig geworden. Ok. Macht auch nichts. Dee: And this afternoon we start walking into the save seventies. Or should I say: Save the seventies from us? Nerke: Nun wollt Ihr wissen wer mitmacht heute? Dee: Would you believe the Monkeys? The Tremeloes? The Hollies? Herman’s Hermits? Em. And Frank Sinatra [lachend]? Nerke: ... gibt es heute nicht. Dafür Käse aus Holland. Und aus München: Auch Käse. Na ja, und wie üblich wieder n bißchen Musik. Aber keine Stars und so.
Die obige Abb. gibt einen Auszug aus der Bildfolge bis zur Anmoderation durch Nerke und Dee. Sie zeigt die nun typische, noch an Popästhetiken angelehnte Kombination verschiedenster Bildschnipsel zu einer rasanten, witzig-verwirrenden filmischen Collage. Die Kombination aus Deutsch und Englisch war für den Beat Club und seine Orientierung an England sehr lange typisch, die fehlende Übersetzung differenzierte aber das Publikum in diejenigen, die aufgrund höherer Bildung Englisch beherrschten und die, die von Dees Ansagen nichts verstanden. Der Verfasser erinnert sich, dass er zu Letzteren gehörte und von derlei Spielereien eher genervt war. Die erwähnten Bands waren damals äußerst erfolgreiche Popmusikproduzenten, Sinatra als amerikanischer Schlagersänger dürfte allgemein bekannt sein. Der Käse aus München ist die B-Redaktion, über die in der Sendung ausführlich berichtet wird. Der Beat Club feiert sich also in der Jubiläumssendung – nun mit der Programmankündigung Progressive Pop, Blues & Information – als letztlich popkritische Sendung für Eingeweihte sowie Kennerinnen und Kenner in Vgl. Lars Baumgart, Das Konzept Emma Peel – Der unerwartete Charme der Emanzipation. The Avengers und ihr Publikum, Kiel . Die deutsche Fassung der Serie lief unter dem Titel Mit Schirm, Charme und Melone; die ersten beiden Staffeln mit einer anderen, ähnlichen weiblichen Hauptfigur waren in Deutschland nicht bekannt. BC , .., .., story vol. , DVD .
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einem Prozess, wie ihn Nadja Geer am Beispiel der Popmusikkritik als „Sophistication“ beschrieben hat. Tatsächlich treten neben als ernsthaft apostrophierbaren Musikern wie Steamhammer, Hardin & York und den erwähnten Chicago Transit Authority auch Dees ehemalige Popmusik-Mitstreiter Dozy, Beaky, Mick und Tich mit avanciertem Beat auf, in den Bilder von afrikanischen Hungersnöten, dem Vietnamkrieg und Ähnliches hineingeschnitten wurden. Die Zeit vom Herbst bis Ende war, wie bereits angedeutet, eine Phase intensiver Politisierung des Beat Clubs: Neben einer betont „progressiven“ Musikauswahl kam dies insbesondere in den Filmbeiträgen zum Ausdruck – und in bemerkenswerter Weise auch in den Auftritten Nerkes. Über fast das ganze Jahr waren von ihr keine Scherze und bissigen oder spontan wirkenden Bemerkungen mehr zu hören. Sie wurde mitunter fast vollständig aus der Sendung entfernt. Tauchte sie auf, verlas sie vorbereitete Texte – etwa im Beat Club vom . Juni mehrfach vor wechselndem Hintergrund eine Passage aus dem Bericht eines brasilianischen Folteropfers (siehe Abb. ) – und war in lange Hosen und langärmlige Blusen oder Pullover gekleidet, was vermutlich weniger mit einer Rezeption der neuen Frauenbewegung zu tun hatte als mit der inzwischen einsetzenden Lustfeindlichkeit großer Teile der organisierten Linken. Fast unbemerkt waren mit dem Beat Club – was womöglich in diesen Kontext gehört – auch die Go-Go-Girls verschwunden. Diese Änderung wurde im Frühjahr nachträglich in der Sendung kommentiert – und durch den Hinweis, dass eine konservative Partei wie die CDU inzwischen junge Tänzerinnen einsetzte, als politisch motivierte Entscheidung vermittelt. Dabei wurde zunächst der Text „Wir haben keine Go-Go-Girls“ gezeigt, dann „... mehr“ hinzugeblendet, was der Erläuterung einen gewissen Witz verlieh (Abb. ). Laut der Darstellung in der DVD-Veröffentlichung und dem Begleitbuch von Schmidt war diese Entscheidung eine ästhetische. In der Sendung wurde der Wegfall der Tänzerinnen allerdings zu einem politischen Statement – der Abgrenzung vom Konservatismus und seiner Übernahme popkultureller Elemente – hochstilisiert.
Geer, Sophistication. Die Quellen für diesen Umschwung sind hier nicht zu diskutieren, dürften aber dreifach gewesen sein: Zum einen die Ernüchterung hinsichtlich der sexuellen Revolution und ihrer Vermarktung, zum anderen sexnegative Tendenzen in der neuen Frauenbewegung, schließlich aber auch der Autoritarismus und die – auch moralische – Rigidität der K-Gruppen. Vgl. Heider, Vögeln. Zur Sexualgeschichte der Bundesrepublik vor der „sexuellen Revolution“ siehe zudem Peter Bänziger u. a., Hg., Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den er Jahren, Bielefeld . Schmidt, Beat Club.
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Abb. : Uschi Nerke in BC , ..; , ..; , ..; , ..; , ..; , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD , ; vol. , DVD , , ; vol. , DVD .
Die Anmoderation der Sendungen beschränkte sich auf ein ernstes Verkünden der Bandnamen und Themen, Anmoderationen der Gruppen entfielen völlig, ebenso Versprecher oder flapsige Bemerkungen Nerkes. Man könnte glatt die These vertreten, dass die humorfreie linke Sozialpädagogik und Journalistik der Nach-er auch ihr die Laune gründlich verdorben hatte. Der Zeitzeuge fügt ein: Genau der oberlehrerhaft-besserwisserische Ton, den sich die studentische Linke in ihrem Marsch durch die Institutionen zulegte, hielt viele der nachfolgenden
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Abb. : BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
Generation – darunter fast auch den Verfasser – davon ab, zur Linken zu finden; zum Glück gab es noch Anarcho-Hippies, Free Jazz, Hausbesetzungen und später Punk. Der Beat Club war nun jedenfalls zu einer Sendung geworden, die sich von ihrem ursprünglichen Zielpublikum weitgehend entfernt hatte und nun nicht mehr eine musikalische Ausdrucksform von Arbeiterkindern transportierte, sondern den elitär-hermetischen Geschmack anpolitisierter Oberschülerinnen und Oberschüler – was ihn für diejenigen Jugendlichen interessant machte, die vom arroganten Auftreten der „Adepten des Underground“ beeindruckt waren. Die spezifische inszenatorische Authentizität Nerkes – über die Art ihrer Ansagen und ihres Auftretens sowie die Regieentscheidung, mitunter Versprecher oder Nebenbemerkungen in der Sendung zu lassen – wurde schließlich auch zur Ironisierung des bzw. Distanzierung vom dargebotenen Material verwendet, insbesondere in jener Zeit, in der der Beat Club – wie immer ohne jede Erläuterung – zwar nicht mehr live sendete, aber in erster Linie visuell aufgearbeitetes live eingespieltes (und insofern authentisches) Material zeigte. So sollte Nerke im BC vom . Februar erklären, ein Stück von Jethro Tull falle aus, weil diese sich geweigert hätten, live zu spielen: Der Playback-Versuch „wirkte so lächerlich, dass wir uns entschlossen haben, es nicht zu senden“. Im Beat Club wird der Beginn einer Kollektivimprovisation der mit John McLaughlin und Jack Bruce äußerst prominent besetzten Band Tony Williams Lifetime gezeigt, die Vgl. als Beispiel insbesondere die Äußerungen Peter Heins, mit dem der Verfasser generationelle Zugehörigkeit, Geburts- und langen Wirkungsort teilt, und der übrigen Akteurinnen und Akteuren der Düsseldorfer Szene in Jürgen Teipel, Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt a.M. . Zit. Schmidt, Beat Club, S. . In BC , .., story vol. , DVD , fehlt diese Passage allerdings.
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Abb. : Uschi Nerke im BC , ... Quelle: The story of Beat Club, vol. , DVD .
McLaughlin anscheinend entnervt abbricht. Nerke tritt dann ins Bild und erklärt: „Lifetime haben sich im Studio so übel und so arrogant benommen, dass die Arbeit zu keinem vorzeigbaren Ergebnis führte und abgebrochen werden musste.“ Mit solchen Ansagen (die umgangssprachliche Doppeldeutigkeit ist hier gewollt) wurde einerseits der Starmythos dekonstruiert, andererseits setzte sich der Beat Club selbst als wertende Autorität über die Qualität und Authentizität der Musikschaffenden ein – in sehr ähnlicher Weise wie dies die musikalische Kritik im . Jahrhundert für die bürgerliche Kunstmusik und seit den ern für Popund Rockmusik getan hatte. Allerdings wurde damit auch bekräftigt, dass (wie der Verfasser u. a. aus Auftritten mit der Band Poems for Layla weiß) Musiker in der televisionären Hackordnung weit nach unten rutschten. In der Zeit der Selbstverortung in der kritischen Kultur mit Öffnung zum Underground wurde dann auch wieder eine reine Frauenband, nämlich die großartige Rockformation Fanny, gleich zwei Mal eingeladen – wie überhaupt um mit der Öffnung für deutsche Bands häufiger Musikerinnen zu sehen waren, allerdings meist als Sängerinnen. Erst im Frühjahr fand Nerke zur alten Schnoddrigkeit zurück – und gleichzeitig zu körperbetonender Kleidung (siehe Abb. ). Die Inszenierung und Rolle Nerkes beschränkte sich aber eben durchaus nicht auf ihre Rolle als „Ständerin“ für selbstgefertigte knappe Kleidung: Es wurde bereits erwähnt, dass ihre Körper- und Sprechhaltung auch der Herstellung von Authentizität diente. Mitunter wurde über ihre Person auch die Inszenierungssituation scheinbar aufgehoben. Im BC etwa liest sie, barfuß auf einer Gitarrenbox sitzend, aus einer Selbstdarstellung Schwedens:
BC , .., story vol. , DVD . BC , .. und BC , ...
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Diese Erde is [sic!] kein Himmelreich, aber Schweden ist sicherlich das Land, das dem Himmelreich am nächsten gekommen ist. Na wie findste das? Hat der Generaldirektor vom Staatlichen Amt für Arbeitsmarktangelegenheiten gesagt. Grade der, Du.
Die Szene wirkt wie eine eher zufällige, nicht für die Ausstrahlung vorgenommene Beleuchtungsprobe oder Pausenszene, die dann in das Programm eingebaut wurde – nicht zuletzt durch den auffälligen Unterschied in der Kleidung: Während Nerke in der Anmoderation extrem knapp und in Glitzer gekleidet ist, trägt sie hier lange Kleidung in gedecktem Schwarz (siehe Abb. ): Während sie dort eine Rolle – die der attraktiven, selbstbewussten Moderatorin – ausfüllt, scheint sie hier sie selbst. Tatsächlich gibt es aber mehrere solcher Szenen in dieser Sendung: Einmal sieht man sie stumm lesend, ein anderes Mal sitzt sie mit den Technikern der Sendung vor der Box. Insbesondere letztere Einstellung lässt vermuten, dass es sich um eine geplante Inszenierung des Nichtinszenierten durch Leckebusch handelt. In der gleichen Sendung wird im Übrigen erstmals auch ein klassisches Orchester mit einem Satz aus der Symphonie Nr. von Mozart gezeigt – womit die Kanonisierung des Rock in den bürgerlichen Bildungskanon oder umgekehrt die Aneignung der bürgerlichen Kunstmusik durch die ehemalige Gegenkultur und die Abkehr von Chuck Berrys Roll Over, Beethoven von zu ihrem Abschluss kam.
Beat Club als Quelle jenseits von Nostalgie und Verklärung
Wenig von dem, was auf den vorangegangenen Seiten an Einordnungen, Kontextualisierungen, Einsichten vorgestellt wurde, deckt sich mit der Art und Weise, in der der Verfasser den Beat Club als Neun- bis Dreizehnjähriger oder später bei Wiederholungen gesehen hat. Es stellt sich also die bereits eingangs angedeutete Frage, in welchem Verhältnis wissenschaftliche Kontextualisierung und Reflexion zur Wahrnehmung und Aneignung audiovisueller Medien und soziokultureller Einrichtungen wie dem Beat Club durch die zeitgenössischen Subjekte stehen. BC , .., story vol. , DVD . Endgültige Klarheit würde der Vergleich der Sendung mit den im Archiv von Radio Bremen erhaltenen Sendemanuskripten geben, der an dieser Stelle aber mangels Zugang zum Archiv nicht möglich ist. Deutlich wird jedenfalls hier und mit bereits erwähnten weiteren Unterschieden zwischen Manuskript und Sendung, dass es für eine Analyse des Beat Clubs eben nicht ausreicht, die schriftlichen Quellen auszuwerten.
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Es stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße eine Historisierung von Quellen aus der Popkultur in eine Kombination von Sozial-, Kultur-, Technik-, und Klanggeschichte einfließen könnte. Reizvoll wäre es sicherlich, diese Beschäftigung in Richtung auf eine Emotionsgeschichte zu entwickeln. Die obigen Ausführungen über Billie Davis sollten aber deutlich gemacht haben, dass die Komplexität von Emotionen und Sinneseindrücken und ihre Diversität selbst innerhalb eines generationellen Milieus, einer subkulturellen Gruppe so groß ist, dass generalisierbare Aussagen nicht ganz einfach zu erreichen sind. Ferner muss überlegt werden, wo die Quellen für ein solches Unterfangen bzw. für eine solche Auswertung herzunehmen wären. Der Verfasser ist allenfalls in der Lage, Erinnerungen an eigene Gefühle und Eindrücke zu formulieren, im Wissen um die kategorische Subjektivität und den rekonstruierten Charakter dieser Erinnerung. In diesem Sinne erlebt der Verfasser die Beschäftigung mit der Geschichte des Beat Clubs als erhellende und kritisch nachvollziehende Erinnerung an die zeitversetzt stattfindende Entwicklung des eigenen Musikgeschmacks von der zunächst heimlichen Aufregung und Begeisterung für neue Klänge und die Vorliebe für Pop (damals Disco und Glamrock) bis hin zur Herausbildung qualitativer und identitärer Standards abseits des Pop und die musikalische Orientierung am britischen und deutschen „Underground“ von Incredible String Band bis hin zu Can und Tangerine Dream. Wertlos ist dies meiner Ansicht nach nicht: Zwar gibt es für eine wissenschaftliche Historiographie kein „Vetorecht der Emotionen“. Der Widerspruch des Historikers, der gleichzeitig Zeitzeuge ist, gegen bestimmte Interpretationen und Einordnungen ist damit aber nicht wertlos, sondern kann dazu beitragen, Fehlurteile zu vermeiden. Ganz im Gegensatz zur Strategie Sven Reichardts, der seine (mitunter trotz gegenteiliger Absichtserklärung denunziatorische und undifferenzierte) Behandlung des „linken Milieus“ der er damit rechtfertigen will, dass er trotz generationeller Parallele diesem Milieu nicht angehört hat, und Siegfrieds Nichtthematisierung seines biographischen Verhältnisses zum Gegenstand folgt der Verfasser Eric Hobsbawms kritischer Reflexion über das eigene Erleben des Vgl. Bettina Hitzer, Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-Kult, .. http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte- (..). Um nur einen Punkt herauszugreifen: Reichardt, Authentizität, erklärt in seinem Vorwort, dass er aus bildungsfernem Elternhaus stammend quasi naturgemäß nicht dem Milieu angehörte – und stützt damit auch die These, dass es sich um ein rein mittelständisches Kunstprodukt gehandelt habe. Tatsächlich war die Sache etwas komplexer: Der Verfasser des vorliegenden Beitrags gehört einer Familie an, in der er selbst der Erste (und bislang Einzige) ist, der auch nur Abitur gemacht hat. Gleichwohl orientierte er sich seit der Mitte der er am linksalternativen Milieu und gehörte ihm bis zu dessen Verfall und seinem Wechsel in die Hausbesetzerszene auch an.
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„kurzen . Jahrhunderts“ und Ulrike Heiders Verwendung des Erkenntniswerts des eigenen reflektierten Subjekts. Für den Wissenschaftler, der sich mit der Periode seiner eigenen Jugend befasst, ist eine solche Verfahrensweise reizvoll, weil sie emotionale Intensitäten bietet, die einem im Archiv in aller Regel verschlossen bleiben. Natürlich muss eine kritische Selbstreflexion gewährleistet sein, die eine gewisse Distanz zum eigenen Erleben als Quelle wahrt und verhindert, ins rein Anekdotische abzugleiten, wie auch umgekehrt die Reflexion über das persönliche Verhältnis zum gewählten Forschungsobjekt Teil guter wissenschaftlicher Praxis sein sollte – und in bestimmten Disziplinen auch ist. Im besten Falle führt die reflektierte Doppelnatur der Beschäftigung mit dem Thema zur Historisierung der eigenen Biographie. Was bedeutet das für den Beat Club? Zum einen kann die Erinnerung an das eigene Erleben, verknüpft mit kritischer Quellenlektüre und Kenntnissen musikalischer und audiovisueller Logiken den Blick für Details und Wirkungsabsichten, aber auch für die Grenzen von Ideologisierungen und Identifizierungen schärfen. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der oben am Beispiel von Billie Davis beschriebenen Ambivalenzen der emotionalen und rationalen Interpretation von musikalischen Darbietungen, sondern etwa auch für übertriebene Erwartungen an Konsistenz im identitären Musikgeschmack: Der Verfasser und sein Umfeld waren über lange Perioden ohne Weiteres in der Lage, verschiedene musikalische Gattungen nebeneinander zu goutieren – neben Alice Cooper und Led Zeppelin etwa Can, die französischen Psychedeliker und spirituellen Anarchisten Gong, die Psychedelic-Folker Incredible String Band sowie den FreeJazz Peter Brötzmanns und des Yosuke Yamashito-Trios. Zum anderen ergänzt sie unter Umständen die Ergebnisse der übrigen Forschung – zumal dann, wenn sich das erinnerte Erleben zusätzlich belegen lässt durch zeitgenössische Quellen. Fassen wir also zusammen: Der Beat Club dokumentierte und betrieb den Wandel von Popmusik und ihrer Rezeption: Eine moralisch skandalisierte Musik, die in erster Linie Spaß machen wollte, wurde als Quelle von Vitalität für eine erstarrte gesellschaftliche und soziale Kultur wahrgenommen, von alternden Intellektuellen, denen über Faschismus und Stalinisierung das revolutionäre Subjekt abhandengekommen war, und von Jungintellektuellen, die Teil einer sozialen und politischen Reform sein wollten. Musiker und Vermittler – und in ihrer Eine ganz wesentliche Quelle wären hier sicherlich die zahlreichen Briefe, die Zuschauerinnen und Zuschauer an die Redaktion des Beat Clubs gesendet haben und die Siegfried in seiner monumentalen Arbeit teilweise ausgewertet hat. Vgl. hierzu etwa Siegfried, Bornemann sowie als zeitgenössische Quellen Kaiser, Underground?; Helmut Salzinger, Rock Power oder: Wie musikalisch ist die Revolution? Ein Essay über Pop-
Michael G. Esch
Folge das Publikum – entwickelten in einem komplexen Prozess, der im Beat Club selbst nicht ausdrücklich formuliert wird, ein neues Verständnis und eine neue Praxis ihrer Musik: Sie wurde von einer musikalischen Dienstleistung zu einem musikalischen Produkt, das dann – mit zunehmender Professionalisierung – als Kulturgut anerkannt werden sollte. Die zentralen Akteure des Beat Clubs – namentlich Leckebusch und Nerke sowie die Baff -Redaktion – sind Teil dieser Geschichte, nicht nur weil einige von ihnen damals Studentinnen und Studenten waren: Sie entwickelten im Wandel der Jugendkultur ein politischeres, gleichzeitig von bürgerlichen kulturellen Standards und von Konsumkritik gesättigtes Verständnis von Musik und ihrer Darbietung – und letztlich auch von Authentizität, die je kontextuell inszeniert wurde. Gerade die psychedelische Phase der „progressiven Popmusik“, die der Beat Club ab Ende sehr intensiv begleitet und geprägt hat, war in diesem Prozess ambivalent: Durch die Individualisierung von Wahrnehmung und Ausdruck und den Rauschcharakter von Produktion und Rezeption hob sie einerseits tendenziell die Trennung zwischen den Akteurinnen und Akteuren auf. Im Progressiven Rock mit seiner Betonung technischer Fertigkeiten am Instrument und Orientierung an Musikformen, die im bürgerlichen Bildungskanon und/oder der Avantgarde gehandelt werden, fand aber eine Artifizialisierung statt, die gerade wieder eine Trennung zwischen nun genialischem Künstler und andächtig lauschendem und nachvollziehendem Publikum hervorbrachte. Die Bildspielereien des M. Leckebusch fördern genau diesen Übergang, indem sie aus der musikalischen Darbietung in der medialen Vermittlung eine Art Gesamtkunstwerk machen, das lediglich noch von Eingeweihten rezipiert und gewürdigt werden kann. Die Kontextualisierung des Beat Clubs durch den Vergleich mit Kanonisierungsprozessen in der bürgerlichen Kunstmusik erinnert aber nicht nur daran, dass Authentizität ein zentraler Bestandteil jeder kulturellen Vergemeinschaftung ist. Sie zeigt auch, dass die Elemente und Kategorien von Authentizität einem Wandel und letztlich einem Streit über Deutungsmonopole unterliegen: Die Authentizität der „Beatfreunde“ der Frühzeit ist etwas völlig anderes als die Authentizität der Konsum- und Popkritik um / oder die Authentizität, die der späte Beat Club Musikern wie Johnny Cash oder den Osmonds zuschreibt. Die Wahrnehmung des Beat Clubs ging aber auch in der Zeit der Politisierung, in der der Zuspruch des anvisierten Publikums zurückging, weit über einen minoritären Kreis intellektualisierter Oberschüler hinaus: Wie sich der Verfasser gut erinnert,
Musik und Gegenkultur, Frankfurt a.M. sowie für die USA Jerry Rubin, Do It! Scenarios of the Revolution, New York (dt. Fassung Reinbek ).
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war die Bezugnahme auf den Beat Club und die dort spielenden Bands am linken Niederrhein Anfang der er Jahre wesentlicher Bestandteil des Distinktionsgehabes derer, die besondere Coolness unter Beweis stellen wollten (oder besaßen) und an denen sich weitere Generationsangehörige im Wunsch nach Zugehörigkeit orientierten (darunter auch der Verfasser) oder die den „inneren Kreis“ heimlich bewunderten. Das heißt, es wirkten letztlich die gleichen Mechanismen wie in allen Jugend- und anderen Subkulturen der „langen Sechziger“. Dass die Kenntnis und der Nachvollzug von bestimmten Formen von Musik dabei zentral war, beleuchtet die bereits von Marwick, Siegfried, Reichardt und anderen Autoren betonte, aber bislang kaum musikalisch und performativ analysierte Bedeutung, die Musik als vergemeinschaftendes und identitäres Moment in den „langen sechziger Jahren“ gehabt hat. Die selbstreflektierende und kontextualisierende Beschäftigung mit dem Beat Club zeigt in diesem Sinne, welche Bedeutung er als Akteur und Quelle für den Prozess der Ausdifferenzierung einer zunächst einmal unpolitischen Jugendkultur in verschiedene teils politisierte Subkulturen, aber auch für die Professionalisierung und Kanonisierung der Musik hatte und wie vielschichtig und beziehungsreich diese Prozesse gewesen sind.
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Michael G. Esch
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Michael G. Esch
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Alexander Simmeth, Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, –. Jürgen Teipel, Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt a.M. . François Thomazeau, Mods. La révolte par l’élégance, Bègles . Christoph Wagner, Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground, Mainz .
Karl Siebengartner
Fanzines als Jugendmedien: Die Punkszene in München von 1979–1982 ..: Fanzines are the perfect expression – cheaper, more instant than records. Maybe THE medium. [. . . ] Perhaps most importantly outside saturated London, they provide a vital function as a base/coordination point of the local scene. [. . . ] Eventually new impetus, reinterpretation will come from there. Ich habe mich kaputt gelacht über [. . . ] Lorenz Lorenz, so wie ein Jahr vorher, in dem Jahr, wo wir alle diese Fanzines gemacht haben, über seine Einsamkeit des Amokläufers, das linkischste und pickeligste Fanzine Münchens. [. . . ] Heute macht er immer noch die beste Musik hier, weil er sowenig ein Instrument spielen kann wie sehr er bühnengeil ist.
Die obigen Zitate geben zwei verschiedene Stimmen wieder. Als Erstes steht ein Tagebucheintrag von Jon Savage, dem Chronisten der Sex Pistols. Darunter findet sich ein Auszug aus dem Roman Irre von Rainald Goetz, der sich Anfang der er Jahre in der Münchner Punkszene bewegte. Was haben nun diese beiden Ausschnitte gemeinsam? Das Erstellen von Fanzines als DIY-Produktionsprozess vereint die Aussagen. Sie handeln von der Direktheit dieses Mediums und dem, was ein Fanzine sein soll und sein kann. Dabei wird bereits angedeutet, dass Fanzines ein Mittel der Kommunikation darstellten. Savage geht sogar so weit und bezeichnet die Magazine als die bedeutendsten Medien der Punkbewegung. Seine Aussage ist außerdem noch interessant, da sie die Brücke zu lokalen Szenen schlägt, die außerhalb der mythischen Epizentren des Punk liegen. München um ist sicherlich nicht für seine Punkszene bekannt. Punk in der Bundesrepublik spielte sich vermeintlich in West-Berlin, Hamburg oder Düsseldorf ab. Daran ist sicherlich Jürgen Teipels Interviewcollage Verschwende deine Jugend nicht unschuldig.
Jon Savage, England’s Dreaming. Anarchy, Sex Pistols, Punk Rock, and Beyond, New York . Aufl. , S. . Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M. , S. f. Vgl. Jürgen Teipel, Verschwende deine Jugend, Berlin erweiterte Fassung .
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Fanzines als Jugendmedien
Der Aspekt der Kommunikation lässt die Fanzines tatsächlich zu Jugendmedien werden. Davon soll dieser Aufsatz handeln. Am Beispiel der Punkszene in München von bis wird gezeigt, wie diese selbstproduzierten Hefte einen wichtigen Beitrag zur Organisation und Kommunikation innerhalb der Münchner Szene und mit anderen Gleichgesinnten auf transnationaler Ebene leisteten. Dazu gliedert sich der Text in drei Teile. Erstens soll die Quellengattung Fanzine näher bestimmt werden. In der Zeitgeschichtsforschung wurde bisher kaum mit diesen Dokumenten gearbeitet. Zweitens soll der Zusammenhang zwischen Fanzines und Jugendmedien hergestellt werden. Hierfür werden einige Überlegungen zu dem Begriff Jugendmedien vorangestellt, da bisher noch keine eindeutige Definition für diese Mediengattung vorliegt. Drittens und letztens werden Kommunikationsprozesse über Fanzines im Mittelpunkt stehen. Nach einer näheren Bestimmung, was hier mit Kommunikation eigentlich gemeint ist, werden verschiedene Beispiele zur Veranschaulichung der vielfältigen Prozesse dargelegt. Die Hauptthese des Aufsatzes ist, dass Fanzines durch ihre Funktion als Kommunikationsräume zu genuinen Jugendmedien wurden und diese gleichzeitig repräsentierten. Dabei spielte eine intermediale Bezugnahme zu anderen Medienformaten als Referenzpunkte eine Rolle. Die aktive Mediennutzung durch und in Fanzines wird ebenso behandelt. Die Herstellung von eigenen lokalen und translokalen Räumen durch die Fanzines sowie eine transnationale Vernetzung werden ebenfalls im Hinblick auf Kommunikation genauer betrachtet.
Was sind Fanzines?
In der deutschen Geschichtswissenschaft ist diese Quellenart bisher kaum beachtet worden. Einzig Christian Schmidt hat sich intensiver mit diesem Gegenstand aus historischer und kulturanthropologischer Sicht beschäftigt. In seiner Magisterarbeit betrachtete er die Entstehung und Bedeutung der Fanzines in der Bundesrepublik. München findet hierbei keine besondere Beachtung. Ein weiterer fruchtbarer Aufsatz von ihm behandelt die Beziehungen zwischen Fanzines Dieser Text beruht zum Großteil auf Recherchen für meine Zulassungsarbeit an der LMU München: Vgl. Karl Siebengartner, Widersprüchliche Selbst-Definition und -Organisation. Die Punkszene in München von –, unveröffentlichte Zulassungsarbeit an der LMU München . Vgl. Christian Schmidt, Punk-Fanzines in der BRD –. Zur Entstehung eines Szene-Mediums und seinen kulturellen Bedeutungen, Magisterarbeit an der HU Berlin http://zeitlaeufer.de/wordpress/wp-content/uploads///Christian-Schmidt--←Punk-Fanzines-in-der-BRD--.pdf (..).
Karl Siebengartner
in der Bundesrepublik und der DDR. Eine aktuelle Publikation von Henning Wellmann nähert sich dieser Quellengattung ebenfalls. Allerdings ist Wellmanns Aufsatz, der sich mit Emotionspraktiken in den frühen deutschen Punkszenen beschäftigt, in Bezug auf die Quellengattung sehr vage. Dabei wird das Potential der Schriften verkannt und die Eigendynamik der Fanzines nur teilweise erfasst. Fanzines gehorchen als selbstproduzierte Medien der Punkszenen einer eigenen Logik und müssen dahingehend aufgeschlüsselt werden. Das Wort Fanzine ist aus den englischen Worten fan und magazine zusammengesetzt. Ihren Ursprung findet man in Science-Fiction-Fankreisen in den er Jahren. Die Anhänger und Leser dieses Literaturgenres verfassten eigene Geschichten und verbreiteten diese durch die Fanzines. Diese Idee wurde im Punk aufgegriffen, da sie mit den Do-It-Yourself-Idealen der Punks übereinstimmte. Nun sind Fanzines im Punkbereich aber mehr als reine Fanliteratur. In ihnen wurden die Selbstbilder von Punk verhandelt und DIY realisierte sich in der Produktion und Verbreitung. Deshalb spricht Matthew Worley auch von „zines“ statt von Fanzines. Durch die Behandlung von relevanten Themen für Punks wurden die Magazine zu alternativen Medien und standen darüber auch in Verbindung mit der Alternativpresse der Linken in den er Jahren. Generell kann man Fanzines als „maschinengeschriebene und bebilderte Broschüren mit niedrigen Auflagen, in denen Kommentare zu Punkbands und -mode, Prosa sowie Illustrationen erschienen“ , beschreiben. Diese Definition von Poiger Vgl. Christian Schmidt, Schreibblockaden und Mauersprünge. Punk-Fanzines Ost–West, in: Roland Galenza/ Heinz Havemeister, Hg., Wir wollen immer artig sein . . . Punk, New Wave, Hiphop und Independent-Szene in der DDR von bis , Berlin . Aufl. , S. –. Vgl. Henning Wellmann, „Let the fury have the hour, anger can be power“. Praktiken emotionalen Erlebens in den frühen deutschen Punkszenen, in: Bodo Mrozek/Alexa Geisthövel/Jürgen Danyel, Hg., Popgeschichte, Bd. : Zeithistorische Fallstudien –, Bielefeld , S. –. Vgl. Steven Duncombe, Notes from the Underground. Zines and the Politics of Alternative Culture, London/New York , S. . Unter Do-It-Yourself (kurz: DIY) werden hier „Formate und Strategien des Selbermachens in Alternativbewegungen, Protest- und Gegenkulturen“ verstanden. Verena Kuni, DIY, in: Annabelle Hornung/Tine Nowak/Dies., Hg., Do It Yourself: Die Mitmach-Revolution, Mainz , S. . Vgl. Matt Grimes/Tim Wall, Punk zines: „Symbols of defiance“ from the print to the digital age, in: The Subcultures Network, Hg., Fight Back. Punk, Politics and Resistance, Manchester , S. –, hier S. . Vgl. Matthew Worley, Punk, Politics and British (fan)zines: „While the world was dying, did you wonder why?“, in: History Workshop Journal, Jg. , , S. –, hier S. –. Uta G. Poiger, Das Schöne und das Hässliche. Kosmetik, Feminismus und Punk in den siebziger und achtziger Jahren, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried, Hg., Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa –, Göttingen , S. –, hier S. .
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greift allerdings zu kurz. Hierbei wird außer Acht gelassen, dass nicht jedes einzelne Heft mit der Schreibmaschine geschrieben wurde. Stattdessen wurde eine Ausgabe getippt und im cut’n’paste-Verfahren mit Bildern und anderen Schnipseln versehen, um anschließend kopiert zu werden. Außerdem waren handgeschriebene Notizen ebenso Teil der Hefte wie die maschinell angefertigten Textteile. Wichtig war vor allem die antikommerzielle und antiprofessionelle Produktionsund Vertriebsweise. Fanzines wurden in kleinen Auflagen vertrieben, wofür meist nur ein/-e Herausgeber/-in alleine zuständig war. Zur Vervielfältigung wurden Standardkopierer benutzt und die A-Blätter häufig zusammengetackert. Durch das Kopieren waren Teile der Zines oft schlecht lesbar oder abgeschnitten. Hinzu kam, dass die Reproduktion oft unterschiedliche Druckergebnisse brachte. Generell werden die Schreibfehler und auch andere vermeintlichen Unzulänglichkeiten der Fanzines als Ausdruck der Dringlichkeit und Unmittelbarkeit gesehen. Duncombe sieht Fanzines gattungsmäßig zwischen persönlichem Brief und Magazinen. Es muss davon ausgegangen werden, dass durch den lokalen Bezug die Autoren nahezu immer bekannt waren. Die Münchner Szene dürfte nicht allzu groß gewesen sein. Konzertorte, die regelmäßig genannt werden, und eine ähnliche Auswahl an lokalen Bands lassen diesen Rückschluss zu. Die Verbreitung und Reichweite von Fanzines ist schwierig einzuschätzen. Generell gilt, dass diese per Post verschickt wurden. Außerdem kann man davon ausgehen, dass einige in Plattenläden und auf Konzerten verkauft wurden. Die Auflagen der meisten Hefte überstieg die Marke der nicht. Die kleinen Auflagenzahlen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Fanzine mit Sicherheit auch von mehreren Personen gelesen wurde. Die Datierung von Fanzines gestaltet sich relativ schwierig. Die Eingrenzung auf ein Erscheinungsjahr und manchmal auch des Monats ist meist ersichtlich. Allerdings schwankten die Erscheinungszyklen oft und manchmal hatte sich die eine Redaktion bei Erscheinen schon wieder aufgelöst, wie Conny Wallner im Molotow Coctail schrieb: „Allerdings muss gesagt werden, daß dies bis auf weiteres die erste und letzte Ausgabe des Molotow Coctail
Vgl. Worley, Punk, Politics and British (fan)zines, S. . Vgl. ebd., S. . Vgl. Duncombe, Notes from the Underground, S. . Vgl. ebd., S. . Vgl. Worley, Punk, Politics and British (fan)zines, S. . Vgl. Duncombe, Notes from the Underground, S. . Vgl. ebd., S. . Vgl. Worley, Punk, Politics and British (fan)zines, S. .
Karl Siebengartner
ist. Die Redaktion hat sich nämlich getrennt.“ Deswegen sind die genannten Jahreszahlen als Vermutungen angegeben. Mit letzter Sicherheit kann diese Frage nicht geklärt werden.
Jugend und Medien – Jugendmedien?
Fanzines sind folglich Medien, die einer gewissen Eigenlogik folgen. Wie aber sind nun diese Erzeugnisse in einen Jugendmedienkontext einzuordnen? Folgt man Bill Osgerby, so ist Jugend eine Kategorie, die selbst einem gesellschaftlichen Wandel unterzogen ist. Was unter das Label Jugend fällt, ist kulturell ausgehandelt und veränderbar. Wenn in der Münchner Presse die Rede von Punks war, bezogen sich die Zeitungen oft auf einen Kreis von Personen im Alter von Jahren bis Anfang . Dadurch kann der Rezipientenkreis für etwa diese Altersspanne angesetzt werden. Diese merklich große Streuung bis ins junge Erwachsenenalter unterscheidet sich beispielsweise stark vom Bild des Teenagers der langen er Jahre. Der eingangs zitierte Rainald Goetz, Jahrgang , fällt nicht mehr unter eine solche klassische Definition von Jugend. Er beobachtete in seinen frühen literarischen Werken gewissermaßen die Münchner Punkszene und deren Fanzines. Eine gewisse Sympathie bestand auch von seiner Seite, was ein weiteres Indiz dafür ist, die Kategorie der Jugend für Fanzines weit anzusetzen. Als mediales Handeln von Jugendlichen ist die Fanzineproduktion auch Teil einer Mediengeschichte. Das Verhältnis von Jugend und Medien wird in der Monographie Youth Media, ebenfalls von Bill Osgerby, ausgelotet. Er zeichnet eine Beziehungs- und Kommunikationsgeschichte von Jugend und Medien für Großbritannien und die USA nach . Bei der Lektüre fällt auf, dass diese Beziehung in verschiedene Richtungen gedacht werden kann. Jugendmedien können von Jugendlichen handeln und für Jugendliche produziert worden sein. Ein weiterer Fall ist die eigene kulturelle Produktion von Jugendlichen. Diese Befunde treffen alle auf die Fanzines zu. Inhalt, Produktion und Distribution der
Molotow Coctail [vermutlich ]. Fanzines ohne Archivangabe wurden mir von Zeitzeugen/zeuginnen bereitgestellt. Eine Kopie befindet sich in meinem Besitz. Vgl. Bill Osgerby, Youth in Britain since , Oxford , S. –. Vgl. Staatsarchiv München, Polizeipräsidium, Presseausschnitte , Punker , Bild .., tz .., SZ ..; Polizeipräsidium, Presseausschnitte , Rocker, Punker , tz .., SZ .., AZ ... Vgl. Bill Osgerby, Youth Media, London/New York . Vgl. ebd., S. f.
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Hefte liegen alleine in der Hand von Jugendlichen. Somit haben wir es hier mit einem Sonderfall zu tun, denn der Produktionsprozess ist bereits eine Aneignung von medialem Handeln. Fanzines sind somit als genuine Jugendmedien zu sehen, deren Rezeption auf lokaler und translokaler Ebene und in einem transnationalen Rahmen stattfand. In diesem Jugendmedienkontext gilt es ebenso, die Nähe der Fanzines zu anderen Underground- und Mainstreammedien abzustecken. Obwohl Fanzines eine Aneignungsform darstellen, sind sie ohne Verweise auf andere (Print-)Medien nicht zu verstehen. Gerade in München gab es eine Referenzgröße: das Blatt. Dieses dem alternativen Milieu und somit einer auslaufenden Gegenkultur der er Jahre zuzurechnende Stadtmagazin bestand von bis und hat durch den detaillierten Veranstaltungskalender die Fanzines mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit mitgeprägt. Es wurde auch deutschlandweit als Organ der undogmatischen Linken verschickt. Dass das Blatt eine Referenzgröße war, zeigt sich ebenfalls vereinzelt in den Fanzines: „Wenn sonst noch was los ist, steht [sic!] im Anarchofanzine Blatt.“ Dieses Magazin stellte eine unverzichtbare Quelle für Veranstaltungen dar. Es ist anzunehmen, dass viele Fanzines sich auf Daten aus dem Blatt stützten. Interessanterweise wird bei dem obigen Zitat das linke Presseerzeugnis als Fanzine bezeichnet. Die oben aufgestellte Traditionslinie zur Alternativpresse bestätigt sich hier also explizit. Einerseits stützten sich Fanzines also auf Druckerzeugnisse einer Gegenkultur. Andererseits wurde deren Berichterstattung auch einfach abgedruckt: „Anmerkung: DIESE ZWEI SEITEN SIND GEKLAUT! und zwar aus dem BLATT!“ steht in Der Blitz . Herausgeber Michael Sailer druckte neben diesem Statement einen Artikel aus dem Blatt über den zivilen Sicherheitsdienst, der in den Münchner U-Bahnen unterwegs war. Selbst wenn Bezüge nicht explizit bestehen, so ist doch davon auszugehen, dass sich Punks in München bei diesem Magazin bedienten. Das Kopieren von Inhalten anderer Medienformate beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Alternativpresse. Mainstreammedien wie Zeitungen, Zeitschriften und Musikmagazine werden ebenso mitaufgenommen und oft genug auch persifliert. Verschiedene Hitparaden finden sich beispielsweise immer wieder in den Fanzines. Dabei treten neben eingeklebten Listen aus der Sounds auch eigens Generell zum Blatt: Vgl. Manfred Wegner/Ingrid Scherf, Wem gehört die Stadt. Manifestationen Neuer Sozialer Bewegungen im München der er Jahre, Andechs , S. f. Archiv der Jugendkulturen (AdJ), Langweil [vermutlich ]. AdJ, Der Blitz [vermutlich ]. Der Originalartikel erschien : Vgl. Archiv der Münchner Arbeiterbewegung (AdMA), Archiv Blatt , S. f.
Karl Siebengartner
kompilierte Charts. Nicht ganz ernst gemeinte Horoskope und leicht abgeänderte Donald-Duck-Comics lehnen sich ebenso an massenmedial produzierte Formate an. Eine Referenz, an der auch Punkfanzines nicht vorbeikamen, war die B. Andreas Kuttner konstatiert in seinem Beitrag, dass die B bei aller Ablehnung von Punks eben auch als Bezugsmedium oder Inspirationsquelle gelten kann. So finden sich neben den zu erwartenden negativen Äußerungen auch positive Statements, wie etwa die Bedeutung der B für die Verbreitung von Punk im ländlichen Raum. Bei dieser spannungsreichen Beziehung darf nicht übersehen werden, dass das Jugendmagazin bereits ab über die Sex Pistols und andere, vor allem britische Größen berichtete. Die B hat auch in Münchner Fanzines ihre Spuren hinterlassen: Im Molotow Coctail wurde zum ersten Todestag von Sid Vicious ein langes Starportrait gedruckt. In dieser Abhandlung wird die Skandalgeschichte des Sex-Pistols-Bassisten aufgearbeitet und mit poserhaften Bildern von Vicious versehen. Reißerisch beginnt Conny Wallner: Am . Oktober hatte die, auf Prinzenklatsch und Prominententratsch spezialisierte, Sensationspresse einen Grund zum feiern. Endlich hatte sie wieder ein Opfer gefunde[n], das man nach Lust und Laune (und auch Fantasie) anklagen, verurteilen und in den Dreck ziehen konnte, ohne von hinzugezogenen Rechtsanwälten vor Gericht gezogen zu werden. Und auf dieses Opfer schlug die Boulevardpresse dann auch kräftig drauf los.
Obwohl sich dieses Portrait von der Mainstreamberichterstattung abzugrenzen versucht, sind die Assoziationen zur B und der Klatschpresse aufgrund des Formates nicht wegzudenken. Neben solchen ernst gemeinten Artikeln waren aber auch Persiflagen Teil der Münchner Fanzines. Im Lächerlich findet sich z. B. eine Seite, die an die berühmten Fragen an Dr. Sommer der Jugendzeitschrift B angelehnt sind. In der Rubrik „FRAGEN SIE ALFRED“ beantwortet der Herausgeber Alfred Steinau Fragen von Jugendlichen, die er aus anderen Magazinen ausgeschnitten hat, mit dem zu erwartenden Augenzwinkern. Vgl. AdJ, Langweil B [vermutlich ]. Das Langweil beginnt mit der Zählung bei und zählt von da an abwärts. Das B ist angehängt, weil es einen Testdruck vorher gab. Vgl. AdJ, Akt der Verzweiflung [vermutlich ]. Vgl. AdJ, Der Blitz [vermutlich ]. Vgl. Andreas Kuttner, Punk und BRAVO, B und Punk, in: Archiv der Jugendkulturen e.V., Hg., Jahre B, Berlin . Aufl. , S. –, hier S. –, S. f. Vgl. Molotow Coctail [vermutlich ]. Ebd. Vgl. AdJ, Lächerlich [vermutlich ].
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Ein letztes Beispiel soll den Bezug zur Mainstreampresse noch näher beleuchten. Natürlich wurden auch oft einfach Artikel aus diversen Tageszeitungen kopiert und/oder verfremdet. Ein Fall sticht allerdings unter dieser Praxis heraus. Im ZLOF ziert ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Photokopierte Gegenöffentlichkeit“ von Karl Bruckmaier das Titelblatt. Hierbei handelt es sich um einen Bericht über Fanzines und deren Potential. In dem Artikel wird auch das ZLOF lobend erwähnt: „Jeff, Macher des Münchner Fanzines Zlof, [. . . ] der aus einem Fanzine mehr macht als dilettantischen Außenseiterjournalismus.“ Wenn ansonsten oft Berichterstattung kritisiert wurde, so liegt hier ein umgekehrter Fall vor. Boris Vankaev, alias Jeff Stress, druckte diesen Artikel vermutlich auch, um die Wichtigkeit seiner eigenen Person und seines Blattes zu verdeutlichen. Somit ist nicht nur eine Abgrenzung zu Presse, sondern auch deren positive Bezugnahme für Fanzines wichtig. Das Spezifikum der Fanzines lag hierbei im Produktions- und Rezeptionsprozess, die beide von jugendlichen Punks organisiert waren. Dabei darf allerdings die Eingebundenheit der Fanzines in weitere mediale Ensembles nicht ausgeblendet werden. Sowohl die Alternativ- als auch die Mainstreampresse waren Bezugspunkte für Münchner Fanzines. Als Aneignung von medialem Handeln sind diese Fanzines als Akteure nicht zu unterschätzen. Deshalb wird in den letzten beiden Kapiteln deren Tragweite in Bezug auf Kommunikation analysiert, um zu zeigen, wie diese Magazine eigene Kommunikationsräume darstellten.
Kommunikation in Fanzines Intermedialität und aktive Mediennutzung
Da die komplette Organisation von Jugendlichen für gleichgesinnte Jugendliche aufgezogen wurde, werden Fanzines zu Jugendmedien über die in Gang gesetzten Kommunikationsprozesse. Nun muss der Begriff der Kommunikation noch näher bestimmt werden. Diese schlägt sich im Punk oft in Form von interpersoneller Kommunikation nieder, wobei verschiedene Austauschbeziehungen eingegangen werden. Dies kann sowohl in direkter Aktion als auch indirekt über Medien, wie z. B. das Telefon, geschehen. In diesem Kontext ist die Kommunikation im und über das Fanzine sehr wichtig. Dieses Medium kann als Kommunikationsmittel Vgl. AdJ, ZLOF [vermutlich ]. Ebd. Vgl. Moritz Föllmer, Einleitung: Interpersonale Kommunikation und Moderne in Deutschland, in: Ders., Hg., Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem . Jahrhundert, Stuttgart , S. –, hier S. .
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in Abwesenheit von Personen fungieren. Medien besitzen interaktiven Charakter. Sie bieten bestimmte Anknüpfungspunkte , die sich die Akteure produktiv mit ihrem Eigensinn aneignen können. Im Falle des Punk sind auch Verhaltensweisen und Aussehen, die in den Selbstbildungsmaßnahmen kultiviert werden, Teil der Kommunikation. Dieses Merkmal der Jugendkultur allgemein zeigt die Abgrenzung zur Kultur und Gesellschaft der Elterngeneration und Erwachsenen. Im Folgenden soll nun zum einen eine intermediale, ideengebende Ebene als Kommunikationsprozess dargestellt werden. In einem zweiten Schritt wird in diesem Kapitel die aktive Mediennutzung durch und in Fanzines näher analysiert. Unter Intermedialität wird hier ein Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produktes durch die Bezugnahme auf ein Produkt [. . . ] oder das semiotische System [. . . ] eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln
verstanden. Hierbei geht eben auch schon eine kommunikative Aneignung vonstatten. Ein Beispiel hierfür findet sich in Die Einsamkeit des Amokläufers . Lorenz Schröter, der Autor, druckt hier eine „Grifftabelle für Saxophon Alt, Tenor, Bariton und Baß“, welche eine Anleitung für die Erzeugung von verschiedenen Tönen auf eben genannten Instrumenten gibt. Wenn man umblättert, ist ein Saxophon abgebildet, bei dem erklärt wird, welcher Finger von welcher Hand was bedient. Darunter steht in mit der Hand geschriebenen Großbuchstaben „UND NUN GRÜNDE EINE BAND!!!“. Dieser Bezug funktioniert ohne den notwendigen Kontext nicht. Warum sollte man damit eine Band gründen? Der Bezug ergibt sich erst, wenn man erkennt, auf was der Autor anspielt. In einem englischen Fanzine namens Sideburns gibt es eine mittlerweile sehr berühmte Aussage: „This is a chord, this is another, this is a third, now form a band.“ Daneben sind die drei Griffmuster für Gitarre abgebildet. Diese Seite steht für das DIY-Ethos des Punk, bei dem eine minimale Anleitung als Anlass für die Gründung einer Band genommen wird. Soweit fand aber bisher noch keine me-
Vgl. ebd., S. . Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel , S. . Vgl. AdJ, Die Einsamkeit des Amokläufers [vermutlich ]. Vgl. ebd. Worley, Punk, Politics and British (fan)zines, S. ; die entsprechende Seite aus Sideburns ist in diesem Aufsatz ganzseitig abgedruckt.
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diale Transformation statt, da in einem Fanzine auf ein anderes Fanzine Bezug genommen wird. Schröter nahm diese Anleitung von und stellte sie auf den Kopf. Es ist offensichtlich, dass man ein Saxophon anhand dieser Anleitung nicht spielen kann. Von Szeneanhängern wurde der Witz aber vermutlich verstanden. Die Ironie dieses Abdruckes funktioniert nur, wenn man die zitierte Seite oder zumindest den Ausspruch kennt. Der Autor bewies in der Sendung Dreiklangsdimensionen des Bayerischen Rundfunks auch noch, wie einfach das Saxophonspiel wäre. Bei seiner Performance kommen nur schräge Töne aus dem Saxophon. Es scheint so, als stelle Schröter den DIY-Anspruch des Punk als Selbsttechnik infrage. Mit einem Saxophon ist es nicht ganz so leicht, Musik zu machen. Vielleicht hielt er die ganze Idee auch für einen Witz. Allerdings kann man vor allem, wenn man die Fernsehperformance noch mitbedenkt, auch das Gegenteil feststellen. Es waren keine musikalischen Fähigkeiten mehr notwendig, um eine Band zu gründen, oder eben ins Fernsehen zu kommen. Mit dieser Botschaft wirkt der Witz im Fanzine noch besser. Die Ironie des Saxophons kommt nur zum Vorschein, wenn man das Zitat aus England kennt. Dieses Beispiel wirkte durch den Autor außerhalb des Mediums Fanzine noch weiter. Die Wanderung vom ersten englischen Ausspruch bis zum Fernsehauftritt zeigt, dass Bezüge aus einem transnationalem Kontext aufgenommen und intermedial weitergedacht wurden. Der Name des Verfassers taucht ebenfalls in Rainald Goetz’ Roman Irre auf, wie schon zu Beginn des Aufsatzes erwähnt wurde. Somit bedient sich nicht nur Schröter intermedialer Bezüge und überträgt diese in ein anderes Medium in Form von einer Anspielung. Er wird auch Teil eines Mediengewebes, indem Goetz auf sein Fanzine und die TV-Performance in seinem Suhrkamp-Roman verweist. Dies zeigt ebenfalls, wie eng verflochten lokale und nationale Kommunikation waren. Das Fanzine Die Einsamkeit des Amokläufers dürfte eher ein Insidertipp gewesen sein, Goetz’ Roman hingegen erschien bei einem renommierten deutschen Literaturverlag. Die intermediale Bezugsebene verband somit verschiedene geographische Reichweiten. An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie eng Goetz’ Literatur mit den Geschehnissen und Personen in den frühen er Jahren in München verbunden ist. Dieses plakative Beispiel ist mit Sicherheit eine Ausnahme, was Intermedialität betrifft, weil die Bezüge tatsächlich vom Fanzine ins Fernsehen und in einen
Vgl. Richard L. Wagner, Dreiklangsdimensionen, . Die ganze Performance gibt es auf YouTube https://www.youtube.com/watch?v=-wauNJcyU (..).
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Roman wanderten. Fanzines waren allerdings ebenso intermediale Verbünde. Das Gemisch aus Platten- und Kassettenkritiken, Konzertbesprechungen und Anleitungen zum Selbermachen darf nicht unterschätzt werden. Der bereits erwähnte Karl Bruckmaier war beispielsweise nicht nur ein Beobachter von Fanzines, sondern ebenso Radio-DJ beim Zündfunk des Bayerischen Rundfunks und beschäftigte sich mit Punk und spielte deren Musik im Radio. Bruckmaier war ebenso Mitarbeiter bei der Jugendsendung Sagst was d’magst beim BR. In einer dieser Sendungen waren Punks aus München geladen, um sich und ihren Lebensstil vor laufenden Kameras erklären zu können. Zu diesem Sachverhalt schreibt der bereits erwähnte Boris Vankaev im ZLOF: juchuuuu! jeff stress war im fernsehen, aber alles schön der reihe nach. stunden vor der aufzeichnung im bayrischen rundfunk bekam ich per post freikarten für die scheißsendung ,sagst was magst‘ im dritten [. . . ]. der KARL B. hielt dann noch ne ansprache an das punkvolk und dann gings los. eigentlich sollten die punks die vorurteile abbauen, aber die machten sich lieber gegenseitig fertig. so einen uneinigen haufen habe ich noch nie erlebt!
Es handelte sich hierbei um eine Form von medialem Handeln in dem Fanzine. Vanakaev weilte als Zuschauer unter der von Bruckmaier mitbetreuten Sendung und schreibt anschließend darüber. Hier wird bereits kommunikativ der Medienverbund, den Fanzines darstellten, angedeutet. Ob sich Vankaev und Bruckmaier persönlich kannten, geht nicht konkret hervor, aber der Fanzineschreiber musste in irgendeiner Form mit dem BR in Kontakt gestanden haben, um Karten zu bekommen. Auch wenn die Diskussion aus seiner Sicht keinen Mehrwert hatte, lässt sich doch ablesen, dass die Teilnahme an selbiger ihm wichtig war. So zeigen diese beiden Beispiele von Schröter und Vankaev, dass die Fanzines einen Typus vom aktiven Jugendmediennutzer erschufen. Die Fanzines nehmen Bezug auf andere, in diesem Fall Fernsehereignisse, die wiederum ihre Wirkmacht in den Heften weiter entfalten konnten. Diese aktive Mediennutzung spielte sich allerdings nicht nur über intermediale Phänomene ab. Fanzines selbst wurden in gewisser Weise zu Akteuren, um DoIt-Yourself-Strategien verwirklichen zu können. Hierbei waren die Herausgeber/innen der Fanzines eine Scharnierstelle für Unternehmungen und die Verbreitung
Vgl. Karl Bruckmaier, E-Mail an den Verfasser vom ... AdJ, ZLOF A [vermutlich ].
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vieler Gedanken. Im Langweil findet sich darauf schon ein handschriftlicher Hinweis: „Falls ihr Interesse an dem Fanzine von Thomas und Hollow Skai habt’s, meldet euch bei mir, können dann ’ne Sammelbestellung zwecks niedrigeren Porto-Kosten machen!“ Hier wird deutlich, dass sich Punks über Fanzines organisierten. Die Beschaffung von relevanten Medien war in der letzten Dekade vor dem Internet ein wesentlicher Bestandteil von Fanzines. Schornak druckt eine Liste mit zu verkaufenden Platten in seinem Fanzine. Bei Interesse würde er den Kontakt zum Verkäufer herstellen. Auf derselben Seite beteuert er ebenfalls, dass sämtliche Anzeigen für Musiker- oder Bandgesuche kostenlos veröffentlicht würden. Solche Beispiele finden sich zuhauf. Fanzines fungierten als Mittelsmedium für verschiedene mediale Austauschprozesse. Fanzines von außerhalb, rare Platten und Kassetten und dergleichen konnten so zirkulieren. Punks mussten nur aktiv werden und schreiben, um partizipieren zu können. Der Verkauf und die Kontaktherstellung waren dabei beliebte Themen. In Schröters Die Einsamkeit des Amokläufers wird sogar noch ein weiterer Schritt angeschnitten: „Molto Menz, Kurztstr. , Mü möchte sein → Plattenangebot, daß er vor d. Mensa Giselastr. verkauft um neue welle etc. erweitern. An Zusendung interessiert. möglichst Kommission“. Diese Anzeige unterscheidet sich noch mal von den vorherigen Gesuchen. Menz betrieb ein kleines Geschäft und nutzte die Reichweite von Schröters Blatt, um expandieren zu können. Diese Kooperation wurde noch weiter vertieft. Schröters Kurzgeschichtensammlung Die Einsamkeit des Amokläufers erschien im Vertrieb von Molto Menz: „Im Vertrieb von: DU BIST SO GUT ZU MIR Cassetten und Zeit Vertreib Molto Menz Gravelottestr. München “. Menz baute sich also einen kleinen Vertrieb auf und Schröter vertiefte seine schriftstellerischen Ambitionen. Für diese Nutzungszwecke bildeten die Fanzines einen Ausgangspunkt. Beide wurden dadurch zu aktiven Jugendmediennutzern, die über das Medium Fanzine hinaus tätig wurden. So geben die Fanzines Einblick in die Alltagsgestaltung von einigen Akteuren und deren Tätigkeiten. Punk und der damit verbundene DIY-Anspruch gaben somit auch den Zündfunken für vielfältige Aktivitäten, die in Bezug zur Alltagspraxis standen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fanzines nur einen positiven Effekt für die Mediennutzer und -produzenten hatten. Oft gaben die Herausgeber AdJ, Langweil [vermutlich ]. Vgl. ebd. AdJ, Die Einsamkeit des Amokläufers [vermutlich ]. AdJ, Lorenz Lorenz [Lorenz Schröter], Die Einsamkeit des Amokläufers. Triviale Kurzgeschichten, München .
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ihre bürgerlichen Namen und Adressen mitsamt Telefonnummern preis. Conny Wallner gibt hierfür einen stichhaltigen Hinweis. Im Punk im Milb, einem Fotofanzine, schreibt sie hinter ihrer Telefonnummer: „am besten immer unter der Woche gegen Uhr“. In ihrem Vive Le Punk steht hingegen schon nach der Telefonnummer: „(Aber bitte nicht nach und vor Uhr)“. Es schien, als würden einige Anrufe zum Problem werden. Über Wallners Wohnverhältnisse kann nur spekuliert werden, aber generell könnte es sein, dass sie als Jugendliche noch bei ihren Eltern wohnte. Somit hätten mögliche Anrufe vor oder nach den genannten Zeiten ein Konfliktpotential mit den Eltern in sich geborgen. Neben solchen Hinweisen waren auch Beleidigungen an andere Fanzineschreiber an der Tagesordnung. Michael Sailer von Der Blitz schildert hierfür ein anschauliches Beispiel in Der Blitz . Aufgrund einer Beleidigung an Boris Vankaev musste er eine Erklärung mit folgendem Text drucken: Die in der Ausgabe vom März der von uns herausgegebenen Zeitschrift ,der Blitz‘ auf deren Seite enthaltenen und gegen Herrn Vankaev gerichteten Beleidigungen, nämlich wer ihm eine runterhaut, wird von uns durch eine Sonderprämie belohnt, und Nazis raus, [. . . ] nehmen wir mit dem Ausdruck des Bedauerns als unrichtig und uns hierwegen entschuldigend zurück.
Die eigene Produktion war also ebenso mit Problemen behaftet und Sailer schreibt weiter: Die durch die Einschaltung des Rechtsanwalts entstandenen Kosten von , DM haben wir bezahlt. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich es sehr bedauerlich finde, daß Herr Vankaev, der ja unter dem Namen Jeff Stress die Zeitschrift ,Zlof-Magazin‘ herausgibt, es für nötig hält, solche Dinge auf diesem Weg zu lösen.
Die aktive Mediennutzung von Wallner und Sailer führte also zu negativen Erlebnissen. Die Alltagspraxis der Mediennutzer war demnach auf der einen Seite befreiend und als aktiv zu bezeichnen. Auf der anderen Seite wurden aber ebenfalls sensible Bereiche des Privatlebens berührt, die zu negativen Konsequenzen unterschiedlicher Ausprägung führen konnten.
Punk im Milb [vermutlich ]. Vive Le Punk [vermutlich ]. AdJ, Der Blitz [vermutlich ]. AdJ, Der Blitz [vermutlich ].
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Fanzines, wie hier die Münchner Beispiele zeigen, waren demnach als Kommunikationsräume angelegt. Intermediale Bezüge und eine aktive Mediennutzung waren hierin möglich und wurden auch praktiziert. Den Fanzines kommt hierbei selbst ein Akteursstatus zu. Deren Potentiale, aber auch deren Schattenseiten, ließen sie zu Jugendmedien werden. Die Mediennutzer konnten so selbst kreativ mit ihren Unternehmungen umgehen und selbst tätig werden. Das ist ein Spezifikum von Fanzines. Wie diese Kommunikationsräume ihrerseits mit der Raumkonstruktion umgingen, wird im folgenden Abschnitt noch Thema sein.
Räume in Fanzines: lokal, translokal und transnational
Im vorherigen Kapitel wurde bereits der Kommunikationsbegriff dargelegt. Bei diesem darf allerdings nicht vergessen werden, dass Kommunikation in Abhängigkeit von Räumen stattfindet. Gerade in den Fanzines werden die Aufenthaltsplätze erklärt und dadurch auch geschaffen. Raum kann so in dreifacher Weise mit Kommunikation in Zusammenhang gebracht werden. Erstens können Orte Gegenstand der Kommunikation sein. Zweitens findet Kommunikation immer im Raum statt und so wirkt dieser auf die räumliche Wahrnehmung der Akteure zurück. Als Letztes wird, wie oben schon angeführt, Räumlichkeit kommunikativ produziert und auf diese Weise eignen sich die Punks Orte individuell an. Im letzten Kapitel wird die kommunikative Aneignung von Räumen und die Vernetzung auf transnationaler Ebene behandelt. Dabei stehen der Club Damage und die Stadt-Land-Beziehungen von Münchner Punks und die transnationale Vernetzung im Vordergrund. Neben der intermedialen Ebene und der aktiven Mediennutzung in und durch Fanzines werden auch Räume für Punks konstruiert. Das Damage war das erste Lokal für Punks in München. Über diesen Laden wurde bereits in den ersten Fanzines ab berichtet. Dort erfüllte sich der Wunsch nach einer lokalen Szene in der sonst als recht öde empfundenen Stadt erstmals:
Vgl. Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold, Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, –, in: Dies., Hg., Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im . und . Jahrhundert, Bielefeld , S. –, hier S. . Vgl. Geppert/Jensen/Weinhold, Verräumlichung, Vgl. ebd., S. . Vgl. Harry Fürst, Damage. Der erste Punkladen, in: Mirko Hecktor, Hg., Mjunik Disco. Von bis heute, München , S. f., hier S. .
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Nach grauenvollen Konzerten [. . . ] war in dieser entsetzlichen Stadt endlich wieder einmal was los. Im Damage waren SCUM!!! Diese Typen brachten echt was. [. . . ] Soviele Punks, wie bei diesem Konzert waren schon lange nicht mehr auf einem Haufen zu sehe gewesen. Es waren tatsächlich an die Punks da (Wer hätte gedacht, daß es soviele gibt.)
Das Damage wird als Raum für Punks charakterisiert. Ein Ort, an dem sich Gleichgesinnte aufhalten konnten. Die positive Kritik zeigt, wie schwierig es in München gewesen sein muss, einen solchen Platz zu finden. Conny Wallner schildert weiterhin: Nach einer Pause folgte dann der zweite Teil. Und nach einer eindeutigen Aufforderung vom Sänger machten doch tatsächlich schon drei Typen Pogo, dann vier und dann immer mehr. Irgendwie erinnerte alles so an die Bilder und Bericht [sic!], die vor vielen Monaten aus England kamen und über die Punkszene berichteten. Der Raum war herrlich überfüllt, auf der ,Tanz‘fläche drängten sich die Kids gegenseitig quer durch den ganzen Raum, die Musik dröhnte nur so aus den Verstärkern und bald war auch die Band nicht mehr so recht vom Rest zu unterscheiden.
Das Damage wurde als Ort der Gleichheit gesehen. Der Eindruck, dass Publikum und Band auf Augenhöhe sind, zeigt, wie sich die DIY-Verhältnisse hier verwirklichten. Jeder ist Teil der Performance und dadurch gleich wichtig. Der Zusammenhalt stand klar im Vordergrund. Das Damage wurde zum Ausdruck einer selbstorganisierten Szene mit einer Münchner Band. Somit war diese Lokalität mehr als ein Raum mit einer Bühne. Hier konnten sich die Punks erstmals als Einheit fühlen und die Fanzines kommunizierten dies deutlich. Dieser Konzertort wurde allerdings im Sommer wieder geschlossen. Der Betreiber gab der Mailänder Scala ein Interview im April desselben Jahres und sprach dort die Probleme aus seiner Sicht an: Ich mag die Musik selber sehr gern, aber ich bin als Geschäftsmann manchmal gezwungen die Sache vom Geschäftlichen her zu betrachten. [. . . ] [D]as Gewerbeamt hat mir aufgrund von Beschwerden und Unterschriftensammlungen der Anwohner einige Auflagen vorgeschrieben. Sie protestierten hauptsächlich gegen meine Gäste
Molotow Coctail [vermutlich ]. Ebd. Vgl. AdJ, Musterexemplar [vermutlich ].
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[. . . ] und gegen den Straßenlärm, jetzt muß ich leise Musik spielen und es gibt Tanzverbot.
Die Fanzines begleiteten somit auch das Ende des Damage, denn kurz darauf war es zu. Obwohl das Damage keine zwei Jahre existiert hatte, nahm es einen festen Platz im Gedächtnis der Punks ein. Dies zeigt auch eine Besprechung der Band Scum im Positiv von . Der erste Teil der Besprechung griff das oben von Conny Wallner schon geschilderte Konzert der Band von nochmals auf. Damals im ersten Münchner Punkclub war schon was los. [. . . ] Zu den Panx der ersten Stunde (ger) gesellten sich jede Menge Hippies und Pseudos. Trotzdem, zum ersten Mal war das Damage propevoll, die Leute echt gut drauf und man hatte mal den Anfang auch in boring München gespürt.
Der Status des Vorreiters wurde dem Damage zuteil. Dieser Ort wurde durch das beständige Schreiben über die Jahre fast schon zu einem Mythos. So war die Referenz auf den Ort nach seiner Schließung unumgänglich. Es war der erste Treffpunkt für Punks zum Austausch und dieser wurde in den Fanzines kommunikativ vermittelt und konstruiert. Wie aus den vorherigen Statements schon hervorgeht, waren Orte für Punks in der Stadt München rar gesät. Das Blatt gibt hierfür ein plakatives Statement in einem Bericht über die alternative Gastwirtschaft Post in Ampermoching, nahe Dachau und ungefähr Kilometer vom Münchner Stadtzentrum entfernt: Für uns ist nun mal die ,Post‘ der einzig akzeptable Ort in München. Nur leider befindet er sich überhaupt nicht in München. Das ist ja das eigentliche Dilemma: Fürs Land zu far-out, für die Stadt zu weit weg. Nachdem in der großen Stadt konsequent alles Laute, Störende, Dreckige, Lustvolle dem großen Ordnungsbesen zum Opfer fällt und die stinkigen Punkers zu Kneipen-Nomaden wurden, die keiner haben will, drängt das Geschwür aufs Land.
Ampermoching ist ein plakatives Beispiel für die vielfältigen Stadt-LandBeziehungen der Münchner Punkszene. Goetz verarbeitet auch diese Prozesse in
Mailänder Scala [vermutlich ]. Positiv [vermutlich ]. AdMA, Archiv Blatt , S. .
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seinen frühen Werken, die als Egodokumente gelten können. „Abends war das Kassettentäterfest in Ampermoching [. . . ], wo ich nur hingefahren bin wegen des Auftritts von Lorenz Lorenz und Floli Süßmeir.“ Die Post in Ampermoching genießt einen gewissen Kultstatus, da Karl Bruckmaier und Wolfgang Ettlich dieser Kneipe einen Dokumentarfilm widmeten. Sie begleiteten das Ende dieses Ortes filmisch. Die Post war ursprünglich eine Konzertkneipe, die von Leuten, die dem alternativen Milieu zuzuordnen waren, betrieben wurde. Als musikalisch offener Ort wurden nach und nach auch Punkkonzerte angeboten und die Punks kamen, was mitunter auch zu Reibereien führte. Das ist eines der Hauptmotive des Dokumentarfilms. Dass Punkkonzerte in einem kleinen Dorf nahe Dachau stattfanden, wirkt skurril, gerade weil die Großstadt München doch so nah gewesen wäre. Der Weg nach Ampermoching war ein beschwerlicher. Von diesen translokalen, den eigentlichen Raum der Stadt überschreitenden Prozessen berichten auch die Fanzines: wieder mußte ich eine abenteuerliche fahrt in kauf nehmen, um nach ampermoching zu kommen. das erste abenteuer war, daß die s-bahn minuten später fuhr als ich dachte. . abenteuer war die minütige fahrt. [. . . ] . abenteuer war dann der weg vom s-bahnsteig zum auto vom allseits bekannten johannes schranner [. . . ], der furh [sic!] mich dann auch nach ampermoching und das war das . abenteuer.
Es war umständlich, dort hinzukommen. Auch davon handelt der Dokumentarfilm. Mit einem großen Bus fährt einer der Betreiber zur S-Bahn-Station Walpertshofen, um einen aufgeweckten Haufen Punks dort abzuholen. Dieser Shuttle Service wird auch im Blatt beworben: Die Crew der Post zu Ampermoching organisiert zukünftig für alle Stadtler einen Fahrdienst von der S-Bahnstation Walpertshofen zur Post – immer um . Uhr, . Uhr und . Uhr, da kommen die Züge an.
Vgl. Alexa Geisthövel, Böse reden, fröhlich leiden. Ästhetische Strategien der punkaffinen Intelligenz um , in: Jens Elberfeld/Marcus Otto, Hg., Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld , S. –, hier S. . Rainald Goetz, Das Polizeirevier [], in: Ders., Kronos. Berichte, Frankfurt a.M. , S. –, hier S. . Vgl. Karl Bruckmaier/Wolfgang Ettlich, Das Märchen vom Gasthaus zur Post, . AdJ, ZLOF A [vermutlich ]. AdMA, Archiv Blatt , S. .
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Es ist erstaunlich, dass ein solcher Aufwand betrieben wurde und Punks diese Strecken auf sich nahmen, um Konzerten beizuwohnen. Das lag vor allem daran, dass das Konzertangebot der Post lockte. Viele, vor allem unbekanntere oder aufsteigende Punkbands machten Halt in Ampermoching und eben nicht in München selbst. Gerade das machte die Post zu einem komplementären Raum zur Stadt. Ein Bericht zu einem Konzert der UK Subs in Ampermoching zeigt diese Begeisterung: Nun, das Klima im Konzertraum war etwa mit dem einer Sauna zu vergleichen und die Spannung auf die Subs unerträglich. Endlich kamen dann Harper & Co. und donnerten auch gleich mit zwei brandneuen Stücken los, so hart und schnell, daß mir der Atem stockte. Der Sound war super, nur Harpers Gesang klang wie aus einem übersteuerten, großen Transistotradio [sic!]. [. . . ] Die Stimmung im Saal: Der (Pogo)-Teufel war los! Schon nach zwei Minuten mußte ich, wie viele auch, Jacke und Hemd ausziehen, um Stickstoffluft und Tropenhitze ertragen zu können und ,rumzupogen‘! [. . . ] Nach fast / Stunden purer Raw Power Energie war das Konzert dann beendet. Publikum und Band waren gleichermaßen erschöpft, verschwitzt und total zufrieden.
Die Musik schlägt in ein körperliches Erleben um und zeigt schon, wie ekstatisch die Stimmung dort empfunden wurde. Die Heroen aus England spielten eben an diesem außerhalb des urbanen Raumes liegenden Gasthof. Der Weg aufs Land wurde von den Punks in Kauf genommen, um in den Genuss solcher Bands zu kommen. Die Fanzines nahmen hierbei eine wichtige Funktion ein. Als Kommunikationsräume machten sie den Ort außerhalb Münchens plastisch und erfahrbar. Sie boten eine Alternative zur als langweilig empfundenen Stadt und zeigten auch an, wie man dort hinkam. Das blieb den Journalisten Ettlich und Bruckmaier und auch Goetz nicht verborgen. Ob mit dem Auto oder der S-Bahn, Münchner Punks bewegten sich über die Stadtgrenzen hinaus in den ländlichen Raum, um dort das zu erleben, was man eigentlich in der Stadt vermutet. Ampermoching ist nicht die einzige Ortschaft, die mit solchen Kommunikationsprozessen bedacht wurde. Weitere Orte wären das Picnic in Erding oder das To Act in Weißenohe
AdJ, Akt der Verzweiflung [vermutlich ]. Vgl. AdJ, Langweil [vermutlich ]; AdJ, Musterexemplar [vermutlich ]; AdJ, Akt der Verzweiflung [vermutlich ]. Vgl. AdJ, Musterexemplar [vermutlich ]; AdJ, Die Einsamkeit des Amokläufers [vermutlich ].
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bei Nürnberg. Fanzines geben uns als Jugendmedien davon einen tiefen Einblick in die Stadt-Land-Beziehungen in der Punksubkultur. Gerade in Bezug auf die Selbstorganisation im Punk ist es aber unabdingbar, den Blick über die lokale und translokale Ebene hinaus noch zu erweitern. Neben Briefkorrespondenzen in verschiedene Länder sind in den Fanzines zum Teil kleine Reiseberichte abgedruckt. Vor allem Konzertreisen und die dabei gewonnenen Eindrücke werden hierin geschildert. Die Kommunikationsprozesse in der vorliegenden Abhandlung beschränken sich auf die Schweiz, die USA und England. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass diese Prozesse insgesamt in Fanzines wesentlich weniger abgedeckt sind als die Beschreibung lokaler und translokaler Räume. Die Kosten für einen länderübergreifenden Briefverkehr dürften hoch gewesen sein. Daraus ergibt sich eine überschaubare Anzahl an solchen Versuchen, was aber den Wert der einzelnen Berichte nicht schmälert. Erstaunlicherweise hatten Punks in München trotz des Fokus auf England und den USA Kontakte zur Szene in Zürich. Im Langweil B waren zwei Rezensionen von Platten der Züricher Band Sperma abgedruckt. Um an die Platten überhaupt zu kommen, musste bereits Kontakt bestanden haben. In der darauffolgenden Ausgabe erhärtet sich diese Vermutung. Schornak veröffentlichte einen Brief eines Schweizer Labels, der ihn erreichte: Heute kam Deine Drucksache in mein Haus geflattert sowie eine Nummer von Eurem [. . . ] Fanzine. Vielen Dank dafür . . . es ist schon seltsam, Euer Brief ist nun schon der zweite, der uns aus München erreicht, obschon wir fur’S Jamming noch keine Verkaufsstelle in München gefunden haben. Mit anderen Worten: Wie seid ihr auf uns gekommen?
DIY-Strukturen in Vertrieb und Informationsaustausch waren das gemeinsame Ziel, wie weiter in dem Brief steht: Hier in der Schweiz, wo die New Wave-Szene in fantastischer Weise organisiert ist, gibt es beinahe von jeder Gruppe Pressematerial und Fotos, die dann auch an Fanzines verschickt werden. Ich weiss nur zu gut, dass dies in Deutschland [. . . ] nicht der Fall ist, aber falls Ihr mal was habt, könnt ihr es gerne zuschicken! Umgekehrt
Vgl. beispielsweise AdJ, Langweil [vermutlich ]. Vgl. AdJ, Langweil B [vermutlich ]. AdJ, Langweil [vermutlich ].
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kann ich euch eben solches Material praktisch zu jeder Gruppe beschaffen, bitte gebt aber konkret an, was und von wem ihr’s gerne hättet!
Im transnationalen Kontakt zur Schweiz blühte die DIY-Einstellung auf, da die Akteure versuchten, sich vollkommen ohne die Hilfe großer Labels zu organisieren. Dadurch konnten relevante Bands und auch deren Tonträger mit einer wesentlich größeren Reichweite beworben werden als ohne den Kontakt. Das Versenden von Promomaterial per Post war gängige Praxis. Den weitesten Weg wird wohl ein Brief aus Kalifornien nach München zurückgelegt haben. Als ich an die Plattenfirma Posh Boy schrieb, um einige Informationen über die amerikanische Punkband CH zu bekommen, gelangte mein Brief irgendwie in die Hände des CH Gitarristen Kimm Gardener, der mir dann freundlicherweise einen ganzen Stapel von Info-Material zuschickte.
Es ist davon auszugehen, dass auf solchem Wege wahrscheinlich viele Informationen zu Bands eingeholt wurden. Man schrieb entweder dem Label oder der Band selbst, um mehr zu erfahren. Die Selbstorganisation über den Kommunikationsraum Fanzine zeigt sich hier deutlich. Ein weiteres Beispiel soll den Kontakt zu England noch verdeutlichen. Dass London wichtig für die Selbstbildung bei Münchner Punks war, wurde bereits angedeutet. Es bestand aber neben der ideellen Verbindung auch die Möglichkeit, in direkten Kontakt mit Bands zu treten. Im Langweil B ist ein Brief, den Schornak an die englische Band Crass sandte, in deutscher und englischer Sprache abgedruckt. Daneben ist die handschriftliche Antwort der Band veröffentlicht. Der Brief gibt Aufschluss über die Möglichkeiten und Probleme der transnationalen Kommunikation. Crass erklärte im Briefkopf, der auf einer Schreibmaschine getippt wurde: „keeping up with the mail is becoming a real problem“. Die Post sollte deshalb an Rough Trade Records, die für den Vertrieb zuständig waren, geschickt werden. Die selbstorganisierte Vernetzung funktionierte gut, solange sie in kleinem Maße betrieben wurde. Aus der Sicht der lokalen Szene war diese jedoch ein Gewinn, da eine Antwort kam. Aus dem Briefkopf wird noch ersichtlich, dass die Band frankierte Rückumschläge bevorzugte. Daraus kann geschlossen
Ebd. Positiv [vermutlich ]. AdJ, Langweil B [vermutlich ]. Vgl. ebd.
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werden, dass Schornak einen solchen Umschlag schon beigelegt hatte. Es entstanden demnach auch Kosten für ihn. Somit war dieser Austausch ein Ausdruck des DIY-Ethos auf der einen Seite. Die Punks schufen ihre eigenen Briefkontakte, um an neues Material zu kommen und die Szenen einander näherzubringen. Auf der anderen Seite sind freilich die entstandenen Kosten zu berücksichtigen. Auch die Nutzung der Fanzines als Medien der Kommunikation eröffnete letztendlich eine Ebene, um mehr zu verkaufen oder besser zu bewerben. Somit führten diese Kommunikationsstrategien auch zu Spannungen, da eine absatzorientierte Ausrichtung nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann. Die Fanzines waren also einerseits Medien, um lokale und translokale Räume zu beschreiben und als den Punks eigen zu codieren. Andererseits spielten sie eine Rolle als transnationale Akteure. Durch sie konnten Punks am tatsächlichen internationalen Austausch teilnehmen und selbst davon profitieren.
Fazit
Letztendlich dienten die Fanzines in dem genannten Beispiel der Stadt München als Träger von vielfältigen Kommunikationsprozessen. Intermediale Bezüge, eine aktive Mediennutzung sowie die Aneignung von lokalen und translokalen Räumen und eine transnationale Vernetzung über die Hefte schaffen demnach einen Kommunikationsraum. Als Jugendmedien, bei denen Inhalt, Produktion und Distribution von einigen wenigen Personen eigens organisiert werden, sind Fanzines wesentlich mehr als nur Unterhaltung. Sie waren selbst Akteure in den Kommunikationsprozessen. Für die Münchner Szene war dieses Medium unverzichtbar, um Ideen zirkulieren zu lassen und am internationalen Austausch mit anderen Punks teilzunehmen. Auch die Aneignung von verschiedenen Räumen spielte eine große Rolle in den Fanzines. Somit ist der eingangs erwähnte Tagebucheintrag von Jon Savage wohl auch für den vorliegenden Fall passend. Die Münchner Punkszene in den Jahren bis konnte durch die Jugendmedien Fanzines den DIY-Anspruch ausleben und eine lokale, translokale und transnationale Bühne kommunikativ betreten. Abschließend kann eine berechtigte Vermutung angestellt werden: Wenn schon in einer Stadt in der Bundesrepublik so mannigfaltige Bezüge nach außen bestehen, dann kann davon ausgegangen werden, dass zumindest für eine westeuropäische Punkszene Fanzines zur Kommunikation unabdingbar waren. Somit sind und waren diese Hefte Jugendmedien durch ihre Kommunikationsfunktion und eröffneten in den frühen er Jahren einen Kommunikationsraum für Punks. Für ein Verständnis von subkultureller Kom-
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munikation sind sie unabdingbar und müssen deshalb als genuine Jugendmedien der Punks in den Fokus geraten. Eine Gesellschaftsgeschichte der er Jahre muss neben massenmedialen Erzeugnissen eben auch die die Aneignungsformen von medialem Handeln mitreflektieren.
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Fanzines Archiv der Jugendkulturen (AdJ) Akt der Verzweiflung [vermutlich ]. Akt der Verzweiflung [vermutlich ]. Der Blitz [vermutlich ]. Der Blitz [vermutlich ]. Die Einsamkeit des Amokläufers [vermutlich ]. Lächerlich [vermutlich ]. Langweil B [vermutlich ]. Langweil [vermutlich ]. Langweil [vermutlich ]. Langweil [vermutlich ]. Musterexemplar [vermutlich ]. ZLOF [vermutlich ]. ZLOF A [vermutlich ]. Leihgaben von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Damage De-Luxe [vermutlich ]. Mailänder Scala [vermutlich ]. Molotow Coctail [vermutlich ]. Positiv [vermutlich ]. Punk im Milb [vermutlich ]. Vive Le Punk [vermutlich ]. Archivalische Quellen Archiv der Jugendkulturen (AdJ) Lorenz Lorenz [Lorenz Schröter], Die Einsamkeit des Amokläufers. Triviale Kurzgeschichten, München . Archiv der Münchner Arbeiterbewegung (AdMA)
Karl Siebengartner
Archiv Blatt . Archiv Blatt . Archiv Blatt . Staatsarchiv München Polizeipräsidium Pressenausschnitte Punker . Polizeipräsidium Presseausschnitte Rocker, Punker . Publizierte Quellen Rainald Goetz, Das Polizeirevier [], in: Ders., Kronos. Berichte, Frankfurt a.M. , S. –. Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M. , S. f. E-Mail Bruckmaier, Karl, E-Mail an den Verfasser vom ... Literatur
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Fanzines als Jugendmedien
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Schwere Zeiten – Medien(praktiken) der Heavy-Metal-Szene in der DDR The pleasure is to play, makes no difference what you say. – Motörhead
Einleitung
äußerte der ehemalige Sänger der ostdeutschen Heavy-Metal-Band Cobra, Frank Eichhorn, im Heavy-Metal-Fanzine Eisenblatt seinen Unmut über die musikalische Dimension der Erinnerungskultur im wiedervereinigten Deutschland: Was ich mal ganz interessant fände ... Es ist ja so, dass wenn irgendwo über den Osten berichtet wird, dann wird – wie früher – immer die ganze Elite durchgenommen. Das heißt Puhdys, Karat, City, Silly et cetera. Manchmal gehen sie auch noch in den Punk-Bereich und halten sich bei Feeling B auf, aber den Metal-Bereich ... Nichts, gar nichts! Ich meine, das gehört ja auch dazu und war nicht ohne. Wir hatten ja in der DDR manchmal mehr Zulauf als wenn man zu einem Puhdys-Konzert gegangen ist.
In der Tat florierte die Heavy-Metal-Szene der DDR in den er Jahren. Mindestens Untergrund-Bands – also solche ohne offizielle Einstufung – stillten mit jeweils bis zu Auftritten im Jahr den Durst nach Musik und in der Platzierungssendung des DDR-Rundfunks Beatkiste dominierte in der zweiten Hälfe der er Jahre Heavy Metal. Berlin und die südlichen Bezirke bildeten zwar die Schwerpunkte, aber Heavies waren in der ganzen DDR zu finden. Der Fall der Hendrik Rosenberg, Interview mit Thomas „Rose“ Rosanski, in: Eisenblatt, Jg. , , S. –, hier S. . Vgl. Uwe Breitenborn, Bombenhagel und Eiserner Vorhang. Heavy-Metal-Subkultur im Staatsradio, in: Sascha Trültzsch/Thomas Wilke, Hg., Heisser Sommer, coole Beats. Zur populären Musik und ihren medialen Repräsentationen in der DDR, Frankfurt a.M./New York , S. –, hier S. . DRA, G--/ [Beatkiste ..]; DRA, G--/ [Beatkiste v. ..]. Vgl. Caroline Fricke, Heavy Metal in der DDR-Provinz, in: Rolf F. Nohr, Hg., Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt (Medien‘Welten ), Münster , S. –, hier S. .
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Mauer und die deutsche Wiedervereinigung – mit der eine rasche Erweiterung des bundesdeutschen Musikmarkts einherging – wurde in der Szene allerdings als Auflösungsprozess wahrgenommen. Letztlich war keine der in der DDR bekannten Metal-Bands nach erfolgreich und auch spätere Comeback-Versuche waren, mit der Ausnahme der thüringischen Band Macbeth, nicht von Erfolg gekrönt. Bis auf vereinzelte Veröffentlichungen in den gedruckten Leitmedien der bundesdeutschen Heavy-Metal-Szene findet eine Erinnerung an den DDR-Metal nicht statt. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass sich der Punk – und darauf weist das Eingangszitat hin – neben den großen Rockgruppen der DDR einen festen Platz im musikalischen Wiedervereinigungsnarrativ erarbeitet hat. Dabei wird Punk oft als farbenfrohe und individualistische Gegenbewegung zum grauen Überwachungsstaat erinnert. Sich unpolitisch gebende Akteure, wie Heavies, haben in dieser Erzählung keinen Platz und das, obwohl die Anzahl der regional und zentral vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) erfassten Heavy-Metal-Fans die der Punks oft überstieg. Der zumindest gefühlte Kollaps der Szene und die fehlende Erinnerung hängen, so die These, eng mit den für die DDR spezifischen medialen Praktiken der jugendlichen Hörer zusammen. Nach knappen methodischen Überlegungen, die im Anschluss an die im zweiten Band der Popgeschichte bereitgestellten „Konzepte und Methoden“ erfolgen, soll dazu eine Untersuchung der relevanten Medien, auf die die DDR-Heavies Zugriff hatten, erfolgen. Diese umfassen Radiosendungen, Printmedien und Tonträger. Im Zentrum stehen dabei weniger die Inhalte als die sie umgebende Infrastruktur inklusive der ökonomischen Prozesse. Bewusst ausgespart werden demnach an dieser Stelle die Musik in ihrer klanglichen und textuellen Dimension sowie Berichte über den Ablauf bei und Vorfälle nach Konzerten. Fokussiert wird stattdessen auf die bestimmten Kulturpraktiken, mit Vgl. Manfred Stock/Philipp Mühlenberg, Die Szene von innen. Skinheads, Grufties, Heavy Metals, Punks, Berlin , S. . Vgl. Dietmar Elflein, Restless and Wild. Early German heavy metal, in: Michael Ahlers/Christoph Jacke, Hg., Perspectives on German popular music (Ashgate popular and folk music series), New York , S. –, hier S. . Wolf-Rüdiger Mühlmann, Heavy Metal in der DDR. Eine persönliche Rückschau, in: Rock Hard, Jg. , , S. –. Vgl. Wolf-Georg Zaddach, A Question of a German Sound? The rise of Heavy and Extreme Metal music in the BRD and GDR [Manuskript] (Thirty-Eight Annual Conference), Kansas-City (MO) ..–...; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Nr. , S. ; BStU, MfS, HA XX, Nr. , S. ; BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, /, S. ; BStU, MfS, BV Berlin; Abt. XX, Nr. , S. . Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek, Hg., Popgeschichte, Bd. : Konzepte und Methoden (Histoire ), Bielefeld .
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denen die jeweiligen Medien im Zusammenhang stehen, wie das Briefeschreiben, das Mitschneiden auf Tonband und der Kassettentausch. Neben Akten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv (DRA), die zu einem nicht unerheblichen Teil aus der Hörerpost bestehen, werden dazu vor allem Materialien aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), die die Herrschaftsperspektive bieten, zur Untersuchung herangezogen. Da die Heavies in der DDR keine Fanzines oder Samisdate produzierten und die Perspektive der Untersuchung daher quellenbedingt eine der Herrschaft ist, wird im Ausgleich subjektiven Äußerungen – die meist aus von der Staatssicherheit abgefangenen Briefen stammen – vergleichsweise viel Platz eingeräumt.
Methodische Überlegungen
Heavy Metal wird in diesem Beitrag als popkulturelles Phänomen verstanden, welches sich um ein musikalisches Genre organisiert, über Massenmedien verbreitet wird und vorrangig über die umgebenden alltäglichen Praktiken sowie den Habitus der Hörer, der Heavies, verstanden werden kann. Es manifestierte sich in der DDR und anderen Orts auf körperlich-affektiver stärker als auf intellektuell-textueller Ebene. Damit im Zusammenhang steht die schon zeitgenössische Beobachtung der Vorliebe männlicher Lehrlinge und junger Facharbeiter für Heavy Metal im Gegensatz zu dem in der DDR meist studentisch geprägten Publikum der Singer-Songwriter-Bewegung durch das Zentralinstituts für Jugendforschung (ZIJ). Wie zu zeigen sein wird, hatten die vom Arbeitermilieu geprägten Jugendlichen wenig Interesse an politischen Inhalten und Äußerungen, sondern forderten die Teilnahme an einer transnationalen Jugendkultur über den – vom MfS oft als „fanatisch“ bezeichneten – Konsum verschiedener Medien.
Vgl. Bodo Mrozek, Popgeschichte, http://docupedia.de/zg/mrozek\_popgeschichte\_v\_←de\_ (..). Vgl. Danuta Görnandt, Medienkonzepte und populäre Musik in der DDR. Eine analytische Studie zur Konzeption und Wirksamkeit von Programm- und Sendestruktur des Jugendsenders JUGENDRADIO DT in den Jahren –, Dissertation A zur Erlangung des akademischen Grades Dr. Phil., ; Irmgard Steiner/Gerhard Wenzke/Hans Merkens, Informelle Gruppen Jugendlicher in der zweiten Hälfte der er Jahre in der DDR. Forschungsberichte, Interviews (Berichte aus der Arbeit des Instituts für Allgemeine Pädagogik, Abteilung empirische Erziehungswissenschaft der Freien Universität Berlin ), Berlin . Beispielsweise: BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. , , S. .
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Der Fokus der Arbeit liegt also weniger auf der explizit politischen Dimension als auf „zeichenhafte[n] Differenzen“. Zur Analyse des Phänomens Heavy Metal wird auch an den Erkenntnissen der interdisziplinären Metal Studies Anschluss gesucht. Auch weil sich Geschichtswissenschaften bisher nur vereinzelt an ihnen beteiligten, konzentrieren sich diese auf gegenwärtige Erscheinungen, doch erweist sich vor allem die Untersuchungsebene der kulturellen Praxis gegenüber der von Texten für den vorliegenden Gegenstand als sinnvoll. Von einer einheitlichen Großtheorie nehmen die Metal Studies, ebenso wie die Popgeschichte, meist Abstand. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass vom ohnehin nur schwer zu definierenden Begriff Subkultur zu Gunsten des Begriffs Szene Abstand genommen wird, auch wenn bestimmte Elemente klassischer Subkulturtheorien auf Diktaturen, wie die DDR, besser als auf westlich-kapitalistische Gesellschaften zu passen scheinen. Szenen werden dabei als informelle Netzwerke Jugendlicher mit einem gleichzeitig globalen wie einem lokalen Element verstanden, welche den Teilnehmenden bestimmte Formen der Selbststilisierung ermöglichen. Im relevanten Zeitraum, den er Jahren, waren Heavy Metal und die mit ihm verbundenen Szenen von einer Dynamik der fortschreitenden Transgression auf körperlicher, akustischer und diskursiver Ebene geprägt, was sich an der zunehmenden Zahl von immer neuen (Sub-)Genres in diesem Zeitraum beobachten lässt. So wurden auch in der DDR Latex- von Lederhosen verdrängt, seitdem sich in der Mitte der er Jahre Thrash Metal als sehr beliebter Stil etablierte. Die Inspiration für die Kleidung und das Verhalten stammte dabei nicht nur in der Analyse der Sicherheitsorgane, sondern auch in der Erinnerung der Beteiligten in den allermeisten Fällen aus bundesrepublikanischen Medien. Dieser Stil motivierte einen Prozess, der als „Lebenssteigerung“, also der Suche nach immer neuen Sinneserfahrungen und Gefühlen, bezeichnet wurde.
Bodo Mrozek, Subkultur und Cultural Studies. Ein kulturwissenschaftlicher Begriff in zeithistorischer Perspektive, in: Geisthövel/Mrozek, Popgeschichte, Bd. , S. –, hier S. . Vgl. Andy R. Brown u. a., Global metal music and culture. Current directions in metal studies (Routledge studies in popular music), New York/London . Vgl. Sarah Chaker, Schwarzmetall und Todesblei. Über den Umgang mit Musik in den Blackund Death-Metal-Szenen Deutschlands, Berlin . Vgl. Mrozek, Popgeschichte, S. . Vgl. Ronald Hitzler/Arne Niederbacher, Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute (Erlebniswelten ), Wiesbaden . Aufl. . Vgl. Keith Kahn-Harris, Extreme metal. Music and culture on the edge, Oxford/New York . Vgl. Alexa Geisthövel, Lebenssteigerung. Selbstverhältnisse im Pop, in: Geisthövel/Mrozek, Popgeschichte, Bd. , S. –, hier S. .
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Abb. : In den späten er Jahren fanden in der DDR viele Konzerte einheimischer Heavy-MetalGruppen statt. Bei der Verbreitung der überregionalen Termine spielte DT eine wichtige Rolle. Quelle: BStU, Berlin.
Victim of States Power im Staatsradio
Heavy Metal gelangte über die Radiowellen bundesdeutscher und alliierter Radiostationen – von denen viele im Verlauf der er Jahre entsprechende Spezialsendungen ins Programm aufnahmen – erst in die Bundesrepublik und mit Verzögerung in die DDR. Der von der Forschung oftmals nur angenommene authentische – und im Gegensatz zur DDR nicht massenmedial vermittelte – Ursprung im anglo-amerikanischen Raum bleibt schemenhaft. Der Grund dafür liegt in dem in den er und er Jahren noch sehr geringen Interesse der Subkulturforschung an Heavy Metal. Erst spät wurde er in seiner medial vermittelten Form erforscht, wobei ihm aufgrund des erfolgten Prozesses der Kommerzialisierung prompt die Authentizität abgesprochen wurde. Plausibel scheint aber Weinsteins nachträgliche Rekonstruktion des Beginns von Heavy BStU, MfS, BV Halle, KD Hohenmölsen, Nr. , S. ; BStU, MfS, OV „Heavy Metal“, Kyritz .., S. . Vgl. Andy R. Brown, Heavy Metal and Subcultural Theory. A Paradigmatic Case of Neglect?, in: David Muggleton/Rupert Weinzierl, Hg., The post-subcultures reader, Oxford/New York , S. –, hier S. .
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Metal als ein Amalgamierungsprozess der Biker- und Hippiekultur im angloamerikanischen Raum in den späten er Jahren. Ein analoger Vorgang lässt sich in der DDR nicht beobachten, da genaue Äquivalente zu diesen Gruppen fehlen. Michael Rauhut berichtet zwar für die er Jahre über ein Aufgehen eines Teils der DDR-Blues-Szene, die den westlichen Hippies nicht unähnlich war, im Heavy Metal doch erfolgte dieser durch das Einsickern westlicher Trends und deutlich später als im Westen. Als einzelne zusammenhängende Gruppen mit entsprechender Kleidung – Lederjacke, Band-T-Shirt und Eisenbahnermütze – wurden Heavies erst seit vom MfS identifiziert und beobachtet. Insofern stellt sich die Frage nach Authentizität und Ursprünglichkeit von Heavy Metal in der DDR, wenn überhaupt, nur als Frage nach einem zwangsläufig nachgeordneten Zuschreibungsprozess durch Akteure wie Fans, Musiker oder seltener durch Kulturfunktionäre. Stärker vielleicht noch als im Westen waren also die DDR-Jugendkulturen der er Jahre an (westliche) Massenmedien gebunden und ohne sie letztlich nicht denkbar. Wie bei anderen Rock-Genres nahmen vor allem die amerikanischen bzw. britischen Truppenradios AfN (Amercian Forces Network) und BFBS (British Forces Broadcasting Station) einen zentralen Platz im Verbreitungsprozess von Heavy Metal ein, da sie dem Alter der stationierten Soldaten entsprechend auch musikalisch ein junges Publikum adressierten. In der DDR wurden diese Truppenradios, RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor), aber auch öffentlich-rechtliche Rundfunkstationen wie Bayern , SFB I und im geringeren Maße NDR von jugendlichen Hörern mit dem Wunsch nach Heavy Metal gehört. Die späteren
Vgl. Deena Weinstein, Heavy metal. A Cultural Sociology, New York/Toronto ; Brown, , S. . Vgl. Michael Rauhut, Ein Klang – zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland, bis (Studien zur Popularmusik), Bielefeld ; Manfred Stock, Zur Soziologie gegenwärtiger Jugendkulturen in der DDR. Ein theoretisch-konzeptioneller Ansatz und empirische Befunde, Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.), Berlin . BStU, MfS, BV Magdeburg; KD Magdeburg; Nr. , S. . Vgl. Allan Moore, Authenticity as authentication, in: Popular Music, Jg. , , S. –, hier S. . Vgl. Bill Osgerby, Youth Media, London , S. . Vgl. Leonard Schmieding, Leipziger Breakdance-Workshop und Universal Hip Hop Family in Dresden. Jugendkultur zwischen Selbstorganisation und staatlicher Vereinnahmung, in: Ders./Alfons Kenkmann, Hg., Kohte, Kanu, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II. und Wiedervereinigung, Leipzig , S. –, hier S. ; BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. , S. ; BStU, MfS, HA XXII, Nr. /: . DRA, H--/, S. f.
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Szeneschwerpunkte in den südlichen Bezirken und rund um Berlin korrespondieren grob mit dem Empfangsbereich dieser Sender. Insbesondere Tony Jaspers wöchentliche Metal-Sendung auf BFBS war auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges gut bekannt. Entscheidender für einen Wandel der Radiolandschaft als die genannten Sender war aber die Einführung privater Radiostationen in Westdeutschland Mitte der er Jahre. Im Ergebnis veränderten sich die Radioprogramme beider deutschen Staaten grundlegend. Von nun an wurde der Musik im Programm, welches verstärkt auf spezifische jugendliche Gruppen abzielte, mehr Raum gegeben und neue musikalische Trends in Folge der verstärkten Konkurrenzsituation schneller im Radio umgesetzt. Sowohl in der Programmgestaltung als auch in der Vorliebe des Publikums für englischsprachige Musik und den grenzüberschreitenden jugendlichen Szenen, wie Punk oder eben Heavy Metal, kann dabei eine gemeinsame mediale Situation in West- und Ostdeutschland beobachtet werden. Das Jugendradio DT war bei der Anpassung an die Wünsche der Hörerschaft so weitgehend und erfolgreich, dass es unter Jugendlichen hinter RIAS der zweitbeliebteste, in manchen Regionen technisch bedingt gar der beliebteste Sender wurde. Die staatlichen Reaktionen auf die sich auf den Straßen jenseits der Elbe zeigenden Anhänger waren zwiespältig. Das MfS analysierte und verdammte den Zusammenhang zwischen Medien und Szenen, nach dem lange bekannten Wahrnehmungsmuster von PiD (politisch-ideologischer Diversion) zur Verführung der Jugendlichen jenseits der Elbe. Seltener wurde in der DDR in Rückgriff auf die Birmingham School das Entstehen von Punk und Heavy Metal als massenmedial vermittelte Übernahme semiotischer Auseinandersetzungen aus dem kapitalistischen Westen zurückgeführt, denen aufgrund objektiver Begebenheiten DRA, H--/ [Hörerpost vom ..]. Unter http://bfbs-radio.blogspot.de/p/←bfbs-hm-show.html (..) finden sich Sendungsmitschnitte und Musiklaufpläne. Vgl. Heiner Stahl, Willkommen er. Der Sound des Jugendradio DT in der Transformationsphase, in: Uwe Breitenborn u. a., Hg., Medienumbrüche im Rundfunk seit (Jahrbuch Medien und Geschichte ), Köln , S. –, hier S. . Vgl. Manfred Stock, Jugendliche Subkulturen im gesellschaftlichen Transformationsprozeß, in: Hubert Sydow u. a., Hg., Chancen und Risiken im Lebenslauf. Wandel in Ostdeutschland (Schriftenreihe der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. [KSPW]), Berlin , S. –, hier S. . Walter Bartel. Chefredakteur Musik von Jugendradio DT, in: Peter Wicke/Lothar Müller, Hg., Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente (Forschungen zur DDRGeschichte ), Berlin , S. –, hier S. . Vgl. Peter Wurschi, Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum – (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung ), Köln ; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Nr. , S. f.
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jede Grundlage fehle. Unabhängig von der Interpretation folgten Zersetzungsmaßnahmen und Observationen, gepaart mit immer neuen Forderungen nach namentlicher Identifikation der Heavies, der Auflistung ihrer Treffpunkte und dem Ausbau der Zahl informeller Mitarbeiter unter ihnen. Im Gegensatz dazu kam der Rundfunk der DDR den Heavies entgegen und mit einem stärker werdenden Eingehen auf die Wünsche der jugendlichen Hörerschaft und sogar mit der Einrichtung des Jugendradios DT, welches ab elf und ab Dezember Stunden täglich sendete. Im hohen Maße wurde das Radioprogramm – zumindest das des Jugendradios – kaum noch auf Grundlage politisch-ideologischer Entscheidungen gestaltet. Diese ideologische Entleerung des Staatsfunks wurde nicht zuletzt als Folge der Ablösung als Leitmedium durch das Fernsehen in den späten er Jahren möglich. Der Musikablauf erhielt also eine eigene auf die vorwiegend jugendliche Hörerschaft ausgerichtete Dramaturgie und wurde nicht mehr nach feststehenden vorgegebenen Quoten ausgewählt. DT sollte wie ein „Westsender“ klingen. In doppelter Verschiebung erstens auf die BRD und zweitens auf den angloamerikanischen Raum hin konzentrierte sich das Radiopublikum in der DDR schon vor teilweise am westlichen bzw. am globalen Medienmarkt. Die Einstellungen auf die Hörerwünsche im DDR-Rundfunk führten zur Herausbildung einer eigenen Heavy-Metal-Sendung. Die Tendenz Hard bis Heavy (in Folge Tendenz), zunächst auf Stimme der DDR, dann auf DT, war dabei immerhin BStU, MfS, HA XX, Teil von , , S. . Mitunter finden sich in den Quellen direkte Zitate aus jugendsoziologischen und vom CCCS geprägten Arbeiten, vgl. Thomas Heubner, Die Rebellion der Betrogenen. Rocker, Popper, Punks und Hippies – Modewellen und Protest in der westlichen Welt? (Neues Leben konkret ), Berlin . Aufl. ; vgl. BStU, MfS, BV Dresden, Abt. VII, , S. . Vgl. BStU, MfS, BV Schwerin, KD Perleberg , S. . BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. , S. ; vgl. Jens Gieseke, Zeitgeschichtsschreibung und StasiForschung, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber, Hg., Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München , S. –, hier S. –. Wicke/Müller, Rockmusik, S. . Klaus Arnold, Musikbox mit Volkserziehung. Radio in der DDR I, in: Stefan Zahlmann, Hg., Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR, Berlin , S. –, hier S. . DRA, H--/ [Hörerpost aus Bad Salzungen vom ..]. Wicke/Müller, Rockmusik, S. . Vgl. Edward Larkey, Contested Spaces. GDR Rock between Western Influences and Party Controle, in: Ders., Hg., A sound legacy? Music and politics in East Germany (Harry & Helen Gray humanities program series ), Washington (DC) , S. –, hier S. . Vgl. Breitenborn, Bombenhagel, S. . Vergleichende Studien im Ostblock und darüber hinaus scheinen hier lohnend. So spielten etwa in Taiwan amerikanische Soldatenradios ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Heavy Metal, während auch hier das Staatsradio die
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so erfolgreich, dass das West-Berliner Fanzine Iron Pages in der zweiten Hälfte der er Jahre nicht nur Hinweise auf Tony Jasper und seine Metal-Sendung im BVBS druckte, sondern eben auch auf die Tendenz in der DDR. Bei der Untersuchung der Tendenz-Sendung stütze ich mich auf die im Archiv erhaltenen zahlreichen Sendemanuskripte, Musiklaufpläne und Hörerbriefe, da leider keine Tonaufzeichnungen aus der Zeit von vor aufzufinden waren. Die Sendung entwickelte sich aus einer samstäglichen Wunsch- und Grußsendung auf Stimme der DDR. Diese Heavy Stunde machte die zweite Hälfte jener Wunschsendung aus und bot Hardrock- und Heavy-Metal-Sendezeit, bevor sie als eigenständige Sendung ausgekoppelt wurde. Bei der Entscheidung, die Sendung Tendenz zu schaffen, spielte die hohe Schreibdisziplin der Heavies, die einen Großteil der Hörerpost verfassten, eine entscheidende Rolle. Die Hörer der Heavy Stunde bzw. der Tendenz beklagten nämlich konstant die wahrgenommene geringe Berücksichtigung ihrer Lieblingsgenres im Radio. Sowohl DT-Intendantin Marianne Hoebbel als auch Tendenz-Moderator Matthias Hopke hatten seit bereits regelmäßig Kontakt mit aufgebracht schreibenden Heavies gemacht. Beide wussten von der Größe dieser Gruppe und ihrer Abhängigkeit vom Radio. Trotz des von Hopke moderierten und Hoebbel ermöglichten Angebots von mindestens einer Stunde Heavy Metal pro Woche, wurde von Seiten der Hörer der Druck auf den Sender hochgehalten: Dann wurde die Wunschecke in ein Trödeleck umgewandelt. Mehr Oldies aus den er und er Jahren. Das kann den Metalfan nur veranlassen, das Radio auszumachen oder eben andere Sender zu suchen. Aber ihr sagt Euch sicher auch,
Einführung einer Heavy-Metal-Radiosendung beschloss; Vgl. Meng Tze Chu, Qu’est-ce qu’une culture locale? La pratique et l’expression du black metal à Taïwan, in: Volume!, Jg. , , S. –, hier S. . Iron Pages, Jg. , [Iron Pages Verlagsarchiv], S. . Vgl. Breitenborn, Bombenhagel, S. . Vgl. Edward Larkey, Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDRRundfunks (Medien und Kultur ), Berlin ; Steiner/Wenzke/Merkens, Informelle Gruppen, S. ; Hendrik Rosenberg, Akten-Einsicht – Fünf Fragen an Ostmetal-Musiker [Matthias Hopke], in: Eisenblatt, Jg. , , S. –, hier S. . Vgl. Edward Larkey, Das schwere Vergnügen mit der leichten Musik. Popmusik zwischen staatlicher Disziplinierungspolitik und jugendlichem Identitäts- und Genussanspruch, in: Petra Häußer, Hg., Vergnügen in der DDR, Berlin , S. –, hier S. . Vgl. Edward Larkey, „Heute muss ich mal an euch schreiben . . . “. Hörerbriefe an DT- und die Aushandlung kulturpolitischer Legitimation beim DDR-Rundfunk, in: Klaus Arnold/Christoph Classen, Hg., Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin , S. –, hier S. f.
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dass die Zeit ziemlich hart und gewalttätig ist, und solche Musik (fälschlicherweise) aufputscht.
Die Zuschrift spielte auf die zeitweilige Ausgliederung von Heavy Metal aus der Wunsch- und Grußsendung im Zuge der Einführung der dem Hörer bekannten Tendenz an. Er fordert also die Ausweitung der für Heavy Metal reservierten Sendezeit von einer Stunde auf zwei Stunden und versucht außerdem im zweiten Satz sein Genre gegen den Vorwurf des auch in der DDR häufig hergestellten Zusammenhangs zwischen Heavy Metal und Gewalt bzw. unkontrollierter Ekstase zu verteidigen. Bemerkenswert ist die relativ explizite Drohung, auf „andere“, d. h. westliche Sender zu wechseln. Der Westen, immer anwesend als „diskursives Substrat“ , wurde hier also in einem Aushandlungsprozess als Drohmittel eingesetzt. Der junge Hörer nimmt außerdem an, dass er dem Moderator zumindest soweit vertrauen kann, dass keine negativen Konsequenzen aus seiner Drohung erwachsen. Auf kleinstem Level zeigt sich hier also exemplarisch, wie DT dazu gebracht wurde, durch Anpassung auf das Programm westlicher Radiosender zu reagieren. Im Laufe der er Jahre splitterte sich Heavy Metal in verschiedene SubGenres, wie Thrash, Glam und Black auf. Das machte es für Moderator Hopke und den späteren zweiten Moderator Jens Molle schwieriger, das Programm entsprechend zu gestalten, da die Anhänger ihren jeweiligen Stil wenig überraschend als im Radio benachteiligt ansahen und dies in Hörerbriefen mitteilten. Die DRA, H--/ [Hörerpost aus Luckenwalde vom ..]. DRA, H--/ [Hörerpost aus Brandenburg vom ..]; DRA, H--/ [Hörerpost aus Gähsnitz vom ..]. In den (Vor-)Urteilen über Heavy Metal ist dabei eine Kontinuität zu den Vorwürfen der Musik als „afrikanisch“, d. h. transgressiv, über die Maßen rhythmusbetont und körperlich seit der Rockmusik der er und er Jahre festzustellen; vgl. Uta G. Poiger, Jazz, rock and rebels. Cold war politics and American culture in a divided Germany (Studies on the history of society and culture ), Berkeley (Calif.) , S. ; Christian SchmidtRost, Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers (Jazz ), Frankfurt a.M. , S. . Larkey, Rotes Rockradio, S. . Ähnlich DRA, H--/ [Hörerpost aus Havelberg vom ..]. Vgl. Görnandt, Medienkonzepte, S. . Vgl. Dietmar Elflein, Schwermetallanalysen. Die musikalische Sprache des Heavy Metal (Texte zur populären Musik ), Berlin, Bielefeld , S. –. DRA, H--/ [Hörerpost vom ..]; DRA, H--/, S. [undatiert]; DRA, H--/ [Hörerpost aus Karl-Marx-Stadt vom ..]. Dies steht im Gegensatz zu zeitgenössischen Analysen, die Heavy Metal mit dem Spitzensendeplatz am Samstagnachmittag sogar als überrepräsentiert ansahen; vgl. Görnandt, Medienkonzepte, S. f.; Steiner/Wenzke/Merkens, Informelle Gruppen, S. f.
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Qualität neuer Bands wurde in den er Jahren vor allem an ihrem Tempo bemessen: „Besser hieß damals natürlich vor allem härter, lauter, schneller.“ Szeneintern entfaltete sich an den Genregrenzen ein Authentizitätsdiskurs, in dem die Anhänger jeweils anderer, weniger extremer Genres, insbesondere die von Glam-Metal, als „Poser“ bezeichnet wurden. Im Ergebnis stand der Kompromiss, dass die Tendenz in aller Regel mit Deep Purple oder einer anderen er-Jahre-Hardrock-Band eingeleitet wurde und sich im weiteren Verlauf im Härtegrad steigerte, bis sie am Ende mit dem beständig geforderten und in den er Jahren sehr beliebten Thrash-Metal zu Ende geführt wurde. Hopke stellte sich also auf die Wünsche seiner sehr speziellen Hörerschaft ein und hielt deswegen auch seine Wortbeiträge möglichst kurz. Selbst wenn Hopke versuchte, durch „[m]usikalische Länderreisen“ über bestimmte Szenen, beispielsweise Kanada, zu informieren, und so an tradierten Vorstellungen über das Radio als Bildungsinstitution zumindest oberflächlich anschloss, verließ er sich weitgehend darauf, die Musik für sich sprechen zu lassen, was dazu führte, dass diese Sendungen in der Regel positiv aufgenommen wurden. Im Ergebnis bedeutete dies, dass die von der Partei einstmals geforderte ideologisch-politische Rahmung der Titel weitgehend entfiel. Da Schallplatten fast nur über den ungarischen und Westberliner Umweg oder Preise von bis Mark zu bekommen waren, was dem Großteil eines Lehrlingsgehalts entsprach, wurde die Sendung auch als Mitschneideservice verstanden und die Titelansagen klar vom eigentlichen Lied getrennt und, wie erwähnt, kurz gehalten. Die Einstellung auf die Publikumswünsche und die Loslösung von kulturpolitischen Vorgaben ging dabei so weit, dass vereinzelt sogar privat aufgenommene Titel von DDR-Gruppen Hendrik Rosenberg, Death Metal und Schlager? Nicht mit GOLEM!, in: Eisenblatt, Jg. , b, S. –, hier S. . BStU, MfS, BV Suhl, KD Schmalkalden, Nr. , S. ; BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX XX/, Bd. , S. . DRA, H--/ [Hörerpost aus Halle vom ..]; DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]. DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]. Vgl. Moritz Ege, Die Diskothek als moralische Anstalt. Zur „Hebung des Kulturniveaus der Arbeiterjugend“, in: Petra Häußer, Hg., Vergnügen in der DDR, Berlin , S. –, hier S. ; DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]. DRA, H--/ [Hörerpost aus Hoyerswerda vom ..]; DRA, H-/ [Hörerpost aus Magdeburg vom ..]; DRA, H--/ [Hörerpost vom ..]. Vgl. Stock, Jugendliche Subkulturen, S. . DRA, --/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]. Vgl. Görnandt, Medienkonzepte, S. .
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ohne offizielle Einstufung, also ohne staatliche Auftrittserlaubnis, ausgestrahlt wurden. Zwar musste sich auch in früheren Jahrzehnten der DDR-Rundfunk dem Einfluss pop-musikalischer Entwicklungen beugen, doch erreichte der Grad des Aufweichens ideologischer Standpunkte in der er Jahren und in Bezug auf Heavy Metal eine neue Dimension. So fanden unbeanstandet stark doppeldeutige Semantiken in Titeln wie Testaments Over the Wall oder Running Wilds Victim of State’s Power Einzug in den staatlichen Jugendfunk. Im Frühjahr konnte sogar zwei Mal das Lied Bombenhagel der Gelsenkirchener Band Sodom gespielt werden. Der Titel enthält im Mittelteil als Solo eine verballhornte Version der Melodie des Deutschlandliedes. Für die verantwortlichen Moderatoren bzw. den Redakteur ergaben sich aus dem Abspielen letztlich keine weiteren Konsequenzen. Mit der Begründung, dass das Lied auf DT gespielt wurde, gelang es im Gegenteil DDR-Gruppen wie Nobody, das Nachspielen des Liedes gegenüber den Sicherheitsorganen zu verteidigen. Das MfS fragte in Folge über den Umweg der Abteilung Kultur nach der Rechtfertigung der Moderatoren Hopke und Molle, die diese mit dem Verweis auf Jimi Hendrix’ Nachspielen des Liedes Star-Spangled Banner als Antikriegslied lieferten. Dies war nicht der einzige Dienst, den die Moderatoren den Hörern erwiesen. So wurden im knappen Service-Teil der Sendung regelmäßig Konzerte angekündigt. Notwendig war dies aufgrund der unorganisierten Konzert-Situation in der DDR – allein in Berlin registrierte das MfS besorgt die Existenz von Jugendclubs, die nicht von der FDJ geführt wurden – die es den Heavies einerseits ermöglichte, DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]; DRA, G-/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]; Hendrik Rosenberg, Böse Jungs spielen Rock‘n‘Roll [Interview mit Jacky Lehmann], in: Eisenblatt, Jg. , a, S. – , hier S. f. Zur Erosion des Einstufungssystems im Laufe der er Jahre vgl. Florian Lipp, „Keinerlei Textverständlichkeit“ – „Keyboard oft nicht rhythmisch“. Staatliche Einstufungspraxis in der späten DDR am Beispiel von Punk- und New-WaveBands, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv//keinerleitextverstaendlichkeit-keyboard-oft-nicht-rhythmisch (..). Arnold, Musikbox, S. . DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ...] Vgl. Breitenborn, Bombenhagel, S. f. DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..]; DRA, G--/ [Tendenz Hard bis Heavy vom ..], DRA, H--/, S. – [Antwort der Redaktion vom ..]. Vgl. Hendrik Rosenberg, Let‘s Thrash. Thrash Metal in der DDR, in: Eisenblatt, Jg. , , S. –, hier S. . BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, KD Klingenthal , –, S. –. BStU, MfS, BV Berlin, AKG, Nr. , S. . In Cottbus wurden im gleichen Jahr unter unterschiedlicher Führung über Jugendclubs gezählt, BStU, MfS, HA XX; Nr. ; Teil von ,
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schlecht oder gar nicht kontrollierte Konzerte zu besuchen, andererseits aber auch abverlangte, dass sie sich in die Provinz zum jeweiligen Auftrittsort begaben: Am heutigen Samstag [..] spielen BERLUC auf der Freilichtbühne in Weißenfels um ., Merlin in Delitzsch (Dresden) um . Uhr, PHARAOH ebenfalls um . Uhr in Parchim und METALL in Sachsendorf, Beginn: . Uhr. Weiterhin gibt es ein Konzert in Telz um . Uhr mit den Gruppen ROCHUS, PRINZ und MCB sowie ein Konzert der Gruppe HARDHOLZ im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Rock für den Frieden‘, und zwar im Schwimmbad in Bad Salzungen ab . Uhr [Hervorhebungen im Original].
Da die Tendenz samstags um : Uhr übertragen wurde, war es für die Hörer mitunter schwierig, die für den gleichen Tag angesagten Konzerte wahrzunehmen. Gleichzeitig erschwerte es dieser Umstand den Sicherheitsorganen, entsprechend zu reagieren, sodass sich die lokalen Behörden mitunter durch in kleinen Gruppen überraschend in die Provinz reisende Heavies überfordert sahen. Nur die schnelle Verständigung der zuständigen Kreisdienststelle des MfS in den Bezirken, aus denen angereist wurde, und der Polizei machten es möglich, Auftritte zu verhindern. Die Tatsache, dass im Staatsradio also letztlich Veranstaltungen angekündigt wurden, die Mehrarbeit für das MfS bedeuteten, wurde sogar von Erich Mielke selbst registriert: Wesentlich für die Planung von Aktivitäten [von Heavy-Metal-Anhängern] ist das Auftreten bestimmter Musikgruppen, die überwiegend Heavy-Metal-Musik spielen und deren Konzerte durch das Jugendradio DT bereits publiziert werden.
S. ; vgl. Thomas Wilke, Diskotanz im Speisesaal. Zur Institutionalisierung und Normierung einer Unterhaltungsform in der DDR ab , in: Bodo Mrozek u. a., Hg., Popgeschichte, Bd. : Zeithistorische Fallstudien – (Histoire ), , S. –, hier S. . Ein in der DDR lang bekanntes Phänomen, vgl. Rauhut, Ein Klang, S. –. DRA H--/ [Tendenz Hard bis Heavy v. ..]. DRA H--/ [Hörerpost aus Dresden vom ..]; DRA, H--/ [Hörerpost aus Trusetal vom ..]; BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX XX/, Bd. , S. . BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX /, S. f. BStU, MfS, BV Leipzig; KD Leipzig-Stadt; , S. –. BStU, MfS, BV Potsdam, AKG, Nr. , , S. ; vgl. auch BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Nr. , S. .
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Der Entrüstung des Ministers stand der Umstand entgegen, dass viele Jugendclubs und lokale Behörden schon lange durch Pragmatismus bzw. von dem Wunsch nach pekuniärer Planerfüllung – die durch den Besuch trinkfester Heavies wahrscheinlicher wurde – und nicht durch Ideologie motiviert waren. Die Tendenz reizte ihre große Bewegungsfreiheit aus, Grenzen zeigten sich nur bei der auch auf persönlicher Abneigung basierenden Weigerung Hopkes, den Titel Angel of Death der kalifornischen Band Slayer zu spielen, da dieses von Josef Mengele handelt und dem Verzicht auf die regelmäßig geforderte Durchsage von Konzertterminen im Ausland. Letztlich bedingte die Privatisierung des RadioMarktes in der Bundesrepublik und die Empfangbarkeit von Truppenradios in der DDR, dass neben den erfolgreichsten popmusikalischen Entwicklungen auch kleinere Trends, wie Black- oder Death-Metal, ihren Weg über die Oder fanden. Das Ausbleiben einer verbindlichen kulturpolitischen Richtlinie und entsprechend chaotische Verhältnisse ermöglichten Freiräume für Akteure wie Matthias Hopke, die diese, aufgrund von Wünschen einer weitgehend unpolitischen Hörerschaft, mit westlicher Musik füllten. Mit DDR-eigenen Alternativen konnte die SED nicht mehr aufwarten, man hatte auch in produktionstechnischer Hinsicht den Anschluss an moderne Entwicklungen – insbesondere in Bezug auf den DrumSound – endgültig verpasst, sodass heimische Gruppen eindeutig nach ihrem Heimatland klangen und schon dadurch auf Ablehnung stoßen konnten. An der Tendenz lässt sich also im Kleinen das von Larkey beschriebene Eingehen auf die Hörerwünsche und deren Praktiken, wie das Mitschneiden und die Konzertreisen in die Peripherie, gut beobachten. Die Angleichung an westliche Formate ging dabei so weit, dass, wie für den gesamten Sender, eine Rückständigkeit gegenüber westlichen Stationen im Wiedervereinigungsprozess nicht mehr zu beobachten war.
Vgl. Rauhut, Ein Klang, S. . BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX, /, S. ; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abteilung VII, Bearbeitung von Ausschreitungen bei Jugendtanz- und Discoveranstaltungen () , S. –. Vgl. Breitenborn, Bombenhagel, S. . DRA, H--/ [Hörerpost aus Bad Langensalza vom ..]; DRA, H-/ [Hörerpost aus Torgelow-Drögenheide vom ..]. Vgl. Larkey, Contested spaces, S. . Walter Cikan. Chefproduzent Jugendmusik des Rundfunks der DDR, in: Peter Wicke/Lothar Müller, Hg., Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente (Forschungen zur DDR-Geschichte ), Berlin , S. –, hier S. f. Vgl. Stahl, Willkommen er, S. .
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Abb. : Vorstellungen darüber, wie Heavy Metal und Hardrock aussehen, lieferten Zeitschriften aus der Bundesrepublik. Zu sehen hier eine mit BRAVO-Postern verzierten Wand eines KISS-Fans. Quelle: BStU, Berlin.
„Das Informationsblatt an sich“
Die wenigen Berichte, die über Hardrock und Heavy Metal in der DDR offiziell erschienen, fanden sich in den Zeitschriften Melodie & Rhythmus und in Neues Leben. Diese wurden aber von den Heavies aufgrund der geringen Papierqualität selten gekauft bzw. waren sie aufgrund der niedrigen Auflagezahl häufig vergriffen und hinkten in Bezug auf musikalische Trends den westlichen Magazinen hinterher. Beliebt und über Umwege verfügbar waren hingegen Zeitschriften aus der Bundesrepublik: Wir waren fanatische Hard-Rock-Fans. [. . . ] Wir haben uns aber wirklich mit der Musik beschäftigt und einige haben ein unheimliches Wissen drauf. Wir haben alle Artikel aus West-Zeitschriften verschlungen, viel abgeschrieben, haben uns
DRA, H--/ [Hörerpost aus Mühlhausen vom ..]. Vgl. Larkey, Heute muss ich mal, S. .
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Abb. : West-Zeitschriften lieferten also das zur Musik gehörende theoretische Wissen und Fotos der Musiker, nach deren Vorbild sich die DDR-Heavies in einem Grad kleideten, der es Besuchern aus West-Berlin mitunter unmöglich machte, sie von „West-Bangern“ zu unterscheiden. Quelle: BStU, Berlin.
ein Rocklexikon besorgt, Bilder gesammelt. Normale Poster wurden bis zu fünfzig Mark gehandelt. Schallplatten kosten in der Regel hundertzwanzig, besondere hundertfünfzig Mark. Jeder von uns besaß ein Buch, in dem die Gruppen mit ihren Platten, Titeln, Besetzungen usw. aufgeführt, Zeitungsartikel abgeschrieben und Bilder abgemalt waren.
West-Zeitschriften lieferten also das zur Musik gehörende theoretische Wissen und Fotos der Musiker, nach deren Vorbild sich die DDR-Heavies in einem Grad kleideten, der es Besuchern aus West-Berlin mitunter unmöglich machte, sie von „West-Bangern“ zu unterscheiden. Durch das intensive Studium der Artikel in Zeitschriften wie Hurrikan oder Rock-Hard überstieg das angehäufte nichtmusikalische Wissen mitunter gar das musikalische. Besonders begehrt war das O.A., Nordhausen. Nicht nur Doppelkorn, in: Norbert Haase, Hg., VEB Nachwuchs. Jugend in der DDR, Hamburg , S. –, hier S. –. Vgl. o.A., Broiler und Trabant, Hard und Heavy in Post-Berlin Jugendclub Langhansstraße, in: Iron Pages, Jg. , , S. –; BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. , S. f. Vgl. Fricke, Heavy Metal in der DDR-Provinz, S. .
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seit in der Bundesrepublik erscheinende Magazin Metal Hammer, welches Teil des Nukleus für die große westdeutsche Heavy-Metal-Szene wurde. Ein Magazin, das sich an Jugendliche mit einem bestimmten Musikgeschmack richtete, war in den er Jahren weniger eine Neuigkeit, als der im Metal Hammer präsentierte darüber hinausgehende Lebensstil. Er war zu dem vorherrschenden proletarischen Habitus in der DDR zumindest teilkompatibel, da auch der Metal Hammer nicht totales Aussteigertum propagierte, sondern maskuline „blue collar“-Maßstäbe, zu denen die regelmäßige Arbeit gehörte, dominierten. Die Heavies, die sich zu einem großen Teil aus der Arbeiterschaft rekrutierten, waren bemüht, stabile Arbeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten und das Dasein als Heavy weitgehend auf die Freizeit zu beschränken, auch um nicht in das Blickfeld des MfS und der Polizei zu geraten. Sie waren auf äußerliche Anpassung aus, während sie innerlich migrierten. Dies ging so weit, dass „Assis“, also solche, die ohne Arbeit waren, aus Fanclubs und Gruppen aktiv ausgeschlossen wurden. Der Konflikt mit den Sicherheitsorganen entfaltete sich nämlich dort, wo Heavies im Betrieb negativ auffielen. Wer seine Vorlieben auf die Freizeit begrenzte, konnte mit Toleranz rechnen. So fällt insbesondere in den letzten zwei Jahren der DDR das Urteil der Stasi in Bezug auf Heavy Metal oftmals differenziert aus: Es ist zwischen Anhängern der Musikrichtung Heavy Metal, die durch Tragen spezifischer Heavy-Metal-Bekleidung ausschließlich zu derartigen Disco-, Tanz und Konzertveranstaltungen in Erscheinung treten und solchen, die den Heavy Metal als aggressive und asoziale Lebensweise praktizieren, zu unterscheiden.
Abgesehen von dem theoretischen Wissen, wie Discographien, Song-Texten und Interviews, hatten Magazine wie der Metal Hammer gegenüber DDR-Medien
BStU, Mf, BV Frankfurt O., Abt. IX, , S. ; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abteilung XX, Nr. , S. ; BStU, MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, , S. ; BStU, MfS, HA XX, , S. . Vgl. Osgerby, Youth Media, S. . Weinstein, Cultural Sociology, S. . BStU, MfS, BV Dresden, KD Görlitz, Nr. , S. ; BStU, MfS, BV Dresden, KD Löbau, , S. –; BStU, MfS, BV Berlin; Abt. XX; Nr. , S. . Vgl. Wurschi, Rennsteigbeat, S. f.; Ilko-Sascha Kowalczuk, Es gab viele Mauern in der DDR, in: Deutschland-Archiv, H. , http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/←deutschlandarchiv//viele-mauern-in-der-ddr?p=all (..). BStU, MfS, HA XXII, Nr. /, S. ; BStU, MfS, BV Gera, KD Gera , S. ; BStU, MfS, BV Dresden; AKG; Nr. , S. . BStU, MfS, BV Suhl, KD SM , S. .
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den wichtigen Vorzug, dass sie im Rahmen der Berichterstattung über EuropaTourneen auch Konzerttermine in Ungarn oder Polen abdruckten. In diesem Rahmen konnten die Heavies westliche – und darunter auch westdeutsche – Gruppen live erleben, während ihnen Gleiches in der DDR bis zum Ende verwehrt blieb. Da diese Fahrten zwischen und Mark kosteten, war auch hier ein regelmäßiges Einkommen notwendig. Für eine erfolgreiche Reise waren die ostdeutschen Heavies also stark von einer westdeutschen Zeitschrift abhängig, die Termine in Osteuropa abdruckte. Diese Globalisierung im Kleinen wurde auf individueller Ebene fortgesetzt. So suchten DDR-Heavies Briefkontakte in die BRD, um sich über neue Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Auch die Zeitschriften selbst wurden angeschrieben: Vielleicht könnt ihr im Metal Hammer auch Ostblock-Daten veröffentlichen?! Wir würden es sehr danken. Weil ich gerade beim Metal Hammer bin. Er ist nicht nur für Eure Szene, sondern erst recht für uns das Informationsblatt an sich.
Adressen für Brieffreundschaften druckten ebenfalls Zeitschriften wie der Metal Hammer oder Fans der beiden deutschen Staaten trafen sich auf Festivals im sozialistischen Ausland. Diese zogen auch westdeutsche Besucher oder Ausreisende an, da international bekannte Bands wie Kreator, Metallica oder Iron Maiden dort auftraten. Kurios muss der Umstand anmuten, dass MfS-Mitarbeiter die Zeitschriften mitunter selber bezogen, um sie nach Kontaktadressen oder entsprechenden Termin abzusuchen und bisweilen IMs in die „Bruderstaaten“ auf Metal-Festivals schickten. Um das Abfangen der Post zu verhindern, benutzten Heavies die lange bekannte Technik von nichtexistenten Deckadressen. Zwischen den Absendern und den intendierten Empfängern verwiesen diese auf ein gemeinsames Vokabular; während das MfS irritiert Adressen wie „Horror Way (Schreckensweg)“, „Sodom “, „Mad Butcher“, „Tom G. Warrior“, „The Vollstrecker“ und „The Executioner“ registrierte.
BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, , Bd. , , S. . BStU, MfS, BV Halle; KD Weißenfels, , S. . BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX XX/, Bd. , S. ; vgl. BStU, MfS, BV Suhl, S. –. Vgl. Kahn-Harris, Extreme metal, S. . BStU, MfS, BV Halle, KD Weißenfels; , S. ; BStU, MfS, BV Suhl Abt. XX XX/, Bd. , S. . BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, KD Annaberg, , Bd. , –, S. . BStU, MfS, BV Dresden, KD Görlitz, Nr. (–), S. –. BStU, BV Suhl Abt. XX XX/ Bd. , S. –.
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Die Kontakte in die Bundesrepublik waren dabei für einige Heavy-Metal-Fans notwendig, um aktiv an der Szene teilzunehmen. Über Tauschprozesse gelangten beispielweise Poster in die DDR, die dort weiterverkauft und -getauscht wurden. Insbesondere für DDR-Bands war Geld ein wichtiger Faktor, da die notwendigen Instrumente und die Anlage bei Auftritten selbst gestellt werden mussten und extrem kostspielig waren. So schrieb ein Mitglied einer sächsischen Band im Februar an einen Briefkontakt in der Bundesrepublik: Noch mal kurz zu unserem finanziellen Problem. Du könntest vielleicht helfen. Aber bitte sei nicht gleich wütend. Und zwar indem Du mir Poster über sämtliche Heavy, Thrash, Black, Speed und Hardcoregruppen schickst. Die könnte ich hier für ein paar Mark verkaufen. [...] Aber bitte sei mir jetzt nicht böse oder so. [..] Ich hoffe das macht nichts kaputt über unsere Briefverbindung.
Poster wurden mit bis zu Mark sehr hoch gehandelt und stellten damit potenziell eine substanzielle zusätzliche Einnahmequelle für Heavies mit Westkontakten dar. Diese konnten allerdings nichts vergleichbar Begehrtes anbieten, sodass die Tauschbeziehungen zwischen Heavies aus der Bundesrepublik und der DDR asymmetrisch ausfielen. Der finanzielle Aspekt scheint für die Teilnehmer dieser Netzwerke aber nur in Ausnahmefällen eine Rolle gespielt zu haben. Häufiger verbreitet war es, Poster und Zeitschriften in der DDR als Tauschmaterial einzusetzen bzw. die Zeitschriften Freunden zeitweise zur Verfügung zu stellen. In Abwesenheit eigener Publikationen, wie Zines oder Samisdate, war die HeavyMetal-Szene der DDR auf Zeitschriften wie den Metal Hammer angewiesen. Letztlich waren diese Zeitschriften selbst Produkte transnationaler Prozesse, die in den er Jahren zu einer großen westdeutschen Szene, vor allem rund um das Ruhrgebiet, führten. Sie waren aufgrund ihrer Genre-Spezifik für Jugendliche relevant und unterlegten die Musik mit einer entsprechenden Ikonografie und lieferten so über die Musik hinausgehende Informationen. Durch die Bekanntgabe von Terminen und die Vermittlung von Briefkontakten ermöglichten sie das BStU, MfS, BV Halle, KD Weißenfels, , S. . BStU, MfS, HA XXII, Nr. /, S. ; BStU, BV Halle, KD Weißenfels; , S. ; BStU, MfS, BV Halle, KD Weißenfels, Nr. , .., S. . Vgl. Steiner/Wenzke/Merkens, Informelle Gruppen, S. ; BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX , S. ; BStU, MfS, HA XX, , S. . Im Gegensatz dazu etwa: BStU, MfS, HA XXII, Nr. /, S. . Einzige Ausnahme bildete wohl das Fanzine Loud’n’Proud, welches in zwei oder drei Ausgaben in Rostock erschien. Vgl. Elflein, Restless and Wild, S. ; Kahn-Harris, Extreme metal, S. f.
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Aufschließen zur Szene in der Bundesrepublik und damit die Teilnahme an einer sich global formierenden Metal-Szene. Sie druckten außerdem die Namen und Titel neuer Bands, die dann im Radio gewünscht bzw. gefordert werden konnten, und beeinflussten so indirekt das DDR-Radio.
Tonträger, Kassetten, Vinyl
Sowohl in der DDR als auch in heutigen Szenen wurde die zentrale Stellung von Tonträgern für Heavy-Metal-Fans beobachtet und dabei übereinstimmend als Form „subkulturellen“ Kapitals beschrieben. Für die Heavies in der DDR existierten hauptsächlich drei verschiedene Strategien zum Erwerb von Tonträgern, die zum Teil miteinander verknüpft waren. Erstens wurden, wie bereits erwähnt, (Import-)Platten aus dem sozialistischen und nichtsozialistischen Ausland zu oftmals hohen Preisen erworben. Für diejenigen, die es sich leisten konnten, waren Reisen in das relativ liberale Ungarn – allein in Budapest existierten Ende der er Jahre über private Plattenläden – zentral. Im Idealfall, wenn die oben erwähnten Printmedien korrekt über Termine informierten, wurden diese Reisen mit dem Besuch von Konzerten westlicher Gruppen oder dem Kauf von T-Shirts und Aufnähern kombiniert. Andererseits waren Bekanntschaften in der Bundesrepublik auch hier von Bedeutung. So antwortete ein junger Ilmenauer einem westdeutschen Fanclub auf eine Anzeige im Metal Hammer : Leider ist [in der DDR], insbesondere Plattensammeln und Konzerte besuchen, alles ein bis[s]chen komplizierter als bei Euch. Denn Original-LP’s bekommen wir nur in Ungarn zu kaufen oder lassen sie uns von Verwandten oder Bekannten von Euch mitbringen. Und das ist, wenn man das Tauschverhältnis sieht, nicht billig.
Der Brief verweist erneut auf die ungleichen Tauschbeziehungen und die hohen Preise für Schallplatten in der DDR. Interessant ist außerdem, dass „Original-LP’s“
BStU, MfS, BV Halle, KD Weißenfels, , S. . Stock/Mühlenberg, Szene, S. . Timothy W. Ryback, Rock around the bloc. A history of rock music in Eastern Europe and the Soviet Union, New York , S. . BStU, MfS, BV Dresden, Abt. XIX, Nr. , S. ; BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abteilung XX, Nr. , S. . BStU, MfS, BV Suhl Abt., XX XX/, BD. , S. .
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gesucht wurden. Der Verfasser gab sich also nicht mit Nachpressungen aus dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet oder von DDR-Gruppen zufrieden. Dabei – und hierin besteht die zweite Möglichkeit zur Beschaffung von Tonträgern – buhlte die staatliche AMIGA durchaus mit vereinzelten Veröffentlichungen um die Gunst der DDR-Heavies. Das für die populäre Musik zuständige Label hielt sich zwar mit Nachpressungen westlicher Heavy-Metal-Platten weitgehend zurück, obwohl in den er Jahren eine Öffnung für Gruppen wie Queen und sogar die westdeutschen Scorpions verzeichnet werden konnte, doch wurde die LP Highway to Hell der australischen Gruppe AC/DC über AMIGA veröffentlicht. Nur zwei Jahre nach dem Erscheinen im Westen und damit relativ zeitnah kann es damit als erstes in der DDR erschienenes Heavy-Metal-Album gelten und war daher für viele Heavies Teil der musikalischen Sozialisation, was die bis heute anhaltende Popularität der Band in den neuen Bundesländern miterklären könnte. Im Laufe der er Jahre kam es dann zu einer Reihe von Veröffentlichungen von DDR-Gruppen, wie Biest, MCB und vor allem Formel , die das erste und einzige komplette ostdeutsche Heavy-Metal-Album veröffentlichen konnten. Anders als bei Verwertungsketten von Musik in kapitalistischen Ländern standen Schallplatten dabei allerdings nicht am Anfang, sondern am Ende des Prozesses. Idealtypisch standen nach dem Erwerb der Spielerlaubnis die in der Zahl notwendigen Auftritte von Rock-Gruppen in offiziell und nichtoffiziell geführten Jugendclubs. Danach konnte, wenn es Kontakt zu Gate-Keepern wie Lutz Schramm oder Matthias Hopke gab, auf eine Ausstrahlung im Rundfunk gehofft werden. Dort wurden dann aber nicht live eingespielte Versionen, sondern eigene, in privaten oder in den Studios des Rundfunks aufgenommene Titel ausgestrahlt. Wer im weiteren Verlauf bei Wertungssendungen erfolgreich war, konnte auf eine Vinylpressung hoffen. Im Laufe der er Jahre entwickelte sich so, nicht nur für Hardrock und Heavy Metal, eine real-sozialistische Variante eines „Marktmechanismus“. Dieser konnte der Nachfrage schon aufgrund der BStU, MfS, BV Halle, KD Weißenfels, , S. ; BStU, MfS, BV Magdeburg Abt. XX, Nr. , S. ; vgl. Michael Reibetanz, Jugendsubkultur in der DDR. Eine qualitative Untersuchung zu Anhängern der Musikrichtung Heavy Metal, Magisterarbeit, Leipzig , S. f. Formel , LP, Live im Stahlwerk, AMIGA, ; Biest, EP, Crash Trash, AMIGA, . Vgl. Elflein, Schwermetallanalysen, S. . Vgl. Wicke, Rockmusik, S. . Vgl. Hendrik Rosenberg, Geniale Musik in schlechten Zeiten [Interview mit Thomas Schwalowsky von DEFCON], in: Eisenblatt, Jg. , , S. –, hier S. . Vgl. Larkey, Contested Spaces, S. f. Die führt im Ergebnis dazu, dass es heute schwerer ist, an die recht zahlreichen Heavy-Metal-Rundfunkproduktionen als an die eigentlich selteneren AMIGA-Veröffentlichungen zu kommen.
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geringen Zahl der Produktionsstudios und der damit verbundenen Kosten für die Bands allerdings nicht mehr gerecht werden. In der zumindest dem Anspruch der Partei nach vollpolitisierten DDR-Gesellschaft und im Zusammenspiel mit den oben beschriebenen Prozessen der musikalischen Radikalisierung wurden dann oft genau jene Bands höher geschätzt, die sich diesem Mechanismus nicht unterwarfen. So gibt ein DDR-Heavy dem westdeutschen Metal Hammer als Antwort auf die Rezension zu einer Split-Veröffentlichung von AMIGA folgende Szeneauskunft: Doch nun zur Szene [in der DDR]. Wie Du schon schreibst sind die Untergrund-, also die Amateur-Bands bei uns beliebter unter den Heavy-Freaks als die ProfiBands wie Cobra, Plattform oder gar Puhdys und Karat. Zwei Kriterien spielen bei den Amateur-Bands eine große Rolle, zum einen was sie von den Top-Bands, die man bei uns leider nie sehen wird, nachspielen (ob Speed, Trash[sic!], NWOBHM, Hardcore, Black, Doom oder Hardrock-Richtung). Und zum anderen wie sie es interpretieren (Stimme des Sängers, die techn[ischen] Fertigkeiten der Musiker usw.).
Das Zitat verweist, neben der schon im Eingangszitat belegten Abneigung für bestimmte Star-Gruppen der DDR, auf den Umstand, dass ein Großteil der LiveRepertoires von DDR-Gruppen aus Covern westlicher Künstler bestand und dass eben die „Untergrund“-Bands beliebter waren als die Profis, die am ehesten auf Vinylveröffentlichungen hoffen konnten. In Ermangelung der Möglichkeit, diese Untergrund-Gruppen-Musik über AMIGA zu veröffentlichen, wurden selbstaufgenommene und kopierte Kassetten zum zentralen Verbreitungsmittel und damit zur dritten Möglichkeit der Musikbeschaffung. Kassetten konnten, da sie erst käuflich erworben werden mussten, einem DIY-Ethos nicht vollständig entsprechen. Allerdings eröffneten sie den Benutzern durch Beschriftung, Aufnahme und Neuzusammenstellung Möglichkeiten, selbst kreativ zu produzieren. In der späten DDR waren daher Prozent der sich im Umlauf befindlichen Kassetten privat bespielt. Für die Heavies war die Möglich
Vgl. Kowalczuk, Viele Mauern, S. . Plattform, MCB, Cobra [Kleeblatt Nr. ], LP, Tendenz Hard bis Heavy, AMIGA, . BStU, MfS, BV Suhl Abt. XX XX/, Bd. , S. . Vgl. Rosenberg, Böse Jungs, S. f. Vgl. Ronald Galenza, Daten-Dandys und Tape-Träger, in: Alexander Pehlemann/Ders., Hg., Spannung. Leistung. Widerstand, o.O o.J., S. –, hier S. f. Vgl. Holm Felber, Gebrauch populärer Musik durch Jugendliche der DDR. Theoretische und empirische Aspekte eines Massenphänomens, Dissertation A, Berlin .
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keit, Aufnahmen auf privater Ebene zu vervielfältigen und Kopien untereinander zu tauschen, bei der Verbreitung ihres Genres enorm wichtig. Die wenigen Kopien bzw. Aufnahmen westlicher Gruppen, die es in die DDR schafften, zirkulierten auf diese Weise – auch wenn bei jedem Kopiervorgang ein Qualitätsverlust eintrat und so mitunter Aufnahmen in der „hundertsten Generation“ gehört wurden. In Bezug auf Heavy Metal nahm die DDR-Szene hier keine Sonderrolle ein; auch in West-Deutschland waren Kassetten und Kassettentauschringe relevant. Die Flussrichtung war dabei in den meisten Fällen von West nach Ost, auch wenn es Ausnahmen gab: Um auf die auch aus dem ,imperialistischen Ausland‘ kommenden Fan-Anfragen zu reagieren, haben [Defcon] dann einige Titel zusammengefasst und als Demo ,Made in GDR‘ veröffentlicht. Da wir keine Tapes hatten, ließen wir die Fans uns ihre Tapes zuschicken. Wir bespielten diese dann im Studio und dazu gab’s ein Cover.
Im Zitat wird ein Mangel an Kassetten erwähnt, der damit zu erklären ist, dass diese nur zu relativ hohen Preisen erworben werden konnten. Tauschbeziehungen dieser Art spielten in der sich verflechtenden Metal-Szene der er Jahre nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine wichtige Rolle. Sie ermöglichten in hoher Geschwindigkeit und unter der Schwelle von Label-Veröffentlichungen auf leichten und billigen Kassetten die Verbreitung der neuesten und tendenziell härtesten Gruppen und Genres. Obwohl der legale Verkauf von Kassetten in der DDR nicht zuletzt ein Eingeständnis an die Tatsache war, dass das staatliche Kulturprogramm nicht alle Bedürfnisse der Jugendlichen befriedigen konnte, ermöglichten sie die Teilhabe an westlichen Trends. Kassetten umschifften in handlicher Form das staatliche Medienmonopol und sind gute Beispiele dafür, wie Medien menschliches Verhalten beeinflussen. Sie erklären, warum DT teilweise als Mitschneide-Service
Rosenberg, Death Metal, S. . Vgl. Christian Krumm, „Auf einmal ist es explodiert“. Die Entstehung der Metal-Szene im Ruhrgebiet, in: Rolf F. Nohr, Hg., Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt (Medien‘Welten ), Münster , S. –, hier S. . Rosenberg, Akten-Einsicht, S. . Thomas Bey William Bailey, Unofficial release. Self-released and handmade audio in postindustrial society, o.O. . Vgl. Weinstein, Cultural Sociology, S. –. Bailey, Unofficial release, S. .
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fungierte, die Sprechweise des Radiomoderators und die Struktur von Tauschbeziehungen, in denen die, die am nächsten an der Quelle zu Original-LPs waren, zentral wurden. Für das MfS waren diese Knotenpunkte dann mitunter von besonderer Relevanz: „Ist ein Kontakt aufgebaut, versucht der jeweilige HeavyMetal-Fan, diesen gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern zu konspirieren, um seine ,Quelle‘ zu schützen.“ Zum Herstellen dieser Kontakte und des Bezuges von West-Platten waren wiederum, wie erwähnt, Zeitschriften aus dem Westen nötig. Das Mitschneiden und Überspielen von Kassetten wurde von der zeitgenössischen Forschung als wesentliche gemeinsame Aktivität der Heavy-Metal-Szene aufgefasst. Die Heavies verzichteten aber nicht darauf, außerhalb des Privaten aufzutreten. Bei „Jugendtanzveranstaltungen“ traten sie häufig in typischer Ledermontur in Erscheinung und versuchten, in Konkurrenz zu anderen Gruppen ihre Musik in der Öffentlichkeit durchzusetzen: So kam es zum Beispiel am .. während einer Diskoveranstaltung in Neustadt zu einer Schlägerei zwischen Heavy-Metal-Anhänger und der eingesetzten Ordnungsgruppe. Ausgangspunkt der Schlägerei war die Weigerung des Diskomoderators, bestimmte Heavy-Metal-Titel mehrmals zu spielen.
Vorfälle dieser Art waren kein Einzelfall. An ihnen lässt sich beispielhaft zeigen, welche Möglichkeit zur Unterwanderung des Medienmonopols sich durch die handlichen Tonträger ergaben und wie zentral Musik – öffentlich und laut gespielt – für die Heavies war.
Fazit
Westliche Magazine, Labels und das Radio pumpten zwar das Blut in die Venen der Szene, doch wäre diese ohne Zusammenarbeit und Kontakt in der DDR nicht möglich gewesen. Das massenhafte Briefeschreiben übte Druck auf DT aus, Heavy Metal (noch) mehr Gewicht zu geben, Brieffreundschaften ermöglichten das Ausborgen und Abschreiben von Informationen von Zeitschriften wie dem
BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX , S. . BStU, MfS, HA XXII, Nr. /, S. . Vgl. Steiner/Wenzke/Merkens, Informelle Gruppen, S. ; BStU, MfS, HA XX, , S. . BStU, MfS, HA XX, , S. . BStU, MfS, HA XXII, Nr. /, S. ; BStU, MfS BV Cottbus, AKG , S. .
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Metal Hammer. Plattentauschringe verbreiteten mithilfe von Kassetten Kopien weniger originaler LPs im ganzen Land und das gemeinsame Überspielen und Vervielfältigen von Musik waren die häufigsten Aktivitäten. Nach dem Fall der Mauer stürmten Ost-Berliner Heavy-Metal-Fans die Plattenläden West-Berlins und kauften die langersehnten LPs von Metallica und AC/DC nun einfach selbst. Von jetzt an war es möglich, auch als Einzelner Heavy zu sein: Also, ich gloobe, es wird keen jeben, der lange bei ist, der sagt, dass et heute [] viel besser ist, mit der Kameradschaft und so, als früher. Heute kommt man zwar an Platten, man jeht in’n Laden und kooft sich die und Zeitschriften und so, aber ... Ach so, det kann vielleicht mit’n Grund sein: Jetzt kann jeder selber seine Zeitschrift koofen und seine Platten. Früher war man eben druff anjewiesen, mit anderen zu kontaktieren, um mal an Sachen ranzukommen ... Man kann jetzt janz alleene ‘n Heavy-Metal-Fan sein, man braucht überhaupt keen kennen. [...] Kaum ist dieser Konsum da, schon löst sich praktisch die Kameradschaft uff.
Aber selbst die Plattensammlung scheint bei leichter Verfügbarkeit an Wichtigkeit verloren zu haben. So bemerkte ein Übersiedler bereits vor dem Fall der Mauer: Hier im Westen ist alles ganz anders als in der DDR, das ist ja klar, aber es verschieben sich auch die Interessen total. Plattensammeln ist bei mir in den Hintergrund getreten, ich hab’ im Moment einfach keinen Bock drauf.
Massenmedien ließen die Heavy-Metal-Szene östlich der Elbe entstehen. Die Praktiken, die diese herausbildete, waren letztlich darauf ausgerichtet, die Mangelsituation in der DDR auszugleichen; sie waren daher aufs Engste mit dem selbsterklärten Arbeiter- und Bauernstaat verknüpft. Da die Heavies direkt und indirekt bereits vor Teil des westdeutschen Medienmarktes waren, fanden sie sich nach dem Ende des Kalten Krieges schnell in westdeutschen Kauf- und Konzerthäusern zurecht. Anders als die DDR-Punks hatten sie keine eigenen Samisdate oder Fanzines publiziert, sondern waren stark auf die Bundesrepublik ausgerichtet und so kam es nach wohl zu einer Atomisierung, die – wie beschrieben – vielfach als Kollaps wahrgenommen wurde. Die Abwesenheit von
Vgl. Weinstein, Cultural Sociology, S. . Stock/Mühlenberg, Szene, S. . BStU, MfS, BV Suhl, KD Schmalkalden, Nr. , S. .
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schriftlichen Quellen kann das Fehlen der Heavies im Wiedervereinigungsnarrativ miterklären. Ihnen fehlte außerdem der zumindest oberflächlich politische Anspruch der Punks, auch wenn ihre kulturellen Praktiken unabsichtlich mit den ubiquitären Regeln des SED-Staats in Konflikt gerieten. Hinzu kommt, dass die Akteure lange – erneut im Gegensatz zu den DDRPunks – auf die Formierung von Erinnerungsgemeinschaften verzichtet hatten. Erst in den späten er Jahren fanden sich die Heavy-Metal-Anhänger zusammen und Jahre nach dem Ende der DDR erschien nun das erste dezidiert ostdeutsche Heavy-Metal-Fanzine Eisenblatt. Es bleibt durch Untersuchungen im Transformationszeitraum zu überprüfen, ob die auch dort repräsentierte Niedergangserzählung auf der Klaviatur bekannter pophistorischer Erinnerungen über den Verlust von Ursprünglichkeit und Intensität spielt, oder ob sich die ost- der westdeutschen Szene nur radikal anglich.
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Zusammenfassungen und Abstracts Stefan Rindlisbacher Zusammenfassung: Um rückten die Jugendlichen zunehmend in den Fokus der Medien, Politik und Erziehung. Während der Staat, die Kirche und die Parteien über die Jugend als Gefahr, Potential oder Verheißung diskutierten, begannen auch die Jugendlichen über sich selbst als abgrenzbare soziale Gruppe nachzudenken. In den Periodika des deutschen und schweizerischen Wandervogels konnten sie sich erstmals über ihre Freizeiterlebnisse austauschen. In unzähligen Reiseberichten verdichtete sich das gemeinsame Wandern, Kochen, Singen und Tanzen zu einer wiedererkennbaren Jugendkultur. Es ging aber auch um neue Erziehungsmodelle, die Forderung nach mehr Selbstständigkeit und alltägliche Lebensstilfragen. Der vorliegende Artikel behandelt vor allem die Kontroverse um die Alkoholabstinenz und die Debatten über lebensreformerische Körper-, Ernährungs- und Gesundheitspraktiken. Diese Auseinandersetzungen trieben nicht nur die Ausdifferenzierung der bürgerlichen Jugendbewegung voran, sie verweisen auch auf den Wandel der Jugendphase und der jugendlichen Lebenswelten im Kontext der soziokulturellen Transformationsprozesse des frühen . Jahrhunderts. In den er Jahren waren die Wandervogelzeitschriften vor allem Vereins- und Informationsorgane für Mitglieder und Unterstützer der Bewegung. Zeitschriften wie Der Vortrupp oder Junge Menschen sprachen durch die Verschränkung mit der Lebensreform ein immer weiteres Spektrum an jugendlichen Lesern und Leserinnen an. Mit der Tao-Zeitschrift erschien in den er Jahren ein transnationales Lifestyle-Magazin für die wachsende Gruppe junger Erwachsener zwischen und , die sich weiterhin mit der Jugendbewegung verbunden fühlten. Abstract: At about the youth became a controversial topic in the media,
politics and education. While the state, the Church, and the political parties discussed the youth as a danger, potential, or promise, the young people also began to recognize themselves as a social group. In the periodicals of the German and Swiss Wandervogel they were able to exchange their leisure experiences for the first time. In countless travel reports hiking, cooking, singing and dancing developed into a recognizable youth culture. They also discussed new education models and their demand for more independence concerning problems of everyday
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life. This article focuses on the controversy over alcohol abstinence and the debates on the physical, nutritional and health practices of the life-reform (Lebensreform). These disputes not only shaped the development of the Youth Movement, they also point out to the transformation of the youth in the context of the sociocultural transformation process of the early th century. In the s the Wandervogel magazines allowed for an exchange between the members and supporters of the movement. Later, by way of life-reform topics, periodicals like Der Vortrupp or Junge Menschen attracted new groups of readers. In the s, the Tao magazine appeared as a transnational lifestyle magazine that addressed the growing group of young adults between and who still felt connected to the Youth Movement.
Julia Gül Erdogan Zusammenfassung: In den er Jahren zog mit den Computern ein neues
Medium in die Haushalte der Bundesrepublik und der DDR ein. Vor allem männliche Jugendliche verbrachten zunehmend ihre Freizeit am Computer, wobei sich neben den Spielern in erster Linie die Hacker als neue Jugendkultur herausbildeten. Letzteren genügte es nicht, nur am Rechner zu spielen oder daran Arbeiten zu erledigen. Sie verfolgten einen ganz eigensinnigen Umgang mit Rechnern, durch den sie Anwendungszuschreibungen hinterfragten. Mit den Grenzen und Möglichkeiten der Computernutzung mussten sie sich allerdings auch in Bezug auf ihr eigenes Handeln auseinandersetzen, das zwischen Spaß und Ernst changierte. Der Beitrag widmet sich der Frage, wie sich diese Jugendlichen den Computer im Spannungsfeld von Konsumkultur, Rationalisierung und politischem Aktivismus aneigneten. Dabei spielt ein gewisser Generationenkonflikt eine wichtige Rolle, der hier herausgestellt werden soll. Der Vergleich der beiden deutschen Teilstaaten verdeutlicht, dass sich systemübergreifend ähnliche kulturelle Praktiken an den Computern herausbildeten, die über diese Jugendkulturen hinaus in die Gesellschaft wirkten. Abstract: In the s computers found their way into the homes of the Federal
German Republic and of the German Democratic Republic. Especially male teenagers were increasingly spending their leisure time at the computer, and gamers and hackers emerged as a new youth culture. For hackers it was not enough to play on the computer or to work with it. Their specific practices of using the computer questioned the ways in which the new medium was supposed to be used. They had to scrutinize not only the limitations and possibilities of
Zusammenfassungen und Abstracts
computer use, they also had to deal with their own activities, which oscillated between fun and seriousness. The paper examines this youth culture between the poles of consumerism, rationalization and political activism. A certain generational conflict will be pointed out to that plays an important role in this context. By comparing the two German states, it will be shown that similar practices developed on the computers across different systems, having an impact on society beyond these youth cultures.
Friederike Höhn Zusammenfassung: Die Gründung der Bundeswehr und die Einführung
einer allgemeinen Wehrpflicht waren hochumstritten und Inhalt jahrelanger Diskussionen in Parteien, Presse und Vereinigungen wie Kirchen und Gewerkschaften. Betroffen davon war vor allem die (männliche) Jugend, war sie doch die, deren Lebensplanung durch den Wehrdienst einen nicht unwichtigen Einschnitt erfahren sollte. Anhand zweier Beispiele aus den Jugendmedien der katholischen und evangelischen Kirche, der Wacht und der Jungen Stimme, zeigt dieser Beitrag, wie das Thema Wiederbewaffnung den Jugendlichen vermittelt wurde und untersucht, welche Meinungen sich innerhalb der Leserschaft und der Redaktionen herausbildeten, welche Kontroversen und Diskussionen sich hierzu entwickelten und stellt diese in Zusammenhang mit der politischen und gesellschaftlichen Debatte. In der Analyse wird deutlich, dass sich in der Diskussion eigene Schwerpunkte herausbildeten, die in der gesamtgesellschaftlichen Debatte weniger präsent waren. Insbesondere der Schutz der persönlichen Freiheit vor staatlichem Eingriff auf die individuelle Lebensgestaltung und das Gebot der Nächstenliebe prägten die Argumente der jugendlichen Leserinnen und Leser. Gleichzeitig ist erkennbar, dass die Redaktionen von Wacht und Junger Stimme sehr unterschiedliche Kommunikationsstrategien mit ihrer jeweiligen Leserschaft verfolgten. Abstract: The founding of the Bundeswehr in and the introduction of a
compulsory military service in were highly controversial and for years the topic of discussions at parties, in the press and among associations such as Churches and trade unions. Affected was, above all, the (male) youth: They were those whose life planning was considerably affected by military service. On the basis of two examples from the youth media of the Catholic and the Protestant Church, Wacht (Watch) and Junge Stimme (Young Voice), this article shows how the issue of rearmament was conveyed to the young people. It examines the development
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of opinions and controversies and the correlation with the general debate. The analysis shows that the focus of the discussion was on specific topics that were less prominent in the overall debate. In particular, the protection of personal freedom against state intervention in the individual way of life and the commandment of charity shaped the arguments of the young readers. At the same time, as can be demonstrated, the editorial teams of Wacht and Junge Stimme were pursuing very different communication strategies concerning their respective readers.
Christoph Hilgert Zusammenfassung: Der Beitrag betrachtet die Entwicklung jugendorientier-
ter Hörfunkangebote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Westdeutschlands nach , insbesondere in den er und frühen er Jahren: zum einen die Wortprogramme des Jugendfunks, zum anderen jugendorientierte Populärmusikprogramme. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der alltäglichen Bedeutung des Hörfunks für jugendliche Hörerinnen und Hörer. Grundsätzlich wurde das Radio als vielseitiges Informations- und Unterhaltungsmedium geschätzt. Zugleich war der junge Hörer für viele Redakteure und Programmplaner lange Zeit ein unbekanntes Wesen. Sprach etwa der Jugendfunk nach zunächst vor allem über Jugendliche oder volkspädagogisch zu ihnen, orientierte er sich in den er Jahren stärker an jugendlichen Hörerwartungen, weil er sich mit ihnen auch unterhielt. Internationale Populärmusik, die in den er Jahren an jugendkultureller Bedeutung gewann, fand in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Anstalten hingegen wenig Berücksichtigung. Der asymmetrische Wettbewerb um (junge) Hörer mit außerhalb des bundesdeutschen Rundfunksystems stehenden Programmen, vor allem dem American Forces Network und British Forces Network oder Radio Luxemburg, beförderte allerdings in Nischen der öffentlich-rechtlichen U-Musik-Programme zukunftsweisende Innovationen. Der Umgang des Hörfunks mit jugendlichen Hörern ist daher als eine Geschichte des Kennen- und Dazulernens zu charakterisieren. Abstract: This paper explores the development of youth-oriented radio program-
mes offered by public service broadcasting corporations in West Germany after , especially in the s and early s. Here both the specialist talk programmes of the Jugendfunk and youth-oriented pop music programmes are of particular interest. The focus is on the everyday significance of radio for young listeners. In general, this medium was appreciated as a versatile information and entertainment
Zusammenfassungen und Abstracts
medium. However, for a long time the young listener was an unknown being for many editors and programme planners. While the early Jugendfunk after first of all spoke educationally to or about young people, in the s it also began to talk with them and hence addressed their listening expectations much better than before. With regard to international pop music, which gained cultural significance for young people in the course of the s, West Germany’s public service radio was lagging behind with its programme offers. At the same time, the asymmetrical competition for listeners, fought especially with programmes operating from beyond the federal broadcasting system, like the American Forces Network, the British Forces Network or Radio Luxemburg, promoted future-oriented innovations in niches of the public service entertaining music programmes. Hence, the treatment of young listeners by radio editors is to be characterized as a history of becoming familiar with each other and as a learning process.
Michael Kuhlmann Zusammenfassung: Das reformfreundliche Klima der sechziger Jahre ebnete
in den Radioprogrammen der ARD neuen Jugendsendungen den Weg, die zeitlich umfangreich waren wie nie und die zugleich inhaltlich Neuland betraten. Sie betrachteten das Jugendalter nicht mehr als Scharnier zwischen Kindheit und Erwachsensein, sondern als vollwertige Lebensphase. Deshalb widmeten sie sich Themen, die Jugendlichen notorisch auf den Nägeln brannten – und sie ließen ihre Zielgruppe im neuen Stilmittel des Originaltons zu Wort kommen. Damit provozierten sie unter konservativen Jugendlichen, vor allem aber in der Erwachsenengeneration massive Kritik: Presse und Politik schossen sich bald ein auf die aufmüpfigen Sendungen; in den Aufsichtsgremien der ARD-Sender breitete sich massiver Unmut aus, der seine Wirkung bei Intendanten, Direktoren und Redakteuren nicht verfehlte. Ausgerechnet im bevölkerungsreichsten Bundesland entpuppte sich das Jugendprogramm als besonders zählebig: Die Sendung Radiothek des WDR Köln hielt ihren jugendorientierten Kurs gegen alle Angriffe bis an die Schwelle der achtziger Jahre durch. Wohl zeigte sich, dass die Mehrheit der Hörer zu dieser Zeit das Interesse an solch reformorientierten Sendungen verloren hatte. So gelang es den Kritikern, die Sendung zu Fall zu bringen. In der Zeit allerdings, in der sie von der Hälfte ihrer Zielgruppe regelmäßig gehört wurde, zeigte die Radiothek, wie auch inhaltlich relativ anspruchsvolle Radioangebote – hörerfreundlich dargeboten – ihr Publikum finden konnten.
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Abstract: In the course of the late s the German ARD radio stations began
to air new programs for young people and young adults: much longer than before and with new content. Youth was considered an age of its own importance and dignity. So the programs dealt with topics which were important for young people – and young people themselves spoke about what concerned them. Conservative young people and many from the adult generation fought against these new programs. The representatives of conservative groups and parties in the councils of the ARD stations succeeded in exerting pressure on directors and editors. It was Radiothek, the youth program of the station WDR Cologne – a station originally founded as a part of NWDR by the British occupation forces after WW II – which survived until the dawn of the s, against all attacks. But at around it was obvious that the audience had lost interest in these programs which were full of the spirit of the late s and early s. So the opponents of Radiothek succeeded with making an end to the program. Nevertheless: during the mid-s nearly per cent of the target group was listening regularly to Radiothek – this illustrates the opportunity even for rather sophisticated, well-made radio programs to attract the interest of quite a lot of listeners.
Andre Dechert Zusammenfassung: In seinem Beitrag „Zwischen Kindern, Jugendlichen und
der Familie“ legt Andre Dechert dar, dass die US-amerikanischen Fernsehserien Fury und Am Fuß der Blauen Berge in der Bundesrepublik Deutschland der späten er und frühen er Jahre zwar im sogenannten Familienprogramm des DFS ausgestrahlt worden sind, aber insbesondere unter Kindern und Jugendlichen populär waren. Basierend auf im Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunk (BR) überlieferten Dokumenten, verschiedenen zeitgenössischen Studien sowie Ausgaben der Zeitschrift B zeigt Dechert, dass sich Kinder und Jugendliche Fury und Am Fuß der Blauen Berge (im Original Laramie) als „ihre“ Serien aneigneten und Jugendmedien somit auch unter Begriffen wie „Familienprogramm“ verborgen liegen können. Abstract: In his contribution Andre Dechert shows that the two US-American
television series Fury and Laramie were broadcast as part of a so-called family program. Yet, even though the broadcasters wanted to address the whole family by these series, Fury and Laramie proved to be especially popular among children and adolescents. They considered these programs „their“ series. This reveals that
Zusammenfassungen und Abstracts
children and youth media can also be those media which might be obscured by terms such as family program. In his contribution Dechert relies upon various historic documents of the Bayerischer Rundfunk, one of Germanys regional broadcasters which jointly designed the program of West Germany’s then-only national TV channel, contemporary studies on children/adolescents and their television consumption as well as on the youth magazine B.
Michael G. Esch Zusammenfassung: Der Beat Club, die erste ausdrücklich für Jugendkultur
bestimmte Sendung im deutschen Fernsehen, war nicht einfach eine Dokumentation des Musikgeschmacks junger Menschen und nicht nur eine televisionäre Meisterleistung oder Pioniertat: Er war in seinen Ursprüngen und seiner weiteren Entwicklung ein soziokulturelles Statement und Werkzeug kulturellen Wandels und damit in gewissem Maße und bestimmter Form Akteur (bzw. das Produkt von Akteuren) der Kulturrevolution der langen sechziger Jahre. In seinen ästhetischen Entscheidungen folgte er nicht nur einem mit der Bezeichnung „Beat“ musikalisch nur vage umrissenen Segment der neuen musikalischen Formen und Sprachen, sondern war letztlich selbst Akteur in der Feststellung der wichtigsten Qualität von Musik und Habitus in jeder Subkultur: Authentizität. Der Aufsatz beschreibt, wie und anhand welcher Kriterien diese Authentizität hergestellt wurde und in welchem Verhältnis diese zur Entwicklung des Beats und Rocks von einer Tanzmusik über den Soundtrack der Rebellion hin zu einer neuen Kunstmusik stand. Der Aufsatz untersucht außerdem, wie sich die Subjektivität des Historikers als Zeitzeuge verwenden lässt, um die Ambivalenzen und subjektivistischen Unwägbarkeiten der Wahrnehmung und Interpretation von Musik und ihrer Darbietung auszuloten und historisch-kognitiv einzuordnen. Abstract: The Beat Club was not only the first German television program
explicitly designed for a young audience, not only a documentation of musical tastes or a pioneering television masterpiece: Originally and in the course of its existence it was a socio-cultural statement, a tool of cultural change and thus in some ways an agency (resp. the product of agencies) of the cultural revolution of the long Sixties. Through the esthetic choices of its makers it not just merely followed particular segments of new musical idioms and forms but became a significant agency when it came to the most important intrinsic quality of every subculture: authenticity. The here presented contribution traces the changing ways
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and criteria that produced authenticity and its entanglement with the development of beat and rock from a mere dance music via the soundtrack of rebellion to a new artistic kind of music. It will also be discussed how the precarious role and subjectivity of the historian as a contemporary witness might be used to fathom out the ambivalences and subjectivistic unpredictabilities intrinsic to the perception and interpretation of music and its performance.
Karl Siebengartner Zusammenfassung: In diesem Aufsatz wird gezeigt, wie Fanzines einen wich-
tigen Beitrag zur Organisation und Kommunikation innerhalb der Münchner Punkszene und mit anderen Gleichgesinnten auf transnationaler Ebene von bis leisteten. Dazu gliedert sich der Text in drei Teile: Erstens soll die Quellengattung Fanzine nochmal näher bestimmt werden. In der Zeitgeschichtsforschung wurde bisher kaum mit diesen Dokumenten gearbeitet. Zweitens soll der Zusammenhang zwischen Fanzines und Jugendmedien hergestellt werden. Hierfür werden einige Überlegungen zu dem Begriff Jugendmedien vorangestellt, da bisher noch keine eindeutige Definition für diese Mediengattung besteht. Als dritter und letzter Punkt werden Kommunikationsprozesse über Fanzines im Mittelpunkt stehen. Nach einer näheren Bestimmung des Kommunikationsbegriffes werden verschiedene Beispiele zur Veranschaulichung der vielfältigen Prozesse dargelegt. Die Hauptthese des Aufsatzes ist, dass Fanzines durch ihre Funktion als Kommunikationsräume zu genuinen Jugendmedien werden. Dabei spielt eine intermediale Bezugnahme eine Rolle. Die aktive Mediennutzung durch und in Fanzines wird ebenso behandelt. Die Herstellung von eigenen lokalen und translokalen Räumen durch die Fanzines sowie eine transnationale Vernetzung werden ebenfalls im Hinblick auf Kommunikation genauer betrachtet. Insgesamt soll gezeigt werden, dass Fanzines als Jugendmedien einen Kommunikationsraum geschaffen haben. Somit soll deutlich werden, dass Jugendmedien und Kommunikation aufs Engste miteinander verbunden sind. Abstract: This article shows how fanzines played a vital part in the organisation
of and the communication within the Munich punk scene and on a transnational level from to . To do so, the text consists of three parts. Firstly, the source material is identified. Fanzines have seldom been used as sources by contemporary history. Secondly, the link between fanzines and youth media is established. The concept of youth media is therefore discussed, because there is no
Zusammenfassungen und Abstracts
clear-cut definition of these types of media. The last point focuses on communication processes via fanzines. After explaining the term communication, different examples of these processes are analysed. The main argument of the article is that fanzines are genuine youth media because of their function as communication spaces. Intermedial references are important in that respect. An active usage of media via and in the fanzines is also part of the chapter. The production of local and trans-local spaces of their own via fanzines and a transnational connection is analysed with respect to the aspect of communication. All in all, it is shown that fanzines created a communication space as youth media. Youth media and communication are therefore tightly intertwined.
Nikolai Okunew Zusammenfassung: Neben Punks und Skinheads waren Heavies möglicherweise die größte jugendliche Subkultur in der späten DDR. Dennoch stand sie bisher nur selten im Fokus der Forschung. Unter Bezugnahme auf Akten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv und der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen rekonstruiert dieser Aufsatz die medialen Praktiken der DDR-Heavy-Metal-Szene. Diese waren von Anfang an auf westliche Radiosender, Magazine wie den Metal Hammer und Reisen nach Ungarn angewiesen. Die auf diesem Weg ins Land kommenden Kassetten, Schallplatten und Printmedien wurden in regionale und nationale Tauschkreise eingespeist. So entwickelten die DDR-Heavies verschiedene Umgangsweisen, um den Mangel im Vergleich zur Bundesrepublik wettzumachen. Diese Strategien waren letztlich so eng mit der DDR verknüpft, dass die Szene nach dem Fall der Mauer implodierte. Abstract: The GDR Heavy Metal scene was maybe the biggest adolescent subcul-
tural formation in the GDR; yet it was seldom of interest for historians. Primarily using files from the German Broadcasting Archive and the Stasi Records Agency the paper focuses on the use of media in the GDR Heavy Metal scene. Since its emergence the scene was highly dependent on Western media such as Allied radio stations, magazines like West German Metal Hammer and private imports from relatively liberal Hungary. Regional and national trade networks developed in order to distribute the tapes, vinyl and print media coming from abroad. The techniques developed to cope with the lack of music, clothes and posters in the GDR were intrinsically linked to the Western markets. This seems to have caused the implosion of the GDR scene and the disappearance of its now redundant practices once the Berlin Wall had fallen.
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A M, Diplomkulturwissenschaftlerin, ist seit April Projektmitarbeiterin der internationalen DFG-Forschergruppe „Populärkultur transnational – Europa in den langen er Jahren“. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit der transnationalen Geschichte europäischer Jugendmedien während der er und er Jahre. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Mediengeschichte, der Geschichte von Jugend- und Populärkultur, der Frauen- und Gendergeschichte sowie der saarländischen Landesgeschichte des . und . Jahrhunderts. Prof. Dr. C Z vertritt das Fach der Kultur- und Mediengeschichte an der Universität des Saarlandes seit . Seine Promotionsarbeit widmete sich der ländlichen Gesellschafts- und Politikgeschichte im . Jahrhundert. Die Habilitationsschrift an der Universität Heidelberg thematisierte die Wohnungsreform im Kaiserreich. Seine derzeitigen Forschungsinteressen liegen in den Feldern der Mediengeschichte seit der Frühen Neuzeit, der Geschichte von populären Kulturen und der Stadt. Er ist Mit-Herausgeber der Zeitschriften „Moderne Stadtgeschichte“ und der „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie“. S R M.A. arbeitet an einer Dissertation über die Lebensreformbewegung in der Schweiz in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang interessiert er sich nicht nur für die Naturheilkunde, Ernährungsreform und Freikörperkultur, sondern auch für die Reformpädagogik, Abstinenzund Jugendbewegung. Seit ist er als SNF-Doktorand an der Universität Freiburg im Üechtland angestellt. J G E M.A. studierte Geschichte und Germanistik in Düsseldorf und Bochum. Seit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Hier promoviert sie zum Thema „Subund Gegenkulturen der Computernutzung in der BRD und DDR seit den späten er Jahren“.
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F H M.A. absolvierte den Master in Military Studies (Militärgeschichte/Militärsoziologie) an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über die Geschichtspolitik Erich Ludendorffs nach dem Ersten Weltkrieg. Sie ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Editionsprojekt „Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und seine Vorläufer“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Potsdam) sowie Redakteurin der Zeitschrift Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung. Dr. C H ist Historiker und Referent für Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien (Ludwig-Maximilians-Universität München und Universität Regensburg). Er gehört der Lenkungsgruppe des internationalen Forschungsnetzwerks „Entangled Media Histories“ (EMHIS) an und beschäftigt sich mit Fragen der europäischen Kultur- und Mediengeschichte des . und . Jahrhunderts. Seine Dissertation „Die unerhörte Generation: Jugend im westdeutschen und britischen Hörfunk, –“ (Göttingen ) wurde mit dem DGPuK-Nachwuchsförderpreis Kommunikationsgeschichte ausgezeichnet. Dr. M K arbeitet seit den späten er Jahren als Autor und Musikmoderator vornehmlich für Deutschlandfunk, WDR, MDR und SWR; seine Schwerpunkte liegen bei historischen und politischen Themen sowie im Musikbereich bei Jazz und klassischer Musik. Daneben arbeitet er semiprofessionell als Jazz- und Soulbassist. Er studierte Geschichte und Sozialwissenschaften in Münster/Westf. und wurde über das hier in aktualisierter Form vorgestellte Thema promoviert. Dr. A D ist seit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Wissen und Kommunikation der Universität Augsburg. Seine Dissertation „,The good father in every way except ...‘: Sitcoms, Vaterschaft und das Ideal der Kernfamilie in den USA, –“ entstand im Rahmen der Emmy NoetherForschungsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US-amerikanische Familie im . Jahrhundert“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Andre Decherts aktuelle Forschungsinteressen liegen in den Bereichen aktueller Medienwandelsprozesse und der transnationalen Kommunikations- und Mediengeschichte. PD Dr. M G. E ist Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa und nebenberuf-
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lich Musiker. Er forscht und publiziert zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur Migrationsgeschichte des . und . Jahrhunderts, zur sozialen Konstruktion des Raums und zur transnationalen Sozial- und Kulturgeschichte von Musik und Revolte während des Kalten Krieges. K S M.A. arbeitet momentan an einer Dissertation mit dem Titel „,Entweder wir probieren dasselbe zu machen wie in England, oder wir suchen krampfhaft nach was Eigenem. Ich finde beides falsch.‘ Transnationalität, Doing Punk und Individualisierung im Punk der Bundesrepublik von –“. Seit Oktober ist er Doktorand im strukturierten Promotionsprogramm ProMoHist der LMU München. Für seine Abschlussarbeit zur Münchner Punkszene wurde er mit dem Hochschulpreis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. N O M.A. erforscht im Rahmen seiner Promotion die Heavy-MetalSzene in der DDR bzw. in Ostdeutschland in der Transformationszeit. Seit ist er assoziierter Doktorand in der Abteilung III am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
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Sachverzeichnis
A
F Alkoholabstinenz, , Fanzine, , , , –, –, ARD, , , , , f, , , f, , , , f, f , , f Fernsehen, , , , , , , , Authentizität, , , , f, , , , , f, , , , , f, , f, , B
G
Bayerischer Rundfunk, , , , , , f, f Beat Club, , , f, , –, ff, f, , –, f, – , Bildschirmtext (Btx), Bildungsauftrag, f, Bildungsexpansion, Bravo, f, –, f, , , f
Gegenkultur, , , , , , Globalisierung,
C
Chaos Computer Club, , , Christentum, , Computer, , –, –, –, f, f Computerclubs, , , , f,
H
Hackerkultur, , f, ff, , , f, – Hackerzeitschrift, , , Haus der jungen Talente, Heavy Metal, , , –, f, , , ff, –, I
Intermedialität, , f J
Jugendbewegung, , f, –, , – , f, , Jugendclub, , , , D Jugendpresse, Datenschleuder, Jugendprogramm, , , , , , DDR-Jugendkultur, , DDR-Metal, DDR-Rundfunk, , , , , Jugendradio, , , Do-It-Yourself oder DIY, , –, Jugendradio DT, f Jugendzeitschrift, , , , , , , , ff, , , , , , , , , E Junge Stimme, , ff, f, , f, Elmsteiner Erklärung, f, , , f
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Sachverzeichnis
K
Kassette, , f, , –, KGB-/NASA-Hack, , f, Kofferradio, Kommunikationsfunktion, Kommunikationsraum, , , , , , f, Konfession, Konzert, , , , , , f, , f, f, Kulturrevolution, , ,
Provinz, Punk, , , , , , , , , –, f, , f, f R
Radio Luxemburg, , , , , , , f Radioprogramm, Radiothek, , –, ff, –, –, f, –, f Ratgeber, , , Reformschreibweise, Reichweite, , , , , , , L , Leserbrief, , , f, , , Revolte, , Live-Moderation, Rockmusik, , M Rundfunk, , , , , Massenmedien, , , , , , , Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS), , f Metal Hammer, –, , , Ministerium für Staatssicherheit (MfS), S Schallplatte, f, , , f, , , , f, Schülerfahrten, N Selbstreflexion, , Norddeutscher Rundfunk, Nordwestdeutscher Rundfunk, , , Stars, , , ff, , , f, , , , Steglitzer Verein, , O Stimme der DDR, f Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, , Subkultur, , , , , , , f, f, , f, , , , , f, , , , , O-Töne, , , Süddeutscher Rundfunk, , , Südwestfunk, , , P Plattenspieler, T Popkultur, Tabubruch, Popstar, , Tanz, , , f, , , , , Programmieren, , , , , Protestantismus, Tao, –, f
Sachverzeichnis
TAP, , Tauschkultur, Tendenz, –, f Transnationalität, , , , f, , , , , , , , f, , , f, f
W Wacht, , , , –, f, , f, f, , , f Wandervogel, , –, , , f, f Wehrdebatte, f Westdeutscher Rundfunk, , , , Wiederbewaffnung, , , , , , f, , –, –, Z
Zeitzeugen, , , , , , V Vernetzung, , , , , , f, Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ), Vortrupp, ff, ff, f Zuschauerbriefe, ,
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