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German Pages 408 [410] Year 2013
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Michael Multhammer Lessings ›Rettungen‹
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Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von: Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 183
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Michael Multhammer
Lessings ›Rettungen‹ Geschichte und Genese eines Denkstils
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ISBN 978-3-11-032858-5 e-ISBN 978-3-11-032889-9 ISSN 0934-5531
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen National-bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
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Meinen Eltern
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Danksagung Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Frühjahr 2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt angenommen wurde. Ermöglicht wurde diese Arbeit durch ein Stipendium am Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt im Rahmen der Graduiertenschule ›Religion in Modernisierungsprozessen‹. Sie wurde betreut von Prof. Dr. Martin Mulsow und Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, die die Arbeit stets mit Weitblick förderten und deren Ratschläge unentbehrlich waren. Als meinen akademischen Lehrern gebührt ihnen besonderer Dank. Mein Aufenthalt am Center for Advanced Studies der LMU München bot exzellente Bedingungen für eine rasche Drucklegung. Dank gilt dem Münchner Oberseminar, in dem die Arbeit nach und nach Kontur annahm. Ferner danke ich den Gothaer Kollegen, namentlich Dr. Guido Naschert, Andrew McKenzie-McHarg, Dr. Olaf Simons, Dr. Sébastien Drouin, Dr. Asaph Ben-Tov und Prof. Dr. Alexander Schunka, die die Arbeit in den letzten drei Jahren begleitet haben, für ihre konstruktive Kritik und die geselligen Abende. Unabdingbar war die Hilfe von zahlreichen Bibliothekaren der Universitäts- und Forschungsbibliothek Gotha, der Bayerischen Staatsbibliothek und der Bibliothek des Evangelischen Predigerseminars in Wittenberg sowie der Universitätsbibliothek Bremen. Die Lessing-Akademie in Wolfenbüttel bot mir die Möglichkeit, meine Thesen schon zu einem frühen Zeitpunkt einem größeren Publikum zur Diskussion zu stellen. Unschätzbar wertvoll waren die Hinweise, die mir Prof. Hugh Barr Nisbet aus Cambridge bei mehreren persönlichen Treffen gab; er war mein erster Leser und hat mich vor manchem Fehler bewahren können. Prof. Dr. Christoph Bultmann war stets an dem Fortgang meiner Arbeit interessiert und kundiger Berater bei Fragen zur Theologie. Ein ganz herzlicher Dank gilt meinen Münchner Weggefährten Klaus Birnstiel und Philipp Heine, die als kritische Leser den gesamten Entstehungsprozess begleitet haben. Die vielen Streitgespräche in freundschaftlichem Konsens werden unvergessen bleiben. Bei Stefanie Kießling möchte ich mich für das zeitintensive und mitdenkende Lektorat der Druckfassung sehr herzlich bedanken. Spezieller Dank gilt Kathrin, die in schwierigen Phasen stets die richtigen Worte fand und meine Launen mit Milde ertrug. Nicht genug danken kann ich meinen Eltern, ohne deren Ermunterung, Verständnis und Unterstützung die Arbeit nicht entstanden wäre. Ihnen ist das Buch gewidmet. München, im Januar 2013
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»We have accepted all sorts of mythology about our heros rather than examine the actual historical data.« - Richard H. Popkin »L’antistoricismo metodico non è altro che metafisica.« - Antonio Gramsci »Ich bringe den Philosophen an keinen Ort, in keine Versammlung, wo er nie etwas zu suchen gehabt hätte.« - Gotthold Ephraim Lessing
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Inhalt Danksagung
vii 1
1
Einleitung
2 2.1
Lessing in Wittenberg – Ausgangslage und erste Erträge Finden und Entdecken – Lessing in der Wittenberger 6 Universitätsbibliothek Die Rettung des Simon Lemnius – ein erster Versuch in Briefen 15 Die Magisterarbeit zu Johann Huart – eine Rettung qua Übersetzung? 45
2.2 2.3
6
3.3
55 Rettung – eine Gattung mit Geschichte? 58 Apologie, Vindicatio, Rettung – zur Begriffsgeschichte Geistesgeschichtlicher Überblick – zur Konstitution einer Tradition 62 69 Vindicatio und Apologie als Teil der Apologetik »ir seyt papisten/got erleucht euch.« – Auf Seiten Luthers gegen die Katholiken 70 73 Eine allzu späte Reaktion auf eine neue Herausforderung? Die Vindiciae Reformationis Lutheri a nonnullis novatorum praejudiciis von 1717 – Lessings eigener Vater als Vorbild? 80 Johann Franz Buddeus als Vermittler – eine Verteidigung der Pietisten 86 91 Zusammenfassung Der Einzelne weist über sich hinaus – keineswegs uneigennützige Verteidigungen 91 93 Gabriel Naudés Apologie – ein Prototyp 102 Kompendiöse Rettungen? Gottfried Arnold und Pierre Bayle Wie weit man es treiben kann – Arpe schreibt eine Apologie Vaninis 112 Eine Rettung Cardanos gegen Bayle? – Lessings Lehrer Johann Friedrich Christ 118 122 Der Gattungsbegriff – eine sinnvolle Krücke
4 4.1
Die eigentlichen Rettungen von 1754 Die Vorrede 132
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.1.4 3.2.1.5 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.2.4
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4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 5 5.1
Inhalt
Die Rettungen des Horaz 135 Horaz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – Person und Werk 140 146 Die drei Vorwürfe wider Horaz und Lessings Entgegnungen Stinkende Geilheit und unmäßige Unzucht – der erste Anklagepunkt 149 Ein Römer als feigherziger Flüchtling? – der zweite 159 Anklagepunkt ». . . das Beste nahm wo er es fand« – der letzte Anklagepunkt 163 Rettung als Denkstil – eine erste, noch vorläufige Zusammenfassung 169 170 Die Rettung des Hier. Cardanus Die Sterblichkeit der Seele und ein Horoskop für den Heiland 173 176 Wer verliert beim Vergleich der Religionen? 190 Nicht Toleranz, sondern die Erschütterung der Apologetik Cardanos missglückte Korrekturen und konfessionelle Differenzen 198 Die Rettung des Inepti Religiosi und seines ungenannten Verfassers 201 Exkurse: Die religiösen Überzeugungen des jungen 205 Lessing Erster Exkurs: Gedanken über die Herrnhuter 207 218 Zweiter Exkurs: Das Christentum der Vernunft 228 Dritter Exkurs: Das Lehrgedicht Die Religion Der Opponent – Pastor Johann Vogt und sein Catalogus historico-criticus librorum rariorum von 1747 237 246 Lessing – ein Ineptus Religiosus? Wer ist der ›ungenannte Verfasser‹? 250 Chiffren als Anleitung zum Verständnis? – die Schlusspassage 257 264 Die Rettung des Cochläus, aber nur in einer Kleinigkeit 265 Johannes Cochläus – ein Erzfeind Luthers Die Widerlegung der Anklage – zwei Briefe des Alphonsus Valdesius 271 281 Erste Aufnahme und weitere Reaktionen Die Emanzipation des Denkstils von der Form 285 285 Zeitgenössische Reaktionen auf die Rettungen
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Inhalt
5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.5 5.5.1 5.5.2
6 6.1 6.2 6.3
»Er starb.« – Lessing würdigt seinen verstorbenen Freund Christlob 289 Mylius Eine Rettung vor der Akademie? – Pope, ein Metaphysiker! 303 310 Niederschlag im Poetischen: Miß Sara Sampson 311 Zeitgenössische Reaktionen – spürbares Befremden Der juristische Kontext – Schuld, Sühne und (poetische) Gerechtigkeit 318 Moral als Zumutung und der spezifische Denkstil der Rettungen 323 Die angekündigten Rettungen zu Johann Konrad Dippel und 326 Spinoza Dippels Verhältnis zur Philosophie Spinozas 331 Lessing zwischen Spinoza, Dippel und Bayle – Versuch einer 335 Rekonstruktion Der Denkstil im Spätwerk – eine kurze Skizze 343 Von Adam Neusern oder der programmatische Auftakt zum 345 Fragmentenstreit Kontinuitäten: drei Funde – drei Rettungen? 351 356 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis Register
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1 Einleitung Die Vorstellung, dass Gelehrsamkeitsgeschichte eine moralische Qualität habe, ist alt, aber weder selbstverständlich noch sonderlich prominent in der Forschung. Der Anspruch, in der gelehrten Auseinandersetzung mit Thesen, Positionen und Systemen, gleich welchen fachlichen Zuschnitts, immer auch zu moralischen Urteilen zu gelangen, um die Qualität derselben in Anschlag zu bringen, war in der Frühen Neuzeit noch eine Selbstverständlichkeit. Uns ist die Vorstellung fremd geworden, dass jene, die Geschichte oder Literaturgeschichte betreiben, moralisch urteilen oder gar sanktionieren. Vielleicht ist gerade in diesem Umstand einer der Gründe zu sehen, weshalb die hier zu diskutierenden Schriften des jungen Lessing sich nie sonderlicher Beliebtheit unter den Philologen erfreut haben. Vielleicht fehlten bisher auch nur die Voraussetzungen, um den Blick zurück in die Geschichte richten und Lessing in die Strukturen der respublica literaria einordnen zu können. Lange Zeit waren die »Worlds made by Words«1 für uns vergangene Welten – oder zumindest ein »lost continent«.2 Wahrscheinlicher scheint jedoch, dass es nie ein sonderliches Bedürfnis gegeben hat, zu erforschen, von wo Lessing seinen Ausgang nahm. Zumal es längst vielfältige Antworten darauf gibt: aus dem sächsischen Kamenz, also dem mitteldeutschen Raum; aus dem protestantischen Pfarrhaus3 – wie beinahe die gesamte Aufklärung; oder aber vom Theater. Nachgerade scheint die Frage ohnehin müßig, ist Lessing doch im kulturellen Gedächtnis und auch in der Literaturwissenschaft der vielfach Erste. Diese Einschätzung manifestierte sich schon kurz nach Lessings Ableben und hat
1 Anthony Grafton: Worlds made by Words: Scholarship and Community in the Modern West. Cambridge 2009. 2 Ebd., S. 9ff. 3 Siehe hierzu Lydia Rösch: Der Einfluß des evangelischen Pfarrhauses auf die Literatur des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1932. Wenngleich Lessing in den Überlegungen Röschs insgesamt eine untergeordnete Rolle spielt – sie orientiert sich vornehmlich an der Romanproduktion des 18. Jahrhunderts –, so kann man doch gerade in Bezug auf Lessing festhalten: »Hat auch das Pfarrhaus an der Aufklärung keinen so bestimmenden Anteil wie am Pietismus, so hat es sich doch nicht grundsätzlich gegen die Forderungen der Vernunft aufgelehnt. Aufgeklärte Geistliche trachteten vielmehr religionsphilosophische und naturphilosophische Ideen zu vereinigen. Wenn sich die deutsche Aufklärung im Gegensatz zu der französischen und zur englischen bemüht hat, die Erkenntnis der Vernunft und die Wahrnehmung der Sinne mit den religiösen Lehren in Einklang zu bringen, so trägt daran das evangelische Pfarrhaus einen wesentlichen Anteil. Es war den Deutschen bestimmt, die Ideen der Aufklärung auf volle sittliche Höhe bringen. Und einem deutschen Pfarrersohn [gemeint ist Lessing, M.M.] war es vorbehalten, der Aufklärung einen reformatorischen Charakter aufzuprägen.« Ebd., S. 21.
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Einleitung
sich zu einer Wahrheit verdichtet, die kaum mehr hintergehbar scheint. Lessing gilt nunmal als der erste deutsche Kritiker, der erste deutsche Dramatiker, der erste deutsche Aufklärer. Er ist die Symbolfigur für einen Neubeginn – ein Umstand, der sich zugleich immer auch mit einer Wertung verbindet.4 Goethes Äußerung gegenüber Eckermann vom 15. Oktober 1825 unterstreicht diese Einschätzung vielleicht am deutlichsten: »Ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter! –«5 Trotz dieser scheinbaren Frontstellung gegen das Alte, Überkommene und Überwundene blieb Lessing eine befremdliche Figur. Die im Nachgang der Geniezeit einsetzende Rede vom »unpoetischen Dichter« Lessing machte die Runde und blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkmächtig.6 Meist behalf man sich, die Sphären des unpoetischen und des poetischen Dichters getrennt zu halten und nur dort dankbar aufzugreifen, wo die Synthese leicht von der Hand ging. Selten aber wurde das Unpoetische als die notwendige Voraussetzung des Poetischen gesehen. Gerade was das Frühwerk betrifft, stand man oft vor Rätseln. Unsystematisch sei es, die Streitschriften oftmals reine Polemik und mit den frühen poetischen Meisterwerken nur schwer in Verbindung zu bringen. Die großen Entwürfe, die anschlussfähig wurden – wie etwa die Erziehung des Menschengeschlechts, finden sich ohnehin im Spätwerk. Es fällt demnach leicht, die frühen Arbeiten als Vorstufen zu marginalisieren. Dass sich in diesen aber der lessingsche Ton, seine Arbeits- und Herangehensweise an die Diskussionen seiner Zeit zu allererst herausgebildet haben, wird als gegeben angesehen. Dabei macht man es sich zu leicht, wenn man sich den poetischen Schriften auf direktem Wege nähert, wie Friedrich Vollhardt unlängst betont hat.7 Die prägende Phase in Les-
4 Ein zusammenfassender Überblick über die Wirkungsgeschichte findet sich bei Horst Steinmetz: Einleitung. In: ders. (Hg.): Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Frankfurt am Main 1969 (Wirkungen der Literatur 1), S. 11–45. 5 Zum nicht unkomplizierten Verhältnis von Goethe und Lessing siehe Wilfried Barner: Goethe und Lessing. Eine schwierige Konstellation. Göttingen 2001 (Kleine Schriften zur Aufklärung 10). Zitat S. 41. 6 Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 854. Das Diktum vom »unpoetischen Dichter« geht auf Friedrich Schlegel zurück. Im Weiteren verweist die Sigle ›N‹ auf diese Ausgabe. 7 »Den Religionsgesprächen, wie sie in der Literatur des 18. Jahrhunderts geführt werden, kann man sich nicht auf geradem Weg zu den herausragenden künstlerischen Dokumenten nähern.« Friedrich Vollhardt: Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings. In: Alt, Peter-André (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik; Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 29–47, hier S. 29.
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Einleitung
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sings Kritik am Christentum fällt in seine Jugendjahre, wenngleich er diese Kritik zeitlebens weitergeführt und -entwickelt hat. Es ist daher sinnvoll, diese Voraussetzungen zu erarbeiten, ohne dabei teleologisch das Spätwerk immer schon mitzudenken. Die frühen Texte, von denen hier ausgegangen wird, sind Lessings Ketzer-Rettungen, die einen Einblick in die direkte Aneignung und Auseinandersetzung mit den Diskursen8 seiner Zeit erlauben. Nicht nur Lessings Position wird in diesen Schriften deutlich, auch seine Gegner bekommen eine Stimme und ein Gesicht.9 Dabei soll die Blickrichtung umgekehrt werden: gefragt wird nicht, was diese Texte für uns interessant macht, sondern was für Lessing das Interessante daran war, dass er sich die Mühe machte, sie zu verfassen. Der Wechsel der Perspektive führt unweigerlich zu der aporetischen Beobachtung, dass jemandem wie Lessing, der beständig die Kraft des besseren Argumentes beschworen hatte, immer schon unterstellt wurde und immer noch unterstellt wird, Händel nur aus purer Streitlust begonnen zu haben. Ebenso naheliegend wäre, die eigene Sicht auf diese ›Streitereien‹ kritisch zu hinterfragen und sich vielleicht einzugestehen, dass wir die Argumente und den Gegenstand der Auseinandersetzungen nur unzureichend verstehen. Es ist ein Problem des fehlenden Kontexts, dessen Rekonstruktion die Bedingungen der Möglichkeit eines Verstehens erst sichtbar macht. Eben jene Rekonstruktion stellt sich die Arbeit zur Aufgabe. Mit dieser Zielvorgabe vor Augen verbinden sich besondere Ansprüche an die zugrunde liegende Methodik. Ausgegangen wird von der Prämisse, dass das, was wir aus einer historischen Perspektive als Aufklärung apostrophieren, ein Prozess war, der nur aus dem Blickwinkel der Praxis adäquat zu beschreiben ist. Unter ›Praxis‹ wird dabei in einem ersten Schritt die direkte argumentative Konfrontation in einem spezifisch historisch-gesellschaftlichen Kontext verstanden, in dem diese stattfindet.10 Ferner ist die Art und Weise, letztlich repräsentiert durch die
8 Wenn im Folgenden in der Arbeit von ›Diskurs‹ oder ›Diskursen‹ die Rede ist, so impliziert das keineswegs eine theoretische Vorannahme, die sich einer bestimmten Schule verpflichtet fühlt, sondern zielt »ausdrücklich« auf »den konventionellen kulturwissenschaftlichen Sprachgebrauch«. Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin/New York 2011, S. VI. Ein wenig Ordnung in das Begriffschaos bringt Brigitte Kerchner: Politik als Diskurs: Diskurstheorien und Diskursbegriffe in der Politikwissenschaft. Ein Überblick. Berlin 2002. 9 Für den maßgeblichen Opponeneten im Fragmenten-Streit, Johan Melchior Goeze, hat dies zuletzt Ernst-Peter Wieckenberg mit Gewinn demonstriert. Ernst-Peter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze. Hamburg 2007. 10 Insofern liegt dieser Arbeit ein anderer – aber komplementär zu verstehender – Begriff von ›Praxis‹ zugrunde als etwa bei Hans Erich Bödecker und Martin Gierl: »Thematisch Praxis und Institutionen statt der Inhalte und Diskurse zu betonen und methodisch dem geschichtlichen Geschehen mit den Netzwerken historischer Vergleichsraster Substanz und Komplexität zu ver-
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Einleitung
Form, der Auseinandersetzung ein essentieller Bestandteil dieser Praxis. Es ist bei Weitem nicht kontingent, in welcher Form gedankliche Inhalte gestaltet werden.11 Mit dem Begriff der Form spannt sich sogleich eine diachrone Perspektive im Sinne einer Tradition auf, die es zu berücksichtigen gilt. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Form, die als Medium der Auseinandersetzung gewählt wird, erfolgen Anlehnungen an eine Gruppe von Texten, die selbst historisch verhaftet und gebunden sind. Daraus ergibt sich eine doppelte Perspektive der Kontextualisierung des Gegenstandes: Um Lessings Rettungen gerecht zu werden, müssen sie zunächst in der Tradition apologetischen Schriftums seit der Reformation situiert werden. Die Erkenntnisse, die dabei hinsichtlich Aufbau und Funktion dieser Schriften gewonnen werden, können auf die Rettungen Lessings übertragen werden. Dies fordert eine hermeneutische Herangehensweise, die, entgegen den zuvor erwähnten simplifizierenden Ausdeutungen der Schriften als ›bloße‹ Polemik, die Texte auf zwei ineinander verschränkten Ebenen adäquat kontextualisiert und rekonstruiert: als Diskussionnen um Inhalte der Gelehrsamkeit und Positionen, die an identifizierbare historische Akteure und deren jeweiligen ›geistigen‹ Standpunkt gebunden sind. Der enge Blick auf die Rettungen und deren diskursives Umfeld fordert aber auch Opfer. Die literarischen Schriften, die zeitgleich entstanden, können nicht in ebendem Maß berücksichtigt werden. Sie werden sogar bewusst in den Hintergrund gestellt, um die spezifischen Leistungen der nicht-literarischen Schriften nicht vorschnell zu verdecken. Wo es angebracht scheint, wird auf sie verwiesen. Das gleiche gilt für den umfangreichen Bereich der Rezensionen des jungen Lessing, auch hier wurde nicht angestrebt, allen möglichen, sondern nur ähnlichen Darstellungen nachzugehen. Insofern wird mit der Arbeit nicht der Anspruch erhoben, ein Gesamtbild des jungen Lessing zu zeichnen, sondern vielmehr in einer Lektüre, die nah an ausgewählten Texten bleibt, Lessing bei der Arbeit über die Schulter zu sehen. Das heißt, sein Leseverhalten zu rekonstruieren, wo dies möglich erscheint, die Selektion nachzuvollziehen, die seine Themenwahl bestimmt und nicht zuletzt die Orte aufzu-
leihen, ist nicht der einzige Weg, Zugang zur Aufklärung zu gewinnen. Es ist das, was uns im Blick auf den Debattenstand zur Aufklärung geboten scheint.« Hans Erich Bödeker, Martin Gierl: Einleitung: Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive. In: dies. (Hgg.): Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 224), S. 11–25, hier S. 13. 11 Siehe hierzu die Hinweise bei Dieter Henrich: Werke im Werden. Zur Genesis philosophischer Einsichten. München 2011. Auf die Beobachtungen und Prämissen Henrichs wird im Verlauf der Arbeit mehrfach zurückgegriffen.
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Einleitung
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suchen, an denen die Arbeiten entstanden und die diese in der Verfügbarkeit bestimmter Literatur determinierten. Diese Herangehensweise macht deutlich, dass der Zugang über eine reine Problemgeschichte dem Gegenstand nicht gerecht wird. Erst wenn man das ›Problem‹, auf das die Schriften vermeintlich antworten, freilegt, sieht man, dass die Antwort darüber hinausreicht. Der programmatische Zug in Lessings Schriften, der sich erst in der Auseinandersetzung mit dem gestellten Problem entwickelt, muss als der Mehrwert begriffen werden, der sowohl kurzfristig als auch im Hinblick auf das Gesamtwerk konstituierend wird: die Übererfüllung der gestellten Aufgabe.12 Die sich dabei entwickelnde Dynamik13 der Fragen und Antworten enthält vielleicht dasjenige, was wir bei Lessing als das spezifisch Moderne begreifen, was ihn von seinen Vorgängern unterschied und was es erlaubte und nach wie vor erlaubt, ihn als Zäsur im 18. Jahrhundert in den Literaturgeschichten festzuschreiben.
12 Es sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Form der ›Übererfüllung‹ eine gänzlich andere ist, als die von Dan Edelstein unter dem Begriff ›Super-Enlightenment‹ versammelten Vorstellungen, die die Grenzen des Erkennbaren unter scheinbar nicht-rationalen Herangehensweisen und Konzepten ausloten. Siehe hierzu Dan Edelstein: Introduction to the Super-Enlightenment. In: Ders. (Hg.): The Super-Enlightenment: Daring to Know too Much. Oxford 2010, S. 1–34. 13 Zum Begriff der ›Dynamik‹ als adäquate Beschreibungskategorie im Übergang von der Aufklärung zur Moderne siehe Daniel Fulda; Hartmut Rosa: Die Aufklärung – ein vollendetes Projekt? Für einen dynamischen Begriff der Moderne. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 4, S. 111–118. Mit deutlicherem Blick auf die Praxis der Aufklärung: Daniel Fulda; Sandra Kerschbaumer: Aufklärungsforschung zwischen Leitideen und Praktiken: Aufgaben und Anschlussmöglichkeiten der Kulturmuster-Heuristik. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der deutschen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 35 (2011), H. 2 (Themenheft: Kulturmuster der Aufklärung. Ein Heuristikum in der Diskussion), S. 145–153.
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2 Lessing in Wittenberg – Ausgangslage und erste Erträge 2.1 Finden und Entdecken – Lessing in der Wittenberger Universitätsbibliothek Als Gotthold Ephraim Lessing Ende Dezember 1751 die Stadttore von Wittenberg erreichte, ging eine Flucht aus dem achtzig Kilometer entfernten Berlin zu Ende. Es war keine Flucht vor Verfolgung, Lessing musste nicht untertauchen, sondern eine Flucht aus »Sehnsucht nach gelehrter Muße« wie Erich Schmidt meint.1 Ganz so romantisch darf man sich den Zweck der Reise allerdings nicht vorstellen. Für Lessing war es eine Rückkehr, hatte er doch bereits die Zeit von Anfang Juli bis Anfang November 1748 an der Leucorea verbracht. Auch dem ersten Aufenthalt war eine Flucht vorausgegangen, zusammen mit seinem Vetter – Theophilus Gottlob Lessing – floh Lessing aufgrund von Schulden aus Leipzig.2 Diesmal war der Zweck der Reise bestimmter. Nachdem Lessing beinahe drei Jahre zusammen mit seinem entfernteren Verwandten – Christlob Mylius – als Journalist in Berlin zugebracht hatte, musste er seine Studien abschließen. Schon ein Jahr vor seiner jetzigen Ankunft hatte ihn der Vater ermahnt, er möge doch den Weg auf die Universität zurückfinden, das aufstrebende Göttingen war im Gespräch. Noch bis 1753 lehrte der von Lessing verehrte Albrecht von Haller dort – eine Begegnung zu der es allerdings nicht kommen sollte.3 Nun doch wieder Wittenberg. Vielleicht könnte die Tatsache, dass sein jüngerer Bruder, ebenfalls Theophilus mit Namen, sich zum Zwecke seines Theologiestudiums dort aufhielt, mit ausschlaggebend gewesen sein.4 Über die Motive kann jedoch nur spekuliert werden. Gesichert hingegen ist, dass die beiden Brüder zusammen eine Stube direkt hinter der Stadtkirche St. Marien bewohnten. Die Veränderung der Lebensum-
1 Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. Berlin 2 1899, S. 223. Im Folgenden verweist die Sigle ›S‹ auf diese Ausgabe. ›Flucht‹ wird ein wiederkehrendes Phänomen in Lessings Leben bleiben, siehe hierzu Wilfried Barner: Lessings Fluchten. In: Stenzel, Jürgen; Lach, Roman (Hgg.): Lessings Skandale [Tagung der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel vom September 2004]. Tübingen 2005 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 29), S. 69–78. 2 Wolfgang Albrecht: Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Kamenz 2008, S. 19. Im Folgenden verweist die Sigle ›A (2008)‹ auf diese Chronik. 3 Der Brief des Vaters ist verschollen, jedoch ergibt sich der Inhalt aus Lessings Antwort zumindest in Teilen (Brief vom 08. 02. 1751). 4 Aufgrund der äußerst dürftigen Quellenlage kann vieles der zweiten Wittenberger Zeit, so auch das Motiv für die Wahl des Studienortes, nicht mit Bestimmtheit geklärt werden.
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Finden und Entdecken – Lessing in der Wittenberger Universitätsbibliothek
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stände war enorm: vom zumindest in Teilen freigeistig gesinnten Berlin Friedrichs II. in die immer noch den Geist Luthers atmende Wittenberger Orthodoxie5 – die Kanzel, von der Luther predigte, vom Fenster der Stube aus im Blick! Dazu kam die drückende Armut der Brüder, die ihnen Zerstreuung in der Gesellschaft nur sehr eingeschränkt ermöglichte.6 Alles in allem keine schönen Verhältnisse.7 Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen sollte es eine der produktivsten Phasen in Lessings Leben werden. Auf kaum einen anderen Abschnitt seiner Biographie entfallen so viele Schriften und angefangene, teils wieder fallengelassene Projekte wie die Wittenberger Monate. Das erste Ziel Lessings war die Beendigung seiner Studien. Es gilt als sicher anzunehmen, dass er die ersten vier Monate seines Aufenthalts primär mit der Abfassung seiner medizinischen Magisterarbeit verbrachte. Es handelt sich um eine Übersetzung des Hauptwerkes des spanischen Arztes Juan Huarte von 1575.8 Der barocke Titel dieser Arbeit verdient in Gänze zitiert zu werden, da er eines sofort klar macht – um Medizin ging es in dieser Abhandlung nur im Entferntesten: Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften Worinne er die Verschiedenen Fähigkeiten die in den Menschen liegen zeigt Einer jeden den Theil der Gelehrsamkeit bestimmt der für sie eigentlich gehöret Und endlich den Aeltern Anschläge ertheilt wie sie fähige und zu den Wissenschaften aufgelegte Söhne erhalten können. Nisbet konstatiert dazu: »Daß Huarte Arzt war, genügte der Medizinischen Fakultät zur Beglaubigung des Themas; trotzdem hat Lessings Interesse daran weniger mit Medizin zu tun als mit seinem erneuten Studium der spanischen Sprache und der Wissenschaftsgeschichte.«9
5 Ein Bild der Stadt Wittenberg dieser Zeit zeichnet Günter Mühlpfordt: Wittenberg und die Aufklärung. Zu seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte der Frühneuzeit. In: Oehmig, Stefan (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1995, S. 329–346. 6 Dass die beiden Brüder ohnehin nicht verwöhnt waren, beweist ein Blick zurück auf die Verhältnisse in der Fürstenschule St. Afra, wie sie Detlef Döring rekonstruiert hat: Detlef Döring: Die Fürstenschule in Meißen zur Zeit des jungen Lessing. In: Engel, Eva J.; Ritterhof, Claus (Hgg.): Neues zur Lessingforschung. Ingrid Strohschneider-Kohrs zu Ehren am 26. August 1997. Tübingen 1998, S. 1–29. Einen lebhaften Einblick in die Schulzeit, wenngleich bisweilen ins Hagiographische abgleitend, gibt Eduard August Diller: Erinnerungen an Gotthold Ephraim Lessing, Zögling der Landesschule zu Meissen in den Jahren 1741–1746. Ein Wort zum Schutze des Humanismus und zur Erhaltung alter Zucht und Lehre. Meißen 1841. 7 Die wenigen gesicherten Erkenntnisse zu den Lebensumständen der Brüder Lessing zu dieser Zeit fasst Hugh Barr Nisbet zusammen: N, S. 157–202. 8 Zur Übersetzungsgeschichte des Werkes und zur Person Juan Huartes siehe Martin Franzbach: Lessings Huarte-Übersetzung (1752). Die Rezeption und Wirkungsgeschichte des »Examen de Ingenios para las Ciencias« (1575) in Deutschland. Hamburg 1965. 9 N, S. 161f.
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Lessing in Wittenberg – Ausgangslage und erste Erträge
Trotzdem lohnt ein kurzer Blick auf die Medizinische Fakultät der Universität Wittenberg im 18. Jahrhundert bis zu Lessings Studienaufenthalt. Bereits am 20. August 1748 hatte sich Lessing, gegen den Wunsch seines Vaters, der selbst in Wittenberg 1717 zum Theologen promoviert worden war, nicht für ein Studium der Theologie, sondern der Medizin entschieden. Wenngleich die besten Tage der Leucorea vorüber waren – der Höhepunkt ihrer Reputation ist in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten anzusiedeln – und neue Universitätsgründungen, Göttingen etwa, ihr den Rang abliefen, genoss die Medizinische Fakultät bis in die Mitte des Jahrhunderts noch hohes Ansehen.10 Generell ist zu sagen, dass sich die Wittenberger Universität besonders im Bereich der Anatomie früh einen Namen gemacht hatte. Auf diese Spezialisierung könnte man vielleicht auch Lessings Beschäftigung mit der Huarte-Schrift zurückführen bzw. plausibel machen, warum seine Arbeit an der Medizinischen Fakultät angenommen wurde. »Eine klinische Ausbildung von Medizinstudenten hat es in Wittenberg niemals gegeben.«11 Diese hätte mit Sicherheit auch nicht Lessings Interesse gefunden, seine Hilfe für Menschen sollte auf einem anderen Gebiet stattfinden, dem der Gelehrsamkeit, aber dazu später mehr. Aus rein fachlicher Perspektive ist die Entscheidung in Wittenberg Medizin zu studieren nachvollziehbar; dass für den jungen Lessing ein Theologie-Studium nicht der sehnlichste Wunsch war, steht auf einem anderen Blatt und hat mit Sicherheit andere Gründe. Aber widmen wir uns weiter den unmittelbaren Lebensumständen. In einem ersten Schritt gilt das Interesse Lessings Freundeskreis, soweit er sich rekonstruieren lässt.12 Neben der literarischen Gestaltung des Wittenberger
10 Darauf, dass sich dies bald ändern würde, weist Wolfgang Böhmer hin: »Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das Niveau der Wittenberger Universität eigentlich nicht mehr zweckgemäß.« Wolfgang Böhmer: Die überregionale Bedeutung der medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg. In: Oehmig, Stefan (Hg.): 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1995, S. 225–230, hier S. 229. 11 Ebd. 12 Trotz intensiver Bemühungen ist es mir nicht gelungen, ein wenig Licht in den Freundeskreis Lessings zu bringen. Drei Personen lassen sich heute noch ermitteln. Von einem wissen wir, dass Lessing ihn kannte, von zwei weiteren kann man es annehmen. Aus dem Matrikelverzeichnis der Wittenberger Universität geht hervor, dass sich in besagtem Zeitraum drei gebürtige Kamenzer als Studenten eingeschrieben hatten: Immanuel Friedrich Gregor (18. 5. 1748), Joannes Christian Jordan (21. 5. 1749) und George Gottlob Schmiederer (30. 5. 1748). Genaueres konnte über die zwei Letztgenannten bisher nicht in Erfahrung gebracht werden, aber nun sind die Namen einmal genannt und werden vielleicht wiedererkannt. Aus: Album Academia Vitebergensis. Jüngere Reihe Teil 3 (1710–1812). Bearb. von Fritz Juntke. Halle 1966. In Immanuel Friedrich Gregor(ius) hatte Lessing sich zu seiner Berliner Zeit bereits einen Feind gemacht, indem er dessen – in seinen Augen inkompetente – Übersetzungsversuche anprangerte. Siehe hierzu N, S. 146f. Dies führte
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Umfeldes in einigen wenigen Epigrammen des jungen Lessing lassen sich zwei Personen identifizieren, mit denen Lessing – im einen Falle zumindest kurzzeitig – Umgang hatte, im zweiten Falle wurde eine alte Freundschaft wiederbelebt. Im Frühjahr sollte es zu einer ersten Begegnung mit Gottlob Samuel Nicolai, dem älteren Bruder Friedrich Nicolais kommen: »Es war im Monat März des 1752. Jahres als dieser Herr P. N. durch Wittenberg reiste, und mich daselbst der Ehre seines Besuches würdigte. Ich hatte ihn nie gesehen, und ihn weiter nicht als aus seinen Schriften gekannt. [. . . ] Als er wieder in Halle war, fanden wir es für gut unsere angefangne Freundschaft in Briefen fortzusetzen.«13 Diese Briefe sollten später den Mittelpunkt des missglückten Vermittlungsversuchs zwischen Lessing und Samuel Gotthold Lange darstellen, als die beiden in Disput über die Horaz-Übersetzung gerieten. Über die Wittenberger Zeit hingegen tauschten sich Lessing und Nicolai nicht weiter aus, sodass man außer dem positiven Befund des Besuchs wenig Erhellendes erfährt. Eine andere Episode aus dem besagten Zeitraum teilt uns Lessings Bruder und Nachlassverwalter Karl Gotthelf mit. Ein ehmaliger Schulkamerad aus Meißen war verstorben und Lessing musste für den kurzfristig erkrankten Leichenprediger Schwarz einspringen. Eigentlich sollte Lessing nur dessen Grabrede verlesen, entschloss sich jedoch eine eigene zu extemporieren. Dieser erkrankte Freund sollte noch eine große Rolle spielen. Wer war Friedrich Immanuel Schwarz? Lessing kannte seinen um ein knappes Jahr jüngeren Kommilitonen (1728–1786) schon aus seiner Schulzeit in Meißen, wo dieser von Oktober 1742 sechs Jahre lang seine Ausbildung genoss.14 Dem Vorschlag vonseiten der Schulleitung in St. Afra für ein Stipendium zum Studium der Theologie in Wittenberg wurde durch Kurfürst Friedrich August in einem Brief vom 30. August 1748 stattgegeben.15 Wann Friedrich Immanuel Schwarz seine Studien in Wittenberg aufgenommen hat, ist nicht genau zu ermitteln, jedoch besteht die Möglichkeit, dass sich die Schulfreunde schon zu Lessings erster Wittenberger Zeit begegneten. Lessing reiste Anfang November des Jahres 1748 nach Berlin ab, um dort die besagten drei Jahre zu journalistischen Arbeiten und Schriftstellerei zu nutzen. Schwarz blieb in Wittenberg und studierte Theologie. Darüber
sogar so weit, dass sich Gegorius’ Vater bei Lessings Vater über den Sohn beschwerte. Zu Gregorius siehe ferner den Eintrag bei Johann Georg Meusel: [Art.] Gregorius, Immanuel Friedrich. In: Meusel, Johann Georg (Hg.): Lexikon der vom Jahre 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller. Leipzig 1802–1816, hier Bd. 4, S. 340–345. 13 WuB 3, S. 144. 14 Lessing besuchte die Fürsten- und Landesschule St. Afra in Meißen vom 21. Juni 1741 bis zum Juli 1746. 15 Johann Georg Eck: Leben Friedrich Immanuel Schwarzens; nebst einigen Briefen berühmter und verdienter Männer an ihn. Leipzig 1787, S. 9.
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hinaus hörte er Vorlesungen in Philosophie, unter anderem bei Johann Friedrich Hiller (Natur- und Völkerrecht / Philosophie); desweiteren besuchte er Veranstaltungen bei Johann Wilhelm Berger (Rhetorik), Johann Friedrich Weidler (Mathematik / Hydraulik), Johann Daniel Ritter (Praktische Philosophie), Karl Gottlob Sperbach (Theologie), Christian Siegmund Georgi (Philologie / Theologie), Joachim Samuel Weickhmann (Geschichte) und Johann Wilhelm Hoffmann (Literatur- und Rechtsgeschichte).16 Just in dem Jahr, als Lessing zurück nach Wittenberg kommen sollte, um seine Magisterarbeit zu schreiben, macht sich der dreijährige ›Vorsprung‹ Schwarz’ bemerkbar. 1751 wurde Friedrich Immanuel Schwarz promoviert und noch im gleichen Jahr habilitiert. Im Zuge dessen wurde ihm das Amt eines Adjunktes der Philosophischen Fakultät angetragen, und – die für unseren Fall viel bedeutendere Stelle – die des Custos der Bibliothek.17 Wir werden darauf zurückkommen. Zunächst gilt es einen näheren Blick auf die Bibliothek der Universität Wittenberg zu werfen. Es soll hier keine Geschichte der Universitätsbibliothek Wittenberg vorgestellt werden, es geht eher um ein Detail, das in der Lessingforschung seit Martin Franzbach unverändert wiederholt wird und dennoch falsch ist: »Die Benutzung der Universitätsbibliotheken war während jener Zeit den Studenten untersagt. Göttingen löste zuerst dieses traditionelle Verbot.«18 Die Aussage, dass Studenten in Wittenberg zu Zeiten Lessings keinen und Professoren kaum Zugang zur Bibliothek hatten, stimmt so nicht. Der Lessing-Hagiographie, aber auch der Forschung kam diese These nicht ungelegen, passte sie doch ins Bild und bewies überdies noch den unglaublichen Wissenshunger des jungen Dichters. Diesen möchte ich auch gar nicht in Abrede stellen, sondern lediglich einige Korrekturen in Bezug auf die Zugangsbeschränkungen einer Universitätsbibliothek in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anbringen, um zu zeigen, dass der historische Kontext eine nicht zu vernachlässigende Größe für das Verständnis der lessingschen Schriften darstellt. Hier bedarf es einer differenzierteren Beschreibung, um zu adäquaten Aussagen zu gelangen. Daran schließen dann die allgemeineren Überlegungen
16 Ebd. Für nähere Informationen zu den genannten Dozenten und ihrer Profession siehe Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502–1817. Köln 2002 (Mitteldeutsche Forschungen 117). Wirft man einen Blick in die Vorlesungsverzeichnisse, so zeigt sich, dass die Grenzen des eigenen Faches oder Lehrstuhl meist recht weit gefasst waren. Einige der genannten Professoren und Dozenten dürfte wohl auch Lessing gehört haben, aufgrund fehlender Quellen bliebe aber jede weiterführende Aussage Spekulation. 17 Johann Georg Meusel: [Art.] Schwarz, Friedrich Immanuel. In: Meusel, Johann Georg (Hg.): Lexikon der vom Jahre 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller. Leipzig 1802–1816, hier Bd. 12, S. 600–604. 18 Franzbach (1965), S. 70, Anm. 137.
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an. Eines lässt sich vorweg festhalten: Der Zugang für Studenten war nie einfach und bildete einen wiederkehrenden Streitpunkt in der Verwaltung der Bibliothek. Das Fehlerhafte an der obigen Aussage ist, dass sie sich auf die Bibliotheksordnung der Universität Wittenberg aus dem Jahre 1766 bezieht.19 In dieser finden sich unter Caput V. fünf Paragraphen, die Benutzung der Bibliothek durch Studenten betreffend: §3 Dieweil zu hoffen, daß wenn Studiosis die Bibliothec zu gebrauchen gestattet, sie dadurch in ziemliches Aufnehmen kommen würde, als sollen die Student auch dieselbe ad usum Bibliothecae gelassen werden. §4 Studiosi gebrauchen die Bücher an den Tagen, wo sie geöffnet wird [das sind Dienstag und Samstag jeweils von 12–13 Uhr, M.M.], erhalten sie aber nicht eher, als bis sie ihren Namen in dasjenige Buch, so dazu verfertigt worden, nebst des Buches Titul schreiben, damit man bey dem Zuschluß der Bibliothec sogleich sehen könne, ob alle herausgegebene Bücher wieder richtig eingeliefert seyn. §5 Es ist den Studiosi nicht erlaubt, mit Dinte excerpta aus den Büchern zu machen, weil es gemeiniglich nicht ohne Schaden abgehet, Bibliothecarius und Costos sollen hierinnen Niemanden nachsehen, damit man sich nicht auf Exempel berufen könne. §6 Verlangen die Studiosi Bücher nach Hause, so muß einer von denen Professoribus oder Director vor sie cavieren, und den Zettul mit seinem Namen unterschreiben. Es soll aber kein Buch länger als auf 14 Tagen an Studiosis verliehen werden, und so lange sollen auch Dnn. Professores mit ihrer Unterschrift cavieren. Wird das Buch nach verfloßner Zeit nicht eingeliefert, soll es der Custos abfordern, und künftighin dem Säumigen keines mehr gegeben werden; dieses haben Bibliothecarius und Custos dem Empfänger jedesmahl zur Nachricht zu notificieren. §8 Denen Studiosis werden die Repositoria nicht geöffnet, sich alleine nach Belieben in den Büchern umzusehen, um allen Exceptionen wenn wollte was verlorengehen, vorzubeugen.
Gewiss: Dies waren strikte Regeln, und für die Studenten erwies es sich als höchst schwierig, an die gewünschten Bücher zu gelangen. Allerdings traten sie erst knapp fünfzehn Jahre nach Lessing Universitätsbesuch in Kraft. Lange Zeit galt die hier zitierte Satzung aber als die einzig greifbare für die gesamte Frühe Neuzeit und lieferte immerhin – so stand wohl zu vermuten – näherungsweise Einblicke auch für frühere Zeiten. Erst Hildegard Herricht hat eine zweite Bibliotheksordnung und damit ziemlich sicher den unmittelbaren Vorgänger der 1766 verfassten gefunden. Diese datiert aus dem Jahr 1623.20 Das Hauptaugenmerk die-
19 Die Bibliotheksordnung ist vollständig abgedruckt bei Bernhard Weißenborn: Die Wittenberger Universitätsbibliothek (1547–1817). In: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 3 Bde. Halle 1952. Bd. 1, S. 355–376, hier S. 361–375. 20 Hildegard Herricht: Zur Geschichte der Universitätsbibliothek Wittenberg. Hg. von der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt. Halle 1977 (Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt 44). Herricht druckt erstmals den vollständigen Text der Bi-
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ser Verordnung liegt auf der Erweiterung der Bestände, die sich damals in einem mehr als unbefriedigenden Zustand befanden. Jedoch soll es hier primär um die Benutzer und die sie betreffenden Vorschriften gehen, deren Status allerdings eng mit der Beschaffungspolitik verzahnt war. Hildegard Herricht berichtet hierzu: »Ein schwieriger Punkt war der Beitrag der Studenten; sie sollten nach dem Vorschlag der Kommission zur Bibliothek zugelassen werden unter der Bedingung, daß sie, nachdem sie sie eine Zeitlang benutzt hätten, aus Dankbarkeit und zu Ihrem Gedächtnis ›ein fein Buch‹ abgäben, oder aber etwas Geld.«21 Der Zugang für Studenten wurde wohl eher aus ökonomischen denn aus Aspekten der akademischen Bildung beschlossen. Zuvor, so hat es den Anschein, war den Studenten jegliche Benutzung der Bibliothek verweigert worden. Wie sahen die Möglichkeiten der Benutzung aus? Der vierte Abschnitt der Bibliotheksverordnung von 1623 regelt die Formalitäten: IV. Eorum, quibus Bibliothecae usus concedetur 1. Allen undt jeden Professoeribus soll frey stehen, wann und wie offt sie wollen, in die Bibliothecam zu gehen undt dieselbe ihres Gefallens zu gebrauchen. 2. Wann sie auch in ihre Heusser Bücher begehren werden, sollen sie ihnen gefolget werden, jedoch nicht ehe, sie haben dann dem Famulo Bibliothecae ein Zettelin, darauf das Buch, Tag, und des Professors Nahm propria manu geschriben, zustellen lassen, das derselbe, wann das Buch widergebracht wirdt, außzuantworten schuldig ist. Solches aber soll nicht der Meinung geschehen, als ob Jemandem in Academia nicht getrawet werde, besondern zu verhüten allerley Betrug, so unter der Professoren Nahmen geschehen möchte, auch Richtigkeit zu halten, und daß man allezeit wissen könne, wo jedes Buch zu finden. 3. Dieweil zu hoffen, daß, wann Studiosis die Bibliothec zu gebrauchen gestattet, sie dadurch in zimbliches Aufnehmen kommen würde, als sollen auch dieselbe ad usum Bibliothecae gelassen werden. 4. Dabey dieser Unterschied zu halten, daß sie in gemein nur in das Vestibulum gelassen, daselbst ihnen Bücher gegeben, sie indessen, biß sie heraus begehren, darein verschlossen undt nicht ehe dimittirt werden, sie haben dann die Bücher ohne Schaden dem Famulo zugestellet. 5. So aber ein Studiosus auch auf seine Stuben die Bücher ihm zu lassen begehren wirdt, mag er Mittwochs oder Sonnabendts umb und nach zwölff Uhr sich in loco Bibliothecae beym Bibliothecario anmelden, undt ein Buch, das noch einmal so viel werth, einsetzen, das solang, biß das entlehnete widergegeben wirdt, in Bibliohteca verbleiben soll.
bliotheksordnung von 1623 ab. Martin Franzbach ist in seiner Einschätzung des historischen Kontextes insofern kein Vorwurf zu machen, da die Fassung aus dem Jahre 1766 zum Zeitpunkt der Arbeit die einzig bekannte und somit als Näherung immerhin akzeptabel war. In der Lessing-Forschung wurde es allerdings bisher versäumt, diese Einschätzung aufgrund neuerer Forschungsergebnisse zu korrigieren. 21 Ebd., S. 10.
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6. Es soll kein Studiosus einiges Buch uber einen Monat lang bey sich behalten, daß auch andern, die es begehren, damit könne gratifizirt werden. Würde aber einer wider des Bibliothecarii Willen und Erinnerung ein Buch uber die Zeit behalten, der soll dem Rectori angezeigt und des beneficii utendi Bibliotheca privirt werden. 7. Es soll auch keiner einiges Buch glossirn mit Dintenklecken, Linienunterzihen, oder es auf andere Weise am Band oder in Blettern maculirn, wo anders, soll ers (er sey Professor oder Studiosus) behalten und ein newes Exemplar dafür verschaffen. Wer es aber nicht zu bekommen, soll er sich mit den Inspectoribus und Bibliothecario deßwegen vergleichen. 8. Keinem Studioso aber soll allein bey den Büchern umbzugehen gestattet sein, wo nicht der Bibliothecarius oder sonst ein Professor, zum wenigstens aber der Famulus Bibliothecae darbey ist und in fleissige acht nimbt, daß nichts entfrembdet werde. In gemein aber soll, allerley Verdacht zu verhütten, keiner, es sey jemand dabey oder nicht, die Bücher aus ihren Ständen nehmen.
Augenscheinlich galten 1623 wesentlich freiere Zugangsbedingungen als 1766. Inwieweit das mit dem Zuwachs der Bestände, die es vielleicht zu schützen galt, zu erklären ist, lässt sich schwer abschätzen. Um 1786 zählte die Universitätsbibliothek rund 12.000 Bände sowie etwa 200 Manuskripte.22 Nun liegen zwischen der älteren Verordnung und Lessings Studienzeit beinahe 130 Jahre, sodass es plausibel scheint, der späteren Bibliotheksverordnung Glauben zu schenken. Allem Anschein nach ist aber die ältere bis auf Lessings Tage die gültige gewesen, Übergangsregelungen ließen sich in den Archiven nicht finden.23 Geht man also davon aus, dass die frühere Regelung noch in den Jahren 1751/52 ihre Geltung hatte, war der Zugang zur Bibliothek für Studenten zwar nicht unmöglich, aber doch bestimmten Restriktionen unterworfen. Einerseits waren Studenten erwünscht, um dabei zu helfen die Reputation der Universitätsbibliothek zu erhöhen, andererseits traute man ihnen kaum und sie verursachten Arbeit. Niemand durfte direkt an die Bücher. Erschwerend kam hinzu, dass nur ein gedruckter Katalog aus dem Jahre 1678 existierte – vorhanden in nur in wenigen Exemplaren –, was die Situation gerade für auswärtige Benutzer äußerst unkomfortabel machte.24 Den
22 Friedrich Karl Gottlob Hirsching: Versuch einer Beschreibung sehenswürdiger Bibliotheken Deutschlands: nach alphabetischer Ordnung der Städte. 4 Bde. in 3. Hildesheim 1971 (Repr. der Ausg. Erlangen 1786–1787), hier Bd. 1, S. 255. 23 Herricht weist darauf hin, dass bei ihrem Fund der Verordnung von 1623 auf dem nächsten Blatt des Faszikels eine Ausfertigung des Exemplars von 1766 zu finden ist. Eine zwischenzeitig gültige Verordnung, so es denn eine gegeben hätte, wäre sicherlich hier zu finden gewesen. Herricht (1977), S. 8. 24 Der von dem Bibliothekar Andres Sennert herausgegebene Bibliothekskatalog schaffte es sogar in Johann Vogts Katalog rarer Bücher (Catalogus historico-criticus librorum rariorum, 1732). Siehe hierzu: Hirsching (1971 [1786–1787]), Bd. 1, S. 257. Bis heute existiert ein Exemplar im Wittenberger Predigerseminar. Zwei weitere Exemplare finden sich in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar sowie in der Universitätsbibliothek Halle. Es gab bereits zu Lessings Zeiten einen zwei-
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restriktivsten aller Paragraphen (8.) konnte Lessing wohl durch seinen Freund Schwarz umgehen. Er durfte an die Bücher! Nur so lässt sich die viel zitierte Briefmitteilung Nicolais aus dem Jahre 1794 verstehen: »Als er [Lessing] dort im Jahre 1752. [sic] von Berlin nach Wittenberg ging, hatte er dort keine bestimmte, und so gut als gar keine Beschäftigung [die Magisterarbeit müsste man hinzufügen, M. M.]. Daher war er fast beständig auf der Universitätsbibliothek, und rühmte sich, es sey kein Buch auf derselben, das er nicht in Händen gehabt habe. Sein Scharfsinn brachte ihn auf so manche Untersuchungen.«25 An Ausleihe brauchte Lessing aufgrund seiner finanziellen Situation wohl gar nicht denken. Die unter 5. vermerkte Regel hat dies mit ziemlicher Sicherheit verhindert. Davon waren viele Studenten betroffen: »In der Bibliotheksordnung von 1623 ist von den Belangen armer Studierender gar nicht mehr die Rede. Das Ausleihen nur nach Abgabe eines Pfandes vom doppelten Wert des auszuleihenden Buches schließt vielmehr die ärmeren Studenten von einer Buchausleihe nach Hause gänzlich aus.«26 Inwieweit das ein Schachzug der orthodoxen Wittenberger Theologen war (gerade die armen Studenten immatrikulierten sich ja in diesem Fach), lässt sich heute nicht mehr feststellen. Bedenkt man aber, welche Funde Lessing aus der Bibliothek zutage förderte und deren religionskritische Sprengkraft, dann liegt die Vermutung nahe, dass mit einer solchen Regel bestimmte Bücher für Studenten schwer oder gar nicht greifbar sein sollten. Beweisen lässt sich dies freilich nicht mehr. Gerade aber die religionskritischen Schriften waren es, so viel ist sicher, die Lessings Interesse weckten.
bändigen, 1743 fertiggestellten handschriftlichen Katalog, der in Wittenberg eingesehen werden konnte. Auffällig dabei ist die selektive Verzeichnung der Titel, demnach fehlen einige, die nach Sennerts Katalog hätten vorhanden sein müssen. Dennoch ist es kein Katalog, der bewusst als gefährlich erachtete Literatur ausspart. Stichproben haben ergeben, dass etwa die Schriften Schwenckfelds oder Valentin Weigels regulär aufgenommen wurden. Ob der Katalog nur für den internen Gebrauch gedacht war oder ob er öffentlich zugänglich war, ließ sich auch in Absprache mit dem Bibliothekar nicht mehr klären. Die erste Option erscheint jedoch die wahrscheinlichere. 25 Zitiert nach Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971. Hier: Nr. 64. Im Folgenden verweist die Sigle ›D‹ auf diese Ausgabe. 26 Herricht (1977), S. 16.
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2.2 Die Rettung des Simon Lemnius – ein erster Versuch in Briefen Die Züge des vermeintlich streitlustigen und durch und durch polemischen Geistes zeichneten sich in der Wahrnehmung Lessings schon früh ab. Andreas Gottlieb Masch, der 1756 eben 32 Jahre alt war und gerade den Posten eines »Stadtprediger[s] und Consistorialrath[es]«27 in Neustrelitz angetreten hatte, fühlte sich bewogen »die Feder in einem Streite mit einem Gegner anzusetzen, mit welchem schon mehrere einen gelehrten Streit führen müssen.«28 Ausgangspunkt dieses Streit bildete eine Reihe von Schriften, die sogenannten Rettungen, die der junge Lessing innerhalb von zwei Jahren der Öffentlichkeit übergab. Lessing hatte sich 1753 mit dem zweiten Teil seiner Schrifften erstmals mit einem monographischen Band auf das Parkett des gelehrten Streites begeben. Neben der später so genannten Rettung des Simon Lemnius29 enthält der Band verschiedene Gedichte, eine Reihe journalistischer Arbeiten sowie das Dramenfragment Samuel Henzi. Die Bemerkungen und Berichtigungen zu Samuel Langes Horaz-Übersetzung (Brief 24) sollten in der zeitgenössischen Rezeption zum gewichtigsten Beitrag zur Geschichte der Gelehrsamkeit innerhalb des noch jungen Werkes werden. Alles in allem stellt der zweite Teil der Schriften eine Auswahl aus Lessings Tätigkeiten der Leipziger, Berliner und dann auch Wittenberger Zeit dar. Diese inhaltliche und bezüglich der Textsorten doch recht heterogene Zusammenstellung der Themen vereinigte Lessing in einer fingierten Briefsammlung. So ist der gesamte zweite Band lediglich Briefe überschrieben. Ergänzt, und damit auch erläutert, wird die Sammlung durch ein vorangestelltes Motto des ob seiner Briefe berühmten Quintus Aurelius Symmachus (ca. 345–ca. 402 n. Chr.): »Offen ist meine Gesinnung, und rein der Zweck meiner Arbeiten. Nichts verbirgt sich meinem Bewußtsein, das ich in meinen Schriften künstlich verstecken müßte.«30 Das Motto, wenngleich aus der Spätantike stammend, fügt sich naht-
27 [Art.]: Masch, Andreas Gottlieb. In: ADB 20, S. 550f. 28 M. S. B. [= Andreas Gottlieb Masch]: Vertheidigung des seligen Lutheri und der Reformationsgeschichte, wider den Verfasser der Kleinigkeiten. Frankfurt / Leipzig 1756, hier S. 3. Zitiert nach: WuB 2, S. 1263. Vom Ausgang des Streites und der Berechtigung der Replik handelt das Kapitel 4.5 zur Rettung des Cochläus. 29 Diese Überschrift erhielt die Schrift, die ursprünglich aus den Briefen eins bis sieben besteht, erst in der von Lessings Bruder Karl Gotthelf und Johann Joachim Eschenburg besorgten Werkausgabe mit dem Titel Vermischte Schriften, die zwischen 1771 und 1793 in vierzehn Bänden erschien. Vgl. zu den verschiedenen Ausgaben Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 3 2010, S. 62f. Im Folgenden mit der Sigle ›F (2010)‹ bezeichnet. 30 Ich zitiere hier die Übersetzung, die der Kommentar gibt (WuB 2, S. 1280). Im Original lautet die Stelle: »Aperto pectore officia pura miscemus. / Nihil in Conscientia latet, quod scriptorum
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los in den zeitgenössischen Diskurs um die Form des Briefes. Mit Namen wie Johann Christian Fürchtegott Gellert und Johann Wilhelm Ludwig Gleim verknüpfte man eine neue Form des Briefes, die sich deutlich vom gespreizten Kanzleistil emanzipierte. Die neue Form des Briefes war bei aller artifiziellen Grundhaltung durch und durch ›natürlich‹. Dass dieses Begriffspaar nicht im Widerspruch stehen muss, versuchte die zeitgenössische Theorie des Briefes geradezu zu erweisen. So schrieb Gellert in seiner Praktische[n] Abhandlung von dem Guten Geschmacke in Briefen [1751]: »Dieses ist auch der Plan zu einem Briefe. Man bediene sich also keiner künstlichen Ordnung, keiner mühsamen Einrichtungen, sondern man überlasse sich der freiwilligen Folge seiner Gedanken, und setze sie nacheinander hin, wie sie in uns entstehen: so wird der Bau, die Einrichtung, oder die Form eines Briefes natürlich sein.«31 Die Trennung von ›künstlich‹ und ›natürlich‹ war dabei allerdings nicht substanziell, sondern betraf die Rezeption – es war der Eindruck der zählte: »Es ist also in solchen Briefen nichts unnatürlicher, als das, was Nachdenken, Kunst und und Mühe verrät.«32 In diese Richtung äußerte sich auch Lessing, wenn er seiner wenig älteren Schwester anempfahl: »Schreibe wie Du redest, so schreibest Du schön.«33 Auch die Briefe von 1753 geben sich in vertrautem Ton, sie scheinen privater Natur zu sein. Lessing weist darauf in seinem Vorwort hin:
cuniculis occulatur.« (WuB 2, S. 665). Nicht ohne Brisanz ist, dass es sich bei Symmachus um eine Figur handelt, die noch jenseits des Christentums steht, und für die folgenden religionsoder zumindest konfessionskritischen Schriften einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen verspricht. Siehe hierzu Richard Klein: Symmachus. Eine tragische Gestalt des ausgehenden Heidentums. Darmstadt 1971 (Impulse der Forschung 2). 31 Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: ders.: Werke. Hg. von Gottfried Honnefelder. 2 Bde. Frankfurt am Main 1979, Bd. 2, S. 137–187, hier S. 155f. 32 Ebd., S. 169 (Hervorhebung M. M.). Auf das Verhältnis von Ästhetik, Anthropologie und Moral und die daraus zu ziehenden Konsequenzen kann hier nicht detailliert eingegangen werden. Einen Überblick über die Rezeption englischer Theorie in Deutschland liefert Jan Engbers: Der »Moral-Sense« bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001 (Germanisch-romanische Monatsschrift / Beiheft 16). Zu Lessing siehe insb. S. 67–102. 33 Im Brief an Dorothea Salome Lessing vom 30. Dezember 1743 wird der Einfluss des zeitgenössischen Geschmacks deutlich, unmittelbar vor der zitierten Passage heißt es dort in Bezug auf die Fähigkeit Briefe zu schreiben: »Ich habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geantwortet. Ich muß also denken, entweder Du kannst nicht schreiben, oder Du willst nicht schreiben. Und fast wollte ich das erste behaupten. Jedoch ich will auch das andere glauben; Du wilst nicht schreiben. Beides ist strafbar. Ich kann zwar nicht einsehn wie dieses beisammen stehn kann: ein vernünftiger Mensch zu sein; vernünftig reden können; und gleichwohl nicht wissen, wie man einen Brief aufsetzen soll.« WuB 11/I, S. 7.
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Der zweite Teil enthält Briefe. Man wird ohne Zweifel galante Briefe vermuten. Allein ich muß bekennen, daß ich noch bis jetzt keine Gelegenheit gehabt habe, dergleichen zu schreiben. Mir Correspondentinnen zu erdichten, und an Schönheiten zu schreiben, die nicht existieren, schien mir in Prosa ein wenig zu poetisch zu sein. Es sind also nichts als Briefe an Freunde, und zwar an solche, an die ich etwas mehr als Complimente zu schreiben gewohnt bin. Ich schmeichle mir so gar, daß in den meisten etwas enthalten ist, was die Mühe sie zu lesen belohnt. Wenn man an Freunde schreibt, so schreibt man ohne ängstlichen Zwang, und ohne Zurückhaltung. Beides wird man auch in meinen Briefen finden, und ich will lieber, ein wenig nachlässig und frei scheinen, als ihnen diese Merkmale abwischen, welche sie von erdichteten Briefen unterscheiden müssen. Ich habe ihrer einen ziemlichen Vorrat, und die welche ich hier ohne Wahl, so wie sie mir in die Hände geraten, mitgeteilt, sind die wenigsten. Es wird mir angenehm sein, wenn meine Freunde nicht die einzigen sind, die etwas darinne zu finden glauben.34
Lessings Selbstrezension, die er am 13. November 1753 in der Berlinerischen Privilegierten Zeitung (BPZ) anzeigte, fügt der Charakterisierung gegenüber der Einleitung noch ein Merkmal hinzu, er bezeichnet sie als »freundschaftliche Briefe eines Pedanten«.35 Dabei ist die Verwendung des Begriffes ›Pedant‹ interessant. Leitet man ›Pedant‹ aus dem Französischen her, ergibt sich die Bedeutung eines übergenauen, Kleinigkeiten zu wichtig nehmenden Menschen, entlehnt von ›pédanterie‹. Die ursprüngliche Bedeutung, deren Kenntnis Lessing aufgrund seiner profunden Lateinkenntnisse ebenso zuzutrauen ist, trifft den hier vorliegenden Fall wesentlich genauer. Wie Zedlers Universallexikon verrät, sind die ›Pedanei‹ »bey den Römern Richter, welche Sachen, die eben von keiner Wichtigkeit waren, entscheiden mußten, die ihnen zu selbigem Ende von den vornehmern Richtern aufgetragen wurden.«36 Das trifft ziemlich genau die Funktion, die Lessing mit seinen Briefen zu erfüllen hoffte; er urteilt über ›Kleinigkeiten‹, die großen Gelehrten nicht mehr gut zu Gesicht stehen, eine negative Konnotation fehlt gänzlich. Die Korrekturen an Jöchers Lexikon, die Verbesserungen an Langes Horaz-Übersetzung und schließlich die geschichtlichen Richtigstellungen in Bezug auf Simon Lemnius sind solche ›Pedanterien‹, die der Richter Lessing sich vorgenommen hat. Dennoch stellt sich eine eindeutige Kategorisierung der »freundschaftlichen Briefe eines Pedanten« schwierig dar, am ehesten sind sie als eine Mischform zu betrachten. Es lässt sich allerdings unter Vorbehalt feststellen: Der kritische Brief ist eine andere Kategorie als der freundschaftliche, orientiert sich aber an den gleichen ästhetischen Prämissen, in den vorliegenden Fällen verwischen die
34 WuB 2, S. 605f. 35 WuB 2, S. 552. 36 Zedler 27, Sp. 49.
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Grenzen.37 Die Rahmung der Briefe ist fiktiv, so wie die Briefe selbst nur imaginierte Empfänger haben. Einige Umstände verleihen ihnen allerdings den Chrakter des Authentischen, so zum Beispiel die wechselnden Orte, von denen sie scheinbar abgesendet wurden. Die Abkürzungen ›W.‹ und ›B.‹ lassen sich leicht als Wittenberg und Berlin identifizieren, die beiden Aufenthaltsorte Lessings zu besagter Zeit. Warum nun gerade Briefe, um den »armen Simon Lemnius« zu retten? Die Form der ›vindicatio‹ war Lessing nach einhelliger Forschungsmeinung bereits von seinem Leipziger Lehrer Johann Friedrich Christ her bekannt.38 Ich will die These aufstellen, dass es die Briefform Lessing ermöglichte, die Reichweite der Form ›Rettung‹ zu erproben, ohne gleichzeitig ein eindeutiges Autor-Statement abgeben zu müssen. Die objektive Haltung zum dargestellten Fall, eine eindeutige Parteinahme in Form einer Verteidigung, entfällt zunächst noch. Dafür gibt es textinterne Hinweise, die nur auffallen, wenn man alle Rettungen im Verbund betrachtet. Einer oberflächlichen oder eklektischen, an einzelnen Motiven interessierten Lektüre muss dieser Umstand verborgen bleiben. So wie der Adressat ist auch der Stein des Anstoßes, eine Literaturgeschichte in der Rettung des Lemnius, noch fiktiv. Es ist zunächst ein Angriff auf ein Phantom, dem kein Name gegeben wird, obwohl dies leicht möglich gewesen wäre. Vorsicht ist auf Seiten Lessings zu spüren, die möglichen Reaktionen konnte er offensichtlich noch nicht abschätzen.39 Das ändert sich im dritten Teil der Schriften, das vorsichtige Abtasten hatte ein Ende, die Angriffe wurden mit hochgeklapptem Visier ad personam
37 Nickisch spricht von einer »uneigentliche[n] Verwendung der Briefform« im Fall ›kritischer Briefe‹. Siehe hierzu Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler 260), insb. S. 130ff. sowie S. 140f., Zitat S. 130. Inwieweit Lessings Briefe jedoch in eine der beiden Kategorien einzuordnen sind, scheint schwer zu beantworten zu sein. Nikisch legt tendenziell eher inhaltliche Kriterien und Wirkungsabsichten zur Klassifizierung an, die so eindeutig nicht sind, als dass man den frühen Briefen, die Themen der Wissenschaft behandeln, den Rang abspricht, politisch oder wenigstens öffentlich wirken zu wollen. Tendenziell ist Nikischs Abhandlung auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts konzentriert, die Frühaufklärung spielt kaum eine Rolle, was der hier vorzunehmenden Einordnung nicht unbedingt dienlich ist. 38 Eine Rekapitulation der gängigen Ansichten in der Lessing-Forschung bietet das Kapitel zur Gattungsgeschichte. 39 Polemische Schriften gegen Lemnius gab es von Seiten der lutherischen Orthodoxie ausreichend, sodass es Lessing nicht schwer gefallen wäre, gegen eine lebende oder bereits verstorbene, in jeden Fall aber historisch greifbare Person zu argumentieren bzw. deren Schrift(en) als Folie zu nutzen.
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geführt; doch zunächst zu Simon Lemnius,40 den ersten Versuch einer Rettung in Briefform. Der Aufbau der Briefserie folgt dem der übrigen Rettungen. Eine deutliche Abfolge der investigativen Bemühungen ist zu erkennen, begrenzt durch jeweils einzelne Briefe. Dementsprechend lohnt der chronologische Durchgang durch die Schrift, um das ›Verfahren‹ – in der doppelten Bedeutung des Wortes – nachvollziehbar zu machen.41 Der erste Brief beginnt medias in res.42 Das Gespräch kommt auf eine Literaturgeschichte, die der Briefpartner verfasst hat und die dem Schreiber in Manuskriptform vorliegt. Es handelt sich um eine Abhandlung oder vielmehr Zusammenstellung – genaueres erfährt der Leser nicht – von »unglücklichen Dichtern«.43 Zwei Auffälligkeiten gleich zu Beginn gilt es festzuhalten: Zunächst dient eine fingierte Schrift als Anlass, nicht wie in den späteren Rettungen eine reale Vorlage. Die zweite Auffälligkeit betrifft den Verfasser der Briefe: Er verbirgt sich im Dunkeln und tritt im Verlauf des gesamten Textes nicht ans Licht. Die Unterschrift der Briefe bleibt mit ihrem wiederholten »Ich bin etc.« im Vagen. Aus der Vorrede könnte man schließen, dass es Lessing selbst sei, ohne dass er mit Namen, also als identifizierbare Person in Erscheinung tritt. Im Fortgang der Beschreibung werde ich den Verfasser, nicht zuletzt der einfacheren Benennung wegen, mit Lessing identifizieren, wohlwissend, dass eine Irritation durch die uneindeutige Zuschreibung immer mitgedacht werden muss.
40 Zur Biographie Simon Lemnius siehe Paul Merker: Simon Lemnius: ein Humanistenleben. Straßburg 1908; sowie die Lexikonartikel im BBKL 4, Sp. 1412–1414; ADB 18, S. 236–239; HansJürgen Bachorski: Lemnius, Lemm, Lemchen, Simon. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 15 Bde. München 1988–1991, Bd. 7, S. 219f. 41 Die Inszenierung eines Gerichtsprozesses bringt ihr eigenes Vokabular mit sich. Siehe hierzu auch die Überlegungen von Katrin Trüstedt: »Nomos and Narrative«: Zu den Verfahren der Orestie. In: Augsberg, Ino; Lensk, Sophie Charlotte (Hgg.): Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts. Annäherungen zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft. München 2012 (Literatur und Recht 6), S. 59–78. Ferner Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 3 1993, S. 4: »Die Interaktionsform des Verfahrens hat deshalb nicht nur die Funktion, brauchbare Entscheidungsgesichtspunkte herauszufiltern; sie dient auch ganz unmittelbar der Konfliktdämpfung, der Schwächung und Zermürbung der Beteiligten, der Umformung und Neutralisierung ihrer Motive im Laufe einer Geschichte, in der Darstellungen und Engagements in Darstellungen sich unter Eliminierung von Alternativen verändern.« Was Luhmann hier unter dem Begriff des Verfahrens beschreibt, kann, auf einen wissenschaftlichen Kontext übertragen, mit dem Begriff der ›kritischen Rationalität‹ wiedergegeben werden. 42 Es wird der Effekt erzeugt, als ob die Auswahl der Briefe inmitten einer länger währenden Korrespondenz anzusiedeln sei, die jedoch mit einem bislang nicht behandelten Gegenstand in diesem Brief einsetzt. 43 WuB 2, S. 655.
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Verlangt wurde vom Verfasser der Literaturgeschichte eine Einschätzung des Manuskriptes, eine erste Beurteilung der Qualität, die prompt verweigert wird, Lessing gesteht, »daß ich durchaus über nichts urteilen will«.44 Das ist ein wichtiger Zug, der die Rezeptionshaltung aller Rettungen prägt, der Beurteiler urteilt nicht, das Urteil – sei es ein vorläufiges oder endgültiges – bleibt stets anderen, dem Briefpartner oder dem Leser, überlassen. Lessing selbst kann nur eine Meinung äußern: »Wollen Sie aber mit so etwas zufrieden sein, das aufs höchste einer Meinung ähnlich sieht, so bin ich zu Diensten.«45 Und diese folgt prompt. Er vermisst eine Kategorisierung der unglücklichen Dichter, die alle aus ganz verschiedenen Gründen unglücklich zu sein scheinen, oder das Prädikat ›unglücklich‹ nachträglich verdienen. Eine Differenzierung findet nicht statt, weder in Bezug auf Eigen- oder Fremdzuschreibung46 noch in Hinblick auf die jeweiligen Ursachen des unglücklichen Zustands.47 Dahin zielt auch Lessings Ermahnung an den Freund: »Aus diesem Gesichtspunkte also, mein Herr, betrachten Sie, wann ich Ihnen raten soll, Ihre Materie etwas aufmerksamer, und vielleicht finden Sie zuletzt, daß Sie ganz unrecht getan haben, ich weiß nicht was für einen gewissen Stern zu erdichten, der sich ein Vergnügen daraus macht, die Säuglinge der Musen zu tyrannisieren.«48 Lessing plädiert hier gegen Vereinfachung in der Darstellung der unterschiedlichen Schicksale, sie sind nicht alle unter »einen gewissen Stern« zu bringen, zumal ›unglücklich sein‹ kein Privileg oder Alleinstellungsmerkmal der Dichter sei. Komplexitätsmaximierung ist das Stichwort, das jeder Urteilsbildung vorangehen sollte und somit auch das Spektrum der möglichen Untersuchungsgegenstände ausweitet, um vorschnelle Urteile, Vorurteile, zu verhindern. Mindestens einer fehlt dann auch, spricht man von unglücklichen Dichtern, der unbedingt in die Reihe des Verzeichnisses aufgenommen werden muss: der »arm[e] Simon Lemnius«.49 Lessings Strategie tritt in diesem Brief offen zutage. Es geht ihm bei der Einschätzung historischer Phänomene – als nichts anderes ist die Literaturgeschichte oder Zusammenstellung der Dichter mit einer bestimmten Eigenart zu begreifen – um die Wahrnehmung und damit einher-
44 Ebd. 45 Ebd. 46 Gerade im Bereich der Eigenzuschreibung kann eine vermeintlich objektivierte Darstellung schnell unglaubwürdig wirken. 47 Lessing selbst bietet bestimmte Distinktionskriterien an, so etwa die Flucht aus der Heimat, körperliche Gebrechen oder schlicht persönliche Umstände, wie »mit einem Teufel von Weibe verheiratet« (WuB 2, S. 656) zu sein. Das Beispiel dürfte wohl auf die Ehe Luthers anspielen, die im letzten der Briefe zum Gegenstand wird. Dazu später ausführlicher. 48 WuB 2, S. 657. 49 Ebd.
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gehend auch Wahrung der historischen Diversität. Alles andere ist in Lessings Augen einseitige und parteiische Geschichtsfälschung. Der Topos vom ›unglücklichen Dichter‹ erfüllt diese Kriterien in herausragender Weise. Das Verfahren, das hier mit dem ersten Brief eingeleitet wird, will einen besonders gelagerten Einzelfall, den des Simon Lemnius, unter die allgemeine Kategorie subsumieren und mit dieser Ausweitung des Gegenstandsbereichs Einfluss auf die Beurteilung oder gar Urteilsfindung nehmen. Diese Strategie ist auch in den weiteren Rettungen zu beobachten. Das Verfahren ist, mit dem Ende des ersten Briefes, gerade eröffnet. Es entzündet sich im zweiten Brief, wie auch im weiteren Verlauf der Rettungen, der Disput an einer Kleinigkeit, in diesem Falle einem Beiwort. »Ein Beiwort, an dessen Nachdruck ich nicht einmal gedacht hätte, legen Sie mir in allem Ernste zur Last?« Und es folgt die provokative, im Druck sogar gesperrt gestellte, Wiederholung der gleichen Phrase »Ich fürchte, ich fürchte, wir werden über den armen Simon Lemnius in einen kleinen Zank geraten.«50 Damit steht die Anklage im Raum. Lessing wiederholt die Attribute der Gegenseite, die Lemnius beigelegt werden: er ist »verleumderisch«, »boshaft«, »meineidig« und »unzüchtig«.51 Diese gilt es nun im Weiteren einzeln abzuarbeiten und zu entkräften. Vorausgeschickt wird dabei die Frage nach der Urteilsbildung, ob jemand den Fall bislang selbst untersucht hat oder man stets nur der Überlieferung gefolgt ist. »Ich befürchte das letztere, und muss also den armen Lemnius gedoppelt beklagen.«52 Die beiden Ursachen der Klage formuliert Lessing in einer rhetorischen Frage: »War es nicht genug, daß ihn Lutherus verfolgte, und muß sein Andenken auch noch von der Nachwelt befeindet werden?«53 Dabei kann man als rechtgläubiger Protestant, so Lessing, kaum auf die Idee verfallen, die beiden Begriffe ›Luther‹ und ›Verfolgung‹ zusammenzubringen. An dieser Stelle kommt die erste Zielrichtung, der Kampf gegen die Lutherhagiographie ins Spiel.54 Es ist eine durch und durch gewollte Provokation vonseiten Lessings, die, obgleich das Verfahren ja auf einer sachlichen, d. h. auf historische Fakten zurückgreifenden Ebene stattfinden soll, eine polemische Note in den Prozess bringt. Vorläufig ist noch nicht ersicht-
50 Ebd. Die Briefe sind immer nur von einer Partei abgedruckt, die eigentlichen Antwortbriefe fehlen. Durch das Referat der im Antwortbrief gestellten Fragen, erhalten diese eine noch subjektivere, monoperspektivische Färbung, was der Leserlenkung zugutekommt. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Lessings Kampf gegen ein überhöhtes, den Menschen Luther außer Acht lassendes Bild in der protestantischen Geschichtsschreibung wird am deutlichsten in der Rettung des Cochläus wieder aufgegriffen.
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lich, welche Funktion diese doppelte Klage haben soll. Zunächst werden Fakten geschaffen, Lessing will den Fall ausführlich schildern, erst danach soll man sich ein Urteil bilden.55 Dabei soll zunächst dem Briefschreiber in seiner Erzählung, also Lessing selbst, unparteiisch entgegen getreten werden. In der oftmals in der Literatur zitierten Stelle will Lessing eine einseitige, Luther gegenüber negative Voreingenommenheit ausschließen: Lutherus steht bei mir in einer solchen Verehrung, daß es mir, alles wohl überlegt, recht lieb ist, einige kleine Mängel an ihm entdeckt zu haben, weil ich in der Tat der Gefahr sonst nahe war, ihn zu vergöttern. Die Spuren der Menschheit, die ich an ihm finde, sind mir so kostbar, als die blendendste seiner Vollkommenheiten. Sie sind so gar für mich lehrreicher, als all diese zusammen genommen; und ich werde mir ein Verdienst daraus machen, sie Ihnen zu zeigen. –56
Der erste Teil des Zitates ist so pathetisch formuliert, dass die Charakterisierung beinahe schon unglaubwürdig wirkt, zumal wenn man es stilistisch neben die restlichen Teile der Briefe stellt.57 Die übertriebene Herausstellung war freilich gewollt. Sie wird im weiteren Argumentationsverlauf der Rettung eine zentrale Rolle spielen. Nur soviel in Kürze vorweg: Durch die Herausstellung der menschlichen Seite des beinahe vergötterten Luther kann Lessing auf eine anthropologische Grundeigenschaft abheben, die selbst einem so herausragenden und über moralische Verfehlungen beinahe erhabenen Menschen wie Luther anhaftet. Der schnelle Umschlag der Persönlichkeit – von gut zu böse – im Affekt, das soll ein Dauerthema Lessings bleiben und taucht dergestalt zuerst in der Rettung des Simon Lemnius auf. Das ist der lehrreiche Teil, von dem Lessing spricht und für den er Luthers Charakter in Anspruch nehmen kann. Die beiden Bindestriche, die das Zitat beenden, gehören in allen Rettungen zum Inventar und sind ein sicherer Indikator dafür, dass es jetzt ad rem geht. Es entsteht der Eindruck, dass nochmals
55 »[. . . ]; und alsdann urteilen Sie.« Ebd, S. 658. 56 Ebd. 57 Darauf weist auch schon Johannes Schneider hin und konstrastiert die Aussage mit der Einschätzung von Lessings Bruder Karl: »Zu dieser Stelle macht Lessings Bruder Karl die Bemerkung: ›So muß der sprechen, der aus Überzeugung und nicht aus Heuchelei lobt [. . . ].‹ Daß Lessing Luther auch für einen großen Mann hält, wollen wir gern glauben. Wenn er aber an dieser Stelle und mit solch übertriebenen Worten Luther herausstreicht, so liegt die Vermutung nahe, daß Lessing selbst ganz andere Zwecke verfolgt als die Mitteilung ›einiger kleinen [sic] Mängel‹ und ›Spuren der Menschlichkeit‹, die er an Luther entdeckt haben will. Ich halte die ganze Lobhudelei für nichts als ein taktisches Manöver, um kräftiger zuschlagen zu können und eventuellen Einwürfen von orthodoxer Seite schon im voraus den Wind wegzufangen.« Johannes Schneider: Lessings Stellung zur Theologie vor der Herausgabe der Wolfenbüttler Fragmente. Univ. Diss. Gravenhage [= DenHaag] 1953, S. 92.
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Atem geschöpft wird: »Zur Sache also!«58 Zunächst liefert Lessing die positiven Daten zum Leben Lemnius’ und seine Vorzüge auf den Gebieten der Wissenschaft und Dichtung.59 Durch diese erlangte Lemnius die Freundschaft seines akademischen Lehrers Melanchthon sowie dessen Schwiegersohns Georg Sabinus (eigentlich Georg Schuler, 1508–1560).60 »Im Jahre 1538. [gerade das Jahr, in dem Sabinus aus Mainz zurückkehrt, M.M.] kam es Lemnio ein, zwei Bücher in lateinischer Sprache drucken zu lassen.«61 Und mit der Publikation von Simonis Lemnii Epigrammaton Libri duo Vitenbergae 1538 nahm das Unglück seinen Lauf – obwohl oder vielleicht sogar weil Lemnius ein reines Gewissen seine Publikation betreffend hatte; er hatte sich an alle Regeln der Zensur gehalten, das Werk erschien unter seinem Namen, der Druckort war angegeben und auch die gängige Vorzensur hatte er eingehalten. Letztere sollte jedoch noch zum Problem werden. »Nunmehr wurden sie bekannt gemacht; aber kaum waren sie einige Tage in den Händen der Leser gewesen, als Luther auf einmal ein entsetzliches Ungewitter wider sie, und ihren Verfasser erregte.« 62 Lessing versucht die zwei möglichen naheliegenden Gründe zu rekonstruieren, weswegen man epigrammatische Lyrik verdammen könnte. Der eine wäre, dass Ausschweifendes, Laszives (lasciviam verborum licentiam) darin enthalten sei, der andere, dass die Ehre des Nächsten angegriffen werde. Üble Nachrede in Versen also. Am Ende wäre es gar Luther selbst, der beleidigt wurde? Das wären alles nachvollziehbare Gründe. Aber: Nein; alles das, weswegen Sinnschriften mißfallen können, mißfiel Luthern nicht, weil es nicht darinne anzutreffen war; sondern das mißfiel ihm, was wahrhaftig an den Sinnschriften das anstößige sonst nicht ist: einige Lobeserhebungen. Unter den damaligen Beförderern der Gelehrsamkeit war der Churfürst von Maynz Albertus einer der vornehmsten.63
Albertus, das ist Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Magdeburg, Kurfürst von Mainz und Kardinal, zeitweise ranghöchster geistlicher Würdenträger des
58 WuB 2, S. 658. 59 Zu Simon Lemnius aus heutiger Sicht siehe Lothar Mundt: Lemnius und Luther. Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konflikts (1538/39). 2 Bde. Bern 1983 (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 14); für Lemnius’ biographische Umstände sowie die Wittenberger Studienzeit insb. S. 1–56. 60 ADB 30, S. 107–111. Es wird über einen längeren Aufenthalt beim Erzbischof in Mainz bis ins Jahr 1538, also bereits vor der Fehde mit Luther, berichtet. 61 WuB 2, S. 658. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 659.
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Deutschen Reiches und ein Förderer des Ablasshandels.64 Lemnius widmete ihm einige seiner Verse, die allerdings darauf bedacht waren, nicht in die politischen Händel mit Luther einzugreifen. Er schätzte im Kurfürsten den Mäzen. So blieben seine Verse im Bereich des stereotypen Fürstenlobes (kluger Regent, gelehrter Prinz, usw.). Der Bereich der Religion wurde bewusst ausgespart.65 Demenstsprechend kann Lessing nun seinen Vorwurf an Luther formulieren: »Gleichwohl verdroß es Luthern; und einen katholischen Prinzen, in Wittenberg, vor seinem Angesichte zu loben, schien ihm ein unvergebliches Verbrechen.«66 Lessing besteht darauf, dass er sich auf Quellenmaterial stützen kann, nämlich einen Anschlag, der in Luthers Schriften abgedruckt ist und hebt damit den konfessionellen Aspekt des Streites hervor.67 Damit handelt es sich auch um einen Verweis auf die zeitgenössische Praxis, die bis zum heutigen Tage auf der Wittenberger Universität – und somit in der protestantischen Kontroverstheologie, deren geistiges Zentrum nach wie vor Wittenberg ist – im Allgemeinen gepflegt wird.68 Lemnius
64 Siehe hierzu: Thomas Schauerte u. a. (Hgg.): Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg, Renaissancefürst und Mäzen. 2 Bde. Stuttgart 2006. 65 Man kann diese Lobsprüche »im humanistischen Stil als Verbeugung des Dichters vor einem Mächtigen, um dessen Gunst er wirbt, werten«. Ruth Götze: Wie Luther Kirchenzucht übte. Eine kritische Untersuchung von Luthers Bannsprüchen und ihrer exegetischen Grundlegung aus Sicht unserer Zeit. Göttingen 1959 (Theologische Arbeiten 9), S. 21. Luthers Wutausbrüche waren wohl auch eher politisch motiviert, wie Götze ferner darlegt: »Nach Luthers Erklärung ist Lemnius zu verdammen, weil er auf Grund seines Buches ein Lügner und Lästerer ist, ferner wegen seiner Flucht und des damit zusammenhängenden Wortbruches ein ehrloser Bube, und weil er einen Feind Luthers und der protestantischen Welt, den Erzbischof Albrecht von Mainz, ›der uns gerne alle tod hette‹, gelobt und gerühmt hatte. Nach dem Urteil des Universitätsgerichtes sind es die schmählichen Bücher, der Meineid und als weitere Gründe werden noch die schlechten Sitten des Lemnius genannt, der ein Verächter der Religion und der Gesetze sei, die seine Verurteilung rechtfertigen.« Ebd., S. 21. 66 WuB 2, S. 659. 67 In Wahrheit, wie Götze glaubhaft darlegen kann, war der Auslöser ein Einzelfall aus dem Umfeld Luthers, der ihn dermaßen aufgebracht hat: »Albrecht von Mainz war seit langem Luthers Feind. In dem Jahr, als Lemnius ihm in Wittenberg dichterische Lobsprüche widmete, war Luther gerade besonders empört gegen ihn wegen eines ungerechten Verfahrens des Erzbischofs gegen den Rentmeister Hans von Schönitz, den er um einer geringfügigen Unterschlagung willen und nach einem anfechtbaren Prozeß erhängen ließ. Der Bruder des Gehängten wandte sich an Luther, und dieser brachte die Sache vor den Kurfürsten und verfasste selbst eine Schrift: Wider den Erzbischof zu Magdeburg Albrecht Cardinal, die im Januar 1539 erschien.« Götze (1959), S. 21. 68 Man könnte dies durchaus auch als eine apologetische Vorgehensweise Lessings sehen, folgt man Karl Bahrts Überlegungen: »Ausgeschlossen scheint es ihm gewiß nicht, daß gerade die lutherische Kirche als die wahre Kirche und Religion sich noch einmal erweisen könnte. Um dieser Chance willen interessiert sie ihn, hält er es der Mühe wert, ihr guten Rat zu geben, ihre Theologen auf die Probe zu stellen, und kann er über diese ihre Theologen, die bei der Probe
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wurde ängstlich, aus verständlichen Gründen 69 und verließ Wittenberg nur zwei Tage nach Erscheinen seiner Epigramme, am 10. Juni 1538.70 Seine Flucht wurde als Schuldeingeständnis gesehen, und die sich anschließende Verteidigung aus dem Exil nur als üble Nachrede empfunden. Freilich muss auch Lessing zugeben, dass die Schriften, die in sicherem Abstand zu Luther entstanden, heftig sind: »er schimpfte; er schmähte; er lästerte. – «71 Mit dieser Diagnose, die aus den historischen Umständen entwickelt wird, endet der zweite Brief; übrig bleiben zwei zornige Menschen. Als ob mit diesen wenigen Anmerkungen eigentlich alles gesagt sei, was für eine Verteidigung des Simon Lemnius notwendig wäre, schließt der Brief mit einer rhetorischen Frage: »Soll ich in meinen künftigen Briefen fortfahren, Ihnen mehr davon zu sagen?«72 Für die Aufnahme Lemnius in das Verzeichnis der ›armen Dichter‹ hätte das Vorgebrachte wahrscheinlich schon ausgereicht, aber das Ziel ist dann doch ein anderes, wie der dritte Brief nahelegt. »Ehe ich fortfahre, soll ich Ihnen auf verschiedene Puncte antworten.«73 Der dritte Brief markiert den Übergang hin zum Austausch von Argumenten, wie es für den juristischen Prozess der Wahrheitsfindung charakteristisch ist. Dabei versucht Lessing die vorgebrachten Einwände der Anklage gegen seine Darstellung zu entkräften und Lemnius weiter zu entlasten. Erste Antwort: Luther war nicht nur erbost wegen der Lobeshymnen, die Lemnius Albrecht entgegengebracht hatte, sondern auch wegen Anschuldigungen und bösen verbalen Spitzen gegen den einen oder anderen ehrlichen Mann aus dem Kreise der Wittenberger Gesellschaft. Mit diesem Argument zeichnet der Briefpartner ein gängiges Lutherbild – Luther der Altruist –, der es nicht ertragen konnte, wenn Unschuldige verleumdet werden. Nun hat Lessing dem entgegenzuhalten, dass der Briefpartner durchaus recht habe, wenn man den dritten Teil der Epigrammata74 mit in Betracht zieht.
versagen, richtig zornig werden.« Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. Zürich 2 1952, S. 233. 69 So hatte Luther ihn sofort unter Stubenarrest stellen lassen wollen und auf eine faire Verhandlung vor dem Universitätsgericht, dessen Gerichtsbarkeit er als Student unterstand, konnte er eben sowenig hoffen wie auf unvoreingenommene bzw. von Luther nicht beeinflusste Richter. 70 F (2010), S. 139. 71 WuB 2, S. 660. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Der dritte Teil M. Simonis Lemnii Epigrammaton libri III. Adiecta Est Qvoque eiusdem Querela ad Principem erschien ebenfalls 1538 im Zuge der zweiten Aufl., allerdings ohne Impressum. Mundt bemerkt dazu: »Das dritte Buch [. . . ] weist im Vergleich zu den beiden voraufgegangenen [sic] Büchern eine durch die Umstände seiner Entstehung bedingte einseitige Prägung auf. In den meisten Texten wird nur ein Thema abgehandelt: das dem Autor in Wittenberg angetane Unrecht
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Das aber ist unstatthaft, denn der dritte Band erschien erst nach Lemnius’ Flucht und war somit schon eine Reaktion auf die Ereignisse. Lessing schränkt den Untersuchungsgegenstand ein: nicht alle drei, sondern nur die ersten beiden Bücher der Epigrammata sind für die Untersuchung von Relevanz, und darin, so die Gegenargumentation, findet sich kaum etwas gegen Luther. Und noch einen Vorteil hat die weitere Differenzierung der Sachlage für Lessings argumentatives Vorgehen. Er kann die Quelle seines Briefpartners benennen. Dieser hat seine Informationen offensichtlich nur aus zweiter Hand, aus der Lebensgeschichte Luthers, die sein Freund und späterer Biograph Johann Matthesius geschrieben hat.75 Das ist ein wichtiger Umstand, wenn man sich Lessings Eingangsfrage, ob den Fall schon jemand unvoreingenommen geprüft hat, ins Gedächtnis ruft. Die eigene Kenntnis der Quellen ist unumgänglich. Sogleich wird deutlich, dass der Spott in den Epigrammen auf allgemeine menschliche Torheiten und nicht das Fehlverhalten Einzelner zielt. Wenn Namen genannt werden, so sind es durchweg »poetische Namen«.76 Lessing fasst zusammen: Ich behaupte also kühnlich, daß Lemnius so wenig ein Verleumder ist, daß ich ihn nicht einmal für einen guten Epigrammatisten halten kann, welcher das Salz mit weit freigiebigeren Händen ausstreuet, ohne sich zu bekümmern, auf welchen empfindlichen Schaden es fallen wird.77
und seine dadurch verursachten unglücklichen Lebensumstände. Die Epigrammtypen sind reduziert auf Panegyrik, Satire, Selbstdarstellung und Freundschaftsgedicht – auf solche Formen, die den Wünschen des Autors nach Schutz vor Verfolgung, Abrechnung mit seinen Gegnern und Aussprache seiner Nöte vor sich selbst und seinen Freunden gemäß waren. Das reflektierendlehrhafte und das spielerische Epigramm fehlen völlig.« Mundt (1983), S. 81 (Hervorhebung im Original). 75 Zu Johann Matthesius (1504–1565) siehe BBKL 5, Sp. 1000–1011. Die Historien von Martin Luthers Anfang, Lehr, Leben und Sterben, zuerst gedruckt in Nürnberg 1566 unter dem Titel: ›Historien / Von des Ehrwirdigen in Gott Seligen theuren Manns Gottes / Doctoris Martini Luthers / anfang / lehr / leben und sterben / Alles ordendlich der Jarzal nach / wie sich alle sachen zu jeder zeyt haben zugetragen / durch den Alten Herrn M. Mathesium gestelt / vnd alles für seinem seligen Ende verfertigt‹ erreichten unzählige Auflagen unter nicht immer identischen Titeln. Die weite Verbreitung der Schrift zieht sich bis ins 18. Jahrhundert hinein, so existiert eine Ausgabe gedruckt in Güstrow 1715 sowie eine letzte in Augsburg 1748. 76 WuB 2, S. 660. 77 Ebd., S. 661. Zum Bild des ›epigrammatischen Salzes‹ siehe Thomas Strässle: Salz. Eine Literaturgeschichte. München 2009, S. 201ff. »Der Spott des Lemnius zielt somit nach Lessing nie auf das Individuum, sondern immer auf die Allgemeinheit, und er ist niemals beißend, niemals verleumderisch. Gerade darin zeigt sich für Lessing, dass Lemnius gar nicht als ein ›guter Epigrammatiker‹ im Stile Martials gelten kann, und gerade darin zeigt sich freilich umgekehrt auch, woran denn ein ›guter Epigrammatiker‹ für Lessing zu erkennen ist: an der Geste des großzügigen Salzstreuens.« Ebd., S. 202.
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Lessing ereifert sich, dass mit der Suche nach realgeschichtlichen Vorbildern in der Auslegung jeglicher Epigramme der Status, den sie als Poesie haben, eklatant verletzt wird. Das darf man wohl auch als ein Plädoyer in eigener Sache lesen.78 Doch hier geht es um den Beweis eines Einzelfalles, der nicht mit Hinweisen auf das Allgemeine beantwortet werden kann. »Jedoch ich erzürne mich,« und spätestens an dieser Stelle spricht der Dichter Lessing, »und zum Beweisen braucht man kaltes Blut.«79 Lessing geht in die Einzelanalyse. Als Beispiel dient ihm das Epigramm mit dem Titel Midas. Wer sollte der Bauer im Kleid des Aristokraten in Wirklichkeit sein? Wessen ganzer »Verstand« ist ein »Goldklumpen«? Nur ein Kandidat kommt nach Lessing in Frage: »Der Dichter ist ein Majestätsschänder, und er meint niemand geringern als den Churfürsten von Brandenburg«.80 Wiederum stammt der Beleg aus dem Text selbst; das lateinische Original wird dafür herangezogen. Die Nennung der »goldführenden Elbe« verweist klar auf Brandenburg. Lemnius war vielmehr ein Kämpfer, so die Aussage, wenn schon nicht in Sachen der Reformation, so zumindest gegen den flachen Verstand. Nun wird der Adressat aufgefordert, stärkere Stellen zur Stützung seiner Argumentation anzubringen, da Lessing sich selbst nicht im Detail verlieren möchte. Doch sogleich werden mögliche Einwände, ohne eine Antwort abzuwarten, in Erwägung gezogen: Wollen Sie mit etwan einwenden: Lemnius könne allerdings auf diesen und jenen gezielt haben, ob es uns gleich jetzo, wegen Entfernung der Zeit, und aus Mangel gewisser kleiner Nachrichten, unmerklich wäre; genug daß doch damals, seine Stiche geblutet hätten, wie man aus dem Zeugnisse der Zeitverwandten sehen könnte.81
Diese Immunisierungsstrategie82 unter Rückgriff auf verlorene Quellen, diesen philologischen Trick, will Lessing nicht gelten lassen. Das Fehlen eines Belegs ersetzt nicht den Beweis. Deswegen greift Lessing den Fall von Matthesius bzw. dessen Predigten auf, die gleichzeitig die Biographie Luthers darstellen. Als Quelle
78 Trotz der überaus positiven Aufnahme der Kleinigkeiten, die in Auszügen auch im ersten Teil der Schriften von 1752 wieder abgedruckt sind, blieben Kritik und Fragen nach der moralischen Qualität nicht aus. Insofern ist es durchaus verständlich, dass Lessing hier gesteigerten Wert auf diese Feststellung legt. 79 WuB 2, S. 661. 80 Ebd. 81 Ebd. S. 663. 82 Mit dem Begriff der ›Immunisierungsstrategie‹ soll hier keine wissenschaftstheoretische Annahme, etwa im Sinne Ernst Topitschs im Bezug auf den Marxismus, gemacht werden. Siehe hierzu: Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion: Grundstrukturen unserer Weltauffassung. Tübingen 2 1988, S. 220ff.
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sind sie im vorliegenden Falle durchaus brauchbar. Spätestens ab diesem Punkt der Argumentation beginnt auch eine methodologische Auseinandersetzung um die richtige Art der Historiographie. Der Prediger Matthesius macht seine Aufgabe gut, »aber als Geschichtsschreiber«83 versagt er. »Matthesius begeht hier ein Hysteron-proteron welches gar nicht fein ist«, spottet Lessing.84 Jetzt kommt die Ironie selbst in der Sprache zu Ausdruck, sie wird didaktisch-belehrend, wenn Lessing auf die Fehler in der logischen Darstellung zu sprechen kommt: Das Sinngedichte, auf welches Matthesius hier zielt, stehet in dem dritten Buche, in welchem freilich sehr viel nichtswürdige Sachen stehen, die aber durchaus nicht zur Ursache seiner Verdammung können gemacht werden, weil sie erst nach derselben den beiden ersten Büchern beifügte.85
Das sogenannte Hauptverbrechen ist nichts als die Wirkung eines verbitterten Gemüts, keinesfalls als ursächlich zu erachten und damit für eine Anklage der beiden vorausgegangenen Bände mit Epigrammen zu verwenden. Auch in religiösen Belangen hat man Lemnius nichts vorzuwerfen, da er Albrecht immer nur als einen Beschützer und Förderer der Gelehrten gesehen und gelobt hat. Das haben zuvor auch schon andere gemacht, Hutten und Erasmus profitierten beide von ihm und statteten dafür ihren Dank ab. Der Vorwurf des Briefpartners kann durch die Quelle, die er benutzt, selbst widerlegt werden. Insofern schafft es Lessing, durch eine von Quellen angeleitete Lektüre einer historischen Arbeit, eine aktuelle Debatte für sich zu entscheiden. Das ist Vorurteilskritik aus und auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit. Der vierte Brief enthält die Antwort auf den zweiten Einwurf. Er dreht sich um die Umstände der Publikation, die ja bekanntlich viel über den Inhalt auszusagen vermögen, nicht weniger als über die Intentionen des Autors. Es findet also ein Wechsel im argumentativen Zugriff statt. Nach der Widerlegung inhaltlicher Einwände kommen nun textexterne Faktoren zur Sprache. Eine anonyme oder zumindest verdeckte, an der Zensur vorbeilaufende Veröffentlichung würde das Verdachtsmoment erhöhen, dass Lemnius hier Verbotenes oder Anrüchiges im Sinn gehabt hätte. Aber dem ist nicht so. Lessing versucht plausibel zu machen, dass der in freundschaftlicher Bekanntschaft zu Lemnius stehende Melanchthon, der diesbezüglich über jeglichen Verdacht erhaben sei, der Publikation sogar ausdrücklich zugestimmt hat. In seiner Funktion als Vorsitzender der theologischen
83 WuB 2, S. 663. 84 Ebd. 85 Ebd.
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Fakultät war er für die Vorzensur zuständig und musste sich nach seinem Versäumnis dafür rechtfertigen: Sie berufen sich auf ein Schreiben des letzteren [Melanchthon, M. M.], dessen Inhalt Seckendorf anführt; und ich bin kühn genug eben dieses Schreiben für mich zu gebrauchen. Melanchthon schreibt also an den Churfürsten, welchem ohne Zweifel Luther diese Kleinigkeit auf der allerschwärzesten Seite vorgestellt hatte: [. . . ].86
Melanchthon musste sich, wie es die Stelle nahelegt, auf Druck Luthers entschuldigen. Es folgt der Abdruck von Seckendorfs inhaltlicher Zusammenfassung,87 in dem deutlich wird, wie sich Melanchthon zu rechtfertigen versucht und dass er die Passagen, die dem Churfürsten zur Schande gereichen könnten, übersehen hatte. Er machte die hohe Arbeitsbelastung, die die »akademischen Geschäfte«88 ihm abverlangten, dafür verantwortlich. Zugleich wehrte er sich gegen die Unterstellungen, dass sein Schwiegersohn mit verantwortlich gewesen sei, oder am Ende gar »noch die Lügen hinzugefügt« habe.89 Lessing vermutet in diesem »Gewäsche«, dass sich Melanchthon für etwas entschuldigen musste, angestrengt durch eine Anordnung von höherer Stelle, das er gar nicht wirklich kannte, bzw. dass er gar nicht wusste, wofür er sich entschuldigen sollte. Es folgt ein kleiner Exkurs zu Melanchthons Charakter, der unterstreichen soll, dass diesem »sanftmütige[n] ehrliche[n] Mann«, dies wohl reichlich unangenehm war.90 Erst auf
86 Ebd., S. 665. 87 Der Kommentar erwähnt als Ort: Veit Ludwig von Seckendorf: Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo. 3 Bde. Gotha 1688. Es käme aber noch ein zweiter, mir wahrscheinlicher erscheinender Publikationsort der Zusammenfassung in Frage. Eine der oben bereits erwähnten Lutherbiographien Matthesius’ ist um Auszüge aus Seckendorfs Luthertumskommentar erweitert. Es handelt sich dabei um den bei Hillmer in Augsburg erschienenen Druck aus dem Jahre 1748, dessen Titel vollständig lautet: Historia b. Lutheri oder Historische Nachricht von der Geburt, Lehre und Sterben des seeligen Mannes Gottes D. Martin Luthers Aus [Johannis] Mathesii Historie vom Luthero, des [Veit Ludwig] von Senckendorffs [sic] Lutheranismo und andern Authoribus kürzlich zusammengetragen. Von der schmalen Schrift, der Umfang beträgt gerade einmal 88 Seiten, ist den einschlägigen Katalogen nur ein Exemplar in der Universitätsbibliothek Greifswald bekannt. Der Umstand, dass Lessing auf diese Publikation zurückgegriffen hat, könnte das Argumentationsmuster erklären, wohingegen die Eigenleistung der Zusammenstellung gleichviel unwahrscheinlicher ist. 88 WuB 2, S. 665. 89 Ebd. 90 Lessing scheint sich bei der Charakterisierung Melanchthons auf die Apologia Simonis Lemnii zu stützen. Dort heißt es gegen Ende: »Postremo nemo nisi Phi. Melancht. viro longe doctissimo, & honestissimo, meisq. amicis omnibus, et familiaribus: quodcunq. in fide, & benevolentia erga Lemniu adhuc esse, de eo bene & honeste sentire perspexero, eos omnes semper laudaturus sum.« [Simon Lemnius]: Apologia Simonis Lemnii poetae Vitebergensis, contra decretum, quod
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Druck Luthers musste er zugeben, dass sich in den Schriften des Lemnius anstößige Stellen finden, eine Lesart, die ihm aufgezwungen wurde und nicht seine eigene war. Und das nicht aus Schwäche, sondern aus Treue (was wiederum den guten Charakter illustrieren soll): »Luthers Augen waren ihm glaubwürdiger als seine eigenen.«91 Beide, so folgert Lessing, Melanchthon und sein Schwiegersohn Sabinus hatten nichts Anrüchiges in den Schriften entdeckt. Diesen Dienst, der eigentlich gar keiner war, vergolt Lemnius im weiteren Verlauf der Debatten damit, dass er Melanchthon aus seinen Polemiken gegen die Reformation immer explizit aussparte. Er hatte in Lemnius’ Epigrammen tatsächlich nichts Tadelnswertes gesehen.92 Der im Raum stehende Tatbestand, den Lessing auch explizit so benennt, »ist die Übergehung der Zensur«.93 Lemnius konnte man dafür aber am wenigsten belangen, er hatte sich rein formal an die Spielregeln gehalten. Wenn überhaupt war es ein Versäumnis oder eine Fehleinschätzung seitens der Zensur. Nur wurde niemand zur Rechenschaft gezogen, außer dem »armen Simon Lemnius«.94 Lessing strebt hier nichts weniger als die Revision eines Urteils an, das, wenngleich von einem Gericht verhängt, erst durch die Geschichtsschreibung vollstreckt wurde. Diesen [den Zensor, M. M.] strafe man, wenn anders, es sei nun durch seine Bosheit, oder seine Nachlässigkeit, ein strafbares Buch zum Vorschein gekommen ist. Ich sage mit Fleiß ein strafbares Buch, denn wenn es ein gleichgültiges gewesen ist, wie ich in meinem vorigen Briefe erwiesen habe, so ist weder dem einen noch dem andern, dem Lemnius aber am allerwenigsten, ein Verbrechen aus Verabsäumung einer Ceremonie zu machen. Und mehr als eine Ceremonie wäre es nicht gewesen.95
Hier ist der Gerichtsprozess in vollem Gange und der Verteidiger verzichtet auch nicht auf rhetorische Mittel, um den Urteilenden seine Ansicht zu suggerieren: »Es ist mir recht lieb, daß ich hier abbrechen kann; denn wahrhaftig das Ver-
imperio & tyrannide M. Lutheri. Köln ca. 1539, unpag. Das Wittenberger Exemplar mit der Signatur SW 1311 weist an dieser Stelle Anstreichungen auf. 91 Ebd., S. 666. 92 Inwieweit das auch mit der unterschiedlichen philologischen Kompetenz Luthers und Melanchthons zu tun hat, kann hier nicht beantwortet werden, wäre aber eine lohnende Frage. 93 WuB 2, S. 667. 94 Ebd., passim. 95 Der Kommentar gibt die Bedeutung ›Formalität‹ an (WuB 2, S. 1287), bei Zedler hingegen steht: »Ceremonie heißt ein äußerliches Wesen, welches nach denen Regeln der Wohlanständigkeit eingerichtet ist.« Modern gesprochen, es gibt keinen Straftatbestand, es handelt sich lediglich um eine Frage der »Wohlanständigkeit«. Man hätte sich also entschuldigt, und die Sache wäre erledigt und das Missverständnis aus der Welt geschafft; einen Prozess anzustreben ist eben keine »Ceremonie«. Zedler 5, Sp. 1873.
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teidigen wird mir sauer, wenn ich etwas allzuleichtes zu verteidigen habe.« Bis hierher ist es mehr als ein Punktsieg der Verteidigung. Die Rettung schreitet dem ungeachtet weiter fort. Im fünften Brief wird der nächste Abschnitt im Lebenslauf des Simon Lemnius aufgenommen. Das Ziel ist weiterhin, Matthesius der Geschichtsfälschung zu überführen und damit der Anklage ihre Grundlage zu entziehen. Der vierte Brief endete mit der Flucht Simon Lemnius’. Diese allein als Schuldeingeständnis zu werten, wäre vorschnell. »[M]eineidig gemacht«96 hat ihn diese Flucht nicht, denn die Chance auf einen fairen Prozess konnte er nicht sehen. Insofern war die Entziehung aus der zuständigen Gerichtsbarkeit, in diesem Falle der der Universität – Lemnius war noch immatrikuliert – nur vernünftig: »Wenn ich augenscheinlich sehe«, versetzt sich Lessing als Anwalt in die Rolle seines Mandanten, »daß mir meine Richter die Gerechtigkeit versagen werden, so entfliehe ich nicht meinen Richtern, sondern Tyrannen, wenn ich ihnen entfliehe.«97 Der Vorwurf ist freilich hart, hier erhält Luther das Attribut ›Tyrann‹ jedoch nicht ohne Erläuterung: »Ein aufgebrachter Luther war alles zu tun vermögend.«98 Und Lessing fügt auch gleich den Beweis an. Luther hatte Lemnius öffentlich mit der Todesstrafe gedroht.99 Dass mit dieser Androhung jede Verhältnismäßigkeit verletzt wird, ist augenscheinlich. Und damit nicht genug: Der Angriff und letztliche Auslöser des Disputes, die Schmähungen Lemnius’ gegen Luther, wird ins Gegenteil gewendet: Lemnius habe es nur Luther in seinen Angriffen gegen den Churfürsten von Mainz gleich getan. Lessing will aber gar keine Anschuldigungen gegen Luther institutionalisieren, der Zweck ist ein anderer. Vom Einzelfall abstrahierend fasst Lessing in einem Einschub zwischen mehreren Gedankenstrichen zusammen: Gott, was für eine schreckliche Lection für unsern Stolz! Wie tief erniedriget Zorn und Rache, auch den redlichsten, den heiligsten Mann! Aber, war ein minder heftiges Gemüte geschickt, dasjenige auszuführen, was Luther ausführte? Gewiß nein! Lassen Sie uns also jene weise Vorsicht bewundern, welche auch die Fehler ihrer Werkzeuge zu brauchen weiß!100
Die Passage sticht deutlich aus der Argumentationslinie heraus. Sie zielt, erneut mit Blickrichtung auf Luther, auf ein allgemein philosophisch-anthropologisches
96 WuB 2, S. 667. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 »Bedenken Sie, seine [Luthers, M. M.] Hitze ging so weit, daß er sich nicht scheute in einer öffentlichen an die Kirchentüren angeschlagenen Schrift zu behaupten; der flüchtige Bube, wie er den Lemnius nennt, würde, wenn man ihn bekommen hätte, nach allen Rechten billig den Kopf verloren haben.« WuB 2, S. 667f. (Hervorhebungen im Original). 100 Ebd., S. 668.
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Phänomen einerseits und auf ein geschichtsphilosophisches oder schöpfungstheologisches Problem andererseits. In dieser Stelle wurden in der Literatur sowohl eine Rettung Luthers101 als auch ein vehementer Angriff auf Luther durch die Herausstellung seiner Menschlichkeit gesehen.102 Ich denke, dass man das nicht trennen oder gar gegeneinander ausspielen sollte.103 Die Herausstellung der Menschlichkeit ist die Rettung Luthers, indem sie ihn von der Bürde entbindet, fehlerlos zu sein. Mit allen Folgen für die aus der Reformation zu entwickelnde Geschichtsphilosophie und ihre Geschichtsschreibung.104 Aber weiter mit den Details des Falles: zunächst mit dem Anschlag an der Kirchentür, für den Melanchthon verantwortlich war. Aus diesem geht zwar die Anklage, die Ehre mehrerer Personen angegriffen zu haben, deutlich hervor, aber weder der Landesherr noch der Kurfürst werden erwähnt. Das alles beweist Melanchthons Umsicht in dem Fall, der zunehmend eine politische Dimension gewonnen hätte. Auch in anderen Belangen wurde die gängige Rechtspraxis verletzt. Lemnius wurde nicht wie üblich zu drei verschiedenen Terminen vorgeladen, sondern nur einmal. Lessing folgert daraus, dass ein fairer Prozess nie intendiert war: »Dieser Umstand, sollte ich meinen, verrät mehr eine Lust zu verdammen als zu verhören.«105 Dadurch, dass Lemnius den besagten Termin verstreichen ließ – ein Bevollmächtigter durfte nicht wie üblich entsandt werden, sondern er musste persönlich erscheinen – wurde er nach gängiger Rechtspraxis schuldig gesprochen: »contumaciert«.106 In der Zwischenzeit war Lemnius zu seinem Mäzen geflohen und blieb nicht müßig, es Luther mit gleicher Münze heimzuzahlen. Er ließ die beiden in Wittenberg verbrannten Bände innerhalb kürzester Zeit neu auflegen und fügte den schon erwähnten dritten Band hinzu. Auch hierbei, ebenso wie bei der verbrannten Auf-
101 Wilm Pelters: Lessings Standort. Sinndeutung der Geschichte als Kern seines Denkens. Heidelberg 1972 (Literatur und Geschichte 4), S. 59f. 102 Beispielsweise F (2010), S. 143f. Dort heißt es: »Autoritätskritik ist die Kehrseite zu dem Plädoyer für Einfühlung und Schonung.« 103 Die Beziehung Lessings zu Luther ist derart vielschichtig und perspektivenreich, dass eine zu eindeutige Antwort meist Gefahr läuft, falsch zu sein. Zum Verhältnis von Lessing und Luther siehe Walther von Loewenich: Luther und Lessing. Tübingen 1960 (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 232) sowie Rudolf Smend: Das Verhältnis des Patorensohnes Lessing zu Luther. In: Moeller, Bernd (Hg.): Luther in der Neuzeit. Gütersloh 1983 (Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 4), S. 55–69. 104 Dieses Motiv wird im Verlauf der Arbeit immer wiederkehren, so dass ich mich hier auf wenige Hinweise beschränke. 105 WuB 2, S. 669. 106 Damit bezeichnet man einen Schuldspruch aus Widersinn oder Trotz, der Tatbestand war durch das Fernbleiben Lemnius’ erfüllt.
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lage, sollte es sich zukünftig um seltene Exemplare handeln. Die Auflage findet sich dementsprechend auch in Johann Vogts Katalog seltener Bücher, allerdings mit einer nicht verifizierbaren Angabe des Druckortes Basel. Vogt ist ungenau in seinen Zuschreibungen, auch was den Inhalt betrifft. Ein Feindbild beginnt sich zu konstituieren, doch dazu später ausführlicher.107 Lessing übergeht in der Beurteilung des dritten Bandes der Epigrammata einige Literatur, da diese als bekannt vorausgesetzt werden kann, und geht sogleich über zu einer Schrift, die wiederum viele der posthumen Verleumder offensichtlich nie zu Gesicht bekommen haben: dem schon berühmt-berüchtigten Mönchshurenkrieg (Monachopornomachia).108 »Spitzen Sie sich aber nur nicht umsonst, mein Herr.«109 Lessing kündigt die Rarität an, vertröstet seinen Briefpartner aber auf das nächste Schreiben. Eine weitere Finte, die auf den ersten Blick für die Argumentation unerheblich erscheint, verdankt sich ebenfalls dem Briefstil. Lessing hat »noch eine Hand breit Platz«110 auf dem Bogen, und es wäre Verschwendung, diesen nicht zu nutzen. Der noch zur Verfügung stehende Platz wird für eine kleine Spitze genutzt, die sich in Lemnius’ Epigrammata findet. Ein einzelner Fund soll darauf hinweisen, dass das Buch nicht nur ›dumm‹ genannt werden kann, sondern durchaus ein Gespür für feinen Humor besitzt. Lemnius verweist auf Erasmus, der seinerseits über einen der wichtigsten Freunde Luthers, Justus Jonas, und dessen Grammatikkenntnisse spottete, wenn er ihn einen oratorem sine grammatica nennt. Man könnte die Schlusspassage als einen Zusatz, eine ›kleine Rettung en detail‹ bezüglich stilistischer Eleganz und Witz bezeichnen. Bevor wir zu Lessings Auseinandersetzung mit dem Mönchshurenkrieg kommen, ist es zweckdienlich, sich einen Begriff von dieser Rarität zu machen. Im deutschsprachigen Raum existieren offenbar nur noch vier Exemplare, wobei davon auszugehen ist, dass die Auflage wohl ohnehin nicht besonders groß war. Gedruckt wurde das kleine Bändchen in Oktav entweder bei Schöffer in Mainz oder bei Wagner in Worms. Eines der bekannten Exemplare liegt in Wien, in der Österreichischen Nationalbibliothek. Ein weiteres in der HAB Wolfenbüttel zeigt deutliche Lesespuren auf, und zahlreiche schwungvolle An- und Unterstreichungen
107 Johann Vogt, der in beinahe allen Rettungen seinen Auftritt hat, wird im Kapitel 4.4 ausführlich behandelt. 108 Pisaeus, Lutius [= Simon Lemnius]: Lutii Pisaei Iuvenalis Monachopornomachia. Datum ex Achaia. Olympiade nona. S. l. [vermutlich Köln] 1540. Mittlerweile aber in einer Neuedition und Übersetzung leicht zugänglich: Simon Lemnius: Monachopornomachia. Der Mönchshurenkrieg; Threni; Klaggesang; Von der Sardoa. Hg. und aus der lat. Urschrift übers. von Gaston Vorberg. München 1911. 109 WuB 2, S. 670. 110 Ebd.
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Abb. 2.1: Titelblatt Epigrammata der Ausgabe der Bibliothek des Wittenberger Predigerseminars
zeugen von einer intensiven und vielleicht auch verärgerten Lektüre. Noch interessanter ist das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Wie die Signatur verrät, stammt es aus der berühmten Erotika-Sammlung Franz von Krenners, die um 1800 angelegt wurde und in Deutschland ihresgleichen sucht.111 Auf dem Vorsatz wird das Buch in einer handschriftlichen Notiz als »Libellus rarissimus ac valde obscurus« ausgewiesen. In elf Zeilen werden auf dem Titelblatt die Geschichte Simon Lemnius’ und die Begleitumstände der Publikation verzeichnet (siehe Abb. 2.4). Ansonsten ist das Exemplar textsauber. Das mit Abstand spannendste Exemplar ist das der Bibliothek des heutigen Predigerseminars in Wittenberg: Nicht allein, weil man davon ausgehen darf, das Exemplar vor sich zu haben, das Lessing benutzt hat, sondern vielmehr wegen der für den
111 Zur Sammlung Franz von Krenners siehe Stephan Kellner (Hg.): Der ›Giftschrank‹. Erotik, Sexualwissenschaft, Politik und Literatur – ›REMOTA‹: Die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. München 2002, S. 171–187; sowie ders.: Bibliotheca erotica Krenneriana – eine bürgerliche Privatsammlung um 1800. In: Bibliotheksforum Bayern 22 (1994), S. 64–86.
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Abb. 2.2: Buchschnitt, der beweist, dass die Bände ursprünglich zusammengebunden waren.
vorliegenden Zusammenhang spektakulär anmutenden Geschichte seiner Aufbewahrung in der Bibliothek. Denn sie gibt das deutlichste Beispiel, warum es für den jungen Lessing von solcher Bedeutung war, selbst an die Bücher im Maga-
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Abb. 2.3: Titelblatt Mönchshurenkrieg des Wittenberger Exemplars
zin heranzukommen. Der Wittenberger Mönchshurenkrieg war ursprünglich den anderen Schriften Lemnius’ beigebunden. Die ersten beiden Bücher der Epigrammata, das dritte Buch mit den Beschimpfungen gegen Luther, Lemnius’ Apolo-
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Abb. 2.4: Titelblatt Mönshurenkrieg des Exemplars in der BSB, Rem. IV 1956
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Abb. 2.5: Nachträglich herausgetrennte Bände
gie sowie ein schmales Bändchen mit Pasquillen, sie alle waren in einem Band vereint, wie ein Blick auf den beschrifteten Schnitt (Abb. 2.2) bestätigt. Irgendwann wurden drei der Schriften aus dem Band ausgesondert – vielmehr herausgerissen – und mit je eigenen Papiereinfassungen am Bund versehen. Die Apologie, die Pasquillen und der Mönchshurenkrieg wurden dem ursprünglichen Band nur lose beigelegt (Abb. 2.5). So konnten sie jederzeit im Falle einer Bestellung in den Lesesaal oder einer Ausleihe aus dem Band entfernt werden. So ließ sich gewährleisten, dass das in der Nachfolge Luthers gezeichnete Bild seines Widersachers Lemnius aufrechterhalten werden konnte. Belastendes Material, anhand dessen die Geschichte umgeschrieben hätte werden können, wurde den Lesern bewusst vorenthalten. Es ist bemerkenswert, dass eine derartige Form von Bibliothekszensur in Wittenberg stattgefunden hat. Eingangs wurde im Zuge der Diskussion um die Zugangsbedingungen der Bibliothek darauf hingewiesen, dass die Ausleihe und Lektüre unliebsamer Literatur vielleicht eines der ursächlichen Motive darstellten. Die herausgetrennten Schriften des Lemnius-Bandes können diese These stützen, wenn auch nicht mehr belegen. Eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber den Veröffentlichungen Lemnius’ kann man indes auch jenseits aller Psychologisierungen festhalten. Wer auch immer für diese ›spezielle Behandlung‹ des Bandes verantwortlich war, wusste um die
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Brisanz des Materials und um die möglichen Konsequenzen eines öffentlichen Gebrauchs. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen Lessings zu sehen. Lessing fingiert ein reges Interesse des Briefpartners am Mönchshurenkrieg, das nach dem eben Ausgeführten mehr als glaubhaft erscheinen muss. Zumal aus Sicht der Zeitgenossen die Besonderheit darin liegt, dass außer Matthesius, dessen Integrität zu diesem Zeitpunkt des Briefwechsels ausreichend untergraben ist, bisher niemand von dieser Schrift Nachricht geben konnte. Lessing kann ›echte‹, weil authentische Neuigkeiten zu diesem Rarissimum liefern. Das Werk erschien mit Ankündigung in Lemnius’ eigener Apologie.112 Es ist ein für die Rettungen geradezu prototypisches Verfahren Lessings, gefährliche oder als gottlos gebrandmarkte Schriften vorzustellen und teilweise zu referieren, um ihnen den Nimbus des Nebulösen zu nehmen.113 Um ausgleichende Gerechtigkeit bemüht, spart Lessing dabei nicht mit Kritik an den zu rettenden Schriften und damit einhergehend an den sich dahinter verbergenden Personen. So auch im Falle Lemnius’, dessen Quellen für den Mönchshurenkrieg – großteils Klatsch der Wittenberger Salone und Gesellschaften – nichts mehr als das »Geschwätz akademischer Wüstlinge« sind.114 Einseitige Parteilichkeit kann man Lessing hier nur schwer vorwerfen, selbst wenn die Quellenkritik ein taktisches Manöver sein sollte, redlicher als die bisherige Behandlung des Textes ist sie allemal. Das Ziel der Argumentation ist aber auch ein anderes. Im vorliegenden Fall ging es schon längst nicht mehr um die Wahrheit, sondern um polemische Kämpfe bis aufs Blut, »seine Widersacher verhaßt zu machen«115 war das erklärte Ziel. Gleichmut wäre angebracht, nun ist der aber eben nicht jedem gegeben, wie Lessing auch im Hinblick auf prominentere Vertreter feststellt. Nicht einmal Horaz, der große Dichter, konnte im Streitfalle an sich halten und warnte schon vorab: »Dem sei der Himmel gnädig, der mich angreift« (Flebit, et insignis tota cantabitur Urbe).116
112 [Simon Lemnius]: Apologia Simonis Lemnii poetae Vitebergensis, contra decretum, quod imperio & tyrannide M. Lutheri. Köln ca. 1539. Die Schrift liegt auch seit Ende des 19. Jahrhunderts in deutscher Übersetzung vor: [Simon Lemnius]: Die Schutzschrift des Dichters Simon Lemnius (Lemchen) gegen das gewaltsame Verfahren der Wittenberger Akademie wider ihn 1538. Zum ersten Male vollst. hg. und eingeleitet von Constantin Ritter von Höfler. Prag 1892. 113 Besonders prominent wird dieses Verfahren in der Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers. Auch die Rettung des Hier. Cardanus funktioniert nach diesem Muster, ebenso die Neuser-Schrift und der Berengarius Turonensis. 114 WuB 2, S. 671. 115 Ebd. 116 Ebd.
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Lessing dekliniert die humanistische Gelehrsamkeit nach ähnlichen Beispielen durch und wird reichlich fündig. Dem intellektuell sich Streitenden waren die Mittel schon seit jeher recht und billig, warum sollte »der arme Dichter nur allein seine Waffen nicht brauchen?«117 Und die Satire, folgert Lessing – um nichts anderes handelt es sich beim Mönchshurenkrieg, wenngleich um eine sehr bissige – ist nun einmal die natürliche Waffe des Dichters, er hat wenig andere. Beinahe lakonisch führt er dazu an, dass es Dichtern ohnehin nur noch selten gelingt, den Gegner in den Selbstmord zu treiben. Nun geht es wieder eine Abstraktionsebene nach oben, ins Anthropologische. So wie zuvor Luther in seinen Fehlern und Überreaktionen als Mensch dargestellt wurde, so nun auch der Dichter: »Ein beleidigter Mensch ist ein Mensch; und ein beleidigter Poete ist es doppelt.«118 Die ethische Anweisung, die daraus resultiert, ist für alle verbindlich, für lutherische Geschichtsschreiber ebenso wie für die Leser der Briefe. »Lassen Sie uns auf keine Tugend stolz tun, die wir noch nicht haben zeigen können.«119 Wie sich das in concreto zuträgt, verspart Lessing auf den nächsten Brief, dessen inhaltlichmythologischen Grundzug er schon vorausnimmt, indem er auf die Schwester des Briefpartners anspielt und diese, unterstellt man eine bösartige Lesart, verunglimpft. Er versucht eindeutig ihn damit zu reizen und einer Prüfung zu unterziehen. Der siebte Brief löst zu Beginn das Versprechen des sechsten ein. Lessing entschuldigt sich dafür, eine »Verzögerung mit der andern verg[o]lten«120 zu haben. Dabei kann der Briefpartner zweierlei nicht goutieren: zum einen den Aufschub in der Mitteilung zum so seltenen Mönchshurenkrieg (hier kommt der Bibliophile oder vielleicht sogar der Gelehrte zum Vorschein), zum anderen die Anspielung auf die Schwester, deren Besuch noch immer aussteht. Pikant wird dieser Umstand zudem, da Lessing die Verzögerung in der Besprechung des ›Hurenkrieges‹ mit dem Ausbleiben der Schwester in Verbindung bringt, ein zumindest den Gesetzen des Anstandes nicht ganz konformes Verhalten. Lessing kontert die Aufregung des Briefpartners mit dem Florett, indem er auf seine Person nicht ohne Humor folgert: »So geht es einem Pedanten, wenn er galant sein will.«121 Mit der Provokation versucht Lessing seinen Adressaten aus der Reserve zu locken. Er zielt darauf ab, dass moralisch erwünschtes Verhalten eben keine Konstante ist,
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sondern sich immer gegen Anfechtungen erwehren muss.122 Der »Herr« ist »noch rachgieriger« als gedacht und setzt Lessing »weiblichen Spottereien« aus.123 Die Situation, in der sich Luther und vor allem Lemnius befunden haben, ist so unähnlich nicht. Es geht hier nicht primär um moralische Handlungen an sich, sondern um die Beurteilung derselben. Lessing will dem Umstand vorbauen, dass moralische Urteile von einem Standpunkt aus gefällt werden, der das normalmenschliche Maß überschreitet. Niemand, selbst der dafür infrage kommende Luther, kann diesen Ansprüchen genügen. Lessing ist also weit davon entfernt lediglich Luther als Person zu diskreditieren. Vielmehr versucht er den Maßstab, mit dem wir moralisches Verhalten von anderen Personen beurteilen und im Zuge dessen auch immer gleich sanktionieren, zu korrigieren. Darin besteht die große Leistung dieser Rettung, die im Werk weitere Spuren hinterlässt. Monika Fick verweist zurecht auf die frühen Dramen, in denen ein ähnliches »Spannungsmoment« am Werk ist.124 Ein Beispiel führt das im Konkreten aus. Lessing beginnt den Abschnitt zum Mönchshurenkrieg mit philologischer Grundlagenarbeit. Er beschreibt die Textgestalt der Ausgabe und kann schon aufgrund dieser ersten Analyse schließen, dass Matthesius die Schrift, über die er so abfällig urteilt und die er verdammt, wohl nie zu Gesicht bekommen hat: Unser Hurenkrieg ist also eine kleine Schrift in Octav auf drei Bogen, und hat folgende Aufschrift: Lutii Pisaei Juvenalis Monachopornomachia. Wo und wann sie gedruckt worden ist,
122 Man könnte diesen Umstand mit Helmut Thielicke als eine ständige »Gefährdung des menschlichen Wesens« begreifen, wobei ›Wesen‹ unter jeweilig anderen anthropologischen Voraussetzungen unterschiedlich besetzt sein kann. Siehe hierzu Helmut Thielicke: Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie. Tübingen 2 1988, S. 124f. 123 WuB 2, S. 672f. 124 F (2010), S. 143f. Indes geht Reh zu weit, wenn er den Akt der ›Rettung‹ zum lessingschen Grundmotiv schlechthin macht, zumal er die eigentlichen ›Rettungen‹ und deren Voraussetzungen gar nicht zur Kenntnis nimmt oder sie zumindest in seinen Überlegungen keine Rolle spielen. Albert M. Reh: Die Rettung der Menschlichkeit. Lessings Dramen in literaturpsychologischer Sicht. Bern 1981. Selbst als sich Reh einige Jahre später mit den ›Rettungen‹ selbst beschäftigt, geht das ohne eigentliche Textarbeit: Albert M. Reh: Große Themen in kleiner Form. Gotthold Ephraim Lessings Rettungen – eine europäische Apologetik. In: Barner, Wilfried; Reh, Albert M. (Hgg.): Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Detroit 1984, S. 176–184. Man muss differenziert herausarbeiten, was es mit dem Akt des ›Rettens‹ auf sich hat, um weiteren Anwendungen oder angenommenen Familienähnlichkeiten im Werk Lessings nachgehen zu können. Sich diesen Zwischenschritt zu sparen, führt lediglich zu pauschalen und damit unverifizierbaren Ergebnissen.
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finde ich anders nicht, als mit den Worten: Datum ex Achaia Olympiade nona, welche gleichfalls auf dem Titel stehen angemerkt.125
Hätte Matthesius die Schrift gekannt, so hätte er, wie Lessing jetzt, die Darstellung zumindest in Teilen als nicht auf Wahrheit gegründet erkennen können. Lessing kommt zum Inhalt dieser »Art einer Komödie; ich sage eine Art, und noch dazu eine der allerschlechtesten Arten: oder sollte ich sie vielmehr einen Mischmasch unzüchtiger Gespräche nennen, die ungefehr [sic] den Schein einer Verbindung haben?«126 Es folgt eine kurze Rekapitulation der ›Handlung‹, die den Namen einer solchen kaum verdient. Hierauf gibt Lessing eine Kostprobe der Eingangspassage, die er mit dem Hinweis versieht, dass »[w]ann sie Ihnen ihrer eigenen Schönheiten wegen nicht gefallen will, so bedenken Sie nur, daß sie aus einer, mit dem Herrn Janotzky zu reden, ganz entsetzlich raren Schrift genommen ist, vielleicht gefällt sie Ihnen alsdann besser. Denn an dem raren, mein Gott! muß doch etwas sein.«127 Da der Inhalt nur aus infamen Anschuldigungen besteht, die jeden Anspruch auf Wahrheit längst aufgegeben haben, kann man die Schrift bestenfalls als belanglos bezeichnen. Sie fügt dem Luther-Bild des gläubigen Protestanten nichts hinzu und nimmt ihm nichts. Lessing kann dem Monachopornomachia auch aus künstlerischer Sicht nichts abgewinnen und versucht die Faszination für die Schrift aufgrund ihrer Seltenheit zu erklären. Genau darin liegt das Problem: die Verbindung von Faszination, Seltenheit und Anrüchigkeit. Diese Melange zeitigt historische Bilder von Menschen, die unzutreffender nicht sein könnten, aber ein Eigenleben gewinnen, das sich nicht mehr kontrollieren lässt und Gefahr läuft, als historische Tatsache anerkannt zu werden. Aber das Pendel darf auch nicht in die Gegenrichtung ausschlagen. Nicht jede historische Persönlichkeit wird falsch charakterisiert. Ausschlaggebend für die Validität einer Einschätzung ist die Qualität der Quelle. So kommt auch Luthers Frau, Katharina von Bora, erwartungsgemäß schlecht weg in Lemnius pamphletischer Schrift. Den Abschluss des Briefes bilden Spekulationen, wie etwa Luthers Frau diese Schrift aufgenommen haben wird: »Ei! Ei! Wie wird die gute Käthe geschimpft haben! Man sagt ihr ohnehin nach, daß sie ein wenig stolz und
125 WuB 2, S. 673. Das zitierte Werk ist Anonymus [= Simon Lemnius:] Lutii Pisaei Juvenalis Monachopornomachia. Datum ex Achaia Olympiade nona. [vermutlich Köln um 1539]. 126 WuB 2, S. 674. 127 Ebd., S. 674f. (Hervorhebungen im Original). Bei dem Verweis auf Janotzky handelt es sich um eine Literatur- und Gelehrtengeschichte, die Lessing am 1.6.1751 in der BPZ besprochen hatte (siehe WuB 2, S. 110). Dabei unterlaufen entweder den Editoren der Frankfurter Ausgabe oder bereits Lessing zwei Zitierfehler. Das ›tua‹ (WuB 2, S. 675, Z. 22) ist im Original ein ›tuo‹. Ebenso ist das ›tua‹ (ebd., Z. 28) im Original ein ›tui‹.
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Die Rettung des Simon Lemnius – ein erster Versuch in Briefen
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unleidlich gewesen sei.«128 Auch Stolz und Unleidigkeit sind menschliche Eigenschaften, aber ist Katharina von Bora im gleichen Maße einer Rettung wert? Der achte und letzte Brief der Rettung, ist eine versagte Rettung der Katharina von Bora. Im Gegensatz zu den Anschuldigungen, die Lemnius und Luther betreffen, kann man zur Verteidigung der Katharina nichts Substanzielles vorbringen. Das klingt nach dem zuvor Ausgeführten kontraintuitiv. Wie rechtfertigt Lessing, dass Luthers Frau gerechterweise als »stolz« und »unleidlich« zu bezeichnen ist? Auch der Briefpartner nimmt an der Einschätzung Lessings Anstoß und übersendet ihm, zusammen mit seiner Antwort, »Herrn Walchs Geschichte der Catharina von Bora«,129 die sie als rechtschaffene Frau vorstellt. Lessing ist nicht überzeugt, nimmt die Schrift aber dankbar als Vorlage für einige Überlegungen an. Zunächst muss jedoch die Frage nach der Funktion gestellt werden: Die Rettung Lemnius’ ist abgeschlossen und die verweigerte Rettung Katharina von Boras fügt dem nichts mehr hinzu. Leicht ist man versucht, wie so oft bei Rettungen, einen schlampigen oder unvollendeten Abschluss anzunehmen.130 Dennoch würde der Schrift eine bedeutende, vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbare Bedeutungsebene fehlen, käme der Fall von Luthers Frau nicht zur Sprache. Die Darstellung ihres Charakters dient als Negativfolie zum bisher Verhandelten. »Lieber Herr Käthe«, wie Luther seine Frau scherzhaft und vielleicht nicht ganz unzutreffend nannte, wurde oft ob ihrer ›Herrschsucht‹ angegriffen, und, viel wichtiger, nicht nur Luthers Feinde hielten an dieser Beschreibung fest. Lessing führt wiederum einen Textbeleg an, der genau so einen Fall vorstellt. Der protestantische Humanist und Buchdrucker Henricus Stephanus (Henri Estienne) vertritt ebenjene Meinung. Lessing versucht damit zu belegen, dass es sich bei Katharina von Boras negativen Eigenschaften um charakterliche Konstanten handelt. Sie sei nun einmal eine jähzornige Frau gewesen, auch wenn Walch in seiner Abhandlung anderes behauptet. In ihrem Fall kann man die Hagiographie nicht aufrecht erhalten. Sowohl bei Lemnius als auch bei Luther liegen die Dinge anders: Sie schlagen beide, um die eingangs aufgenommene juristische Terminologie wieder aufzugreifen, gleichsam im Affekt über die Stränge und werden in ihrem Zorn un-
128 Ebd., S. 676. 129 Ebd., S. 677 (Hervorhebungen im Original). Gemeint ist hier Christian Wilhelm Franz Walch: Wahrhaftige Geschichte der seligen Frau Catharina von Bora, D. Martin Luthers Ehegattin [. . . ]. Halle 1751. Lessing hatte die Schrift am 5. März 1751 in den Critischen Nachrichten besprochen (wieder abgedruckt in WuB 2, S. 22–24). Große Teile der Rezension übernimmt Lessing in seine Rettung. Mit Walch sollte Lessing im weiteren Verlauf seines Lebens noch theologische Dispute austragen. 130 Dies wird in der Literatur bei beinahe allen Rettungen reklamiert. Dieses Phänomen der Unabgeschlossenheit wird im weiteren Verlauf der Arbeit genauer beleuchtet.
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verhältnismäßig und maßlos. Eine um Wahrheit bemühte Geschichtsschreibung sollte dies, so die Essenz, beachten. Lessing gibt mit seiner Rettung des Simon Lemnius ein Instrumentarium an die Hand, mittels dessen die Bewertung moralisch relevanter Handlungen bzw. deren allgemeine Einschätzung differenzierter betrachtet werden kann. Anstatt zu vereinfachen, wird die Komplexität in der Betrachtungsweise der conditio humana erhöht und das vorläufige Ergebnis urteilsoffen dem Publikum übergeben. Es ist noch nicht die typische Schlusswendung der zukünftigen Rettungen, die direkte Hinwendung zum Leser und die Aufforderung zur eigenen Urteilsbildung, aber zumindest die Möglichkeit das Präsentierte zu verifizieren.131 Darüber hinaus wird implizit ein Urteil über die Pragmatik protestantischer Toleranzkonzepte gefällt. So tolerant, wie sich die Orthodoxie in der Mitte des 18. Jahrhunderts selbst wahrnahm, war sie nicht immer und ist sie vielleicht auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewesen. Insofern findet auch in diesem Bereich eine Korrektur in der Tradition der Selbstwahrnehmung statt. Provokativ formuliert könnte man festhalten, dass sich die lutherische Orthodoxie und Luther selbst in den Sphären als tolerant erwiesen, die ihrem eigenen Zugriff und Machteinfluss ohnehin entzogen waren. Solange ein Zugriff und die damit einhergehenden Sanktionen im Bereich des Möglichen lagen – ganz abgesehen vom hier speziellen Fall – wurden diese auch realisiert. Der Fall des Simon Lemnius stellte diese Praxis oder vielmehr das Fehlen eines toleranten Umgangs in Glaubensfragen, nur allzu offensichtlich vor Augen. Die Rettung hat durchaus programmatischen Charakter, gerade im Hinblick darauf, was folgt. Üble Nachrede und Zanksucht, als zwei Beispiele, finden sich mitunter auch bei sonst tadellosen Charakteren. Die Mischung von Charakteren – nie nur gut oder böse zu sein – ist für die weiteren Schriften im Hinterkopf zu behalten, sie bildet gleichsam die Basis, auf der Urteile gesprochen und revidiert werden können. Das letzte Wort ist, wenn man die Bewertung historischer Umstände oder Persönlichkeiten vornimmt, immer nur unter Vorbehalt gesprochen. Lessing ließ alle seine weiteren Rettungen am Ende offen und scheute sich vor einem abschließenden Urteil, oder besser: Er vermied es eingedenk des Bewusstseins seiner Vorläufigkeit. Zeitgleich, zur Ostermesse 1752 erschien Lessings Magisterarbeit, die sich auf anderem Wege einer historischen Person nähert.
131 Einige weiterführende Literaturhinweise, so etwa Crusius und Camerarius schließen den Brief und damit auch die Rettung ab.
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Die Magisterarbeit zu Johann Huart – eine Rettung qua Übersetzung?
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2.3 Die Magisterarbeit zu Johann Huart – eine Rettung qua Übersetzung? In seinem Nekrolog auf Lessing schreibt Johann Gottfried Herder im Teutschen Merkur des Jahres 1781: Leßings erste Schriften und Lebensumstände kenne ich nicht; das erste Buch, das ich von ihm habe, ist seine Übersetzung Huarts. Eine Übersetzung aus dem Spanischen war in Teutschland 1752 wieder ein seltnes Ding, so häufig unsere lieben Vorfahren ein Jahrhundert vorher aus dem Spanischen übersetzt hatten. Zumal die Übersetzung eines so paradoxen Schriftstellers, als Huart ist – In der kurzen Vorrede zu ihm ist Leßing schon ganz kenntlich.132
Herder hat leider nicht spezifiziert, was er unter ›dem ganzen Lessing‹ versteht. Dennoch schadet es nicht vor dem Hintergrund dieser Aussage des intimen Kenners einen ersten Blick auf die Vorrede zu werfen. Zuvor bedarf es allerdings einer kleinen Korrektur der Forschungsgeschichte. Wie zu Beginn der Arbeit schon angemerkt, geht man davon aus, dass Lessing seine Abschlussarbeit, eben jene Übersetzung des spanischen Arztes Juan Huartes Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, als Magisterarbeit bei der medizinischen Fakultät eingereicht hat.133 Das ist in dieser Konstellation nicht möglich, da Medizinische Fakultäten grundsätzlich nie den akademischen Grad des Magisters verliehen haben, auch nicht in Wittenberg.134 Der übliche Abschluss, der auch zur anschließenden Erlangung des Doktorgrades befähigte, war das Licentiat.135 Ein genauerer Blick auf den Ein-
132 Johann Gottfried Herder: G. E. Lessing. In: ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767– 1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993 (Werke, Bd. 2), S. 690 (Hervorhebungen im Original). 133 Ich erinnere hier an die bereits zitierte Erklärung Nisbets: »Daß Huarte Arzt war, genügte der Medizinischen Fakultät zur Beglaubigung des Themas.« N, S. 161. 134 Über die Geschichte der Medizinischen Fakultät unterrichtet Walter Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg. Halle 1917, S. 453–471. 135 »Licentiat ist auf mehren deutschen Universitäten der Titel eines Solchen, welcher nach abgelegtem Examen die Vorrechte eines Doctors in der betreffenden Wissenschaft, namentlich die Erlaubniß, Vorlesungen bei der Universität zu halten, erlangt hat. Zugleich bedingt die Licentiatur (Würde eines Licentiaten) die Erlaubniß, Doctor zu werden. Namentlich sind auf den norddeutschen Universitäten Licentiaten in der theologischen Facultät häufig, und das Vorexamen zur medicinischen Doctorwürde pflegt Licentiatenexamen genannt zu werden. In demselben werden die Vorwissenschaften der Medicin geprüft, aber die Überstehung dieses Examens ist keineswegs mit dem Rechte, Vorlesungen zu halten, verbunden.« Brockhaus BilderConversations-Lexikon, Bd. 2. Leipzig 1838, S. 740.
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trag im Matrikel der Universität zeigt:136 Lessing hat als ein »studiosus medicinae« seinen Magisterabschluss an der Philosophischen Fakultät gemacht.137 Es mag pedantisch scheinen, auf diesem Detail zu bestehen, doch die damit verbundene Schlussfolgerung fällt ins Gewicht. Die Entscheidung, das einzige Werk des spanischen Arztes Juan Huarte ins Deutsche zu übersetzen, war keineswegs der Notwendigkeit geschuldet, ein der Medizinischen Fakultät zumutbares Thema zu bearbeiten, sondern geschah aus freien Stücken. Lessing hätte auch ein anderes Thema wählen können, das seinen Neigungen – aus heutiger Sicht – eher entsprochen hätte. Purer Pragmatismus, wie bisher in der Forschung meist implizit unterstellt wurde, kann insofern als Antrieb ausgeschlossen werden, als dass Lessing ein wirkliches Interesse an diesem Text gehabt haben muss. Selbst knappe zwanzig Jahre später brachte er Huartes Schrift noch Sympathie entgegen. In einem Brief an Christoph Gottlieb von Murr vom 25. November 1768 schreibt er: »Itzt würde ich mir ein besseres Buch zum übersetzen aussuchen, obgleich auch dieses viele gute Gedanken enthält, denen nichts als die Einkleidung in eine neuere philosophische Sprache mangelt.«138 Zwei dieser Gedanken, die in der HuarteSchrift anklingen, sollen hier herausgestellt werden: die Thematik des Materialismus und die damit verbundene Frage nach der Unsterblichkeit der Seele sowie
136 Der Eintrag ist ebenso wie ein Faksimile der entsprechende Seite abgedruckt in A (2005), Bd. 1, S. 59 bzw. Bd. 2, S. 694. Jürgen Stenzel äußert sich im Kommentar der Frankfurter Ausgabe vornehm zurückhaltend, meldet aber erste Zweifel an der ursprünglichen Deutung an: »Als er Ende 1751 sein unterbrochenes Studium in Wittenberg wiederaufnahm, um es zur Beruhigung seines Vaters möglichst bald mit einem Magisterexamen abzuschließen, scheint er sich das Werk des spanischen Arztes Juan Huarte (um 1529–1588) als Disputationsthema gewählt zu haben. Die seiner Übersetzung hier vorangestellten ›Notizen‹ [in WuB 2, S. 410–417] mit der Vielzahl ihrer gelehrten, oft nur ornamentierenden Verweise deuten eher auf eine akademische Disputation hin als auf die Vorbereitung der ›Vorrede des Übersetzers‹, wenn diese sich natürlich auch darauf gestützt hat. Daß die Übersetzung selbst die Grundlage für Lessings Magisterpromotion gewesen sein sollte, ist eher unwahrscheinlich.« WuB 2, S. 1014. Eine Disputation Lessings, die diese Vermutung stützen oder widerlegen könnte, ist in den entsprechenden Archiven nicht aufzufinden. 137 Vergleicht man die jeweiligen Kennzeichnungen der Absolventen, so wird deutlich, dass der zum Zeitpunkt der Abschlussprüfung erreichte Stand immer mit angegeben wird, im Falle Lessings ist das derjenige eines eingeschriebenen Studenten der Medizin. Ich danke an dieser Stelle ganz herzlich Hanspeter Marti, der mir mit seinem Wissen über die frühneuzeitlichen Universitäten und deren Disputationswesen freundlicherweise behilflich war, diese Antinomie aufzulösen. 138 WuB 11/I, S. 569.
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Die Magisterarbeit zu Johann Huart – eine Rettung qua Übersetzung?
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Huartes Überlegungen zum Geniebegriff.139 Doch zunächst ein Blick in die Vorrede. Mit dem spanischen Gelehrten Juan Huarte hat sich Lessing eines »individuellen Außenseiters« angenommen.140 Wieder einmal, möchte man aus der Retrospektive anfügen.141 Zudem handelt es sich bei dem Arzt aus dem 16. Jahrhundert um eine ambivalente Figur: zum einen »[werden] von den spanischen Gelehrten [. . . ] unter uns wenige so bekannt sein, als Johann Huart, nicht sowohl nach seiner Person, als auch seinem Werke«,142 zum anderen aber trifft laut Lessing auch der Spruch des Seneca nur zu gut: »viele kennt man, und viele sollte man kennen.«143 Huarte gehört zu jenen Gelehrten, die man als die bekannten Unbekannten bezeichnen muss. Sein Werk hat sich nicht »in die Register der Unsterblichkeit eingeschlichen«, obwohl gerade er es war, »der über die Grenzen seines Jahrhunderts hinaus dachte«.144 Dementsprechend wenig ist über Huartes Leben bekannt. Lessing versucht die wenigen gesicherten Informationen, die er über ihn zusammentragen kann, in Kürze darzustellen. Erst auf dieser Basis, der lebensweltlichen Wirklichkeit Huartes, vermag er eine erste Einschätzung seines Werkes vorzunehmen. Es ist das typische Vorgehen Lessings: die Schriften, die er beurteilt oder die ihn interessieren, im Leben ihres Autors verorten und somit der historischen Situation ihres Entstehens gerecht werden. Für Lessing ergibt
139 Erst seit Kurzem rückt dieses Thema in den Fokus der Lessingforschung, so erschienen jüngst zu Lessings Huarte-Schrift: Dieter Breuer: Die Unmoral der Komödianten, physiologisch begründet. Der junge Lessing übersetzt Huarte. In: Martin, Ariane; Roßbach, Nikola (Hgg.): Begegnungen. Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 3), S. 31–42, sowie Stephanie Catani: ›Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften‹. Lessings Huarte-Übersetzung im Kontext poetologischer und anthropologischer Diskurse der Aufklärung. In: Berthold, Helmut (Hg.): ›ihrem Originale nachzudenken‹. Zu Lessings Übersetzungen. Tübingen 2008 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 31), S. 29–45. Zum eigentlichen Verfahren der Übersetzung aus dem Spanischen und der Frage der Texttreue bei Lessing siehe Hans Rheinfelder: Der junge Lessing als Übersetzer aus dem Spanischen. In: ders. (Hg.): Philologische Schatzgräbereien. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Geleitwort von Alfred Noyer-Weidner. München 1968, S. 261–272; sowie ders.: Lessings Beziehungen zur spanischen Kultur. In: Arcadia 2 (1967), S. 79–90. Ich greife diese beiden Überlegungen heraus, da sie für den Meinungsbildungsprozess des jungen Lessing zentral sind. 140 Hugh Barr Nisbet: Lessings Umgang mit Außenseitern. In: Stenzel, Jürgen; Lach, Roman (Hgg.): Lessings Skandale [Tagung der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel vom September 2004]. Tübingen 2005 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 29), S. 79–100, hier S. 83. 141 Die Rettungen zielen ebenfalls ausnahmslos auf Außenseiter, wie Nisbet nicht müde wird zu betonen, dazu mehr im weiteren Verlauf der Arbeit. 142 WuB 2, S. 418. 143 Ebd. 144 Ebd.
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sich auch erst daraus die Motivation für eine Übersetzung der Schrift ins Deutsche, hat doch die bis dato in lateinischer Sprache gebräuchliche Version den Makel, dass der Übersetzer »seine Sachen allzugut [hat] machen wollen, indem er die spanischen Ausgaben, so viel er deren habhaft werden können, nicht allein miteinander vergliche, sondern auch alle zum Grunde seiner Übersetzung gelegt hat.«145 Huarte war eben nicht der Gelehrte, das schließt Lessing auch aus seiner Biographie, der Gedankengänge für abgeschlossen hielt. Er überarbeitete seine einzige zu Lebzeiten erschienene Schrift für jede neue Ausgabe, mit Erfolg, wie Lessing meint, denn: Das Buch hat seine Vortrefflichkeit noch nicht verloren, ob gleich die Art zu philosophieren welche man darinnen antrifft jetzo ziemlich aus der Mode gekommen ist. Es ist immer noch das einzige welches wir von dieser Materie, deren Einfluß in die ganze Gelehrsamkeit ganz unbeschreiblich ist, haben. Und so gewiß es ist, daß Väter und Lehrer unzählige Wahrheiten, welche viel zu fein sind als daß sie durchgängig bekannt sein sollten, daraus lernen können, so gewiß ist es auch, daß man mir nicht etwas überflüssiges getan zu haben vorwerfen kann.146
Die Einwände, die Lessing gegen das zu seiner Zeit schon 150 Jahre alte Werk vorzubringen hat, scheinen auf den ersten Blick eher methodischer denn inhaltlicher Natur. Er schätzt es als das Werk eines Genies, dessen Ansichten auch den Zeitgenossen auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit noch nützlich sein können.147 Doch zunächst weiter zur Person. Lessing kommt in seiner Vorrede noch einmal auf den ambivalenten Charakter des Spaniers zurück, was bei einer nur vier Seiten starken Vorrede doch verwundert, oder zumindest unsere Aufmerksamkeit diesbezüglich erhöhen sollte. »Sollte man ihn nun nach seinen eigenen Grundsätzen beschreiben,« so Lessing, »so würde man von ihm sagen müssen; er ist kühn, er verfährt nie nach den gemeinen Meinungen, er beurteilt und treibt alles auf eine besondere Art, er entdeckt alle seine Gedanken frei und ist sich selbst sein eigener Führer.« Bisher wurde in diesen Zeilen immer ein Selbstportrait oder eine Projektion des jungen Lessing vermutet.148 Das mag in Teilen richtig sein, aber nur insofern, als dass sich Lessing als typischer oder besser prototypischer Gelehrter der Aufklärung versteht. Denn genau als solchen charakterisiert er
145 Ebd., S. 421. 146 Ebd. 147 Lessing argumentiert hier von der Selbsteinschätzung Huartes aus und scheint ihr zustimmend zu folgen: »Wann Huart übrigens auf der 88. Seite dieses Werks behauptet, daß es nur den großen und erfindenden Genies erlaubt sein sollte, Bücher zu schreiben, so muß er sich ohne Zweifel selbst für ein solches gehalten haben.« Ebd., S. 421f. (Hervorhebungen im Original). 148 So etwa bei Franzbach (1965).
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Huarte. Die Attribute, die er ihm zuschreibt, sind die Attribute der Aufklärung: er besitzt Mut (»ist kühn«), denkt selbständig (»verfährt nie nach gemeinen Meinungen«), hat seinen eigenen Stil149 und hält sich für einen freien Denker (»entdeckt alle seine Gedanken frei«), der keiner Anleitung durch andere Personen bedarf (»eigener Führer«).150 Aber sogleich fährt er mit einer kleinen Apologie des Außenseiters Huarte fort, gleichsam um seine allzu klare Zuschreibung zur Aufklärung ein wenig abzumildern: Man weiß aber wohl daß solche Geister auch auf unzählige Paradoxa verfallen; und der billige Leser wird sich derer eine ziemliche Anzahl auch hier anzutreffen, nicht wundern. Man überlege das Jahrhundert des Verfassers, man überlege seine Religion, so wird man auch von seinen Irrtümern nicht anders als gut urteilen können. Mit den allzugroben aber, welche so beschaffen sind, daß sie bei der jetzt weit erleuchteteren Zeit gleich in die Augen fallen und daher der Kürze wegen hier übergangen werden, wird man Mitleiden haben.151
Es ist offensichtlich, dass Lessing den spanischen Gelehrten an dieser Stelle instrumentalisiert, ähnlich wie seine ›Schützlinge‹ in den zeitgleich entstehenden Rettungen.152 Die doppelte Charakterisierung, die Lessing in dieser Vorrede vornimmt, verfolgt zwei unterschiedliche Ziele. Zum einen ist da die Feststellung, dass die großen Geister nicht unbedingt die Bekannten und Geachteten sein müssen, sie sind vielmehr aufgrund ihrer vermeintlichen Nähe zu einem unabgeschlossenen, dis-
149 Den Teilsatz »er beurteilt und treibt alles auf eine besondere Art« ist so zu verstehen, dass sich Huarte keiner Schule zuordnen lässt, ›besonders‹ wäre damit ein Synonym für ›gesondert‹, im Sinne von ›abgesondert‹, ›einzeln‹. Siehe hierzu auch die synonyme Verwendung der Begriffe in Zedlers Universallexikon, dort wird unter dem Lemma ›Sonderlich, Sonderbar, Absonderlich, Fürnehmlich, Besonders, oder Sonders‹ expliziert: »[. . . ] begreift all dasjenige unter sich, was entweder als eine Ausnahme von der gemeinen Regel anzusehen, aber auch nach ganz besonderen Rechten zu beutheilen und zu entscheiden ist.« Zedler 38, Sp. 731. 150 Nur zu Illustrationszwecken sei hier die die kantische Definition von Aufklärung angeführt: »AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481–494, hier S. 481. 151 WuB 2, S. 422. 152 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dieses Argument an Plausibilität gewinnen, wenn man sich die geradezu parallel konstruierten Konstellationen der anderen Schriften dieser Zeit vor Augen führt.
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kursiv offen gehaltenen Wahrheitsbegriff nicht lexikonfähig.153 Zweitens stilisiert Lessing Huarte zu einem vorbildlichen Gelehrten der Aufklärung, der genau diese dogmatische Gewissheit, die es zu überwinden gilt, schon in einer früheren Epoche überwunden hatte. Und in dieser Funktion oder Eigenschaft kann er auch der Mitte des 18. Jahrhunderts noch seine Dienste erweisen, denn »[i]ch [Lessing, M. M.] vergleiche ihn übrigens mit einem mutigen Pferde, das niemals mehr Feuer aus den Steinen schlägt, als wenn es stolpert.«154 Der Geniebegriff und die Materialismusdebatte sind zwei dieser Stolpersteine, die mit ihren Funken die zeitgenössische Debatte neu zu entzünden vermögen. Wohl genau in diesem Sinne kann sich Lessing nicht vorwerfen, »etwas überflüssiges getan zu haben«.155 Während gegenwärtig vor allem die Möglichkeit eines freien Willens im Menschen die Debatte um den Materialismus befeuert, war das Hauptproblem des 18. Jahrhunderts noch ein ganz anderes. Ein dezidiert vorgetragener Materialismus, wie ihn Huarte bisweilen im Rekurs auf antike Autoritäten vertrat,156 implizierte notwendigerweise die Leugnung der Unsterblichkeit der Seele und damit einhergehend den gesamten Komplex moralischen Verhaltens.157 Mit diesem, oftmals nicht ausgesprochenen, argumentativen Zwischenschritt stand der Vorwurf der Gottlosigkeit im Raum, aus dem sich wiederum ein moralisches Urteil ableiten ließ: Wer nicht (recht) glaubt, ist auch sittlich mehr als suspekt. Diese enge Verbindung von Moral und Glauben ist der Hauptstreitpunkt aller Rettungen, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Aus ihr erwachsen meist die Vorwürfe der Ketzerei, die mitunter die fatalsten Folgen nach sich ziehen. Doch gerade das bestreitet Lessing in Bezug auf Huarte: »Vor allem sind die Stimmen zurückzuwei-
153 Die Tatsache, dass Huarte sein einziges Werk von Auflage zu Auflage immer wieder überarbeitet hat, unterstreicht die Unabgeschlossenheit und Offenheit der Unternehmung. Dass Lessing diesem Wahrheitsbegriff nahesteht, ist in der Literatur oftmals thematisiert worden. Siehe hierzu grundlegend und mit weiteren Literaturhinweisen Ingrid Strohschneider-Kohrs: Historische Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift. Göttingen 2009 (Kleine Schriften zur Aufklärung 16), S. 16–29. 154 WuB 2, S. 422. 155 WuB 2, S. 421. 156 Catani (2008) liefert eine gute Zusammenfassung der zugrunde liegenden Ideen Huartes. Als Quintessenz ließe sich in aller Kürze zusammenfassen: Ausgehend von der antiken Lehre der vier Elemente des Galenos (das Trockene, das Warme, das Feuchte und das Kalte) bestimmt Huarte in den jeweiligen Mischungsverhältnissen der Elemente die jeweils im Geiste dominierenden Fähigkeiten des Menschen. In einem zweiten Teil wendet sich Huarte dem zu, was man heute Eugenik nennen würde. 157 Die Folgen sind in der Argumentationslogik der Zeit nicht zu überschätzen und betreffen beinahe alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
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sen, die ihn einen sittenlosen Schriftsteller nennen.«158 Es ging Lessing also um eine Differenzierung, die der einfachen und von dogmatischen Prämissen her argumentierenden und somit nur scheinbaren Wahrheit ein anderes Bild entgegensetzt. Diese Differenzierung lässt sich in den folgenden Schriften Lessings dahingehend nachzeichnen, dass unter den möglichen Kandidaten im argumentativen Verlauf, die Stellschraube am ehesten im Bereich der religiösen Überzeugungen zu justieren sei. Huarte Sittenlosigkeit zu unterstellen, impliziert ein bestimmtes Gottesbild, das wohl nicht sein eigenes war. François Azouvi weist darauf hin, dass in Huartes Selbstverständnis als Arzt die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele nicht in sein Aufgabengebiet falle: »[. . . ] la médecine n’a rien à dire sur l’immortalité de l’âme; en revanche, elle a d’innombrables faits à alléguer en faveur de la dépendance stricte de l’âme à l’édard du corps.«159 Diese Art von Materialismus ist aber nicht atheistisch verfasst. Die Existenz der Seele wird ja gerade nicht geleugnet, so wie später bei La Mettrie, als sich Lessing genötigt fühlte rigoros einzuschreiten.160 Vielmehr stehen physikotheologische Überlegungen im Hintergrund: »Être un philosophe naturel, c’est donc apprendre à connaître la connexion des causes et des effets naturels, c’est découvrir l’ordre que Dieu a fait en faisant le monde; la nécessité, en quelque sorte.«161 Die Feststellung also, dass der Arzt nichts über die Unsterblichkeit der Seele sagen kann, weil das nicht in sein Aufgabengebiet fällt, ist nicht gleichzusetzen mit der Leugnung dieses Umstandes. Die Folgen dieser Differenzierung sind weitreichend und ergeben ein völlig anderes Bild von Huarte, als es die Zeitgenossen von ihm zeichneten. Sie wirkt aber auch in den Bereich der religiösen Überzeugungen des gesamten 18. Jahrhunderts hinein, dazu im Verlauf der Arbeit mehr.162
158 Unter den vielen kritischen Notizen, die sich zu Huartes Werk bei Lessing finden, steht diese fest und wie in Stein gemeiselt. WuB 2, S. 413. 159 François Azouvi: Médecine et philosophie chez Huarte de San Juan. In: Revue de Métaphysique et de Morale 31 (2001), H. 3, S. 399–405, hier S. 405. 160 Vgl. hierzu das Kapitel zur Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers. 161 Azouvi (2001), S. 401. 162 An dieser Stelle sei zunächst auf die Einschätzung Karl S. Guthkes verwiesen, die einige Punkte anspricht, die im weiteren Verlauf wiederkehren werden: »Im Fragment ›Die Religion‹ kommt Lessing noch einmal zurück auf die mechanistische Reduktion der Seele auf das organische Gehirn, wie sie ihm bei dem in Berlin an Überfütterung seiner Physis gestorbenen Mediziner La Mettrie entgegentrat [. . . ]. ›Was ist der Mensch?‹ ›Was bleibt von ihm?‹ Staub, Tier, Uhrwerk? Wieder wird der Materialismus, der keine Seele kennt abgewiesen. Das mechanistische anthropologische System ohne Gott reduziert den Menschen zu einer Lebensform, für die Tugend und Laster keine sinnvollen Begriffe mehr sind, sich vielmehr aus ›der Veränderung der Säfte‹ ergeben – eine bekannte Furcht im achtzehnten Jahrhundert, die nicht zufällig besonders auch den Ärzten, Haller und noch Schiller, zu schaffen gemacht hat und hier auch dem stud. med.
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Lessing in Wittenberg – Ausgangslage und erste Erträge
Auf einen zweiten Punkt, der als zentraler Diskurs der Aufklärung in der Arbeit immer wieder eine Rolle spielte und bereits in der Schrift Huartes Berücksichtigung fand, sei hier kurz hingewiesen. Es ist unbestreitbar, dass der Begriff des ›Genies‹ und die dahinter stehenden inhaltlichen Konzepte das 18. Jahrhundert aus literaturgeschichtlicher, aber auch philosophischer Perspektive in weiten Teilen mitbestimmt haben. Der von Lessing verdeutschte Titel Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften mag auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschen, das spanische Original macht es aber sofort deutlich: Examen de Ingenios para las ciencias. Mit der Übersetzung von ›Ingenios‹ als ›Köpfe‹ wählte Lessing bewusst die weitest mögliche Extension des Begriffes im Deutschen, um nicht von vornherein eine Einschränkung auf bestimmte obere Erkenntniskräfte vorzunehmen.163 Nicht umsonst notierte Lessing in seinen Notizen unter der Überschrift ›Vorzüge der Abhandlung‹: »Aber unser [Autor] ist als einziger, soweit belegbar, gefunden worden, der dieses Thema systematisch durchdacht hat.«164 Denn Lessing war sich durchaus schon vor der Abfassung der Hamburgischen Dramaturgie bewusst, wie Dieter Breuer betont: »Auch das sich revolutionär gebärdende ›Original-Genie‹ des 18. Jahrhunderts hat seine Vorgeschichte. Im Wust der Überlieferung aus unaufgeklärten Zeiten hat der junge Lessing zielsicher die Perle gefunden, sie gereinigt und den eigenen Zeitgenossen präsentiert: Juan Huartes Examen de Ingenios para las ciencias, [. . . ].«165 Genie war in der Mitte des Jahr-
Gotthold Ephraim.« Karl S. Guthke: »Nicht fremd seyn auf der Welt«. Lessing und die Naturwissenschaften. In: Lessing Yearbook 25 (1993), S. 55–82, hier S. 66f. 163 Für eine allgemeine Begriffsgeschichte im Hinblick auf Huarte und die damit einhergehenden Veränderung im anthropologischen Bild der Zeit siehe Hennig Mehnert: Der Begriff »ingenio« bei Juan Huarte und Balthasar Gracián. Ein Differenzierungskriterium zwischen Renaissance und Barock. In: Romanische Forschungen 91 (1979), H. 3, S. 270–280. Nisbet bemerkt zur Übersetzung: »Wahrscheinlich ist allerdings, daß sein eigentliches Interesse erst durch Bayles Artikel über Huarte geweckt wurde, denn die ungewöhnliche Übersetzung von Huartes Titel als Prüfung der Köpfe ist ein wörtliches Echo von Gottscheds Übersetzung in seiner deutschen Ausg. von Bayles Dictionnaire, ferner werden Bayles Bemerkungen über Huarte zitiert und weiter ausgeführt in Lessings lateinischen Notizen zu seiner These, in denen sich überdies dieselbe Faszination von bio-bibliographischen Einzelheiten bemerkbar macht wie in Bayles Kompendium.« N, S. 165 (Hervorhebungen im Original). 164 WuB 2, S. 415. 165 Dieter Breuer: Die Unmoral der Komödianten, physiologisch begründet. Der junge Lessing übersetzt Huarte. In: Martin, Ariane; Roßbach, Nikola (Hgg.): Begegnungen. Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 3), S. 31–42, hier S. 31 (Hervorhebung im Original). Zur Entwicklung des Geniegedankens im 18. Jahrhundert nach wie vor grundlegend Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik: 1750– 1945. 2 Bde. Darmstadt: 1985. Für die Entwicklung des Konzeptes bei Lessing ebd. Bd. 1, S. 69–95.
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Die Magisterarbeit zu Johann Huart – eine Rettung qua Übersetzung?
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hunderts kein moralisch indifferenter Begriff, wie schon die Briefe von Lessings Vater belegen: darin wird der Sohn vor dem Absturz gewarnt und ermahnt, er solle sich vom Theater und insbesondere den Wanderbühnen fernhalten.166 Aber gerade das kunstschaffende und damit unter moralischen Gesichtspunkten übel beleumundete Genie, so kann man mit Huarte folgern, ist ein Produkt der Natur. Ein Produkt, hervorgebracht durch die Mischung der Körpersäfte und verfeinert durch Erziehung. Unter den oben angeführten – physikotheologischen – Prämissen ist das gottgewollt und somit als »natural gift«167 zunächst doch moralisch indifferent. Eine generelle moralische Vorverurteilung lässt sich nicht länger halten, sodass aus der pauschalen Verdammung einer ganzen Gruppe oder Zunft, Einzelschicksale herausgegriffen und je für sich unter die Lupe genommen sowie beurteilt werden müssen.168 Herders schon in der Vorrede zu Huartes Werk vermuteter »ganzer Leßing« soll in den weiteren Kapiteln, wo Einzelschicksale in den Mittelpunkt treten, deutlichere Konturen gewinnen. In diesem Kapitel kamen die eigentlichen Rettungen von 1754, die den Hauptgegenstand der Untersuchung bilden, so gut wie nicht zur Sprache. Stattdessen
Welche weitreichenden Konsequenzen die Lektüre der Huarte-Schrift für Lessings Geniebegriff hatte, wird deutlich, wenn man sich die Einschätzung Schmidts – der den Namen Huarte nicht nennt – vor Augen führt: »Lessing möchte das Genie schulmäßig erziehen, in strikt rationalistischer Manier. ›Das Genie‹, so heißt es in der Fabel-Abhandlung, ›das Genie müssen wir durch die Erziehung bekommen. Ein Knabe, dessen gesamte Seelenkräfte man, so viel als möglich, beständig in einerlei Verhältnissen ausbildet und erweitert; den man angewöhnet, alles, was er täglich zu seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er gestern bereits wußte, in der Geschwindigkeit zu vergleichen, und Acht zu haben, ob er durch diese Vergleichung nicht von selbst auf Dinge kömmt, die ihm noch nicht gesagt worden; den man beständig aus einer Scienz in die andere hinüber sehen läßt; den man lehret sich eben so leicht von dem Besondern zu dem Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besonderen sich wieder herab zu lassen: Der Knabe wir ein Genie werden, oder man kann nichts in der Welt werden.‹« (ebd., S. 72, Hervorhebungen im Original). Der Einfluss Huartes auf diese Überlegungen reichen von der Betonung der Rolle der Erziehung des Genies bis in die Wortwahl hinein, wenn Lessing statt von Wissenschaften von ›Scienz‹ spricht (span. ›ciencias‹). 166 Erhellend hierzu ist eine Passage aus Lessings Antwort an seinen Vater vom 10. April 1749 (der Brief des Vaters ist leider nicht erhalten, so dass man nur hieraus Rückschlüsse ziehen kann), dort heißt es: »Sie verlangen durchaus, daß ich nach Hause kommen soll. Sie fürchten ich möchte in der Absicht nach Wien gehen, daselbst ein Comoedienschreiber zu werden.« 167 C. M. Hutchings: The ›Examen de Ingenios‹ and the Doctrine of Original Genius. In: Hispania 19 (1936), H. 2, S. 273–282, hier S. 282. In dieser immer noch äußerst lesenswerten Studie stellt Hutchings Huartes System und die daraus resultierenden poetischen und poetologischen Implikation konzise dar und zieht die Rezeptionslinien bis in die Frühaufklärung des deutschsprachigen Raumes. Von Thomasius (S. 280) zu Lessing ist der Weg dann kurz. 168 Diese Pauschalverurteilung, die als nicht länger haltbar dargestellt wird, betrifft neben den Schauspielern auch die Dichtung an sich, insb. die dramatische Poesie.
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lag der Fokus auf dem Teil des Weges, den Lessing bis zur Niederschrift seiner Ketzerrettungen zurücklegte. Diese unmittelbare Vorgeschichte ist unverzichtbar, da sie die Elemente, auf die Lessing im weiteren Verlauf seiner Arbeiten vermehrt zurückgreifen wird, in ihren noch unvollständigen Anfängen zeigt. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als die im folgenden Kapitel dargestellte Geschichte der Gattung nicht hinreichend ist, die Rettungen Lessings angemessen zu beschreiben. Die notwendige Voraussetzung für ein Verständnis der Texte ist eine doppelte: die Tradition der Gattung und die spezifisch lessingsche Aneignung derselben. Vor dem Hintergrund dieser hier antizipierten Ahnung dessen, was den Charakter der Rettungen ausmachen könnte, soll der Blick zurück gerichtet werden, um den Weg oder die Tradition freizulegen, derer sich die Bemühungen Lessings verpflichtet fühlen und derer sie sich letztlich auch verdanken.
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3 Rettung – eine Gattung mit Geschichte? Streit, Auseinandersetzung, Kontroverse, Debatte: All diese Begriffe umreißen ein semantisches Feld, das lange Zeit nicht im Fokus der frühneuzeitlichen Forschung stand. Zu mächtig war scheinbar die These von Jürgen Habermas, dass eine »bürgerliche Öffentlichkeit« in Deutschland erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu finden wäre,1 um eine Aufarbeitung dieses Themenkomplexes in Angriff zu nehmen. Seit einigen Jahren aber hat man sich von der Allgültigkeit des habermasschen Diktums verabschiedet und nimmt Teilöffentlichkeiten, die zweifelsohne existiert haben, in den Blick. Die auf diese Weise aufgezeigten Streitkulturen – der Plural ist Programm – liefern ein differenzierteres Bild der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit. Die Bandbreite dabei ist groß: Von alltäglichen Zwistigkeiten in Stadt und Land und deren Niederschlag in juristischen Akten berichtet Julia Haack.2 Vom Nachbarschaftsstreit über Fragen der Ehre und Ehrlosigkeit – die eine eigene Form der Rettungen ausbilden werden3 – stellt Haack eine Reihe von Streitigkeiten und deren teilweise institutionalisierte Praxis innerhalb eines Teiles der Öffentlichkeit vor. Weit mehr institutionalisiert und ritualisiert, fern von juristischen Sanktionen, etablierte sich innerhalb der Universitäten eine Streitkultur, die prima facie weniger der persönlichen Profilierung diente, sondern vielmehr eine methodisch angeleitete Form des Erkenntniszuwachses und der Erkenntnissicherung darstellte. Einschlägige Untersuchungen zum Disputationswesen der Frühen Neuzeit liegen mittlerweile vor.4 Marian Füssel beschreibt die Kehrseite der Streitkultur innerhalb der Universitäten und der Universitäten
1 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt 17 1987 (Sammlung Luchterhand 25), insb. S. 28–41. 2 Julia Haack: Der vergällte Alltag. Zur Streitkultur im 18. Jahrhundert. Köln 2008 (Menschen und Kulturen 6). 3 Haack erwähnt den speziellen Typus der Ehrenrettungen überraschenderweise nicht, dennoch sind die Ausführungen zum Ehrbegriff hilfreich. Ebd., S. 44–47. 4 Mit dem Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit siehe Kenneth G. Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004 (Beiträge zur historischen Theologie 127), S. 88–142. Dort auch weiterführende Literaturhinweise. Allgemein kann auch auf die Arbeiten Hanspeter Martis hingewiesen werden. Ferner Anita Traninger: Techniken des Agon: Zu Inszenierung, Funktion und Folgen der Konkurrenz von Rhetorik und Dialektik in der Frühen Neuzeit. In: Jaumann, Herbert (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Berlin / New York 2011, S. 629–665; sowie nun umfassend: dies.: Disputation, Deklamation, Dialog: Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stuttgart 2012 (Text und Kontext 33).
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mit ihrem Umfeld, das ebenfalls als konfliktträchtig aufgezeigt wird.5 Eng mit der wissenschaftlichen Praxis verzahnt, wenngleich nicht in ähnlichem Maße institutionalisiert wie die Disputation, ist die Kontroverse »als spezifisch wissenschaftliche[r] Interaktionsmodus«6 und stellt eine weitere Spielart nicht nur frühneuzeitlicher Streitkultur dar.7 Um diesen kursorischen Überblick zu beschließen und sich der Person Lessing zu nähern, sei noch auf eine letzte, jüngst ebenfalls kontrovers diskutierte Form des Streites hingewiesen. Vor allem mit den Arbeiten Ursula Goldenbaums8 hat ein Umdenken in Bezug auf die Reichweite gelehrter Streitigkeiten und deren Wirksamkeit in der Öffentlichkeit stattgefunden. Die Verabschiedung der habermasschen Thesen könnte dezidierter nicht sein.9 Im Vordergrund stehen dabei Debatten um den Literaturbegriff und die Literatur selbst. Dass Lessing ein prominenter und streitbarer Vertreter in diesem Zusammenhang war, muss nicht weiter ausgeführt werden.10 Das semantische Feld ›Streit‹ bietet ein reichhaltiges Panorama, vor dem auch Lessings Rettungen gesehen werden müssen. Welche Stellung die Gattung11 der
5 Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). 6 Carlos Spoerhase: Kontroversen: Zur Formenlehre eines epistemischen Genres. In: Klausnitzer, Ralf; Spoerhase, Carlos (Hgg.): Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse. Bern 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, N.F. 19), S. 49–92, hier S. 49. 7 Siehe hierzu auch den Sammelband von Franz Joseph Worstbrock, Helmut Koopmann (Hgg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 2). Dass das Thema virulent bleibt, zeigt der ausführliche, jüngst erschienene Sammelband mit Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit von Marc Laureys und Roswitha Simons (Hgg.): Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive. Göttingen 2010 (Super alta perennis 10). Auch erste systematische Überlegungen finden sich mittlerweile, dazu Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hgg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld 2008 (Kultur- und Medientheorie). 8 Ursula Goldenbaum (Hg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. 2 Bde. Berlin 2004. 9 Ebd., Bd. 1, S. 3ff. 10 Ich verweise hier lediglich auf den umfangreichen Band von Wolfram Mauser und Günter Saße (Hgg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. [Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati / Ohio USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau.] Tübingen 1993. 11 Ob der Rettung tatsächlich der Status einer Gattung zukommt, wird am Ende des Kapitels, nach Beurteilung der Faktenlage, zu entscheiden sein. Solange wird der Gattungsstatus als Arbeitshypothese angenommen.
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›Rettung‹ und die eng verwandte ›Apologie‹ in diesem diskursiven Feld, zudem sie zweifelsohne gehören, innehaben, soll in den nächsten Schritten Gegenstand der Untersuchung sein. Nur soviel vorweg: eine dezidierte Einordnung der Schriften Lessings fand bisher nicht statt. Sowohl die Apologie als auch die Rettung wurden von der Forschung bisher weitgehend ausgeblendet.12 Um zu einem adäquaten Verständnis der Rettungen Lessings zu gelangen, ist die Kenntnis der Tradition, der sie entstammen, unabdingbar.13 Dadurch eröffnen sich Sichtweisen, die bisherige Positionen der Forschung zum Teil revidieren und beträchtlich erweitern können.14
12 Die einzige Ausnahme bilden hier die begriffsgeschichtlichen Überlegungen Wilfried Barners. Eine Grundeigenschaft dieser »sogenannte[n] Rettung[en] (lateinisch vindiciae oder vindicatio)« hat Barner in Bezug auf die lessingschen Texte wie folgt beschrieben: »Es handelt sich um die förmliche, methodische Verteidigung einer wegen einer bestimmten Tat oder Gesinnung verleumdeten historischen Person. Und zwar wird dies zumeist in Form eines Gerichtsprozesses inszeniert, mit Nennung der Anklagepunkte, Verteidigung respective Widerlegung und schließlich Urteil (d. h. Freispruch, zumindest partieller Freispruch).« Wilfried Barner: Über die Verstehbarkeit des ›Aufklärers‹ Lessing. In: Schmidt-Glintzer, Helwig (Hg.): Aufklärung im 21. Jahrhundert. Vorträge. Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Hefte 18), S. 11–40, hier S. 37. 13 Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt ebenfalls Wilfried Barner: ›Rettung‹ und Polemik. Über Kontingenz in Lessings frühen Schriften. In: Zeuch, Ulrike (Hg.): Lessings Grenzen [56. Wolfenbütteler Symposium zum Thema »Lessings Grenzen« vom 21. bis 24. April 2004 an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel]. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen 106), S. 11–24, insb. S. 13f. Barner knüpft dabei an einen Begriff von Kontingenz an, der Lessing als Voraussetzung gedient haben könnte: »Bei Leibniz in De libertate und in De contingentia ist dasjenige kontingent oder nicht-notwendig, dessen Gegenteil keinen Widerspruch einschließt – wobei wiederum zwischen notwendigen Vernunftwahrheiten und den kontingenten Tatsachenwahrheiten unterschieden wird.« S. 15; im Rückgriff auf Überlegungen Richard Rortys zum Begriff der ›Öffentlichkeit‹, die sich gegen die Ausführungen Habermas’ richten, hält Barner treffend fest: »Zur Konkretisierung wechsle ich hier [. . . ] zu kurzen Beobachtungen an vier frühen Lessingschen Texten. ›Rettung‹ und Polemik zielen nach Lessings Selbstverständnis in ihrem ›Wahrheits‹-Drang, mit Rorty’schen Kategorien gesprochen nicht auf essentialistische Erkenntnis von universeller Geltung. Sie ziehen ihre argumentative Stärke im Fall der ›Rettung‹ gerade aus ihrer Begrenzung zunächst auf den herauspräparierten Problempunkt (etwa eine bestimmte Verleumdung einer historischen Gestalt). Im Fall der Polemik ist die personale Zentrierung auf den aggressiv Vorgeknöpften charakteristisch, [. . . ]. Dieses bewußte Ziehen von Grenzen bedeutet nach Lessings Konzept gerade nicht Schwächung, sondern Zuspitzung und dadurch Erkenntnisgewinn.« S. 16. Inwieweit der Wahrheitsbegriff dennoch von dem Rortys abgegrenzt werden muss, behandeln die folgenden Kapitel im Rückgriff auf die Tradition der Gattung. 14 Eingangs der einzelnen Kapitel wird jeweils ein kurzer Forschungsüberblick gegeben.
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3.1 Apologie, Vindicatio, Rettung – zur Begriffsgeschichte Der reine Impetus einer Verteidigung lässt sich nicht auf einen bestimmten Schrifttyp festlegen. Verteidigen kann man in (persönlichen) Briefen ebenso wie in philosophischen Abhandlungen oder literarischen Schriften. Verteidigung scheint zunächst nicht mehr zu sein, als eine Haltung, die man als Schreibender einnehmen kann. Und dennoch gibt es Texttypen, deren eigentliches Augenmerk auf diese Tätigkeit gerichtet ist und die ihre formale Gestaltung an dieses Argumentationsziel anpassen. Die angestrebte Verteidigung ist dann kein Nebenprodukt mehr, sondern zunächst einmal der definierte Zielpunkt des Textyps, und diese Intention bestimmt die konstitutiven Merkmale. Ausgehend von der Intention lässt sich eine ganze Reihe solcher Texttypen benennen: Apologie, Vindicatio, Schutzschrift, Rettung, Defensio, Vindiciae und Rechtfertigung sind nur die geläufigsten. Sie alle, so ein erster positivistischer Befund nach Einsicht der einschlägigen Bibliothekskataloge, existierten in der Frühen Neuzeit scheinbar nebeneinander. Um der Vielfalt der Begrifflichkeiten gerecht zu werden, werde ich im Folgenden ausgehend von ›Apologie‹ und ›Rettung‹ – erstere als Sammelbegriff und zweitere als den für Lessing einschlägigen Terminus – Vorschläge unterbreiten, wie man eine Gruppierung vornehmen kann, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Dafür sind die wenigen bisherigen Forschungsergebnisse nicht ausreichend. Als vorläufige Arbeitsdefinition soll gelten: Apologie sowie deren spezielle Ausformung als Rettung bezeichnen ein in der Regel in Prosa verfasstes Schrifttum, das der Verteidigung sowohl der eigenen als auch einer anderen Person sowie eines Sachverhaltes gegen vorgebrachte Anschuldigungen dienen kann. Der Begriff Apologie stammt vom griechischen Wort απολογία [apología] ab und bezeichnet die Verteidigungsrede vor Gericht. Das zugrunde liegende Verb απολογεισθαι [apologeísthai] greift bereits die beiden möglichen Seiten inhaltlicher Füllung auf: sich oder andere rechtfertigen, sich verantworten. Beide Begriffe sind erstmals bei dem antiken Rhetoriklehrer Antiphon von Rhamnus (480– 411 v. Chr.) belegt.15 Bei Aristoteles steht Apologie in einem dialektischen Verhältnis zu ihrem Gegenbegriff: der Anklagerede κατηγορία [kategoria].16 Im deutschsprachigen Raum wurde ab der beginnenden Frühen Neuzeit häufig der Terminus Schutzschrift synonym gebraucht.17 Ebenso wie der Begriff Apologie entstammt
15 Antiphon: Orationes et fragmenta. Hg. von Theodor Thalheim. Leipzig 1914. Dort in Or. 5,7 und 6,7. 16 Aristoteles: Rhet. 1, 3, 1358b. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999, S. 19. 17 Zedler 2, Sp. 899f.
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Apologie, Vindicatio, Rettung – zur Begriffsgeschichte
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Rettung als Gattungsbegriff (lat. vindicatio oder vindiciae) dem juristischen Kontext. Vindicatio bezeichnete ursprünglich die Klage auf Herausgabe eines Gegenstandes (lat. vindicae) und ist bis heute im Eigentumsrecht gebräuchlich. Die Übersetzung von vindicatio mit Rettung geht auf die ursprüngliche Bedeutung von ›retten‹ als ›entreißen‹ zurück.18 Die Verwendung des Begriffes Vindicatio in der Frühen Neuzeit geht zurück auf das Jahr 1589 und die anonym erschienene Schrift Fortunati Crelii Vindicatio, qua responsiones et argumenta pro vera Christi in Eucharistia praesentia, contra Gregorium de Valentia firmantur aus der Offizin des Hieronymus Commelius.19 Eine wörtliche Übersetzung von Vindicatio mit Rettung findet sich als Paar in einem zweisprachigen Titel zuerst 1669 in der Schrift des Pfarrers und Predigers Johann Conrad Schragmüller (1605–1675) aus Speyer Vindicatio psalmodica et cantualis: Das ist Gründliche Rettung der Psalmen und Kirchen-Lieder dess seel. D. Luthers und andern geistreichen Männern von den falschen Vorkehrungen und ungegründeten Einwürffen [. . . ].20 Dass Rettung schon vor dieser Zeit in ebenjenem Sinne gebraucht wurde, lässt sich leicht feststellen. Für den Bereich der Rhetorik findet sich die erste maßgebliche Definition bei Cicero: »[. . . ] vindicatio, per quam vis aut injuria et omnino omne, quod obfuturum est, defendo aut ulciscendo propulsatur.«21 Apologie und Vindicatio koexistierten bis in die Zeit des Hochmittelalters, dann ist eine erste inhaltliche Verschiebung zu beobachten. Nicht mehr das Eigentum an einem Gegenstand, sondern das Eigentum an der Wahrheit stand im Mittelpunkt. Es ist wohl kein Zufall, dass die Umstellung in der Rechtspraxis hin zum Inquisitionsprozess dieser Verschiebung historisch unmittelbar vorausging.22 Die sich im Zuge der Scholastik in der Theologie herausbildende Disziplin der Apologetik, – die zunächst nicht mit der Gattung Apologie gleichzusetzen ist – eignete sich diese fast vollständig an, sodass man beinahe von einem Kongruenzverhältnis sprechen kann. Die Apologie diente beinahe ausschließlich apologe-
18 Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Bearb. von Werner Betz. Tübingen 6 1966, S. 511 19 Anonymus [= Hiernonymus Commelius?]: Fortunati Crelii Vindicatio, qua responsiones et argumenta pro vera Christi in Eucharistia praesentia, contra Gregorium de Valentia firmantur. Heidelberg 1589. Es kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob der gelehrte Buchdrucker Commelius auch der Verfasser ist, unmöglich scheint dies jedoch nicht. Zur Person siehe ADB 4, S. 436. 20 Johann Conrad Schragmüller: Vindicatio psalmodica et cantualis. Das ist Gründliche Rettung der Psalmen / und Kirchen-Lieder / deß seel. D. Luthers und andern geistreichen Männern / von den falschen Vorkehrungen und ungegründeten Einwürffen [. . . ]. Speyer 1669. 21 (›[. . . ] durch welche Gewalt oder Unrecht, und überhaupt alles Widrige, durch Verteidigung oder Vergeltung abgewehrt wird.‹) Ciecero: De inventione 2, 161. 22 Vgl. hierzu Klaus Armbrüster: Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen. Ein rechtsgeschichtlicher Beitrag von den Anfängen einer Verteidigertätigkeit in Deutschland bis zum Ende der Weimarer Zeit. Berlin 1980, 62–83.
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tischen Zwecken (im christlich-theologischen Sinn) und die Apologetik bediente sich vornehmlich der Textsorte der Apologie. Im Anfangsstadium der Überschneidungen »[. . . ] kann [es] aber nicht überraschen, wenn [. . . ] die Funktion der apologetischen und positiven Beweisführung noch nicht klar auseinandergehalten wird.«23 Abgesehen vom Gebrauch des Begriffs innerhalb der Apologetik zeigte sich im 17. Jahrhundert eine zunehmend synonyme Verwendung von Apologie, Rettung, Vindicatio und Schutzschrift.24 Gerade in zweisprachigen barocken Titeln (lateinisch/deutsch) gehen die Bedeutungen aufgrund der Übersetzungen ineinander über. Auch eine inhaltliche Abgrenzung gestaltet sich schwierig, da vielfältige Themengebiete (Politik, Theologie, Philologie) abgedeckt wurden. Die Rettung hielt sich bis zur (späten) Aufklärung als Gattung, erreichte ihren quantitativen Höhepunkt allerdings schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert, gerade mit dem aufkommenden und sich in seiner zweiten Hälfte ausdifferenzierenden Bürgertum, trat eine spezielle Untergattung in den Vordergrund, die zuvor eine nur untergeordnete Rolle gespielt hatte: die Ehrenrettung.25 Gleichzeitig adaptierte die aufkommende Literaturkritik die Gattung der Apologie und nutzte sie für ihre Zwecke.26 Im 19. Jahrhundert verlor die Gattung der Rettung an Bedeutung und Vindicatio wurde wieder in seinem ursprünglich juristischen Sinne gebraucht, als Klage auf die Herausgabe von Eigentum.27 Literarische Konnotationen im Hinblick auf eine Gattung gingen völlig verloren, lediglich in der Wortbedeutung von ›Vindication‹ blieb das Motiv der Rettung oder Verteidigung erhalten.28 Apologie hat im 19. Jahrhundert immer mehr die Bedeutung von Apologetik angenommen29 und bis ins beginnende 20. Jahrhundert hin-
23 Albert Lang: Die Entfaltung des apologetischen Problems in der Scholastik des Mittelalters. Freiburg / Basel 1962, S. 85. 24 Für den Begriff ›Defensio‹ gestaltet sich eine statistische Auswertung problematisch, trägt doch eine Vielzahl der gedruckten Disputationen diese im Titel, obwohl sie nicht unbedingt zur hier behandelten Gruppe von Texten zählen. Zu dieser Überschneidung siehe Hans-Albrecht Koch: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution. Darmstadt 2008, S. 35. 25 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart: mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Rev. und berichtiget von Franz Xaver Schönberger. Wien 1808, Bd. 1, Sp. 1655. Zuvor waren hauptsächlich Heilige, hohe Würdenträger und Mitglieder des Adels Gegenstand einer Ehrenrettung. 26 Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur 179). 27 Vgl. hierzu: Pierer’s Universal-Lexikon 1864, Bd. 18, S. 599–601; Brockhaus BilderConversations-Lexikon 1841, Bd. 4, S. 609. 28 Vgl. hierzu Herders Conversations-Lexikon 1857, Bd. 5, S. 629. 29 Siehe Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon 1837, Bd. 1, S. 98. Im Vergleich zu Brockhaus Conversations-Lexikon 1809, Bd. 7, S. 53.
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ein behalten.30 Ungeachtet dessen ist Apologie bis heute auch außerhalb theologischer Kontexte ein gebräuchlicher Begriff, wenngleich hier eher die Schreibweise und weniger eine bestimmte Gattungstradition im Vordergrund steht. Zudem hat es den Anschein, als ob Realien Personen als Gegenstand der Apologie weitestgehend abgelöst haben. Soweit für den deutschsprachigen Raum. Für den franco- und anglophonen Raum stellt sich die Situation ein wenig anders dar. Das hängt, so die Hypothese, mit der Lexikalisierung bestimmter Begriffe zusammen. Olaf Simons hat anhand einer gründlichen statistischen Auswertung des englischen Buchmarktes zeigen können, dass [d]ie Worte Vindication, Apology, Defence [. . . ] bereits in den 1640ern, auf dem ersten Höhepunkt der ›Gattung‹ (wenn es denn eine ist), in flirrenden Synonymien verwendet [werden]. Man wird das noch präziser fassen können: Die Titel nutzen die verschiedenen Worte regelmäßig, als ob mit ihrer konkurrierenden Verwendung ein Mehrfaches an Bedeutung abgedeckt wird.31
Auch wenn alle Begriffe für sich stehen können und dabei eine Art synonyme Verwendung möglich erscheint, gibt es Abstufungen, die einen Bedeutungszugewinn erzeugen.32 Im Gegensatz zum Deutschen wurden die ursprünglich lateinischen Begriffe apologia, defensio und vindicatio lexikalisiert und in den allgemeinen Sprachschatz aufgenommen und mit je eigenen Bedeutungen belegt. Das englische ›apology‹ dürfte am ehesten der deutschen ›Entschuldigung‹ entsprechen und mit der Verwendung gesteht man unter Umständen eine Schuld ein, die es zu entschuldigen gilt. Sowohl ›defense‹ als auch ›vindication‹ sind im Englischen, bis heute, für etwas anderes reserviert. Dort steht ›Verteidigung‹ semantisch im Mittelpunkt, wobei ›Vindication‹ mehr in Richtung der deutschen Recht-
30 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon 5 1911, Bd. 1, S. 82. 31 Olaf Simons: A Vindication of Apologists and Antapologists – zur Frage, ob es hier eine Gattung gibt. In: Multhammer, Michael (Hg.): Verteidigung als Angriff. ›Apologie‹ und ›Vindicatio‹ als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs. [in Vorbereitung]. 32 Inwiefern sich dieser Zugewinn an Bedeutung aus unserer heutigen Sicht rekonstruieren lässt, ist eine komplexe Frage. Denkbar ist aus meiner Sicht zumindest eine doppelte Funktion, ohne das jede der Möglichkeiten eigens anvisiert werden muss. Zum einen wäre es der dezidierte Verzicht auf eine Debatte, die sich in Begriffsexplikationen und -definitionen erschöpft, um sogleich auf die Ebene des Inhalts zu verweisen. Es wäre demnach gleichgültig, wie man die jeweilige Schrift tituliert, man möge sie nennen, wie man wolle, der Inhalt ist das allein Wichtige. Die zweite Option wäre eine Begriffsextension und somit eine Erweiterung desjenigen Feldes, für die der Beitrag bestimmt ist. Die Schrift soll das eine wie das andere und noch ein Drittes gleichrangig abdecken. Man kommt dabei kaum ohne die Unterstellung bestimmter Autorintentionen aus, solange eine semantische Rekonstruktion der Unterschiede nicht geleistet ist. Ob dies überhaupt möglich ist, scheint zudem fraglich.
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fertigung tendiert. Ähnlich verhält es sich im Französischen. Auch dort gingen ›apologie‹ und ›défense‹ in den regulären Sprachschatz über. Die Konsequenz scheint ein weniger ausgebildetes Gattungsbewusstsein oder – um es positiv zu formulieren – eine größere Freiheit in der Handhabung der Begrifflichkeiten zu sein. Als Befund bleibt festzuhalten: Man findet eine im europäischen Raum sich unterschiedlich darstellende Gemengelage an Begrifflichkeiten vor, die je nach Fokus der Betrachtung divergierende Ergebnisse zeitigt. Dessen muss man sich bewusst sein. Mindestens zwei Zugänge sind legitim. Sieht man Rettung oder Apologie als eine Haltung, eine Form von Sprechakt an, wird sich das Feld weiten. Texte, die sich selbst nicht als Rettung oder Apologie bezeichnen, aber der argumentativen Ausrichtung nach eine Verteidigung anstreben, müssen mit einbezogen werden. Die Bandbreite ist dabei groß und selbst poetische Texte dürfen nicht ausgeschlossen werden. Vorteilhaft an dieser Betrachtungsweise ist, dass ein breites diskursives Feld rekonstruiert werden kann, in dem Meinungsbildung im Allgemeinen stattfindet. Die Aufmerksamkeit für das Spezifische der Textsorten Rettung und Apologie tritt dabei zwangsläufig in den Hintergrund. Auf die Gefahr hin, bestimmte Phänomene auszuschließen, will ich doch einen zunächst sehr engen Begriff zur Untersuchung der Gattungstradition anlegen, der auf die ursprünglichen Bedeutungen zurückgeht. Der unbestreitbare Vorteil dabei ist, dass sich die Sensibilität für bestimmte Textphänomene erhöht. Es scheint heuristisch daher sinnvoll, in den folgenden Analysen zunächst zwischen beiden Betrachtungsweisen zu unterscheiden, um die notwendige Trennschärfe in der Beschreibung zu gewährleisten.
3.2 Geistesgeschichtlicher Überblick – zur Konstitution einer Tradition Die Herausforderung einer adäquaten Beschreibung des Phänomens ›Rettung‹ gründet in seiner doppelten Abhängigkeit vom Faktor Zeit. Einerseits muss eine diachrone Entwicklung oder wenigstens Ausbildung des Texttyps und der damit einhergehenden Haltung, die dabei eingenommen wird, beschrieben werden. Diese ist keineswegs überzeitlich und hat somit Geschichte. Das vermehrte Auftreten dieser Form lässt sich erkennen und quantitativ beschreiben. Es wird die Frage nach der Ursache zu stellen sein oder den Bedingungen der Möglichkeit ihres Enstehens und ihrer Verbreitung. Diese Beobachtung leitet direkt über zur zweiten Form von Abhängigkeit. Die einzelnen Vertreter dieser Gruppe von Texten entstammen jeweils einer bestimmten historischen Situation und rufen ein
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zeitgebundenes Kontextwissen auf,33 aus dem heraus sie zuallererst zu verstehen sind. Diese doppelte Abhängigkeit in der Zeit gilt es zu integrieren. Wir haben also eine bestimmte Haltung oder Denkweise vor uns, die man einnehmen kann, und für die sich ein bestimmtes Set an Spielregeln etabliert, das am deutlichsten an den Textsorten Apologie und Rettung zu beobachten ist. Ich möchte dieses Phänomen, in Ermangelung eines treffenderen Begriffs, als geistesgeschichtliche Strömung bezeichnen.34 Gemeint ist damit das, was in der neueren Literatur unter dem Label der intellectual history geführt wird.35 Deutlicher wird das Konzept, wenn man aufzeigt, was nicht damit gemeint ist. Keinesfalls assoziiert werden soll ein irgendwie teleologisch verstandener Weltgeist hegelscher Provinienz, der sich durch die Geschichte bewegt. Geistesgeschichtliche Strömung bezeichnet auch keine historische Methode der Betrachtung bestimmter Phänomene als ein hermeneutisches Verfahren, das sich verschiedener Disziplinen bedient. Ferner soll kein Ersatz für eine wie auch immer geartete Ideengeschichte angezeigt werden, da dies zu dem Fehlschluss verleiten würde, hier würden
33 Unter Kontextwissen verstehe ich hier die zu rekonstruierenden Diskurse, von denen der Text abhängt, die oft nur in Andeutungen greifbar sind und freigelegt werden müssen. 34 Ich bevorzuge den Begriff der geistesgeschichtlichen Strömung gegenüber dem nicht unähnlichen Begriff der Denkstruktur, wie ihn Michael Titzmann versteht. »Die Denkstruktur wäre jedenfalls das System kultureller Faktoren, das festlegt, was in dieser Kultur im allgemeinen oder in einem ihrer Diskurse gedacht bzw. nicht gedacht werden kann und welche in der in dieser Kultur denkbaren Propositionen wissensfähig ist, d. h. Element des kulturellen Wissens werden kann. Das im Rahmen dieser Denkstruktur produzierte Wissen fungiert seinerseits als Agens der Begrenzung möglichen Denkens: für bestimmte Propositionen fehlen zu einem bestimmten Zeitpunkt die Voraussetzungen, aus denen sie abgeleitet oder legitimiert werden könnten; erst muss eine bestimmte Wissensteilmenge gegeben sein, ehe ein neues Wissenselement, das zu seiner Ableitung dieser Wissensteilmenge bedarf, sinnvoll gedacht werden kann; ein Subjekt mag diese Proposition zwar denken und auch äußern, aber die Kultur wird sie nicht akzeptieren.« Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61, hier S. 56. Titzmanns Begriff des kulturellen Wissens, der seinen Überlegungen zu Grunde liegt, ist nicht primär dafür geeignet, Dissens innerhalb bestimmer Kulturen zu beschreiben. Im vorliegende Fall werden wir auf eine Konstellation treffen, in der sich sowohl heterodox als auch orthodox gesinnte Personen der gleichen ›Denkstrukturen‹ bedienen. Diese unterschiedliche inhaltliche Füllung wäre im Modell Titzmanns nicht vertreten. Beide Begriffe, geistesgeschichtliche Strömung und Denkstruktur, sind auf der Abstraktionsebene anzusiedeln. 35 Bei intellectual history handelt es sich um nichts anderes als eine Übersetzung des deutschen Begriffs ›Geistesgeschichte‹, weswegen ich auf den älteren Begriff zurückgreife. Siehe hierzu Ernst Schulin: Geistesgeschichte, Intellectual History und Histoire des Mentalités seit der Jahrhundertwende. In: ders.: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen 1979, S. 144–162, zur Kongruenz der Begriffe siehe S. 145.
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Ideen in der Geschichte einer Textsorte von einem Text zum nächsten gereicht. Sowohl Rettung als auch Verteidigung sind keine Ideen im Sinne von isolier- und verfolgbaren Philosophemen.36 Eine letzte Abgrenzung muss gegenüber der Mentalitätsgeschichte vorgenommen werden, die ein zu umfassendes Konzept liefert, als dass hier brauchbare Ergebnisse erzielt werden könnten. Zwar wird auch in der mentalitätsgeschichtlichen Methodik Wert auf Begriffe wie Haltung oder Einstellungen von Personen einer Epoche gelegt, die Argumentationsbasis ist jedoch eine dezidiert andere. Im vorliegenden Fall wird eine Haltung für das Entstehen je einzelner Texte angenommen, die aber nicht als ›die‹ Haltung einer Epoche generell charakterisiert werden kann.37 Wenn von geistesgeschichtlicher Strömung gesprochen wird, deutet dies einen Möglichkeitsraum an, in dem man sich in einem bestimmten Modus, der gewissen Regeln folgt, zu kontroversen Sachverhalten positionieren kann. Diese Regeln und die daraus resultierenden Zwecke, die jeweils innerhalb dieser Bedingungen verfolgt werden können, müssen nun genauer spezifiziert werden. Mit Rettung und Apologie können ganz unterschiedliche, sich bisweilen sogar widersprechende Zwecke verfolgt werden. Für eine Typologie muss unterschieden werden, wer verteidigt, was verteidigt wird und aus welchem Anlass heraus die Schrift entsteht. Gegenstand von Rettungen oder Apologien können
36 »Wenn man ideengeschichtliche Untersuchungen nicht [. . . ] strikt an Problemsituation bindet, sondern nur der Quasikausalität einer reinen Ideen-Kette unterstellt, dann werden doch nur Ideen-Genealogien nach Art der biblischen Geschlechtsregister daraus: . . . und Plato zeugte Aristoteles . . . und Ferguson zeugte Herder . . . « Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte – und das »Warum der Entwicklung«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21 (1996), H. 2, S. 1–26, hier S. 5. In diese Falle könnte man hier auch leicht tappen, wenn man eine Gattungsgeschichte als Zielpunkt anvisiert, die sich über die historisch in den Texten manifestierenden Zeitumstände hinwegsetzt. 37 Zur Mentalitätsgeschichte siehe den Sammelband von Ulrich Raulff (Hg.): MentalitätenGeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Berlin 1987. Dort insb. den Aufsatz von Peter Burke: Stärken und Schwächen der Mentalitätsgeschichte, S. 127–145. Burke definiert drei charakteristische Merkmale der Mentalitätsgeschichte: »Zum ersten durch ihre Betonung der kollektiven anstelle der individuellen Einstellungen. Zweitens durch den Nachdruck, den sie auf unausgesprochene und unbewußte Annahmen legt, auf die Untersuchung der Wahrnehmung, der Arbeitsweise der ›praktischen Vernunft‹ oder des ›Alltagsdenkens‹, die neben die traditionelle Betrachtung der bewußten Gedanken und ausgearbeiteten Theorien tritt. Drittens schließlich durch ihr Interesse nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Struktur von Meinungen, für Kategorien, für Metaphern und Symbole, dafür wie die Leute denken und nicht nur dafür, was sie denken.« (S. 127, Hervorhebungen im Original). Allenfalls der dritte Aspekt kommt bei den vorliegenden Betrachtungen mit ins Spiel.
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zum einen Sachverhalte bzw. Entscheidungen hinsichtlich solcher sein,38 zum anderen weit häufiger Personen. Bisweilen sind – dies insbesondere im Falle der bereits erwähnten Ehrenrettungen – der Verteidigte und die verteidigende Person identisch. Im Regelfall tritt jedoch der Verfasser als ein Dritter hervor. Eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielt die Ausgangssituation. Auch hier sind verschiedene Szenarien denkbar und werden realisiert. Die einfachste und erwartbarste Form ist die direkte Reaktion auf einen vorangegangen, expliziten Angriff. Die Verteidigungsschrift versucht die dargebrachten Vorwürfe zu entkräften oder zu widerlegen, sei es auf sachlicher Ebene oder unter polemischen Entgleisungen. Die Wahl der ›Waffen‹ hängt letztlich auch immer von der Heftigkeit des Angriffs und der beim Attackierten und der Leserschaft hervorgerufenen Empörung ab. Wie weit sich dieses Spiel treiben lässt, hat Jonathan Swift gezeigt. Seinem fiktiven alter ego Isaac Bickerstaff schreibt Swift A vindication of Isaac Bickerstaff, Esq; against what is objected to him by Mr. Partridge in his almanack for the present year 1709, in der auf satirische Weise ein Streit ausgetragen wird, der ein Jahr zuvor begonnen hatte.39 Swift hatte unter dem Pseudonym Bickerstaff den berühmten Astrologen John Partridge in einer Reihe von Pamphleten angegriffen, um den seiner Meinung nach schädlichen Volksglauben an die Astrologie zu unterminieren. Dies führte soweit, dass Swift / Bickerstaff sich selbst als Astrologe ausgab und den Tod Partridges für das Jahr 1708 voraussagte. Begleitet von einer geschickten und öffentlichkeitswirksamen Kampagne wurde der Tod Partridges, der allerdings quicklebendig war, für sicher angenommen. Sein Ruf und damit auch die Grundlagen seiner materiellen Existenz waren danach zerstört, Partridge konnte die Zweifel nicht zerstreuen, die Swift / Bickerstaff gesät hatten. Dieses Beispiel zeigt, wie weitreichend die Folgen einer solchen Schrift sein können. Es zeigt aber auch, dass eine Verteidigung als Angriff gesehen, gewertet oder sogar geplant sein kann. Dieser Fall scheint, wenn vielleicht nicht der häufigste, so doch der bei Weitem interessanteste zu sein. Wenn der Verteidigung kein expliziter Angriff vorausgeht, ändert sich schlagartig die Motivation. Dergestalt besteht die Möglichkeit, eine zuvor verbreitete Meinung oder These zu revidieren. Der Verteidigende fühlt sich auch ohne persönlichen Angriff provoziert und leitet den Gegenschlag ein. Auch hier gilt es zu unterscheiden, in welcher Art sich die Provokation darstellt oder
38 Dem Spektrum sind dabei kaum Grenzen gesetzt, so kann eine Liedzeile eines Kirchenliedes, die in einer neuen Auflage geändert wurde, ebenso zum Gegenstand einer Rettung oder Apologie werden, wie politische Entscheidungen. 39 In der deutschen Übersetzung des Titels wird die Zugehörigkeit zur Textsorte der Rettungen nicht in gleichem Maße deutlich: Rechtfertigung des Wohlgeborenen Isaac Bickerstaff. In: Jonathan Swift: Ausgewählte Werke. 3 Bde. Berlin / Weimar 4 1996, Bd. 1, S. 305–311.
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wie diese empfunden wird. Die zielgerichtetere Variante stellt sich gegen eine bestimmte, meist kurz zuvor veröffentlichte Schrift oder eine sich in der Gelehrtenrepublik abzeichnende Tendenz in der Behandlung bestimmter Fragen. Sie kann den Auftakt zu einer Kontroverse bilden, indem sie eine vermeintlich schwächere Position rehabilitiert und erneut ins Gespräch bringt. Gegenstand können dabei neben Glaubensfragen auch politische Entscheidungen sein oder genuin im Feld des gelehrten Diskurses sich entfaltende, eng an das jeweilige Fach gebundene Spezialfragen. Das ist bis heute gängige Praxis im Meinungsbildungsprozess der Theologie, Politik und Wissenschaft, unabhängig von Fragen nach dieser speziellen Gattungstradition. Eine weitaus radikalere Ausformung dieser Möglichkeiten zeigt sich, wenn der Angriff, der schlicht als Verteidigung getarnt wird, sich nicht mehr auf isolierbare Probleme konzentriert, sondern versucht einen von weiten Teilen der Gesellschaft akzeptierten Konsens aufzukündigen. Das frühneuzeitliche Paradebeispiel für einen solchen allgemein akzeptierten Konsens wäre die Überzeugung, dass Moralität nicht von Glaubensüberzeugungen entkoppelt werden kann. Verteidigt man die Moralität eines Ungläubigen, wird dieser Konsens aufgekündigt und schafft zunächst einmal eine Form von Irritation. Man muss sich mit dieser Pluralisierung von Meinungen auseinandersetzen und diese zunächst ertragen. Ob und wie dieser begegnet werden kann, entscheidet sich erst in einem zweiten Schritt. Zunächst bedeutet eine solche Verteidigung oder Rettung eine Zumutung40 für den gesellschaftlichen Konsens. Aus Sicht des Historikers allerdings stellt diese Irritation eine unabdingbare Voraussetzung für das dar, was unter dem Label der ›Vorurteilskritik‹ in der Frühen Neuzeit firmiert.41 Eine von Seiten der Autoritäten nie intendierte Debatte wird auf diese Weise initiiert, und scheinbare Gewissheiten geraten in Bewegung. Nach dieser kurzen Typologie fehlt noch der historische Ausgangspunkt dieses Schrifttyps. Um die Bedingungen der Möglichkeit der Rettungen und Apologien zu verstehen, muss man sich in einem ersten Schritt auf genuin juristisches Terrain begeben. Die Ausgangsfrage orientiert sich an dem vorbildgebenden Muster, das in den Schriften zum Vorschein kommt. Wie eingangs erwähnt, ist die Inszenierung eines Gerichtsprozesses für die Textsorte, wenn nicht konstitutiv, so doch formgebend. Die uns bekannte Form des Prozesses als Inquisitionspro-
40 Diesen im Zusammenhang sehr treffenden Begriff verdanke ich Olaf Simons. 41 Wichtig zu betonen ist, dass »Vorurteilskritik als Prozeß« zu verstehen ist, der nicht von einem Idealtyp ausgeht, sondern zunächst eine alternative Sicht auf die Dinge bereitstellt. Siehe hierzu ausführlich für das 18. Jahrhundert Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Tübingen 2007 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 33). Zu Begriff und Diskurs siehe insb. S. 1–40, Zitat S. 111.
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zess, bei dem einzelne Anklagepunkte separat abgehandelt und auf ihre Zulässigkeit hin geprüft werden, ist vergleichsweise jung. Auch wenn diese Form der Prozessführung seit der Antike bekannt ist, setzte sie sich im Deutschen Reich recht spät durch. Sie beruhte auf der von Papst Innozenz III. im Jahre 1215 eingeführten Reform des Kirchenrechtes,42 das dieses Vorgehen zur Norm erhob. Mehr als zweihundert Jahre sollten vergehen, bevor die weltliche Gerichtsbarkeit nachzog. »Der inquisitorisch geführte Strafprozess, der im 15. und 16. Jhdt. das auf Parteiprinzip beruhende Anklageverfahren des alten deutschen Strafverfahrens ablöste, überwand das formale Beweissystem und erklärte die Erforschung der materiellen Wahrheit zum Verfahrensziel.«43 Die den Inquisitionsprozess konstituierenden Faktoren lassen sich leicht in den Textsorten wiedererkennen: »Diese Merkmale sind zum einen die Offizialmaxime, zum anderen die amtliche Ermittlung der materiellen Wahrheit mittels rationaler Beweismittel (Instruktionsmaxime).«44 Das Verfahren ist öffentlich und die Wahrheitsfindung orientiert sich an rationalen Argumentationsweisen.45 Es scheint daher kein Zufall zu sein, dass die Textsorten Apologie und Vindicatio kurz nach der Einführung des Inquisitionsprozesses ans Licht traten. Die ersten Schriften entstanden in humanistischen Kreisen, die sich das Verfahren aneigneten und sozusagen dem state of the art entsprechend für ihre Zwecke nutzten.46 Ein die Textsorte in ihrem Aufstieg begünstigendes Element war zweifelsohne die Reformation. Die Abgrenzungsversuche zum Katholizimus produzierten nicht nur eine situative Erklärungsnot gegenüber der anderen Konfession, sondern führten auch zu innerkonfessionellen Debatten über die eigene Lehre. Erst allmählich und unter teilweise zähen Debatten fand der Protestantismus zu sich selbst. Auch diese Bewegung kann man in hervorragender Weise an den Apolo-
42 Als einer unter weiteren Beschlüssen des vierten Laterankonzils. 43 Armbrüster (1980), S. 62f. Der Zeitraum lässt sich genauer spezifizieren: Ausgangspunkt der Neuerung bildete die sogenannte Wormser Reformation des Strafrechts von 1498, die in einem zweiten Schritt in der Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 kodifiziert wurde. Verbindlich für das gesamte Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde es mit der Constitutio Criminalis Carolina unter Kaiser Karl V. 1532. Weitere Informationen zur Durchsetzung des Inquisitionsprozesses bei Gianna Burret: Der Inquisitionsprozess im Laienspiegel des Ulrich Tengler. Rezeption des gelehrten Rechts in der städtischen Rechtspraxis. Köln 2010 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 27), S. 20–30. 44 Burret (2010), S. 20. 45 Wie diese Rationalität dann im Einzelnen aussieht, es wird verschiedene Möglichkeiten geben, muss für die jeden Text separat geklärt werden. 46 Ein Blick in das VD 16 (Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts) zeigt, dass ab den 1520er Jahren die Einträge unter dem Stichwort ›apologia‹ von Jahr zu Jahr zunehmen.
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gien und Rettungen beobachten. Standen zu Beginn tatsächlich noch inhaltliche Probleme im Vordergrund der Schriften, so verschob sich die Ausrichtung mehr und mehr hin zur Darstellung und Selbstvergewisserung der eigenen Stärke und Überlegenheit. Generelle Verteidigungen des Luthertums, auch ohne konkret vorausgegangene Angriffe, wurden geradezu zu Modeschriften der Zeit. Die Auswahl der im Folgenden besprochenen Texte orientiert sich zum einen an ihrer Bedeutung für die Herausbildung des Texttyps, zum anderen an den intertextuellen Verbindungen zu Lessings Schriften, also inwieweit Lessings Kenntnis vorausgesetzt, wahrscheinlich gemacht oder nachgewiesen werden kann. Angestrebt wird ein historischer Querschnitt, anhand dessen sich erklären lässt, warum der Texttyp sowohl für die orthodoxe Apologetik als auch für eine Untergrabung der (geoffenbarten) Religion von Seiten heterodoxer Gruppierungen eine solche Attraktivität besaß.47 Nur soviel vorweg: Die
47 Die mitunter durchaus wertenden Begriffe ›orthodox‹ und ›heterodox‹ sind nicht so trennscharf bestimmbar, wie das oft den Anschein hat. Ich folge hier den Definitionen Ulrich Bubenheimers, die mir vor allem für das 16. und 17. Jahrhundert überzeugend wirken: »Orthodoxie ist zum einen ein phänomenologischer Begriff, der den Selbstanspruch von Theologie und Kirche bezeichet, im exklusiven Besitz der Rechtgläubigkeit zu sein. Zum anderen ist er die historische Bezeichnung für eine Epoche nachreformatorischer protestantischer Theologie- und Kirchengeschichte, in der Selbstverständnis und Verhalten der Theologen in einem besonderen Maß von jenem Anspruch bestimmt waren und orthodoxe Theologen, die diesen Anspruch trugen, in Theologie und Kirche die Herrschaft hatten. Heterodoxie, Andersgläubigkeit, bezeichnet das Abweichen von den Glaubensnormen, die die jeweilige Orthodoxie setzt. Eine solche religiöse Devianz wird von den orthodoxen Theologen immer als Falschgläubigkeit behandelt. Welche Inhalte heterodox sind, lässt sich historisch nicht allgemeingültig definieren. Heterodox ist jeweils das, was in einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Umwelt, in einer Kirche, in einer theologischen Schule oder auch nur von herrschenden Theologen als heterodox stigmatisiert wird. Die Übergänge zwischen Orthodoxie und Heterodoxie sind fließend. Ein bedeutender Teil des religiösen Lebens bewegt sich im Zwischenbereich zwischen Orthodoxie und Heterodoxie. Vom Standpunkt der Orthodoxie aus betrachtet, ist dies der Bereich der verborgenen religiösen Devianz, der Kryptoheterodoxie. Ein Beispiel ist der Kryptocalvinismus im Luthertum, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Wittenberg Bedeutung erlangte. Kryptoheterodoxie kann phänomenologisch als eine Form religiöser Devianz beschrieben werden, deren Träger im Bereich der privaten, sogenannten ›inneren‹ Religionsausübung in interindividuell unterschiedlichem Maße von der vorgegebenen und öffentlich herrschenden religiösen Norm und Konvention abweichen und zugleich im Bereich der öffentlichen, sogenannten ›äußeren‹ Religionsausübung an jener Norm teilhaben. Kryptoheterodoxe religiöse Interessen müssen im Jahrhundert nach der Reformation sowohl als Teil der Orthodoxie als auch der Heterodoxie gesehen werden. Ein Beispiel hierfür ist Johann Arndt (1555–1621), der in seiner Zeit entweder als Vertreter einer um die Reform der Kirche bemühten Orthodoxie oder als eine Exponent einer Heterodoxie gewertet wurde. Diese beiden Sichtweisen nehmen je einen Aspekt der historischen Realität richtig wahr.« Ulrich Bubenheimer: Orthodoxie – Heterodoxie – Kryptoheterodoxie in der nachreformatorischen
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hermeneutische Basis,48 von der aus argumentiert wird, spielt hierbei die entscheidende Rolle.
3.2.1 Vindicatio und Apologie als Teil der Apologetik
»Die Apologetik der Frühen Neuzeit richtet sich nicht zuletzt auf die Spannung zwischen vernünftiger Religiosität und besonderer Offenbarung, um die Wahrheit des Christentums zu demonstrieren – mit zweifelhaften Erfolg.«49 Um aber die »Wahrheit des Christentums« zu erweisen, muss aus Sicht des Apologeten zunächst einmal klar sein, welches Christentum er denn verteidigen möchte. Die Zentralgestalt eines erneuerten, und damit zur Wahrheit zurückgekehrten Christentums ist Martin Luther. So kann es nicht verwundern, dass die ersten Verteidigungen nach der Reformation häufig direkt auf die Person des Reformators fokusiert waren. Die Lehre, und das wird ein Grundzug des Protestantismus bleiben, ist eng personal gebunden.50 Deshalb soll eine sehr frühe, bisher kaum beachtete Verteidigung Luthers den Auftakt in diesem geistesgeschichtlichen Abriss bilden.
Zeit am Beispiel des Buchmarkts in Wittenberg, Halle und Tübingen. In: Oehmig, Stefan (Hg.): 70. Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation. Weimar 1995, S. 257–274, hier S. 257. 48 Der Begriff der ›hermeneutischen Basis‹ ist Hans-Georg Gadamer entlehnt. Er beschreibt das Phänomen, wie sich eine Disziplin die Grundlage ihrer Argumentation selbst legitimiert. Gadamer führt dies am Beispiel der (modernen) Theologie aus: »Die Verkündigung von Gottes Wort ist ein Übersetzen der Aussagen des Neuen Testamentes, dessen Rechtfertigung die Theologie ist. Theologie wird nahezu zur Hermeneutik, da sie – der Entwicklung der modernen Bibelkritik folgend – nicht die Wahrheit der Offenbarung selbst, wohl aber die Wahrheit der auf die Offenbarung Gottes bezogenen Aussagen oder Mitteilungen zum Gegenstand hat. Die ausschlaggebende Kategorie ist daher die der Mitteilung.« Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik und Historismus. In: ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 2 1993 (Gesammelte Werke 2), S. 387–424, hier S. 409 (Hervorhebung im Original). 49 Ernstpeter Maurer: »Atheismus« und nicht-apologetische Argumentation in der nachreformatorischen Theologie. In: Danneberg, Lutz u. a. (Hgg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin 2002 (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 2), S. 331–365, hier S. 332. 50 Ich beschränke mich hier ganz bewusst auf Apologien und Rettungen, die primär eine Person zum Gegenstand der Verteidigung haben. Es wurde ja bereits erwähnt, dass auch eine Liedzeile im Gesangbuch oder Ähnliches apologetisch instrumentalisiert werden kann. Dies führt aber in der Regel in Spezialdiskurse, die hier auszuführen und auszubreiten nicht der Ort ist. Ferner rechtfertigt sich die Auswahl in Hinblick auf das Ziel: Lessings Rettungen sind ebenfalls alle personenzentriert.
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Das Verhältnis der Textsorte zur Apologetik bzw. umgekehrt deren Instrumentalisierung zum Zwecke der Apologetik gewinnt hier erste Konturen.
3.2.1.1 »ir seyt papisten/got erleucht euch.« – Auf Seiten Luthers gegen die Katholiken Heinrich von Kettenbach51 empfand die Haltung Kaiser Karls V. und dessen Erlass im Wormser Edikt als Zumutung und beschloss auf eigene Faust Luther beizustehen. Wohl kaum ein Jahr nachdem über Luther der Reichsbann gesprochen worden war, trat Heinrich von Kettenbach mit einer Flugschrift an die Öffentlichkeit: Eyn new Apologia vnd verantwortu[n]g Martini luthers wyder der Papisten, Mortgeschray, so der Titel der 1523 an mehreren Orten gedruckten Schrift.52 Ausgangspunkt der kleinen, nur 14 Druckseiten umfassenden Schrift ist, wie sollte es anders sein, der Status der Beichte als Sakrament, oder vielmehr was als Sakrament gelten kann. Versteht man das Sakrament als ein allgemeines, heiliges Zeichen für Gott, so stellt man mit Heinrich von Kettenbach fest: »der sint vil« (so etwa das Kreuz, die Glocke, das Weihwasser, das Meßgewand, etc.). Im engeren Sinne gelten weit weniger Sakramente und »der Luther hat die bycht verclynet in jrer crafft«.53 Der Streitpunkt umfasst die Frage, ob die Beichte ein Sakrament ist oder nicht? Was der Autor in der Folge inszeniert, kann man als Indizienprozess begreifen. Er stellt die Frage nach den Folgen, die mit der Beichte einhergehen und zieht daraus seine Rückschlüsse für den Status derselben. Die fünfzehn der Reihe nach vorgestellten Folgen der Beichte sind allesamt wenig schmeichelhaft. Schon der erste Absatz provoziert ungemein: »Die erst frucht die auß dem bychten kumpt / ist die frucht des lybs / dann daher kommen vil schöner kynd-
51 Es gibt nur sehr spärliche Informationen zum Leben Heinrich von Kettenbachs. So ist weder etwas über seine Herkunft, sein Geburtsjahr oder seinen Bildungsgang bekannt. Gesichert ist: Er war Franziskaner (in verschiedenen Klosterämtern) und predigte ab 1520/22 in Ulm. In diese Zeitspanne fielen auch seine ersten Versuche in der evangelischen Auslegung des Christentums, die dazu führten, dass er aus Ulm fliehen musste. Heinrich von Kettenbach ist kein Pseudonym und die Person darf nicht, wie in älterer Literatur öfter geschehen, mit Johann Rot(t) verwechselt werden. Die Personen sind nicht identisch. Eine Zusammenfassung der Erkenntnisse älterer Artikel liefert NDB 8, S. 412. 52 Heinrich von Kettenbach: Eyn new Apologia vnd verantwortu[n]g Martini luthers wyder der Papisten, Mortgeschray / die zehen klage wider in außblasinierren so weyt die Christenhait ist, Dann sy toben vnnd wütendt rechtt wie die vnsinnige hundt thondt. Augsburg 1523. Darunter Bamberg, Stuttgart, Augsburg, Erfurt, Wittenberg und Zwickau. Wie die schnelle Verbreitung im Einzelnen zu erklären ist, bleibt unklar, ebenso, ob Heinrich selbst die mitteldeutschen Gebiete bereist hat. 53 Ebd., unpag.
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˚ kynder neñt /die der heyligen bychtuetter synt leyn / die man banckert oder hurn mit jrenn bychttochter oberkomen / [. . . ].« Auch die weiteren Folgen der Beichte sind kaum wünschenswert für das Sakrament, so etwa, dass »Junckfrawen« ganz »wunderbarlich schwanger« werden, »einfeltig und from« zur Beichte kom˚ men und »heyloß / gotloß /erloß / selloß / uñ zu hurn« diese wieder verlassen. Ein Durchgang durch alle einzelnen Punkte lohnt nicht. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Folgen sich auf gesellschaftliche und politische Dimensionen ausweiten. Auf diese Weise schüren die Geheimnisse, die in der Beichte verraten werden, wenn sie an die Öffentlichkeit kommen, und das geschieht meist, so der Autor, Zwietracht in den Gemeinden, die man sich sparen könnte. Auch empfindet es der Autor als wenig glücklich, dass politische Entscheidungsträger, Fürsten und hochstehende Beamte mit ihren Beichtvätern ins Gespräch treten und auf diese Weise beeinflusst werden. Zudem werden die Pfaffen ›fett‹ vom vielen Essen, das ihnen ihre Beichtkinder bringen, in der Verhütung von Schlimmerem besteht demnach die einzige Legitimation der Fastenzeit. Bei allen humoristischen Zügen, die der Darstellung von Kettenbachs innewohnen, darf man die Strategie seiner Argumentation nicht übersehen. Er gewinnt alle seine Argumente in einem ersten Schritt aus der empirischen Beobachtung, erst in der Folge stützen einige wenige Bibelstellen seine Darstellung. Man kann dies als Indiz dafür lesen, dass hier noch auf keine protestantische Lehre zurückgegriffen werden kann, vielmehr handelt es sich um Einsichten, die auf den gesunden Menschenverstand zielen. Auch in allen anderen Anklagepunkten gegen Luther verfährt der Autor nach dem gleichen Prinzip. Wir haben mit dieser Schrift einen der ersten Fälle vor uns, in dem ein Urteil in einem nachträglichen Prozess revidiert werden soll. Unausgesprochen, aber immer latent mitschwingend, bleibt dabei der Vorwurf der Voreingenommenheit und Parteilichkeit der Richter aus erster Instanz. Genau dieser versucht der Autor vorzugreifen, indem er eine Neubewertung der Sachlage aus scheinbar objektiver, interesseloser Warte vorzunehmen scheint. Luther wird als Opfer einer Intrige vorgestellt, die auf einer Ebene angesiedelt ist, in der es mehr um Politik- und Machtfragen geht als um die Wahrheit. Der Versuch einer Rehabilitierung unter Berufung auf die Wahrheit, die zuvor ausgeblendet oder verdeckt war, ist eine Konstante, die auch in den weiteren Texten zu finden sein wird. Dort allerdings speist sich diese nicht mehr aus der Empirie, wie im vorliegenden Fall, sondern aus dem rechten Verständnis der Heiligen Schrift. Schriftgelehrsamkeit tritt an die Stelle der Beobachtung von Wirklichkeit. Das Modell der Argumentation hingegen bleibt identisch, auch wenn sich ihr Grund wandelt. Von diesen Anfängen kann man den Sprung in das nächste Jahrhundert, das unter gänzlich anderen Voraussetzungen steht, wagen.
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Doch zuvor noch wenige Worte zur Entwicklung des Texttyps über das Ende des Jahrhunderts hinaus. Auch wenn detaillierte Darstellungen zum Buchmarkt und Verlagswesen bislang fehlen, so lassen sich doch, sieht man von der thematischen Ausrichtung ab, einige allgemeine Tendenzen aufzeigen. In den einschlägigen Katalogen für den deutschsprachigen Raum54 finden sich für das 16. Jahrhundert etwa 750 Einträge unter dem Stichwort ›apologia‹, die Suche nach ›vindicatio‹ liefert knapp einhundert Treffer. Man hat es also mit einer nicht unbeträchtlichen Menge an Texten zu tun, die, als Gesamtphänomen betrachtet, bislang nie Gegenstand der Forschung waren. Ulrich Bubenheimer hat eine Analyse der Buchproduktion in Wittenberg, Tübingen und Halle für das letzte Drittel des 16. und das erste Drittel des 17. Jahrhunderts vorgelegt und kam dabei zu interessanten Einsichten.55 Ich greife hier das Beispiel Wittenberg heraus, zum einen weil sich Wittenberg immer als Ort der Bewahrung der reinen Lehre Luthers verstand, zum anderen, weil sich die dort ansässige Produktion, so darf man vermuten, in den Beständen der Universitätsbibliothek in Teilen wiederfindet.56 Zwischen 1575 und 1626 wurden in Wittenberg insgesamt 1503 Titel publiziert, davon ziemlich genau zwei Drittel in lateinischer Sprache, beinahe der gesamte Rest auf Deutsch. Griechisch und Hebräisch spielten kaum eine Rolle. Auffällig, wenngleich wenig überraschend, ist die Dominaz theologischer Schriften. Diese machten ebenfalls knapp zwei Drittel der Gesamtproduktion aus (960 Titel). Der Rest verteilte sich auf die übrigen Fakultäten, wobei die artistische Fakultät mit 23 Prozent den größten Anteil stellte. Überraschender ist hingegen die thematische Ausrichtung innerhalb der theologischen Veröffentlichungen. So spielten Erbauungs- und Andachtsliteratur kaum eine Rolle, während die kontroverstheologische Literatur ein Viertel der Gesamtproduktion für sich beanspruchte.57 Inwiefern die Wittenberger Produktion kontroverstheologischer Literatur repräsentativ für den gesamten Buchmarkt der protestantischen Territorien ist, vermag man noch nicht zu beantworten. Festzuhalten bleibt indes, dass diese Form von Schrifttum, wie wir es mit der Apologie und der Vindicatio vor uns haben, ein gewichtiges Element im Rahmen theologischer Buchproduktion war, das auch aufgrund seiner schieren Menge die Zensur vor ein Problem stellte: Religiöser und geistiger Pluralismus war schon im nachreformatorischen orthodoxen Zeitalter unter der Decke vorhanden. Der Versuch der orthodoxen Theologen, diesen mit Hilfe obrigkeitlicher Maßnahmen zu unterdrücken und seine Lebenskraft nicht wahrhaben zu
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Gemeint ist der VD16. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Bubenheimer (1995). Was wiederum in Hinblick auf die Schriften Lessings, die dort entstanden, von Interesse ist. Ebd., S. 260f.
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wollen, war angesichts der vielfältigen Strategien der Menschen zur Entwicklung einer partielle Freiheitsräume nutzenden Anpassungskultur von vornherein zum Scheitern verurteilt.58
Diese Pluralität und die mit ihr einhergehenden Probleme der Kontrolle von Meinungen sind als ein Phänomen zu begreifen, das sich sowohl im innerorthodoxen Diskurs wie auch heterodoxen Strömungen Bahn gebrochen hat. Inwieweit sich dieser Effekt im 17. Jahrhundert verstärkte, ist Gegenstand des folgenden Abschnittes.
3.2.1.2 Eine allzu späte Reaktion auf eine neue Herausforderung? Wirft man mit Georges Pons von Lessings Standpunkt der frühen 50er Jahre des 18. Jahrhunderts aus einen Blick zurück in die Geschichte, kommt man zu dem Schluss, dass Apologetik im Deutschland des 17. Jahrhunderts keine Rolle gespielt hat. Zeitgleich war man in Frankreich und England – man kennt diese These auch aus anderen Bereichen – wesentlich weiter und reagierte kirchlicherseits beinahe unmittelbar auf die Herausforderungen, die in Form des Deismus, Materialismus und der natürlichen Religion an die christliche Lehre herangetragen wurden. »Mir scheint,« so Pons, »daß die Deutschen (aus schwer zu bestimmenden Gründen) später als die Engländer und die Franzosen an diesem ideologischen Kampf [gegen Deismus und natürliche Religion, M. M.] teilgenommen haben.«59 Als Beleg führt Pons die 950 Apologien in französischer Sprache an, die Albert Monod für den Zeitraum zwischen 1670 und 1802 ermittelt hat.60 Nun ließe sich ohne Weiteres eine ähnliche Anzahl ebensolcher Schriften für den deutschsprachigen Raum zusammenstellen. Daraus resultieren unmittelbar zwei Fragen: Was verteidigen diese Schriften, wenn nicht das Christentum gegen die Angriffe von außen (also Deismus und natürliche Religion)? Kann es sein, dass die Auseinandersetzung um die natürliche Religion, die angeblich nicht oder erst sehr spät stattfand, vielleicht nicht oder nicht nur im Kreis der Theologen geführt wurde?61
58 Ebd., S. 274. 59 Georges Pons: Lessings Auseinandersetzung mit der Apologetik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 77 (1980), S. 381–411, hier S. 382. 60 Albert Monod: De Pascal à Chateaubriand. Les défenseurs du christianisme de 1670 à 1802. Paris 1916. 61 Dass es diese Diskussionen auch in Deutschland im Kreise der Theologen gab, zeigt die Studie von Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Beiträge zur historischen Theologie 121).
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Ernstpeter Maurer hat jüngst deutlich herausgearbeitet, dass die protestantische Theologie in ihren apologetischen Bemühungen vor ein kaum lösbares Problem gestellt wurde. Sie selbst war es nämlich, die den Bedingungen der Möglichkeit eines frühen, nicht dogmatisch verfassten Atheismus zuerst den Boden bereitete. Sowohl die Historisierung der Schriftexegese62 als auch die Versuche, den Glauben auf ein Fundament säkularer Rationalität zu gründen oder zumindest kompatibel zu diesem zu gestalten, begünstigten diese Entwicklung.63 Die Orthodoxie stand demnach vor zumindest zum Teil hausgemachten Problemen, die ihre vermeintlich ›moderne‹ Ausrichtung ihr beschieden hatte. »Sie reagiert nicht auf die Zeit, sondern auf ihre eigenen Fehler.«64 Diese Reaktion zeigte sich in doppelter Gestalt. Während die Probleme ›intern‹ diskutiert wurden, wurde ein Bild nach außen transportiert, das die eigene Stärke und Überlegenheit demonstrieren sollte. Beide Unternehmungen standen nicht im Widerspruch zueinander, sondern brachten einander erst hervor. Insofern liegt Georges Pons doch richtig, wenn er feststellt, dass »Angriffe mit völliger Ruhe, ja manchmal hochmütigem Selbstvertrauen betrachtet[...]«65 wurden. Dieses Phänomen bezeichnet aber nur eine Seite des Vorgangs. Die andere Seite, die inneren Auseinandersetzungen, waren umso lebhafter.66 Weitere Provokationen von außen, so hat es den An-
62 »Die Anwendung der philologischen Kritik auf die biblischen Texte, welche um die Mitte des 17. Jahrhunderts eine critica sacra begründete, gab der historischen Kritik einen weiteren Schub, der nun die Hermeneutik als ein ›historisches Organon‹ zum Einsatz brachte. Für die Kritik bedeutete die Schärfung des historischen Bewußtseins die Einbeziehung der historischen Fakten und des Vernunftgebrauchs eines Autors in die Beurteilung von Texten. Dieser Schritt wird von Leibniz, vor allem aber von Pierre Bayle am Ende des 17. Jahrhunderts ausdrücklich vollzogen.« Andreas Arndt: Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung. In: Beetz, Manfred; Cacciatore, Giuseppe (Hgg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln / Weimar / Wien 2000 (Collegium Hermeneuticum 3), S. 211–236, hier S. 220f. 63 »Die Theologie war einerseits nicht vorbereitet auf die erforderlichen Differenzierungen zwischen ›historisch‹ und ›geschichtlich‹. Daher mußte sie sich auf diese Front konzentrieren. Die spezifischen Probleme der Glaubwürdigkeit geschichtlicher Offenbarung können nicht reduziert werden auf die Frage, ob die Zeugnisse konsistent und wahrscheinlich sind. Denn selbst wenn dies möglich wäre, könnte es nicht die Offenbarungsdimension aufzeigen. [. . . ] Es geht in erster Linie um theologische Selbstklärung angesichts einer zuvor unbemerkten und unzureichenden naiven Einstellung zu den ›Heiligen Schriften‹ und ihrer Autorität. Eine theologische Selbstaufklärung kann von außen angestoßen werden, muß sich in ihrer Durchführung aber nicht diesem Anstoß anpassen.« Maurer (2002), S. 333. 64 Ebd., S. 336. 65 Pons (1980), S. 381. 66 Die Debatte um die Herausforderung eines nicht-dogmatischen Atheismus und die möglichen und angebotenen Lösungen zeigt in aller Ausführlichkeit Hans-Martin Barth: Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert. Göt-
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schein, konnten entweder nicht mehr zusätzlich integriert werden, oder sollten durch die internen Diskussionen aufgefangen werden.67 Die Unmöglichkeit, diese Büchse der Pandorra wieder zu schließen, sollte später Lessing schon in seinen jungen Jahren bewusst werden. Die Erkenntnis dieser »Aporie der Apologetik«, dass mit jedem neuen Argument sich neue Problemkonstellationen eröffnen, hat Friedrich Vollhardt überzeugend herausgearbeitet.68 Lessings lebenslange Ablehnung der Neologie resultiert ebenfalls aus dieser Erkenntnis. Ein theologischer Rationalismus, in den sich die Orthodoxie zunächst unfreiwillig verstrickte, wurde von den Neologen auf die Spitze getrieben, zum Schaden der Religion und der Philosophie – da war sich Lessing zeitlebens sicher.69 Die Herausforderungen des Deismus und der natürlichen Religion wurden dennoch nicht ignoriert. Es wäre falsch anzunehmen, dass im deutschsprachigen Raum keine Auseinandersetzung mit den Thesen und Positionen stattfand. Verlagert man die Suche in ein anderes Feld, wird man fündig werden. Nicht auf dem ureigenen Gebiet der Theologie wurde diese Herausforderung angenommen, sondern auf juristischem Terrain und dort insbesondere in den Diskusssionen um das Naturrecht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – hier soll keine Opposition zwischen Theologie und einem rein juristischen verstandenen Naturrecht angenommen werden – es ist bei Weitem nicht so, dass mit dem Begriff ›Naturrecht‹ eine säkulare Gegenkategorie aufgemacht werden soll. Das würde sowohl die historischen Tatsachen als auch die ideengeschichtlich zu verfolgende Genese naturrechtlicher Positionen bzw. Überlegungen in ein gänzlich falsches Licht rücken. Der deutsche Sonderweg, den Pons anspricht, scheint
tingen 1971 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 26). Die »Modelle der Gegenargumentation« (S. 172), die Barth ausmacht, spiegeln die Konsequenzen, die der Versuch eine säkulare Rationalität zu integrieren, mit sich gebracht hat. Die »Widernatürlichkeit des Atheismus« (S. 172) oder eine »Theologie der Physik« (S. 251) wären solche Beispiele. 67 Man denke nur an den ungeheuren argumentativen und intellektuellen Aufwand, der in der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Pietismus zu leisten war. Siehe hierzu Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 129). 68 Vollhardt (2002): Kritik der Apologetik, S. 47. 69 Zu Lessings Feindschaft gegenüber der Neologie sowie dem Zusammenhang mit den Rettungen siehe die Auführungen Nisbets: »Und wie seine anschließenden Schriften über Religionsfragen bestätigen, hat er tatsächlich nichts einzuwenden gegen die rationale Untersuchung der Religion oder die vernunftgemäße Neuformulierung ihrer zentralen Lehren. Das aber ist seiner Meinung nach genau das, was die Neologen nicht getan haben: sie haben vielmehr ihr orthodoxes Erbe verwässert und dogmatische Gewißheit behauptet für die ihnen verbliebene zusammenhangslose Mischung von Offenbarung und natürlicher Religion.« N, S. 676f.
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tatsächlich existiert zu haben, allerdings unter völlig anderen Vorzeichen. In der Generation der ersten Reformatoren – insbesondere wären hier Philipp Melanchthon und Matthias Flacius Illyricus zu nennen – setzte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Naturrecht ein. Es waren die Theologen, die dem modernen Begriff, der spätestens mit Hugo Grotius anzusetzen ist, das Feld bereiteten.70 In der Auseinandersetzung mit spätscholatischen Autoren und im Rückgriff auf Aristoteles bildete sich eine Nische, die im Grenzbereich der juristischen, philosophischen und theologischen Fakultät angesiedelt werden muss.71 Als Gemeinsamkeit dieser, modern gesprochen, interdisziplinären Bemühungen kann man eine Verschiebung auf das Gebiet des Praktischen annehmen. Schon früh stand im Rückgriff auf Aristoteles Klugheit als Leitkategorie und Handlungsmaxime im Mittelpunkt der Überlegungen. Beruft man sich in seinen Überlegungen auf Klugheit, so hat dies als erstes eine Entlastung zur Folge. Entlastung insofern, als man sich von Selbstbegründungen und systematischen Zwängen zunächst einmal befreit (was nicht heißt, dass davon ausgehend nicht neue Systeme errichtet werden können). Im Falle des Naturrechts, und damit einhergehend der Beschäftigung mit der natürlichen Religion, war es möglich, diesen Diskurs aus der klassischen Apologetik auszugliedern. Das befreite von theologischen Systemzwängen und eröffnete einen Raum, in dem Wahrheit anders verfasst ist. Dort gilt Aristoteles’ Bestimmung: »Klugheit ist das, was der Kluge ausübt.«72 Die Auseinandersetzung um die natürliche Religion, und die Herausforderungen, die mit ihr verbunden sind, konnten unter nicht-dogmatischen Gesichtspunkten verhandelt werden. Diese Sichtweise auf die Dinge sollten im Nachgang von Hugo Grotius
70 Siehe hierzu die Studie von Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ›ius naturae‹ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 52). 71 »Es mag sein, daß die Erschließung der juristischen Tradition in ihrer ganzen Breite unser Bild des naturrechtlichen Wissens nicht ändern wird und daß sie die Bedeutung des Hugo Grotius für die Geschichte des Naturrechts nicht in Frage stellen wird; trotzdem hilft sie uns zu verstehen, ›wie‹ sich solches Wissen gebildet hat. Anhand dieser Materialien wird es nämlich deutlich, daß die Thematik des Naturrechts in der Kultur des späten sechszehnten Jahrhunderts weit verbreitet war, und daß die Entstehung des neuzeitlichen ius naturae et gentium weder als plötzliche Erfindung eines einsamen Kopfes noch als Resultat einer Überlieferung innerhalb einer geschlossenen Reihe von Autoren – wie zum Beispiel: von Thomas von Aquin über Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Luis de Molina, Gabriel Vazquez, Francisco Suarez, Leonardus Lessius zu Hugo Grotius – verstanden werden darf. Sie war vielmehr das Produkt mehrerer und gleichzeitiger Entwicklungslinien, die in verschiedenen Bereichen gewirkt haben und die, in ihrer Gesamtheit genommen, den Beweis einer kontinuierlichen Debatte über Bestimmung und Wesen des Naturrechts geben.« Ebd., S. 6f. 72 Ebd., S. 21.
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Samuel Pufendorf,73 Christian Thomasius74 und nicht zuletzt Johann Franz Buddeus, von dem später noch die Rede sein wird, perfektionieren.75 Man muss allerdings gar nicht erst einen größeren diskursiven Raum eröffnen, ein Blick in die Familiengeschichte Lessings reicht aus. Lessings Großvater, Theophil Lessing, disputierte auf besagtem Gebiet. Das wird oft, gerade im Zusammenhang mit den Rettungen, in erster Linie allerdings mit dem Nathan, erwähnt. Gleichwohl hat sich – bedauerlicherweise – kaum jemand eingehender mit der Schrift beschäftigt. Dabei ist das durchaus lohneswert. Zunächst in gebotener Kürze zur Person Theophil Lessings und den historischen Umständen des Textes: Lessings Großvater wurde am 12. April 1647 in Schkeuditz, auf halber Strecke zwischen Halle und Leipzig gelegen, geboren. Die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges waren die Begleitumstände seiner Jugend.76 Als Sohn des Bürgermeisters seiner Heimatstadt, Christian Lessing, besuchte er zunächst die ortsansässige Schule, um im Alter von zwölf Jahren an die Merseburger Stiftsschule zu wechseln. Der beinahe mittellose Theophil erhielt ab dem Sommersemester 1667 ein dreijähriges Stipendium, das ihm den Besuch der Universität Leipzig ermöglichte: »Von seinen akademischen Lehrern sind uns nur zwei bekannt: einmal Valentin Alberti (1635–1697), Professor für Logik und Metaphysik, seit 1672 außerordentlicher Professor für Theologie uns als solcher Vertreter des orthodoxen Luthertums, Gegner der Katholiken wie der Pietisten und mehrmals
73 Einen Überblick über die Konzeption Samuel Pufendorfs und sein Verständnis der Verbindung von Naturrecht und natürlicher Religion gibt Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. Würzburg 1991 (Epistemata: Reihe Philosophie 87), S. 6–62. Für Hugo Grotius und seinen Einfluss auf Lessing siehe Christoph Bultmann: »Improbissimae Calumniae« und »Pflichtschuldige Pastoralverhetzung der Obrigkeit«. Toleranz und ihre Gegner bei Grotius und Lessing. In: Beutel, Albrecht u. a. (Hgg.): Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2010 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 31), S. 213–231. 74 Zur Auseinandersetzung Thomasius’ mit der apologetischen Literatur seiner Zeit siehe Winfried Schröder: Quo ruitis? oder: Christian Thomasius und die Risiken der Aufklärung. In: Beetz, Manfred (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20), S. 203–219. 75 Eine Übersicht über diese Entwicklung gibt Merio Scattola: ›Prudentia se ipsum et statum suum conservandi‹: Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Vollhardt, Friedrich (Hg.): Christian Thomasius. (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 333–363. Auf diesen Ast der Entwicklung wird Lessing in seinen Rettungen vermehrt zurüchgreifen. 76 Näheres hierzu bei Arend Buchholtz: Die Geschichte der Familie Lessing. 2 Bde. Berlin 1909.
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Rector magnificus [. . . ]; zum anderen Valentin Friderici (1630–1702), ein Philologe und ganz anders geartet als Alberti.«77 Beide Lehrer scheinen Einfluss auf den jungen Kandidaten der Rechte gehabt zu haben, wenn man einen Blick auf seine einzige akademische Hinterlassenschaft wirft. Die am 24. März 1669, Theophil Lessing war zweiundzwanzig Jahre alt, verteidigte Dissertation mit dem Titel De religionum tolerantia führt unmittelbar auf das Feld der juristischen Auseinandersetzung in Bezug auf die Religion. Und der junge Student versäumt es eingangs seiner Schrift nicht, sich der Kompetenz und Zuständigkeit dieses Themas zu vergewissern. Das erste der vier78 sehr übersichtlichen und knappen, auf das Wesentliche reduzierten Kapitel widmet sich der Zuständigkeit des Fachbereichs und den grundlegenden Begriffsbestimmungen, um die Frage beantworten zu können, ob die Obrigkeit verschiedene Religionen dulden könne.79 Schon in der zweiten These tritt Lessing selbstbewusst auf: Th. 2. Da nämlich an der Subjekts- ebenso wie der Prädikatsstelle der Frage Begriffe stehen, die in der Theologie vorkommen, könnte jemand das gewählte Thema für die Theologie in Anspruch nehmen, zumal da nicht wenige Theologen eine feste Meinung darüber vertreten, wie zu entscheiden sei.80
Dieser vermeintliche Anspruch der Theologen wird sogleich in den folgenden beiden Thesen, zunächst vorsichtiger, dann deutlicher verworfen: Th. 3. Es liegt uns fern, diejenigen, die so verfahren, tadeln zu wollen. Der Theologe befaßt sich zu Recht mit dieser wie mit vielen anderen Fragen, die in gewisser Hinsicht auch zur Philosophie gehören. Th. 4. Deshalb geschieht aber auch unsererseits durchaus kein Übergriff, da das gewählte Thema keine rein theologische Frage ist wie etwa die, ob Gott einer nach dem Wesen und dreifaltig nach den Personen sei, ob Christus im Heiligen Abendmahl gegenwärtig sei und dgl. mehr, sondern eine Grenzfrage, die mit gleichem Recht zur Theologie wie zur Philosophie gezogen werden kann.81
77 Wolfgang Milde im »Vorwort« zu Theophil Lessing: De Religionum Tolerantia / Über die Duldung der Religionen [1669]. Hg. und eingeleitet von Günter Gawlick und Wolfgang Milde. Göttingen 1993 (Kleine Schriften zur Aufklärung 2), S. 12. 78 Die vier Teile sind ganz dem klassischen Aufbau der Disputation entsprechend: Begriffsbestimmung, Feststellung der Streitfrage, Beweis der richtigen Ansicht, Widerlegung der entgegengesetzten Ansicht. 79 Ebd., S. 49. 80 Ebd., S. 50. 81 Ebd.
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Mit großer Überzeugung beansprucht Theophil Lessing die Beantwortung dieser »Grenzfrage« für sich und sein Fach. Aus den weiteren Ausführungen wird deutlich, weshalb. Alle Religionen, und hier wird kein Unterschied gemacht, wenngleich auch nur eine (die protestantische) die wahre ist, fallen unter das »Völkerrecht«.82 Günter Gawlick weist darauf hin, dass Völkerrecht und Naturrecht hier im Ausgang von Hugo Grotius als synonyme Begriffe angesehen werden können.83 Das Naturrecht ist der Religion oder zumindest den Religionen vorgeschaltet, was sich in der syllogistischen Darstellung Lessings wie folgt präsentiert: Alles, was zum Völkerrecht gehört, muß geduldet werden. Nun gehören die Religionen zum Völkerrecht. Also müssen die Religionen geduldet werden.
Man kann freilich einige Argumente gegen diese Darstellung anbringen, doch auf die Konsistenz des Argumentes soll es hier gar nicht ankommen.84 Vielmehr interessiert die Tatsache, dass sich, schon bevor in Frankreich etwa Bayle auf den Plan trat, an deutschen Universitäten ein Selbstverständnis innerhalb der juristischen Fakultäten entwickelte, das sich auch für Fragen die Religion an sich betreffend zuständig fühlte. Unter dem verheerenden Eindruck, den der Dreißigjährige Krieg hinterlassen hatte, galten Erwägungen aus Klugheit mehr, als eine theologisch kohärente Systematik. Diese wurde zwar nicht verabschiedet, für einen bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens gleichsam suspendiert. An diesen Strang, der Humanität und Toleranz aus Klugheitsentscheidungen entwickelt, sollte der Enkel Lessing in seinen Rettungen anknüpfen. Nicht die theologische Apologetik, sondern die im deutschen Sprachraum als Sonderweg zu begreifenden Diskussionen um naturrechtliche Positionen und das sich daraus ergebende apologetische Schrifttum, wird fruchtbar gemacht werden.85 Noch aber räumte die orthodoxe Theologie das Feld nicht, sie versuchte vielmehr es sich zurückzuerobern. Lessings Vater war dabei einer der Protagonisten.
82 Ebd., S. 58. 83 Ebd., S. 71. 84 Einen Teil der möglichen Einwände stellt Gawlick im Nachwort dar. 85 Dies gilt ganz besonders für die Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers, in der uns die Namen Hugo Grotius und Samuel Pufendorf wieder begegnen werden.
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3.2.1.3 Die Vindiciae Reformationis Lutheri a nonnullis novatorum praejudiciis von 1717 – Lessings eigener Vater als Vorbild? Kein anderes Jahr war symbolträchtiger für eine Verteidigung des lutherischen Glaubens als 1717. Luthers Thesenanschlag jährte sich zum zweihundertsten Mal und der gesamte mitteldeutsche Raum bereitete sich auf das Jubiläum vor. Besonderen Anteil daran hatten die Universitäten, an erster Stelle die Leucorea. Das gesamte akademische Jahr wurde auf den Höhepunkt der Feierlichkeiten Ende Oktober und Anfang November – Luther schlug seine 95 Thesen bekanntlich am 31. an die Wittenberger Kirchenpforte – ausgerichtet. Die angebotenen Vorlesungen der theologischen Fakultät, die Themen der Disputationen, extra für dieses Jubiläum komponierte Lieder, alles verweist auf die Vorbereitung zu diesem Hochfest.86 Die Feierlichkeiten dürfen aber nicht über die Probleme hinwegtäuschen, mit der sich die lutherische Orthodoxie, auch in den eigenen Reihen, konfrontiert sah. Ein gänzlich ungetrübtes Fest sieht anders aus. Die Wittenberger Theologen, die sich immer noch als die wahren Erben Luthers und Beschützer der reinen Lehre verstanden, sahen sich umstellt von Anfeindungen und Auffassungen dessen, was der rechte Glaube sein soll. »Nach außen wurde dies in den Auseinandersetzungen mit der melanchthonisch geprägten Theologie Helmstedts und mit dem Calvinismus in Brandenburg deutlich.«87 Die Lage war auch 1717 noch einigermaßen unübersichtlich und ein beherztes Eintreten für das lutherische Bekenntnis nicht nur erwünscht, sondern dringend geboten. In diesem Zusammenhang muss auch die umfangreiche Dissertation Johann Gottfried Lessings (1693–1770) gesehen werden. Lessings Werdegang bis zur Veröffentlichung seiner Dissertation war äußerst geradlinig – ganz anders als später der seines Sohnes Gotthold Ephraim. Nach dem Besuch der Lateinschule in seiner Heimatstadt Kamenz und des Gymnasiums Augustum in Görlitz führte sein Weg direkt an die Leucorea, an der er 1713 die Magisterwürde erlangte. Das theologische Examen legte er 1716 in Dresden bei Valentin Ernst Löscher, der heute vielen als der letzte wirkliche Vertreter der lutherischen Orthodoxie gilt, ab.88 Am 15. April 1717 verteidigte Lessing seine Dissertation Vindiciae Reformationis
86 Siehe hierzu die ausfühliche Darstellung bei Harm Cordes: Hilaria evangelica academica. Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten. Göttingen 2006 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 90). Für Wittenberg siehe S. 49–61. 87 Ebd., S. 49. 88 Zur Biographie Johann Gottfried Lessings siehe ADB 18, S. 448; sowie NDB 14, S. 338f. Eine ausführliche Darstellung dieses bei Weitem nicht unproduktiven Lebens ist weiterhin ein Desiderat der Forschung.
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Lutheri a nonnullis novatorum praejudiciis89 unter Vorsitz des berühmten Martin Chladny (1669–1725) in Wittenberg.90 Aber zum Text selbst. Die Schrift ist, verglichen mit zeitgenössischen Disputationen, mit 77 Druckseiten recht umfangreich. Sie gliedert sich in ein einleitendes Vorwort (Prooemium), das den Gegenstand bestimmt, und siebzehn Abschnitte, die jeweils ein Vorurteil zum Gegenstand haben, das entkräftet bzw. widerlegt wird. Dies geschieht in unterschiedlicher Ausführlichkeit, wobei Angriffe von mehreren Seiten oder verschiedenen Autoren einzelne Paragraphen erhalten. Das Vorwort bestimmt klar die eigene Position Lessings, die Gegner und das Ziel der vorliegenden Schrift. Die vom großartigen Luther (Megalander) angestoßene Reformation ist der großen Gnade Gottes (DEI beneficium)91 zu verdanken, und auch wenn sich, wie die neuere Kirchengeschichtsschreibung nicht müde wird zu betonen (Lessing nennt hier Gottfried Arnold), menschliche Leidenschaften in diesem Werk zeigen, so ist es doch von allergrößter Heiligkeit (sanctissimo) gekennzeichnet. Beleg dafür sind die Schriften Luthers. Wenngleich, so der Autor, es in der Geschichte immer große Verteidiger des Glaubens und der Reformation gab, so mehren sich die Stimmen, die Zweifel an der absoluten Gültigkeit der Heiligen Schrift und der Kirche als Institution anmelden. Diesen Novatores, die vornehmlich aus den eigenen Reihen stammen (in ipso Ecclesiae nostrae),92 gilt es Einhalt zu gebieten und den allmächtigen Gott im Schutz seiner Kirche zu unterstützten, die Abweichler von den richtigen Ansichten zu überzeugen und sie von einer möglichen Konversion abzuhalten.93 Gerade die Konversionen hin zu Splittergruppierungen, aber nach wie vor auch zum Katholizismus, waren ein virulentes Problem für die Orthodoxie. Hier erkennt man deutlich den Einfluss sei-
89 Ich zitiere im Folgenden nach der leichter zugänglichen Neuausgabe Johann Gottfried Lessing: Défense de la Réforme de Luther contre Maints Préjugés des Novateurs. [Vindiciae Reformationis Lutheri a nonnullis novatorum praejudiciis – 1717]. Réédition avec introduction, traduction, notes et notices biographiques par Georges Pons. Rouen 1966. 90 Chladny war einer der Hauptprotagonisten der Wittenberger Jubelfeiern, siehe hierzu Cordes (2006), S. 56. Es findet sich eine ganze Reihe von Festvorträgen, die Chladny im Zuge des Jubiläums gehalten hat. Eine Sammlung dieser Vorträge enthält ein Band, der eigentlich Dissertationen vorbehalten ist und sich im Wittenberger Predigerseminar unter der Signatur L.C. 808 findet. Eröffnet wird die Sammlung mit dem Titel: Facultatis Theologicae in Academia Wittenbergensis Decanus Martinus Chladenius SS. Theol. Doct. et Prof. Publ. nec non Alumn. Reg. Electoralium Ephorus Lectoribus Benevolis. o. O. [= Wittenberg] o. J. [= 1717]. 91 Lessing (1717), S. 4. 92 Ebd., S. 8. 93 »Secundet DEUS T.O.M. hoc institutum & in suum honorem & gloriam, Ecclesiae autem nostrae praesidium, adversariorum denique convictionem ac conversionem cedere ac evinire jubeat.« Ebd., S. 11.
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nes akademischen Lehrers Valentin Ernst Löscher, der sich zeitlebens dem Kampf gegen diese vorschnelle Praxis gewidmet hat.94 Es lassen sich dementsprechend drei ›Hauptfronten‹ in Lessings Schrift ausmachen. Neben den Katholiken,95 als althergebrachten Feind und Folie zu deutlicher Distinktion, sind in erster Linie die Reformierten zu nennen. Pons weist darauf hin, dass Lessing es als ein »véritable sacrilège«96 empfunden hat, dass die Reformierten begannen in Wittenberg Fuß zu fassen. Darüber hinaus gibt es noch einen diffusen dritten Gegner: die Masse an Religionsgemeinschaften, die sich zwar an Luther in der ein oder anderen Weise orientierten, der strengen Lehre der lutherischen Orthodoxie aber nicht genügten. Die breite Front, wie ich sie bezeichnen möchte, hatte ihre Ursprünge weitgehend im 16. und 17. Jahrhundert und schloss Calvinisten ebenso ein wie Zwinglianer, Sozinianer, Wiedertäufer und Schwenckfeldianer. Diese lose Aufzählung ließe sich mit Leichtigkeit erweitern. Generell lässt sich festhalten, dass die Dissertation Johann Gottfried Lessings einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt und insbesondere in die Argumentationsstrategien der lutherischen Orthodoxie zu Beginn des 18. Jahrhunderts liefert.97 Gerade hinsichtlich der von Lessings Vater angewandten Argumentationsmuster lohnt ein näherer Blick, insofern er die unterschiedlichen Möglichkeiten in der Nutzung der Textsorte im Gegensatz zu seinem Sohn deutlich zutage treten lässt. Gleich der erste Vorwurf, den es zu widerlegen gilt, führt in das Zentrum der oben angedeuteten Problematik. Die lutherische Reformation hätte, so die Meinung der Ankläger, keine Doktrin nötig gehabt.98 Luthers höchstes Verdienst habe gerade darin gelegen, den Glauben von den papistischen Lehrsätzen befreit zu haben. Erst die erneute Herausbildung einer feststehenden Lehrmeinung oder das Bemühen um eine selbige, habe die Spaltungen innerhalb der Reformation hervorgerufen. Nicht zuletzt müsse man schon Luther selbst diesen Vorwurf machen. Das ist die Position, die der hier namentlich genannte Gottfried Arnold (1666–1714) in seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie vertritt, womit er im weiteren Verlauf zu Lessings erklärtem Hauptgegner wird.99 Lessing hält dem entgegen, dass Arnold sowohl der Kirche als auch Gott gegenüber ungerecht
94 Vgl. hierzu das Vorwort von Pons in Lessing (1717). 95 Katholiken können freilich nur insofern unter die Novatores gerechnet werden, wenn sie synkretistischen Bemühungen Vorschub leisten. 96 Ebd., S. XIV. 97 »La dissertation de J. G. Lessing nous permet d’entendre les voix des protestaires et de connaître les réactions des luthériens de stricte orthodoxie.« Ebd., S. XVII. 98 Lutheri Reformationem in doctrina minus fuisse necessariuam. Ebd., S. 12. 99 Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Leipzig und Frankfurt am Main 1699. Ich verwende im Folgenden die maßgebliche Ausg.: Unparteiische Kirchen- und
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sei (injuris est),100 insofern als Gott die Wahrheit liebe, die Sekten aber sämtlich dem Irrtum entspringen und somit Gott fern sind. Die hieraus zu ziehende Konsequenz sei, Lessing stützt sich insbesondere auf 1 Joh. 4, 16,101 dass die Häretiker keine Familie gleich der Familie Gottes innerhalb der Kirche bilden können. Die Doktrin sei also zwingend notwendig, um der Familie Gottes teilhaftig zu werden, was eine Gleichberechtigung der Sekten grundsätzlich als Möglichkeit ausschließe. Inklusion und Exklusion und deren jeweilige Begründung sind denn auch die Stichworte, die dem Verfahren Johann Gottfried Lessings zugrunde liegen. Das Bild der Familie ist durchaus programmatisch zu verstehen: Man gehört entweder dazu oder eben gerade nicht. Für lose Verwandtschaften ist hier kein Platz. Dahinter verbirgt sich – auf der argumentativen Ebene – eine Strategie, die in keinem Moment gewillt sein will, der Gegenseite die Hand zu reichen oder ihre Argumente ernst zu nehmen. Das Ziel ist stets ein anderes und die Wahrheit nur auf einer Seite, innerhalb der Familie, wenn man im Bild bleiben möchte. Das führt zwangsläufig dazu, dass nicht einmal Teilwahrheiten zugestanden werden können, was sich in der minutiösen Widerlegung der Einzelpunkte niederschlägt. Abweichende ›Wahrheiten‹ sind immer nur missverstandene oder irregeleitete Auslegungen der einzigen Wahrheit der Amtskirche. Die Argumentation Lessings stützt sich daher gleich zu Beginn auf eine hermeneutisch angeleitete Auslegung der Heiligen Schrift, um Luthers Werke und damit auch die Person Luthers von den vorgebrachten Vorwürfen reinzuwaschen. Man verfügt über das Instrumentarium, um die Wahrheit zu erkennen, die Anwendung desselben muss aber beherrscht werden. Sodann ist es unmittelbar einsichtig, dass außerhalb der Kirche, und damit außerhalb der Lehrmeinung der Kirche, kein Heil möglich ist. Insofern verfährt Lessing hier also nur konsequent. Dieser Einstieg ist nicht willkürlich gewählt, bildet er doch das Fundament, auf dem die Entkräftung der weiteren Vorwürfe fußt. Die Legitimation der folgenden Urteile speist sich aus der sicheren
Ketzerhistorie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688. 4 Bde. Hildesheim 2008 (3. Repr. der Ausg. Frankfurt am Main 1729). 100 Lessing (1717), S. 17. 101 »Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« Der Beginn (V. 1–3.) bildet hierfür die Voraussetzung: »1 Ihr Lieben, glaubet nicht einem jeglichen Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viel falsche Propheten ausgegangen in die Welt. (Matthäus 7.15) 2 Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: ein jeglicher Geist, der da bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist von Gott; 3 und ein jeglicher Geist, der da nicht bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist nicht von Gott. Und das ist der Geist des Widerchrists, von welchem ihr habt gehört, daß er kommen werde, und er ist jetzt schon in der Welt.«
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Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein. Aus diesem Umstand lassen sich die teils heftigen, polemischen ad personam-Angriffe erklären, die den weiteren Argumentationsverlauf kennzeichnen. Die Polemik ist dabei keineswegs Selbstzweck oder, wie in einer modernen Lesart leicht misszudeuten, mit persönlichen Ressentiments verbunden. Unter dieser »Widerlegungsmethode« muss man zunächst einen ganz technischen Vorgang verstehen: Methodus polemica [. . . ] ist der Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird. Solchemnach erfordert dieselbe, daß 1) die Feinde namhaft gemacht werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angeführet, derselben anscheinende Kraft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden. Dabey aber hat man mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse: gleichwie man auch dahin zu sehen hat, daß man nicht mit den Personen, sondern mit denen Sachen selbst zu thun habe.102
Die Rückeroberung des Besitzes an der Wahrheit, den ein anderer unrechtmäßig für sich reklamiert, ist der Grundton, der diese Art Schrifttum kennzeichnet. Die »Wahrheit« wird »wider ihre Feinde gerettet«. Man sieht hier eine enge Verknüpfung von Methode und Textsorte, die je nach geistesgeschichtlicher Ausrichtung des Verfassers inhaltlich unterschiedlich gefüllt werden kann. Sich im rechtmäßigen Besitz der Wahrheit zu wähnen, ist, wenngleich es immer als solches beansprucht wird, kein exklusives Gut. Entscheidend ist die Basis, von der der hermeneutische Prozess seinen Ausgang nimmt. Bei Johann Gottfried Lessing war der Grund die Lehre der lutherischen Orthodoxie, die sich auf die Offenbarung und deren richtige Auslegung stützt.103 Dieser Umstand wird in der Widerlegung der übrigen sechzehn Thesen mehr als deutlich. Das Verfahren ändert sich innerhalb der Schrift nicht, auch wenn sich diese inhaltlich als divergent darstellt. Von der persönlichen Motivation Luthers für die Reformation bis hin zur Unterstützung der Reformation durch die Politik reichen die Vorwürfe, deren einzelne Auflistung hier keinen weiteren Erkenntnisgewinn bringen würde. Allgemein lässt sich im Aufbau eine Bewegung erkennen, die von Vorwürfen, die primär die Frühphase der Reformation zum Gegenstand haben, hin zu zeitgenössischen Problemen reicht. Die Ausrichtung auf tagespolitische Fragestellungen begegnet uns in den beiden letzten Thesen in besonderer Deutlichkeit. Mit dem sechzehnten Vorurteil wird der zu Beginn gesteck-
102 Zedler 20, Sp. 1337 (Hervorhebung M. M.). 103 Der Unterschied zur Apologie Heinrich von Kettenbachs (s. o.) ist deutlich. Hatte dieser seine Argumentation in erster Linie auf die Erfahrung gestützt und mit Zitaten aus der Heiligen Schrift unterlegt, ist hier die Bibel Ausgangspunkt und Grundlage der Argumentation.
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te Rahmen wieder aufgenommen, die Lehre steht erneut im Mittelpunkt. Die Reformation, so der Vorwurf, hat im Bereich ihrer Lehre eine Vielzahl papistischer Elemente überleben lassen. Deutlicher formuliert heißt das, dass die Reformation ihr selbst gestecktes Ziel verfehlt hat. Dieser aus Sicht der Orthodoxie ungeheuerliche Vorwurf wird dementsprechend auch am ausführlichsten widerlegt. Lessing verteidigt seinen Glauben in vierzehn Einzelparagraphen. Ein wahrer Rundumschlag, der in der Selbstvergewisserung der eigenen Stärke und der Überlegenheit des Luthertums gipfelt. Die, so zeigt die letzte These, ist dringend geboten. Bestritten und ebenso widerlegt wie alle vorangegangenen Vorwürfe wird der Status des Luthertums als eines Übergangsphänomens. Die lutherische Reformation sollte nichts als das Zeichen eines Vorläufers sein, nur die Morgenröte (aurora)104 einer universellen Reformation, die es noch zu erwarten gelte. Zweihundert Jahre nach Luthers Thesenanschlag kann diese Anfechtung nicht verwundern, von der Einheit war nicht viel geblieben, die Schwierigkeiten des 17. Jahrhunderts hatten sich noch vermehrt. Umso dringlicher war die Bewahrung des Absolutheitsanspruches der lutherischen Reformation. Die Novatores, so schließt Lessing, haben soviel Neues gar nicht zu sagen. Im Gegenteil, sie stützen sich auf althergebrachte Argumente und Positionen, die sowohl der Katholizismus als auch der Calvinismus in ihrer Verblendung seit jeher wiederholen. Im Verbund der Familie seien sie daher nicht weiter zu dulden. Der Ausstieg ist folglich recht abrupt. Mehr oder weniger elegant werden die Einwürfe als ein Rückfall hinter das durch die Reformation Erreichte dargestellt. Es werden zuletzt nicht nur die Angriffe pariert, sondern die Debatte in Gänze verabschiedet. Es gibt hier, auch wenn man sich in christlicher Nächstenliebe den Verblendeten noch einmal zugewandt hatte, nichts, was zu diskutieren wäre. Das Urteil ist abschließend und entspricht in vorbildlicher Weise der polemischen Methode. Die Wahrheit wurde gerettet. Das in höchsten Tönen lobende Gutachten des Praeses Martin Chladny ist deutlichster Beleg für den Sieg auf ganzer Linie. Es verweist in seiner Gratulation zum eindeutigen Sieg auch auf eine strukturelle Eigenschaft der Vindicatio. Ein Vergleich zwischen den Parteien, um im juristischen Jargon zu bleiben, war zu keiner Zeit angestrebt. Das Gut, um das gestritten wird, ist nicht teilbar und hat nur einen Eigentümer. Das sollte sich bei Lessings Sohn gänzlich anders darstellen, und auch partielle ›Wahrheiten‹ sollten satisfaktionswürdig werden.105
104 Lessing (1717), S. 162. 105 Gotthold Ephraim Lessing knüpfte inhaltlich an eine andere Tradition an, die mit dem Stichwort ›Skeptizismus‹ in Verbindung gebracht werden kann. Siehe hierzu ausführlicher das folgende Kapitel 3.2.2 : ›Der Einzelne weist über sich hinaus – keinesweg uneigennützige Rettungen‹.
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Auf eine letzte Eigenschaft der Apologien und Rettungen, die im vorliegenden Fall besonders offen zutage tritt, muss noch hingewiesen werden. Die Texte verdanken ihre Wirkmächtigkeit in erster Linie der Nennung von Namen. Das mag kontraintuitiv erscheinen, denkt man doch zunächst an eine klare Argumentationführung, überzeugende Thesen oder dergleichen mehr. Das wird zwar geleistet, aber auf einer Ebene, die dem Historiker einiges abverlangt. Sie gilt es zuallererst freizulegen. Namen dienen in diesem Schrifttyp als Chiffren für Meinungen, Positionen und Denkrichtungen. Die Kenntnis dieser Namen und die mit ihnen zu assozierenden Positionen werden als bekannt vorausgesetzt. Allein in der vorliegenden Dissertation Johann Gottfried Lessings werden 115 Personen namentlich genannt. Das von Georges Pons erstellte Namensverzeichnis reicht von Johann Agricola bis Ulrich Zwingli. Die Namen, die zwischen diesen beiden Enden des Alphabets stehen, sind von unterschiedlicher Prominenz. Während ein Teil auch heute noch als selbstredend bekannt vorausgesetzt werden kann, findet sich eine nicht unbedeutende Anzahl an Personen aus der zweiten, dritten und mitunter vierten Reihe frühneuzeitlicher Autoren, die keine Vorstellung vom Inhalt der Schriften oder den Gedankengängen bzw. Positionen mehr zulässt. Erst wenn man diese Personen, und damit die Diskurse, für die sie stellvertretend stehen, wieder zum Leben erweckt, zeigt sich die Gelehrsamkeit, die in den Apologien und Rettungen steckt. Diese zweifellos mühevolle bio-bibliographische (Klein-)Arbeit ist für ein adäquates Verständnis der Schriften unabdingbar. Das gilt auch für die Rettungen des Sohnes. Bei aller inhaltlichen Differenz, die Vater und Sohn Lessing trennte, beide partizipierten an einer Tradition, an deren Spielregeln sie sich hielten.
3.2.1.4 Johann Franz Buddeus als Vermittler – eine Verteidigung der Pietisten Dass die Textsorte der Rettung auch zu anderen Zwecken als einer radikalen Apologetik genutzt werden kann, zeigt ein kleiner Text, der nur wenige Jahre nach der Dissertation Johann Gottfried Lessings erschien. Dieser sitzt, bildlich gesprochen, ebenso wie sein Autor zwischen allen Stühlen. Für die Beschreibung bedeutet das eine Offenheit und auch Anschlussfähigkeit an mehrere Diskurse. Der Text weist einerseits voraus auf das, was im Fortgang der Geschichte der Textsorte zutage treten wird, ist aber gleichfalls noch in der Tradition der Apologetik verwurzelt. Die Rede ist von Johann Franz Buddeus’ (1667–1729)106 Epistula de nonnullis ad quorundam ecclesiae evangelilicae in S... ministorum innocentiam vindican-
106 Zur Biographie siehe ADB 3, S. 500f. sowie BBKL 1, Sp. 796f.
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dam spectantibus, das ist das Send-Schreiben, Einige Dinge betreffend, Zu Rettung der Unschuld etlicher Evangelischer Prediger in S... gehören.107 Ausgangspunkt für diese Rettung ist eine zuvor – nach Auffassung des Verfassers – erfolgte Verleumdung: Ich habe nicht ohne Betrübnis und mit Schmertzen vernommen, das man einigen gelahrten Männern in S... S... S... und M... nicht geringen Verdruß erreget, und daß zwar aus keiner andern Ursache, als weil sie ihrem Amt getreulich und nach dem Gewissen vorstehen und den Fleiß u. das Streben nach der Gottseligkeit und der Heiligung, so die H. Schrift uns so sehr einschärft und anbefihlet, nebst der Reinigkeit der Lehre, mit Ernst betreiben.108
Kannten die »Richter« aber erst die wahren Umstände, werden sie »ihre Unschuld [. . . ] erkennen müssen«.109 Wie kam es also zuallererst zur Verleumdung und was war der Vorwurf? Mehreren Predigern aus Schlesien wurde vorgeworfen dem Pietismus nahezustehen und ihm überdies zuzuarbeiten. Auch um 1724 noch ein unschöner Vorwurf, so viel steht fest. Delikat wird der Fall nun, und hier kommt der Autor ins Spiel, wenn man sieht, welcher Quelle er entspringt. Die Angeklagten beriefen sich in der Ausübung ihrer Pflichten auf ein kleines Bändchen mit dem Titel Eines vornehmen Theologi Wahrhafftige und gründliche Historische Erzehlung Alles dessen, was zwischen denen heute zu Tage so genandten Pietisten Geschehen und vorgegangen ist.110 Dieses kleine Büchlein erschien erstmals 1710 anonym mit dem fingierten Verlagsort Lichtenberg in dem ebenso fingierten Verlag mit dem sprechenden Namen Gottlieb Wahrheit. Es handelt sich dabei um eine nicht autorisierte Zusammenstellung von »lectiones«, die Buddeus an der Universität gehalten hat. Das Werk war offensichtlich recht erfolgreich bei den Studenten, erlebte es doch 1713 bereits eine zweite und 1723 eine dritte Auflage, »darinn den Fehlern der ersten beyden Editionen abgeholffen / die Erzehlung selbst aber biß auf das 1714. Jahr continuieret ist.« Genau dieses Buch wurde nun den schlesischen Predigern zum Verhängnis, wobei nicht geklärt werden konnte, ob die dritte, erweiterte Ausgabe den Stein des Anstoßes bildete.111 Auf diese
107 Johann Franz Buddeus: Epistula de nonnullis ad quorundam ecclesiae evangelilicae in S. . . ministorum innocentiam vindicandam spectantibus. Send-Schreiben, Einige Dinge betreffend, Zu Rettung der Unschuld etlicher Evangelischer Prediger in S. . . gehören. [Jena] 1724. 108 Ebd., S. 3. 109 Ebd., S. 4. 110 [Anonymus]: Eines vornehmen Theologi Wahrhafftige und gründliche Historische Erzehlung Alles dessen, was zwischen denen heute zu Tage so genandten Pietisten Geschehen und vorgegangen ist. Lichtenberg 1710. Erneute Aufl. 1713, erweiterte Ausg. 1723. 111 In Anbetracht der Reaktion Buddeus’, die 1724 erschien, scheint dies aber wahrscheinlich, auch wenn er die frühere Ausg. in seiner Verteidigung nennt. Ich konnte trotz intensiver Suche
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Weise wird die Rettung der drei Prediger im Handumdrehen auch zu einer Rechtfertigung in eigener Sache. Buddeus wurde in einen Konflikt hineingezogen, der auf der entstellenden Kompilation seiner Lehrinhalte fußte. Ignorieren konnte er diesen Angriff in seiner damaligen Situation nicht, war er doch selbst vermehrt ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Einen schweren Stand innerhalb der lutherischen Orthodoxie hatte Buddeus seit Langem. Seine Nähe zum Pietismus, die sich nicht zuletzt in engen Freundschaften zu Philipp Jacob Spener und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf ausdrückte, musste ihn in den Augen der strengen Orthodoxie verdächtig machen. Dazu kam seine Vermittlerposition zwischen Theologie und Philosophie.112 Die Überzeugung, dass nichts in der Offenbarung den Voraussetzungen der natürlichen Religion widersprechen sollte und die Offenbarung damit der Vernunft unterworfen wird, kehrte die bestehenden und gültigen Verhältnisse geradezu um.113 Auch sein Eintreten für eine theologische Grundlegung der Moralität – in deutlicher Abgrenzung zur Philosophie Christian Wolffs, die er zeitlebens für gefährlich hielt und die seiner Meinung nach dem Atheismus den Boden bereite – stärkte sein Ansehen in orthodoxen Kreisen nur in Maßen.114 Buddeus blieb, auch für seine Zeitgenossen, eine schwer zu verortende Figur im akademischen Betrieb der Theologie. Rechtfertigungen waren für den tieffrommen Theologen also keine Seltenheit. In der vorliegenden Schrift geht Buddeus allerdings einen Schritt weiter: Aus einer – und nicht zuletzt seiner eigenen – Rettung wird eine Programmatik mit einem klaren Appell für differenzierende Betrachtung und gegen vorschnelle und vereinfachende Urteile. Für dieses doppelte Ziel spricht auch die Erscheinungsform. Sie wendet sich gleichermaßen an ein Laienpublikum und an die gelehrte Welt. Um dem gerecht zu werden, sind die lateinische und die deutsche Fassung parallel abgedruckt. Der Pietismus, so viel verrät nicht nur das Druckbild, ist nicht mehr nur Gegenstand gelehrter Auseinandersetzung. Budde-
die Stelle nicht ermitteln, auf die sich hier bezogen wird. Die unglaublich Fülle von Namen und Schriften, die das Werk versammelt, machte die Identifizierung der drei nur mit Initial genannten Personen unmöglich. 112 Eine allgemeine Einordnung Buddeus’ in die Strömungen der Zeit gibt Martin Mulsow: Eclecticism or Skepticism? A Problem of the Early Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 58 (1997), H. 3, S. 465–477, insb. S. 473–477. 113 Zum Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bei Buddeus siehe die ausführliche Beschreibung bei Friederike Nüssel: Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus. Göttingen 1996 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 77), S. 227–275. 114 So spielte Buddeus eine führende Rolle in der Vertreibung Christian Wolffs aus Halle. Eine Zusammenfassung der Ereignisse gibt Jonathan Israel: Democratic enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011, S. 172–187.
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us versucht beiderseits, beim einfachen Gläubigen wie unter den Gelehrten, die Wogen zu glätten und Ängste zu nehmen. Als Hauptgrund für die Auseinandersetzungen um den Pietismus identifiziert Buddeus eine vorschnelle Verallgemeinerung. Weil man bei den Pietisten so manches findet, was als »falsch und irrig«115 angesehen werden muss, so schließt man innerhalb der protestantischen Kirche, dass alles, was mit dem Label Pietismus gekennzeichnet wird, grundweg fehl geht. Dabei übersieht man, dass »nemlich wahres und falsches mit einander vermischet«116 ist. »[G]roße Behutsamkeit« und eine »genaue Unterscheidung«117 sind die Mittel, die für eine qualifizierte Wertung unabdingbar sind, »dann man nicht unschuldige Leute, die mit Fleiß in der wahren und rechtschaffenen Gottseligkeit und Heiligkeit mit Ernst treiben, einiger Ketzerey oder Irrthums verdächtig mache.«118 Wenn man die Argumente und Positionen von der Personengruppe, die sie äußert, trennt, erkennt man schnell, dass die meisten davon überaus vernünftig und einsichtig sind. Für Lessings Vater, so haben wir gesehen, wären solche Zugeständnisse nicht im Rahmen des Denkbaren gewesen. Ein gewisser Grad an Anonymität schadet einem objektivem Urteil in keiner Weise. Vielmehr würde man mit dieser Relativierung ein Instrument zur Hand haben, das auch noch so manche anderen Vorwürfe beiseitigen könnte.119 Buddeus geht in seiner Argumentation nochmals einen Schritt zurück, um seinen Punkt zu verdeutlichen. Die kollektive Ettiketierung ›Pietisten‹ rückt erneut in den Fokus. Auffällig sei nämlich, dass, sobald die Bezeichnung ausgesprochen wird, allenfalls noch die Schlechtigkeit der Menschen wahrgenommen wird. Der Anteil des aufrichtigen Glaubens bleibe hingegen unerwähnt. Dabei sei er sowohl im praktischen alltäglichen Umgang als auch der Lehre von großer Bedeutung. Der Pietismus orientiere sich, so Buddeus, in weiten Teilen an den gleichen Schriften und Erlassen der Konsistorien wie die Amtskirche. Verdamme man den Pietismus pauschal, übersehe man die große vorhandene Schnittmenge. Letztlich verteufle man sich partiell selbst. Wer daraus nun folgern würde, dass schon große Teile des Protestantismus von pietistischem Gedankengut unterwandert seien, verdrehe die Tatsachen aus purer Böswilligkeit. Dem sei mitnichten so. Solche Unterstellungen finde man »in der That nirgend, als in dem Gehirne etlicher Persohnen [. . . ], die Ketzer und Schwärmer nach Be-
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Buddeus (1724), S. 6. Ebd. Ebd. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 9.
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lieben erdencken.«120 Um solches zu vereiteln und den Ketzermachern Einhalt zu gebieten, empfehle es sich, »daß man untersuche und prüfe, aus was Absicht, und in was vor einem Verstand etwas geredet worden, daß man es auch nach dem bessern Sinn und Verstand außlege, wann man sonst von derselbigen Persohn Reinigkeit in der Lehre versichert ist.«121 Diese Form der »gelehrten Höflichkeit«,122 wie sie Martin Gierl treffend bezeichnet, wünschte sich Buddeus in die Praxis umgesetzt. Nicht zuletzt, das wird im Verlauf der Schrift immer deutlicher, zeigt Buddeus hier Verhaltensweisen auf, von denen er sich wünschte, dass andere seiner Person selbst auf diese Weise begegnen. So ernst die Rettung der drei schlesischen Prediger auch gemeint gewesen sein mag, uneigennützig kann man diese Schrift nicht nennen. Sie ist ein Plädoyer gegen vorschnelle Verurteilung, die der Autor oft genug am eigenen Leib verspürt hatte. Noch ein letztes Wort zu den Grundlagen der Argumentation. Buddeus vermeidet es, sich auf einzelne Stellen der Heiligen Schrift zu berufen. Das wäre seiner Sache auch nicht angemessen gewesen, wollte er doch die Gemeinsamkeiten von lutherischer Orthodoxie und Pietismus in der Vordergrund stellen. Die beiden Parteien mit einer kontrovers zu diskutierenden Exegese zu konfrontieren, wäre dem Vorhaben eher abträglich gewesen. Dennoch bleibt die Bibel der Hauptbezugsrahmen seiner Ausführungen, indem die Heilige Schrift als das einende Band vorgestellt wird. Auch in diesem Fall kann man, in anderer Ausprägung als etwa bei Johann Gottfried Lessing, von einer hermeneutica sacra als Grundlage der Überzeugungsarbeit ausgehen. Sich auf reine Nützlichkeitserwägungen, die einer allgemeinen Klugheit entspringen und wie wir sie in den naturrechtlichen Überlegungen gesehen haben, zu beziehen, lag Buddeus fern. Er blieb einer dogmatisch verfassten Rationalität treu und stand somit einerseits noch in der Tradition der klassischen Apologetik und andererseits schon im Grenzbereich einer Toleranzforderung, die knappe dreißig Jahre später zu Lessings Terrain werden sollte. Dafür allerdings bedarf es eines genaueren Blickes auf einen zweiten Strang der Tradition, der sich vornehmlich aus skeptischen Strömungen und Ideenkonstellationen speiste und den das nächste Kapitel näher bestimmt.
120 Ebd., S. 17. 121 Ebd., S. 18. Diese Art der Herangehensweise scheint – trotz aller Vorbehalte gegen eine historische Bibelexegese seitens Buddeus – von den gleichen hermeneutischen Maximen gelenkt. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der historischen Situation des Sprechers. Siehe hierzu Ulrich Barth: Hallesche Hermeneutik im 18. Jahrhundert. Stationen des Übergangs zwischen Pietismus und Aufklärung. In: Beetz, Manfred; Cacciatore, Giuseppe (Hgg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln / Weimar / Wien 2000 (Collegium Hermeneuticum 3), S. 69–98. 122 Gierl (1997), S. 558.
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3.2.1.5 Zusammenfassung Aus wenigen Texten eines so weiten Feldes wie dem der Apologetik in Schlaglichtern eine Geschichte zu schreiben, muss zwangsläufig zu einem defizitären Ergebnis führen. Die vier Texte, die für einen Zeitraum von zweihundert Jahren ausgewählt wurden, sollen aber dennoch in doppelter Hinsicht exemplarischen Charakter haben. Gerade in Hinblick auf eine Tradition, in die sich Gotthold Ephraim Lessing mit seinen Rettungen einschreibt, können die ausgewählten Beispiele mehreres veranschaulichen. Die drei Vertreter der Apologie (die Dissertation von Lessings Großvater fällt hier als nicht genuin zur Textsorte der Apologie gehörend heraus) stellen drei der möglichen Zielrichtungen dar: ernsthafte Verteidigung, Selbstvergewisserung und Demonstration eigener Stärke und letztlich ein kommunikatives Miteinander in der Vermittlung. Alle diese Ausprägungen greifen auf ein ähnliches argumentatives Muster zurück, das seine Ursprünge in der juristischen Tradition, insbesondere im Inquisitionsprozess hat. Eine sukzessive Behandlung der implizit oder explizit vorgebrachten Vorwürfe oder Anschuldigungen steht im Mittelpunkt des Prozesses. Gesucht wird ein Urteil, dass sich rational begründen lässt, die Anklagen werden vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um einen Fortschritt in der Erkenntnis, eine Auseinandersetzung, die bestimmt wäre, neues Wissen und neue Erkenntnis zu generieren. Das bereits zuvor Erkannte ist vielmehr unwandelbar und absolut gewiss, fraglich ist lediglich, inwiefern die geäußerten Vorwürfe sich dieser Erkenntnis einschreiben können. Alle drei Varianten, so kann man zusammenfassen, argumentieren aus einer dogmatischen Haltung heraus, die ihre letzten Gründe aus der Offenbarung bezieht. Diese Art von dogmatischer Rationalität123 ist ein grundlegendes Charakteristikum für die Apologien und Rettungen, die aus einem apologetischen Impetus heraus verfasst werden. Die einzige Möglichkeit mit dieser Textsorte zu operieren, ist es indes nicht.
3.2.2 Der Einzelne weist über sich hinaus – keineswegs uneigennützige Verteidigungen
Was können die Textsorten Apologie und Rettung noch leisten bzw. was implizieren sie über eine theologisch-apologetische Funktion hinaus? Zunächst einmal, und das ist eine Grundeigenschaft sowohl innerhalb der Apologetik als auch au-
123 Siehe hierzu Paul Feyerabend: Eine Lanze für Aristoteles. Bemerkungen zum Postulat der Gehaltvermehrung. In: Radnitzky, Gerard (Hg.): Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft. Tübingen 1980 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 24), S. 157–198, hier S. 176.
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ßerhalb, verweist der Textyp auf eine Art von Solidarität mit dem Gegenstand, gleich welcher Natur dieser dann auch ist. Die Solidarität kann sich auf eine Person, deren Handlungen oder Meinungen beziehen. Dabei ergibt sich die Möglichkeit, und das wird die in diesem Abschnitt im Blickpunkt stehenden Texte betreffen, verschieden zu gewichten. Bisher waren die gerettete Person und die zugehörige Position weitgehend identisch. Eine besondere Akzentuierung erübrigte sich dementsprechend. Anders verhält es sich mit den Texten, die im Weiteren besprochen werden. Die Auswahl des zu verteidigenden Gegenstandes kann mitunter – zumindest in der Darstellung – gegen die eigene Gesinnung des Autors gerichtet sein. Die Wahl des Gegenstandes kann aus Nützlichkeitserwägungen heraus strategischen Gesichtspunkten folgen. Was heißt das konkret? Zum Beispiel kann man die moralische Integrität, das tadellose Leben einer verfemten Person betonen und in den Fokus einer Verteidigungschrift stellen, ohne die zumeist schriftlich fixierten Meinungen zu teilen. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar. So kann man ein sittenwidriges oder gar sittenloses Leben verurteilen, die Meinungen der Person aber durchaus als vernünftig oder gar wegweisend betrachten. Man kann das eine verwerfen und zugleich einen anderen Teil retten. In beiden Fällen ist eine Entkopplung zweier intuitiv als Einheit angesehener Phänomene denkbar und wurde realisiert. Dieser Möglichkeitsraum ist in seinen Folgen kaum zu überschätzen, bietet er doch die Chance, gängige Urteile in einem dialektischen Prozess zu unterlaufen. Der höhere Grad an Differenzierung spaltet diese als Einheit begriffene Person auf und ermöglicht es dadurch, festgefügte und allgemein anerkannte Urteile anzuzweifeln. Der Prozess geht, unter neuen Vorzeichen mit einer veränderten Beweislage in die Revision. Wird der Fall neu aufgerollt, wandeln sich Urteile in Vorurteile. Diese Kritik an unreflektiert übernommenen Positionen ist dementsprechend oft der Ausgangspunkt einer Rettung oder Apologie und steht damit Pate für eine Denkfigur der Auklärung schlechthin.124 Damit ist schon eine erste Auswirkung genannt. Generell führt jede Neukontextualisierung auch zur Bestimmung eines neuen Feldes, in dem der Diskurs zukünftig stattzufinden hat. Dieses Feld selbst festlegen zu können, bedeutet einen nicht unerheblichen strategischen Vorteil in der Neubeurteilung der Sachlage. Es werden neue Spielregeln diktiert, die den Gegner überraschen sollen, ebenso wie der Angriff auf eine scheinbar dem allgemeinen Konsens unterliegende Gewissheit. Die Folge ist eine Loslösung aus dem bisher kanonisierten Rezeptionszusammenhang, aus der sich gleichsam die neue Prämisse ergibt. Eine weitere unmittelbare Folge der höheren Differenzierung ist der mögliche Verzicht, Antwor-
124 Rainer Godel sieht in der Vorurteilskritik eine der maßgeblichen Triebkräfte der Aufklärung. Siehe Godel (2007).
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ten zu liefern. Man entbindet sich dieser Bürde und konzentriert sich darauf, den Gegner mit Fragen – ebensolchen, die bislang nicht gestellt wurden – zu traktieren. Die Erfolge des Skeptizismus in der Frühen Neuzeit beruhten zu einem nicht geringen Teil auf genau dieser Strategie. Es kann daher auch nicht überraschen, dass eine deutlich erkennbare Nähe der Autoren für diesen nicht-apologetischen Teilbereich in den Texten wiederzuerkennen ist bzw. die Autoren in beiden Bereichen beiheimatet sind. Die Entwicklung des Skeptizismus geht mit der Verwendungsweise der Textsorte Hand in Hand, wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird. Auch wenn es nicht immer gelingen mag, vermeintliche Vorurteile zu untergraben und damit aus der Welt zu schaffen – dieses Ziel wäre ohnehin illusorisch –, so kann eine Destabilisierung des Althergebrachten immerhin als Teilerfolg gewertet werden. Meinungspluralisierung nötigt zu Reaktionen, die im untersuchten Zeitraum immer auch auf religiöse Vorstellungen zurückwirken.125
3.2.2.1 Gabriel Naudés Apologie – ein Prototyp Der französische Gelehrte, Bibliothekar und Libertin Gabriel Naudé (1600–1652)126 findet in der (literaturwissenschaftlichen) deutschen Forschung zum 17. Jahrhundert bisher kaum Beachtung,127 während die angelsächsische Forschung seine Bedeutung über die Grenzen Frankreichs hinaus längst erkannt hat.128 Den um-
125 Vgl. hierzu Richard H. Popkin: The third force in seventeenth-century thought. Leiden 1992 (Brill’s studies in intellectual history 22), insb. S. 268–284. Popkin betont den engen Zusammenhang von Religion und Philosophie auch für Bereiche, die sich auf den ersten Blick nicht in religiöse Belange einmischen. Gerade im Hinblick auf Fragen zur Moral ist eine rein philosophische Argumentation nicht möglich, die Konsequenzen überschreiten immer die eigentlichen Grenzen der Philosophie. »The moral or spiritual dimension was critical to gaining religious knowledge.« S. 276. 126 Zur Biographie siehe Jack A. Clarke: Gabriel Naudé, 1600–1653. Hamden 1970. 127 Ausnahmen bilden hier der Aufsatz von Dirk Werle: Zum Verhältnis von Skeptizismus und Enzyklopädistik bei Gabriel Naudé und Pierre Bayle. In: Spoerhase, Carlos; Werle, Dirk; Wild, Markus (Hgg.): Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Berlin 2009 (Historia hermeneutica: Series studia 7), S. 179–199; sowie Martin Mulsows Bemühungen, die Auswirkungen Naudés auf die deutsche Frühauklärung auszuloten. Martin Mulsow: Appunti sulla fortuna di Gabriel Naudé nella Germania del primo illuminismo. In: Studi Filosofici 14/15 (1991/92), S. 145–156. 128 So widmet ihm Richard H. Popkin ein ausführliches Kapitel in seiner Geschichte des Skeptizismus und sieht in ihm eine der Schlüsselfiguren des libertinage érudit. Richard H. Popkin: The history of scepticism. From Savonarola to Bayle. Rev. and expanded ed. Oxford 2003. S. 80–99. Eingehende Studien zum Einfluss Naudés auf das deutsche Geistesleben fehlen noch, zu Naudés Wirkungen in England siehe Lauren Kassell: »All was this land full fill’d of faerie,« or Magic and the Past in Early Modern England. In: Journal of the History of Ideas 67 (2006), H. 1, S. 107–122.
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fassensten Vorstoß, die Wirkmächtigkeit Naudés nachzuzeichnen, unternimmt Hartmut Stenzel.129 Gerade Naudés frühe Schrift, um die es hier gehen soll, die Apologie pour tous les grands personnages qui ont esté faussement soupçonnez de magie,130 hat nach Stenzels Einschätzung einen besonderen Platz in der Geschichte. Sie steht zwischen zwei Zeitaltern und partizipiert an beiden: Können die ersten Abhandlungen [darunter die Apologie, M. M.] Naudés somit in ein Selbstverständnis eingeordnet werden, das die Gegenwart als eine Epoche gesellschaftlicher und ideologischer Modernisierung deutet und das sich im ersten Drittel des 17. Jh. in Frankreich in vielfältiger Weise manifestiert, so sind sie zugleich geprägt von Elementen einer humanistischen Tradition, der sich ihre wesentlichen Referenzen wie ihre Argumentationstrategien verdanken.131
Gleiches kann man für den vom Skeptizismus beeinflussten Teilbereich der Apologie und Rettung sagen. Auch diese Spuren lassen sich, mit gutem Willen und einigen Abstrichen, in den Humanismus zurückverfolgen.132 Zum anderen ist die gegenwartsbezogene Zielrichtung unverkennbar. Das Besondere nun an der Schrift Naudés ist, dass die den Vorurteilen entgegengesetzte Apologie »als eine Möglichkeit des Denkens«133 überhaupt begriffen werden kann. Die Schrift entstammt einer humanistischen Tradition, steht allerdings in einem Kontext, der »diese Tradition mit einem Modernitätsbewußtsein und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich virulenten Diskussionen«134 verbindet. Einige überzeitliche Charakteristika treten erstmals in dieser Deutlichkeit zutage, so etwa der explizite Angriff auf eine Person und ihr Werk. Naudé folgt in der Apologie schon den Regeln, die später als konstitutiv gelten dürfen. Sie nennt den Ankläger, in diesem Fall den Jesuitenpater François Garasse und dessen Schrift Nouveau jugement de ce qui a été dit et écrit pour & contre le livre de la ›Doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps‹ (Paris 1625), im Vorwort und leitet daraus die unbedingte Notwendigkeit einer ausführlichen Antwort ab. Diese unmittelbare zeitliche Nähe, die scheinbar schnelle Reaktion auf inakzeptable Vorwürfe, ist ein weiteres Indiz
129 Hartmut Stenzel: Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Politik und Öffentlichkeit: Gabriel Naudé und die Probleme des »libertinage érudit«. In: Held, Jutta (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. München 2002, S. 170–192. 130 Gabriel Naudé: Apologie pour tous les grands personnages qui ont esté faussement soupçonnez de magie. Den Haag 1625. 131 Stenzel (2002), S. 171. 132 So könnte man etwa Michel Montaignes Apologie de Raimond Sabond aus dem Jahre 1569 anführen. 133 Stenzel (2002), S. 171. 134 Ebd., S. 174.
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für eine sich etablierende Schreibweise, die im Verlauf der weiteren Entwicklung stabilisiert wird. Ich setze hier ein ›scheinbar‹, denn meist waren die Vorwürfe, auf die zeitnah reagiert wurde, so neu nicht, als dass alle diese Schriften als eine direkte Antwort gelesen werden müssten. Vielmehr scheint es Praxis gewesen zu sein, wiederholt geäußerte Vorwürfe als Grundlage für eine Widerlegung zu nehmen, deren Anlass dann lediglich mit einer bestimmten Publikation fingiert wurde. Dieser Umstand trifft wohl auch auf den vorliegenden Fall zu, nicht anders ist es zu erklären, dass beide Schriften innerhalb eines Jahres erschienen. Die Apologie ist zweifelsohne zu umfangreich und zu durchdacht, um einer spontanen Reaktion entstammen zu können. Die Abhandlung Garasses lieferte die richtige Vorlage, anhand der Naudé das gewählte Thema realisierte. So verwundert denn auch der Hauptvorwurf kaum. Garasse, so Naudé, habe alte Vorurteile einfach ungeprüft abgeschrieben und sich somit gegen die wissenschaftliche Redlichkeit versündigt. Die exakt gleiche Art der Vorurteilskritik wird uns noch 130 Jahre später bei Lessing begegnen. Es scheint insofern gerechtfertigt, diesen »Wendepunkt in der Entwicklung der humanistischen Gelehrsamkeit«135 als Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Geschichte der Textsorten Apologie und Rettung anzusetzen. Der Problemhorizont verstorbener Personen wurde im Falle Naudés für die zeitgenössische Diskussion fruchtbar gemacht. Es ergeben sich »Übergänge zu jenen vielfältigen, durchaus noch humanistisch inspirierten Formen des Denkens«,136 die weiterhin produktiv bleiben. »Was aus Sicht der Gegner als ein gefährliches Übermaß an Freiheit gegenüber Tradition und Dogma verurteilt wird, erscheint dann positiv gesetzt als jene nötige und bewahrenswerte Distanz, die an der Intention einer Erkenntnis jenseits überlieferter Vorurteile festhält.«137 Unvoreingenommenheit wurde zur notwendigen Bedingung von Wahrheit. Man kann den Unterschied zur Verwendung der Textsorte innerhalb der Apologetik deutlich erkennen. Beruft sich die Apologetik in erster Linie auf überlieferte und als ewig erachtete Wahrheiten, kommt hier eine Dynamik ins Spiel, die einen Erkenntnisfortschritt und damit die Wandelbarkeit dessen, was als Wahrheit anerkannt wird, zum Grundprinzip erklärte. Allerdings war es bei Weitem noch nicht so, dass der Schrifttyp sich über die nächsten Jahre und Jahrzehnte nicht wandelte. Ein besonderes eingängiges Beispiel hierfür ist der Kreis derer, die sich überhaupt dafür qualifizieren zu urteilen und Wahrheit zu erneuern. Naudé setzt noch auf eine Exklusivität des Urteils; das einfache Volk bleibt, aufgrund seiner ohnehin undifferenzierten
135 Ebd., S. 178. 136 Ebd. 137 Ebd.
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Meinungsbildung, außen vor.138 Stenzel vermutet dahinter ein Spiel mit den Rezeptionsgewohnheiten, das eher eine Art Pseudo-Exklusivität schaffen sollte, um die Lektüre und das Lektüreerlebnis aufregender zu gestalten. Es kann aber auch nicht geleugnet werden, dass Naudé zeitlebens kein Freund eines vorschnellen Egalitarismus war; elitäres Denken, das sich selbstverständlich nur in einem kleinen Kreis Berufener manifestiert, war eher nach seiner Überzeugung. Zu schlecht ist auch seine Meinung vom Wissen des gemeinen Volkes, wie es sich in der Apologie äußert. Zweifelsfrei benennen kann man die von Naudé anvisierte Zielgruppe für seine Schrift nicht mehr, ohne sich in einem grundlosen Psychologismus zu verfangen. Viel entscheidener als die Intention ist die Aufnahme der Apologie, denn diese ist beobacht- und beschreibbar. Dass die Inhalte trotz der sich ändernden Rezeptionshaltung für den zeitgenössischen Diskurs abrufbar und anschlussfähig blieben, zeigt die erste Übersetzung der Apologie ins Deutsche. Bis die Apologie auch in Deutschland einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde, sollten beinahe achtzig Jahre vergehen. Ein gewisser Johann Reich, Licenciat beider Rechte, zeichnete dafür verantwortlich.139 In Anbetracht der fortdauernden Diskussionen um das Hexen- und Zaubererwesen140 erstellte Reich einen Band, der die gewichtigsten Publikationen zum Thema versammeln sollte: Herrn D. Christian Thomasii [. . . ] Kurtze LehrSätze von dem Laster der Zauberey / Nach dem wahren Verstande des Lateinischen Exemplars ins Deutsche übersetzet / Und aus des berühmten Theologi D. Meyfarti, Naudæi, und anderer gelehrter Männer Schrifften erleutert / auch zu fernerer Untersuchung des nichtigen Zauberwesens / und der unbilligen Hexen-Processe / nebst einigen Actis magicis heraus gegeben von Johann Reichen / beyder Rechten Licent., so der vollständige Titel.141 Reich widmet allen seinen Übersetzungen ei-
138 Ebd., S. 173. 139 Über die Person Johann Reich konnte ich weiter nichts in Erfahrung bringen, seine Biographie bleibt im Dunkeln. 140 Zum Verhältnis der Diskurse um die Hexenverfolgung zur radikalen Aufklärung, die wohl als ineinander verschränkt verstanden werden müssen, siehe Wolfgang Behringer (Hg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland. München 6 2006, S. 400–458. 141 Christian Thomasius: Kurtze Lehr-Sätze von dem Laster der Zauberey / Nach dem wahren Verstande des Lateinischen Exemplars ins Deutsche übersetzet / Und aus des berühmten Theologi D. Meyfarti, Naudæi, und anderer gelehrter Männer Schrifften erleutert / auch zu fernerer Untersuchung des nichtigen Zauberwesens / und der unbilligen Hexen-Processe / nebst einigen Actis magicis heraus gegeben von Johann Reichen / beyder Rechten Licent. Halle 1704. Schon ein Jahr zuvor legte Johann Reich einen voluminösen Band vor: Unterschiedliche Schrifften von Unfug des Hexen-Proceßes / Zu fernerer Untersuchung der Zauberey heraus gegeben von Johann Reichen [. . . ]. Nebst einer Vorrede von des Werckes Vorhaben und was sonsten von den ZauberWesen und Hexen-Proceßen zu halten. Halle 1703.
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ne eigene Einleitung, die gleichzeitig eine Rechtfertigung für die Aufnahme des Werkes in den Band ist. Ein ausführliches Register am Ende des Bandes weist den Weg, wo nachzuschlagen ist, um bestimmten Vorwürfen zu begegnen. Die Vorrede betont die Notwendigkeit der Materie ebenso wie die andauernde Aktualität der Apologie Gabriel Naudés. Reich nennt gleich zu Beginn zwei Gründe für den Aberglauben an Zauberei und Hexerei, die auch zu seiner Zeit unbedingte Gültigkeit besaßen. Die eine Seite betrifft die reine »Bosheit«, um die Menschen »fürchtend zu machen«,142 um sie auf diese Weise desto leichter zu kontrollieren. »Die andere ist die greuliche Einfalt / Leichtsinnigkeit und Unbesonnenheit alle lächerliche Fabeln und Mährlein vor Historien auszugeben / und alle Lügen vor ohnstreitige Wahrheiten und Evangelia anzunehmen.« Auch wenn die Glaubwürdigkeit dieser »Mährlein« gegen Null geht, so ist die Wirkung doch enorm. Es hält sich zum Beispiel das hartnäckige Gerücht, das Cochläus in die Welt gesetzt hat, Luther sei ein Zauberer, ja sogar dass der Teufel selbst sein Vater sei.143 Auch die Katholiken entgehen den Anschuldigungen nicht, es stellt sich bei ihnen nur die Frage, ob Ketzter grundsätzlich Zauberer sind oder ob das »Zauberwesen« auf die Ketzerei folgt. Das Hauptproblem ist von Reich schnell identifiziert: Die verängstigte Bevölkerung halte alle Lügen und Fabeln der »Pfaffen« für historische Wahrheit. Die Bezeichnungen der Beschuldigten als »Atheist«, »Zauberer« oder »Naturalist« seien dabei beinahe identischen Inhalts. Auf eine Unterscheidung seitens der Produzenten dieser ›Label‹ werde kein Wert gelegt. Die Menschen, so Reich weiter, die diesen wilden Geschichten Glauben schenken, seien noch »viel närrischer«, »als derjenige / der die Gedichte der Poeten / als Erfindungen müßiger Leute / nach dem buchstäblichen Verstande annimmt.«144 All dem gelte es zu begegnen, das sei der Zweck seiner Zusammenstellung von Texten, die schon alle Argumente gegen diese Art Aberglauben versammeln. Nur Gehör müssten sie endlich finden, die Schlacht sei längst entschieden, auch wenn sie noch nicht überall geschlagen wurde: Diejenigen aber / welche mit dem verschimmelten Alterthum / Menschen-Auctorität / der betrüglichen Experience und anderen Gauckeleyen auffgezogen kommen / es mögen nun einige Magistri Nostri zu Wittenberg / oder etliche junge Doctores zu Leipzig seyn / sollen wissen / daß ihre Waffen / womit sie streiten viel zu untüchtig und ihre Klopfechter-
142 Ebd., alle folgenden Zitate ebenso aus der unpaginierten Vorrede. 143 Lessings Rettung des Cochläus, aber nur in einer Kleinigkeit wird dieses Thema wieder aufnehmen und zumindest in einem Punkt zu einem anderen Urteil kommen. Vgl. hierzu das eigene Kapitel 4.5. 144 Auf diesen Punkt geht Lessing in den Rettungen des Horaz ausführlich ein. Vgl. hierzu das eigene Kapitel 4.2.
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Streiche viel zu unvermögend befunden worden / daß sie wider so wichtige Beweißthümer und durchdringende Gründe etwas ausrichten solten / so gar / daß auf ihre Dicentereyen nicht die geringste Absicht zu machen ist / es müste denn wegen anderer Leute / welche noch biß an beyde Ohren in Vorurtheilen stecken / geschehen / davon die Zeit das beste lehren wird.145
Mit diesen mehr als deutlichen Worten schließt Reich seine Vorrede und prophezeit den Sieg der Vernunft über die Vorurteile. Sein Argument kommt direkt im Nachgang der zitierten Passage, es ist Gabriel Naudés Apologie pour tous les grands personnages qui ont esté faussement soupçonnez de magie, die SchutzSchrift aller grosser Leute / die fälschlich der Zauberey wegen sind verdächtig gemacht worden, so Reichs deutsche Übersetzung. Was machte das Werk des französischen Gelehrten so besonders, dass es seine Attraktivität auch nach so vielen Jahren nicht eingebüßt hatte? Zunächst einmal wohl der universelle Anspruch mit dem Naudé schon im jungen Alter von gerade einmal fünfundzwanzig Jahren auftrat. »Il élabore donc un système de réfutation qui rejette tous les faits contraires à la raison, refusant même le critère de l’approbation générale et du ›consensus gentium‹.«146 Dieser Anspruch, nur die Gründe der Vernunft gelten zu lassen, stellte eine Methode bereit, die ohne Rücksicht auf die Verhältnisse über die Zeiten hinweg für die Historiographie abgerufen werden kann. Naudé selbst führte seine Methode in der Apologie in denkbar disparaten Feldern vor Augen. So gruppierte er die unschuldig Beschuldigten nicht, wie zu erwarten wäre, nach religiöser Zugehörigkeit, sondern erstellte andere, moderne möchte man aus der heutigen Sicht sagen, Ordnungsschemata. Die Personen bzw. ihre religiösen Hintergründe, wurden dabei bunt gemischt. Heiden stehen neben Juden und Katholiken, diese wiederum unterschiedslos in unmittelbarer Nachbarschaft zu Reformierten und Protestanten. Diese Mischung hat System: Sie zeigt deutlich, dass der Vorwurf der Zauberei und damit einhergehend des Atheismus jeden treffen kann. In den meisten Fällen ist er jedoch völlig unbegründet. Man kann die Zuschreibung des Irrtums bzw. ihren Ausgangspunkt klassifizieren und damit beinahe alle je geäußerten Vorwürfe als Vorurteile entlarven. »Viele große Leute«, so Naudé im dritten Hauptstück seiner Abhandlung »sind vor Zauberer gehalten worden, welche nur Politici gewesen.«147 Der Vorwurf der Zauberei sei seit jeher ein probates und elegantes Mittel sich der Politiker
145 Naudé / Reich. In: Thomasius (1704), Vorrede, unpag. 146 Lorenzo Bianchi: Érudition, critique et histoire chez Gabriel Naudé (1600–1653). In: Häfner, Ralph (Hg.): Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher Philologie. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 35–55, hier S. 43. 147 Naudé / Reich (1704), S. 24.
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oder anderer mächtiger Personen, die an sich unantastbar waren, zu entledigen. Teilweise trügen die Herrscher daran selbst Schuld. Schon Cardano erteilte in De Sapietiae den Ratschlag an schwache Fürsten, sich der Theurgie zu bedienen.148 Wer angeblich mit Gott im Bunde stehe, sei auf eine gewisse Zeit – bis zum Beweis des Gegenteils – zumindest schwer angreifbar. Aber so wirkungsvoll dieses Vorgehen sei, so leicht sei es auch zum Scheitern verurteilt, wenn man die Priesterschaft nicht mehr hinter sich versammeln könne und der Schwindel auffliege. Von der Schau Gottes bleibe dann oft nur der Vorwurf der Zauberei übrig. Sorgen, wegen Zauberei angeklagt zu werden, müssten sich ausnahmslos auch »prave Leute« mit »statlicher Gelehrsamkeit« machen.149 Wisse man mehr als die anderen, sei man grundsätzlich suspekt. Durch alle Zeiten hindurch waren immer die Philosophen, weniger aber die Juristen und Theologen, den Anfeindungen ausgesetzt. Naudé vermutet – und hierarchisiert damit auch die Wissenschaften –, dass gerade die Philosophen ihre Seelen derart weit erhöben, dass andere Menschen nicht mehr folgen könnten; sie würden trotz aller Bewunderung auch immer im gleichen Maße verdächtigt. Auch die Mathematiker setzten sich der Gefahr aus, da das gemeine Volk immer leichter Wirkungen dem Teufel zuschreibe als den Erfindungen des menschlichen Verstandes. Man erkennt deutlich das Prinzip, nach dem Naudé verfährt. Auf einen letzten Punkt möchte ich trotzdem noch ein wenig ausführlicher eingehen, weil er uns direkt auf das Gebiet der Textkritik führt. Im sechsten Hauptstück verweist Naudé auf ein häufiges Dilemma der Anklage, »[d]aß diejenigen Bücher, so vielen Leuten zugeschrieben worden, nicht zugänglich seyn, sie der Zauberey zu überführen.«150 Das Beweisstück fehlt also häufig, mit unangenehmen Nebenwirkungen. Schon seit der Antike besteht das Problem des Plagiats. Naudé meint, dass man heutzutage eigentlich gelehrte Männer haben müsse, die Abgeschriebenes oder Gefälschtes identifizieren können sollten. Dann würden vielen Menschen nicht fälschlicherweise Bücher und Meinungen zugeschrieben, die sie nie verfasst bzw. vertreten haben. Es sei vielmehr so, dass die meisten, die angeklagt würden, mit den Büchern nichts zu tun haben. Die Irrlehren verbreiteten sich sich nämlich vornehmlich durch Kataloge verbotener Bücher, die immer zu wenig Information böten, als dass man sich ein Urteil erlauben
148 Ebd., S. 26. 149 Ebd., S. 28ff. 150 Ebd., S. 39ff.
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könne.151 Für eine Anklage reiche diese Quellenbasis, das eigentliche Exemplar fehlt ja in der Regel, nicht aus. Eben sowenig sei die Verbreitung von Lehrmeinungen mit irgendeiner Art von Zauberei zu vermengen, dazu brauche es mehr, beispielsweise einen bewusst eingegangenen Bund mit dem Teufel. Folgerichtig sei Johann Faust, Naudé führt ihn als Exempel an, einer der wenigen, die nicht von den an ihn herangetragenen Vorwürfen freizusprechen sei. Seine Absichtserklärung ist der Beweis der Anklage. Doch das bleibe die seltene Ausnahme. Man müsse anerkennen, dass alle Zauberbücher, die sich auf Philosophen oder andere gelehrte Männer berufen, erlogen seien. Sie wollen eine Legitimationsbasis anbieten, die in keiner Weise den Tatsachen entspreche. Gerade auf dem Gebiet der Alchemie sei diese Vorgehensweise verbreitet. Naudé kommentiert ironisch: »[. . . ] als wenn diese gelehrte Leute und hochberühmte Männer in ihren gantzen Leben sonst nichts zu thun gehabt, als Kohlen anzublasen, Holz anzulegen, in Mörsern zustossen, oder Circkel, Charakteres und Beschwerungen zumachen [. . . ].«152 Das Fundament oder die Ursache aller Anklagen, so lässt sich zusammenfassen, ist die Übertreibung, sei es der Größe nach oder dass aus einer zufälligen Meinung eine unstrittige Wahrheit gemacht wird. Es sind in der Regel »nichts-würdige [. . . ] Begebenheiten« aus denen »wundersame und denckwürdige Historien«153 gemacht werden. Dass Lessing dieses Buch interessiert haben dürfte, ist anzunehmen. Hat er es aber auch gekannt? Es gibt die in der Lessing-Forschung beliebte und verbreitete Annahme, dass Werke, mit denen er übereinstimmte, nicht expressis verbis von ihm genannt werden. Falsch ist diese Annahme nicht, aber in der Argumentation oft zu vereinfachend. Bei Naudés Apologie lassen sich immerhin die Hinweise auf eine Bekanntschaft mit dem Werk verdichten, ohne auch hier ein direktes Rezeptionszeugnis liefern zu können. Grundsätzlich kannte Lessing den französischen Gelehrten. In dem von Paul Raabe rekonstruierten Büchernachlass findet sich neben einer Cardano-Ausgabe und Handschriften von Leibniz auch eine kleine Handschrift Naudés: Collation de deux éditions de jugement de tout ce qui a été imprimé contre le Cardinal Mazarin.154 Diese Handschrift bezieht sich auf eine Art Rettung, die Gabriel Naudé für seinen früheren Dienstherrn verfasst hatte und in
151 Auf diesen neuralgischen Punkt verweist auch Lessing mehrfach in seinen Rettungen, explizit an der Person Johann Vogts und seines Verzeichnisses rarer Bücher festgemacht. Wir haben es hierbei mit einer deutlichen Kontinuität innerhalb der Gattung zu tun. 152 Naudé / Reich (1704), S. 44. 153 Ebd., S. 47 154 Verzeichnet unter der Nummer 298 in Raabe, Paul; Strutz, Barbara (Hgg.): Lessings Büchernachlaß. Verzeichnis der von Lessing bei seinem Tode in seiner Wohnung hinterlassenen Bücher und Handschriften. Göttingen 2007, S. 90. Ferner war Lessing mit Sicherheit mit der Person Nau-
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zwei Editionen vorlag.155 Dieser Umstand aus Lessings letzten Lebensjahren verrät nichts über die Wittenberger Zeit, um die es hier gehen soll. Dennoch ergeben sich Hinweise, die eine Bekanntschaft wahrscheinlich machen. Naudé war Herausgeber der Werke Hieronymus Cardanos. Insbesondere die von ihm besorgte Ausgabe von De propria vita liber, zuerst 1643, dann nach Naudés Tod noch einmal 1654 in Paris erschienen, hat Lessing aller Wahrscheinlichkeit nach schon in jungen Jahren gekannt. Carl Friedrich Cramer berichtet uns sogar: »Lessing sagte einmal in einer Gesellschaft, in der ich war: unter allen Büchern auf Erden hätte ihn keines mehr interessirt [!], als die eigne Lebensbeschreibung des wunderlichen Cardan.«156 Aber zu weiteren Parallelen: Die Gegenstände, mit denen sich Naudé und auch Lessing in seiner Wittenberger Zeit beschäftigten, sind sich äußerst ähnlich. So beginnt die Apologie mit einem Hinweis auf Juan Huarte und dessen Einteilung der intellektuellen Fähigkeiten. Diejenigen, die sich schriftlich über die Zauberei äußern, fallen mit ihrer »närrische[n] Schreibart«157 unter die »dummen Schöpfen-Köpffe [. . . ] des Philosophi Huarti [. . . ], welche als die Schafe des Cingari den Kahn der Warheit freywillig verlassen / und sich eines nach den andern ins Meer der Lügen stürtzen«158 Die Klientel ist bei Lessing und Naudé die gleiche, sowohl unter den Anklägern als auch unter den Angeklagten. Breiten Raum nehmen bei Naudé Cardanus und Cochläus ein, zwei der Geretteten Lessings. In der Folge der Ausführungen kommt weiteres Personal hinzu, das auch Lessing im Verlauf seines Schaffen beschäftigen sollte, der Berengarius ebenso wie Wissowatius. Am deutlichsten – wenngleich am diffusesten zu belegen – tritt eine mögliche Orientierung Lessings an Naudé in methodischer Hinsicht zutage. Seine Ausrichtung auf philologische Grundlagenarbeit in der Verteidigung verfemter Personen und eine Rehabilitierung mit Mitteln der Textkritik ist durch Naudé stilbildend für die gesamte Historia literaria geworden.159 Die Apologie ist
dés vertraut und seiner Schrift zum Bibliothekswesen, die als grundlegender Text zur Materie ebenfalls als bekannt vorausgesetzt werden kann. 155 Beide Ausgaben des Jugement de tout ce qui a esté imprimé contre le cardinal Mazarin: depuis le sixième Janvier jusques à la déclaration du premier Avril 1649 stammen aus dem Jahr 1650, die eine umfasst 718 Druckseiten in 4° und die andere 492 S. in 8°. Bei ersterer handelt es sich allem Anschein nach um einen anonym erschienenen Raubdruck. 156 Zitiert nach D, S. 323. Den Kontext dieser Unterhaltung bildet ein Besuch Cramers in der Wolfenbüttler Bibliothek Mitte Mai des Jahres 1772. Siehe hierzu A (2005), Bd. 1, S. 284. 157 Naudé / Reich (1704), S. 13. 158 Ebd., S. 13f. 159 Siehe hierzu ausführlich Anette Syndikus: Philologie und Universalismus: Gabriel Naudés enzyklopädische Schriften und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum. In: Thouard, Denis; Vollhardt, Friedrich; Mariani Zini, Fosca (Hgg.): Philologie als Wissensmodell – La philologie comme modèle de savoir. Berlin 2010 (P & A 20), S. 309–343.
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meiner Ansicht nach einer der Schlüsseltexte des 17. Jahrhunderts, deren Rezeption und Auswirkungen bei Weitem noch nicht in gebührendem Maße untersucht sind. Selten reicht der Blick der Forschung zu deutschen Aufklärern des mittleren und späten 18. Jahrhunderts hinter Pierre Bayle zurück, der an Radikalität einen gerade noch vertretbaren Status mit sich bringt. Die Vertreter des libertinage érudit hingegen rücken kaum ins Sichtfeld der Forschung, dabei sind hier, jenseits atheistischer Pamphletliteratur, Quellen verborgen, deren Auswirkungen zu untersuchen sich lohnen würde, zumal sie oftmals den Positionen und Überzeugungen der späteren deutschen Aufklärung näher sind als man gemeinhin vermuten würde. Es ist die anfangs angesprochene Schnittstelle, an der die Schriften des jungen Naudé in der Entwicklung europäischer Geistesgeschichte anzusiedeln sind und von dort ihre Wirkung entfalten. Trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer Teilhabe an humanistischen Traditionen weisen sie vom ersten Drittel des 17. Jahrhunderts voraus auf das, was uns in bestimmten Bereichen im weiteren Verlauf des Jahrhunderts und darüber hinaus erwartet.
3.2.2.2 Kompendiöse Rettungen? Gottfried Arnold und Pierre Bayle Wann immer die Forschung auf die Suche nach »unmittelbaren Vorgängern«160 für Lessings Rettungen geht, kommen zwei Personen unweigerlich ins Spiel: Gottfried Arnold und Pierre Bayle. Nun sind die Unpartheyische Kirchen und Ketzerhistorie161 und das Dictionnaire historique et critique162 zwei Werke von solcher Wirk-
160 N, S. 184. 161 Die Literatur zu Gottfried Arnold und insb. zur Kirchen- und Ketzterhistorie (KKH) ist entsprechend der Bedeutung des Werkes kaum mehr überschaubar. Ich nenne hier ein Standardwerk und mehrere neuere Annäherungen an Werk und Kontext, dort findet sich weiterführende Literatur. Immer noch grundlegend ist Erich Seeberg: Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Darmstadt 1964 (Repr. der Ausg. Meerane 1923). Eine detaillierte Analyse der in der KKH vertretenen Positionen, die vor allem den Abstand zur Frühaufklärung herausarbeitet, findet sich bei Andreas Urs Sommer: Geschichte und Praxis bei Gottfried Arnold: In: Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 54 (2002), H. 3, S. 210–243. Die Entwicklung Arnolds bis zur KKH und eine diskursgeschichtliche Einordnung unternimmt Stephan Buchholz: Historia Contentionis inter Imperium et Sacerdotium. Kirchengeschichte in der Sicht von Christian Thomasius und Gottfried Arnold. In: Vollhardt, Friedrich (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 165–177. 162 Noch umfangreicher als zu Gottfried Arnold ist die Literatur zu Pierre Bayle, der in den letzten knapp zwanzig Jahren vermehrt ins Blickfeld auch der deutschen Forschung rückte. Als erste Annäherung und Überblick bietet sich an: Lothar Kreimendahl: Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. In: ders. (Hg.): Hauptwerke der Philosophie, Rationalismus und Empirismus. Stuttgart 1994, S. 314–350. Ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Annäherung bietet das Themenheft »Die Philosophie in Pierre Bayles ›Dictionnaire historique et critique‹.« Hg. von
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mächtigkeit am Ende des 17. Jahrhunderts, dass man Einflüsse für einen Großteil der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfassten Schriften auf die ein oder andere Weise nahelegen kann. Es fehlt in beiden Fällen nicht an affirmativer Zustimmung wie an Kritik. So richtig diese Zuschreibung im Falle Lessings sein mag, so sagt sie doch wenig mehr aus, als dass in allen drei Fällen eine Art Verteidigung stattfindet. Die Art und Weise ist dabei allerdings höchst unterschiedlich. Ich werde im Folgenden daher zunächst versuchen, die Unterschiede herauszuarbeiten und aufgrund dieser größeren Differenzierung zu verbleibenden Gemeinsamkeiten und möglichen Einflussbeziehungen zu kommen. Beginnen wir mit Gottfried Arnold. Lessing kam wohl schon früh mit der Kirchen- und Ketzerhistorie in Berührung, zählte sie doch zum Bestand der Bibliothek der Fürstenschule in Meißen.163 Arnolds Versuch Kirchengeschichte zu schreiben, führte zu einer Abrechnung mit einer an die Institution Kirche gebundenen Form der Historiographie und kehrte die bisherige Auffassung von Rechtgläubigkeit in ihr Gegenteil.164 Sucht man nach dem wahren Christentum, darf man nicht auf die Geschichte der Amtskirche blicken, sondern man findet die getreuliche Überlieferung der Religion Christi ausschließlich im Umkreis der als Ketzer gebrandmarkten Gruppen und Personen. Die Institution Kirche entfernte sich seit den Zeiten Konstantins allmählich und kontinuierlich immer weiter vom wahren Glauben. Ihre Geschichte ist eine Verfallsgeschichte, die Hand in Hand geht mit der Verfolgung der wahrhaft Gläubigen – so Arnold. »So gesehen muß naturgemäß die apologetisch-individuelle Behandlung der Ketzer zum zentralen Strukturprinzip einer solcherart relativierenden Geschichtsbetrachtung werden.«165 Der Ketzer steht aufgrund der von ihm ertragenen Leiden in der Tradition
Lothar Kreimendahl (Aufklärung 16 (2004)). Über die Teilhabe Bayles am Erbe des französischen Libertinismus und damit auch in Anknüpfung an den zuvor behandelten Gabriel Naudé informieren David Wootton: Pierre Bayle, Libertine? In: Stewart, Michael Alexander (Hg.): Studies in seventeenth-century European philosophy. Oxford 1997 (Oxford studies in the history of philosophy 2), S. 197–226; sowie Ruth Whelan: The wisdom of Simonides: Bayle and La Mothe Le Vayer. In: Popkin, Richard Henry; Vanderjagt, Arjo (Hgg.): Scepticism and irreligion in the seventeenth and eighteenth centuries. Leiden u. a. 1993 (Brill’s studies in intellectual history 37), S. 230–253. 163 Döring (1998), S. 28. 164 Für eine allgemeine Einordnung der Versuche Arnolds in die zeitgenössischen Bemühungen siehe Thomas Ahnert: Historicizing Heresy in the Early German Enlightenment: ›Orthodox‹ and ›Enthusiast‹ Variants. In: Laursen, John Christian; Nederman, Cary J.; Hunter, Ian (Hgg.): Heresy in Transition. Transforming Ideas of Heresy in Medieval and Early Modern Europe. Burlington, VT 2005 (Catholic Christendom, 1300–1700), S. 129–142. 165 Eitel Timm: Ketzer und Dichter. Lessing, Goethe, Thomas Mann und die Postmoderne in der Tradition des Häresiegedankens. Heidelberg 1989 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 88), S. 17.
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Christi und damit unbedingt auf Seiten der Wahrheit, mehr sogar: für Gottfried Arnold wird Verfolgung zum Garant der Rechtgläubigkeit.166 Dementsprechend gliedert Arnold seine Ketzergeschichte, die nichts weniger beansprucht, als die Feinde der Wahrheit zu beschämen und am Ende vielleicht sogar zu überzeugen. Dafür geht er einzeln durch die Jahrhunderte, um in den Verfolgten – gleich ob einzelne Personen oder ganze Gruppen – das wahre Christentum darzustellen und zu retten. Doch wie geht diese Rettung vonstatten? Das Prinzip ist einfach, wie schon angesprochen: Man suche die Unterdrückten. Gunnar Decker schließt aus diesem doch sehr simplen Prinzip, dass Lessing Arnold nicht schätzte: »Er sieht in Arnold einen Extremisten, der das Häretische (und damit die Einseitigkeit) verabsolutiert und so der Wahrheit schlechte Dienste erweist.«167 Und doch eignet er sich, zumindest kurzzeitig, dessen Argumentationsfigur einer Verfallsgeschichte an.168 Wie passt das zusammen? Die »antimetaphysische Spitze der eklektischen Philosophie«,169 wie sie uns in der überkonfessionellen, auf die Praxis der Religionsausübung gerichteten Denkweise Arnolds begegnet, hat mit Sicherheit Lessings Zustimmung gefunden. Die Art und Weise allerdings, wie Arnold diese Methode verabsolutierte, schien nicht akzeptabel. Wahrheitsfähig ist allein das, was sich der Kritik unterwirft. Und entgegen aller Beteuerungen Arnolds, »unpartheyisch«, wie der Titel nahelegt, ist seine Kirchen- und Ketzerhistorie nicht. Arnolds groß angelegter Angriff auf die Dogmatik endet in seiner Radikalität in ebenso dogmatischen Positionen. Die zur Verteidigung angeführten historischen Fakten verkommen zum Zierrat einer bereits vor der Prüfung anerkannten Wahrheit. Doch treten wir nochmal einen Schritt zurück und setzen an einer anderen Stelle an. Auf welcher Grundlage bildete Arnold seine Urteile? Die »nicht seltenen vernunftkritischen Passagen«170 in Arnolds Werken wurden im Zuge einer Lesart, die den Autor an die Aufklärung anbinden wollte, oftmals marginalisiert. Dabei
166 Andreas Urs Sommer spricht von einer »umgekehrten Hermeneutik des Verdachts: Die Herkömmlichen Verdächtiger sind selber des Abfalls verdächtig, die herkömmlich Verdächtigten dagegen die Heroen der Unschuld.« Sommer (2002), S. 220. 167 Gunnar Decker: Gottfried Arnold zwischen Mystik und Aufklärung. In: Beetz, Manfred; Cacciatore, Giuseppe (Hgg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln / Weimar / Wien 2000 (Collegium Hermeneuticum 3), S. 155–165, hier S. 161. 168 So ganz ausdrücklich in der kleinen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Schrift Gedanken über die Hernnhuter. Siehe hierzu ausführlich das Kapitel 4.4 zur Rettung des Inepti Religiosi. 169 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt am Main 1988, S. 36. 170 Sommer (2002), S. 227.
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hat [. . . ] der Antirationalismus bei Arnold so sehr Methode, daß die Lektüre seiner Schriften alle, die ihn für moderne Wissenschaftlichkeit zu reklamieren gedenken, vor den Kopf stößt. Der Hiatus zwischen Glaube und Vernunft ist in Arnolds Augen unüberwindlich – letztere steht für die Korruption der menschlichen Natur, deren Weisheit Gott eine Torheit ist.171
Die scheinbare Modernität, die uns aus den Werken Arnolds entgegenstrahlt, verdankt sich in erster Linie der Verteidigung Andersdenkender und der daraus resultierenden Forderung nach religiöser Toleranz.172 Die Basis dieser Denkweise wird aus einer modernen Warte, also nach der Aufklärung, leicht verkannt.173 Wer Arnolds Modernität rühmt, übersieht dabei leicht, daß dessen aggressiver Fideismus wenigstens in der Theorie der Vernunft und damit historischer Wissenschaftlichkeit viel unbedingter entgegengesetzt war als die Orthodoxie, gegen die Arnold polemisiert: Denn daß Räsonieren überhaupt in das Christentum Einzug gehalten hat, ist das Erzübel, das Arnold auch in der Kirchen- und Ketzerhistorie zu geißeln nicht müde wird.174
Hatte sich die Orthodoxie einem historischen Zugang zu bestimmten Gebieten des Glaubens geöffnet, präferierte Arnold einen »mystischen Indifferentismus«,175 der mithilfe einer kritisch verstandenen Form von Historiographie nicht einzuholen war. Gerade die Betonung des Überzeitlichen und Universellen sicherte die Begründung von Religion. Nur aus diesem Verständnis heraus können Ketzer, Arnold spricht bewusst nicht von Häretikern,176 über die Jahrhunderte als Garanten für Rechtgläubigkeit gesehen werden. Zweifelsohne entsteht aus der Teilhabe am
171 Ebd. 172 Dass es Arnold gerade nicht um die Duldung Andersdenkender ging, bezeugen seine Angriffe und Ausfälle gegen Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Als Antipode von Lessings Vater war er eben sowenig auf Toleranz erpicht wie jener. 173 Wenig überzeugend, zumindest aus Sicht der Zeitgenossen, scheint mir auch Fred Ehrmanns Versuch, Konzepte der natürlichen Religion mit Vorstellungen eines pietistisch interpretierten liber-naturae-Begriffs über Dichtung wieder einzuholen. In der pietistischen Nähe zur Natur eine Vorgänger-Figur zur natürlichen Religion zu sehen, überzeugt nicht. Selbst wenn dem so wäre, hätte es für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand keine Relevanz. Die später zur Sprache kommenden Konzepte einer natürlichen Religion bei Lessing speisen sich aus anderen Quellen. Fred Ehrmann: Gottfried Arnold and the Idyllic Imagination: Nature as Individual Religious Experience. In: Lessing Yearbook 28 (1996), S. 163–179. 174 Sommer (2002), S. 228. 175 Otto F. Best: Noch einmal: Vernunft und Offenbarung. Überlegungen zu Lessings »Berührung« mit der Tradition des mystischen Rationalismus. In: Lessing Yearbook 12 (1980), S. 123– 156, hier S. 142ff. 176 Es soll sich keine Konnotion ergeben, dass eine Auswahl in einer bestimmten Richtung hätte stattfinden können.
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Universellen der Religion eine Forderung nach Toleranz, die aber in der Form wie sie Arnold vertritt, schwer zu begründen ist. Eine Hierarchisierung von Wahrheiten ist kaum noch möglich. Für den jungen Lessing der Wittenberger Zeit war dieser Weg noch undenkbar, hatte ihm doch sein eigener Vater in seiner Dissertation alle argumentativen Schwächen eines Arnolds und eines Dippels aufgezeigt. Aber die argumentative Überlegenheit des Vaters mag vielleicht nicht der letzte Ausschlag gewesen sein, allein der Umstand, dass Toleranz auf diesem Wege offensichtlich nicht möglich war, das zeigt die erbitterte Gegnerschaft des Vaters allemal, dürfte wohl gereicht haben dieses Konzept zu verwerfen. Einige Jahre später sollte Lessing dann doch darauf zurückgreifen – wir werden in Zusammenhang mit der ungeschriebenen Rettung Johann Konrad Dippels darauf zurückkommen – und es sollte sich als nicht so unwirksam erweisen. Die Erziehung des Menschengeschlechts und auch die Berengar-Schrift standen unter anderen Vorzeichen, die sich aus Lessings Spinoza-Lektüre ergeben. Noch aber orientierte sich der junge Lessing an anderen Gestalten. Der Einfluss Arnolds auf die frühen Rettungen war, abgesehen von der Fixierung auf historische Personen,177 aus den genannten Gründen in formaler Hinsicht eher marginal, wenngleich auch bisweilen inhaltliche Überschneidungen nicht zu leugnen sind.178 Weitaus größer war der Einfluss Pierre Bayles, wenngleich auch hier differenziert werden muss. Ernst Cassirers Diktum, dass Bayles Dictionnaire »die eigentliche Rüstkammmer der gesamten Aufklärungsphilosophie«179 sei, ist oft zitiert und allseits bekannt. An der Spezifikation dieser Aussage und deren Bedeutung wird indes weiter gearbeitet. Auf zwei Beobachtungen Cassirers lohnt es sich dennoch in unserem Zusammenhang – ungeachtet der neueren Forschung – einzugehen. Die eine betrifft die Form, die andere die Methode. Zunächst also zur Form: Es ist kein Zufall, daß er [Bayle] für seine kritische Arbeit die Form des ›Dictionnaire historique et critique‹, die Form des Wörterbuchs gewählt hat. Denn das Wörterbuch läßt, entgegen dem Geist der Über- und Unterordnung, der die rationalen Systeme beherrscht, den Geist der bloßen Nebenordnung am reinsten hervortreten. In ihm gibt es keine Hierarchie
177 Es wird in der Forschung gerne erwähnt, dass sowohl Arnold als auch Lessing Luther menschliche Schwächen unterstellt haben. So bei N, S. 183. Die Gründe hierfür könnten aber gegensätzlicher nicht sein. Zielte Arnold auf die Kirche als Institution, für die Luther stellvertretend steht, strich Lessing die menschliche Seite Luthers heraus, um ihn vor einer Identifikation mit der Kirche geradezu zu schützen und einige anthropologische Beobachtungen zum Vorteil Luthers anzustellen. Siehe hierzu auch das Kapitel 4.5 zur Rettung des Chochläus. 178 Ein weiteres Distinktionskriterium wäre die wohl je unterschiedliche Art des Skeptizismus, die beiden zugrunde liegt – eine Aufgabe, die hier nicht geleistet werden kann. 179 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung [1932]. Hamburg 2007 (Philosophische Bibliothek 593), S. 174.
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der Begriffe, keine deduktive Ableitung des einen aus dem anderen; sondern in ihm gibt es ein einfaches Beisammen von Materien, deren jede der anderen gleichbedeutend ist und sich mit ihr in den Anspruch auf vollkommene Darstellung und erschöpfende Behandlung teilt.180
Neben der Enthierarchisierung und Gleichordnung der Gegenstände, die im Falle des Dictionnaires in der Regel Personen sind, gilt es insbesondere auf die »vollkommene Darstellung« und die »erschöpfende Behandlung« hinzuweisen. Durch eine polyperspektivische Betrachtung der Gegenstände, die primär durch Bayles bisweilen ausufernde Verwendung von Fußnoten und Anmerkungen gewährleistet wird,181 soll ein Thema er- und abgeschlossen werden. Dass dieses zum größten Teil aus »Fußnoten« und »Fußnoten zu Fußnoten« bestehende Werk »nur eine dünne und brüchige Kruste aus Text [bietet], auf der der tiefe, dunkle Morast des Kommentars zu überqueren ist«,182 führt zwar einerseits zu der angestrebten Vollständigkeit in Behandlung des vorgenommenen Themas, andererseits aber auch in einen immer tiefer werdenden »Abgrund der Gelehrsamkeit«.183 Die Zielvorstellung, ein Thema erschöpfend zu bearbeiten, geht einher mit dem Verlust von Prägnanz. Das einzelne Statement verliert sich in der Weite des aufgespannten Raumes. Aneignen lässt sich das im Wörterbuch versammelte Wissen nur schwer, es bleibt in erster Linie, wenngleich es im 18. Jahrhundert auch wirklich gelesen wurde, ein Nachschlagewerk. Unter rein formalen Gesichtspunkten – das gilt es zu betonen – sind es also nicht die Rettungen Lessings, die dem Bayleschen Wörterbuch nahestehen. Sie kommen gänzlich ohne den großen Fußnotenapparat und weitschweifige Kommentare aus. Vielmehr hat sich Lessing in einem anderen, schnell wieder aufgegebenen Projekt, der Verbesserung des Allgemeinen Gelehrtenlexikons Christian Gottlieb Jöchers in der Vorgehensweise Bayles versucht.184 Dort unternimmt er auch, was er in den Rettungen explizit ablehnt: die »Andacht zum Kleinen«185 mit dem Ziel der Abgeschlossenheit und Vollständigkeit. Wie aber erreicht man das Ziel? Auf dem Gebiet der Methodik gibt es weit größere Konvergenzen. »Nirgends zuvor«, so Cassirers zweite fruchtbar zu machende Beobachtung, »war mit solcher Strenge und Unerbitterlichkeit, mit sol-
180 Ebd., S. 211. 181 Für die Bedeutung der Fußnote bei Bayle siehe Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995, insb. S. 189ff. 182 Ebd., S. 191. 183 Ebd., S. 189. 184 Zu diesem Projekt siehe WuB 2, S. 1035–1038. Eine genauere Aufarbeitung des Vorhabens durch die Forschung steht noch aus. 185 Cassirer ([1932] 2007), S. 212.
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cher minutiösen Genauigkeit die Kritik der Überlieferung durchgeführt worden. In der Aufspürung ihrer Lücken, ihrer Dunkelheiten, ihrer Widersprüche ist Bayle unermüdlich.«186 Diese innovative Herangehensweise besteht, »so paradox es klingen mag, nicht in der Entdeckung des Wahren, sondern in der Entdeckung des Falschen.«187 Die Vorgehensweise, sich einer gesicherten Basis des Wahren über die Eliminierung von Irrtümern zu nähern, ist in diesem Ausmaß das Neue bei Bayle und seinem Dictionnaire. Das »Problem historischer Objektivität«188 erfährt in dieser Methode die Umkehrung seiner bisherigen Voraussetzungen. Nicht mehr das schon immer Gewusste, das Dogmatische, bildet den Ausgangspunkt, sondern die beseitigten Irrtümer werden zur neuen Voraussetzung für Wissen. Nicht wenige sehen in diesem Akt die Erhebung der Beschäftigung mit dem Historischen in den Stand einer Wissenschaft.189 An diese Entwicklung knüpft Lessing an. Die Verabschiedung einer dogmatischen Rechtfertigungsposition zugunsten des historischen Zweifels, der Irrtümer zuallererst entdeckt und aufgrund dessen mit akribischer Detailarbeit Fehler korrigiert werden können,190 wird weite Teile der Aufklärung bestimmen. Bayle will keinen einzigen (historischen) Irrtum bestehen lassen, was zu einer immer weiter führenden Spezialisierung und damit auch Entfernung vom eigentlichen Gegenstand führt.191 Dass sich dies mitunter bis hin zum Klatsch, der in der Gelehrtenrepublik zirkulierte, erstrecken kann, wird oftmals gütlich übersehen. So wie die Auswahl der Artikel bisweilen den Anschein erweckt, mehr vom Interesse des Verfassers geleitet zu sein als vom
186 Ebd., S. 214. 187 Ebd. 188 Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Einleitung. In: Bayle, Pierre: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Übers. und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Hamburg 2003 (Philosophische Bibliothek 542), S. IX–LVI, hier S. XIII. 189 Als prominente Beispiele seien hier nur Cassirer ([1932] 2007), S. 216, der Bayle als die »kopernikanische Drehung« in der Geschichtswissenschaft ansieht oder Grafton (1995), S. 196 genannt. 190 Zu Bayles Arbeitsweise siehe Markus Völkel: Bayles Umgang mit seinen Quellen. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jb. zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 16 (2004), S. 37–48. 191 »Das Hauptproblem [bei historischen Werken, M. M.] sei die Parteilichkeit, etwa die der Spanier oder der Katholiken, die die Erfolge der eigenen Partei aufbauschten und die Mißerfolge minimierten. Bayle schloß sich dieser Auffassung an und ging sogar so weit zu sagen, er lese moderne Historiker, um sich über ihre Vorurteile und weniger über Fakten zu informieren. Das Problem von Parteilichkeit, Interesse oder Voreingenommenheit war tatsächlich eines der wichtigsten Themen, die im 17. Jahrhundert in Traktaten über die Geschichtswissenschaft behandelt wurden.« Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2 2002, S. 232.
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Interesse an Erkenntnissen, so kann es der Anlage der Artikel selbst ergehen. Mitunter findet man die grundlegensten Informationen, die man erwarten dürfte, nicht,192 dafür aber allerhand Kurioses oder das Thema nur – wohlwollend formuliert – am Rande Berührendes. Dieser Umstand resultiert nicht zuletzt aus der Richtigstellung der Irrtümer, was umgekehrt bedeutet, dass Wissen, das andernorts korrekt wiedergegeben ist, nicht erneut aufgeführt werden muss. All das sind Aspekte, die für eine Verteidigung nicht unbedingt zweckdienlich sind, ›verschenkt‹ man doch Punkte, die für die Stützung einer, so sie denn vorhanden wäre, eigenen Position nützlich wären. Bayle, so kann man folgern, geht es gar nicht darum seine Gegenstände (also die Personen oder Personengruppen), von denen seine einzelnen Artikel handeln, stark im Sinne einer Verteidigung zu machen. Die bloße Darstellung der Sachlage überwiegt eine wie auch immer geartete aus dem Dargestellten resultierende Beurteilung.193 Daraus zu schließen, dass moralische Belange grundsätzlich unthematisiert bleiben, wäre dennoch falsch. Die Beurteilung findet sich auf einer zweiten Ebene, die zu erschließen sich äußerst schwierig gestaltet. Was war, so die viel diskutierte Frage in der Literatur, Bayles eigene Position? Schon ein kursorischer Blick in die Forschungsliteratur verrät, dass die Antwort darauf keine einheitliche ist und vielleicht auch nicht sein kann. Wird nun der Philosoph Bayle194 unterschätzt oder der Theologe Bayle?195 In der hier gebotenen Kürze ist es hilfreich einen Schritt zurückzutreten und weniger auf inhaltliche Tendenzen in Bayles Werk als vielmehr auf die Grundlage seiner Fragestellungen einzugehen. Unbestritten steht Bayle in der Tradition des französi-
192 Hugh Barr Nisbet fasst treffend zusammen: »It is a biographical dictionary, with alphabetical articles, and concentrates not on crowned heads and illustrious figures of public life, but on scholars, writers and men of religion, often of the most obscure identity. There are no articles, for example, on Homer, Plato, Sophocles, Augustus, Aquinas, Montaigne, Racine, or Richelieu. A few Old Testament figures and semi-legendary saints are included, but there are no articles on New Testament figures, apart from St. John. Even Moses and Jesus Christ are absent, although Mohammed is treated at length.« Hugh Barr Nisbet: Lessing and Pierre Bayle. In: Wilkinson, Elizabeth Mary u. a. (Hgg.): Tradition and creation. Essays in honour of Elizabeth Mary Wilkinson. Leeds 1978, S. 13–29, hier S. 13. 193 Nisbet spricht sogar von einem vollständigen »suspense of judgement«. Ebd., S. 14. 194 »Pierre Bayle (1647–1706) ist ein hierzulande wenig bekannter und zudem stark unterschätzer Philosoph. Man kennt ihn als Polyhistor [. . . ].« So Lothar Kreimendahl in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Themenheft Aufklärung 16 (2004), S. 5. 195 Siehe hierzu Nicola Stricker: Die maskierte Theologie von Pierre Bayle. Berlin u. a 2003 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 84). Eine Kurzfassung hiervon in dies.: Die Theologie Bayles im »Dictionnaire historique et critique«. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jb. zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 16 (2004), S. 111–135.
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schen Skeptizismus.196 Auch wenn es nach dem bisher Dargestellten naheliegend erscheint, dass im Dictionnaire eine pyrrhonische Spielart des Skeptizismus die Oberhand behält, gilt es weiter zu differenzieren. Auf oder gegen was richtet sich die Skepsis? Zunächst einmal auf sich widersprechende Darstellungen überlieferter ›Wahrheiten‹, sofern diese im Feld des Historischen angesiedelt sind. Es handelt sich also um keine rein destruktive Form der Skepsis, die von vornherein alles für unentscheidbar hält. Diese Auffassung würde der Eliminierung von Irrtümern geradezu entgegenlaufen. Entscheidbarkeit ist eben in den meisten Fällen gegeben und die grundsätzliche Voraussetzung für die Möglichkeit von Kritik schlechthin. Kritik greift aber nicht auf allen Gebieten, sie ist nicht überall mit Gewinn einzusetzen. Im bayleschen Verständnis von Kritik fällt alles, was unter dem Begriff der Offenbarungswahrheiten versammelt wird, aus dem Bereich ihrer und damit auch seiner eigenen Zuständigkeit. Lediglich Vernunftwahrheiten sind der Kritik unterworfen. Der komplette Bereich des Religiösen entzieht sich der Kritik und ist damit, in einem strengen Sinne, nicht im gleichem Maße wahrheitsfähig wie die Geschichte. Die generelle Unentscheidbarkeit zeitigt mindestens zwei mögliche Folgen. Die erste wäre ein dezidierter Atheismus, der auf Gründen der Vernunft fußt. Für den Mehrfachkonvertiten Bayle scheint das keine befriedigende Lösung gewesen zu sein, was sowohl seine Zeitgenossen als auch die moderne Forschung nach Auswegen suchen ließ. Die eleganteste, weil auch naheliegenste Lösung ist, Bayle als Fideisten zu sehen. Man ordnet die Offenbarungswahrheiten den Vernunftwahrheiten vor und vermeidet so eine Interaktion der beiden nun strikt getrennten Bereiche. Aus der Indifferenz, die der Fideismus mit sich bringt, resultiert als Nebeneffekt eine Form religiöser Toleranz, die sich ob der Unentscheidbarkeit auf alle denkbaren Spielarten von Religion erstreckt. Die Kehrseite allerdings ist, dass »[d]er Glaube, den Bayle empfiehlt, [. . . ] in seiner praktischen Bedeutung ausgehöhlt [wird] und [. . . ] schließlich in so weite Ferne [rückt], daß er als Handlungs- und Orientierungsmaßstab völlig wirkungslos wird.«197 Kreimendahl sieht in diesem Umstand trotzdem die »notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit von Toleranz«.198 Aber, so muss man fragen, welche Art Toleranz ergibt sich aus dieser Überlegung? Zweifelsohne eine recht schwache Form, die eher auf Duldung denn auf Anerkennung hinauslaufen
196 Exemplarisch hierfür und mit weiterführender Literatur Richard H. Popkin: The high road to Pyrrhonism. Indianapolis 1993 (Repr. der Ausg. San Diego 1980), S. 149–159. 197 Lothar Kreimendahl: Das Theodizeeproblem und Bayles fideistischer Lösungsversuch. In: Popkin, Richard H.; Vanderjagt, Arjo (Hgg.): Scepticism and irreligion in the seventeenth and eighteenth centuries. Leiden u. a. 1993 (Brill’s studies in intellectual history 37), S. 267–281, hier S. 274. 198 Ebd.
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muss. Die für eine gegenseitige Anerkennung der Religionsparteien vorauszusetzende Vergleichbarkeit wird gerade bestritten. Somit fällt auch, und das ist in unserem Zusammenhang der gewichtigere Aspekt, eine natürliche Religion unter die gleichen Bedingungen, die für alle geoffenbarten Religionen gelten. Harry Bracken hat darauf mit Nachdruck hingewiesen.199 Seine Argumente sind es wert, gehört zu werden, nicht zuletzt um zu einem tieferen Verständnis der Toleranzdebatte im 18. Jahrhundert zu gelangen. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Laufe des 17. Jahrhunderts »pyrrhonism paradoxically becomes part of natural theology«,200 will Bracken nachweisen, dass es Bayle gerade darum ging, dies zu verhindern. Der Skeptizismus wurde, insbesondere von Seiten der Katholiken dazu missbraucht, eine vernünftige Grundlage für die eigene Dogmatik zu schaffen. Gelingen konnte dies auf der Grundlage der natürlichen Religion, die in einem zweiten Schritt mit den Geheimnissen der Offenbarung versöhnt wurde, um so für eine »acceptance for God’s Word«201 zu werben. Bayle versuchte diesem »Christian Pyrrhonism«202 zu begegnen und ihm die Grundlage zu entziehen.203 Glaubenswahrheiten und Vernunftwahrheiten sollten strikt getrennt bleiben. Auf dem Gebiet der Religion wird jeglichem Skeptizismus das Urteil verweigert.204 Die Forderung nach Toleranz resultiert lediglich aus der Unentscheidbarkeit der Position im Hinblick auf das Wahre.205 Eine moralische Konsequenz ist daraus nicht abzuleiten,206 vielmehr bleibt jeder, gleich welcher Religionspartei er angehört, seinem Gewissen verpflichtet. Diese Beobachtung ist insofern wichtig, als dass sie der Position Lessings direkt entgegensteht. In der Rettung des Hier. Cardanus sollte Lessing diese Annahme, explizit an Bayle anknüpfend, wieder aufgreifen und als unzureichend verwerfen. Zumindest der junge Lessing der Wittenberger
199 Harry M. Braken: Bayle’s Attack on natural Theology. The Case of Christian Pyrrhonism. In: Popkin, Richard Henry; Vanderjagt, Arjo (Hgg.): Scepticism and irreligion in the seventeenth and eighteenth centuries. Leiden u. a. 1993 (Brill’s studies in intellectual history 37), S. 254–266. 200 Ebd., S. 255. 201 Ebd., S. 256. 202 Ebd., S. 257. 203 Das geschieht in erster Linie in der Anm. (B) des Artikel ›Pyrrho‹. 204 Siehe hierzu auch Thomas M. Lennon: Bayle, Locke, and the Metaphysics of Toleration. In: Stewart, Michael Alexander (Hg.): Studies in Seventeenth-Century European Philosophy. Oxford 1997 (Oxford studies in the history of philosophy 2), S. 177–195. 205 Siehe als Einstieg in die Thematik Yves Bizeul: Pierre Bayle – Vordenker des modernen Toleranzbegriffs. In: Wendel, Hans Jürgen; Bernard, Wolfgang; Bizeul, Yves (Hgg.): Toleranz im Wandel. Rostock 2000 (Rostocker Studien zur Kulturwissenschaft 4), S. 67–112. 206 Zur Autonomie der Moral bei Bayle siehe Winfried Schröder: Zwei ›tugendhafte Atheisten‹. Zum Verhältnis von Moral und Religion bei Pierre Bayle. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jb. zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 16 (2004), S. 9–20.
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Zeit war ein Anhänger der natürlichen Religion und versuchte diese – seine lutherische Konfession immer im Hinterkopf – für eine Debatte um religiöse Toleranz fruchtbar zu machen.207 Es bleibt festzuhalten: Methodisch hat Lessing Anleihen bei Bayle genommen, gerade was die Eleminierung von Widersprüchen und Irrtümern auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit betrifft, in Hinblick auf die gänzliche Ausklammerung alles Religiösen hingegen differerieren die Meinungen stark und sind bisweilen sogar einander entgegengesetzt. Sowohl für Arnold als auch für Bayle lässt sich zusammenfassen: Eine unkritische Übernahme fand nicht statt, ein gewisser Einfluss ist aber ebensowenig zu leugnen. In beiden Fällen haben wir eine Kombination von inhaltlichen und methodischen Elementen, die allerdings von Lessing in eine Form gegossen wurden, die denkbar weit von der Kirchen- und Ketzerhistorie Arnolds und Bayles Dictionnaire historique et critique entfernt ist. Die in der bisherigen Forschung selbstverständlich angenommene Annahme vom direkten Einfluss hält einer differenzierten Beobachtung nur in Ausnahmen stand. Die Unterschiede überwiegen bei Weitem die Gemeinsamkeiten. Wieder näher heran an Lessings Projekt der Rettungen führt uns der nächste Fall zu Beginn des 18. Jahrhunderts.
3.2.2.3 Wie weit man es treiben kann – Arpe schreibt eine Apologie Vaninis »Ich beginne ein Unterfangen, das nicht durch den Umfang des Werkes enorm groß ist, sondern durch die Erhabenheit der Materie und die Beschäftigung mit
207 Inwiefern sich Lessing in seinem Spätwerk den baylschen Überzeugungen annäherte, müsste gesondert diskutiert werden, kann an dieser Stelle aber en detail nicht geleistet werden. Ein möglicher Weg sei hier nur schematisch skizziert: Bayles Fideismus wird im Spätwerk vermehrt zu einer Voraussetzung, die sich in einem zweiten Schritt (zumindest in Teilen) auf rationalem Wege einholen lässt. Insofern wäre eine Umkehrung der Reihenfolge in der Begründung von Religion und damit auch der Tolerierung jeweils unterschiedlicher Religionen festzuhalten. Vittorio Hösle hat diesbezüglich, wenn auch ohne Bezug zu Bayle, treffend formuliert: »Der Prozeß der rationalen Durchdringung der Religion erscheint in dieser Perspektive geradezu als Fortsetzung des Offenbarungsprozesses, in dem Gott sich den Menschen zu erkennen gibt. Lessing hat in ›Die Erziehung des Menschengeschlechtes‹ diese intellektuelle Durchdringung der Religion als deren Vollendung angesehen und gleichzeitig die These verteidigt, daß am Anfang die positive Offenbarung stehen müsse.« Vittorio Hösle: Religion, Theologie, Philosophie. In: ders.: Die Philosophie und die Wissenschaften. München 1999, S. 189–206, hier S. 198. Ein dezidierter Fideismus wäre demnach nicht wie bei Bayle der Endpunkt der Überlegungen, sondern nachgerade der notwendige Ausgangspunkt dafür. Auf die Ergebnisse Bayles aufsetzend, müsste man ein mehrstufiges Fortschreiten im Prozess der Erkenntnis, sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht, beschreiben. Der frühen Phase der Rettungen käme demnach die Funktion eines Übergangsstadiums zu, in dem Lessing noch nicht gänzlich von der bloßen Ausmerzung von Fehlurteilen emanzipiert hat.
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der verborgenen Wahrheit.« Mit diesem Satz beginnt eines der ehrgeizigsten und gewagtesten Unternehmen am Beginn des 18. Jahrhunderts. Der in Kiel gebürtige Jurist Peter Friedrich Arpe (1683–1740)208 brachte 1712 anonym eine Schrift mit dem Titel Apologia pro Jul. Caesare Vanino, Neapolitano209 auf den Markt. In dieser versuchte er den als Erzatheisten verschrienen und 1619 von der Inquisition auf dem Scheiterhaufen hingerichteten Lucilio Vanini (1585–1619) vor dem Vorwurf der Ketzerei zu retten. Ein schwieriges Unternehmen, war doch Vanini eine der am übelsten beleumdeten Figuren der jüngeren Geschichte, vielen galt er als der erste Atheist überhaupt.210 Dass sich Arpe dessen bewusst war, belegt der Rückgriff auf eine antike Autorität gleich zu Beginn, gleichsam zur Rechfertigung zitiert er Plinius: »Es ist eine beschwerliche Aufgabe, Altem etwas Neues zu verleihen, dem Neuen Gewicht, dem Unscheinbaren Glanz, dem Verborgenen Licht, dem Widerwillen Gunst und dem Zweifelhaften Glaubwürdigkeit.«211 Dementsprechend systematisch geht Arpe in seiner Verteidigung vor. Man erkennt deutlicher als in allen bisher behandelten Texten die Handschrift des Juristen. Den Einstieg bildet ein biographischer Abriss, der die Umstände der Herkunft Vaninis ebenso beleuchtet wie seine Ausbildung und seinen ersten Werdegang.212
208 Zur Biographie Arpes siehe ADB 1, S. 608f. Ferner Martin Mulsow: Freethinking in early eighteenth-century Protestant Germany: Peter Friedrich Arpe and the »Traité des trois imposteurs«. In: Berti, Sylvia; Charles-Daubert, Françoise; Popkin, Richard H. (Hgg.): Heterodoxy, Spinozism and Free Thought in Early-Eighteenth-Century Europe. Studies on the »Traité des trois imposteurs«. Dordrecht 1996 (International Archives of the History of Ideas 148), S. 193–239. Siehe jetzt auch Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin 2012, S. 106–141. 209 [Peter Friedrich Arpe:] Apologia pro Jul. Caesare Vanino, Neapolitano. ›Cosmopoli‹ [= Rotterdam] 1712. Obiges Zitat ebd., S. 1: »Opus aggredior vastum, non mole operis, sed dignitate materiae & latentis veritatis cultu.« 210 So etwa bei Gisbertus Voetius (1589–1676) und auch noch bei Jakob Friedrich Reimmann in dessen Historia universalis atheismi von 1725 (S. 370). Voetius hielt Vanini für eine der gefährlichsten Gestalten der Zeit, siehe hierzu Theo Verbeek: La demonizzazione di Vanini: Voetius, Schoock e Descartes. In: Raimondi, Francesco Paolo (Hg.): Giulio Cesare Vanini e il libertinismo. Atti del Convegno di Studi Taurisano 28–30 Ottobre 1999. Galatina 2000 (Testi e saggi 23), S. 183–201, insb. S. 189ff. 211 Arpe (1712), S. 1. 212 Nur fünf Jahre später bemühte sich David Durand, ein enger Freund Pierre Bayles, um eine ausführliche Biographie Vaninis, die bisherige Ungenauigkeiten korrigieren und diverse Leerstellen ausfüllen sollte. David Durand: La Vie et les sentiments de Lucilio Vanini. Rotterdam 1717. Für die Aktualität und Brisanz des Themas spricht auch eine bereits 1730 entstandene Übersetzung ins Englische. [David Durand]: The life of Lucilio (alias Julius Cæsar) Vanini, burnt for atheism at Thoulouse. With an abstract of his writings. [. . . ] Translated from the French into English. London 1730.
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Scheinbar generisch kommt Arpe zu Vaninis Schriften, deren Sichtung den zweiten großen Block bildet. Sie sind es dann auch, die der Verschwörung gegen Vanini den Grund bereiteten. Die Vorbereitung der Anklage durch seine Gegner gestaltete sich dabei schwierig, war doch der ansonsten pauschal immer passende Vorwurf der Magie im Falle Vaninis wenig griffig, da Vaninis eigene Schriften in eine dezidiert andere Richtung weisen.213 Es sei hier an die obigen Ausführungen zu Naudé erinnert, auf die sich Arpe explizit stützt. So zielte die Anklage auf einen falschen Gottesbegriff, denn trotz Vaninis Beteuerungen, an den trinitarischen Gott der Orthodoxie zu glauben, identifiziere er Gott mit der Natur. Dass sein angeblich aufrechter Glaube nicht mehr als ein Lippenbekenntnis gewesen sei, dessen seien sich seine Gegner sicher gewesen. Dass Gott durch die Natur bewiesen werde, kehre den physikotheologischen Gottesbeweis um, was nicht akzeptabel sei. Die daraus resultierende Verurteilung, der der nächste Abschnitt in der Darstellung Arpes gewidmet ist, gründe lediglich in der Ruchlosigkeit seiner Verfolger. Es gelte also einen Unschuldigen zu verteidigen. Die Untersuchung, ob der Vorwurf des Atheismus gerechtfertigt sei, nimmt dementsprechend den größten Teil der Apologie ein. Bevor die vorgeblichen Beweise der Anklage, achtzehn an der Zahl, einzeln widerlegt werden, kommt Arpe auf generelle Überlegungen zum Atheismusbegriff und -vorwurf. Eine Gedankenfigur möchte ich dabei herausgreifen, zum einen weil sie immer wiederkehrt in dem hier betrachteten Schrifttyp, zum anderen weil sie sich über das gesamte 18. Jahrhundert zu einer dominaten Denkfigur entwickeln sollte. Karl Eibl weist in anderem Zusammenhang auf die Methodik des Consensus hin: Der Consensus-Gedanke hat eine lange Tradition und läßt sich, wie jeder Gedanke von Adel, über die Patristik und Cicero bis auf Aristoteles zurückführen. Er ist in seiner Grundform eine Art Schnittmengen-Theorie der Wahrheit und besagt, daß bei Vorliegen unterschiedlicher Auffassungen oder Zeugnisse jedenfalls der Teil als wahr anzusehen ist, in dem diese Auffassungen und Zeugnisse übereinstimmen, sei es nun die Übereinstimmung der Zeugen vor Gericht, die des sensus communis, der anerkannten Weisen oder der Evangelien. Neues und besonderes Gewicht erhält der Gedanke seit dem Beginn der Konfessionskämpfe und der verstärkten Konfrontation mit fremden Glaubenswelten.214
213 So ist Vanini in seinen Bezügen auf Aristoteles seinen Gegnern allzu verwandt, als dass dieser Vorwurf stichhaltig gemacht werden könnte. 214 Karl Eibl: Consensus. Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts als Kompositionsprinzip Goethescher Gedichtsammlungen. In: Kablitz, Andreas; Schulz-Buschhaus, Ulrich (Hgg:): Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König. Tübingen 1993, S. 29–42, hier S. 36. Eibl verweist zur Geschichte des Consensus-Gedankens auf Klaus Oehler: Der »Consensus omnium« als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. In: Antike und Abendland 10 (1961), S. 103–129.
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Auch Peter Friedrich Arpe bediente sich dieser Argumentationsfigur und bildete Consensus-Reihen, um diejenigen Teilwahrheiten herauszustellen, die entlastend wirken können. Ausgehend von der allgemeinsten Frage, was denn ein Atheist überhaupt sei,215 beginnt er seine Zusammenstellung: Wie unangefochten wurden die äußerst unschuldigen Männer Erasmus, Melanchthon, Luther und Calvin Atheisten genannt, die den Aberglauben bekämpften, der das Innerste Wesen der klösterlichen Herrschaft war. Was soll ich über die Kardinäle Peter Bembus, Cajetanus und Perronius sagen? Was über Francesco Poggio, Laurentius Valla, Peter Pompanatius, H. Cardanus, Th. Campanella, Paulus Jovius, Joanne Petitus, oder Politanus, Hermolaus Barbarus, Guiliemus Postellus? Was über Muretus, Justus Lipsius, Joanne Bodinus? Was über Cartesius? Was über Robert Fluddius, einen sehr abergläubigen Mann? Was über Thomas Brown? Was über Grotius, Hobbes, Puffendorf, Thomasius und die unzähligen anderen, die des Atheismus angeklagt werden.216
Man erkennt deutlich Arpes Strategie. Der Kreis derer, die des Atheismus verdächtigt oder angeklagt wurden, wird derart ausgeweitet, dass die gesamte intellektuelle Elite betroffen ist. Vor der angeführten Stelle spielte er das nämliche Spiel mit antiken Autoritäten. Die erste Folge dieses Prozederes ist, dass man dem Angeklagten das stigmatisierende Alleinstellungsmerkmal entzieht. Es ist eben nicht dieser eine ungeheure Fall, in dem das Urteil schnell festzustehen scheint. Mit einem Mal steht die Möglichkeit des Irrtums und damit des Fehlurteiles im Raum. Urteile sind weit weniger treffend, je allgemeiner sie sind. In der oben angeführten Reihe wird ganz bewusst ein weites Spektrum an Konfessionen und Glaubensrichtungen abgedeckt, so dass niemand dem Generalverdacht zustimmen kann. Die eigene Partei ist immer auch mit einem Vertreter betroffen. Das Vorgehen ist der Eklektik nicht unähnlich und verschiebt so die neu zu erbringende Beweislast auf die ursprünglichen Ankläger. Die Folge aus diesem Verfahren ist, dass es eine Flut von Widerlegungen provoziert oder besser gesagt provozieren würde. Die Gemengelage verkompliziert sich enorm. Dieser neu geschaffene Diskursraum ist das Hauptkapital, das man mit solchen Consensus-Reihen gewinnt. Der Akzent verschiebt sich von allgemeingültigen, dogmatischen Wahrheiten hin zu partiellen, die im Spiegel der Kritik einzeln abzuhandeln sind. Auf dieser breiten Grundlage der Vergleichbarkeit baut Arpe seine weitere Verteidigung auf, indem er die achtzehn scheinbaren Einzelbeweise der Reihe nach zerpflückt. Wir haben hier also ein zweistufiges Modell vor uns, das in einem ersten Schritt eine Verallgemeinerung vornimmt, um dann sogleich im zweiten Schritt auf die unpassenden Stellen hinzuweisen, die sich daraus ergeben. Die Neube-
215 »Atheum volunt, libet igitur quaerere ab eruditissimis, quid sit Atheus?« Arpe (1712), S. 23. 216 Ebd., S. 27.
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stimmung bzw. Klärung eines Begriffs und die anschließende Prüfung, ob der jeweilige Fall subsumierbar ist, ist bis heute ein gängiges juristisches Verfahren zur Ermittlung des Tatbestandes (Subsum[p]tion217 ). Man sieht diese Tradition also fortwirken. Aber nochmals zurück zu den Consensus-Reihen. Wir haben bei den bisher behandelten Texten wiederholt die Frage gestellt, inwieweit sich der Autor mit der zu verteidigenden Position identifizieren muss oder kann, oder umgekehrt, wie weit er sich trotz aller Verteidigung den Schein von Distanz und damit Objektivität zu geben vermag. Für beide Spielarten bieten die Consensus-Reihen eine probate Lösung an. Man kann Reihen konstruieren, die entweder Inklusion oder Exklusion zum Strukturprinzip machen. Dementsprechend kann sich der Autor, und das ist dem offenen Charakter der Reihen geschuldet, als vorläufig letztes Glied in die Reihe einschreiben. Die so entstehenden Genealogien bieten ein Modell der Einschreibung in bestimmte Traditionen, ohne sich selbst explizit dazu zu bekennen. Der Abschluss der Kette bleibt offen, kann aber vom Leser leicht geschlossen werden, ohne dass diese Geste eine Zwangsläufigkeit erhält, mit der man den Autor auch bei prekären Inhalten belangen könnte. Am Ende des 18. Jahrhunderts ist der Fall Vanini längst zum Topos geworden, die Beschäftigung mit dem Erzatheisten war ungefährlich. Man konnte sich sogar aus dem Brustton der Empörung auf ihn berufen. Nur einige Beispiele seien hierfür genannt. Alois Wilhelm Schreiber, ein enger Bekannter der Familie Voss und späterer Hofhistoriker in Karlruhe,218 veröffentlichte im Jahre 1799 eine Sammlung von Texten unter dem Titel Stunden meiner Einsamkeit.219 In dieser etwas schwülstigen Sammlung kurzer Gedankenskizzen findet sich auch ein Eintrag, der mit »Der Strohhalm des Vanini«220 überschrieben ist und sich gegen Kants kritische Philosophie richtet. Die praktische Vernunft sei der neue Gott, klagt der Verfasser in Anbetracht der philosophischen Bemühungen um einen konzisen Gottesbegriff. Dabei habe es schon Vanini besser gewusst, als er seinen Richtern einen Strohhalm als ausreichenden Beweis für die Existenz Gottes präsentierte. Die Vorzeichen kehren sich geradezu um: »Vanini bestieg ruhig den Scheiterhaufen – ein Strohhalm war stark genug, seinen Muth zu stüzzen [!]. Spottet derer nicht, ihr Vernünftler, die sich an einen Strohhalm halten – ist es doch nicht einmal so viel, was ihr ihnen geben könnet!«221 Eine erste kritische Würdigung
217 Es existieren beide Schreibweisen. 218 Zur Biographie siehe ADB 32, S. 471. 219 Alois Wilhelm Schreiber: Stunden meiner Einsamkeit. Aufklärern und Obscuranten gewidmet. Vom Verfasser des Waldbruders im Eichthale und der Scenen aus Fausts Leben. Altona 1799. 220 Ebd., S. 70f. 221 Ebd., S. 71. Dass es der Verfasser mit den historischen Umständen nicht so genau nimmt, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Vanini wurde vor seiner Verbrennung bei leben-
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im deutschsprachigen Raum, sowohl von Vaninis eigenen Schriften als auch von der Aufnahme derselben und aller Skandale um seine Person, die im Laufe zweier Jahrhunderte entstanden sind, unternahm nur ein Jahr nach Schreiber Wilhelm David Fuhrmann in weit objektiverer Weise.222 Der Befund am Ende der Untersuchung, nach der Sichtung aller Vorwürfe, gleicht einem Bekenntnis: »Mehrere Gründe, daß V. ein Atheist sey, giebt es nicht, oder es sind falsche – von V. Feinden [!] nach seinem Tode ausgedachte Verläumdungen und nichts sagende Einwendungen.«223 Ein letztes, prominentes Beispiel noch zum Abschluss. Als sich Johann Gottlieb Fichte dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt sah, stellte er sich in die Tradition Vaninis und hoffte auf bessere Vorzeichen: Vanini zog aus dem Scheiterhaufen, auf welchem er soeben als Atheist verbrannt werden sollte, einen Strohhalm, und sagte: wär’ ich so unglücklich, an dem Daseyn Gottes zu zweifeln, so würde dieser Strohhalm mich überzeugen. Armer Vanini, dass du nicht laut reden konntest, ehe du an diesen Platz kamest! Ich will es thun, Doch ehe mein Scheiterhaufen gebaut ist; ich will, so lange ich mir noch Gehör zu verschaffen hoffen kann, so laut, so warm, so kräftig sprechen, als ich es vermag. Dies zu thun, gebietet mir die Pflicht. Ich will ruhig erwarten, welche Wirkung es haben wird. Diese Ruhe giebt mir mein Glaube.224
Der Vanini Fichtes ist kein Atheist mehr, vielmehr kann er als der zu unrecht Angeklagte Pate stehen. Das ist nicht zuletzt das Verdienst Arpes, der sich zu seiner Zeit weitaus vorsichtiger äußern musste. Von einem Bekenntnis zu Vanini konnte noch keine Rede sein, auch wenn die oben dargestellte Struktur der Argumentation dies nahezulegen scheint. Die gesamte Ambivalenz und Vorsicht in der Behandlung der Thematik wird erst deutlich, wenn man die Argumentation Arpes en detail in den Blick nimmt. Das kann hier nicht geschehen und soll gerade deswegen nicht unerwähnt bleiben. Arpe wagte sich in seiner Apologie Vaninis an die Grenzen des Schicklichen und Erlaubten, überschritt diese aber nicht – die Schrift passierte die Zensur. Das war nur möglich, weil er ein klares Bekenntnis zu Vanini schuldig blieb. Lessing sollte sich in seinen Rettungen später ebenfalls einem endgültigen Urteil oder einer eindeutigen Stellungnahme
digem Leibe die Zunge mit einer Zange herausgerissen. Man sieht aus diesem Umstand umso deutlicher die Verklärung, die die Geschichte Vaninis bereits durchlaufen hat. 222 Wilhelm David Fuhrmann: Leben und Schicksale, Geist, Character und Meynungen des Lucillo Vanini: eines angeblichen Atheisten im Siebzehnten Jahrhundert; nebst einer Untersuchung über die Frage: war derselbe ein Atheist oder nicht? Leipzig 1800. Fuhrmann studierte Theologie in Halle unter anderem bei Semler und Nösselt. Zur Biographie siehe ADB 8, S. 190f. 223 Fuhrmann (1800), S. 416. 224 Johann Gottlieb Fichte: Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen. In: ders.: Sämmtliche Werke in acht Bänden. Bd. 5. Berlin 1845, S. 193–238, hier S. 196.
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verweigern, die Gründe dafür mögen andere gewesen sein als die unmittelbare Angst vor Verfolgung. Ob Lessing die Schrift Arpes kannte, weiß man nicht zu beantworten, direkte Rezeptionszeugnisse in seinem Werk gibt es keine. Dass ihn die Materie interessiert hat, darf man annehmen. Aussagen die darüber hinausgehen, führen allerdings ins Reich der Spekulation. Die einzige Verbindung, die sich zwischen Vanini und Lessing ziehen lässt, ist posthumer Natur. Wilhelm Dilthey sieht, nicht ohne Pathos, das Tragische in den Schicksalen beider vereint.225
3.2.2.4 Eine Rettung Cardanos gegen Bayle? – Lessings Lehrer Johann Friedrich Christ Dieser letzte Abschnitt in Vorbereitung auf die Beschäftigung mit dem Hauptgegenstand der Arbeit, den Rettungen des jungen Lessing, verdankt sich einer seltsam anmutenden Paradoxie. Die kritische Sichtung von Quellenmaterial, um tradierte Vorurteile und historische Ungenauigkeiten zu tilgen, ist eines der Hauptmerkmale, das die Arbeiten des lessingschen Frühwerks kennzeichnet. Dass bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen, genau dieses Prinzip ignoriert wird, trägt Züge des Tragikomischen. Aber zur Sache. Zu den Voraussetzungen für Lessings Rettungen bzw. für Lessings Kenntnis der Gattung wird immer wieder die Bekanntschaft mit einem bestimmten Lehrer aus der Leipziger Studienzeit gezählt. Dieser Lehrer, Johann Friedrich Christ, habe, ebenso wie später sein Schüler, eine Rettung des Cardano verfasst. Bei diesem positivistischen Befund bleibt es in der Regel, so etwa stellvertretend bei Barner: »Andererseits kann es im Hinblick auf Lessing als ausgemacht gelten, daß die von ihm praktizierte Form der ›Rettung‹ besonders durch den von ihm hochverehrten Pierre Bayle und auch durch seinen Leipziger Lehrer Johann Friedrich Christ geprägt worden ist.«226 Ausgemacht ist das bei Weitem nicht, wie schon der genauere Vergleich mit Bayle zeigte. Die bisher ausführlichste Auseinandersetzung mit der Schrift Christs,
225 »Ich weiß nichts Tragischeres in der intellektuellen Geschichte als Lessing, in der Enge von Wolfenbüttel, ganz einsam und ohne Genossen in allem, was ihn bewegte, schon seit vielen Jahren, einen ungeheuren Kampf auf den Schultern und die Kraft dieser Schultern versagend – jedes Organ seines Körpers krank, die äußeren Verhältnisse zerrüttet, überall gegen ihn das Mißtrauen der Leute, die mit Gott in Frieden leben, um nicht mit der Obrigkeit in Krieg zu geraten – es ist nicht die Tragödie der Vanini und Galilei, aber eine echte bürgerliche, deutsche Tragödie.« Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Stuttgart 13 1957, S. 69. 226 Barner (2005): ›Rettung‹, S. 13. So auch bei N, S. 184.
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die hier zur Debatte steht – Pro Hieron Cardano censura Baelii male habito227 – liefert Helmut Göbel und umfasst, die Überschrift nicht mit eingerechnet, eine Druckseite und zwei Zeilen.228 Die Grundaussage entspricht dem Umfang, Christ hat »die Grundtendenz des Bayleschen Artikels nicht klar genug erkannt«.229 Das ist alles ein wenig dürftig, um als stilbildendes Vorbild zu dienen, zumal Lessing in seiner Rettung des Cardano Christ nicht erwähnt. Es empfiehlt sich daher vor der Urteilsbildung eine Bestandsaufnahme dessen, was Johann Friedrich Christ vorgelegt hat. Zunächst zur biographischen Einordnung.230 1727, als der erste Teil der Noctes academicae erschien, war Johann Friedrich Christ ein junger Mann von gerade einmal 27 Jahren mit Ambitionen auf eine Universitätskarriere. Ein Jahr zuvor »übernahm er die Leitung der Studien der beiden jüngeren Söhne des Ministers v. Wolzogen und bezog mit diesen die Universität Halle, wo er, obgleich er noch keinen akademischen Grad erlangt hatte, von der philosophischen Facultät die Erlaubniß erhielt, Vorlesungen zu halten, die sich eines ungewöhnlichen Beifalls von Seiten der Studirenden erfreuten.«231 Dort dürfte die kleine Schrift über Cardano entstanden sein. Sie ist Teil einer ganzen Reihe kleinerer Abhandlungen im ersten von vier Bänden der Noctes academicae, die vornehmlich eine Anleitung für Studenten darstellen. Insofern nimmt sie im ersten Band eine Sonderstellung ein, erst in den folgenden kommen vermehrt Personen, darunter Machiavelli, in den Blick. In erster Linie beziehen sich die einzelnen Observationes aber auf antike Rechtsgeschichte und römischen Sitten. Wir haben also noch nicht den, später auch von Erich Schmidt beschriebenen,232 Christ vor uns, der als Begründer der Archäologie und Vorläufer Winckelmanns zu sehen ist. Der Verfasser lehnt sich, wie die Übersschrift bereits vermuten lässt, eng an den Lexikon-Eintrag Bayles zu Cardano an. Nach einer kurzen lateinischen Einleitung, die sowohl den Rahmen absteckt als auch eine Rechtfertigung des Vorhabens gibt, beginnt der ei-
227 Johann Friedrich Christ: Pro Hieron Cardano censura Baelii male habito. In: ders: Noctium academicarum libri sive specimina qvatvor. Halle 1727–1729, Bd. 1 (1727), S. 46–68. 228 Helmut Göbel: Lessing und Cardano. Ein Beitrag zu Lessings Renaissance-Rezeption. In: Toellner, Richard (Hg.): Aufklärung und Humanismus. Heidelberg 1980 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 6), S. 167–186, dort S. 174f. 229 Ebd., S. 174f. 230 Die ausführlichste Darstellung in Hinblick auf die biographischen Eckdaten liefert nach wie vor Edmund Dörffel: Johann Friedrich Christ. Sein Leben und seine Schriften. Ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte des 18. Jahrhunderts. Inauguraldissertation zur Erlangung der Doctorwürde an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Leipzig 1878. 231 ADB 4, S. 216f. 232 S 1, S. 44f.
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gentliche Artikel, ganz im Stil von Bayles Dictionnaire. Der im Vergleich schmale Haupttext wird von weitläufigen Fußnoten flankiert. Innerhalb des Hauptteils lassen sich zwei Teile identifizieren, wobei der erste darauf zielt, einige der Einschätzungen Bayles zu korrigieren bzw. als falsch und einseitig darzustellen. Im zweiten Teil widmet sich Christ der Aufgabe, »ein besseres bildniß von unserem Cardan zu machen, und seinen moralischen character also vorzustellen, wie ich ihn in seinen Schriften finde.«233 Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Übergang vom einen zum anderen vollzieht. Als Scharnier fungiert dabei der Begriff des »moralischen character[s]«. Christ unterzieht die von Bayle herangezogenen Grundlagen zur Einschätzung des Charakter einer generellen Umdeutung. Hielt Bayle Cardano für »unkeusch«, »ungerecht«, und »betrieglich«,234 wendet Christ Bayles Argumente gegen ihn, indem er ihnen die Aussagekraft für die Urteilfindung abspricht. Es spielt keine Rolle, »daß er [Cardano] nicht allezeit nach der mode gekleidet«235 war oder dass er sich auch in hohem Alter, wenngleich unter Mühen, »der fleischlichen lust noch bediene«.236 Man könnte diese Liste leicht erweitern, aber schon Christ selbst verallgemeinert dahingehend, dass alle diese »kleinen menschlichen gebrechen« ihn »weder tugendhafter noch lasterhafter« machen und ihm das »niemand übel auslegen muß«.237 Nach diesen Richtigstellungen geht Christ über zur Schilderung Cardanos, wie er ihn sieht. Wer erwartet, dass die durchgehend positiv ausfällt, wird enttäuscht. Den einen oder anderen Kritikpunkt an Cardano kann sich auch Christ nicht ersparen. Auch er wirft ihm beispielsweise vor, Christus die Nativität gestellt zu haben. Das sei töricht, theologisch aber nicht als Sünde zu begreifen, wie er ausführlich in einer Fußnote diskutiert. Eine seiner größten Leistungen aber sei gewesen, dass er sich weitgehend vom Aberglauben befreit hat, was ihm unter seinen Zeitgenossen mitunter als Gottlosigkeit ausgelegt worden sei. Christ beschreibt Cardano als Querkopf, der sicher nicht nur Brilliantes zu Papier gebracht hat, aber in seiner Eigenschaft auch Autoritäten zu kritisieren und alles zu hinterfragen seiner Zeit voraus war. Das erinnert deutlich an Lessings Charakterisierung Huartes. Und noch eine weitere Gemeinsamkeit mit Huarte fällt ins Auge. Christ argumentiert bei der Zeichnung Cardanos unter Rückgriff auf physiognomische Beobachtungen. Er liest, und das muss man betonen – fünfzig Jahre vor Erscheinen der Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und
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Christ (1727), S. 59. Ebd., S. 55. Ebd. in der Anm. H. Ebd. in der Anm. I. Alle drei Zitate ebd. in der Anm. H.
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Menschenliebe Lavaters238 – Cardanos moralischen Charakter aus seinem Gesicht und seiner Statur. Das Urteil fällt dementsprechend auch weitaus gütiger aus, als dies noch bei Bayle der Fall war. Cardano habe, und das ist bemerkenswert genug, ein Leben seiner Natur entsprechend geführt: »Soviel ist gewiß; Cardan hat schon so viel großes und ausnehmendes an sich, daß er unter die vortrefflichsten Geister seiner Zeit gezehlt zu werden, und die Schrifften, welche er hinterlassen, die Ewigkeit verdienen.«239 Wir werden sehen, dass Lessing in seiner Rettung des Hier. Cardano ganz andere Wege beschritt, die mit den hier vorgestellten wenig gemein haben. Die Akzente, die Lessing setzt, interessieren bei Christ nur am Rande, formale Gemeinsamkeiten finden sich nicht. Trotz dieses Negativbefundes kann man Christ für die Geschichte der lessingschen Rettungen fruchtbar machen, dafür muss man den Blick weg von seiner Auseinandersetzung mit Bayle wenden und den dritten Band der Noctes academicae aufschlagen. Dort finden wir nämlich eine wenige Seiten umfassende Abhandlung mit dme Titel De ritu vindicarum apud antiquissimus romanorum.240 Dass Lessing Christ bewundert hat, steht außer Zweifel, schrieb er doch 1749 rückblickend auf seine Erfahrungen in Leipzig241 : »Man weiß, daß Herr Professor Christ zu denen gehört, die mit einer ausnehmenden Gelehrsamkeit den feinsten Geschmack verbinden, und nur solche Männer können uns die Alten nach Würden rühmen und solche große Muster ohne Verlegenheit nachahmen.«242 Von dieser Wertschätzung auf die Kenntnis des Textes zu schließen, wäre voreilig, unwahrscheinlicher macht es sie indes nicht. Zumal Lessing hier für seine Rettungen brauchbare Hinweise finden konnte. Ausgehend von neueren Autoren, wie etwa Gundling243 oder Jöcher, betrieb Christ philologische Grundlagenarbeit in der Erhellung dessen, was im antiken Rom unter vindicare zu verstehen war bzw. welcher Vorgang damit beschrieben wird. Nach ausführlicher Sichtung der antiken Autoritäten, darunter Ovid, Cicero, Gellius und weitere, erstellt Christ eine Reihe von Synonyma
238 Johann Caspar Lavater: Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig 1775–1778. Der biblische Bezug von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der die Voraussetzung des gesamten lavaterschen Unternehmens bildet, fehlt bei Christ völlig. 239 Christ (1727), S. 65. 240 Johann Friedrich Christ: De ritu vindicarum apud antiquissimus romanorum. In: ders.: Noctium academicarum libri sive specimina qvatvor. Halle 1727–1729, Bd. 3 (1728), S. 171–180. 241 Anfang Juli 1748 kehrte Lessing der Universität Leipzig endgültig den Rücken und begleitete seinen Vetter Mylius nach Wittenberg. Siehe A (2008), S. 19. 242 Zitiert nach S, Bd. 1, S. 44. 243 Gundling hatte nur ein Jahr zuvor einer Disputation zum gleichen Thema vorgestanden. Nicolaus Hieronymus Gundling; Gotthilff August Schumann: De Rei Vindicatione Ex Iure Romano Et Patrio. Halle 1726.
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und arbeitet deren jeweiligen spezifischen Geltungs- oder Verwendungsbereich heraus.244 Das semantische Feld, das diese Begrifflichkeiten umreißen, deutet Christ als das, »davon ich Besitz ergriffen habe«.245 Seine weitere Interpretation, dass sich dieses Feld ursprünglich aus Metaphern des Krieges und der Konfrontation ergeben hat, er führt den vielfach belegten Terminus manum (man¯us) cum aliquo conserere, ›einen Kampf mit jemandem beginnen‹ an, sei hier nur erwähnt, ohne auf die weitere Herleitung einzugehen. Interessant, und Christ hat genau dies im Blick, so scheint es, ist die allmähliche Verschiebung der Begriffsverwendung(en) aus dem Bereich des Krieges hinein in das juristische Vokabular der Zeit.246 Der Übergang vom rein juristischen Terrain in die Begrifflichkeiten und Verwendungsweisen der Gelehrtenkultur machen den unausgesprochenen Bezug zur zeitgenössischen Gegenwart Christs aus. Es ist die Suche nach dem Beginn und der Herkunft einer Praxis, die bestimmend für das akademische Umfeld seiner Zeit geworden ist und noch einige Zeit bleiben wird. Mit Lessings Leipziger Lehrer sei ein vorläufiger Schlussstrich unter diesen gattungsgeschichtlichen Überblick gezogen.
3.3 Der Gattungsbegriff – eine sinnvolle Krücke Haben wir mit der Rettung und der Apologie eine bis dato von der Literaturgeschichtsschreibung übersehene Gattung vor uns? Diese Frage muss am Ende eines Abschnittes gestellt werden, der sich als ein ›gattungsgeschichtlicher Überblick‹ ausgibt. Die Antwort auf diese Frage ist, nach der Sichtung der Texte, ziemlich klar: nein. Ich möchte die Gründe für diese Antwort noch für einen Moment zurückstellen und einen methodologischen Einschub wagen. »Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Entstehung literarischer Gattungen stellt einen der schwierigsten Aspekte gattungsgeschichtlicher Theoriebildung dar. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das historische Wissen über den Ursprung vieler Gattungen defizitär ist.«247 Intuitiv möchte man dieser Aussage ohne weitere Umschwei-
244 Christ (1728), S. 175f. 245 Ebd., S. 176. Deutsch im Original. 246 Für den Einfluss dieser Verschiebung auf die Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit siehe Marian Füssel: Die Gelehrtenrepublik im Kriegszustand. Zur bellizitären Metaphorik von gelehrten Streitkulturen in der Frühen Neuzeit. In: Bremer, Kai; Spoerhase, Carlos (Hgg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Frankfurt am Main 2011 (Zeitsprünge 15 (2011), H. 2/3), S. 158–175. 247 Marion Gymnich: Entstehungstheorien von Gattungen. In: Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart 2010, S. 135–137, hier S. 135.
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fe zustimmen. Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich die Voraussetzungen, die dieser Einschätzung unausgesprochen zugrunde liegen. Spricht man von einem »Ursprung der Gattung«, so meint dies wohl in erster Linie eine präskriptiv verstandene Grundlegung abstrakter Natur oder ein Verständnis von irgendwie gearteten Universalien, die realisiert werden: erst die Poetik oder meinetwegen auch Poetologie,248 dann die historische Genese. Das Defizitäre wäre demnach das Fehlen einer Gründungsurkunde der Gattung oder eines entsprechenden ›gattungskonstituierenden‹ Vorbildes. Was auf dem Gebiet der literarischen Gattung, die bislang als Hauptgegenstand der Gattungstheorie anzusehen ist, noch vergleichsweise einfach scheint, gewinnt umso mehr an Komplexität, wenn genuin nicht-literarische, sondern vielmehr philosophische Texte in den Fokus rücken.249 »Normativ-apriorische Setzungen«250 lassen sich im Bereich literarischer Schriften wesentlich leichter für das eigene Schreiben fruchtbar machen. Es ist sogar denkbar, dass oftmals die Aneignung einer bestimmten Form nachgerade zur Voraussetzung für Dichtung wird, eher als das im Feld nicht-literarischer Texte der Fall ist. Versteht man unter Gattung, den »[t]heoretische[n] wie metatheoretische[n] Begriff für Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades, die diachron und synchron in Opposition zueinander stehen«,251 so wird hingegen eine weitaus weniger enge Bedeutung zugrunde gelegt. Diese retrospektive Füllungsfreiheit der angenommenen Formen ermöglicht die Beschreibung einer Gattung, die unter den zeitgenössischen Bedingungen der Entstehung der Einzeltexte nicht in dem Maße als Gruppe wahrgenommen wurde, wie dies aus der Sicht des Historikers möglich ist. Stellt man das Recht des Historikers, Gruppierungen von Einzeltexten anhand bestimmer Eigenschaften vorzunehmen, in den Vordergrund, wäre das Postulat einer Gattung ›Rettung‹ oder ›Apologie‹ durchaus gerechtfertigt. Dann hätte man den Fall, dass es sich nicht um eine bisher ›übersehene‹ Gattung handelt, sondern um eine bisher nicht definierte oder
248 Zur Kritik am Begriff ›Poetologie‹ siehe Wilfried Barner: Poetologie? Ein Zwischenruf. In: Scientia Poetica. Jb. für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 9 (2005), S. 389–399. 249 Darauf hat Thomas Borgstedt gerade in Hinblick auf die Verwendung des Begriffs der ›Textsorte‹ noch einmal mit Nachdruck hingewiesen und diesen Komplex als Desiderat festgehalten: »Die erforderliche Ausweitung der gattungstheoretischen Perspektive über rein literarische Schrifttexte hinaus ist durch eine Rückbindung der Modelle an den Textbegriff und an die überkommene literaturwissenschaftliche Gattungstheorie nicht konsequent geleistet.« Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 138), S. 10. 250 Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 48. 251 Klaus W. Hempfer: [Art.] Gattung. In: RLW 1, S. 651.
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unter der Auswahl und Zusammenstellung gattungskonstituierender Merkmale noch nicht konstruierte Gruppe. Die Herausforderung des (Literatur-)Historikers bestünde demnach darin, einen Katalog bestimmter Textmerkmale zu erstellen, unter die man eine gewisse Anzahl von Texten zu subsumieren vermag. Man kann diesen Versuch auch im vorliegenden Fall unternehmen. Zunächst bedarf es einer kritischen Masse an Texten, um überhaupt sinnvoll über die Existenz einer Gattung nachzudenken. Ohne dabei eine absolute Zahl vor Augen zu haben, ist doch unmittelbar einsichtig, dass das zu beschreibende Phänomen von einer gewissen Breite sein muss, um Gruppierung als Orientierung sinnvoll erscheinen zu lassen. Das Postulieren von Gattungen, die nur einige wenige, vielleicht nicht einmal konsistente Vertreter aufweisen, widerspricht dem Sinne einer überordnenden Zusammenfassung. Diesem Problem begegnet man weder bei der Apologie, noch bei der Rettung respektive Vindicatio. Es wurde im Verlauf bereits mehrfach angesprochen, welche Extension diese Art von Texten in der Frühen Neuzeit hat. Es gilt nun, notwendige oder wenigstens konstitutive Mermale zu erarbeiten, die in die Lage versetzen könnten, eine Gattung zu postulieren. Hier wird es schon deutlich schwieriger. Eine der Grundeigenschaften ist die Verteidigung einer Wahrheit, bzw. das Einfordern des Rechtanspruches auf selbige. Der Verteidigende reklamiert, ganz abgesehen vom Gegenstand, das Eigentum an der Wahrheit von vornherein für sich. Damit eng verwoben, und in unterschiedlicher Ausprägung ebenfalls in allen Texten zu finden, ist die bereits angesprochene Widerlegungsmethode (methodus polemica),252 mittels der mehr oder weniger fair die Argumente der Gegenseite gesichtet und anschließend entkräftet oder gar widerlegt werden. Das geschieht in der Regel mit einem deutlichen Verweis darauf, dass hier »unparteyisch« zu Werke gegangen wird.253 Die Position des ›unpar-
252 Zur Erinnerung: »Methodus polemica [. . . ] ist der Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird. Solchemnach erfordert dieselbe, daß 1) die Feinde namhaft gemacht werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angeführet, derselben anscheinende Kraft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden. Dabey aber hat man mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse: gleichwie man auch dahin zu sehen hat, daß man nicht mit den Personen, sondern mit denen Sachen selbst zu thun habe.« Zedler 20, Sp. 1337 (Hervorhebung M. M.). 253 Der Ausdruck ›unpartheisch‹ oder ›Unpartheylichkeit‹ war eine wahre Modeerscheinung in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seine historische Semantik harrt aber noch der Aufarbeitung. Alle denkbaren (religiösen und nichtreligiösen) Gruppierungen reklamierten den Begriff und damit auch den Standpunkt für sich, ohne dass klar ist, wie man im Einzelnen gerechtfertigterweise dazu kam. Den Begriff als reinen ›Kampfbegriff‹ anzusehen, scheint mir zu kurz gegriffen, auch wenn ich hier keine weiterführende, detaillierte Analyse anbieten kann. Einen Hinweis auf Abgrenzungsmöglichkeiten diesbezüglich gibt Gottsched in
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theyischen‹ Richters in der Inszenierung des Gerichtsprozesses – auch das ein weiteres Merkmal in je unterschiedlicher Ausprägung – kann differieren, mal ist es der Autor selbst, mal wird der Urteilspruch an das Lesepublikum überantwortet. Zu beobachten ist in jedem Fall eine Häufung juristischer Termini. Einige der hier angeführten Bedingungen ließen sich auch mit Fug und Recht aus der Tradition der antiken Rhetorik heraus entwickeln, die diesbezüglichen Anklänge sind unübersehbar. Allerdings erschöpfen sich die Texte nicht in den Formvorgaben des genus iudicale. Wenngleich man die Form des Plädoyers durchaus findet, so ist der strenge Charakter einer Rede, gerade was den Aufbau betrifft, in den meisten Fällen nicht gegeben. Eine Tendenz zu Formen der Mündlichkeit muss dennoch konstatiert werden.254 Soweit zu den Möglichkeiten einer Vereinheitlichung, die über die historischen Konkretisierungen aber nicht hinwegtäuschen sollten. Schon die obige Zusammenstellung von Schriften, die alle mehr oder weniger der Form der Verteidigung verpflichtet sind, repräsentiert die real gegebene Varianz der Erscheinungsformen. Es wäre demnach ein methodisch unzulässiges Verfahren, hier eine Gattung zu postulieren, wo am Ende vielleicht Familienähnlichkeit der treffendere, oder zumindest unproblematischere Begriff für die Beschreibung wäre. Zudem sollte das Ziel nicht aus den Augen verloren werden. Es geht hier um die Bestimmung einer Tradition, an die der junge Lessing mit seinen Rettungen anknüpfen kann. Es wäre ein billiger Taschenspielertrick, eine Gattung zu konstruieren, um dann im Nachgang Veränderungen, die ein besonders herausragender Vertreter der Geistesgeschichte vornimmmt, als exzeptionell zu preisen: Um einmal mehr die Würde des Autors zu erhöhen. Das ist nicht in meinem Sinn. Dennoch soll versucht werden, der Kohärenz der Phänomene in der Beobachtung gerecht zu werden. Nun ist der harte Begriff der Gattung nicht der einzige Beschreibungsmodus, der zur Verfügung steht.
seiner Übersetzung des bayleschen Dictionnaire: »So löblich es ist, unparteyisch zu seyn, und die Verdienste einer Person ohne Absicht auf ihre Religion und besondre Meynungen in Glaubenssachen zu erkennen: so gefährlich ist es, die Unparteylichkeit bis auf solche Leute auszudehnen, die selbst so unparteyisch nicht zu seyn pflegen, daß sie Leuten von unserer Religion gleiches Recht widerfahren ließen.« Johann Christoph Gottsched: Herrn Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Aufl. von 1740 ins Dt. übers.; auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anm. [. . . ] versehen von Johann Christoph Gottscheden. 4 Bde. Leipzig 1741–1744, hier Bd. 2 (1742), S. 301, Anm. *. 254 Zur Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bzw. zu deren möglicher Verzahnung siehe Wulf Oesterreicher, Peter Koch: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jb. 36 (1985), S. 15–43, insb. S. 17ff.
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Aus heuristischer Sicht ist der weichere Begriff der Schreibweise – verbunden mit einem Wechsel der Beschreibungsebene, setzt man ihn sinnvoll ein, ein Kandidat, der bei einer weiteren Präzisierung hilfreich sein kann. »Schreibweisen sind materialästhetisch gesehen Wirkungsdispositionen, denn die im Text verwendeten poetischen Mittel sind zusammengenommen im Prinzip dazu geeignet, bestimmte Wirkungen zu erzielen [. . . ].«255 Auch bei dieser Definition oder vielmehr Explikation scheint Vorsicht geboten zu sein, wie die wenig präzise Formulierung (»im Prinzip«) verrät. Festzuhalten bleibt indes die Ausrichtung auf eine bestimmte intendierte Wirkung, die einen Text kategorisiert. In unserem Fall wäre das eine Schreibweise der Verteidigung mit poetischen – wir müssten wohl hier argumentativen einsetzen – Mitteln (die durchaus auch poetischer Natur sein könnten). Im Vergleich zum Gattungsbegriff haben wir hier eine Verschiebung weg von der Form und hin zu den Wirkungen, und diese sind nicht im gleichen Maße präskriptiv verfasst. Klaus W. Hempfer begreift »Schreibweisen als Relationen von Elementen [. . . ], die über bestimmte Transformationen einerseits die überzeitlichen Typen und andererseits die konkreten historischen Gattungen ergeben.«256 Nimmt man »Wirkungsdisposition« und die »Relation von Elementen« zusammen, kommt man wohl am ehesten zu einem Begriff des Stils als eine »Manifestation von rekurrenten Formen menschlichen Verhaltens«, wobei die Form letztlich in ihrer Erscheinung »kontingent«257 ist. Um der Apologie und der Rettung in ihrer Beschreibung gerecht zu werden, muss man ihre Zwischenstellung zwischen Gattung und Schreibweise anerkennen.258 Sie genügen in ihren unter-
255 Zymner (2003), S. 187. 256 Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973 (UniTaschenbücher Literaturwissenschaft 133), S. 27. 257 Hans-Ulrich Gumbrecht: [Art.] Stil. In: RLW 3, S. 509–513, hier S. 509. Ergänzend hierzu die Definition von Helmut Weidhase: »Stil, allgemeiner Begriff zur unterscheidenden Kennzeichnung spez. Haltungen und Äußerungen von einzelnen Personen oder Gruppen in einem bestimmten Bezugsrahmen histor. oder gattungsbezogener Normen.« Helmut Weidhase: [Art.] Stil. In: Schweikle, Günther und Irmgard (Hgg.): Metzler Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 2 1990, S. 443f. 258 Die Abkürzung zu nehmen und einfach von einer ›gemischten Gattung‹ auszugehen, um im Anschluss zu beurteilen, welche Elemente aus der einen, welche aus der anderen entlehnt werden, scheint mir nicht weiterzuführen. Im Bereich der Poesie lässt sich dieses Verfahren leichter bewerkstelligen und führt vielleicht zu besseren Ergebnissen. Für ein solches Verfahren, Merkmale in Matrix-Form zu erfassen, siehe Klaudia Seidel: Mixing Genres: Levels of Contamination and the Formation of Generic Hybrids. In: Gymnich, Marion; Neumann, Birgit; Nünning, Ansgar (Hgg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier 2007, S. 137–150. Gattung, Schreibweise, Stil und Denkstil sind auf verschiedenen Ebenen der Beschreibung angesiedelt, das sollte man nicht unterschlagen, Zwischenkonzepte werden dadurch problematisch.
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schiedlichen Erscheinungsformen nicht dem strengen Begriff der Gattung, sind aber präziser zu fassen, als mit dem Begriff der Schreibweise, insofern diese jegliche Art der formalen Rahmung zulässt. Man muss also Form und Stil kurzschließen. Dirk Werle hat genau das versucht und dafür – wenn auch in einem völlig anderen Kontext – den Begriff des Denkstils vorgeschlagen: Beide [Form und Stil, M. M.] scheinen sich auf das ›Wie‹ gegenüber dem ›Was‹ des jeweils zu untersuchenden Artefakts zu beziehen, also nicht auf den Inhalt, sondern auf die Art und Weise, wie der Inhalt erzeugt und vor allem transportiert wird.259
Dieser Denkstil-Begriff ist also deutlich abzugrenzen von dem Ludwik Flecks, der Denkstil als »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen«260 innerhalb von (wissenschaftlichen) Kollektiven begreift. Das ist hier nicht gemeint. Mit Denkstil wird eine Art und Weise beschrieben, Gedanken zu erzeugen und im Nachgang zu verschriftlichen. Die Form des Gedankenganges findet sich demnach in der Form des Textes wieder.261 Geradezu prototypisch zeigt sich das im Bereich der Rettung, die eine Verteidigung in der Form des Gerichtsprozesses inszeniert. Die Art der Äußerung oder die Methode, die dem Vorgehen zugrunde liegt – die rationale Prüfung von bis dato angenommen Urteilen – ist aufs engste mit der Form verknüpft. Ein Sachverhalt wird vor das Tribunal der Vernunft gestellt. Für den Entstehungsprozess eines Textes hat die Entscheidung für eine bewusste Form also immer auch Einfluss auf die Art der Gedanken. Diesem Umstand trägt die Forderung Dieter Henrichs nach einer »Literaturgeschichte der Philosophie« Rechnung. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei die Opposition, inwieweit philosophische
259 Dirk Werle: Stil, Denkstil und Stilisierung der Stile. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften. In: Danneberg, Lutz; Höppner, Wolfgang; Klausnitzer, Ralf (Hgg.): Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion. Frankfurt am Main 2005 (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 8), S. 3–30, hier S. 7f. 260 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main 1980, S. 130. Der Denkstil-Begriff, wie man ihn bei Fleck vorfindet, ist für unsere Zwecke in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens bezieht er sich grundsätzlich auf einen Verbund von Individuen, die gerade erst ein einheitlicher Denkstil eint. Ein Einzelner wäre in diesem Sinne nicht fähig, einen Denkstil zu entwickeln, er bedarf der Resonanz anderer, um ihn erst zu einem solchen zu machen. Zweitens hat der Denkstil im fleckschen Sinne immer eine zeitlich beschränkte Gültigkeit, eben genau so lange, bis er von einem neuen Denkstil (innerhalb der Disziplin) abgelöst wird. 261 Insofern ist der Begriff des ›Denkstils‹, wie ihn Dirk Werle vorstellt, zwar an der Begrifflichkeit Karl Mannheims orientiert, dabei aber deutlich enger gefasst.
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Wahrheiten als ewig und unwandelbar gedacht werden müssen oder zunächst zeitverhaftet, also unter den Bedingungen einer bestimmten Konstellation entstehen und danach unter Umständen überzeitliche Bedeutung erlangen. Henrich plädiert für die zweite Option. Dort heißt es im Zusammenhang der Frage, wie ein philosophisches Hauptwerk entstehen kann: Indem so die Gestaltung des Werks aus dem Zentrum dessen heraus zum Thema wird, was eine philosophische Konzeption ausmacht, sollte eine Perspektive für eine Literaturgeschichte der Philosophie aufgeschlossen sein, die für eine Geschichte der Philosophie selbst nicht von peripherer, sondern von konstitutiver Bedeutung ist. Damit sollte es möglich werden zu erklären, wieso solche Werke in eine Zeitsituation eingebettet sind und von ihr mitbestimmt werden, wieso sie aber dennoch über ihren Rang und ihre paradigmatische Bedeutung hinaus einen Wahrheitsbezug haben, der nicht mit der Wandlung der kulturellen Bedeutung erlischt.262
Etwas vereinfachter ausgedrückt: Die historische Situation ist in all ihren Parametern (persönliche Motivation, Wahl der Textgattung, imaginierte Leserschaft, mögliche Opponenten, gegen die angeschrieben wird, sozialgeschichtliche Umstände usw.) nicht nur begleitend, sondern zentral für die Entstehung eines Werkes. Daraus folgt ferner, dass erst in einem zweiten Schritt, nachdem man die Entstehungsbedingungen und damit auch den spezifischen zeitgenössischen Gehalt überblickt und im besten Falle verstanden hat, ein adäquates Verständnis des Textes überhaupt erst möglich wird. Aufgrund dieses Verständnisses kann man dann ganz getreu hermeneutischer Regeln die Bedeutung des Werkes über die eigene Zeit hinaus in den Blick nehmen. Ich würde der Konzeption Henrichs gerne noch eine weitere Komponente hinzufügen. Philosophische Ideen existieren im Gegensatz zur vielleicht gängigen Meinung nicht unabhängig von ihrer Artikulationsart. Für den Bereich der Literatur wäre diese Feststellung selbstevident, niemand käme auf die Idee den Gehalt eines Gedichtes mit dem eines Romans in eins zu setzen, die Form verleiht dem Inhalt immer einen Mehrwert. Nimmt man die Form als bewusste Entscheidung des Autors ernst und ordnet man dem Inhalt der Gedanken ihre Präsentation bei, wird die Genese dieser in ihren Einzelschritten überhaupt erst nachvollziehbar. Wozu nun der ganze Aufwand? Durch die heuristische Annahme einer Gattung wurde die Zusammenstellung einer Reihe von Texten ermöglicht, die bislang in der Forschung nie als mögliche Einheit begriffen wurden. Trotz des Negativbefundes im Hinblick auf die tatsächliche Existenz einer solchen Gattung, konnten Elemente identifiziert werden, die sich selbst in diametral entgegenge-
262 Henrich (2011), S. 194.
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setzten Weltanschauungen (apologetisch und antiapologetisch) für die je eigenen Zwecke instrumentalisieren ließen. Daraus ließ sich in einem nächsten Schritt folgern, dass die unterschiedlichen Parteien unterschiedliche Wahrheitsbegriffe zugrunde legen, und beide sich trotz unterschiedlichen Standorts der gleichen Form bedienen können. Die Form allein war demnach also nicht das passende Distinktionskriterium. Unter Rückgriff auf den Begriff der Schreibweise konnte der Blickwinkel insofern erweitert werden, als dass erstmals die intendierten Wirkungen der Texte miteinbezogen werden konnten. Aus der Kombination beider ergab sich der Begriff des Denkstils, der im Hinblick auf eine Literaturgeschichte der Philosophie nutzbar gemacht werden kann, insofern als die Genese der später als überzeitlich eingeschätzten Wahrheiten in ihrem ursprünglichen Zusammenhang rekonstruiert werden kann. Diese Überlegungen bilden die Grundlage für die Beschäftigung mit Lessings Rettungen. Erst vor dem Hintergrund der historischen Ausdifferenzierung der Möglichkeiten der Form ›Rettung‹ oder ›Apologie‹, lässt sich begreiflich machen, wie Lessing die Praxis seiner Rettungen vollzog und damit einen Denkstil einübte, der charakteristisch für ihn werden sollte. Albert M. Reh hat in einer umfangreichen Monographie die »Rettung der Menschlichkeit« als den einen großen, alles umfassenden Grundzug in Lessings Werk erkannt.263 Was darunter zu verstehen ist, und wie es dazu kam, bleibt dabei unthematisiert. Es ist die gängige Sicht auf unseren ersten Aufklärer,264 die uns längst zur Gewohnheit geworden ist, was nicht zuletzt daran liegen mag, dass Lessing mit seinen Ansichten zur Vorurteilskritik und Toleranz, seinem Theater, aber auch der Art und Weise, wie man mit Kunst generell umzugehen hat, auf der Siegerseite der Geschichte steht. Seine Ansichten sind uns vertraut, wobei vieles von dem, was er ›überwunden‹ hat, uns heute fremd erscheint. Allzu leicht schleicht sich, in Deutschland besonders unter dem Deckmantel des Genies, das Gefühl ein, hier hätte jemand ein neues Zeitalter begründet oder erfunden. In der Retrospektive mag das nicht falsch sein, die Praxis, wie es dazu kam, hingegen bleibt verklärt auf der Strecke. Im Folgenden soll der Blick genau auf diese Praxis gelenkt werden, um die Entwicklung des uns so vertrauten Lessings (vornehmlich dem des Spätwerkes) in der Auseinandersetzung mit den sehr partikularen Themen und Problemen seiner Zeit zu studieren. Die Genese des Denkstils lässt sich nur anhand seiner Geschichte rekonstruieren und zuerst verstehen. Trifft es zu, dass das ›Retten‹ ein Grundzug des lessingschen Werkes ist – und einiges
263 Reh (1981). 264 Exemplarisch etwa bei Victor Lange: Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur 1740– 1815. München 1983.
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spricht dafür265 – kann man anhand der frühen Schriften das Entstehen eines Denkstils und damit im Sinne Henrichs einen »Moment des Aufschlusses«266 beobachten. Bedarf dieses Denken zu Beginn noch einer gewissen Form, an die man sich in Momenten der Unsicherheit anlehnen kann, so verliert diese Stütze mit zunehmender Sicherheit ihre Funktion. Es ist, wenn ich mir einen bildlichen Vergleich erlauben darf, wie mit dem Fahrradfahren. Anfangs verhindern die Stützräder den Sturz bis man sich ihrer entledigen kann. Die Besten aber fahren irgendwann, wie selbstverständlich: freihändig. Lessing partizipiert mit seinen Rettungen an den beiden hier vorgestellten Traditionen, die prägend für seinen Denkstil werden, indem sie gewisse methodische Elemente bereitstellen. Die deutliche, polemische Benennung des als falsch oder unwahr Erkannten etwa ist ein solches Moment, ohne allerdings sogleich die strikte Konsequenz zu ziehen und auf die Verkündung einer neuen Wahrheit zu verfallen. Lessing sprengt die Konventionen einer starren Gattung und deren determinierender Erwartungshaltung. Die Erweiterung des diskursiven Feldes, auf dem künftig debattiert werden muss, eine Ausweitung des Kontextes, der
265 Wann immer ich mein Dissertationsprojekt im Kreise von Lessingkennern vorgestellt habe, wurde mir versichert, dass man auch ganz andere Texte Lessings zumindest in Teilen als Rettungen lesen könne, sei es der Laokoon, die Hamburgische Dramaturgie oder seien es die späten philologischen Arbeiten. 266 Henrich (2011), S. 20ff. Henrich unterteilt das Aufbruchstadium hin zu dem, was ein Werk genannt werden darf, in vier Phasen: »(1) In einer frühen Phase ihres Nachdenkens gelangen bedeutende Autoren zu der Diagnose eines grundlegenden Defizits, welches die in ihrer Zeit vorherrschenden Lehren, trotz aller Differenzen zwischen ihnen, allesamt durchzieht. Aus diesem Defizit erklärt sich das Ungenügen, das ihr Studium dieser Lehren und ihre eigenen Versuche untergründig begleitet hatte. (2) Nach anhaltendem Nachdenken und vielen Versuchen, das Defizit zu beheben, geht den Denkern der Entwurf einer philosophischen Konzeption auf – und zwar zusammen mit ihrer Bedeutung für die Lebensführung des Menschen – und beides sehr oft in einem einzigen plötzlichen Durchblick. (3) In der Folge wird diese Konzeption über lange Zeit geprüft, immer wieder auf andere Weise begründet und in Arbeitsgängen zu vielen Problembereichen differenziert. Die Verschiedenheit der Arbeitsweisen von Autoren lässt sich dabei an den Eigenarten der von ihnen überkommenen Notate und Skizzen erkennen. Eine besondere Form solcher Notate sind die partialen Durchblicke durch ganze Argumentationsläufe. [. . . ] (4) Zu Beginn des vierten Stadiums gelingt dem Autor schließlich ein Plan für die Ausgestaltung seines Werkes. Er muss dazu taugen, in einem einzigen Gang und zwischen zwei Einbandseiten Zug um Zug all das zu begründen und zu entwickeln, dessen Umriss ihm zuerst in einer ursprünglichen Einsicht aufgegangen war.« Henrich steht hier, unschwerlich zu erkennen, ein ausgearbeitetes philosophisches System vor Augen. Ein solches hat Lessing nie erarbeitet, das hätte seinem Sinn gerade zu widerstrebt. Dennoch finde ich den Gedankengang, wie man zu einer grundsätzlichen Einsicht gelangt, die einem dann auch persönliche Überzeugung werden kann (selbst wenn es die Überzeugung ist, dass ein System immer defizitär bleibt oder bleiben muss), äußerst anregend und auch über die Systemphilosophie hinaus fruchtbar anzuwenden.
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neue Fragestellungen eröffnet, wäre ein weiteres Moment, das sich dem anderen Zweig der vorgestellten Tradition verdankt. Mit dem Begriff des ›Denkstils‹ wird ein an der Form orientiertes, angeleitetes Fragen bezeichnet, das selbst aber wiederum ein flexibles und ergebnisoffenes Verfahren vorstellt. In der Analyse der eigentlichen Rettungen von 1754 wird dieser sich konkretisierende Denkstil deutlichere Gestalt annehmen.
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4 Die eigentlichen Rettungen von 1754 4.1 Die Vorrede Viele Jahre nach seiner Wittenberger Zeit schrieb Lessing rückblickend über seine damaligen Lektüregewohnheiten: Der bessere Teil meines Lebens ist – glücklicher oder unglücklicher Weise? – in eine Zeit gefallen, in welcher Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion gewissermaßen Modeschriften waren. [. . . ] Was Wunder also, daß meine Lektüre ebenfalls darauf verfiel, und ich nicht eher ruhen konnte, bis ich jedes neue Produkt in diesem Fache habhaft werden und verschlingen konnte. [. . . ] Genug, was unmöglich ausbleiben konnte, blieb bei mir auch nicht einmal lange aus. Nicht lange; und ich suchte jede neue Schrift wider die Religion nun eben so begierig auf, und schenkte ihr eben das geduldige unparteiische Gehör, das ich sonst nur den Schriften für die Religion schuldig zu sein glaubte. So blieb es auch eine geraume Zeit. Ich ward von einer Seite zur andern gerissen; keine befriedigte mich ganz. Die eine sowohl als die andere ließ mich nur dem festen Vorsatze von sich, die Sache nicht eher abzuurteln, quam utrinque plenius fuerit peroratum [›als bis sie von beiden Parteien ausführlicher vorgetragen wäre.‹]. Bis hierher, glaub’ ich, ist es manchem andern gerade eben so gegangen. Aber auch in dem was nun kömmt?1
Was nun »kömmt« ist das Ergebnis dieser Lektüregewohnheiten unter den oben beschriebenen Umständen der Arbeit in der Bibliothek: Unter anderen, weniger bedeutenden Schriften das Hauptprodukt – die sogenannten Rettungen. Sie sind das Ergebnis einer allzu einseitigen Parteinahme in Religionsstreitigkeiten durch die jeweiligen Autoren: Je zusätzender die Schriftsteller von beiden Teilen wurden – [. . . ] – desto mehr glaubte ich zu empfinden, daß die Wirkung, die ein jeder auf mich machte, diejenige gar nicht sei, die er eigentlich nach seiner Art hätte machen müssen. War mir doch oft, als ob die Herren wie dort in der Fabel: der Tod und die Liebe, ihre Waffen vertauscht hätten! Je bündiger mir der eine das Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafter ward ich. Je mutwilliger und triumphierender mir es der andere ganz zu Boden treten wollte: desto geneigter fühlte ich mich, es wenigstens in meinem Herzen aufrecht zu erhalten. Das konnte von einer bloßen Antiperistatis, von der natürlichen Gegenwirkung unsrer Seele, die mit Gewalt ihre Lage ändern soll, nicht herkommen. Es mußte folglich mit an der Art liegen, mit der jeder seine Sache verteidigte.2
1 Bibliolatrie [1779], in: WuB 10, S. 171. Es handelt sich bei diesem Entwurf um eine Antwort auf den Göttinger Kirchenhistoriker Christian Wilhelm Franz Walch. 2 Ebd.
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Wie Lessing »seine« Sache verteidigte, stieß aufgrund der hier angedeuteten, bewussten Vermeidung einseitiger Parteinahme sowohl in der zeitgenössischen Rezeption, wie auch in der Forschung immer wieder auf Unverständnis. Bevor ich mich den Schriften zuwende, sei jedoch noch ein kurzer Exkurs über Lessings Arbeitsmethoden oder seine Vorgehensweise in der Bibliothek eingeschoben. In einer frühneuzeitlichen Bibliothek das zu finden, was man suchte, war bei Weitem nicht so einfach, wie man sich das als moderner Benutzer vorstellen mag: ein veralteter Katalog, kein Schlagwortverzeichnis, keine Querverweise zwischen Büchern, keine Bibliographien im modernen Sinne. ›Finden‹ und ›Entdecken‹ sind demnach auch die passenderen Kategorien als ›Suchen‹. Und selbst zwischen ›Finden‹ und ›Entdecken‹ gilt es zu unterscheiden – wie das auch Lessing selbst tat. In der Vorrede zu einem nie verwirklichten Projekt, das unter dem Namen »Hermäa. Erster Band« in die Lachmann-Munckersche Ausgabe aufgenommen wurde, ist Folgendes – ob der Wichtigkeit ausführlich wiedergegeben – zu lesen: Man denke sich einen Menschen von unbegrenzter Neugierde, ohne Hang zu einer bestimmten Wissenschaft. Unfähig, seinem Geiste eine feste Richtung zu geben, wird er, jene zu sättigen, durch alle Felder der Gelehrsamkeit herumschweifen, alles anstaunen, alles erkennen wollen, und alles überdrüßig werden. Ist er nicht ganz ohne Genie, so wird er viel bemerken, aber wenig ergründen; auf mancherley Spuren gerathen, aber keine verfolgen; mehr seltsame als nützliche Entdeckungen machen; Aussichten zeigen, aber in Gegenden, die oft des Anblicks kaum werth sind. Und diese seine Bemerkungen, seine Spuren, seine Entdeckungen, seine Aussichten, seine Grillen; wenn er sie der Welt gleichwohl vorlegen wollte, wie könnte er sie besser nennen, als Hermäa? Es sind Reichthümer, die ihn ein glücklicher Zufall auf dem Wege, öfter auf dem Schleichwege, als auf der Heerstraße hat finden lassen. Denn auf den Heerstraßen sind der Finder zu viel, und was man auf diesen findet, hatten gemeiniglich zehn andre vor uns schon gefunden, und schon wieder aus den Händen geworfen.3
Dieses Vorgehen beschreibt präzise Lessings Arbeitsmethode als späterer Bibliothekar in Wolfenbüttel, wie Nikolaus Wegmann überzeugend dargelegt hat.4 In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Text in Lessings Breslauer Zeit, genauer in den Jahren 1762/63, entstanden sein dürfte und dass sich Lessing seit seinem Auf-
3 WuB 5/I, S. 449. 4 Nikolaus Wegmann: Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln / Weimar 2000, S. 235–274. Für diesen Hinweis danke ich Dirk Werle. Eine Würdigung der Bemühungen des Bibliothekars Lessing unternimmt Jürgen Hillesheim: Eine Station der Aufklärung: Gotthold Ephraim Lessings Wolfenbüttler Biliothekariat. In: Bibliothek und Wissenschaft 24 (1990), S. 76–89.
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enthalt in Wittenberg mit keiner größeren Bibliothek auseinandergesetzt hat,5 scheint die Annahme mehr als plausibel, dass hier nicht zuletzt auch die Erfahrungen der Jahre 1751/52 verarbeitet wurden. Was bleibt also? Entdeckungen sind leicht zu machen, Funde bleiben unkonventionell arbeitenden Forschern vorbehalten. Im Katalog entdeckt man, was für jedermann offen zu Tage liegt, Funde muss man sich abseits der gängigen Methoden ›erwühlen‹. Dass Lessing ein außerordentliches Talent für Funde hatte, beweisen seine späteren Veröffentlichungen zu Adam Neuser und Berengar von Tours sowie die Schrift Leibnitz von den ewigen Strafen – alles ebenfalls Rettungen. Das bringt uns zurück in die Wittenberger Universitätsbibliothek. Was hat sich Lessing dort ›erwühlt‹? Nach Lessings eigener Einschätzung zunächst einmal ein gehöriges Konfliktpotential, zielen seine Schriften doch alle gegen Zeitgenossen: Die wenigen Abhandlungen desselben sind alle, Rettungen, überschrieben. Und wen glaubt man wohl, daß ich darinne gerettet habe? Lauter verstorbene Männer, die mir es nicht danken können! Und gegen wen? Fast gegen lauter Lebendige, die mir vielleicht ein sauer Gesicht dafür machen werden. Wenn das klug ist, so weiß ich nicht, was unbesonnen sein soll.6
Dass die in den Rettungen geführten Angriffe gegen Vertreter der lutherischen Orthodoxie nicht überall auf offene Ohren stoßen würden, war Lessing also durchaus bewusst, die Koketterie ist nicht zu übersehen. Und dennoch entschied er sich die vier Abhandlungen en bloc als dritten Teil seiner Schrifften erscheinen zu lassen. Bemerkenswert hierbei ist, dass er sie noch vor seine Dramen, mit denen er ja bekanntlich den Durchbruch als Dichter erlangt hatte, stellt. Diese bilden erst den vierten Band, der zeitgleich 1754 erschien. Über den Erfolg der gelehrten Abhandlungen, diesem »Mischmasche von Critik und Litteratur«7 war
5 Wir haben es hier schwer, eindeutige Aussagen zu treffen. Lessing war in Breslau mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, wie schon in Wittenberg. Er hatte Zeit und wohl auch Muse, sich gelehrten Beschäftigungen zu widmen. Diese im Einzelnen nachzuzeichnen, gestaltet sich aber ob der Quellenlage noch schwieriger. In Breslau, so viel wissen wir, konnte er unter kompetenter Anleitung von Johann Kaspar Arletius auf zwei umfangreiche Bibliotheken zurückgreifen: die von St. Berhardin und die von St. Maria-Magdalena. Die ursprünglichen Bestände zu rekonstruieren scheint nach den mehrfachen Umlagerungen und Zusammenführungen mit anderen Bibliotheken heute kaum mehr möglich, aufgearbeitet ist die Geschichte der Bestände in Breslau meines Wissens bisher nicht. Einige, wenn auch nur rudimentäre Einblicke bietet Johann Carl Hermman Schmeidler: Urkundliche Beiträge zur Geschichte der Haupt-Pfarrkirche St. Maria Magdalena zu Breslau vor der Reformation. [. . . ]. Breslau 1838. Siehe auch N, S. 374–376. 6 WuB 3, S. 154. 7 WuB 3, S. 154. Eine ausführliche Untersuchung, wann aus dem (natur-)wissenschaftlich konnotierten Begriff »Litteratur« (als alle Belange der historia litteraria umfassend) die schöngeisti-
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sich der Autor wohl selbst nicht ganz im Klaren, so schrieb er in einer Selbstrezension unmittelbar nach dem Erscheinen in der Berlinischen Priviligierten Zeitung vom 21. Mai: »Die bloßen Titel sind für diejenigen lange genug, die sie nicht selbst lesen wollen.«8 Obgleich manche der Rettungen von den Zeitgenossen durchaus zur Kenntnis genommen wurden, blieb ihnen innerhalb der Lessing-Philologie im Großen und Ganzen nur ein spärliches Schattendasein.9
4.2 Die Rettungen des Horaz Die Rezeptionsgeschichte der Rettungen des Horaz ist gleichermaßen von Bewunderung und Unverständnis gekennzeichnet. Bezeichnete Erich Schmidt die Schrift noch als das »bedeutendste Prosadenkmal der ersten Periode Lessings«,10 so scheint diese Einschätzung des singulären Charakters für die weitere Rezeption bestimmend gewesen zu sein. Die Rettungen des Horaz wurden nie im Zusammenhang mit den anderen drei Rettungen gesehen.11 Winfried Barner fasst die möglichen Hindernisse einer eingehenderen Beschäftigung treffend zusammen: Der Traktat hat überraschend wenige Interpreten gefunden; selbst unter den Rettungen steht er hinter dem trockeneren Cardan-Artikel zurück. Die Gründe dieser Zurückhaltung sind unklar. Die angebliche Prüderie der älteren Germanistik kann es heute nicht mehr sein. Vielleicht also die Scheu vor dem Altsprachlichen, vielleicht die Verschlungenheit der Argumentation, vielleicht nur der Zufall. Dabei hat Lessing sich mit den Horaz-Rettungen halsbrecherisch weit vorgewagt und zugleich, wie von Schmidt angedeutet, der Anstren-
ge »Literatur« wurde, liegt für den deutschsprachigen Raum bisher noch nicht vor. Olaf Simons arbeitet zu dieser Fragestellung in Bezug auf die Umstellungen im deutschen Journalmarkt des frühen 18. Jahrhunderts. Siehe hierzu für den englischen Buchmarkt Lee Morrissey: The Constitution of Literature. Literacy, democracy, and Early English Literary Criticism. Stanford 2008. 8 Zitiert nach: WuB 3, S. 44. 9 Zu den Reaktionen auf die einzelnen Texte verweise ich auf die entsprechenden Kapitel, dort wird ausführlich auf sowohl positive wie auch negative Aufnahme hingewiesen. 10 S 1, S. 232. 11 So wird der Text meist zum Gebiet der ästhetischen Schriften Lessings gerechnet, etwa in der Ausg. Göpferts (G), und somit aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen. Rilla (R) verfährt ebenso und geht sogar so weit, dass er die Rettung des Inepti Religiosi und die Rettung des Cochläus erst gar nicht in seine Werkauswahl mit aufnimmt. Im Folgenden sollen einige Konsequenzen der Abspaltung kurz dargestellt werden, bevor dazu übergegangen wird zu erläutern, warum diese Einordnung zu einer notwendigerweise verkürzten Darstellung und Interpretation führt. Einzig die Ausgabe von Lachmann-Muncker stellt alle vier Schriften in der ursprünglichen Gestalt und Reihenfolge vor. LM 5, S. 267–367.
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gung des Gedankens nichts nachgesehen. Der Text gehört zweifellos zu den historischen Glanzstücken der poetischen Hermeneutik.12
Ich denke, dass eine gewichtige Voraussetzung, dem Text gerecht zu werden, bislang übersehen wurde. Diese liegt in der Verwurzelung in einer Tradition von gelehrtem Schrifttum, eben den Rettungen und Apologien des 17. Jahrhunderts, ohne deren Kenntnis sowohl Intention als auch Gestaltung Rätsel aufgeben müssen. Bevor diesen Umständen weiter nachgegangen wird, seien kurz einige der Positionen skizziert, die bislang in der Forschung thematisiert wurden. Leicht vereinfachend lassen sich drei Richtungen des Forschungsinteresses unterscheiden, die auf je eigene Weise eines gemeinsam haben. Sie versuchen die Rettungen des Horaz an andere Diskurse des jungen Lessing anzuschließen, um Sinnzuschreibungen auf eine breitere Basis zu stellen oder gar überhaupt erst vornehmen zu können. Ein erster Bereich lässt sich in der Verbindung zur Auseinandersetzung Lessings mit Gotthold Samuel Langes Horaz-Übersetzungen und dem daraus resultierenden Vademecum von 1752 festmachen.13 Auch wenn Lessing selbst die Distanz der beiden Vorhaben deutlich hervorhebt, wird hier eine Kontinuität in der Beschäftigung konstatiert, die sich vornehmlich am Gegenstand, eben Horaz, orientiert. Dabei stellt Lessing die fundamentale Differenz der beiden Unternehmungen gleich zu Beginn selbst heraus: »Diese Rettungen des Horaz werden völlig von denen unterschieden sein, die ich vor kurzen gegen einen alten Schulknaben habe übernehmen müssen.«14 Im Vademecum versucht Lessing zu zeigen, dass die Autorität einer Person bzw. ihre Leistungen nicht an der Position, die sie innehat, gemessen werden können.15 Genau diesem
12 WuB 3, S. 1008f. 13 Von den Versen, die Lange übertragen hat, gibt es einen Reprint, der ohne die Aufmerksamkeit Lessings wohl kaum zustande gekommen wäre: Samuel Gotthold Lange: Horatzische Oden (Von) Samuel Gotthold Lange. Und eine Auswahl aus Des Quintus Horatius Flaccus Oden fünf Bücher. Übersetzt von S. G. Lange. Faks.-Druck nach den Ausg. von 1747 und 1752. Mit einem Nachwort von Frank Jolles. Stuttgart 1971 (Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts). 14 WuB 3, S. 158. 15 Zur Person Langes siehe NDB 13, S. 549f. Der von Erich Schmidt verfasste Artikel in der ADB (Bd. 17, S. 651–653) ist dagegen erwartungsgemäß relativ tendenziös. Zu Langes Beschäftigung und dem damit verbundenen Einfluss auf die zeitgenössische Lyrik siehe William P. Hanson: Lange, Pyra and ›Anakreontische Tändeleien‹. In: German Life and Letters 18 (1965), H. 2, S. 81– 90. Zur Auseinandersetzung im Einzelnen und die in der Forschung gezogenen Schlüsse siehe N, S. 194–197, sowie für die im Zusammenhang entstandenen Repliken und Rezensionen WuB 2, S. 1274–1280 und WuB 3, S. 956–976. Zur polemischen Strategie siehe Hugh Barr Nisbet: Polemik und Erkenntnistheorie bei Lessing. In: Mauser, Wolfram; Saße, Günter (Hgg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Referate der Internationalen Lessing-Tagung
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Trugschluss ist man aufgesessen, denn die Übersetzung des Laubinger Pastors ist trotz der ihm zugetrauten Expertise voller ›Donatfehler‹. Die polemische Auseinandersetzung zielt daher prinzipiell gegen die Person Langes und in einem zweiten Schritt gegen dessen schlechte Übersetzung. Die Unredlichkeit ist demnach primär philologischer Natur; lediglich die sich anschließenden Reaktionen Langes sind auch moralisch sanktionswürdig. Will man hier auch von einer Rettung des Horaz sprechen, so muss man deutlich differenzieren: Lessing rettet den horazschen Text gegen eine verstümmelnde und sinnentstellende Übersetzung. Die Person des antiken Dichters bleibt, trotz aller offenkundigen Bewunderung außen vor. Dieses Verhältnis wird sich in den Rettungen des Horaz exakt umkehren. Wilhelm Dilthey sah im Vademecum Lessings »ersten Raubvogelgriff [. . . ], welcher das Entsetzen aller höflichen Leute hervorrief«16 und Adolf Stahr spricht gar von einer »Predigt«,17 die Lessing mit unübersehbarer ironischer Spitze dem Theologen und Pastor Lange gehalten hat. An der Einordnung des Vademecums als Predigt lässt sich der fundamentale Unterschied zu den Rettungen des Horaz präzise beschreiben. Während jene aus dem Duktus des ›besseren Wissens‹ gehalten wird und somit eine verbindliche Anweisung enthält18 – nichts anderes sind die Verbesserungen der aufgezeigten Fehler –, ist diese eine Anleitung zu ›besserem‹, soll heißen präziserem Denken und damit einer begründeteren Ur-
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati / Ohio USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau. Tübingen 1993, S. 410–419. Im gleichen Bd. dazu Jürgen Stenzel: Auseinandersetzung in Lessings frühen Schriften. S. 494–500. 16 Dilthey (1957), S. 19. 17 ST 1, S. 115. »Daß er seinen Brief [das Vademecum ist in Briefform verfasst, M. M.] an den Gegner gleich Anfangs vollkommen nach dem Muster einer Predigt eintheilt, ist ein ganz vortrefflicher Zug humoristischer Ironie, [. . . ].« Auch wenn es an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, würde es durchaus lohnen dieser Spur nachzugehen, zumal Lessing nicht selten Textsorten für seine eigenen Zwecke umwidmet. Eine Einteilung der orthodoxen Predigt liefert Albrecht Beutel: Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Dargestellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universiätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680). In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 93 (1996), S. 419–449, insb. S. 423ff. Die notwendigen formalen Bestandteile sind dabei: Exordium (hinführende Funktion), Propositio (Nennung des Themas), Analysis (sehr nahe am Text bleibende Erklärung), Loci cummunes (die nur aus dem Text, nicht aus äußerlichen Dingen abzuleiten sind) und schließlich der Usus (dabei vier Nutzanwendungen: Erinnerung, Widerlegung, Vermahnung und Trost). Weiter wäre zu prüfen, inwieweit sich Anklänge an die ›philosophische‹ Predigt festmachen ließen, siehe hierzu Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010 (Beiträge zur historischen Theologie 151), dort insb. S. 174–234. 18 So spricht auch Beutel zusammenfassend davon, dass die Predigt an die unumkehrbare Folge von Lehre und Leben erinnert. Beutel (1996), S. 446f.
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teilsfindung, wie im Weiteren zu zeigen sein wird. Doch zunächst zu einer weiteren Zielrichtung der Lessing-Forschung in Bezug auf die hier zur Debatte stehende Schrift. Vertreter der Altphilologie schätzen Lessings Leistungen in seiner Beschäftigung mit den horazschen Oden bis heute. Volker Riedel fasst aus der Perspektive des Altphilologen anerkennend zusammen: Was zunächst die theoretischen Arbeiten betrifft, so bilden Literaturkritik, -geschichte und -theorie eine untrennbare Einheit und sind nicht selten verbunden mit scharfer Polemik gegen Zeitgenossen und Vorgänger. Es geht Lessing weder um eine gleichsam museale Bewahrung des Erbes noch um eine bloße Stellungnahme in aktuellen Diskussionen, bei der die Alten bestenfalls als Illustration dienen; sondern die Lösung gegenwärtiger Fragen ist gepaart mit der Ermittlung des historischen Tatbestandes.19
Gerade in der »Ermittlung des historischen Tatbestandes« bewies Lessing schon früh Talent für die antiken Autoren: »Bereits auf der Fürstenschule St. Afra zu Meißen – [. . . ] – seien Theophrast, Plautus und Terenz seine ›Welt‹ gewesen«.20 Diese in der Schule vorgebildete Neigung zur Antike und insbesondere zur lateinischen Literatur sollte in Lessings Leben eine Konstante bleiben, ein die eigenen Überlegungen ständig begleitendes Korrektiv-Material.21 Es ist natürlich völlig korrekt, die Beschäftigung mit Horaz in dieses Feld gelehrter Studien einzureihen, allein erklärt wird dadurch in Bezug auf die Rettungen wenig. Vielmehr wird die Schrift eine unter anderen in diesem diskursiven Bereich. Ebenso mehr auf Verallgemeinerung denn auf der Beschreibung der genuinen Spezifik zielt die jüngste und auch ausführlichste Studie zur Horaz-Schrift. Sylvia Heudecker gliedert die Rettungen des Horaz an die zeitgenössischen Diskurse der Literaturkritik an und stellt die These auf, dass sich die ›Apologie‹ als Textsorte hervorragend zur Kritik von Literatur eignet,22 allerdings zu einer »inszenierten«.23 Nun stehen
19 Volker Riedel: Lessings Verhältnis zur Antike. Grundzüge, historischer Stellenwert und aktuelle Bedeutung. In: ders: Literarische Antikerezeption. Hg. von Günter Schmidt. Jena 1996 (Jenaer Studien 2), S. 83–98, hier S. 84. Ähnlich im gleichen Bd.: ders.: Literaturkritik und klassische Philologie bei Lessing, S. 108–117. 20 Riedel (1996): Lessings Verhältnis, S. 83. 21 Zu Lessings lebenslangem Interesse an der Antike siehe Jürgen Dummer: Der Philologe Gotthold Ephraim Lessing. In: Berthold, Helmut (Hg.): ›ihrem Originale nachzudenken‹. Zu Lessings Übersetzungen. Tübingen 2008 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 31), S. 21–28. Dort finden sich auch zahlreiche weiterführende Literaturhinweise. 22 Heudecker (2005). Zu den Rettungen des Horaz insb. S. 225–254, zum Vademecum S. 355–387. 23 Ebd., S. 225. Es wird nicht ganz klar, was Heudecker mit ›inszeniert‹ meint. Sie zielt, wie sie selbst sagt, auf »Dimensionen der Leserkommunikation und der rhetorischen Wirksamkeit« (ebd.) ab, inwieweit deshalb die von ihr angenommene Literaturkritik aber inszeniert sei, bleibt ungeklärt.
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den Rettungen des Horaz und der Rettung des Simon Lemnius drei Rettungen gegenüber, die keinen Dichter und somit keine ›Literatur‹ im Sinne Heudeckers zum Gegenstand haben. Dementsprechend schwer gestaltet sich die Einordnung der ›Apologie‹ als genuines »Modell literaturkritischen Schreibens« – so ja der Titel der Arbeit –, die anderen Texte müssen preisgegeben werden. Heudecker mag sich nicht entscheiden, wenn es darum geht, ob die Briefe im zweiten Teil der Schrifften nun literaturkritisch sind oder nicht: »Die ausgeblendeten Briefe der ›Schrifften‹, in denen Lessing z. B. Lemnius verteidigt oder sein eigenes Drama Samuel Henzi erläutert, können nicht im engeren Sinn literaturkritisch genannt werden – die einen bieten philologische Textkritik, die anderen interpretatorische Textauslegung.«24 Die Rettungen des dritten Teils der Schriften, aus deren unmittelbarem Kontext die Horaz-Schrift stammt, werden gar nicht erst in den diskursiven Zusammenhang miteinbezogen. Es wird relativ deutlich, dass Heudecker die Tradition der Vindicatio und der Apologien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die Personen zum Gegenstand haben, nicht vor Augen hat. Erkennbar wird dies daran, dass sie als Analyse- und Beschreibungsinstrumentarium auf die antiken rhetorischen Schemata zurückgreift, ohne deren Aktualisierung und Neukontextualisierung im 18. Jahrhundert weiter zu prüfen.25 Im Gegensatz zu den bisher in der Forschung eingeschlagenen Wegen und Strategien der historischen und werkgeschichtlichen Einordnung soll hier eine alternative Herangehensweise verfolgt werden, die sich aus der ursprünglichen Publikationsweise ergibt und den gattungsgeschichtlichen Voraussetzungen verpflichtet ist. Auf diese Weise kann erstmals die strategische Anordnung der Rettungen, wie zu zeigen sein wird, beachtet und die in den Rettungen des Horaz dargestellten Themenkomplexe als grundlegend für die Lektüre der weiteren Rettungen (Cardano, Ineptus Religiosus und Cochläus) fruchtbar gemacht werden. Zunächst stehen deshalb zwei Fragen im Zentrum, die bisher ungestellt geblieben sind, gleichwohl sie sich von selbst aufzudrängen scheinen. Zum einen: Warum rettete Lessing ausgerechnet Horaz? Auch andere antike Dichter, die unter Umständen schlechter beleumundet waren, hätten einer Rettung bedürfen können. Und zum zweiten: Warum bilden die Rettungen des Horaz den Auftakt in der Rei-
24 Ebd., S. 158. Was im Gegensatz dazu dann – gerade im Hinblick auf die Situation der Jahrhundertmitte – das Spezifikum der Literaturkritik ausmacht, bleibt offen. 25 Dass dies unbedingt nötig ist, zeigen die wegweisenden Arbeiten von Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 91); sowie ders.: Affekt contra ars. Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric 24 (2006), S. 337–369.
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he der Rettungen?26 Für die Beantwortung beider Fragen muss zunächst der Stellenwert Horaz’ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingehender beleuchtet werden.
4.2.1 Horaz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – Person und Werk
»Das achtzehnte Jahrhundert hat bekanntlich in seinen poetologischen Reflexionen – neben Longin in Fragen zum Erhabenen – vor allem zwei antike Autoritäten: Aristoteles und Horaz.«27 Burghard Damerau spielt hier natürlich auf die horazsche Ars Poetica an, die – wie ihr Autor – jenseits von Streitfragen um die genaue Auslegung bestimmter Textstellen als Autorität an sich gilt. Es soll hier aber gar nicht um Horaz als Literaturtheoretiker oder die aus seinen Überlegungen hervorgegangenen Positionen gehen, sondern um ein zweites Gesicht Horaz’, das in den einhundertfünfzig Jahren vor Lessings Schrift mindestens ebenso präsent war. Horaz war immer schon der geliebte Ungeliebte, eine ambivalente Figur voller (scheinbarer) Widersprüche, die sich nur schlecht unter eine persona28 vereinigen ließen: der herausragende Dichter, dessen Lyrik geradezu als Sinnbild für poetische Schönheit begriffen wurde und gleichzeitig mit Vorsicht zu genießen war. An Unterricht in Schulen war ob der amourösen Anspielungen und des freizügigen Gedankengehalts freilich nicht zu denken. Aber darüber konnte man hinwegsehen, war man erst zum richtigen Gebrauch angeleitet.29 Auch der Umstand, dass man sich lange Zeit gegen die Übersetzung der horazschen Werke in die Volkssprache gewehrt hat oder zumindest seine Probleme damit hatte, kann
26 Wie im Kapitel zur Rettung des Lemnius schon angesprochen, kann diese hier als vorangegangener Versuch ausgeklammert bleiben. 27 Burghard Damerau: Horaz oder Die Wahrheit der Literatur. Eine Anmerkung zum Umgang mit Horaz im 18. Jahrhundert. In: ders.: Gegen den Strich. Aufsätze zur Literatur. Würzburg 2000, S. 125–132, hier S. 125. 28 Ich verstehe persona hier in der Verwendung Ian Hunters: Die Geschichte der Philosophie und die Persona des Philosophen. In: Mulsow, Martin; Mahler, Andreas (Hgg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010, S. 241–283. »Es [das Konzept der intellektuellen Persona, M. M.] unterscheidet sich vom Sprechakt darin, dass es versucht, solche Philosophien nicht über sprachliche Performativität als solche zu erklären, sondern über die Art und Weise, wie ganze Ensembles geistiger Verfahren – Sprechakte, aber eben auch Lehrmeinungen, logisch-rhetorische Techniken, ethisch-kognitive Exerzitien und Experimentalanordnungen – an einen bestimmten Sinn und an ein Selbst gebunden sind.«, hier S. 259. 29 Weiterführendes dazu bei Ernst A. Schmidt: Horaz und die Erneuerung der deutschen Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Krasser, Helmut u. a. (Hgg.): Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden. Tübingen 1996, S. 255–310.
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als Indiz dafür gewertet werden, dass lediglich eine exklusive, im Umgang mit solchen Texte als kompetent geltende Gruppe die Leserschaft bildete. Ohne Lateinkenntnisse und die damit verbundene Ausbildung, sollte Horaz kein Thema sein. Ein weiteres Problem für den christlichen Leser der Zeit war der keineswegs lapidare Umstand, dass man in Horaz einen Heiden vor sich hatte; was sollte dieser zur erbaulichen Erziehung überhaupt beitragen können?30 Der Vorwurf der Immoralität, der eng mit dem des Ungläubigen und des Heiden verbunden war, verstärkte die Skepsis. Als ein zusätzliches Moment kam die Lust der Leser am Skandalösen hinzu. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrten sich halbfiktive Romane oder romanähnliche Schriften über das Leben antiker Persönlichkeiten, die in ihren Beschreibungen mit der Faktenlage aber mehr als großzügig umgingen.31 Genau solch eine Schrift diente als Hauptinformationsquelle über das Leben des Horaz. Pierre-Joseph de la Pimpie de Solignac (1687–1773) war der Verfasser der Les Amours d’Horace, die 1728 unter dem fingierten Verlagsort Köln bei dem ebenso fiktiven Verlag Pierre Marteau erschien.32 Es ist in Anbetracht der spärlichen biographischen Fakten, die man von Horaz hat, leicht ersichtlich, dass bei einer Schrift, die stolze 328 Seiten umfasst, einiges ausgeschmückt und hinzugekommen sein muss. Vornehmlich bediente sich der Autor hierzu aus den Dichtungen Horaz’. Es wurde derzeit Mode, dass »man [. . . ] die Liebesabenteuer antiker Dichter aus ihren Werken zusammen[stellte]«.33 Auf diese Weise verfestigte sich ein Horaz-Bild, dass den Dichter zwar als brillianten Künstler darstellte, gleichzeitig aber nie vergaß auf die Kosten zu verweisen: Horaz war ein Mensch der sexuellen Ausschweifung und unter moralischen Aspekten vollkommen diskreditiert. Damit war die ohnehin aufgrund seiner heidnischen Religion angenommenen Amoralität bestätigt. Damit nicht genug, noch ein weiterer Zug findet sich in Horaz’ zweitem Gesicht, der hier in seiner ganzen Bedeutung nur in bescheidenen Ansätzen skizziert werden kann. Horaz galt seit jeher als Patron eklektischer Philosophie. Ausgehend von diesem Umstand ist es leicht verständlich, dass die Adaptation horazscher Schriften von den jeweiligen Rezipientengruppen für ihre eigenen Zwe-
30 Dazu ausführliche Anmerkungen bei Eduard Stemplinger: Lessings ›Rettungen des Horaz‹. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Lessings. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 12 (1909), S. 261–274, insb. S. 261–263. 31 Als ersten Vertreter dieses Typus kann man Jean de Lachapelles (1655–1723) Les Amours de Catulle. Paris 1680/81, viele weitere Auflagen im frühen 18. Jahrhundert folgten, sehen. 32 Pierre-Joseph de la Pimoie de Solignac: Les Amours d’Horace. A Cologne Chez Pierre Marteau 1728. 33 Stemplinger (1909), S. 263.
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cke instrumentalisiert wurde. Dazu Stemplinger: »Er [Horaz, M. M.] ward zu einem Philosophen ohne Grundsätze, einem philosophischen Chamäleon, der die gegensätzlichsten Systeme nach Belieben vertauschte; [. . . ].«34 Um die Tragweite dieser Zuschreibung begreiflich zu machen, muss ein wenig weiter ausgeholt werden. Ihren Ausgang nimmt die Frontstellung Horaz’ in dem berühmten Diktum »Nullius addictus iurare in verba magistri« (Ep. 1 1,14), dessen Übersetzung sich nicht gerade einfach gestaltet. Michael Albrecht schlägt als eine weniger poetische, dafür den Sinn korrekter wiedergebende Übersetzung »Ich bin auf keines Meisters Worte zu schwören verpflichtet« vor.35 Darin deuten sich die »zwei grundlegenden Bedeutungen von Eklektik [. . . ] als Vermischung und Auswahl« an. Dabei ist von einer rein negativen Besetzung des Begriffs noch nicht auszugehen, wie eine moderne Lesart schnell unterstellen könnte.36 Die beiden Begriffe ›Vermischung‹ und ›Auswahl‹ beschreiben eine seit der Antike gängige, wenn auch nicht institutionalierte »methodenlose Methode«.37 Anhand dieser ist es möglich, sich gedanklich jenseits von festgelegten, in sich kohärenten Systemen oder zeitgenössisch ›Sekten‹ (philosophia sectaria) zu bewegen. Wie Wilhelm Schmidt-Biggemann deutlich zeigt, ist die Eklektik als eine Grundvoraussetzung für den Umgang mit historia, in der doppelten Wortbedeutung von Geschichte und Erfahrung zu betrachten: Der Kompetenzanspruch der Vernunft, auch ihr Anspruch auf Wahrheit insgesamt, wird durch Praxis begrenzt. Diese Begrenzung des Wahrheitsanspruches der Vernunft ist zugleich der Maßstab, der Gedankenfreiheit ermöglicht. Das Programm also: Humanisierung
34 Stemplinger (1909), S. 262. 35 Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones 5). Zu Horaz siehe S. 46– 49, hier S. 46. Siehe hierzu auch die Überblicksdarstellung von Horst Dreitzel: Zur Entwicklung und Eigenart der ›eklektischen Philosophie‹. In: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), S. 281–343. 36 Man beachte die deutlich negative Konnotation, die im HWdPh unterstellt wird: [Art.] Eklektizismus. Bd. 2, S. 432f. Die deutlich positive, programmatische Bedeutung des Begriffs in der deutschen Frühaufklärung betont Norbert Hinske: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit – drei verschiedene Formulierungen einer und derselben Programmidee. In: ders. (Hg.): Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hamburg 1986 (Aufklärung 1 (1986), H. 1), S. 5–7; sowie Martin Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert. In: Zedelmaier, Helmut; Mulsow, Martin (Hgg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 63–94. 37 Schmidt-Biggemann (1988), S. 204. Das Konzept wird zuerst bei Diogenes Laertius bedacht und in Abgrenzung zur philosophia sectaria konzepiert, »die sich an ›feste Lehrsätze hält, welche in voller Übereinstimmung miteinander stehen‹, die mit Prinzipien und Schlussfolgerungen arbeitet. Alle diese methodischen Kriterien werden durch die eklektische Methode negiert.« Ebd.
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der Erfahrung durch deren Begrenzung. Implikationen: Freiheit der Erfahrungsbeurteilung und frei gedachte Bewertung von Geschichte. Das ist zugleich der Ursprung des philosophischen Begriffs von Kritik: Freiheit des Urteils über historische Gegenstände [. . . ].38
Die Fülle der geschichtlichen Tatsachen lässt gar keine anderen Möglichkeiten als Auswahl und Vermischung, im Sinne von Vergleichung von an sich Unterschiedlichem, zu. Das probate Mittel, sich dabei im Denken zu orientieren und trotz der Fülle an möglichen Informationen, auf die zurückgegriffen werden kann, nicht zu beliebigen Urteilen zu gelangen, ist die Kritik. Lessings Rettungen stehen in dieser Tradition, das in ihnen durchscheinende Denkmodell einer kritischen Rationalität stemmt sich einer dogmatisch verfassten Rationalität, das heißt innerhalb eines Systems oder einer ›Sekte‹ verhafteten und damit notwendig mit Denkunmöglichkeiten, wenn nicht sogar mit Denkverboten duchsetzten Urteilen, entgegen. Nun ist das im Bereich philosophischer Schulen ein geringeres Übel. Ob man nun Aristoteliker oder Cartesianer ist, die Integration von Fragestellungen und deren Bewertung ist weiterhin leistbar oder zumindest als disputative Aufgabe nicht außerhalb der Möglichkeiten.39 Als Beispiel seien hier nur die philosophischen Bemühungen Christian Thomasius’ genannt, der über die Forderung, dass der Primat philosophischen Denkens auf der Erfahrung liegen muss, zunächst scheinbar Unvereinbares zusammendenken und dann auch zusammenführen konnte.40
38 Ebd., S. 207 (Hervorhebung M. M.). 39 Als ein Beispiel unter vielen kann hier eine diesbezügliche Auseinandersetzung an der Universität Königsberg genannt werden, siehe Riccardo Pozzo: Aristotelismus und Eklektik in Königsberg. In: Marti, Hanspeter; Komorowski, Manfred (Hgg.): Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Köln 2008, S. 172–185. 40 Christian Thomasius ist in den vergangenen fünfzehn Jahren intensiv in den Blick der Forschung gerückt, was zu einer Fülle von Publikationen geführt hat, von denen hier nur eine kleine Auswahl genannt werden kann. Besonders einschlägig in Bezug auf Thomasius’ eklektische Methode ist Klaus-Gert Lutterbeck: Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers. In: Beetz, Manfred (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20), S. 77–102. Ferner Francesco Tomasoni: Christian Thomasius. Geist und kulturelle Identität an der Schwelle zur europäischen Aufklärung. Vom Autor überarb. und um einige Ergänzungen erweiterte Fassung. Münster 2009, zur Eklektik insb. S. 17f. und S. 227–246; sowie Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 119), S. 78–126. Einen allgemeinen Überblick und eine breite historische Einordnung gibt Thomas Ahnert: Religion and the origins of the German Enlightenment. Faith and the reform of learning in the thought of Christian Thomasius. Rochester, NY 2006 (Rochester studies in philosophy 12). Eine Zusammenstellung von Einzelstudien ist zu finden bei Friedrich Vollhardt (Hg.) (1997).
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Ganz anders sieht die Sache aus, wenn man sich im Feld der Religion und Theologie bewegt. Auch hier könnte man bei Thomasius beginnen, allerdings würde man der Entstehung der Diskussion nicht gerecht werden, die schon früher anzusetzen ist. Es ist nicht verwunderlich, dass eine eklektische Vorgehensweise innerhalb oder besser oberhalb geschlossener Gedanken- bzw. Lehrgebäude, die klar zwischen falsch und richtig, akzeptabel und inakzeptabel zu trennen vermögen, wie es die Konfessionen als ihre Praxis sehen, eine größtmögliche Herausforderung darstellt. Eklektik vermag gerade die Grenzen zu verwischen, die unter harten Kämpfen erst gezogen wurden. Die richtige, weil heilsbringende Lehre in Religionsdingen ist eben immer nur die eine, niemals eine unter vielen ›Richtigen‹. Während man grosso modo für den Bereich des Katholischen eine größere Resistenz gegenüber dergleichen Irritationen konstatieren darf, stehen die vergleichweise jungen Konfessionen unter einem ungemein höheren Legitimationsdruck hinsichtlich ihrer Lehren und Glaubenssätze. Dementsprechend sind Fragen, woraus und vor allem was man auswählen darf und welche Folgen diese Vermischungen jeweils zeitigen, von kaum zu überschätzender Brisanz. Der folgende, kurz zusammengefasste Fall mag dies illustrieren.41 Der Hamburger Hauptpastor Johann Müller (1598–1672)42 brachte in seinem erstmals 1672 erschienenem Werk Atheismus Devictus43 die Eklektik mit einer elitären ›Religion der Klugen‹ (religio prudentum) in Verbindung, deren Ursprünge er in Holland vermutet.44 Gegen Hugo Grotius fragt Müller: »Ob es zu rathen sey daß man auß allen Religionen das beste auß lese, zusammen trage, und eine Religion daraus mache?«45 Die Antwort ist freilich nein, denn »[a]uß den irrigen Religionen kann man nichts gutes nehmen [. . . ].«46 Die »irrigen Religionen« sind demnach aber alle, außer der eigenen, ansonsten macht die ganze Argumentation keinen Sinn. Das Prinzip der eklektischen Methode verbietet sich also gänzlich. Schon an diesem kleinen Beispiel kann man sehen, dass hier mit zwei fundamental unterschiedlichen Hermeneutiken operiert wird, von denen die ei-
41 Ich greife hier in verkürzter Darstellung auf ein Kapitel von Michael Albrecht zurück: ›Ekletische Religion: Woraus auswählen?‹, Albrecht (1994), S. 509–525 42 Zu biographischen Daten siehe Zedler 22, Sp. 230–232. 43 Johann Müller: Atheismus Devictus / Das ist Ausführlicher Bericht Von Atheisten / Gottesverächtern / Schrifftschändern / Religionsspöttern / Epicurern / Ecebolisten / Kirchen und Prediger Feinden / Gewissenslosen Eydbrüchigen Leuten / und Verfolgern der Recht-Gläubigen Christen: [. . . ]. Hamburg 1672. 44 »In Holland findet man etliche Leute, die ihre eigene Religion haben, welche sie nennen Religionem Prudentum, die Religion der Klugen [. . . ].« Zitiert nach Albrecht (1994), S. 509. 45 Ebd., S. 509. 46 Ebd.
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ne in sich geschlossen ist, die andere sich hingegen öffnet und damit auf letzte Wahrheiten verzichtet. Eine durch Vernunft begründete Religion gibt den Anspruch auf letzte Wahrheit und Wahrhaftigkeit auf, die nur das in sich geschlossene Gebäude einer Offenbarungsreligion garantieren kann. Hierbei allerdings von Säkularisierung zu sprechen oder Züge dergleichen festmachen zu wollen, wäre falsch.47 Löst man jedoch Steine aus diesem Gebäude heraus oder ersetzt sie durch andere, gefährdet man die Stabilität bis hin zum möglichen Einsturz. Ein zu hoher Preis, um zu verhandeln.48 Noch dramatischer wird die Situation, wenn man den christlich-konfessionellen Bezugsrahmen verlässt und die beiden anderen monotheistischen Religionen – Judentum und Islam – in den Vergleich einbezieht, wie Lessing es in der Rettung des Hier. Cardanus getan hat. In diesem spannungsreichen Kontext apologetischer und reformerischer Schriften ist der Name ›Horaz‹, der eine Chiffrenfunktion erfüllt, zu verorten.49 Nur wenige Konturen aus dem Bild einer Debatte seien hier angedeutet, die unter Lessings Zeitgenossen wesentlich intensiver wahrgenommen wurde und nach wie vor im Fokus der Diskussionen stand und die in ihrer Tiefendimension bei Weitem noch nicht ausreichend erforscht ist. Mit einer Rettung Horazens ist also ein wesentlich weiterer Rahmen vorgegeben, als der Bereich des Dichterischen, der Persona des Dichters und dessen Freiheit. Es geht um eine methodische Frage zum Umgang mit der Geschichte im Allgemeinen und die möglichen Konsequenzen, die daraus
47 »Die christliche Theologie sah sich einer Opposition gegenüber, die zu definieren beanspruchte, ›über was und wie man sinnvollerweise überhaupt streiten könne‹, womit sich die bis dahin unbefragte ›Symmetrie von positiver Religion und Rationalität‹ aufzulösen drohte; die Theologie des 18. Jahrhunderts hat darauf bestanden, ›daß auch über rationale Plausibilität nicht vorweg entschieden werden könne; und die Debatte darüber verstand sie als Apologetik‹.« Friedrich Vollhardt: »Verweltlichung« der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Danneberg, Lutz u. a. (Hgg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin 2002 (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 2), S. 67–93, hier S. 78. 48 Man muss an dieser Stelle auch an den Synkretismus-Streit denken, der unter ähnlichen Voraussetzungen geführt wurde, auf den hier aber nicht näher eingegangen werden kann. 49 Dies lässt sich auch für die zeitgenössische Einschätzung belegen, etwa in Friedrich von Hagedorns Gedicht Horaz. Dort heißt es mit Blick auf Horaz’ Eklektik: »Der ist beglückt, der sein darf, was er ist, / Der Bahn und Ziel nach eignen Augen mißt, / Nie sklavisch folgt, oft selbst die Wege weiset, / Ununtersucht nichts tadelt und nichts preiset, / Und, wenn sein Witz zum Dichter ihn bestimmt, / Natur und Zeit zu seinen Führern nimmt.« Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke. Leipzig o. J., S. 54–63, hier S. 61. Zur Bedeutung Horazens für Friedrich von Hagedorn siehe die ausführliche Monographie von Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung. Berlin 1999 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 15), passim.
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zu ziehen sind. Dass hier auch die Religion unter die Kategorie des Geschichtlichen fällt, wurde bisher weitgehend übersehen. Monika Fick ist die erste, die den Gegenwartsbezug der Schrift konstatiert und die instrumentelle Funktion der Religionskritik bemerkt.50 Erst mit dieser Ausweitung der diskursiven Kampfzone, in die man sich begibt, wenn man über Horaz schreibt, wird verständlich welches Risiko Lessing mit dieser Schrift eingegangen ist und dass sie im Hinblick auf die anderen drei Rettungen, die alle im weitesten Sinne kirchengeschichtliche Themen zum Gegenstand haben, als Eröffnung des Feldes gelesen werden muss, in dem argumentiert werden soll. Der programmatische Charakter ist unverkennbar, wie im Folgenden in einzelnen Schritten gezeigt werden soll. Lessing, so viel vorweg, hat »sich mit den Horaz-Rettungen halsbrecherisch weit vorgewagt«.51
4.2.2 Die drei Vorwürfe wider Horaz und Lessings Entgegnungen
Bereits das Motto, das Lessing den Rettungen des Horaz voranstellt, verweist auf die Gegnerschaft, mit der er es aufzunehmen gewillt ist: »Quem rodunt omnes – (Horat. Lib I. Sat. 6.)«. Horaz, den alle bekritteln. Nicht nur einige wenige haben eine abweichende Meinung zur Person des Dichters, sondern Lessing will mit seiner Rettung gegen die opinio cummunis anschreiben. Dass es sich dabei um keine leichte Aufgabe handelt, ist ihm bewusst: »Die Gabe sich widersprechen zu lassen, ist wohl überhaupt eine Gabe, die unter den Gelehrten nur die Toten haben.«52 Wie schon in der Vorrede angedeutet, rechnet Lessing damit, dass ihm der ein oder andere »ein sauer Gesicht« machen wird, wenn er lauter Tote, gegen lauter Lebendige verteidigt. Widerspruch zu erdulden ist keine Tugend unter Gelehrten. Dennoch wird die Aufgabe als unbedingt notwendig erachtet, denn »[w]er aber will denn gerne verleumdet sein?«53 Dabei weiß Lessing die Zeit auf seiner Seite, denn »[u]ngerecht wird die Nachwelt nie sein.«54 Noch nach Jahrhunderten für einen großen Geist gehalten zu werden – wie im Falle Horaz’ –, ist zumindest ein unwidersprechlicher Beweis für das Genie. Um dies nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, braucht es »von Zeit zu Zeit Leu-
50 »Eine solche historische Relativierung betrifft natürlich auch die materialistische Liebeskonzeption der eigenen Gegenwart, raubt ihr den ›essentialistischen‹ Anspruch.« Die strenge Prüderie der augustinisch-geprägten Sexualmoral fällt ebenfalls der Geschichtlichkeit anheim. F (2010), S. 110. 51 Winfried Barner in WuB 3, S. 1009. 52 WuB 3, S. 158. 53 Ebd. 54 Ebd.
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te, die ein Vergnügen daran finden, Vorurteilen die Stirne zu bieten, und alles in seiner wahren Gestalt zu zeigen, sollte auch ein vermeinter Heiliger dadurch zum Bösewichte und ein vermeinter Bösewichte zum Heiligen werden.«55 Hier drängt sich die Frage auf, ob Gerechtigkeit also eine genuine Kategorie des Historikers ist? Die unvoreingenommene Prüfung, im besten Sinne des Begriffs Kritik als Freiheit des Urteils, kann auf den richtigen Weg zu führen. Lessing sieht diese Musterung als seine Aufgabe, und zwar auf dem Gebiet des moralischen Verstandes, das heißt Nachlasspflege nicht auf Materielles bezogen, sondern auf Geistiges. Der Zweck der Rettungen ist durchweg ein moralischer: Weniger die Leistungen der zu rettenden Personen stehen im Fokus des Interesses als vielmehr deren moralische Integrität. Es soll die ganze Person gewürdigt werden, indem sie klar vor Augen gestellt wird.56 Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Differenzierung von Werk und Leben gelegt, das in eins gesetzt erst die Vorwürfe zu zeitigen vermag. »So viel er auf der Seite des Dichters gewonnen hat, so viel hat er auf der Seite des ehrlichen Mannes verloren«,57 schließt Lessing und beginnt die Anklagepunkte in diesem Prozess in daraus abgeleiteten Positionen zu formulieren. Die scheinbaren Unvereinbarkeiten stellen sich wie folgt dar: Auf der einen Seite sang Horaz die »zärtlichsten und artigsten Lieder« und doch war niemand »wollüstiger«.58 »[E]r lobte die Tapferkeit bis zum Entzücken, und war selbst der feigherzigste Flüchtling«.59 Und schließlich hatte er die »erhabensten Begriffe von der Gottheit« und war dabei ihr »schläfrigster Verehrer«.60 Lessing
55 Ebd., S. 159. 56 An dieser Stelle muss auf ein Desiderat der Forschung hingewiesen werden, das selbst zu erarbeiten den hier gesteckten Rahmen bei Weitem sprengen würde. Es gibt keine Untersuchungen zum Menschenbild des jungen Lessing. Gerade in dieser frühen Phase wird sich ein extrem komplexes Bild abzeichnen, das ein christlich fundiertes, aber mit den anthropologischen Überlegungen der Frühaufklärung vermengtes und mit Sicherheit von materialistischen Überlegungen nicht freies Menschenbild ergeben wird. Wie das im Einzelnen aussieht, liegt im Dunkeln. Ich würde jedoch die Vermutung äußern, dass man sich eher in England als in Frankreich auf Spurensuche begeben muss. Einen ersten Schritt in diese Richtung geht Jan Engbers (2001), insb. S. 59–102. Dort findet sich auch ein direkter Verweis auf die Rettungen des Horaz, wenn Engbers die »Akzeptanz der moralischen Unvollkommenheit des Menschen« thematisiert: »Bereits zwei Jahre vor dem Briefwechsel über das Trauerspiel behauptet Lessing in den Rettungen des Horaz (1754), daß sich die menschlichen Triebe und Affekte nicht vollständig bändigen lassen. Der Mensch läßt sich nicht zu einem jederzeit vernünftig handelnden Wesen erziehen: [. . . ]. Sein Plädoyer für das Mitleiden knüpft an diese Feststellung an und impliziert, daß einer moralischen Besserung des Menschen natürliche Grenzen gesetzt sind.« S. 101. 57 WuB 3, S. 160 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd.
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glaubt hinter diesen Anschuldigungen eine Strategie erkennen zu können, die es erlaubt aus dem scheinbaren Umstand der mangelnden Frömmigkeit weitere Schlüsse über Horaz’ Leben zu ziehen und ihn auf diese Weise zu diskreditieren. Der direkte Konnex zwischen ordentlicher Religionsausübung oder eben Frömmigkeit und Moral war derart im Bewusstsein der Zeitgenossen verankert, dass auf diesem Feld lange Zeit keine Widersprüche zu erwarten waren. Obgleich die Auseinandersetzung mit den Werken Horaz’, deren Kommentierung und Erläuterung, der gelehrten Exegese dunkler Textstellen und Übersetzungsvarianten, von Generationen von Philologen und Biographen betrieben wurde, kamen die hier zur Disposition stehen Anschuldigungen nie zur Sprache. »Haben sie etwa einen Heiden nicht gar zu verehrungswürdig machen wollen?«61 Lessing trifft hier vermutlich einen wunden Punkt in der Argumentation der Zeit. Wie oben schon angedeutet, steht die Frage im Raum, ob – und wenn ja inwiefern – der christliche Leser von der Lektüre des heidnischen Dichters profitieren kann. Unter den genannten Voraussetzungen bietet sich dafür keine Chance, weshalb Lessing sich dem »Ungrund der Vorwürfe«62 zuwendet. Gibt man es nämlich auf, Moral strikt an den Glauben (oder gar die Konfession) zu binden, lösen sich die Widersprüche beinahe von selbst. Ihnen wird die argumentative Basis entzogen. Die Radikalität dieser Aussage ist leicht zu übersehen, wird sie doch eher en passant geäußert. Gerade deswegen muss betont werden, dass Lessing hier Gedanken vorbringt, die in Deutschland noch zwanzig Jahre später für einen Skandal sorgten, als Johann August Eberhard in seiner Neuen Apologie des Sokrates die Möglichkeit der Seligkeit der Heiden verhandelte.63 Nichts anderes steht hier schon auf dem Tableau. Der Mensch kann aufgrund seiner Tugendhaftigkeit auch außerhalb der Kirche, ja vielleicht sogar außerhalb des Glaubens selig werden. Das Verhältnis
61 Ebd. 62 Ebd. 63 Johann August Eberhard: Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seeligkeit der Heiden. Hg. von Walter Sparn. Hildesheim 2010 (Repr. der Ausg. Berlin / Stettin 1772). Die »Lehre von der Verwerfung der Heyden« (S. 25) ist nach Eberhard eine Erscheinung, die sich innerhalb der protestatischen Orthodoxie erst nach Luther in aller Schärfe herausgebildet hat. Die Diskussionen nahmen ihren Ausgang in England bei Cherbury und Locke (siehe hierzu [Art.] Seligkeit der Heiden. In: HWdPH 9, S. 570–574). Erneuten Zündstoff für eine breite Debatte liefert Jean-François Marmontelles (1723–1799) Roman Bélisaire von 1767, der von der Theologischen Fakultät der Sorbonne verboten wurde. Noch Hamann warf Eberhard vor, dass es ihm weniger um die Seligkeit der Heiden als vielmehr um die Seligkeit der Freidenker ginge (ebd.). Eine ausführliche, zeitgenössische Zusammenfassung liefert Zedler 36, Sp. 1677–82. Eine Zusammenfassung der Position Eberhards bei Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Tübingen 1997, S. 205f.
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von Vernunft und Offenbarung ist das vorherrschende Thema.64 Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich die bisweilen bis ins Pedantische reichende, ausufernde Argumentation um die Moralität Horaz’ und seiner Dichtungen. Um es im juristischen Jargon des hier geführten Prozesses zu formulieren: Die Rettungen des Horaz stellen einen Präzedenzfall dar.
4.2.3 Stinkende Geilheit und unmäßige Unzucht – der erste Anklagepunkt
Der erste Vorwurf gegen Horaz ist, dass er ein Wollüstling gewesen sei. Obwohl dieser Vorwurf »der feinste nicht ist«,65 wie Lessing schreibt, war er weit verbreitet. Noch im Jahr 1747 erneuerte ihn der im Feld der literarischen Kritik bekannte Pastor Gottfried Ephraim Müller (1712–1752) in seiner Historischen Einleitung zu nöthiger Kenntniß und nützlichen Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller.66
64 Es gibt viele Arbeiten in der Lessing-Forschung, die sich der Verbindung von Offenbarung und Vernunft widmen, allerdings sind diese meist bezogen auf das mittlere und späte Werk. Für das Frühwerk wurde diese Debatte bisher nicht im gleichen Maße aufgearbeitet. Aus der Fülle der Publikationen seien hier nur wenige der grundlegenden und neueren Arbeiten genannt: Joachim Desch: Vernünfteln wider die Vernunft: Zu Lessings Begriff eines konsequenten Rationalismus. In: Bahr, Ehrhard (Hg.): Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht; Beiträge zum Internationalen Lessing-Mendelssohn-Symposium anläßlich des 250. Geburtstages von Lessing und Mendelssohn veranstaltet im November 1979 in Los Angeles, Kalifornien. Detroit 1982 (Lessing Yearbook / Beiheft, 1979), S. 133–141. Gerd Hillen: Lessing – ein Philosoph? In: ebd., S. 165–173. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991. Ursula Goldenbaum: Lessing contra Cramer zum Verhältnis von Glauben und Vernunft. Die Grundsatzdebatte zwischen den Literaturbriefen und dem Nordischen Aufseher. In: Goldenbaum (Hg.) (2004), S. 653–728. Einzige Ausnahme, allerdings mit der Blickrichtung auf das Drama, ist Frank Surall: Vom Sieg der Vernunft über das Vorurteil. Gotthold Ephraim Lessings Frühwerk »Die Juden«. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 60 (2008), H. 4, S. 310–329. 65 WuB 3, S. 161. 66 Gottfried Ephraim Müller: Historische Einleitung zu nöthiger Kenntniß und nützlichen Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller. 5 Bde. Dresden 1747. Dort wird Horaz die »stinkende Geilheit und unmäßige Unzucht« unterstellt, Bd. 3, S. 403. Über Müllers Person lässt sich erstaunlich wenig in Erfahrung bringen, er war, glaubt man dem Kommentar, sächsischer Landund Militärgeistlicher. Als gesichert kann gelten, dass er gegen Lebensende Pfarrer in Pesterwitz, heute ein Ortsteil der sächsischen Großen Kreisstadt Freital, war, wie aus einer von ihm veröffentlichten Liedsammlung hervorgeht (M. Gottfried Ephraim Müllers, Pfarrers zu Pesterwitz, Geistliche Lieder, über die Sonn- und Festtags-Evangelien: nach dem Inhalte seiner Predigten, im Jahre 1744, o.O.). Unter seine Veröffentlichungen fällt auch eine Übersetzung Alexander Popes: Versuch über die Critik: aus dem Englischen des Herrn Pope. Nebst einem Versuche einer Critik über die deutschen Dichter. Dresden 1745, sowie eine schon frühere Abhandlung auf dem
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Die Verbindung von Heidentum bzw. Ungläubigkeit und sexueller Freizügigkeit hat eine lange Tradition und erhielt mit der aus französischen Freidenkerkreisen des 17. Jahrhunderts bekannten libertinage érudit neue Impulse. Aber woher stammten die Informationen, die dieser Einschätzung zugrunde liegen? Lessing beginnt mit seiner Quellenkritik und führt zunächst eine Unterscheidung ein. Die Verdächtigungen haben zweierlei Grundlage, zum einen externe Zeugnisse und zum anderen Teile von Horaz’ eigenem Werk. Diese gelte es philologisch auseinanderzuhalten, was bisher nicht geschehen sei. Lessing nimmt sich die erste der beiden Textgruppen vor und kann sogleich feststellen: »Alle Zeugnisse die man wegen der wollüstigen Ausschweifung des Horaz auftreiben kann, fließen aus einer einzigen Quelle, deren Aufrichtigkeit nichts weniger als außer allem Zweifel gesetzt ist.«67 Wohlgemerkt: Zugeschrieben wird diese Quelle dem römischen Geschichtsschreiber Sueton, und obwohl Restzweifel bleiben, will Lessing dies zunächst zugestehen. Für seinen Zweck ist auch weniger von Belang, wer letztlich der Überlieferungsträger ist. Der Fokus liegt auf der Prüfung der Plausibilität der Stelle im Zusammenhang des Textes. Dabei fällt auf, dass Sueton »hunderterlei« an Horaz lobt und »gleichsam als von der Wahrheitsliebe darzu gezwungen«68 wird, jene besagte Stelle anzuführen, auf die sich dann alle weiteren Zeugnisse berufen werden. Dort heißt es: »Ad res venereas intemperantior traditur. Nam speculato cubiculo scorta dicitur habuisse disposita, ut quocunque respexisset, ibi ei imago coitus referretur.«69 Wie auch in der nachfolgenden Rettung des Hier. Cardanus stützt sich Lessings Argumentation in einem ersten Schritt auf den lateinischen Originaltext, der korrekt übersetzt sein will, also einer genaueren Betrachtung bedarf: Man übereile sich nicht, und sei anfangs nur so vorsichtig, als es Sueton selbst hat sein wollen. Er sagt traditur, dicitur. Zwei schöne Wörter, welchen schon manchen ehrlichen Mann den Verlust seines guten Namens zu danken hat! Also ist nur die Rede gegangen? Also hat man es nur gesagt? Wahrhaftig, mein lieber Sueton, so bin ich sehr übel auf dich zu sprechen, daß du solche Nichtswürdigkeiten nachplauderst. In den hundert und mehr Jahren,
Gebiet der Literaturkritik: Versuch einer Critik über die deutschen Dichter, welchem beygefügt Swifts Kunst in der Poesie zu kriechen, ingleichen das Lob der Licht-Putze. Leipzig 1737. 67 WuB 3, S. 161. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 162. In der Übersetzung Hans Färbers: »Übrigens soll Horaz von ziemlich zügelloser Sittlichkeit gewesen sein. So erzählt man, er habe als erfahrener Erotiker in seinem Schlafzimmer überall Spiegel aufgestellt, so daß ihm von allen Seiten das Bild des Beischlafs in die Augen fiel.«, zitiert nach WuB 3, S. 1016.
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die du nach ihm gelebt, hat vieles können erdacht werden, welches ein Geschichtsschreiber wie du, hätte untersuchen, nicht aber ununtersucht fortpflanzen sollen –70
Nicht nur Sueton hat sich nicht die Arbeit gemacht, der historischen Wahrheit gerecht zu werden, indem er deren Inhalt selbst überprüfte, sondern die Stelle wurde auf gleiche Weise »tausendmal nachgeschrieben«.71 Lessing unterstellt den Abschreibern, dass sie gar nicht daran interessiert gewesen seien, diese Bewertung zu hinterfragen, passte sie doch zu gut ins Weltbild der lutherischen Orthodoxie, als dass man sie zur Diskussion hätte stellen müssen. »Oft genug« hätten die Mitglieder dieser Ahnenreihe des tradierten Irrtums besagte Stelle »mit einer kleinen Kützelung nachgeschrieben«.72 Diese Formulierung legt die Doppelmoral offen, mit der die Horaz-Kommentatoren ans Werk gingen. Hinter dem Begriff der ›Kützelung‹ verbirgt sich nichts anderes als ›sexuelle Erregung‹.73 Das freizügige Leben mag imponiert haben, undenkbar war es aber das zuzugeben. Ohne auf psychoanalytische Deutungsmuster zurückzugreifen, lässt sich hier eine Lust am Verbotenen im Kreise der Gelehrten attestieren, die an späterer Stelle in Zusammenhang mit seltenen und verbotenen Büchern wieder aufgegriffen wird.74 Abgesehen davon, dass Lessing die Stelle nicht nur als »unrömisch« erachtet, sondern sogar für »abgeschmackt«75 hält, relativiert er den Inhalt doppelt. Zum einen handelt es sich, wie schon erwähnt, nur um ein Gerücht, um üble Nachrede, am Ende vielleicht sogar aus niederen und neidvollen Motiven. Zum anderen stellt Lessing die Frage nach dem Stil und bietet seine eigene Übersetzung der Passage an, die so gar nicht dem Bild entspricht, Horaz sei »ohne Wahl, ohne Geschmack auf alles, was weiblichen Geschlechtes gewesen, losgestürmet«:76 »Man
70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Der einzige andere Beleg, den ich für ›Kützelung‹ finden konnte, bezieht sich gerade auf deren Abwesenheit. Bei Zedler heißt es im Artikel ›Verletzter Liebeskützel‹ dazu: »Durch venerische Begierden wird der Kützel oder die besondere Empfindung der Schaamglieder verstanden, vermittelst welcher die Weiber zum Beyschlaffe gereizt werden: Diese Begierde wird zuweilen bey ihnen so verringert, oder auch gänzlich ausgelöschet, daß sie nach dem Manne gar nichts fragen, noch dessen Bedienung begehren ihn auch nicht lange leiden können, oder so sie sich ja mit ihm vermischen, so empfinden sie entweder keine, oder gar geringe Kützelung.« Zedler 47, Sp. 1102f. 74 Dazu ausführlich im Kapitel 4.4 zum Ineptus Religiosus. Über die Bandbreite der Lust am Verbotenen in den Kreisen der Gelehrtenrepublik siehe Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007. 75 WuB 3, S. 163. 76 Ebd.
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sagt, er habe seine Buhlerinnen in einem Spiegelzimmer genossen, um auf allen Seiten, wo er hingesehen, die wollüstige Abbildung seines Glücks anzutreffen.«77 Was jetzt folgt, ist ein erster Paukenschlag in der Argumentation des jungen Lessing. Gänzlich die Szenerie umdeutend, stellt er die Frage: »Weiter nichts?«78 Die Ungeheuerlichkeit dieser Frage, gerade vor dem Hintergrund der breit geführten Debatte zur Anakreontik79 und deren moralische Beurteilung – man denke nur an die Befangenheit von Lessings eigenem Vater80 – stellt eine komplette Umwertung einer historischen Persönlichkeit dar, die zudem auch in die zeitgenössische Diskussion einfloss. Diese »unerschrockene (oder libertine?) Kaltblütigkeit«,81 wie Jochen Meyer sie nennt, war eine Provokation und zugleich eine »Düpierung der ewig Lüsternen«.82 Eine Rechtfertigung des eigenen dichterischen Schaffens ist sie erst in zweiter Linie. »Wo steckt denn die Unmäßigkeit?«,83 fragt Lessing. Damit weitet er nicht nur den Rahmen aus, er fragt auch nach der sinnlichen Grundausstattung des Menschen und insbesondere des Dichters. Will nämlich letzterer keine blutleere Lyrik ›erdenken‹, sondern mit dem Leben in Kontakt bleiben, kann er gar nicht anders vorgehen, als die Sinnlichkeit zu einem Motor seines Schaffens zu erklären. Je mehr Empfindung, desto bessere Lyrik. Auf diese kurze Formel ließe sich das Argument Lessings bringen. »Himmel! was für eine empfindliche Seele war die Seele des Horaz! Sie zog die Wollust durch alle Eingänge in sich.«84 Dabei ist das weniger spektakulär, und auch weniger notwendig für einen guten Dichter, als man bei der ersten Lektüre meinen könnte.
77 Ebd. 78 Ebd. 79 Die Reichweite dieser Debatte, vor allem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Anthropologie, bildet der von Manfred Beetz und Hans Joachim Kertscher herausgegebene Sammelband ab: Manfred Beetz; Hans Joachim Kertscher (Hgg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 28). Ohne Bezug auf Lessing, jedoch mit einer eingehenden Analyse der Ode 7. 2 und deren Kontextualisierung, wartet der Beitrag von Rainer Godel auf: Anthropologie und Fiktion – Zur diskursiven Formation der Moralischen Wochenschrift »Der Mensch« (1751–1756). In: ebd., S. 123–143. 80 Vgl. hierzu den Brief an den Vater vom 28. April 1749, in WuB 11/I, S. 23–25. Siehe hierzu auch Reiner Marx: Anakreontik als lyrische Initiation. Zu Lessings »Kleinigkeiten« und Goethes »Annette«. In: Luserke, Matthias; Marx, Reiner; Wild, Reiner (Hgg.): Literatur und Kultur des Rokoko. Göttingen 2001, S. 135–145. Marx rückt Lessings Rechtfertigungen diesbezüglich in die Nähe der Rettungen (S. 136). 81 Jochen Meyer: Einige Bogen Wein und Liebe. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Kleinigkeiten. Faksimile des Marbacher Manuskripts. Hg. von Jochen Meyer. Göttingen 2000, S. 195–238. Zu den Rettungen des Horaz insb. S. 220ff., hier S. 220. 82 Wilfried Barner in WuB 3, S. 1009. 83 Ebd., S. 163. 84 Ebd., S. 164.
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Der Dichter orientiert sich weniger an den »Schatten« als am »Urbild« für das niemand direkt Pate stehen kann. Die Spiegel und damit die Multiplikation der Empfindungen sind zwar ein Zeichen einer – für den Dichter unerlässlichen – empfindsamen Seele, für die Dichtung selbst sind sie hingegen kaum relevant. Ich verstehe hiervon eigentlich nichts. Aber es muß doch auch alles seinen Grund haben; und es wäre ein sehr wunderbares Gesetze, nach welchem die Einbildungskraft wirkte, wenn der Schein mehr Eindruck auf sie machen könnte, als das Wesen.85
Mit diesen abgebrochen oder lediglich anzitierten Ausführungen zu Wesen und Schein könnte eine kunsttheoretische Reflexion beginnen, die Lessing allerdings noch aufschiebt. Die philosophischen Spekulationen zur Natur der Einbildungskraft und damit indirekt über die Quelle, aus der sich nicht zuletzt auch Dichtung speist, sind seit Platons Bezichtigung des Dichters als Lügner bekannt. Doch zunächst geht es Lessing noch nicht um Dichtung, er widmet sich weiter der Rekonstruktion der historischen Wahrheit. Es soll nach wie vor der Mensch Horaz im Mittelpunkt stehen. Nachdem Lessing der Beurteilung Horaz’ aus Sicht einer christlichen Sexualmoral eine Absage erteilt hat, kommt er erneut auf die Plausibilität der Anschuldigung im Kontext zurück. Ein alles in allem gewissenhafter Sueton widerspricht sich innerhalb seiner Darstellung insofern, als dass er in seinen Kaiserviten die hohe Wertschätzung Kaiser Augustus’ für Horaz referiert. Diese steht gegen die Aussage des einfachen Volkes, die mit ihrem dicitur die andere Seite des Meinungsbildungsprozesses darstellt. Wem soll man nun glauben? »Eines muß also nur wahr sein; entweder das dicitur des Pöbels, oder das ausdrückliche Urteil des Augustus. Mit welchem will man es halten?«86 Die dem juristischen Kontext entlehnte Argumentation ist nicht zu übersehen. Lessing baut hier eine Opposition der Glaubwürdigkeit der Zeugen auf, die intuitiv für seinen ›Mandanten‹ Partei ergreifen lässt. Die Autorität Augustus’ vermag die Zweifel weiter zu nähren. Bislang verließ sich Lessing auf hermeneutische Verfahren der Textauslegung, die erste Risse in der Glaubwürdigkeit des überlieferten Bildes erkennen lassen. In einem zweiten Schritt, baut er die Indizienkette weiter aus, indem er über die Darstellung Suetons hinausgegeht. Seneca wird von ihm als weiterer Entlastungszeuge aufgerufen. Bei diesem »ehrliche[n] Philosoph[en]«87 erinnert sich Lessing »etwas ähnliches [. . . ] gelesen zu haben.«88 Die Naturales Questio-
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Ebd. Ebd., S. 165. Ebd. Ebd.
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nes89 des Seneca enthalten ein Kapitel, das die physikalische Beschaffenheit von Spiegeln erörtert und mit einer Anekdote oder kleinen Geschichte schließt. Die in dieser enzyklopädischen Zusammenstellung naturwissenschaftlichen Wissens enthaltene Geschichte dient der Reflexion, inwieweit sich natürliche Phänomene auch auf den Bereich der Ethik erstrecken bzw. welche Konsequenzen sich aus der besonderen Stellung des Menschen innerhalb des Kosmos ergeben. So viel in aller Kürze zum Kontext. Die Geschichte, auf die Lessing zurückgreift, ist »ziemlich schmutzig«90 und er würde zu gerne auf ein Referat verzichten, »wenn nicht unglücklicher Weise beinahe die ganze Rettung meines Dichters davon abhinge.«91 Lessing präsentiert einen gewissen Hostius, ebenfalls eine Zeitgenosse Augustus’, wie sich herausstellt, den Seneca in den übelsten Zügen zeichnet. Dieser besagte Hostius soll der Überlieferung nach ein ebenso reicher wie liederlicher Mensch gewesen sein. Alle möglichen Spielarten sexueller Befriedigung wurden von ihm in einem Spiegelzimmer genossen, das »seine unersättliche Brunst auch noch mit Lügen stillen«92 sollte. Hostius fand ein dementsprechend unrühmliches Ende, er wurde von seinen Sklaven erschlagen. Dies wäre ohne Belang, wenn Augustus nicht darauf verzichtet hätte, den Mord an einem römischen Bürger weiter zu verfolgen. Man hat also einen zunächst noch ähnlich gelagerten Fall. Lessing will plausibel machen, dass der ehrwürdige Augustus, hätte es sich um zwei getrennte Fälle gehandelt, mit Sicherheit auch ähnlich reagiert hätte. Nun stand aber Horaz zeitlebens im höchsten Ansehen bei Augustus. Im Umkehrschluss erscheint die Unterstellung, die Horaz widerfuhr, umso unwahrscheinlicher. Auf wahren Begebenheiten scheint die Anschuldigung gegen Horaz jedenfalls nicht zu beruhen. Die argumentative Strategie, deren ›Vorspiel‹ darin besteht, die Unterstellungen von mehreren Seiten her unwahrscheinlich zu machen, gipfelt in Lessings Hypothese, dass einem Abschreiber Suetons die Verwechslung unterlaufen sei, Horaz (in der lateinischen Form Horatius) und Hostius seien ein und dieselbe Person. Dies wiederum habe dazu geführt, dass die besagte Stelle fälschlicherweise in den Sueton-Text interpoliert wurde. Der Angriff auf die historische Person Horaz ist damit abgewehrt, zumal sich Lessing auf weitere Autoritäten stützen kann, die Vermutungen in die gleiche Richtung
89 Zur Frage der Datierung und der Reichweite der naturwissenschaftlichen Studien in den Bereich der Ethik hinein siehe Bardo Maria Gauly: Senecas »Naturales Quaestiones«. Naturphilosophie für die römische Kaiserzeit. München 2004 (Zetemata 122). 90 WuB 3, S. 166. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 167. Hier wird implizit erneut Platons Diktum vom Dichter als Lügner auf subtile Weise aufgenommen und mit Vorstellungen von Unzucht gepaart.
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angestellt hatten, ohne dafür allerdings Beweise vorlegen zu können.93 Dennoch ist mit dieser Richtigstellung der historischen Umstände erst ein Etappenziel erreicht. Ein unbedingt notwendiges zwar, ist es doch die Grundlage, auf der die nächsten Schritte der Rehabilitation Horaz’ fußen: der unverdächtige Lebenswandel und damit eine angenommene ›Grundsittlichkeit‹, die man dem Heiden zubilligen muss. Dieser Umstand kann nun als erwiesen angenommen werden: Und zwar sollte es mir schon deswegen lieb sein [den ersten Beweis als angenommen zu erachten M. M.], weil die zweite Art von Beweisen, die man von der Unkeuschheit des Horaz aus seinen eigenen Schriften nimmt, ein großes verlieret, wann sie von der erstern nicht mehr unterstützt wird.94
Diese Schnittstelle bildet den Übergang von den ›externen‹ Lebensbeschreibungen hin zu Horaz’ eigenem Œuvre und führt damit erstmals auch auf das Gebiet der Dichtung, das Lessing naturgemäß näher stand als die bloße Historie. Spricht man über Dichtung, ändern sich die Kriterien für Wahrheit. Lessing leitet diese Einsicht, auf die es ihm letztlich ankommt, in Form einer suggestiv vorgetragenen, deduktiven Kette ab. Den Ausgangspunkt bildet die Natur, die – »[g]iebt man es zu, oder giebt man es nicht zu« – der vornehmste Gegenstand des Dichters ist. Ausgehend davon, kann man es nicht bestreiten, dass es »die sinnlichen Gegenstände« sind, denen der Poet die größte Aufmerksamkeit schenken muss. Sinnliche Gegenstände rufen Empfindungen hervor und will man gute Kunst schaffen, müssen »die Empfindungen, so wie sie die Natur selbst beleben, auch sein Gemälde beleben«.95 All das kann vor dem Hintergrund der kunsttheoretischen Überlegungen der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum bestritten werden. Die Schlüsse, die Lessing aus diesen zugestandenen Annahmen zieht, sind hingegen wesentlich unkonventioneller. Er rechnet ganz selbstverständlich die Wollust unter die Empfindungen und räumt ihr sogar einen Sonderrang ein. Sie »bemächtigt«
93 Mit den angesehenen Gelehrten William Baxter (1650–1723) und André Dacier (1651–1722) an der Seite gewinnt das Argument noch an Überzeugungskraft. Dacier war Lessing zudem schon Referenz im Vademecum, siehe WuB 3, S. 107. Im Falle Baxters bezieht sich Lessing wohl auf das von ihm herausgegebene Horatius Flaccus, Quintus: Eclogae cum scholiis Hel. Acronis, cum adiectis suis Wil. Baxteri. London 1701. Dort gibt Baxter auf den ersten Seiten eine Zusammenfassung berühmter Berichte, unter anderen auch den Suetons (unpag. = Bl. 11–22). Schwierig gestaltet sich die Identifizierung des Dacier-Verweises. Aufgrund der Bestände der Wittenberger Bibliothek vermute ich, dass Lessing hier nicht die zehnbändige Horaz-Ausgabe Daciers von 1733 vor Augen hat, sondern die Remarques critiques sur les oeuvres d’Horace, die 1696 in Lyon ebenfalls in zehn Bänden erschien. Dort heißt es im zweiten Bd., am Ende eines biographischen Abrisses, Horaz sei »l’honneste homme des Auteurs« (unpag. = Bl. 18). 94 WuB 3, S. 169. 95 Ebd.
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sich »der meisten Herzen« und das auch noch am »leichtesten«.96 Man kann bei dieser schnellen Abfolge der suggestiven Fragen leicht übersehen, welche Umdeutung hier stattfindet. Wollust (voluptas) ist zunächst keine der ›normalen‹ Empfindungen, sondern – zumindest im christlichen-katholischen Kontext – eine der sieben Todsünden.97 Lessing deutet die Kraft der Wollust dahingehend um, dass sie als die stärkste der Empfindungen dem Dichter ermöglicht, bei ihrer Darstellung »seine meiste Stärke [zu] zeigen« und dass sie somit den »meisten Ruhm [. . . ] erwarten« lässt.98 Eine solche Umwertung bedarf argumentativer Absicherung, um nicht umgehend zurückgewiesen zu werden. Lessing bedient sich dabei eines zeitgenössischen Diskurses, dessen Reichweite im Zunehmen begriffen ist. Die Rede ist von der Empfindsamkeit. Die Wollust wird subsumiert unter »eines von den schönsten Feldern« für den Dichter, »wo er die angenehmsten Blumen für das menschliche Herz sammeln«99 kann. Jenseits von stupider und unreflektierter ›Empfindelei‹ wird hier mit dem Herzen des Menschen an anthropologische Überlegungen der Zeit angeschlossen. Das Herz gilt seit jeher als Zentralkategorie des empfindsamen Diskurses, als der Ort der »Fähigkeit, Empfindungen zu haben«,100 die den Ausgang von Lessings Überlegung markieren. Bei allem waltenden Rationalismus, der nur in einem vermeintlichen Widerspruch dazu steht, darf das nicht übersehen werden.101 Gerade der Rückgriff auf die anthropologische Annahme, dass das Herz der genuine Ort der Empfindungen sei,
96 Ebd. 97 Für die protestantische Lehre ist dies freilich nicht im dogmatischen Sinne zu konstatieren. Eine deutlich positivere Besetzung des Begriffs und damit des Konzeptes ›Wollust‹ ergibt sich aber dennoch nicht. 98 WuB 3, S. 169. 99 Ebd. 100 [Art.] Empfindsamkeit. In: RLW 1, S. 438–441, hier S. 438. Aufgrund der Fülle an Literatur zur Empfindsamkeit sei hier neben dem weiteren einschlägigen Lexikonartikel [Art.] Empfindsamkeit. In: HWRh 2, Sp. 1108–1121 lediglich auf eine Publikation hingewiesen, die sich speziell mit Themengebieten beschäftigt: Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Wegmann spricht von einem zunehmenden »Plausibilitätsgewinn für die Empfindsamkeit« (S. 36ff.). Um zu verstehen, wie Lessing in diese Bewegung einzuordnen ist, genügt der Hinweis, dass die Übersetzung des englischen ›sentimental‹ mit ›empfindsam‹ auf einen Vorschlag Lessings zurückgeht. Siehe zur allgemeinen Einordung Lessings in die Bewegung der Empfindsamkeit Wilfried Barner u. a. (Hgg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 6 1998 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 169ff. 101 Zu diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang siehe ausführlich Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt am Main, S. 63–86.
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baut einem an absoluten Werten orientierten Idealismus vor. Lessings Einschätzung ist ebenfalls an den realen Gegebenheiten orientiert: Ich rede von dem menschlichen Herze, so wie es ist, und nicht wie es sein sollte; so wie es ewig bleiben wird, und nicht wie es die strengen Sittenlehrer gern umbilden wollen.102
Die Abkehr von Forderungen hin zu den Begebenheiten ist eine wiederkehrende Gedankenfigur in Lessings Werken und wird in den Rettungen vielleicht zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit artikuliert.103 Es ist eine deutliche Absage an jegliche Form von Systematik, gleich ob sie theologischer oder philosophischer Natur ist. Zwar ist das ›Herz‹ des Menschen ewig, aber eben nur in seiner Wankelmütigkeit und Unstetigkeit in der Abwehr der es herausfordernden Affekte. Dieser moralischen Herausforderung auf systematischem Wege zu begegnen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Egal welche Leitlinien oder Verhaltensanweisungen die »Sittenlehrer« vorschreiben, sie werden immer von der stärkeren Affektnatur des Menschen überschritten. Will man den Menschen moralisch bessern, muss man bei den Affekten ansetzen und befindet sich damit auf dem angestammten Feld der Poesie. Die späteren Ausarbeitungen Lessings zum Mitleid als der primären Bezugsgröße in sittlichen Erziehungsaufgaben speist sich mit aus diesen Überlegungen. So viel auf der einen Seite. Auf der ›unmethodischen‹ Seite dieser ›Methode‹ ist, wie zu Beginn des Kapitels angedeutet, Eklektik das probate Mittel, als deren Patron Horaz gilt. Einzig dem Dichter ist es ohne größeren Rechtfertigungszwang möglich, die Wahrheiten unterschiedlicher und bisweilen sogar unvereinbarer Systeme in seiner Dichtung zu integrieren. Das war immer der Vorwurf an Horaz. Lessing versucht nun diese Wahrheiten ausgehend vom Allgemeinsten in den Dichtungen des Horaz einzuholen. »Ich habe für den Horaz schon viel gewonnen«, schreibt Lessing, »wenn der Dichter von der Liebe singen darf.«104 Unter dieser neu erarbeiteten Prämisse beginnt der nächste Teil der Rettung, der sich der Poesie widmet. Nachdem diese Konstante des genuin Poetischen zugegeben werden musste, werden die Vorwürfe und somit der gesamte Sachverhalt historisiert.
102 WuB 3, S. 169. 103 Wir werden im weiteren Verlauf der Untersuchungen mehrfach auf dieses Element stoßen, wenn es um die ideale Religion im Widerspruch zu den bestehenden Religionen geht oder die Bedingungen der Möglichkeit eines gerechtfertigten Urteils an sich. 104 WuB 3, S. 169.
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Liebe ist keine überzeitliche Kategorie, sondern die Semantik dieses Begriffes unterliegt historischem und gesellschaftlichem Wandel.105 Lessing knüpft diese Beobachtung in erster Linie an bestimmte historische Zeiten und weniger an Gesellschaftsformen.106 »Allein die Liebe, hat sie nicht jedes Jahrhundert eine andere Gestalt?«107 Man muss aufmerken, wenn Lessing hier einem scheinbar absoluten und als überzeitlich begriffenen Phänomen einen Gestaltwandel unterstellt. Nicht inhaltlich, aber strukturell ist von dieser Beobachtung ausgehend der gedankliche Weg kurz, auch andere, von Veränderungen scheinbar nicht betroffene Phänomene zu historisieren und damit in ihrem Wahrheitswert zu relativieren. Dieses Schicksal wird an späterer Stelle, sowohl in den Rettungen als auch im Gesamtwerk, die Religion teilen, zumindest insofern es sich um eine geoffenbarte Religion handelt. Doch zurück zur Dichtung des Horaz. Lessing versucht zu zeigen, dass künstlerische Produktion immer vor dem Hintergrund der zur Entstehungszeit gültigen Sitten gesehen werden muss. Literatur, so die logische, aber nicht triviale Einsicht, wird für ein zeitgenössisches Publikum verfasst. Eine Rückprojektion gegenwärtiger moralischer Gepflogenheiten oder Gebote auf Poesie früherer Zeiten ist daher unzulässig. Genau aber das widerfuhr Horaz oder vielmehr seiner Dichtung. Die anschließende und mit zahlreichen Beispielen versehene Argumentation zielt darauf, Horaz als einen Dichter und Menschen vorzustellen, der mit den Sitten und Gebräuchen seiner Zeit in Einklag lebte. Mit einem genauen Blick auf die Rechtslage verlieren der vermeintliche Rechtsbruch bzw. die Übertretung des sittlich Statthaften ihre juristische Legitimation. Die aus Horaz’ Dichtungen gezogenen Vorwürfe waren zahlreich. Sie reichen vom Ehebruch über die Vielweiberei bis hin zur Päderastie. Es würde keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringen, die Beispiele der Reihe nach abzuarbeiten. Generell lassen sich aber zwei Strategien der Historisierung beobachten. Nulla poena, sine lege, wäre der eine;108 diesen Rechtsgrundsatz bringt Lessing für seinen Man-
105 Siehe für die Frühe Neuzeit Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main 1994. Luhmann spricht dort von »Veränderungen des Ideenguts der Semantik« (S. 9), die durch gesellschaftlichen Wandel hervorgerufen werden. 106 Natürlich meint Lessing dabei die jeweilig vorherrschenden Gesellschaftssysteme und deren Verständnis von Liebe, der Unterschied ist vielmehr, dass in der Abfolge der Zeitalter nicht davon auszugehen ist, dass verschiedenartige Gesellschaften parallel existieren. Insofern handelt es sich hier mehr um eine begriffliche Unterscheidung als eine der Sache nach. 107 WuB 3, S. 169. 108 Deutlich machen lässt sich dies für den Vorwurf des Ehebruchs, der im Jahre 18. v. Chr. von Kaiser Augustus mit einem neuen Gesetz bedacht wurde: »Die lex iIulia de adulteriis coercendis (Julianisches Gesetz über die Bestrafung von Ehebruch) sah für diverse außereheliche Sexualhandlungen Strafen vor, [. . . ].« Niklas Holzberg: Horaz. Dichter und Werk. München 2009, S. 25.
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danten in Anschlag, um ihn auf dem Feld des positiven Rechts zu entlasten. Eine andere Stoßrichtung könnte man mit dem Label ›poetische Tradition‹ versehen. Der Vorwurf, der Dichter schöpfe bei seinen Liedern aus dem eigenen Erfahrungsschatz, wird durch das Argument relativiert, dass es sich um Lektüreerfahrungen handele. Die Darstellung der zahlreichen Frauenfiguren und amorösen Beziehungen, auch zu Knaben, verdankt sich der Aneignung weithin bekannter literarischer Motive und deren Bearbeitung und Neuformulierung.109 Die Ablösung der in die Dichtung eingeflossenen Erfahrungen von der Person bewirkt einen Freiraum der Poesie, der keinen realen Gesetzen unterliegt. Die poetische Freiheit ist größer als die juristische. Gesteht man sich dies ein, wird es unmöglich aus dem Dichter einen Unhold oder Verbrecher zu machen: Wann ich nunmehr auf alles das zurück sehe, was ich in dem Punkte der Unkeuschheit zur Rettung meines Dichters beigebracht habe; obschon ein wenig unordentlich, wie ich, leider, gewahr werde – so glaube ich wenigstens so weit gekommen zu sein, daß man aus dem untergeschobenen Zeugnisse nichts, aus seinen eigenen Gedichten noch weniger als nichts, schließen darf.110
Vom Vorwurf der stinkenden Geilheit und unmäßigen Unzucht bleibt zuletzt nichts, was die moralische Integrität des Heiden Horaz gefährden könnte. Der erste Angriff ist abgewehrt, doch zwei weitere Anschuldigungen stehen noch im Raum.
4.2.4 Ein Römer als feigherziger Flüchtling? – der zweite Anklagepunkt
In den Herbstmonaten des Jahres 42 v. Chr. standen sich zwei römische Heere bei Philippi gegenüber: das eine unter Führung von Marcus Antonius und Octavian (der spätere Kaiser Augustus), das andere unter Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus. Auf der Seite der letzeren kämpfte auch ein junger Militärtribun für die Römische Republik; unter den über zweihunderttausend meist namenlosen und von der Geschichte vergessenen Soldaten war Horaz einer der wenigen, die es in die Geschichtsbücher schafften. Nun ist bekannt wie die Schlacht bei Philippi ausging: Der erst 23-jährige Horaz fand sich auf der Seite der Verlierer wieder. Soweit stünde kein Vorwurf im Raum, aber Horaz soll und – nimmt man seine Lyrik als Beleg – hat, als er und seine Truppen vor der angreifenden
109 Das Vorbild, von dem die Entlehnungen in diesem Bereich stammen, ist in erster Linie die griechische Dichtergröße Anakreon. 110 WuB 3, S. 180.
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Übermacht flohen, seinen Schild (lat. parmula) nicht nur verloren, sondern absichtlich zurückgelassen haben. Dies galt nach den Vorstellungen der römischen Gesellschaft als Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wurde. Wer seinen Schild preisgab, verstieß gegen seine Bürgerpflicht, das Reich notfalls mit seinem Leben zu verteidigen.111 Der Verlust der bürgerlichen Ehre war die Folge. Erst vor diesen Hintergrund wird deutlich, warum sich die Kommentatoren und Biographen der Frühen Neuzeit für diese Episode aus dem Leben des Horaz interessierten. Ehre war nach wie vor eines der Ordnungsschemata, nach denen die vormoderne Gesellschaft organisiert war. Es handelt sich – das kann man heute leicht übersehen – bei Ehre um einen juristischen Terminus. Daher konnte der Verlust derselben existenzbedrohend, wenn nicht sogar existenzvernichtend sein und zog unter Umständen sogar den Ausschluss aus der Gesellschaft nach sich.112 Horaz nun in die Klasse der ›Ehrlosen‹ einzureihen hatte den passablen Nebeneffekt, dass man seine Dichtung mitkorrumpierte. Was sollte man von einem ehrlosen Dichter anderes erwarten als anstößige Lieder? Gegen dieses Umfeld muss Lessing in seiner Rettung argumentieren.113 Er vertraut dabei wieder der Sichtung der Quellen, aus denen sich der Vorwurf speist. Im Falle des »feigherzigen Flüchtling[s]«114 ist die siebte Ode des zweiten Buches einschlägig.115 Lessing setzt die Vertrautheit der Leser mit der Ode voraus und verliert kein weiteres Wort darüber. Dennoch sei kurz der Kontext bzw. der Inhalt der Ode wiedergegeben. Das lyrische Ich (die Persona des Horaz) erfeut sich an der Heimkehr seines alten Weggefährten bei Philippi, Pompejus Varus, dem, obwohl er nach besagter Schlacht weiter gegen Octavian gekämpft
111 Der Topos der ›feigen Flucht‹ ließe sich noch weiter zurückverfolgen. Schon bei Aristoteles wird die Flucht als Verstoß gegen ein natürliches, für jedermann unmittelbar einsichtiges Gesetz gesehen: »Das Gesetz aber schreibt vor, sowohl die Werke des Mutigen zu verrichten, z. B. seinen Posten nicht zu verlassen, nicht zu fliehen, nicht die Waffen von sich zu werfen, [. . . ].« Aristoteles: Nikomachische Ethik, V, 1, 1129b 19–21. Zitiert nach Aristoteles: Nikomachische Ethik. Nach der Übers. von Eugen Rolfes bearb. von Günther Bien. In: ders.: Philosophische Schriften. 6 Bde. Hamburg 1995, Bd. 3, S. 102. Dieses Kapitel der Ethik wurde immer wieder als grundlegend für Überlegungen zum Naturrecht herangezogen. Inwieweit neben dem Verstoß gegen die bürgerliche Ehre auch ein Verstoß gegen das Naturrecht vorliegen könnte, bleibt schwer zu entscheiden, ausgeschlossen werden kann er allerdings nicht. 112 Zum Begriff der Ehre in der Frühen Neuzeit siehe Dagmar Burkhart: Eine Geschichte der Ehre. Darmstadt 2006, S. 28–112. 113 Dabei ist es relativ ungewöhnlich, blickt man auf die Tradition der ›Gattung‹, dass eine Ehrenrettung durch einen Dritten stattfindet. Bei dieser Untergruppe der Rettungen und Apologien sind der Verteidigende und Verteidigte in der Regel identisch. 114 WuB 3, S. 180. 115 Zur dieser Ode und ihrer Stellung im Gesamtwerk siehe Holzberg (2009), S. 15, 124 und 139f.
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hatte, Amnestie und die Rückkehr nach Rom gewährt wurden. Ein Grund zu feiern: »Nicht weniger toll / will zechen ich als die Edonier: nach seiner Heimkehr / ist herrlich mir der Rausch mit meinem Freunde.« (Oden 2, 7, V. 26–28).116 Sich in diesem Zusammenhang an alte Zeiten erinnernd, kommt Horaz auf den Verlust des Schildes zu sprechen, den alle Kommentatoren als ein »Bekenntnis«117 lesen und deuten wollen. Lessing verfährt in seiner Rettung wieder zweigleisig. Der erste Teil kombiniert Erkenntnisse des gesunden Menschenverstandes und biographische Erwägungen, um die Tapferkeit des Horaz, wenn schon nicht zu erweisen, so doch deren gründsätzliche Möglichkeit darzustellen. Es bieten sich verschiedene Szenarien an, weshalb Horaz sein Schild verloren haben könnte. Eine denkbare Alternative wäre, »weil er allzutapfer gewesen ist«.118 Er könnte aber auch einfach klug gehandelt haben, da jeder weiß, dass ein schweres Schild die schnelle Flucht behindert. Für die Tapferkeitshypothese spricht auch Horaz’ Lebensweg, der aus einfachen Verhältnissen stammend eine rasante Karriere im Militär gemacht hatte. Einen notorischen Feigling hätte die römsiche Armee kaum in verantwortungsvollen Positionen installiert. Das wären alles nachvollziehbare, wenn vielleicht auch nicht gänzlich überzeugende Gründe. Sie alle bleiben im Reich der Spekulation und bieten auf dem Gebiet der historischen Wahrheit zu wenig, um dieser zu genügen. »[A]ll diese Ausflüchte sind mir zu klein.«119 Die sicherere Variante ist, die historische Wahrheit nicht zu widerlegen, sondern gar nicht erst zu billigen. Der Dichter will »nichts weniger als ein Geschichtsschreiber sein«120 und die Bezeugung historischer Wahrheit sei nicht seine Aufgabe. Unterstelle man dies, müsste man alle anderen Ereignisse der Ode in demselben Lichte betrachten. Nun folgt der Schilderung des Schildverlustes aber, dass das lyrische Ich von Merkur in eine Wolke gehüllt und auf diese Weise gerettet wurde. Es handelt sich um ein literarisches Motiv, einen »poetischen Zug«,121 den Horaz von seinen literarischen Vorbildern übernommen hat. Das einzige, weswegen man ihn anklagen dürfe, sei seine Eitelkeit, ein Ereignis in sein Gegenteil verkehrt zu haben und dadurch mit der eigenen Tapferkeit zu kokettieren. Niemand habe das bislang erkannt, so Lessing, obwohl der Fall klar vor Augen stehe. Selbst der
116 Ich zitiere nach der Übersetzung Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch / Deutsch. Mit einem Nachwort hg. von Bernhard Kytzler. Verbesserte und aktualisierte Neuausg. Stuttgart 2006 (RUB 18466), S. 95. 117 WuB 3, S. 181. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 182. 121 Ebd., S. 183.
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verehrte Pierre Bayle habe in diesem Fall »nicht nach seiner Scharfsichtigkeit«122 geurteilt und saß dem Irrtum auf, dass Horaz diese Schande zugeben konnte, weil vor ihm schon andere literarische Größen diese Beichte abgelegt hatten.123 Auch der schon eingangs der Rettung ins Visier Lessings geratene Gottfried Ephraim Müller schrieb diesen Irrtum fort und erweiterte ihn sogar, indem er verallgemeinerte: Man solle »fast das Vorurteil fassen, daß die geistigsten Odendichter eben nicht die tapfersten Soldaten sind«.124 Dieser Abstraktion widerspricht Lessing vehement, ist sie doch Zeichen einer Vorverurteilung aus dem Geist einer bestimmten Tradition heraus. Hier sollen dogmatisch verfasste Orientierungsmuster etabliert werden. Das kann Lessing unmöglich hinnehmen, laufen seine gesamten Bestrebungen (auch in den folgenden Rettungen) geradewegs darauf zu, diese zu entkräften. Statt zu vereinfachen, wird die Komplexität erhöht: Je größer überhaupt der Dichter ist, je weiter wird das, was er von sich selbst mit einfließen läßt, von der strengen Wahrheit entfernt sein. Nur ein elender Gelegenheitsdichter, giebt in seinen Versen die eigentlichen Umstände an, die ein Zusammenschreiber nötig hat, seinen Charakter einmal daraus zu entwerfen. Der wahre Dichter weiß, daß er alles nach seiner Art verschönern muß, und also auch sich selbst, welches er oft so fein zu tun weiß, daß blöde Augen eine Bekenntnis seiner Fehler sehen, wo der Kenner einen Zug seines schmeichelnden Pinsels wahrnimmt.125
Diese Aufspaltung der Wahrheit in eine strenge historische und eine ästhetische ist weit mehr als eine vorausschauende Rechtfertigung der eigenen literarischen Bemühungen. Kennerschaft ist hier nicht mehr gleichzusetzen mit Gelehrsamkeit. Nicht mehr akkumulierbares Wissen bildet das Fundament des Urteils, das durch die Anwendung der immer gleichen Regeln zustande kommt, sondern eine reflektierende Urteilskraft, um den kantschen Terminus zu bemühen, schafft erst die Regeln, nach denen beurteilt wird. Somit wird auch der zweite, traditionell an Horaz herangetragene Vorwurf haltlos. Wer daran festhält, verrät lediglich seine geringe Expertise im Umgang mit Kunst, deren Beurteilung gänzlich anderen Regeln folgt, als die einer histori-
122 Ebd., S. 185. 123 Lessing zitiert hier aus dem Artikel Alcäus, dort in der Anm. B. Ich verweise hier auf die Ausg. Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. 4 Bde. Amsterdam u. a. 5 1740, hier Bd. 1, S. 134. Der Vorwurf an Bayle wird weiter bestehen bleiben: »Bayle, dieser scharfsinnige Schriftsteller, lässet sich, ohne die Gesetze der Critik zu beachten, mit dem Strome fortreißen. Er erklärt Horazen für einen verzagten Menschen, wie den Dichter Alcäus, [. . . ].« Georg Ludwig von Bar: Der Gerächete und Gerettete Horaz. Nebst einigen andern Auszügen und Zusätzen aus den sinnreichen Schriften des Herrn von Bar. Frankfurt am Main 1763, S. 10. 124 WuB 3, S. 185. 125 Ebd., S. 185f.
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schen Begebenheit. Die Trennung zwischen Kunst und Historiographie gewinnt damit eine weitere Profilierung. Ist die Verdrehung oder Verkehrung der Wahrheit auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung ein unverzeihlicher handwerklicher Fehler, so ist es im Feld der Dichtung beinahe eine heilige Pflicht, die reine Faktenlage dergestalt, bisweilen sogar in ihr Gegenteil, zu modifizieren, um den größtmöglichen poetischen Effekt zu garantieren. Zielt die Beschäftigung mit der Geschichte auf Sicherung von Fakten und von historischer Wahrheit, so muss Poesie auf die Empfindung einwirken, und das kann sie meist besser, wenn sie ihre Wahrheit nach diesen Zwecken ausrichtet. Wahrheit entsteht in diesem Bereich durch Wirkung. Lessing kämpft dafür, dies zu erkennen und anzuerkennen. Auch die Entkräftung des zweiten Vorwurfs verweist auf ein wesentlich allgemeineres Problem, als es zunächst den Anschein haben mag: die Etablierung einer neuen Kunstauffassung.
4.2.5 ». . . das Beste nahm wo er es fand« – der letzte Anklagepunkt
Horaz’ Rolle als Patron der Eklektik wurde bereits zu Beginn des Kapitels erwähnt. Die durchweg positive Besetzung dieser Zuschreibung beschränkte sich auf einen kleinen Teil seiner Leserschaft. Die viel größere Zahl sah in Horaz’ Wirken einen gefährlichen, die Möglichkeit des Zerstörerischen immer schon mit sich führenden Indifferentismus, dem mit aller Vehemenz zu begegnen war. Geistige Flexibilität und Beliebigkeit wohnen seit jeher eng beieinander, und es kann nicht verwundern, wenn bei unbekannten Zugängen zunächst letzteres unterstellt wird – insbesondere wenn es sich um Themen der Philosophie und Religion handelt. Das bis dato Unbekannte dabei ist, dass ein bewährtes Ordnungsschema suspendiert wird, in dem man daran gewohnt war in Oppositionen zu denken. Mit der Festigung der konfessionellen Lagerbildung wurde dieses Ordnungsschema zum vertrauten Orientierungspunkt. Dieses Denken in binären Oppositionen gewährleistete die Zuordnung und damit einhergehend auch eine Verortung von Überzeugungen, die Akzeptanz zuallererst möglich machten. Diese Grenzen zu unterlaufen oder bisweilen zu sprengen war die Herausforderung, die das Erbe des Horaz an das konfessionell gespaltene 18. Jahrhundert stellte – das Erbe des Stoikers und Epikurers in einer Person. Lessing formuliert das Ziel seiner Argumentation gleich zu Beginn: Noch weit schwerer, oder vielmehr gar unmöglich ist es, aus seinen [Horaz, M. M.] Gedichten seine Meinungen zu schließen, sie mögen nun die Religion oder die Weltweisheit betreffen; [. . . ]. Die Gegenstände, mit welchen er sich beschäftiget, nötigen ihn die schönsten Gedanken zu ihrer Ausbildung von allen Seiten zu borgen, ohne viel zu untersuchen, welchem Lehrgebäude sie eigen sind. Er wird nicht viel Erhabenes von der Tugend sagen
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können, ohne ein Stoiker zu scheinen; und nicht viel Rührendes von der Wollust, ohne das Ansehen eines Epikurers zu bekommen.126
Der Dichter orientiert sich in erster Linie an den Motiven, die seiner Darstellung zugrunde liegen. Erst im Anschluss kann man gerechtfertigterweise fragen, woher diese Motive stammen und ob sie am Ende gar zeitgenössische Vorbilder in der Geschichte haben. Die Kohärenz der Philosopheme ist von nachrangiger Bedeutung. Von kaum zu überschätzender Bedeutung hingegen sind die Philosopheme für einen bestimmten Personenkreis, wenn es darum geht Rückschlüsse zu ziehen, mit welcher ›Sekte‹ es der Dichter denn gehalten haben mag.127 Diese doppelte Fehlannahme, dass der Dichter mit dem lyrischen Ich der Oden identisch sei128 und dass eine eindeutige Festlegung auf eine bestimmte Philosophie unterstellt werden könne, lenkte in weiten Teilen die Rezeption Horaz’ in der Frühen Neuzeit. In diesem Punkt kann reine Neugierde nach der historischen Wahrheit als zweitrangig angesehen werden. Vielmehr galt es, mit der Bestimmung der horazschen Philosophie seiner Stellung zur Religion auf die Spur zu kommen. Und in einem nächsten Schritt, wie schon angedeutet, daraus die Folgen für die moralische Person des Dichters zu ziehen. Auch hierfür konnten sich die Interpreten und somit auch Lessing nicht auf weite Teile des Werkes stützen, nur eine kleine Passage stand wieder im Fokus der Streitigkeiten. Alles, »was man von der Philosophie des Horaz weiß«,129 gründet in der 34. Ode des ersten Buches. Anhand dieser wollten die Gegner des antiken Dichters darlegen, ja sie sahen es als persönliches Eingeständnis, dass Horaz es mit der Verehrung der Götter nicht allzu genau nahm. Der scheinbar begründete Vorwurf des, wenn schon nicht geäußerten, so doch gelebten Atheismus steht im Raum. Was der Vorwurf des Atheismus für die moralische Integrität der Person bedeutet, wurde bereits mehrfach angedeutet. Die große Frage, die hier zur Debatte steht, ist die nach dem Verhältnis von Religion, Philosophie und Moral. Eine der Grundfragen des gelehrten 18. Jahrhunderts, deren Beantwortung hier exemplarisch vor Augen geführt wird. Doch der Reihe nach. In der 34. Ode des ersten Buches geht das lyrische Ich mit sich selbst ins Gericht, ob es die Götter nur allzu oberflächlich verehrt habe und was an die-
126 WuB 3, S. 186. 127 Mit dem Begriff der ›Sekte‹ sei hier an die Unterscheidung Schmidt-Biggemanns erinnert, die eingangs des Kapitels vorgestellt wurde. Die philosophia sectaria zeichnet sich doch die Kohärrenz ihrer Systematik aus. 128 Auch diesen Punkt führt Lessing explizit an: »Der Odendichter besonders pflegt zwar fast immer in der ersten Person zu reden, aber nur selten ist das ich sein eigen ich.« WuB 3, S. 186. 129 Ebd.
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sem Umstand die Schuld tragen könnte. Auslöser war der treuherzige Glaube an die ›sapientia‹, die es noch näher zu bestimmen gilt. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Ode I. 34 eine exponierte Stellung im Odenzyklus einnimmt. Dies insofern als ›daß Horaz als lyrische persona hier zum ersten Mal (und im selben Buch dann nicht wieder) einen Monolog hält, also niemanden anredet.«130 In einem Akt der Selbstreflexion wird die Frage nach der religiösen Praxis und deren Verhältnis zu philosophischen Überzeugungen gestellt. Letztere, so der Schluss, verhinderten eine den Gebräuchen der Zeit adäquate Ausübung der Riten. »Der ich kleinlich und nur gelegentlich die Götter verehrte, / solange ich als verrückter Weisheit / Anhänger irrte, werde nun gezwungen, rückwärts / die Segel zu wenden und wiederum zu befahren die hinter mir / gelassenen Bahnen.«131 Soweit die Ausgangslage zu Beginn der Ode, die das Moment einer Umkehr beschreibt. Der Grund dafür wird unmittelbar danach einsichtig: Denn Jupiter, / der mit dem Blitzstrahl die Wolken teilt / gewöhnlich, hat durch klaren Himmel die donnernden / Rosse getrieben und den schnellen Wagen, / durch den die unbewegliche Erde und die untersten Flüsse, / durch den der Styx und des verhassten Tainaros grausige / Stätten und die Grenze des Atlas / erschüttert werden.132
Die Rückbesinnung auf den Glauben speist sich aus einem scheinbar übernatürlichen Phänomen, es donnert bei klarem, unbewölktem Himmel.133 Aus dieser Konstellation lassen sich diverse, sich bisweilen widersprechende Interpretationen gewinnen, wie der Blick Lessings auf die Tradition der Auslegung veranschaulicht. Alles hängt an der Übersetzung von ›parcus‹ und ›infrequens‹. Der französiche Kommentator André Dacier sah trotz seiner grundsätzlichen Wertschätzung Horazens in dieser Stelle einen Beleg für den zumindest zeitweiligen Atheismus des antiken Dichters, »welcher die Götter [nicht] wenig verehrt, als
130 Holzberg (2009), S. 131f. 131 Ich zitiere nach der Übersetzung Holzbergs (2009), S. 132. 132 Ebd. 133 Eine ausführliche Darstellung des Kontextes liefert John T. Hamilton: Thunder from a Clear Sky: On Lessing’s Redemption of Horace. In: Modern Language Quarterly 62 (2001), H. 3, S. 203– 218. Trotz der vielen richtigen und einsichtigen Beobachtungen Hamiltons, kann ich dessen abschließende Beurteilung nicht teilen. Meiner Ansicht nach vermischt Hamiliton hier Ebenen, die in einen Kategorienfehler münden. So glaubt er in der horazschen Ode ein Bild für Lessing am Scheideweg des 18. Jahrhunderts zu erkennen, was nett ist, aber jeder Grundlage entbehrt. So wird etwa der blaue Himmel als Bild für eine komplette Indifferenz gelesen. »The sudden thunder, then, is the shock of otherness that cannot be assimilated.« S. 216. Und weiter: »Unforeseen thunder marks the conversion from necessity to freedom.« S. 217.
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vielmehr einen, der sie ganz und gar nicht verehrt.«134 Auch die Übersetzung Langes gereicht dem Dichter nicht zur Ehre. Sie lässt ihn als »trägen« Verehrer erscheinen.135 Alles in allem sind sämtliche bisherigen Übersetzungen unbefriedigend, da sie sich weit von einer wörtlichen Übertragung entfernen und damit eine Sinndeutung unterstellen, die auf das bereits existierende Bild des Horaz gründet. Eine unvoreingenommene Betrachtung der Verse wird so unmöglich. Dabei, so Lessing, gestaltet sich eine dem lateinischen Wortlaut folgende Prosaübersetzung weniger schwierig, als die vorangegangen Versuche annehmen ließen: »In unsinnige Weisheit vertieft, irrt ich umher, ein karger, saumseliger Verehrer der Götter. Doch nun, nun spann ich, den verlaßnen Lauf zu erneuern, gezwungen die Segel zurück.«136 Das klingt schon wesentlich harmloser.137 Lessings Verteidigungsstrategie ist hier deutlich erkennbar. Benutzte er bei den anderen beiden Anklagepunkten vor allem geschichtslogische und kontextbasierte Argumente, so greift er hier tief in die philologische Handwerkskiste. Mit der Bereitstellung einer gesicherten Übertragung, die seine eigene ist, wird eine Basis geschaffen, aufgrund derer sich die weiteren Ausführungen rechtfertigen lassen. Inwiefern dieses Verfahren als gerecht bezeichnet werden kann, muss offen bleiben. Direkte Reaktionen oder Widersprüche sind keine überliefert. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich mehrere Vorwürfe, die sich aus der Kombination von (Un-)Glaube und philosophischen Überzeugungen herleiten lassen. Der erste ist, dass Horaz wegen seiner Anhängerschaft der Philosophie Epikurs Atheist war. Der zweite wäre, dass er sich scheinbar von epikureischen Überzeugungen löste und dem Stoizismus annäherte und damit den Glauben an eine Vorsehung zugestand. Die dritte und letzte Variante ist mit der zweiten identisch, allerdings mit dem pikanten Zusatz, dass Horaz sich lediglich einen Scherz erlaubte und den Stoizimus mit seinem Vorsehungsglauben auf den Arm nahm.138 Mit dem Begriff der Vorsehung (providentia) ist der zeitgenössische As-
134 WuB 3, S. 188. 135 WuB 3, S. 189. Mit einer gewissen Resignation gegenüber den Lateinkenntnissen Langes schreibt Lessing voller Spott: »Herr Lange hat parcus mit träge gegeben; aus was für Ursachen kann unmöglich jemand anders, als er selbst wissen; doch vielleicht auch er selbst nicht einmal.« 136 Ebd. 137 Lessing entschärft in seiner Prosaübersetzung den Ton im Allgemeinen, indem er auf verklausulierte Verse verzichtet. Diese Klarheit in der Übersetzung erstreckt sich über alle drei Strophen, für die Lessing sich einzeln rechtfertigt. 138 Dieser Meinung war Dacier: »Der stärkste Beweis des Dacier läuft dahin aus, daß unmöglich Horaz eine so nichtige Ursache seiner Bekehrung könne angeführt haben, als der Donner am heiteren Himmel in den Augen eines jeden Verständigen sein muss. ›Man braucht, sagt, er, in der Naturlehre nur sehr schlecht erfahren zu sein, wenn man wissen will, daß kein Donner ohne
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pekt dieser Rettung benannt. Diese für die lutherische Orthodoxie zentrale Annahme vom Wirken Gottes in der Welt ist ein Indikator für den Glauben schlechthin, eine Aussicht auf Seelenheil ohne sie undenkbar.139 Lessing legt dar, dass es nicht haltbar sei, eine solche Opposition der Lehrmeinungen zwischen Epikurern und Stoikern zu konstatieren. Erst durch unzulässige Vereinfachung wird aus Horaz’ Darstellung eine Alles-oder-nichts-Entscheidung für oder wider die Religion: Wenn es wahr ist, daß nach ihren [der Stoiker, M. M.] Grundsätzen der Donner am umzognen Himmel nicht mehr und nicht weniger die Mitwirkung der Götter bewies, als der Donner am heiteren Himmel; so kann Horaz den letztern eben so wenig im Ernste als im Scherze als eine Ereignung ansehen, die ihn den Stoikern wieder beizutreten nötige. Das erstere ist wahr, und also auch das letztere. Oder will man etwa vermuten, daß Horaz die stoische Weltweisheit nicht besser werde verstanden haben, als seine Ausleger?140
Erst die moderne »Gelehrsamkeit«141 knüpft Horaz den Strick: »Unzeitig ist sie, daß sie da Sekten sehen, wo keine sind; daß sie Abschwörungen und Spöttereien wahrnehmen, wo nichts als gelegentliche Empfindungen herrschen.«142 Lessing ist überzeugt, »daß Horaz in dieser Ode weder an die Stoiker noch an die Epikurer gedacht hat«, sondern die Ode unter dem Eindruck eines »plötzlich enstandenen Donnerwetter[s]«143 entstanden ist. Ein Erlebnis des alltäglichen Lebens wird Gegenstand der Dichtung. Nach den zuvor ausgeführten Überlegungen Lessings zum Wesen und Ursprung der Poesie kann dies nicht verwundern. Es sind Empfindungen, die literarisch verarbeitet eine Erhöhung mit sich bringen. »Affect und Poesie sind zu nahe verwandt, als daß dieses unbegreiflich sein sollte.«144 Was
Wolken sein könne; Horaz muß also notwendig die Stoiker nur damit lächerlich machen wollen, die den Epikurern wegen der Vorsehung weiter nichts als ungefehr dieses entgegen zu setzen wußten: ihr könnt, sagten die Stoiker, die Vorsehung nicht leugnen, wenn ihr auf den Donner und auf seine verschiedene Wirkung Achtung geben wollt. Wann nun die Epikurer ihnen antworteten, daß der Donner aus natürlichen Ursachen hervorgebracht würde, und man damit also nichts weniger als die Vorsehung daraus beweisen könne: so glaubten die Stoiker ihnen nicht besser den Mund zu stopfen, als wenn sie sagten, daß es auch bei heiterm Wetter donnre; zu jener Zeit also, da alle natürlichen Ursachen wegfielen und man deutlich sehen könne, daß der Donner allerdings von den Göttern regiert werden müsse.‹« WuB 3, S. 192f. 139 Zum Begriff der Vorsehung bei den Stoikern siehe HWdPh 11, S. 1207f. Für die Stellung der Vorsehung in der lutherischen Orthodoxie siehe ausführlich Bengt Hägglund: De providentia. Zur Gotteslehre im frühen Luthertum. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 83 (1986), S. 356– 369. 140 WuB 3, S. 195. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 196.
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sich auf den ersten, vielleicht sogar unvoreingenommenen Blick als »Bekenntnis« darstellt, ist die geschickte Überhöhung und Anreicherung der Motivik im Übergang vom historischen Ereignis zum poetischen Werk. Diese Transformation hat weitreichende Konsequenzen auch im Hinblick auf vermeintliche philosophische Überzeugungen. Die stattfindende Entkoppelung von systematischen philosophischen Ansätzen oder Äußerungen von der Poesie stellt nur einen ersten Schritt dar, der – die Logik der Argumentation der Gegner aufgreifend – auf Religion und Moralität ausgeweitet wird. Auch wenn die drei Bereiche Überschneidungen aufweisen, so muss doch der je spezifische Ort der Äußerung mit bedacht werden, um Fehlzuschreibungen Einhalt zu gebieten. Die eingangs erwähnte sapientia wird somit zu einem Begriff, der semantisch unterschiedlich gefüllt werden kann. Weisheit definiert sich nicht länger als eine an philosophischen Festlegungen orientierte Kategorie, sondern als situationsabhängige Anwendung vernünftiger Schlüsse. Lessing illustriert dies an einem Gegenbeispiel zu Horaz. Die Unsinnigkeit der Unterstellungen bzw. eine falsche Vorstellung dessen, was Weisheit sein soll, wird deutlich: Meine Leser mögen es halten wie sie wollen, wenn sie mir nur so viel eingestehen, daß nach der letztern [Erklärung, M. M.], aus dem Parcus Deorum cultor et infrequens, wider die Religion des Horaz gar nichts zu schließen ist, nach der erstern aber nicht mehr, als man aus dem Liede des rechtschaffensten Theologen, in welchem er sich einen armen Sünder nennet, wider dessen Frömmigkeit zu folgern berechtigt ist.145
Dementsprechend offen gestaltet sich das Ende dieser Rettung – was auch für die übrigen charakteristisch sein wird.146 Ein abschließendes Urteil wird verweigert: »Ich weiß, daß man noch vieles zur Rettung des Horaz beibringen könnte; ich weiß aber auch, daß man eben nicht alles erschöpfen muss.«147 Für einen Gerichtsprozess, selbst wenn es sich nur um einen fingierten handelt, ist dies eine ungewöhnliche Schlusswendung, sollte man doch erwarten dürfen, dass alle Anklagepunkte restlos entkräftet werden oder zumindest ein explizites Schlussplädoyer gehalten wird. Das Schlussplädoyer ist nur implizit vorhanden, dadurch aber mächtiger als es eine flüchtige Lektüre vermuten lässt. Ganz dem Charakter eines Musterprozesses entsprechend, der einen Präzendenzfall darstellt, wird
145 Ebd., S. 197. 146 Für die Rettungen des Horaz wurde, im Gegensatz zu den weiteren Rettungen, nie deren plötzlicher Abschluss thematisiert. Insofern stellt diese Rettung auch eine Ausnahme dar, es wurde nie bemängelt, dass sie lediglich Fragmentcharakter habe. 147 Ebd.
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ein modus operandi vorgeführt, der als wegweisend für weitere, ähnlich gelagerte Fälle bereitsteht.
4.2.6 Rettung als Denkstil – eine erste, noch vorläufige Zusammenfassung
Die Inszenierung eines Gerichtsprozesses, mit Nennung der Anklagepunkte, der Widerlegung selbiger und eines abschließend anempfohlenen Urteils, hat eine größere Reichweite als bisher angenommen. Wenn man mit Sylvia Heudecker abschließend urteilt, »die Lektüre literaturkritischer Texte wie der ›Rettungen‹ [bilde] eine Freizeitbeschäftigung, mit der man sich auf eine angenehme Weise die Zeit vertreibt.«,148 verkennt man sowohl die Zielrichtung der Schrift als auch deren Gehalt. Nicht ›Zeitvertreib‹, sondern profunde programmatische Überlegungen stehen hier im Mittelpunkt. Lessing orientiert sich an der »Moralität von Lebenspraxis«149 und versucht davon ausgehend die Einflussbeziehungen von Philosophie, Religion und Poesie sowie deren gegenseitiges Verhältnis zu erläutern. Eine Verschiebung hin zu einem Primat des Praktischen ist erstmals deutlich erkennbar. Gerade »daß er [Lessing] es nicht auf eine Verherrlichung [des Horaz] absieht«,150 markiert die allgemein-anthropologische Stoßrichtung. Mit Horaz hatte man eine Figur jenseits konfessioneller Schranken, deren Rettung nicht für apologetische oder antiapologetische Zwecke umgedeutet werden konnte, das wird sich im weiteren Verlauf ändern. Eines aber wird konstant bleiben: Gerechtigkeit soll möglich sein, wie Lessing schon eingangs der Rettung betont,151 auch wenn diese Aufgabe oftmals nicht zu Lebzeiten erfüllt werden kann. Der Historiker hat die Möglichkeit, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen und eingefahrenen Vorurteilen zu begegnen. Urteile können vor Gericht revidiert werden, genau das inszeniert Lessing hier. Aus der Haltung der Rettung konstituiert sich ein Denkstil,152 der in den weiteren Schriften erprobt und deutlicher konturiert wird. Eine Form wird zur Voraussetzung für einen bestimmten Stil, der die Bedingungen der Möglichkeit kritischer Rationalität mit sich bringt oder zuerst schafft. Die »innere Form von Rettung«153
148 Heudecker (2005), S. 239. 149 Barner (2004), S. 38. 150 Wolfgang Ritzel: Lessing. Dichter – Kritiker – Philosoph. München 1978, S. 48. 151 »Ungerecht wird die Nachwelt nie sein.« WuB 3, S. 158. 152 Zur Extension des Begriffes siehe die Überlegungen im Kapitel 3.3 ›Der Gattungsbegriff – eine sinnvolle Krücke‹. 153 Barner (2005): ›Rettung‹, S. 14.
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wird zu einem konstitutiven Element in Lessings Denken werden, das bereits in den folgenden drei Schriften an Schärfe gewinnt.
4.3 Die Rettung des Hier. Cardanus Bisweilen wird die komfortable Situation des Literaturhistorikers, das Werk eines Schriftstellers in Gänze überblicken zu können, zum Fluch – zumal bei einem Autor wie Lessing, dessen allgemein anerkannten Leistungen ins Spätwerk fallen. Schnell werden die frühen Arbeiten des Autors marginalisiert oder teleologisch als Vorausdeutung auf Späteres, was immer auch Bedeutenderes heißt, interpretiert. Einen Paradefall dieses Fluches, ich möchte es eher eine Falle nennen, haben wir mit Lessings zweiter Rettung, der des Mailänder Universalgelehrten Hieronymus Cardano vor uns. Obwohl diese, nach der Einschätzung Barners, weitaus »trockneren«154 Inhalts ist als die eben besprochene Schrift zu Horaz, hat sie sich in der Forschung weitaus größerer Beliebtheit erfreut.155 Schwer zu erklären ist das indes nicht. Kernstück der Rettung bildet ein Religionsvergleich der drei Monotheismen, da scheint der Weg zur Ringparabel im Nathan nicht weit. Und der wurde seither oft beschritten. Aber nicht nur der triviale Umstand, dass der Wittenberger Lessing nicht wissen konnte, dass einst ein Wolfenbüttler Lessing den Nathan schreiben sollte, zwingt zu einem genaueren Hinsehen. Neben der Textsorte, hier gelehrte Abhandlung, dort dramatisches Gedicht, ist der argumentative Aufwand ein je anderer. Noch predigte Lessing nicht von seiner alten Kanzel, dem Theater, sondern suchte die direkte Auseinandersetzung. Der Schützling, den er sich dafür erwählte, könnte geeigneter nicht sein: Hieronymus Cardano war nicht nur unter seinen Zeitgenossen berüchtigt, sondern blieb in seiner Stellung als gelehrter Sonderling auch seiner Nachwelt in Erinnerung, nicht immer zu seinem Vorteil. »Leser, welche den Cardan kennen, und auch mir zutrauen, daß ich ihn kenne,« beginnt Lessing seine Verteidigung, »müssen es schon voraussehen, daß meine Rettung den ganzen Cardan nicht angehen werde.«156 Und Lessing kannte Cardano in seiner ganzen Ambivalenz; nicht zuletzt war dessen Autobiographie
154 WuB 3, S. 1008. 155 Ich verzichte hier auf einen gesonderten Forschungsüberblick zu Beginn und werde die Ergebnisse der bisherigen Forschung im Verlauf des Kapitels heranziehen und diskutieren. 156 WuB 3, S. 198. Einen knappen und dennoch guten Überblick über weite Teile von Cardanos Leben und Werk – ebenfalls ohne eine Darstellung des ›ganzen Cardans‹ zu beanspruchen – gibt Markus Fierz: Girolamo Cardano. 1501–1576. Arzt, Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom und Traumdeuter. Basel 1977. Wer sich mit einer Kurzdarstellung begnügen möchte, dem
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– die erste, die diesen Namen vielleicht überhaupt in der Geschichte verdient – eines seiner liebsten Bücher.157 Lessing folgt der Einschätzung Bayles, wenn er Cardano für ein »außerordentliche[s] Genie« hält, bei dem »der größte Verstand mit der größten Torheit sehr wesentlich verbunden ist«.158 Dennoch schätzt er an ihm die »Aufrichtigkeit« in seinen Schriften, auch wenn sie ihm selbst eher zum Nachteil gereicht hat: »Es wäre ein Wunder, wenn ein so seltner Geist dem Verdachte der Atheisterei entgangen wäre.«159 Es lässt sich eine gewisse Wesensverwandtschaft auch jenseits aller Sympathie zwischen Lessing und dem Mailänder Arzt feststellen, die – ohne dabei in einen psychologischen Biographismus abzugleiten – zumindest einige wenige Worte verdient. Cardano stammte aus einer nicht armen, aber doch nicht reich begüterten Familie. Zudem war er ein uneheliches Kind, auch wenn die Eltern zum Zeitpunkt seiner Geburt scheinbar fest liiert waren. Allerdings sollte ihn dieser Makel zeitlebens begleiten und ihm mehr als einmal die Möglichkeit auf aussichtsreiche Positionen versperren, was bestimmend für sein Leben werden sollte. Häufig war er genötigt, seinen Lebensmittelpunkt zu wechseln und Anstellungen hinterher zu ziehen. Was seine Ausbildung
sei empfohlen: Thomas Sören Hoffmann: Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts. Wiesbaden 2007, S. 165–174. 157 »Cardano ist sich des Traditionszusammenhangs (auto-)biographischen Schreibens durchaus bewußt; sowohl pagane Autobiographien – wie Caesars Commentarii – als auch christliche – allen voran natürlich die Confessiones des Augustinus – kennt Cardano: Für das hohe Ziel einer wahrheitsgemäßen Darstellung steht Marc Aurel Pate. Wiewohl er sich durch die Voranstellung eines chronologischen Überblicks leserfreundlicher wähnt als Sueton, greift er dessen Technik der ›Rubrizierung‹ nach Themen auf: Seine Lebensbeschreibung gliedert er nicht chronologisch, sondern wählt bestimmte Charaktereigenschaften oder Sachzusammenhänge aus, die er ›systematisch‹ ausführt: Die ›Zeit‹ war noch nicht reif für eine Darstellung, die sich ganz auf das Evolutionäre verlegt, die darauf abzielt, eine Entwicklung darzustellen. Es macht die eigentümliche Zwischenstellung von Cardanos Autobiographie aus, daß er sein Leben im Grunde nicht mehr als ›Exemplum‹, also als Aktualisierung allgemeingültiger Normen begreift, aber im Rückblick auf sein Leben auch keine Entwicklung einer individuellen Biographie im modernen Sinn zu erkennen vermag.« Maximilian Benz: Nichts als die nackte Wahrheit. Wildwuchs und Schonungslosigkeit in Girolamo Cardanos ›De Propria Vita‹. In: parapluie. elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen. No. 24. Zu erreichen über: http://parapluie.de/archiv/autobiographien/cardano/ (Datum des letzten Zugriffs: 25.10.2011). Wir verdanken die Überlieferung von Cardanos Lebensbeschreibung (De vita Propria) Gabriel Naudé, der das Manuskript seinerzeit fand und eine erste Edition besorgte. Sie ist die Grundlage aller weiteren Ausgaben – das Manuskript ist verloren – so auch der ersten deutschen Übersetzung durch Hermann Hefele aus dem Jahr 1914, die in einer neueren Ausg. wieder greifbar ist. [Girolamo Cardano]: Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung. Aus dem Lateinischen übers. von Hermann Hefele. München 1969. 158 WuB 3, S. 198. 159 Ebd.
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betrifft, so war er in vielen Gebieten Autodidakt. Den Großteil seines Wissens hatte er sich außerhalb von Universitäten und Akademien, wie sie zu seiner Zeit zahlreich entstanden, beigebracht. Insofern sind – trotz der zweihundert Jahre Zeitunterschied – durchaus deutliche Parallelen in den Lebensläufen beider erkennbar. Ein kleines Detail möchte ich herausgreifen, das vielleicht mehr über den Charakter der beiden Gelehrten und ihre Philosophie verrät, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Cardano war, ebenso wie Lessing, ein leidenschaftlicher, wenn nicht sogar ein besessener Spieler: »According to his own numerous confessions Cardano gambled, for years even to excess, and almost all writers on his life, including Cardano himself, have dutifully expressed their most sincere condemnation of such an immoral and disreputable pastime.«160 Gleiches hören wir von Lessings Bruder Karl, nicht ohne dasselbe Maß an Verwunderung und Besorgnis: Allein seinen Freunden ist doch nichts so aufgefallen, wie seine Spielsucht, [. . . ]. Einer seiner Freunde, der ihn bei dem Pharaotische beobachtete, sah einmal, wie ihm die Schweißtropfen vom Gesichte herunterliefen. Er sah auch, daß er nicht im Unglücke war, sondern diesen Abend sehr glücklich spielte. Als sie miteinander nach Hause gingen, tadelte er ihn, daß er nicht bloß seine Börse, sondern noch etwas wichtigeres, seine Gesundheit, ruinieren würde. Gerade das Gegenteil, antwortete Lessing. Wenn ich kaltblütig spielte, würde ich gar nicht spielen; ich spiele aber aus Grund so leidenschaftlich. Die heftige Bewegung setzt meine stockende Maschine in Tätigkeit, und bringt die Säfte in Umlauf; sie befreit mich von einer körperlichen Angst, die ich zuweilen leide.161
Während Cardanos Interesse am Glücksspiel auf der mathematischen Ebene der Wahrscheinlichkeitsrechnung anzusiedeln ist, spielte Lessing nicht zuletzt, wie sich aus der Aussage folgern lässt, um sich lebendig zu fühlen. Bei allen Unterschieden in der Interpretation oder den eigenen Beschreibung der Faszination des Glücksspiels gibt es doch eine Gemeinsamkeit, die sich in den philosophischen Überlegungen beider niederschlagen und die für den weiteren Verlauf der Rettung des Cardano wesentlich werden sollte. Für beide war die Kategorie des Zufalls eine Herausforderung, die sich aufdrängt. Das Kontingente, nicht aus dogmatischen Wahrheiten Deduzierbare und damit Vorhersehbare, gewinnt in den Überlegungen beider an Gewicht.162 Kämpfte Cardano noch darum, das Zufälli-
160 Oystein Ore: Cardano, the Gambling Scholar. With a translation from the Latin of Cardano’s »Book on Games of Chance«, by Sydney Henry Gould. New York 1965, S. 108. 161 KGL, S. 130f. 162 Erinnert sei hier an die Überlegungen Wilfried Barners zur Verbindung von Kontigenz und Polemik in den Rettungen, die eingangs des Kapitels zur Gattungsgeschichte angemerkt wurden. Barner (2005): ›Rettung‹, S. 11–24.
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ge mittels der ihm und seinen Wissenschaften zur Verfügung stehenden Mitteln, vornehmlich der Mathematik und der Astronomie, einzuholen, so ließ Lessing den Zufall bereits als Positivität gelten und versuchte mit der Anpassung seines Wahrheitsbegriffes diesem Umstand zu begegnen. Das hatte auch Auswirkungen auf den Religionsvergleich, der Cardano immer mit zum Vorwurf gemacht wurde. Drei Verdachtsmomente wurden traditionell in der Historiographie bezüglich des Atheismusvorwurfes geäußert, auf zwei davon geht Lessing in der Rettung nicht näher ein, trotzdem seien sie hier kurz diskutiert, bevor der eigentliche Kernpunkt, die Stellung der Monotheismen zueinander, zur Sprache kommt.
4.3.1 Die Sterblichkeit der Seele und ein Horoskop für den Heiland
Cardano soll, neben seinem Buch über die Unsterblichkeit der Seele163 ein weiteres, nur für Freunde bestimmtes Manuskript verfasst haben, in dem er die Unsterblichkeit der Seele nachgerade und direkt leugnet. Der Urheber dieses Vorwurfs war, Lessing führt ihn an, der Jesuit Martinus del Rio (auch Delrio, 1551– 1698).164 In seinem voluminösen Werk Disquisitionum Magicarum Libri sex, in tres Tomos Partiti findet sich der Vorwurf im zweiten Buch De Magia Daemonica. In der 25. Quaestio, die »Quid Diabolus queat in anima a corpera seperanda, ipsaque seperatione? Ubi de ecstasi & admirandis circa cadavera« überschrieben ist, heißt es: »Errant imprimis, qui cum Cardano quotiescunq. collibuerit, naturali sua vi, & arbitrio voluntatis rapi se iactitant.«165 Auf diese Stelle scheint sich Lessing zu beziehen. Als Widerlegung reicht ihm hier der Hinweis darauf, dass del Rio Jesuit war: »Wenn man es noch glauben will, so muß man diesen Spanier
163 Gemeint ist die relativ früh entstandene Schrift De Animi immortalitate. Hier ist nicht der Ort, um näher auf Cardanos Seelenkonzeption einzugehen. Es sei nur so viel gesagt, dass die von früheren Autoren, etwa Pietro Pomponazzi, vertretenen Positionen deutlich modifiziert werden und sich die Seelenlehre als ein essentieller Teil von Cardanos Naturphilosophie darstellt. Siehe hierzu auch Eckhard Keßler: »Alles ist Eines wie der Mensch und das Pferd«. Zu Cardanos Naturbegriff. In: ders. (Hg.): Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt. [Vorträge gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 8. bis 12. Oktober 1989 in der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel]. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 15), S. 91–114. 164 Zur Biographie und für weiterführende Literatur siehe LThK 3, S. 78. Del Rio machte sich insb. als unbarmherziger Hexenverfolger einen Namen, nicht in der Praxis, aber auf dem Gebiet der theoretisch-theologischen Fundierung der Vorgehensweise. 165 Martinus del Rio: Disquisitionum Magicarum Libri sex, in tres Tomos Partiti. Mainz 1603, S. 188. Das Werk brachte es bis 1755 auf unglaubliche 25 Auflagen, was die Bedeutung mehr als unterstreicht (siehe hierzu LThK 3, S. 78).
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nicht kennen.«166 Und doch glaubten ihm viele, sie folgten del Rio in der Annahme, dass es ein ungedrucktes, aber wahres Buch Cardanos über die Sterblichkeit der Seele gegeben habe. Man sieht hier recht deutlich, wie eins zum anderen kommt. Ist man erst einmal als Atheist diskreditiert oder steht zumindest in Verdacht, so lassen sich alle denkbar möglichen Taten und Untaten kolportieren. Die Glaubwürdigkeit speist sich daraus, dass man einem Ungläubigen alles zutrauen kann, wie dieses Beispiel belegt. Dabei war Cardano wohl ein frommer Mann, der in manchem Gedankenexperiment, die in seinem Werk zahlreich zu finden sind, weiter geht, als seine Zeitgenossen nachvollziehen konnten. Die Aufrichtigkeit, die Lessing an ihm lobt, drückt sich auch in den Fragestellungen aus, die er entwickelt. Wenngleich er oft zugibt, auf bestimmte Fragen keine eigene Antwort zu kennen, so hält er doch immer die Frage für das ohnehin Substanziellere. Dass sich eine solche Persönlichkeit und ihr Denken für die Aufklärung vereinnahmen ließ, muss nicht weiter erörtert werden. Wir hatten schon an der geschickten Charakterisierung Huartes gesehen, wie Lessing einen längst verstorbenen Autor für die Zwecke der Aufklärung zu reaktivieren wusste. Auch auf den zweiten Vorwurf, diese »astrologische Unsinnigkeit, dem Heilande die Nativität zu stellen«,167 geht Lessing ebenfalls nicht weiter ein und verweist auf die eigenen Worte Cardanos, »welche insonderheit der Pastor Brucker aus dessen seltenen Werke, über des Ptolemäus vier Bücher des astorum judiciis, angeführet hat.«168 Jakob Brucker hat konstatiert, dass es eben im Verlauf des 16. Jahrhunderts nichts Unanständiges war, solches zu tun, und dass dies zum Kanon der »Eclectica philosophiae« gehört habe.169 Dieser Umstand
166 WuB 3, S. 199. 167 Ebd., S. 198. 168 Ebd., S. 199. 169 Jakob Brucker: Historia critica philosophiae a tempore resuscitatarum in occidente literarum ad nostra tempora. Leipzig 1743, hier Bd. IV/1, S. 76. Lessing rezensiert im 77. Stück der BPZ vom 29.6.1751 eine deutsche (Teil-)Übersetzung der Werke des Philosophiehistorikers Brucker überaus positiv: »Wenn es aber wahr ist, daß niemand in einer Wissenschaft ein Compendium abfassen kann, als der, welcher diese Wissenschaft in dem weitläufigsten Umfange übersieht, so muß das gegenwärtige gewiß das gründlichste sein. Ohne die Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind. Und ohne die Geschichte der Weltweisheit insbesondere, welche nichts anderes ist als die Geschichte des Irrtums und der Wahrheit, [. . . ].« WuB 2, S. 123f. Inwieweit Brucker hier die Lage unterschätzt hat – und es eben doch so ›anständig‹ nicht war, ein Horoskop für Jesus Christus zu erstellen –, müsste gesondert diskutiert werden. Einen guten Überblick über die Reichweite und Grenzen astrologischer Praxis bietet Eugenio Garin: Astrologie in der Renaissance. Frankfurt am Main / New York 1997. Zum Einfluss der Astrologie am Renaissance-Hof siehe Peter Marshall: The Theatre of the World. Alchemy, Astrology and Magic in Renaissance Prague. London 2006, insb. S. 170–184.
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wurde erst jüngst wieder ins Gedächtnis gerufen und für das 16. Jahrhundert im deutschen Raum erforscht. Claudia Brosseder berichtet über eine »wahre Bücherflut«, die bei »einigen deutschen Astrologen und bei ihren italienischen Kollegen das Bedürfnis [schürte], die neu produzierte Menge arabischer und italienischer Horoskophandbücher zu synthetisieren, zu vereinfachen und sie in einen überschaubaren Zusammenhang zu bringen.«170 Dass dieser neue, »überschaubare Zusammenhang« auch in der Naturphilosophie zu suchen war, kann nicht verwundern. Eines der Vorbilder für deutsche Astrologen war dann auch Cardano.171 Anschlusslos und obskur blieben Cardanos Versuche und Bemühungen in der Astrologie also bei Weitem nicht. Weitaus ausführlicher als Brucker hat sich Johann Friedrich Christ, Lessings Leipziger Lehrer, mit diesem Vorwurf auseinandergesetzt und ihn in theologischer Hinsicht als unbedenklich eingestuft, obgleich auch er dem Vorhaben Cardanos wenig abgewinnen konnte.172 Eine wie auch immer geartete Unredlichkeit
170 Claudia Brosseder: Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen. Berlin 2004, S. 146. 171 »Cardano schuf ein radikal neues Modell der Bücher über die Horoskopkunst. Beginnend mit seinem Libello duo, [. . . ] ging Cardano nicht mehr von überlieferten astrologischen Lehrsätzen aus, sondern edierte Kosmogramme, [. . . ]. Einzeln analysierte er sie und überprüfte anhand ihrer Daten die vorhandenen Lehren.« Ebd., S. 157. Man sieht hier deutlich die Nähe zu Cardanos naturphilosophischen Bemühungen, die der gleichen Methodik von Sichtung der Fakten und Interpretation derselben verpflichtet war. Siehe hierzu ferner Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen. Berlin 1999. 172 In der Anm. ›E‹ heißt es dazu bei Christ: »Wegen der nativität Christo durch Cardan gestellet, kan ich ihn nicht durchaus vertheidigen. die sache ist längst allzu verhast [!] beschrieben, als daß man dagegen leicht zu seinem besten etwas ausrichten würde. Cardan hätte auch diesen fürwitz leicht können bleiben lassen. Allein, ich werde doch nicht irren, wenn ich seiner redlichkeit und religion so viel zutrauend, davor halte: er habe dabey eine gute meynung gehabt, und die schlimmen folgerungen, die man ihm nachmahls daraus gezogen, keineswegs vorher gesehen, sondern geglaubt: der das menschliche geschlecht, nebst dessen fall und erlösung, nach seiner allwissenheit, ehe die welt gebauet war, vorher gesehen, und die menschheit des erlösers bestimmt gehabt: hätte auch wohl was Christo als menschen in der erniedrigung auf dem erdkreis begegnen sollen, wie es die propheten hernach verkündiget, und die morgenländischen weisen seine geburt aus den sternen gesehen haben, in die ordung der sternen einschreiben können. worinnen wahrhaftig nichts für die Christliche religion schädliches steckt. Denn das argument, welches Thuan, Naude und Bayle, wieder [!] Cardan gebrauchen, schliest keineswegs richtig. wie Christus als herr der sternen sein verhängnis nicht in den sternen hätte haben können. Massen darinnen nichts wiedersprechendes: daß Christus als Gott, der herr des verhängnisses sey, und sich gleichwohl selbst ein verhängniß, darnach es ihm unter den menschen ergehen sollte, geschrieben habe. denn also hängt er von nichts ab, als seinem willen, das heist ausser ihm von nichts. welches der Gotteslehre ganz gemäß ist. Nun aber, da er Herr der sternen bleiben, und gleichwohl, als mensch geboren, sein verhängniß, so lang der stand der erniedrigung währte, in
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oder gar Ungläubigkeit Cardanos lässt sich daraus nicht ableiten. Der einzige Vorwurf, den sich Cardano gefallen lassen musste, war der des Aberglaubens. Nun war jedoch gerade im 18. Jahrhundert Aberglauben etwas fundamental anderes als Unglauben: »Ist also der hauptsächliche Unterschied eines Atheisten von einem Abergläubigen, daß, was jener zu wenig thut, und nirgends etwas göttliches erkennen will, dieser überall was göttliches erkennen will, welches doch nicht ist, sich einbildet.«173 Auf diesem Gebiet, wo Aberglaube und Unglaube nicht mehr durchgängig synonym verstanden wurden, schien die Verteidigung relativ leicht. Als abergläubisch zu gelten, hatte auf die moralische Integrität so gut wie keinen Einfluss. Ganz anders war der Fall gelagert, wenn man des Unglaubens bezichtigt wurde. Die Konsequenzen erstreckten sich auf die moralische Qualität einer Person und machten diese in gesellschaftlicher Hinsicht untragbar und angezeigt, gegen sie vorzugehen. Es spricht also für Lessings Gespür in der Hierarchisierung der Anklagepunkte, genau jenen für eine eingehendere Betrachtung ausgewählt zu haben, der Cardanos Ruf als Atheist noch immer untermauern konnte.
4.3.2 Wer verliert beim Vergleich der Religionen?
»Es ist billig, daß man die Ankläger des Cardans zuerst höret.«174 So beginnt Lessing die Rettung seines Schützlings. Dabei greift er auf einen Trick zurück, den er bereits in der Vorrede zu seinen Schriften als »unbesonnen« bezeichnet hatte. Die Ankläger des Cardan sind über die Jahrhunderte Legion, aber Lessing zitiert, of-
den sternen, wie er sich dasselbe selbst bestimmt, haben konnte: so folgt aus dem Cardan vornehmen an sich selbst nichts böses wieder [!] die Christliche religion: und das von den gelehrten zeither dieserhalben wieder ihn gebrauchte argument fällt als unkräftig hinweg. könte er also insofern vertheidigt werden: welches ich jetzt nicht weiter treiben will, weil ich die astrologische schrift selbst, wovon die frage ist, noch zur zeit nicht gelesen habe. der ich sonst für dergleichen sternseherische händel einigen glauben nicht hege. Der gute Cardan war in dieser absicht wohl nicht unter die ungläubigen zu zehlen. viel ehe trat er auf der andern seite etliche schritte in den aberglauben. das kan ich den großmüthigen Thuan nicht vergeben: daß er das gerüchte von Cardani tod, ohne schein der wahrheit, so leicht geglaubt, und seinen büchern einverleibt hat. Unser armer verfolgter würde ein weit besseres gerücht erlangt haben, wann sich nicht auch in einem so vortrefflichen werke, als des Thuan geschichten seynd, von ihm eine mit etlichen vorurtheilen verfälschte nachricht zeigte.« Christ (1727), S. 50–52. Die Orthografie oder zumindest der Satz ist, je nach Sichtweise, eigenwillig oder fehlerhaft. Ich richte mich hier getreu nach dem Original. 173 So die Explikation im Artikel ›Aberglaube‹ in Zedler 1, Sp. 108. 174 WuB 3, S. 199.
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fensichtlich ganz bewusst, den letzten in der Reihe. Er führt keine Kämpfe gegen Verstorbene, sondern setzt auf die Konfrontation mit den lebenden Gelehrten. Es kommt »Herr Pastor Vogt; oder vielmehr de la Monnoye durch diesen«175 zu Wort: Er führt, in seinem Verzeichnisse von raren Büchern, die erstre, und noch eine andre Ausgabe des Cardanischen Werkes de subtilitate an, und was er dabei anmerkt ist folgendes. ›Man lieset, sagt er, in diesen ungemein seltenen Ausgaben eine sehr gottlose und ärgerliche Stelle, die man in den nachherigen Abdrücken weggelassen hat. Ich will die ganze Sache mit den Worten des gelehrten de la Monnoye, im 4. Th. der Menagianen, S. 305, erzehlen. Noch schlimmer als Pomponaz, sagt dieser, macht es Cardan. In dem eilften seiner Bücher de subtilitate vergleicht er die vier Hauptreligionen kürzlich untereinander; und nachdem er eine gegen die andre hat streiten lassen, so schließt er, ohne sich für eine zu erklären, mit diesen unbedachtsamen Worten: igitur his arbitrio victoriae relictis. Das heißt auf gut deutsch, er wolle es dem Zufalle überlassen, auf welche Seite sich der Sieg wenden werde [. . . ]‹.176
Diese hier anzitierte Stelle bildet den Ausgangspunkt der Verleumdungen gegen Cardano, für die niemand geringerer als Julius Caesar Scaliger (1484–1558) verantwortlich zeichnet. In seinem 1557 erschienen Werk Exotericarum exercitationum liber XV, De subtilitate, ad Hieronymum Cardanum hat Scaliger ausführlich Stellung gegen Cardano bezogen.177 Der Grund dafür war nicht allein das Streben nach wahrer Erkenntnis und die Bewahrung des Christentums vor Angriffen. Scaliger selbst arbeitete in direkter Konkurrenz zu seinem Zeitgenossen Cardano. Für die Genese des sich über zwei Jahrhunderte verfestigenden Urteils über Car-
175 Ebd. 176 Ebd. Im Original heißt die Stelle: »Legitur in his editionibus longe rarissimis locus quidam impius & scandalissimus, qui in posterioribus editionibus fuit omissus. Rem integram libet exponere verbis doctiss. Mr. de la Monnoye [. . . ]: ›Cardan fait encore puisque Pomponace. Dans le onzieme de ses Livres de la Subtilité il compare entre elle succintement les quartes Religions generales, & après les avoir fait disputer l’une contre l’autre, sans qu’il se declare pour aucune, il finit brusquement de cette forte: igitur his arbitrio victoriae relictis. Ce qui signifie en bon Français, qu’il laisse en hazard à decider de la victoire.‹‹ Johann Vogt: Catalogus historico-criticus librorum rariorum, jam curis tertiis recognitus et copiosa accessione ex symbolis et collatione bibliophilorum per germaniam doctissimorum adauctus. Hamburg 1747, S. 171. Über Johann Vogt und seinen Katalog wird im folgenden Kapitel zur Rettung des Inepti Religiosi ausführlicher gehandelt. 177 Julius Caesar Scaliger: Exotericarum exercitationum liber XV, De subtilitate, ad Hieronymum Cardanum. Paris 1557. Das Werk erlebte vielfache Auflagen und wurde breit rezipiert. Es kann also auch in diesem Zusammenhang, Interesse am Gegenstand vorausgesetzt, unter Lessings Zeitgenossen als bekannt vorausgesetzt werden. Es handelt sich dabei um einen Klassiker in der Auseinandersetzung um die Konzeption der Seele. Siehe hierzu Simone de Angelis: Zwischen ›generatio‹ und ›creatio‹. Zum Problem der Genese der Seele um 1600 – Rudolph Goclenius, Julius Caesar Scaliger, Fortunio Liceti. In: Danneberg, Lutz u. a. (Hgg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin 2002 (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 2), S. 94–144.
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dano ist es wichtig, sich die Ausgangslage zu vergegenwärtigen, die weit über den bloßen Religionsvergleich hinausführt. Die voluminöse Schrift De Subtilitate ist Cardanos Hauptwerk und ein »Meilenstein der Naturphilosophie«, eine »umfassende philosophische Enzyklopädie der frühen Neuzeit«,178 in der ausgehend von den zugrunde liegenden Prinzipien eine Beschreibung der gesamten Welt vorgenommen wird. Alles hat seinen festgefügten Platz in der Ordnung der Dinge. Die Spannweite reicht dabei von den im zweiten Buch behandelten Elementen (de Elementibus et eorum motibus et actionibus) bis hin zum höchsten Wesen (de Deo et Universo) im 21. Buch. Scaligers Kritik ging in erster Linie nicht auf Cardanos Äußerungen bezüglich der Religion des Menschen, sondern war eine Abrechnung mit einer konkurrierenden Philosophie. Es war ein Streit unter Kollegen, der nach und nach an Schärfe gewann.179 Der besagte Religionsvergleich war dabei nur ein Mosaiksteinchen, das allerdings an neuralgischer Stelle sitzt – im elften Buch, de Hominis necessitate et forma überschrieben. Es entsprach der sprunghaften und für heutige Leser nur schwer nachvollziehbaren Ordnung der Gedankengänge Cardanos, dieses Thema unter der genannten Überschrift zu behandeln. So ist das tertium comparationis des Vergleiches von de la Monnoye zu Pomponazzi bereits als das Urteil zu sehen: Beide waren gottlos.180 Eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Seelen-Konzeptionen beider findet dann nicht mehr statt. Dafür müsste man auch auf das 14. Buch von Cardanos De Subtilitate zurückgreifen. Man sieht also, wie sich der Diskurs festgefahren und damit ein Urteil festgeschrieben hat, wenn Vogt diese Einschätzung zitiert. Mit der ursprünglichen Ausgangslage, Scaliger schrieb gegen die Seelenlehre eines Pomponazzi und eines Cardano an,181 hat die Beurteilung nichts mehr gemein. Die Motivation Scaligers, eine Fehde mit einem Kontrahenten im gelehrten Feld zu beginnen und
178 Ingo Schütze: Die Naturphilosophie in Girolamo Cardanos »De subtilitate«. München 2000, S. 11. 179 Zur Rezeption siehe Ulrich G. Leinsle: Wie treibt man Cardano mit Scaliger aus? Die (Nicht-) Rezeption Cardanos an der Jesuitenuniversität Dillingen. In: Mulsow, Martin (Hg.): Spätrenaissance-Philosophie in Deutschland 1570–1650. Entwürfe zwischen Humanismus und Konfessionalisierung, okkulten Traditionen und Schulmetaphysik. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 124), S. 253–277. 180 Dass die Seelenkonzeption Pomponazzis dabei ganz anders gedacht wird, spielt für das Urteil keine Rolle. »Der ›Alexandrismus‹ [dessen man Pomponazzi bezichtigte, M. M.] betrifft dabei die Lehre vom Intellekt und meint die vollständige Leugnung einer natürlichen Unsterblichkeit der Seele, welche vor allem die Platoniker (auch die der Renaissance) vertraten und wie sie späterhin [. . . ] auch von Averroes für den intellectus agens als den allgemein tätigen Weltgeist noch behauptet wurde.« Hoffmann (2007), S. 145. 181 Siehe hierzu die Darstellung bei Ian Maclean: Cardano’s Eclectic Psychology and its Critique by Julius Caesar Scaliger. In: Vivarium 46 (2008), H. 3, S. 392–417.
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ihn durch den Vorwurf der Gottlosigkeit zu diskreditieren, ist bereits völlig ausgeblendet. Auf all diese Hintergründe geht Lessing in seiner Rettung nicht ein, er stützt sich allein auf den Text. Das Urteil beansprucht schon längst Objektivität für sich. Für den Beleg dieses Umstandes führt Lessing dann auch eine ganze Genealogie von Gelehrten auf, die sich dieser Meinung anschließen wollten: Marinus Mersennus, der Cardano im Zusammenhang auch für das berüchtigte Buch von den drei Betrügern (De tribus impostoribus) verantwortlich machte, Morhof in seinem Polyhistor,182 Jakob Friedrich Reimmann in seiner Atheisten-Geschichte und schließlich Friedrich Gotthilf Freytag.183 Nicht zuletzt hat Lessings Freund und Studienkollege, Friedrich Immanuel Schwar(t)z, der ihm den Zugang zur Bibliothek erst ermöglichte, sich in die gleiche Richtung geäußert, gleichsam als letzten Beweis des Fortwirkens dieses Urteiles bis in die unmittelbarste Gegenwart. Die Rekapitulation der Ankläger kann sich also getrost auf die Darstellung Vogts konzentrieren, bei allen Genannten ist das Gleiche in Bezug auf Cardano zu lesen. Daraus resultiert auch Lessings Vorwurf: Was wird man aber von mir denken, wenn ich kühnlich behaupte, daß alle diese Gelehrte, entweder nur Nachbeter sind, oder, wenn sie mit ihren eigenen Augen gesehen haben, nicht haben construieren können. Ich sage: nicht können; denn auch das kann man nicht, woran uns die Vorurteile verhindern.184
Lessing spricht hier die zwei Möglichkeiten an, denen sich die Fortschreibung der Beurteilung Cardanos verdankt. Zum einen könnte sie auf die Gegebenheiten zurückzuführen sein, die sich aus der Publikationsgeschichte von De Subtilitate ergeben. Die oben angeführte Passage findet sich lediglich in der Erstauflage, 1550 gedruckt bei Johannes Petreius in Nürnberg. Noch im gleichen Jahr kam eine Ausgabe in Oktav in Paris auf den Markt, sowie eine dritte und vierte ein Jahr später ebenfalls in Paris und Lyon. 1554 erschienen zwei weitere Ausgaben, eine wiederum in Lyon, die andere in Basel.185 In kurzer Folge wurden demnach vom Autor veränderte und teilweise auch unautorisierte Nachdrucke des Werkes herausgebracht. Die Erstausgabe ist dabei mit weitem Abstand die seltenste. Es ist also sehr wahrscheinlich – und darauf zielt Lessing –, dass die meisten Ankläger die inkriminierende Stelle nie selbst zu Gesicht bekommen haben. Der Vorwurf des
182 Daniel Georg Morhof: Polyhistor, Literarius, Philosophicus Et Practicus, Lübeck 1688 u.ö. 183 Freytag zitiert die nämliche Stelle de la Monnoyes in seinem Analecta litteraria de libris rarioribus. Leipzig 1750, S. 210. 184 WuB 3, S. 200. 185 Eine Übersicht über die verschiedenen Drucke gibt Schütze (2000), S. 167–169.
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Atheismus ist, so verständlich es unter den Produktionsbedingungen des 18. Jahrhunderts auch sein mag, in Lessings Augen philologisch zutiefst unredlich, hat man doch die Ursache für die Verurteilung nie selbst in Augenschein genommen. Zumal Cardano selbst in die Textgestalt eingriff, so dass eine verkürzende Darstellung, lediglich aus der Kenntnis der späteren Auflagen, nicht gerechtfertigt ist. So differenziert war die Betrachtung unter den Zeitgenossen ohnehin nicht, gerade Cardanos Veränderungen sprachen als Schuldeingeständnis für sich selbst. Dieser Logik will Lessing nicht folgen und präsentiert die ursprüngliche Textfassung der Originalausgabe, die er in dem annotierten Exemplar Melanchthons vor sich hat. Anhand dessen will er die böswilligen Unterstellungen widerlegen, die man Cardano in der Auslegung seiner Schriften untergeschoben hat. Wenn man hier von untergeschobenen Vorwürfen spricht, so trifft das durchaus Lessings Sinn. Die Interpretatoren hielten es seit jeher lieber mit Scaliger als mit dem exzentrischen Mailänder Arzt, eine Chance auf eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung hatte Cardano nie. Scaliger verteufelte alles, was Cardano je gesagt oder geschrieben hatte und blieb über lange Zeit Sieger. Der einzige Gelehrte, der eine andere Sichtweise auf Cardano zu etablieren versuchte, aber ungehört blieb, war Gabriel Naudé, der einen Teil der Werke Cardanos erstmals edierte.186 Eine explizite Verteidigung Cardanos – ob Lessing sie kannte, muss als Frage im Raum bleiben – findet sich als Vorwort zu seiner Edition von Cardanos Lebensgeschichte.187 In jedem Fall schlägt Lessing die gleiche Richtung ein, er will sich nicht auf Mutmaßungen oder Gerüchte verlassen, sondern stützt sich auf den Text. Diesen präsentiert er in deutscher Übersetzung, denn »[d]as Latein des Cardan ist so schlecht, daß der Leser nichts dabei einbüßt, wenn er es auch in ebenso schlechtes Deutsch verwandelt sieht.«188 Was war nun der Gegenstand Cardanos? Er ging zunächst von einer sich ganz aus der Empirie speisenden Feststellung aus: »Die Menschen sind von je her, an Sprache, Sitten und Gesetzen, eben so sehr unter sich von einander unterschieden gewesen, als die Tiere von ihnen.«189 Man muss sich vergegenwärtigen, dass sich dieser Abschnitt im elften Buch findet, das sich mit der Gestalt des oder
186 Cardano soll im Laufe seines Lebens 225 Schriften verfasst haben, von denen uns 130 überliefert sind. Vgl. Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Biobibliographisches Repertorium. Berlin / New York 2004, S. 166f. 187 Gabriel Naudé: De Cardano iudicium. In: Girolamo Cardano: De vita propria liber. Amsterdam 2 1654. Die Schrift ist mit 59 unpaginierten Seiten recht ausführlich. Siehe hierzu auch Paul Oskar Kristeller: Between the Italian Renaissance and the French Enlightenment: Gabriel Naudé as an Editor. In: Renaissance Quarterly 32 (1979), S. 41–72. 188 WuB 3, S. 201. 189 Ebd., S. 201f.
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vielmehr der Menschen beschäftigt. Cardano konstatiert zunächst eine Differenz zwischen den Völkern. Auf diesen fundamentalen Unterschieden beruhen dann auch die beobachtbaren Folgen: Bei den Verehrern des Mahomets wird ein Christ, und bei beiden ein Jude nicht höher geschätzt, als der verworfenste Hund: er wird verspottet, verfolgt, geschlagen, geplündert, ermordet, in die Sklaverei gestoßen, durch die gewaltsamsten Schändigungen gemißhandelt, und mit den unsaubersten Arbeiten gemartert, so daß er von einem Tiger, dem man die Jungen geraubet, nicht so viel auszustehen haben würde.190
Man erkennt deutlich die Frage, die im Hintergrund steht: Was wäre denn ein Allgemein-Menschliches unter diesen Voraussetzungen? – darum geht es Cardano ja an besagter Stelle. Eine weitere Spezifikation soll Klarheit schaffen, weshalb die Gruppen einzeln untersucht werden. Die naturwissenschaftliche Methodik, in der sich Cardano zeitlebens geschult hat, tritt auch hier zutage. Er hält also fest: »Der Gesetze«, die er als Ursache für den Umgang untereinander ausgemacht hat, »aber sind viere; der Götzendiener, der Juden, der Christen und der Mohametaner.«191 Diese vier Erscheinungsformen des »Gesetzes« werden nun, in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens, einzeln abgehandelt. Den Auftakt bildet »[d]er Götzendiener«, der bestimmte Artikel verweist schon auf die anthropologischen Muster, um die es Cardano geht. Aus vier Gründen weiß sich der Götzendiener mit seiner Religion im Recht: Allzu oft ginge man »in den Kriegen wider die Juden« als Sieger hervor, was zu der begründeten Annahme befähige, dem »höchsten Werkmeister und Regenten« möge die Verehrung vieler Götter anstatt des Einen »gefallen«192 haben. Zudem sei es, analog zur monarchischen Herrschaft gedacht, ungebührlich, mit seinem alltäglichen Bitten und Flehen stets die höchste Instanz zu belästigen. Auch ein König habe seine Statthalter und Beamten, die Aufgaben übernehmen. Eben so verhalte es sich mit der Vielzahl der Götter. Das habe zudem den Vorteil, und hier bringt Cardano Beispiele der antiken Mythologie, dass es dem Menschen grundsätzlich möglich sei, durch besondere Verdienste oder Leistungen in den Stand der Götter aufgenommen und »nach dieser Sterblichkeit göttlich verehrt zu werden«.193 Der vierte und letzte Grund betrifft die für die eigene Religion in Anspruch genommenen Wunder, die aber sowohl den vielen Göttern zugesprochen werden können, als auch nur einem. Der letzte Grund bleibt also unentschieden. Zweifellos Vorteile biete
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Ebd., S. 202. Ebd. Ebd. Ebd.
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der Götzendienst aber im Falle der Erklärungen des Weltursprunges sowie damit einhergehend in der Akzeptanz der »Weltweise[n]«, die unter den übrigen drei Religionen »noch abgeschmackter«194 seien. Dafür kann man dem Götzendiener »die Menschenopfer, die Verehrung toter Bildsäulen und die Menge der Götter [. . . ], welche auch von den ihrigen selbst verlacht würden«195 entgegenhalten. Cardano sieht die Götzendiener als widerlegt an, wobei er nicht darauf eingeht, auf welche Art und Weise das geschehen sei. Die letztgenannten Gründe scheinen ihm überzeugend, oder aber er sieht sich durch den Gang der Geschichte bestätigt – das bleibt offen. Sogleich aber »steht der Jude wider den Christen auf«196 und die Argumentation gewinnt an Fahrt, wenngleich Cardano dem Kasus nur drei Sätze widmet. Zuerst argumentiert der Vertreter des Judentums aus Gründen der Kontinuität: »Wenn in unserem Gesetze, so sagt er, Fabeln enthalten sind, so sind sie alle, auch auf euch gekommen, die ihr unser Gesetz annehmet.«197 Mit der Annahme des Alten Testamentes, so der Hauptpunkt der Argumentation, hätten die Christen das übernommen, was sie selbst am Judentum als bloße Erzählungen kritisierten. Das ist eine verkürzende Darstellung, hat sich doch die Apologetik seit jeher darauf kapriziert, dass das, was bei den Juden noch ›Fabel‹ war, sich in den Prophezeihungen des Neuen Testamentes bewahrheitet habe und damit wirklich geworden sei. Die Juden hingegen blieben bei der bloßen Erzählung stehen.198 Der zweite Einwand zielt auf den Gottesbegriff: »Die Einheit Gottes hat niemand so unverfälscht verehret als wir; und von uns stammet diese Wahrheit auch her.«199 Der Jude reklamiert für sich und seinen Glauben, der erste gewesen zu sein, der den Polytheismus überwunden habe. Dergestalt wäre die christliche Trinität – aus der Sicht eines konsequenten Unitarismus – ein Rückschritt. Trotz großer apologetischer Bemühungen blieb dieses Argument immer eine offene Flanke, ein Einfalltor für Häresien und ein wunder Punkt, ferner aber auch, als Argument, Garant für die Überwindung des Judentums. Als drittes werden,
194 Ebd., S. 203. 195 Diese Aufreihung gemahnt schon an Giordano Brunos Vertreibung der triumphierenden Bestie, die allerdings erst 1584 erschien. 196 WuB 3, S. 203. 197 Ebd. 198 Dieses Argument hielt sich äußerst lange. Noch in Franz Delitzschs System der christlichen Apologetik von 1869 findet sich ein langes Kapitel hierzu: »Der Apologetik zweiter Teil: Die geschichtliche Wirklichkeit des werdenden Christenthums, wie sie sich als Verwirklichung seiner Idee, und die heilige Schrift, wie sie sich als entsprechender Ausdruck des werdenden Christenthums erweist.« In: Franz Delitzsch: System der christlichen Apologetik. Leipzig 1869, S. 291–458. 199 WuB 3, S. 203.
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wie schon zuvor durch den Götzendiener, die Wunder im Judentum angeführt, die größer seien als all die anderen und »sich kein Volk eines solchen Adels rühmen«200 dürfe. Das Wunder-Argument bleibt also konstant. Interessant ist nun die Entgegnung Cardanos, die sich nicht auf den Gottesbegriff einlässt, sondern ganz klassisch das geschichtliche Argument ausspielt: Hierauf aber sprechen die übrigen wider das Gesetz: alles das, was untergegangen sei, müsse Gott nicht gefallen haben; sie die Juden hätten wider ihre Propheten gewütet; ihr Volk wäre allezeit der ganzen Welt ein Abscheu gewesen, und diejenigen, welche von den Christen und Mohametanern verehrtet würden, die befehlen ihnen ihr eigenes Gesetz anzubeten.201
Gegen die Juden bilden sowohl die Muslime als auch die Christen eine gemeinsame Front. Die Geschichte, und das gilt es im Hinblick auf die späteren Einwände Lessings im Auge zu behalten, hat dem Islam und dem Christentum den Vorzug gegeben, dies sind die beiden Religionen, deren Ausbreitung und Bedeutung am größten sind. Vergegenwärtigt man sich Cardanos Ausgangsbeobachtung noch einmal, es zeigt sich ein genereller Kampf um die Vorherrschaft des Gesetzes, und das Ziel seiner Untersuchung, die Bestimmung einer anthropologischen Konstante, kann man folgern, dass nur noch zwei Parteien im Rennen sind, die beiden anderen Optionen sind bereits ausgeschieden. Eine Entscheidung muss zwischen dem Christentum und dem Islam fallen: »Dieser Streit ist schärfer und wird auf beiden Teilen mit großen Kräften unterstützet, von welchen das Wohl ganzer Reiche und Länder abhängt.«202 Diese Aussage muss ernst genommen werden, führt man sich die geschichtlichen Umstände vor Augen, unter deren Einfluss Cardano sein Werk verfasst hat. Bislang wurde in der Forschung lediglich der ›lessingsche‹ Teil der Rettung wahrgenommen und die Cardano-Anteile als bloße Vorlage marginalisiert, anhand der Lessing sein Toleranz-Konzept erläutern konnte.203 Es steckt aber weitaus mehr dahinter, sodass es unzulässig ist, diese Belange Cardanos beiseite zu schieben. De subtilitate
200 Ebd. 201 Ebd. 202 Ebd. 203 »Die Rettungen sind in der Forschung kaum berücksichtigt worden, was aufgrund der Themen, bei denen es sich um spezifische Zeitfragen handelt, nicht verwundert. Interessant sind die Rettungen jedoch, wenn man sie nicht im Hinblick darauf betrachtet, was Lessing rettet, sondern wofür er rettet.« Sylvia Horsch: Rationalität und Toleranz. Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam. Würzburg 2004 (Ex oriente lux 5), S. 29. Mit identischen Thesen, wenngleich etwas kürzer dies.: »was findest Du darinne, das nicht mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme?«: Islam as Natural Theology in Lessing’s Writings and in the Enlightenment. In: Edinburgh German Yearbook 1 (2007), S. 45–62.
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erschien erstmals 1550. Nur wenige Jahre zuvor, im Herbst 1529, standen die Türken erstmals vor Wien – Cardano war gerade 28 Jahre alt und praktizierte als Arzt in Sacco vor den Toren Mailands. Wenngleich die Türken bekanntermaßen mit einer Allianz christlicher Streitkräfte zurückgeschlagen werden konnten, so muss die Bedrohungslage auch im nahen Mailand deutlich spürbar gewesen sein. Das »Wohl ganzer Reiche und Länder« war nicht zuletzt auch das Cardanos. Umso dringlicher schien ein Vergleich der beiden Religionen, um vielleicht aus einer intellektuellen Perspektive Voraussagen über den Ausgang dieser Konflikte anstellen zu können. Welche Religion war denn nun die überlegene? – man sieht, das ist keine rein akademische oder apologetische Frage, vielmehr hatte deren Beantwortung unmittelbare Folgen für die eigene Lebenswelt. So folgt dann die Auflistung der Beweise für die Wahrheit des Christentums unter chronologischen Gesichtspunkten. Den Auftakt bildet dabei der Weissagungsbeweis, vermehrt um die Beobachtung, dass Mohammed und damit der gesamte Islam, diesem nichts Gleichwertiges entgegen zu setzen hätten. Es ist die Genauigkeit, mit der christliche Interpreten des Alten Testamentes die Exegese betrieben haben, die in der Verbindung Jesu zum mosaischen Gesetz eine überlegende Beweislast darstellt. Der Erfüllung der Prophezeiung eingedenk, ist es für Cardano umso leichter, die Wundertätigkeit Christi als die ebenfalls überlegene darzustellen. Während die sogenannten Wunder Mohammeds entweder der Zeugenschaft Dritter entbehren oder aber gar keine Wunder im eigentlichen Sinne darstellen, da sie auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden können, seien die Wunder Jesu mehrfach bezeugt und deutlicher Beweis seiner Göttlichkeit. Wer sonst als ein Gott vermöge es, einen Toten, wie im Falle Lazarus, wieder zum Leben zu erwecken? Wäre dies nicht schon Beweis genug, könne der Christ sich auf die Vernünftigkeit seiner Religion berufen. Der dritte Grund »wird von den Geboten Christi hergenommen, welche nichts enthalten, was mit der Moral oder der natürlichen Philosophie streitet.«204 Christus wird als moralisches Vorbild installiert, das zwar, ob seiner Göttlichkeit, stets unerreichbar bleibt, aber dem nachgefolgt werden kann und soll. Diese Aussage hat durchaus auch eine missionarische Zielrichtung, betont sie doch die Widerspruchslosigkeit gegenüber der Naturphilosophie, die Cardanos eigentliches Betätigungsfeld war. Ein gelebtes und durchdachtes Christentum sei das Fundament, auf dem menschliches Leben möglich ist und somit der erste Kandidat, der im Kampf der Gesetze die Oberhand behalten sollte. Dem Propheten hingegen komme eine derartige moralische Qualität nicht zu. Seine Attribute seien Krieg und Mord. Das Bild vom gewalttätigen Islam wird in Opposition zum christlichen Gebot der Friedfertigkeit gezeichnet. Damit nicht genug, der
204 WuB 3, S. 204.
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Sündenpfuhl reiche noch über das diesseitige Leben hinaus. All die Genüsse, die die Anhänger des Propheten im Paradies erwarten, »beleidigen« den »gesunde[n] Verstand«.205 Alles im Islam sei abgeschmackt, so will der Christ den Leser glauben machen. Den Abschluss dieser in einer Klimax angeordneten Argumentation aber bildet der (scheinbar) empirische Beleg: Die christliche Religion sei zunächst von armen Leuten verbreitet worden und musste jeglicher Unterstützung von politischer Seite entbehren. Allein dieser glückliche Umstand, sich letztendlich gegen einen übermächtigen Gegner zunächst behauptet und in einem zweiten Schritt durchgesetzt zu haben, spreche für die Wahrheit und Gottgefälligkeit der Religion. Das letzte Argument ist in diesem Zusammnehang strategisch klug angebracht, vereint es Bescheidenheit und Siegesgewissheit im Anblick drohender Gefahr. Es ist nun die Aufgabe des Muslims, auf dieses argumentative Bollwerk eine passende Antwort zu finden. Der Anzahl der Gründe nach ist der Vertreter des Propheten überlegen, er präsentiert derer fünf. Die ersten beiden konstatieren einen Rückfall in das Gesetz des Götzendieners. Es sei einer Gottheit, sofern sie als allmächtig attributiert wird, nicht nur unwürdig, sondern es beleidige sie sogar, wenn man ihr Götter zur Seite stellt. Noch unsinniger sei die Annahme eines Gott-Sohnes, Gott bedürfe, vermöge seiner Ewigkeit, eines solchen nicht. Ewigkeit, so möchte man zusammenfassen, schließt Genealogie aus. In eine ähnliche Richtung zielt der zweite Grund: Auch Idolatrie sei eine Spielart des Polytheismus, so die Sicht des Islam. Man könne also von diesem lernen, wie man vernünftigerweise einen einzigen, allmächtigen Gott verehre. Mit dem dritten Grund wird der Beleg, der in der Ausbreitung der Religion zu sehen ist, aufgegriffen. Die Christen und damit auch das Christentum befänden sich auf dem Rückzug. Der größte Teil der Welt lebe nach dem Gesetz Mohammeds und dies wäre völlig unstrittig, wenn der christliche Kaiser für seinen Glauben nicht eine neue Welt entdeckt hätte. In dieser Welt, auch wenn es so explizit nicht gesagt wird, herrsche der Islam vor. Daran schließt sich direkt der vierte Beweisgrund an, der als Widerlegung der Gottgefälligkeit des Christentums gelesen werden muss. Sei es nicht etwa so, dass Gott sich ganz augenscheinlich von den Christen abgewendet habe und »sie freiwillig verderben wollte«?206 Eine Rettung vor der Ausbreitung des Islam scheint nicht in Sicht, leben doch die Anhänger des Propheten eher den Gesetzen Jesu gemäß als seine eigenen Anhänger. Jene fasteten und beteten, »enthalten sich des Mordes, der Glücksspiele, des Ehebruchs, und der abscheulichen Lästerungen gegen Gott«.
205 Ebd. 206 Ebd., S. 206.
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Von all diesen Lastern sei die christliche Gemeinschaft »überschwemmt«.207 Das stärkste Argument, und das mag auf den ersten Blick verwundern, ist dann auch der Wunderbeweis mit einer signifikanten Umdeutung gegenüber den Vorstellungen des Judentums sowie der christlichen Tradition. Nicht die Wunder des Propheten stehen im Mittelpunkt, sondern die sich alltäglich ereignenden, aus einer tiefen Gläubigkeit heraus geborenen Wunder der muslimischen Glaubensbrüder. Nicht das einmalige vergangene Wunder, sondern die Vorkommnisse, die »natürlicher, obgleich wundersamer Weise zugehen« werden für die Wahrheit der Religion in Anspruch genommen. Die Position des Islam ist so schwach nicht dargestellt, insofern hatten die Kritiker, allen voran Scaliger, durchaus handfeste Gründe, hier Gefahr zu wittern. Aber wie kam diese starke Argumentation der islamischen Position zustande? Es ist, das darf man nicht vergessen, Cardano, der hier ›spricht‹. Eine Argumentation eines ›echten‹ Muslims hätte aller Wahrscheinlichkeit nach ganz andere Argumente ins Feld geführt. Ich glaube, dass man hier deutlich die Ängste eines philosophischen Kopfes sieht und spürt, der seinen christlichen Wurzeln verbunden ist. Gerade die beiden letzte Beweisgründe geben Anlass zu dieser Vermutung, zielen doch beide auf Formen des Lebenswandels und der praktischen Religionsausübung respektive Frömmigkeit. Es waren, wie schon im Ausgangspunkt der ganzen Materie, empirische Beobachtungen, die Cardano zu seiner Darstellung veranlassten. Aus christlicher Sicht begegnete er diesem Befund mit den althergebrachten Argumenten der christlichen Apologetik,208 ob diese noch ausreichten, steht auf einem anderen Blatt, was nicht zuletzt die mehr als heftigen Reaktionen seiner Gegner erklärt. Aber lassen wir die Spekulationen beiseite und wenden uns wieder Lessing und dessen Interpretation des cardanschen Textes zu. »Warum verdammt man eigentlich diese Stelle?«, so die Ausgangsfrage Lessings nach der Präsentation der originalen Fassung.209 Einige der Gründe oder zumindest die Möglichkeit des Unbehagens wurden bereits angesprochen. Über-
207 Ebd. 208 Darauf weist Karl-Josef Kuschel bereits hin, ohne allerdings die Argumente und insb. deren besondere Ausprägung bei Cardano zur Kenntnis zu nehmen. Auch ihm geht es letztendlich nur um die lessingsche Instrumentalisierung des Religionsvergleiches. Karl-Josef Kuschel: Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam. Düsseldorf 1998 (Weltreligionen und Literatur 1), S. 91–103. Erwähnt sei an dieser Stelle nur eine Arbeit aus der Auslandsgermanistik, die unter einem vielversprechenden und seit Langem notwendigen Titel leider keine neuen Ergebnisse, zumindest für die Rettung des Cardano, liefert. Ohne die Kritik in Einzelheiten hinein zu verfolgen, muss doch gesagt werden, dass die Standards wissenschaftlichen Arbeitens nicht immer erfüllt sind: Zahim M. M. Al-Shammary: Lessing und der Islam. Berlin 2011. Für die Rettung des Cardano siehe S. 62–74. 209 WuB 3, S. 207.
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raschenderweise geht Lessing auf keinen davon ein.210 Die einzelnen Argumentationsschritte völlig außen vor lassend, zielt er dagegen sofort auf eine abstraktere Ebene. Was er anbietet, ist eine Opposition: »Ist die Vergleichung der verschiednen [!] Religionen, an und vor sich selbst, strafbar; oder ist es nur die Art, mit welcher sie Cardan unternommen hat?«211 Lessing hebt sich dadurch zunächst ab von der Verstrickung in Argumente und damit auch von der Ebene, auf der die Auseinandersetzung bisher stattgefunden hat. Hier wird der Charakter des Gerichtsprozesses erneut deutlich. Festzustellen ist in einer ersten Instanz nicht die Plausibilität der einzelnen Gründe innerhalb des Verfahrens, sondern die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sui generis, verbunden mit der Frage, auf welcher Grundlage ein Urteil zuallererst gerecht und damit möglich wird. Bringt man diese Überlegungen in Anschlag, muss die erste Frage negativ beantwortet werden: Ein Vergleich, auch der Religionen, ist grundsätzlich statthaft. Denn »[w]as ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was unmöglicher als Überzeugung ohne vorhergegangene Prüfung?«212 Glaube allein reicht also nicht aus, will man sich seiner Sache sicher sein. Deshalb genügt es auch nicht, nur die eigene Religion und ihre Plausibilität oder Dignität, je nach Sichtweise, einer Prüfung zu unterziehen. Das führt, hier sei an die Rettungen apologetischen Typs erinnert, lediglich zu einer Selbstvergewisserung der eigenen Stärke und Überlegenheit. Selbstvergewisserung ist aber eben keine Fundierung von Überzeugung. Die denkbare Erschütterung von Gewissheiten ist ein Prozess, dem man sich aussetzen muss, will man zu dem kommen, was Lessing als Überzeugung anführt. Vielmehr besteht ein tiefer und ernster Glaube ja gerade darin, sich gelassen der Prüfung aussetzen zu können, man glaubt sich auf Seiten der Wahrheit.213 Zu verlieren hat man nichts, es sind die anderen Religionen, die unendlich viel zu gewinnen haben, man selbst nährt »die Hoffnung, daß die Irrgläubigen aus
210 Gleichwohl gilt es das argumentative Vorgehen und auch den Ort im 11. Buch von De Subtilitate immer mitzudenken, präsentiert sich Lessing doch selbst als Kenner des cardanschen Werkes, wie er eingangs seiner Schrift betont. Der Text scheint dennoch auch ohne größere Vorkenntnisse der Philosophie Cardanos zu funktionieren, wie ein überwiegender Teil der Forschungsliteratur nahelegt. Inwieweit das von Anbeginn Strategie ist oder erst durch die eingehende Kenntnis des lessingschen Œuvres ermöglicht wird, weiß ich nicht zu entscheiden. 211 Ebd. 212 Ebd. Das gleiche Argument bringt Lessing in einem Brief an seinen Vater, siehe hierzu ausführlich im nächsten Kapitel den Exkurs über die religiösen Überzeugungen des jungen Lessing. 213 »Es ist wahr, jener wird darüber nicht in Gefahr kommen, einen bessern Glauben für einen schlechtern fahren zu lassen; allein dieser wird wird auch die Gelegenheit nicht haben, den schlechtern mit dem bessern zu verwechseln. doch was rede ich von Gefahr? Der muß ein schwaches Vertrauen auf die ewigen Wahrheiten des Heilandes setzen, der sich fürchtet, sie mit Lügen gegeneinander zu halten.« Ebd., S. 207f.
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Erkenntnis unsere Brüder werden können«.214 Wir sehen hier eine Haltung, die wohl dem Gerichtsprozess zu beinahe allen Zeiten eigen ist. Man geht siegesgewiss in die Verhandlung, andernfalls sollte man es, schon aus bloßer Klugheit, vermeiden, einen solchen Prozess überhaupt anzustrengen. Wäre dies allerdings der Fall, so müsste man sich eingestehen, dass eine Niederlage denkbar sei. Im Bereich der Religion, die auf Glauben basiert, ist das eine Denkunmöglichkeit. Das Fundament einer jeglichen Religion wäre damit untergraben. »Cardan muß also in der Art dieser Vergleichung gefehlt haben.«215 Auch hier wird sogleich ein Raum der Spielarten eröffnet, der nur zwei Sichtweisen zulässt. Eine weitere Opposition also: »Entweder hat er die Gründe der falschen Religionen allzu stark, oder die Gründe der wahren allzu schwach vorgestellt.«216 Lessing beginnt mit dem letzten Fall und kann keine Anzeichen für ein Versäumnis entdecken. Cardano bediene sich der Palette apologetischer Beweisgründe, die vor und nach ihm von »unzehlbaren Gottesgelehrten und Weltweisen«217 angeführt wurden. Sie wurden ausführlich dargelegt und finden sich auch in Lessings Zeitgenossenschaft,218 ihre Ungültigkeit lässt sich also nur schwerlich beweisen. Vielmehr hat Cardano im Rückgriff auf diese Tradition gehandelt: »Alle diese hat Cardan
214 Ebd., S. 207. 215 Ebd., S. 208. 216 Ebd. 217 Ebd. 218 Will man ein Beispiel vom Ende der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anführen, bietet sich August Friedrich Wilhelm Sacks (1703–1786) Vertheidigter Glaube der Christen an. Das Werk erschien in acht Teilen zwischen 1748 und 1751 in Berlin, wo Sack auch Hofprediger war. Mark Pockrandt bezeichnete sie als die »wichtigsten apologetischen Schriften in der Mitte des 18. Jahrhunderts«. Mark Pockrandt: Biblische Aufklärung: Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817). Berlin 2003 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 86), S. 198. Im letzten Teil von Sacks Abhandlung ist zu lesen: »Ich wollte von Herzen wünschen, daß ein jeder, dem die Sache Jesu Christi heilig ist, sein ganzes angenommenes Lehrgebäude nach der klaren Vorschrift der Offenbarung Stück für Stück prüfen und selber durchdenken, und dabei die Vorstellungen und Gründe genau erwägen wollte, die man nötig hat, wenn man den Glauben der Christen zu seiner ursprünglichen Einfalt und Vernünftigkeit zurückbringen und wider die verschiedenen Anfälle seiner Feinde verteidigen will. [. . . ] Soviel weiß ich gewiß und schreibe mit der größten Freimütigkeit, daß die bittere Verketzerung derjenigen, welche nicht die ganze Liste von Sätzen ihrer Partei annehmen, nicht allein wider die wahren Prinzipien der Reformation, sondern auch schnurstracks wider den wahren Geist des Evangelii streite, die Beförderung der Wahrheit und Gottseligkeit gewaltig aufhalte und von Tag zu Tage von allen vernünftigen und rechtschaffen gottesfürchtigen Christen beider Kirchen mehr verabscheut werden.« Zitiert nach Karl Aner: Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 63f.
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mit wenig Worten, aber mit sehr nachdrücklichen, berührt.«219 Lessing versäumt es nicht, alle Beweisgründe der Reihe nach noch einmal durchzudiskutieren und sogar das Fehlen der Teilargumente, die man vielleicht vermissen könnte, als vernünftige Auslassungen zu rechtfertigen. »Kurz, er ist nicht allein ein starker Verfechter des christlichen Glaubens, sondern auch ein vorsichtiger.«220 Eines gilt es nach Lessing jedoch besonders hervorzuheben: Das ist die moralische Qualität des Christentums. Cardano und Lessing sind sich hier einig. In der Rekapitulation des Argumentes tritt erstmals in der Rettung Lessing selbst auf den Plan, führt er doch das Argument in einer Weise aus, die Cardnano vielleicht angedeutet, aber nie in solcher Tiefschichtigkeit erarbeitet und ausgeführt hat. Hat bei dem Mailänder Gelehrten das Argument seine Kraft größtenteils aus der Abgrenzung zum Islam und dessen scheinbarer Gewaltbereitsschaft gewonnen, modifiziert es Lessing aus einer genuin aufklärerischen Perspektive. Diesen Punkt gilt es jedoch für den Moment zurückzustellen und den lessingschen Argumentationsweg, der seinen eigenen Zielen verpflichtet ist, zu verlassen, um zu begreifen was hier passiert. Der Vorwurf, dem Cardano ausgesetzt war, gründet vornehmlich in einer Textstelle, die Lessing bis zum Schluss aufschiebt, um seiner Aussage desto mehr Gewicht zu verleihen. Cardano hatte seinen Vergleich der Religionen mit den Sätzen geschlossen: Sed utinam tam facile esset, arma illorum superare, quam haec objecta diluere. Verum res ad arma traducta est, quibus plerumque major pars vincit meliorem. In Lessings sehr freier Übersetzung heißt das: »Doch wollte Gott, heißt dieses, daß man ihre Waffen eben so leicht überwinden könnte, als man diese ihre Einwürfe zunichte machen kann. Allein die Sache ist zu den Waffen gekommen, wo der stärkere Teil meistenteils den bessern überwindet.«221 Und dementsprechend schließt Cardano: Igitur his arbitrio victoriae relictis, ad provincarium discrimina transeamus. »Das heißt auf gut deutsch, er wolle es dem Zufalle überlassen, auf welche Seite sich der Sieg wende.«222 Der Bezug ist nach alledem, was oben ausgeführt und in der bisherigen Forschung als irrelevant abgetan wurde, mehr als einsichtig. Diese Einschätzung ist den historischen Umständen geschuldet. Aus der Sicht Cardanos könnte man folgern, dass der Zufall zwar mathematisch handhabbar ist (wie seine Untersuchungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung belegen), nicht aber historisch. Wenn es zur bewaffneten Auseinandersetzung kommt, steht die Wahrheit hintan. Nun hat sich aber in den zweihundert Jahren, die seit der Publikation Cardanos vergangen sind, die historische Situa-
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WuB 3, S. 208. Ebd., S. 210. Ebd., S. 218. Ebd., S. 199.
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tion geändert. Die Türken stellten nach der zweiten Belagerung Wiens und der dort erlittenen Niederlage im Herbst des Jahres 1683 keine militärische Bedrohung mehr dar. Noch einmal haben auf Seiten der vermeintlichen Wahrheit auch die Waffen gesiegt. Die Herausforderung, die für Lessings Interesse leitend wird, muss demnach auf einer anderen Ebene als der physischen Bedrohung, einer Islamisierung des christlichen Abendlandes, zu suchen sein. Der Islam wird, so die These, auf einer intellektuellen Ebene zu einer Herausforderung, der mit den althergebrachten apologetischen Argumenten nur schwerlich zu begegnen ist.
4.3.3 Nicht Toleranz, sondern die Erschütterung der Apologetik
Bisher war es in der Forschung gängige Meinung, dass Lessing in dem im Anschluss an Cardano inszenierten Religionsgespräch eine Unterminierung des jeweilig absoluten Wahrheitsanspruches der Religionen unternimmt, was zu einer Relativierung derselben führt und somit aufgrund der Unentscheidbarkeit einer Forderung nach Toleranz gleichkommt. Hier werden die möglichen, aber unausgesprochenen Konsequenzen der Überlegungen als ursächlich ausgegeben, was einerseits aus der weiteren Entwicklung Lessings nachvollziehbar, aber nichtsdestoweniger falsch ist.223 Nehmen doch die Überlegungen aus der entgegengesetzten Richtung ihren Anfang:
223 So sieht Harald Schultze die Kritik an der Apologetik einer glaubhaften Toleranz immer vorgeordnet: »Nur wer durch diesen Zweifel hindurchgegangen ist, kann ein guter Apologet des Glaubens sein. Die echte Toleranz bewährt sich hier darin, daß sie dem Zweifel in der Öffentlichkeit Raum gibt, damit der Glaube zu einer echten Gewißheit zu gelangen vermag.« Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie. Göttingen 1969 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 20), S. 71. Der falschen Reihenfolge hingegen sitzt Hans-Georg Werner auf: »Toleranz im Sinne Lessings war also primär ein theoretischmoralisches Gebot der Vernunftlehre und erst sekundär eines der Religionslehre.« Hans-Georg Werner: Der Streit und die Toleranz bei Lessing. In: Worstbrock, Franz Joseph; Koopmann, Helmut (Hgg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 2), S. 152–159, hier S. 157. David Hill vertritt die These der Relativierung von Wahrheit, die dergestalt erst Toleranz ermöglicht. Die Einschränkung, dass Toleranz nur da möglich ist, wo Fiktionales in den Vordergrund tritt, nimmt der These zwar die Spitze, führt aber auch zu einigen seltsamen Interpretationen lessingscher Werke, die eindeutig nicht-fiktionalen Charakters sind. David Hill: Lessing: die Sprache der Toleranz. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), H. 1, S. 218–246.
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Noch ist der zweite Fall zurück. Wann Cardan die Gründe für die Wahrheit nicht geschwächt hat, so kann er doch der Lügen Farbe und Leben gegeben, und sich dadurch verdächtig gemacht haben. Auch dieses verdient erwogen zu werden.224
Träfe dieser Punkt zu, so käme Cardanos Beschreibung einer vorsätzlichen Falschaussage gleich. Gerade weil die Wahrheit der christlichen Religion unter ihren Verteidigern unstrittig ist, wiegt es umso schwerer, diese zu verwässern. Man muss sich den zugrundeliegenden Wahrheitsbegriff vergegenwärtigen, der hier verhandelt wird. Lessing weist selbst darauf hin, »daß man in bürgerlichen Händeln nicht nötig hat, seinem Widersacher Beweise gegen sich an die Hand zu geben, ohne die er seine Sachen sogleich verlieren müßte.«225 Das Verfahren, dass Lessing hier in Anschlag bringt, entspricht dem ursprünglichen Begriff von Vindicatio, in der ein Eigentumsdelikt verhandelt wird. Die Wahrheit kann in diesem Falle durchaus in Teilwahrheiten zerfallen, die von einem fähigen Richter gewichtet werden müssen. Es geht darum zu ermitteln, »welche [Seite] das meiste Recht vor sich zu haben scheinet.«226 Im Falle der Religionen ist die Sachlage doch eine andere. ›Schein‹ ist hier kein Entscheidungskriterium mehr. Allein aus der Eigensicht der einzelnen Religionsparteien beansprucht jede die alleinige und absolute Wahrheit für sich, ein Geltenlassen der anderen führt augenblicklich und zwangsläufig in die eigene Vernichtung. Hier sind keine Konzessionsurteile denkbar, es gibt einen alleinigen Sieger. Aber wer kann in diesem speziellen Fall überhaupt verlieren? Lessings Antwort lautet: niemand. Es kann bei einer derartigen Prüfung allein die Wahrheit gewinnen und davon profitieren alle beteiligten Parteien. »Die Partei welche verlieret, verlieret nichts als Irrtümer; und kann alle Augenblicke an dem Siege der andern, teil nehmen.«227 Die kritische Prüfung der Wahrheit ist vornehmste Aufgabe des Philosophen, hier hat Cardano in Lessings Augen gefehlt. Um aber Irrtümer zu entlarven, muss selbst die abwegigste Häresie in ihren stärksten Gründen dargelegt und dadurch der Wahrheit genüge getan werden, sie als Herausforderung ernst zu nehmen. Die Rettung der Wahrheit – ganz im Sinne der methodus polemicae – erfordert nichts weniger und
224 Ebd., S. 211. 225 Ebd. 226 Ebd. (Hervorhebung im Original). 227 Ebd. In ähnlicher Weise hat Lessing diesen Gedanken bereits zuvor in Aus einem Gedichte über die menschliche Glückseligkeit gestaltet. Das Fragment gebliebene Gedicht, erstmals abgedruckt in den Schrifften I von 1753, behandelt eingangs die Wahrheitssuche und die Hindernisse dabei. Dort heißt es: »Ein Weiser schätzt kein Spiel, wo nur der Fall regieret, / Und Klugheit nichts gewinnt, und Dummheit nichts verlieret.« In: WuB 2, S. 646–650, hier S. 648, Z. 31ff.
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wird dergestalt umso überzeugender.228 An dieser Aufrichtigkeit mangelt es der Darstellung Cardanos: Ich behaupte also, er sei mit keiner einzigen Religion aufrichtig verfahren, als mit der christlichen; die übrigen alle hat er mit den allerschlechtesten Gründen unterstützt, und mit noch schlechteren widerlegt.229
Was nun folgt, ist ein experimentum crucis im nicht wörtlich gemeinten Sinne.230 Wenn die Wahrheit der christlichen Religion angenommen wird – und Lessing geht zweifelsohne davon aus231 – dann braucht man zu ihrer Verteidigung bessere Argumente als die althergebrachten der traditionellen Apologetik. Der Gegensatz zu einem Toleranzkonzept tritt deutlich zu Tage: Es gibt einen bestimmbaren Sieger! Um allerdings den Sieg gerechtfertigterweise davonzutragen, muss man sich mit dem Stärksten messen, was der Gegner aufzubieten hat. Diese Stärken aufzuzeigen, schickt sich Lessing nun an. Die Gewichtung der einzelnen Fälle zeigt bereits die Dringlichkeit einer eingehenderen Prüfung an. Die heidnische Religion wird vollends ausgespart, das Judentum nur kursorisch abgehandelt. Das Neue dabei betont Karl-Josef Kuschel, der es geradezu als ein »Paradigmenwechsel« in der gelehrten Auseinanderset-
228 Auch Evelyn Moore betont die Bedeutung der Polemik für Lessings Rettung des Cardano, meint dabei aber etwas grundsätzlich anderes. Ihr geht es mehr um eine Spielart der Rhetorik, die seit der Antike bekannt ist. Dementsprechend sucht sie die Vorbilder Lessings bei den Alten. Evelyn K. Moore: The Passions of Rhetoric. Lessing’s Theory of Argument and the German Enlightenment. Dordrecht 1993 (Library of Rhetorics 3), S. 19–37. Sowie noch einmal dies.: Lessings Rettung des Cardanus. Zur Entstehung einer epistemologischen Polemik. In: Mauser, Wolfram; Saße, Günter (Hgg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati / Ohio USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau. Tübingen 1993, S. 392–400. 229 WuB 3, S. 212. 230 Die eigentliche Falsifizierbarkeit wird in der der Rettung eigentümlichen Annahme, sich bereits im Besitz der Wahrheit zu wissen, freilich unterlaufen. Trotzdem liegt keine Immunisierungsstrategie vor, die Argumente werden auf ihre Vernünftigkeit hin kritisch geprüft. Es wäre nachgerade naiv anzunehmen, dass eine kritische Rationalität ohne Präferenzen der Urteilsbildung auskommen kann. Die genuine Leistung aber besteht gerade darin, diese Prüfung überhaupt erst zuzulassen. Siehe hierzu auch die Kritik an der alleinigen Geltung des Falsifikationspostulat von Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2., revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl. Frankfurt am Main 17 2002. 231 Das bezeugen die zeitnah entstandenen Schriften Das Christentum der Vernunft sowie die Bemühungen um eine Fundierung des Christentums auf den Grundlagen einer natürlichen Religion, wie sie uns in der Rettung des Inepti reigiosi und seines ungenannten Verfassers entgegentritt. Hiervon handelt das folgende Kapitel ausführlicher.
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zung bezeichnet. Es wird nicht mehr »›über‹ die Religionen geurteilt [. . . ]. Bei Lessing bekommen die Religionen nun eine eigene Stimme.«232 Der erste, der selbstständig die Stimme erheben darf, ist der Vertreter des Judentums, der – so lässt sich zusammenfassen – vornehmlich »an das Ethos appeliert«.233 Man spürt in Lessings Darstellung die Anerkennung der Frömmigkeit und des tiefen Gottvertrauens, die aus der Stimme des Israeliten sprechen. Der Glaube an die Religion der Väter ist der Garant für die Überlegenheit auch oder gerade in historisch prekären Situationen (wie etwa in Phasen verstärkter Unterdrückung). Da Lessing es selbst nur als »eine Probe« ansieht, die allerdings Cardano und damit die traditionelle Apologetik bereits in Zugzwang bringt, soll die Auseinandersetzung mit der mosaischen Religion hier nicht weiter vertieft werden. Der weitaus spannendere Teil, hier sind sich die Interpretatoren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, einig, ist die Rechtfertigung des Vertreters des Islam. Der Islam wurde zur vordringlichen intellektuellen Herausforderung an die christliche Religion im Zuge des 17., vornehmlich aber im Laufe des 18. Jahrhunderts. Dies hängt nicht zuletzt mit dem neu erreichten Kenntnisstand über die Religion und den Propheten zusammen. Historische Forschungen und nicht zuletzt die Orientalistik verwiesen so manche der für wahr gehaltenen Geschichten und Geschichtchen ins Reich der Legenden.234 Insofern, Lessing gesteht das freimütig ein, hat sich die Situation und damit die Ausgangslage für eine Beurteilung seit den Zeiten Cardanos grundlegend gewandelt.235 Aber es gilt noch auf einen zweiten Punkt hinzuwei-
232 Kuschel (1998), S. 93. 233 Horsch (2004), S. 30. 234 An die Stelle der Unwissenheit tritt eine Instrumentalisierung bestimmter Thesen und Überzeugungen. Einen Einblick gibt Martin Schmeisser: »Mohammed, der Erzbetrüger«. Negative Darstellungen des Propheten in den religionskritischen Produktionen des Libertinismus und der Radikalaufklärung. In: Klein, Dietrich; Platow, Birte (Hgg.): Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung. Paderborn 2008, S. 77–108. Man kann hier deutlich erkennen, wie sich die Ebenen der Rezeption des Islam ineinander verschieben. Eine zu positive Darstellung des Islam seitens Cardanos hat ihn seit jeher dafür qualifiziert, ein möglicher Kandidat für die Autorschaft des berühmten Buches von den Drei Betrügern (De tribus impostoribus) zu sein. Wer die eine ›falsche‹ Religion zu stark macht, dem ist ein systematischer Atheismus ebenfalls zuzutrauen. 235 Lessing erwähnt die Arbeiten Adrian Relands (1676–1718), dessen De religione Mohammedica, libri duo 1705 und nochmals 1717 in Utrecht erschien. Innerhalb kürzester Zeit erfolgten Übersetzungen ins Englische (London 1712), Deutsche (Hannover 1716 und 1717), Niederländische (Utrecht 1718) sowie ins Französische (Den Haag 1721). Noch wichtiger aber war die Übersetzung des Korans von George Sale (um 1697–1736) von 1734 ins Englische. Diese schaffte erstmals die Basis für eine breite Rezeption. Einen Überblick über die Ausgangspunkte gelehrter Beschäftigung mit dem Islam gibt Peter Malcom Holt: The Study of Islam in Seventeenth- and Eighteenth-Century England. In: Journal of Early Modern History 2 (1998), H. 2, S. 113–123.
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sen, der dann sogleich ins Zentrum der Auseinandersetzung um den Islam führt. Die sich im Nachgang der Reformation herausgebildeten religiösen Splittergruppen und Sekten sind in ihrer Vielzahl und Varietät der Glaubensinhalte kaum zu überblicken. Als eine gewichtige Strömung lassen sich antitrinitarische oder unitarische Bewegungen, etwa in Form des Sozinianismus, ausmachen, die in den Augen der Orthodoxie als intellektuell ebenfalls nicht ernst zu nehmende Häresien, als bloße Ketzereien von Irrigen wahrgenommen wurden. Die Herausforderung, die diese Formen christlichen Glaubens für die Amtskirche darstellten, sind dem Islam in einigen ihrer Positionen wesensverwandt, es ist »eben kein bloßes Gewebe übel an einander hangender Ungereimtheiten und Verfälschungen«.236 Lessing sollte sich später des Theologen Adam Neuser annehmen, der aus ursprünglichen Zweifeln an der Trinität und nach einer abenteuerlichen Lebensgeschichte zum Islam konvertiert war.237 Die Verbindung ist also nicht aus der Luft gegriffen, sondern stellt eine bislang wenig beachtete Realität der Frühen Neuzeit dar. Vor diesem Hintergrund ist die Ansprache des Muslim in Lessings Darstellung zu sehen. Um die Offensichtlichkeit der Argumente zu demonstrieren, lässt Lessing einen »Muselmann« sprechen, »der eben der gelehrteste nicht zu sein braucht«.238 In der Erläuterung seiner Religion weist er sogleich auf einen fundamentalen Unterschied hin, der von den Vertretern der anderen Religion nicht bemerkt oder vorsätzlich ignoriert wird. Der Islam sei, entgegen der herrschenden Meinung, keine Offenbarungsreligion. Allein das Konzept einer solchen widerspreche der »gesunde[n] Vernunft«,239 die damit verbundene Herleitung oder Rechtfertigung von Wahrheiten müsse scheitern.240 Wahrheiten folglich als Geheimnisse auszugeben, sei nichts weniger als eine Aporie, »ein Wort, das seine Widerlegung gleich bei sich führet«.241 Die Auswirkungen dieser Aporie und des daraus resultierenden Gottesbegriffes, der es den Gläubigen nie erlaubt, »sich [ihren] Schöp-
236 WuB 3, S. 214. Die Verbindung von Islam und antitrinitarischen Strömungen in der Frühen Neuzeit ist bislang nur wenig erforscht. Erste Einblicke sind nachzulesen bei Martin Mulsow: Islam und Sozianismus. Eine Parallelwahrnehmung der Frühen Neuzeit. In: Klein, Dietrich; Platow, Birte (Hgg.): Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung. Paderborn 2008, S. 27–40; sowie im selben Bd.: Dietrich Klein: Muslimischer Antitrinitarismus im lutherischen Rostock. Zacharias Grapius der Jüngere und die Epistola theologica des Ahmad ibn Abdall¯ah, S. 41–60. 237 Siehe hierzu das separate Kapitel 6. 1. 238 WuB 3, S. 214. 239 Ebd. 240 »Durch diese wollen sie Wahrheiten überkommen haben, die vielleicht in einer andern möglichen Welt, nur nicht in dieser unsrigen, Wahrheiten sein können.« Ebd. 241 Ebd.
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fer auf eine anständige Art zu [denken]«,242 sind aus Sicht des Muslims der Grundstein allen Übels – mit weitreichenden Konsequenzen für das Leben der Menschen. Tugend ist unter diesen Voraussetzungen nur schwer zu vermitteln und die Ungewissheit, letztlich von der Gnade Gottes abhängig zu sein, ein schlechter Ratgeber in Fragen der Moral.243 Ganz anders das Gesetz des Propheten: Was findest du darinne, das nicht mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme? Wir glauben an einen einigen Gott: wir glauben eine zukünftige Strafe und Belohnung, deren eine uns, nach Maßgebung unserer Taten, gewiß treffen wird.244
Der Muslim setzt ganz bewusst auf die Vernünftigkeit des Islam und kennzeichnet ihn dadurch als eine »natürliche Religion«.245 Die Abgrenzung zu den Offenbarungsreligionen Christentum und Judentum ist jedoch tendenziös. Allerdings lässt Lessing, wie Sylvia Horsch meint, bestimmte Glaubensartikel des Islam, die ihn als Offenbarungsreligion kennzeichnen würden, bewusst aus.246 Ob dem so ist, muss dahingestellt bleiben: es ist reine Spekulation. Festzuhalten bleibt hingegen, und das ist eine der Grundsäulen des Islam, dass die Wahrheit der Religion nicht geglaubt werden muss, sondern erkannt werden kann.247 Die Folgen, die daraus für die Moral entspringen, sind unmittelbar einsichtig. Während im Christentum nichts gegen die Moral spricht, sie ihm aber äußerlich bleibt, ist sie dem Islam inhärent: »Du mußt beweisen, daß der Mensch zu mehr verbunden ist, als Gott zu erkennen, und tugendhaft zu sein; oder wenigstens, daß ihm beides die Vernunft nicht lehren kann, die ihm doch eben dazu gegeben ward!«248 Diese – aus christlicher Perspektive – Umkehrung der Verhältnisse, setzt sich fort, als Lessings Muslim auf die Wunder zu sprechen kommt. Das Wunder als Beweis, wie es in der Sichtweise der christlichen Apologetik bis zum Ende des 17. Jahrhun-
242 Ebd., S. 215. 243 »Die Verehrung heiliger Hirngespinster, macht bei euch ohne Gerechtigkeit selig; aber nicht diese ohne jene.« Ebd. 244 Ebd. 245 Horsch (2004), S. 32. 246 Ebd., S. 33. 247 In die gleiche Richtung denkt Kuschel (1998), S. 98: »Der Islam ist im Grunde eine Religion, die von den Menschen nur wenig verlangt, um sie zu akzeptieren«, insofern rückt sie in die Nähe einer natürlichen Religion, die sich ebenfalls auf einige wenige Basisannahmen reduzieren lässt. »Eine Religion wie der Islam kann sich bei Lessing als eine mit der Vernunft vereinbare Größe präsentieren, deren Geschichte mindestens so viel Respekt verdient wie die anderer Religionen.« Ebd., S. 99. 248 WuB 3, S. 215.
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derts üblich ist,249 wird als Argument zurückgewiesen: »Nur der braucht Wunder zu tun, welcher unbegreifliche Dinge zu überreden hat, um das eine Unbegreifliche mit dem andern, wahrscheinlich zu machen.«250 Damit greift Lessing, der Figur eines Muslim in den Mund gelegt, einen seit Beginn des Jahrhunderts schwelenden Diskurs auf. Die Frage dabei lautet, inwieweit »sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Debatte über die Beweiskraft des Wunders in eine Debatte über die Frage nach den Beweisen für das Wunder verwandelt« hat.251 Die Selbstverständlichkeit des Wunderbeweises ging verloren; Wunder bedurften nun selbst Belegen, die ihre Entsprechung mit Kriterien der Vernunft aufzeigen mussten. Das ist der »Probierstein«, den »ein jeder bei sich führet.«252 Der Islam, folgt man der Darstellung, ist genau aus diesem Grund nicht auf Wunder angewiesen. Die Gläubigen, die vielmehr Wissende sind, können getrost auf Wunder verzichten, die ihrer Religion mehr schaden als nützen würden. Somit ist das Wichtigste ausgesprochen, die Antwort auf die beiden verbleibenden Einwürfe, haben mehr akzidentiellen Charakter. Nach dem Gesagten scheint es müßig, über die Paradiesvorstellungen im Islam noch ein weiteres Wort zu verlieren. Und auch der Vorwurf der Gewaltätigkeit kann mit dem Verweis auf, oder genauer, der Umdeutung in einen humanitären Akt pariert werden. Der ausgeübte Zwang, den Islam und seine Grundsätze anzuerkennen, gerät zu einer Verteidigung der Vernunft und somit des menschlichen Vermögens, das den Menschen erst zu einem solchen macht. Welches Islambild wird in diesen Ausführungen transportiert? Das Islambild des 18. Jahrhunderts wohl kaum, viel zu selektiv sind die Ausführungen. Das Islambild Lessings und damit das Bild einer dem Christentum mindestens gleichwertigen Religion wie Sylvia Horsch glaubt?253 Dagegen spricht, dass die
249 Siehe hierzu Lorraine Daston: Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa. In: dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main 2 2003, S. 29–76. »[D]as Wunder [stellte] für eine kurze Zeit einen Beweis [dar], der sinnlicher Wahrnehmung zugänglich und zugleich ganz wesentlich mit einer Absicht verbunden war. [. . . ] Das Prodigium [als ein Zeichen göttlicher Herkunft, M. M.] entwickelte sich nach und nach von einem Zeichen zu einer Tatsache, die schließlich nichts mehr bezeichnete; das Wunder hingegen wurde als ein zwingender Beweis betrachtet.« S. 31. 250 WuB 3, S. 215. 251 Daston (2003), S. 32. 252 WuB 3, S. 215. 253 Horsch spricht von einer »massive[n] Aufwertung des Islam zugunsten des Christentums«. Die unausgesprochene Forderung ist: »Die Christenheit soll sich der theologischen Auseinandersetzung mit dem Islam stellen und dessen Argumente ernst nehmen.« Horsch (2004), S. 40. Oder zusammenfassend: »Er [Lessing, M. M.] will Zweifel an der Wahrheitsgewissheit des Christentums wecken und zum Nachdenken anregen.« Ebd., S. 36. »[Z]um Nachdenken anregen« ist freilich ein etwas unbefriedigender Befund.
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zugrunde gelegte Forderung nach Toleranz dem Judentum offensichtlich nicht zuteil wird. Nimmt man diese partielle Toleranz, im Sinne einer bloßen Duldung, ernst, muss man wohl folgern, dass Lessing für den Islam, nicht aber das Judentum wirbt.254 Auch diese Option darf man wohl ausschließen. Es gibt eine viel näherliegende und wahrscheinlichere Lösung, die Überlegungen Kuschels führen in die richtige Richtung: »Eine Religion wie der Islam kann sich bei Lessing als eine mit der Vernunft vereinbare Größe präsentieren, deren Geschichte mindestens so viel Respekt verdient wie die anderer Religionen.«255 Die sich aus dieser Beobachtung ergebende Frage – Kuschel versäumt es sie zu stellen – wäre: Wieso ist das Christentum nicht in gleichem Maße mit Prinzipien der Vernunft zu rechtfertigen? Wieso muss die Apologetik Wunder und Ähnliches, mit der Vernunft nur schlecht Kompatibles bemühen, um die Wahrheit des Christentums zu demonstrieren? Kann man das Christentum nicht in gleicher Weise auf die Vernunft gründen? Unbestreitbar ist, dass der von Lessing vorgestellte Muslim die Kraft seiner Argumente aus vernünftigen Einsichten gewinnt. Das verzerrte Islambild, das dabei entsteht, muss als eine Provokation verstanden werden, die die Begründbarkeit der Religion mit Mitteln der Vernunft offenlegt. Ob sie sich darin erschöpft, steht auf einem anderen Blatt. Es geht um Fundierung des christlichen Glaubens, insbesondere des Protestantismus, aus dem Geist der Vernunft. Diese sogleich selbst zu unternehmen, unterlässt Lessing und eröffnet damit einen diskursiven Raum, der offen für Lösungen bleibt. Indifferentismus oder Annäherung an die anderen Religionen ist in jedem Fall keine davon.256
254 So weist Karl S. Guthke mit Nachdruck darauf hin, »daß Zeiten zunehmender Bereitschaft zur Toleranz (Toleranz im Sinne der Anerkennung des möglichen Wahrheitsgehalts der ›geduldeten‹ anderen Religionen) Zeiten sind, in denen Wahrheitsgewißheit abnimmt. In mancherlei Hinsicht dürfte die Aufklärung eine solche Zeit gewesen sein, wenn auch gerade ihre Theologie, die Neologie, das weiß Lessing genau, ihrer Wahrheit allzu gewiß war und daher ›intolerant‹ in einem Maße, daß selbst die lutherische Orthodoxie als vergleichsweise ›tolerant‹ erscheinen ließ.« Karl S. Guthke: Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz. Göttingen 2003 (Kleine Schriften zur Aufklärung 12), S. 13f. Je härter der Kampf um die Wahrheit ausgefochten wird, desto kleiner muss die Rolle sein, die Toleranz zu spielen vermag. Und letztlich geht es Lessing hier, trotz aller Vorbehalte gegenüber den Neologen, um Wahrheit. 255 Kuschel (1998), S. 99. 256 Wovon etwa Göbel dezidiert ausgeht: »Der von Cardano eingeschlagene Weg des Religionsvergleichs ist um einen wesentlichen Punkt erweitert worden. Man kann unter diesem Aspekt Lessings Cardano-Rettung auch als ein Vorspiel zu seinem ›Nathan‹ sehen.« Göbel (1980), S. 179.
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4.3.4 Cardanos missglückte Korrekturen und konfessionelle Differenzen
Nach dieser Attacke widmet sich Lessing wieder seiner eigentlichen, selbst gestellten Aufgabe, der Rehabilitierung Cardanos. Und sein Klient macht es ihm nicht gerade einfach. Es gilt, darin wird auch für Lessing die Schwierigkeit liegen, nicht einen Cardano, sondern Cardano in seiner Wandelbarkeit und Vielgestaltigkeit zu retten. Der Hauptvorwurf, es wurde darauf hingewiesen, war lediglich der Erstausgabe von De Subtilitate zu entnehmen. In allen späteren, meist vermehrten Auflagen und Ausgaben finden sich Textvarianten. Cardano hat sich zeitlebens immer wieder mit seinen eigenen Schriften auseinandergesetzt, sie revidiert und redigiert, neu herausgegeben oder zusammengestellt.257 Davon blieb auch die Stelle mit dem Religionsvergleich im 11. Buch nicht verschont. Nur zu verständlich ist die Überarbeitung Cardanos, bei aller Kritik, die er dafür hatte einstecken müssen. Doch selbst diese vermeintliche Verbesserung wurde Cardano als Schuldeinständnis ausgelegt. »Allein warum Cardan gleichwohl diese Worte hernach geändert? – Als wenn man nur alles änderte, was man selbst für unrecht erkennet, als wenn man es nicht auch oft mit dem allerunschuldigsten täte, wenn man sieht, daß Gegner Gift daraus saugen wollen.«258 Lessing zieht die Überlegung in Betracht, dass Cardano nicht seine Meinung geändert, sondern vielmehr aus Klugheit und taktischen Erwägungen Änderungen an seinem Text vorgenommen hat – zumal es nicht die einzige Passage innerhalb des Religionsgespräches ist, die in der Baseler Ausgabe von 1560 in anderer Gestalt vorgestellt wird. So finden sich Abweichungen in Bezug auf die Himmelfahrt, den Schwur und die Trinität sowie eine neue Version zu den Vorstellungen über die Heiligen.259 Die Veränderungen, die den Ausgang des Religionsvergleiches zum
257 »Such divergence in the assessment of Cardano is not fortuitous; for he himself, and by claiming to expound a coherent system of nature at the same time as producing endless parerga, paralipomena and supplements to his works.« Ian Maclean: Cardano and his publishers 1534–1663. In: Keßler, Eckhardt (Hg.): Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt. [Vorträge gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 8. bis 12. Oktober 1989 in der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel]. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 15), S. 309–338, hier S. 309. 258 Wub 3, S. 219. 259 Fritz Meier sah sich in einem ansonsten kenntnisreichen und in Bezug auf Cardanos Quellen äußerst hilfreichen Aufsatz dazu genötigt, eine zweite Rettung Cardanos, diesmal gegen Lessing, zu verfassen. Fritz Meier: Fritz: Zweite »Rettung des Cardanus«. In: ders. u. a. (Hgg.): Bausteine II. Ausgewählte Aufsätze zur Islamwissenschaft. Istanbul / Stuttgart 1992 (Beiruter Texte und Studien 53b), S. 503–517. Dass dabei eine Posse entstand, die weder der Schrift Cardanos, noch der Rettung Lessings gerecht wird, muss man leider festhalten. Meier will Lessing den Fehler nachweisen, dass es in der islamischen Tradition durchaus die Auffassung gab und vor allem
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Inhalt haben, also ob es letztendlich die Waffen sein werden, die eine Entscheidung herbeiführen, bilden lediglich den Schlusspunkt einer ganzen Reihe von Anpassungen. Lessing weist darauf hin, dass all diese Veränderungen erst vorgenommen wurden, nachdem Scaligers vernichtende Kritik erschienen war. Die eingangs angeführte Spekulation, Cardano habe aus Klugheit gehandelt, findet darin ihre Bestätigung. Es waren keine inhaltlichen Skrupel, die Cardano plagten. Diese, so Lessing weiter, wären zumindest im letzten Falle auch völlig unangebracht gewesen, kann die Stelle doch nur falsch verstehen, wer sie böswillig und mit Vorsatz gegen den Strich liest. Cardanos spätere Ausflucht, den Gegenstand für die Naturphilosophie als ohnehin nicht allzu wichtig einzustufen und damit auch nicht weiter darauf eingehen zu müssen, war in Lessings Augen ein Fehler. Er versagt die von Lessing zuvor so nachdrücklich geführte Rettung. Cardano war selbst sein bester Verteidiger und hat vorschnell eine Position aufgegeben, die ihm nur zum Vorteil hätte gereichen können. Es geht letztendlich darum zu zeigen, dass alle Änderungen auf Verfolgung gegründet sind und sich aus dieser erst erklären lassen. Das schließt den Kreis zu den eingangs von Lessing erhobenen Vorwürfen gegen die protestantischen Geschichtsschreiber. Johann Vogt und seine Vorgänger haben die Kritik an Cardano ohne Ansehen der wirklichen Umstände und vor allem ohne eigene Prüfung übernommen. Dabei ist die Basis für eine Verdammung, insbesondere aus protestantischer Sicht, gar nicht gegeben. »Diese Beschuldigung des Cardans, welche ich hoffentlich unwidersprechlich zu Schanden gemacht, haben unsere Litteratores aus den Händen der Katholiken; besonders
heute gibt, dass Gott und die Engel für den Propheten beten. Cardano hatte, Lessing lobt diese Auslassung explizit, in der Ausg. von 1560 auf diese Aussage verzichtet. Sie war seit jeher fester Bestandteil der christlichen Polemik gegen den Islam. Nun schreibt Meier »im stil [!] Lessings« (S. 512) eine Anklage, die die Grenzen zur Kolportage beinahe überschreitet, um daran anschließend festzustellen: »Wir leugnen nicht, dass die bedeutung der sure 33, 56 ihre schwierigkeiten hat. Schon die Muslime haben sich darüber den kopf zerbrochen« (S. 513, Meier bevorzugt die grundsätzliche Kleinschreibung). Der Nachweis, den er daran anschließend führt, stützt sich zum großen Teil auf Literatur, die nach Lessings Tod erschienen ist. Viel entscheidender aber als dieser Taschenspielertrick ist der Umstand, dass Meier keinerlei Bemühungen erkennen lässt, die Funktion des Lobes aus der Sicht Lessings nachzuvollziehen. Gerade der Verzicht auf die traditionelle Polemik gegen den Islam ist für Lessing ein Fortschritt. Mit gönnerhafter Geste schließt Meier dann auch: »Aber seine [Lessings, M. M.] verehrer werden es mir gewiß nicht verdenken, wenn ich mich einmal auf die auseinandersetzung über die von ihm vertretene sache eingelassen und ihm dabei ein oder zwei fehlurteile angestrichen habe.« (S. 517). Hätte er sich tatsächlich darauf eingelassen, so würde jeder die Entdeckung der Fehler begrüßen, da sie dem weiteren Verständnis dienlich wären. So ist es lediglich der Nachweis, dass sowohl Cardano als auch Lessing in ihrer (angelesenen) Koran-Exegese, aus heutiger Sicht, gefehlt haben.
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eines hitzigen Mersennus.«260 Auch wird – nicht ohne Absicht – das Trennende gegenüber den Katholiken in den Vordergrund gestellt. »Diese Herren haben oft besondere Ursachen, dem und jenem Verfasser einen Schandfleck anzuhängen, welche bei uns wegfallen.«261 Die Vernachlässigung der Heiligenverehrung oder ihre unzureichende Gewichtung wäre beispielsweise ein solcher »Schandfleck«. Durch den Artikel 21 des Augsburger Bekenntnisses entfällt dieser Vorwurf, dort wird die Anrufung oder Verehrung von Heiligen explizit abgelehnt, da sie sich nicht aus der Heiligen Schrift herleiten lässt.262 Lessings Empfehlung an die Litteratores ist mit Nachdruck formuliert: »Ich will ihnen raten, daß sie alles, was sie diesen Glaubensgenossen abborgen, vorher wohl untersuchen, ehe sie mit ihnen gemeinschaftliche Sache machen.«263 Dieser Satz, der schon beinahe den Abschluss der Schrift bildet, drückt unterschwellig auch eine Hoffnung aus. Es ist der Protestantismus, der viel eher geeignet ist, ein Christentum auf Basis der Vernunft zu errichten, als der Katholizismus. Die in der Reformation begründete Neuausrichtung des christlichen Glaubens hat die Qualität, auch in argumentativer Hinsicht zu der wahren Religion zu werden, die sie im Selbstverständnis ohnehin ist. Lessing kann diese seine Grundüberzeugung – changierend zwischen Angriff und Verteidigung – anhand der historischen Person Cardanos und dessen Religionsvergleich demonstrieren, ohne dabei auf eine zu aggressive Weise belehrend zu wirken. So schließt die Rettung auch mit einer höflichen Aufforderung: »Ich bitte dieses zu überlegen.«264 Eine erste eigene Antwort Lessings auf die hier aufgeworfenen Fragen, bemüht sich die dritte Rettung zu geben.
260 WuB 3, S. 223 (Hervorhebung M. M.). 261 Ebd. 262 »Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf. Aus der Hl. Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ›Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus‹ (1. Tim 2,5). Er ist der einzige Heiland, der einzige Hohepriester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott (Röm 8,34). Und er allein hat zugesagt, dass er unser Gebet erhören will. Nach der Hl. Schrift ist das auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft: ›Wenn jemand sündigt, haben wir einen Fürsprecher bei Gott, der gerecht ist, Jesus‹ (1. Joh 2,1) usw.« Günther Gassmann (Hg.): Das Augsburger Bekenntnis, deutsch. 1530–1980. Revidierter Text. Göttingen 6 1988, S. 38. 263 WuB 3, S. 223. 264 Ebd.
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4.4 Die Rettung des Inepti Religiosi und seines ungenannten Verfassers Lessings dritte Rettung stellt sich in mehrfacher Hinsicht als Ausnahme innerhalb der frühen Rettungen dar. Die größte Differenz fällt sofort ins Auge, es ist die einzige Schrift, die nicht primär eine Person rettet, sondern einen Text, und erst im Zuge dessen auch einen ungenannten Verfasser. Das ist innerhalb der gesamten Rettungen ein Unikum.265 Dieser Umstand kann vielleicht auch als Erklärung dafür herangezogen werden, dass es die Rettung ist, der in der Forschung bisher am wenigsten Beachtung geschenkt wurde. Die erste ausführlichere Studie wurde dem Text 135 Jahre nach dessen Erscheinen durch niemand Geringeren als Karl Borinski gewidmet. Im Jahr 1889 veröffentlichte dieser Lessing und der Ineptus Religiosus.266 Borinskis Hauptpunkt ist, dass sich Lessing in der Zuschreibung der Autorschaft des clandestinen und anonym erschienen Traktats völlig geirrt hat, da er die Schrift für eine Satire hielt und deren burlesken Charakter übersah. Nur aus Unkenntnis der theologischen Traditionen des 17. Jahrhunderts heraus »wurde es ihm [Lessing] möglich, grundgedanken und beziehungen der schrift ganz irrtümlich zu bestimmen.«267 Es hat fast etwas Verzweifeltes, wenn Borinski feststellt, dass Lessing »litterarhistorische conjecturen über den verf. [macht], in deren oberflächlichkeit er nur von seinem herausgeber bei Hempel übertroffen wird«.268 Gerade Lessing, meint man zu hören, der herausragende Philologe, ist zu solchen Ergebnissen gekommen, wo er doch des eigentlichen Verfassers, wenn er ihn schon nicht direkt vor Augen gehabt hat, hätte habhaft werden können, wie Borinski gegen Ende seines Aufsatzes zeigt. Lessing und der Ineptus – eine wenn
265 Vom Ansatz her am nächsten kommt dieser Rettung die späte Abhandlung Leibnitz von den ewigen Strafen, die aber eher eine Position innerhalb des leibnizschen Werkes »rettet«, denn eine einzelne Schrift. 266 Karl Borinski: Lessing und der Ineptus Religiosus. In: Zeitschrift für Deutsches Alterthum und Deutsche Litteratur 33 / N. F. 21 (1889), S. 220–237. 267 Ebd., S. 221. Der Text von Borinski verzichtet grundsätzlich auf Großschreibung. Im Weiteren stehen die zitierten Stellen ohne eine zusätzliche Markierung dieser orthografischen Besonderheit. 268 Ebd., S. 220. Die allgemeine Einschätzung Borinskis bezüglich Lessing weicht natürlich deutlich davon ab, so dass die Frustration nur umso deutlicher spürbar wird. Stellvertretend sei hier eine Stelle aus Borinskis Lessing-Biographie zitiert, die den Grad der Wertschätzung deutlich offenbart: »Dieser klare Kopf war sich auch seiner Überlegenheit im irdischen Kreise, nicht zum Heile seines bürgerlichen Fortkommens in ihm, stolz und frei bewußt.« Karl Borinski: Lessing. 2 Bde. Berlin 1900, hier Bd. 1, S. 2. Folgerichtig spart Borinski in seinen Betrachtungen dann auch die als ungenügend abqualifizierten ›Rettungen‹ aus seiner Darstellung aus.
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nicht tragische, so doch ärgerliche Fehleinschätzung. Das ist die eine Position, die sich in der Forschung findet. Für die zweite Forschungsposition zeichnet Martin Mulsow verantwortlich. In seiner Habilitationsschrift Moderne aus dem Untergrund widmet Mulsow ein ausführliches Kapitel dem Ineptus Religiosus.269 Dort gerät zum ersten Mal Lessings Gegenstand, also die Ineptus-Schrift selbst, in den Fokus der Betrachtung. Neben der Einordnung der Schrift in das geistesgeschichtliche Umfeld einer aufkommenden »Religion der Klugen« (religio prudentum)270 wird eine überzeugende Argumentation für den möglichen Verfasser geliefert – auch wenn Mulsow das nicht mit letzter Sicherheit zu belegen vermag, wie er selbst zugesteht; weder Josua Schwartz, wie Lessing meint, noch Johann Balthasar Schupp, so die Zuschreibung Borinskis, stellen sich als die plausibelste heraus, vermutlich stammt der Text von »dem in schwedischen Diensten stehende[n] Diplomat[en] Johann Salvius.«271 Die Frage, wie überzeugt Lessing von seiner eigenen Vermutung über den möglichen Verfasser war, mag Mulsow nicht entscheiden, sein primäres Erkenntnisinteresse zielt ohnehin in eine andere Richtung. Folgt man der dritten Einschätzung, die in der Forschung vertreten wird, so würde sich jede weitere Beschäftigung mit dieser Rettung erübrigen. Denn Winfried Barner vermutet im Kommentar zur Frankfurter Ausgabe: »Von der Entstehung her ist er [der Text] eher ein Entwurf, ein Versuch, der den Verfasser vermutlich unbefriedigt gelassen hat.«272 Diese Einschätzung ist selbst äußerst unbefriedigend, zumal doch einiges gegen diese These spricht, wie im Weiteren zu zeigen sein wird. Bedenkt man aber die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens des Kommentars zur Ineptus-Schrift lediglich die Studie von Karl Borinski vorlag, so relativiert sich diese Aussage. Folgt man Borinski in seiner Beurteilung konsequent, so kann durchaus der Eindruck entstehen, dass die Rettung für Lessing ebenfalls unbefriedigend war. Allen drei Positionen ist, in unterschiedlicher Weise, eines gemein. Der Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers haftet ein defizitäres Moment an. Bewusst oder unbewusst verfehlt Lessing sein eigentliches Ziel. Nun kann man probeweise den Spieß auch umdrehen und die Hypothese aufstellen, dass sich diese Abhandlung, so wie sie uns in der Edition von 1754 vorliegt, genau so darstellt, wie sie der Verfasser beabsichtigt hat.
269 Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002, S. 355–443. 270 Ebd., S. 355. Ich werde im weiteren Verlauf der Argumentation immer wieder auf die diesbezüglichen Ergebnisse Mulsows zurückgreifen. 271 Ebd., S. 379. 272 WuB 3, S. 1036.
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Dies ist für den Literaturwissenschaftler eigentlich die Grundannahme, sofern man es nicht mit einer prekären Überlieferungssituation zu tun hat. Und das ist hier definitiv nicht der Fall: die Rettung des Inepti Religiosi und seines ungenannten Verfassers ist im dritten Teil der von Lessing selbst zum Druck autorisierten Schrifften erschienen. Im Folgenden wird Lessing also anstatt eines Missverständnisses, die bewusste Komposition – mit allen ihren Anspielungen und Namen – unterstellt. Ich werde mich in mehreren Schritten der Schrift nähern, um sicher zu gehen, Sinn nicht in den Text hinein-, sondern aus ihm herauslesen zu können, indem die im Text gegebenen Signale und Hinweise eine aus heutiger Sicht nachvollziehbare Gestalt bekommen. Wie wurde Lessing überhaupt auf diesen Text aufmerksam? War es eine Entdeckung in der Bibliothek oder gar ein Fund?273 Dies lässt sich heute nicht mehr eindeutig entscheiden. Sicher ist jedoch, dass Lessing den Eintrag über den Ineptus Religiosus in dem von Johann Vogt herausgegebenen Catalogus historicocriticus librorum rariorum kannte.274 Die dort abgedruckte Einschätzung Vogts, das »Büchlein« sei ein »höchst seltenes aber böses und gottloses«,275 dient Lessing als Aufhänger für seine Schrift. Ob er allerdings zuerst in der Wittenberger Universitätsbibliothek auf das Buch stieß und sich danach weitere Information aus Vogts Verzeichnis aneignete, oder ob er die Bibliothek bewusst nach dem Hinweis Vogts durchsuchte, muss im Raum der Spekulation bleiben. Wahrscheinlicher scheint jedoch die erste Variante, denn beim Ineptus handelte es sich nicht
273 Zur Unterscheidung von ›Entdeckung‹ und ›Fund‹ siehe weiter oben den Einstieg in das Kapitel 4 ›Die eigentlichen Rettungen von 1754‹. 274 Johann Vogt wird im weiteren Verlauf nochmals genauer in den Blick rücken, siehe Kapitel 4. 4. 2. 275 WuB 3, S. 224. Im Original lautet die Stelle in ihrer Gesamtheit: »Libellus summe rarus; at malus, & impius. Exemplari, quod benevole ex instructissima sua bibliotheca mecum communicavit S. Rev. Gœring, Superint. Mindensis, hæc erant in limine adscripta: Mente cares, si res tibi agitur feria. Rusus fronte cares, si sic ludis amice Faber. Hæc sunt Erasmi verba, alia occasione prolata, in hunc Libellum optime quadrantia. Conf. Biblioth. Mixta Hamburg. T. III. p. 581. Adscribere libet, quæ §.45. leguntur, & Autoris mentem produnt: ›Omnes Quæstiones & Controversias ab ovo. Quod dicitur, semper inscipito. Nihil suppone. Semper quæ ras: An Christus fuerit in rerum natura?‹« Vogt: Catalogus (1747), S. 369f. Der erste Satz dieser Einschätzung findet sich auf dem Vorsatz des Exemplars, das in der Bibliothek des Predigerseminars in Wittenberg liegt. Auch der Verweis auf Vogt fehlt nicht. Ob er von Lessings Hand stammt, ist mehr als fraglich. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber sind die Anstreichungen im Text von Lessing. Sie kennzeichnen genau jene Stellen, die er in seiner Übersetzung aussparen wird; die Anstreichungen, das ist allerdings vielleicht nur ein schwaches Indiz, wurden mit dergleichen Art von Stift vorgenommen, mit der auch Passagen in Lemnius’ Mönchshurenkrieg markiert wurden. Marginalien im eigentlichen Sinne finden sich in beiden Bänden nicht.
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nur um ein seltenes Buch, sondern um ein kaum existentes Buch. Noch heute sind mehr Manuskripte davon vorhanden als gedruckte Exemplare, die Auflage kann demnach nie hoch gewesen sein.276 Vielleicht war das »Büchlein« nie zum Druck bestimmt, sondern diente als Anweisung für einen kleinen Kreis von Schülern. Das könnte die geringe Stückzahl erklären. War es ein Raubdruck, so könnte der Verfasser durchaus versucht haben, die unautorisierten Drucke verschwinden zu lassen, der Inhalt war jedenfalls brisant genug. Was ist nun der Gegenstand dieses bösen und gottlosen Buches? Ein »törichter Gottesgelehrter« (so Lessings Übersetzung von ›religiosus ineptus‹) gibt einem jungen Mann Anweisungen, wie er für sich selbst auf seiner peregrinatio die Sachen der Religion zu studieren habe. Die Methode, die der Gelehrte seinem Schüler dafür empfiehlt, ist der radikale Zweifel, wie in § 45 deutlich wird: Alle Probleme packe immer, wie man sagt, vom Anfang an. Setze nichts als von anderen überprüft und entschieden voraus. Frage immer: Gibt es auch Engel oder Geister? Ist Christus wirklich in der Welt gewesen? War die Sintflut allumfassend und gleichartig? Es ist nicht nötig, so lange zu warten, bis du mit einer Art Notwendigkeit dorthin geleitet wirst, aber quäle dich weiter ab und bemühe dich so eifrig wie möglich, Gegenstände des Zweifelns und des Streitens in der Hand zu haben. Schätze auch Streitfragen wie solche: woher kann ich wissen, daß die Schriftauslegung wahr ist, die mein Pfarrer vorträgt? Aufgrund welches Beweises ist es ausgemacht, daß der lutherische Glaube mit Gottes Wort übereinstimmt, wobei doch auch Photinianer fest darauf bestehen?277
Was könnte Lessing an dieser Position fasziniert haben, dass es ihm wert war, diesem Text eine Rettung zu widmen? Um das zu klären, bedarf es einer Ausweitung des Kontextes, bevor detailliert auf die Schrift an sich eingegangen werden kann. Die These, so viel vorweg, lautet dabei, dass Lessing diesen prototypischen Textvertreter einer »Religion der Klugen« hundert Jahre nach seinem Erscheinen für eine »Religion der Vernünftigen«, eine natürliche Religion, umzudeuten und
276 Mulsow (2002), S. 398, Anm. 13. »Mir sind nur fünf Druckexemplare bekannt, in Wittenberg, in Göttingen (zwei Exemplare), in Halle und Jena.« S. 397f. 277 WuB 3, S. 241: »Omnes questiones et controversias ab ovo, quod dicitur, semper incipito. Nihil ab aliis probatum aut decisum suppone. Semper quaeras: utrum etiam sint angeli seu spiritus? An Christus fuerit in rerum natura? An diluvium Mosaicum fuerit universale et similia. Neque opus est, ut tamdiuexpectes, donesc necessitate quadam eo perducaris, sed ultro te torque et quam studiosissime labora, ut dubia et disputabilia quaedam habeas. Quaestiones etiam tales amato: unde scire possum veram esse scripturae interpretationem, quam Pastor meus proponit? quo [sic] indicio constat Luteranam religionem congruam esse verbo Dei, quum id Photiniani etiam jactent?« Ich zitiere hier die Übersetzung aus dem Kommentarteil: ebd., S. 1052.
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zu funktionalisieren versucht.278 Wie das im Einzelnen geschieht und welche zusätzlichen Präzisierungen und Abgrenzungen dafür nötig sind, kann man deutlich machen, nachdem man einen Blick auf die religiösen Überzeugungen des jungen Lessing geworfen hat.
Exkurse: Die religiösen Überzeugungen des jungen Lessing »Die Geschichte seiner [Lessings] religiösen Überzeugungen ist [. . . ] im einzelnen schwierig nachzuzeichnen, weil die meisten relevanten Bemerkungen eher allgemein gehalten sind oder in Gedichten und Fragmenten vorkommen statt in unzweideutig autobiographischen Äußerungen.«279 Die Quellenlage ist zudem insgesamt sehr dünn. Aber selbst das Wenige, das man hat, wirft einiges ab, wenn man es im Verbund liest. Diesen Kontext bilden die beiden Fragmente Das Christentum der Vernunft und Die Gedanken über die Herrnhuter, das ebenfalls unvollendet gebliebene Lehrgedicht Die Religion (mitsamt einer Vorerinnerung) sowie vier mehr oder weniger aussagekräftige Briefe, drei davon an den Vater, einer an Gottlob Samuel Nicolai. Es bietet sich an, chronologisch vorzugehen, um die sich ausweitenden Zweifel an der Religion und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit dem Vater, der um die Rechtgläubigkeit des Sohnes besorgt war, konzise darzustellen. Den erstmöglichen Zugriff zu diesem Themenkomplex ermöglicht eine briefliche Äußerung Lessings in der er sich mit Vorwürfen seines Vaters konfrontiert sieht: Soll ich mich weitläufig entschuldigen? Soll ich meine Verleumder beschimpfen, und zur Rache ihre Blöße aufdecken? Soll ich mein Gewissen – soll ich Gott zum Zeugen anrufen? Ich müßte weniger Moral in meinen Handlungen anzuwenden gewohnt sein, als ich es in der Tat bin, wenn ich mich so weit vergehen wollte. Aber die Zeit soll Richter sein. Die Zeit
278 Eine genaue Abgrenzung zwischen der »religio prudentum« und einer natürlichen Religion / Theologie ist in objektiver Weise schwer möglich, da beide Begriffe schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts bisweilen synonym verwandt wurden (siehe hierzu Martin Mulsow: Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760. Hamburg 1998 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 22), S. 140–147). Eine allgemeine Begriffsgeschichte der »religio prudentum« liefert Albrecht (1994), S. 509–524. Mir kommt es hier auf einen besonderen Aspekt an, der sich meiner Meinung nach mit Lessings Rettung der Schrift verschiebt. Er streicht den elitären Anspruch der »religio prudentum«, es ist keine Religion mehr für eine kleine Schicht der Allervernünftigsten, sondern die vorgetragenen Überzeugungen sind für jedes vernunftbegabte Wesen einsehbar. Aus einem Bildungsprivileg wir eine anthropologische Tatsache. 279 N, S. 174.
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soll es lehren ob ich Ehrfurcht gegen meine Eltern, Überzeugung in meiner Religion, und Sitten in meinem Lebenswandel habe.280
Schon an diesen wenigen Zeilen wird deutlich, dass Lessing sich den zeitgenössisch üblichen Verfahren zur Rechtfertigung verweigert. Unter dem Verweis auf seine moralischen Grundsätze kann er seine Verleumder nicht mit erneuten Anklagen belasten, das scheint ihm zu billig. Und auch der Rückzug auf die höchste Autorität, mittels eines Schwurs, kommt nicht infrage. Stattdessen übergibt er die Urteilsfindung einer ganz anderen Instanz: der Zeit. Exakt dieses Verfahren wird er nur zwei Jahre später in seinen Rettungen selbst praktizieren, er wird nach langer Zeit zum Advokaten für Personen, die der Sittenlosigkeit bezichtigt wurden und immer noch werden.281 Aber zunächst einmal versucht er sich selbst zu rechtfertigen. Weiter heißt es im Brief: Die Zeit soll lehren ob der ein beßrer Xst ist, der die Grundsätze der christl. Lehre im Gedächtnisse, und oft, ohne sie zu verstehen, im Munde hat, in die Kirche geht, und alle Gebräuche mit macht, weil sie gewöhnlich sind; oder der, der einmal klüglich gezweifelt hat, und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung gelangt ist, oder sich wenigstens noch darzu zu gelangen bestrebet. Die Xstliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen eben so wie ihr Vermögen, aber sie zeugen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffne Xsten sie sind. So lange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des Xstentums, Seinen Feind zu lieben nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Xsten sind, die sich davor ausgeben.282
Die Legitimation des Glaubens und somit auch der Religion, entspringt allein dem Individuum. Es ist Sache der Person Moral und Glaube in Einklang zu bringen, was vice versa auch bedeutet, wer nur glaubt, ist noch lange nicht moralisch. Dieses Primat des Praktischen vor dem Lehrgebäude der christlichen Religion wird in der Überzeugung Lessings in den nächsten Jahren weiter wachsen, ohne dass es ihn auch nur im Entfernstesten in die Nähe des Atheismus abschweifen lässt. Moral und Glauben bleiben weiter durch ein festes Band verknüpft. Das
280 Brief an Johann Gottfried Lessing vom 30. Mai 1749, WuB 11/I, S. 26. 281 Ohne das Spiel mit der teleologischen Argumentation zu weit treiben zu wollen, genau diese Vorausdeutungen sollen ja in dieser Arbeit verhindert werden, darf angemerkt werden, dass sich die Verfahren der Wahrheitsfindung in der Ringparabel und auch in der Schrift Leibnitz von den ewigen Strafen ziemlich analog darstellen. Die Überzeugung, dass historische Gerechtigkeit möglich ist oder sich gar mit Notwendigkeit einstellt, scheint sich Lessing bereits in jungen Jahren zu eigen gemacht zu haben. Man kann sie, so denke ich, als eine der wenigen Konstanten in Lessings Denken ausmachen. 282 WuB 11/I, S., 26 (Hervorhebung im Original).
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beweist der zweite Brief an den Vater aus dieser Zeit, der für unseren Zusammenhang von Interesse ist. Am 2. November 1750 schreibt Lessing nach Kamenz: De la Mettrie, von dem ich Ihnen einigemal geschrieben habe, ist hier Leib-Medicus des Königs. Seine Schrift l’homme machine hat viel Aufsehen gemacht. Edelmann ist ein Heiliger gegen ihn. Ich habe eine Schrift von ihm gelesen, welche Antiseneque ou le souverain bien heißet, und die nicht mehr als zwölfmal ist gedruckt worden. Sie mögen aber von der Abscheuligkeit derselben daraus urteilen, daß der König selbst zehn Exemplare davon ins Feuer geworfen hat.283
Interessant ist der Brief neben der deutlichen Distanzierung vom Atheismus – für Lessing überschreitet la Mettrie mit seinem dezidierten Materialismus eine Grenze284 – aber noch in einer zweiten Hinsicht: Er gibt Einblick in die Lektüregewohnheiten Lessings. Seltene und gefährliche Literatur scheint ihn magisch angezogen zu haben, das freigeistigste Gedankengut seiner Zeit wollte er um jeden Preis zur Kenntnis nehmen, ohne jeder neuen Idee auch gleich zu folgen. Die Lektüre des Ineptus religiosus ist also kein zufälliger Einzelfall, der Lessing in der Wittenberger Universitätsbibliothek ›zustieß‹, sondern man darf mit guten Gründen davon ausgehen, dass Lessing sich diese Art clandestiner Literatur bewusst gesucht hat. Die ersten Früchte aus dieser Lektüre bilden zwei zu Lebzeiten unveröffentlichte Schriften.
Erster Exkurs: Gedanken über die Herrnhuter Mit den beiden sogenannten Fragmenten Gedanken über die Herrnhuter und Das Christentum der Vernunft ergibt sich ein Problem in Bezug auf die Beibehaltung der Chronologie, das sich nur in Teilen auflösen lässt. Eine exakte Datierung ist, da die beiden Schriften zuerst von Lessings Bruder Karl im Theologischen Nach-
283 Ebd., S. 32. Lessings Rezeption La Mettries rückte erstmals Monika Fick in einem Abschnitt ihres Handbuches zu dem frühen Drama Der Freygeist näher in den Blick und liefert dabei eine detaillierte Analyse seines Verhältnisses zum Materialismus: »Wenn Lessing den Materialismus – und vielleicht die Lebensführung – La Mettries ablehnt, so lehnt er natürlich ebenso dezidiert die Identifikation von ›wahrer‹ Tugend und christlicher Religion ab, wie sie die Vertreter von Orthodoxie und Aufklärungstheologie vornehmen.« In: F (2010), S. 84. Diese Gegenüberstellung bleibt auch in den hier behandelten Schriften ständiges Thema. Ihren poetischen Niederschlag fand sie in der Gestalt des Adrast, wie Monika Fick überzeugend darzulegen vermag. 284 Zur zeitgenössischen Rezeption der Schriften und der Person La Mettries, auch durch Lessing, siehe Kevin Hilliard: ›Ein Hogarthisches unsinniges Tollhauslächeln‹: The Portrait of La Mettrie and the Problem of the Laughing Philosopher in Eighteenth-Century Germany. In: Publications of the English Goethe Society 79 (2010), H. 3, S. 129–146.
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lass des Jahres 1784 veröffentlicht wurden, nicht ohne Weiteres möglich.285 Die erste Schrift müsste, folgt man den Angaben von Karl Lessing, Die Gedanken über die Herrnhuter sein, der als Entstehungszeitraum das Jahr 1750 angibt. »Ohne weitere Begründung«, wie Johannes von Lüpke hinzusetzt.286 Dennoch können Zweifel an dieser Datierung angemeldet werden, die »in der Lessingforschung nahezu ausnahmslos akzeptiert worden« ist.287 »Versucht man jedoch, die Angabe zu verifizieren,« so von Lüpke weiter, »indem man den Kontext des Lessingschen Werkes rekonstruiert, legt sich eine geringfügige Verschiebung nahe.« Ich folge hier von Lüpkes Auffassung, dass die Schrift wohl eher in das Jahr 1751 zu datieren ist, denn »[i]m Laufe dieses Jahres geht Lessing mehrfach in Rezensionen auf die theologische Auseinandersetzung mit den Herrnhutern ein.«288 Diese drei Rezensionen sind hier auch insofern von Interesse, als dass sie nicht nur eine Gruppe von ›vorbildlichen Christen‹ im lessingschen Sinne vorstellen, sondern auch Einblick in die Sphäre von Literatur geben, an die sich der alte Lessing zurückerinnert, wenn er seiner Lektüregewohnheiten in Jugendjahren gedenkt.289 Die erste Rezension vom 23. März 1751 befasst sich mit einer orthodoxen Kampfschrift gegen die Herrnhuter.290 In der Schrift des Superintendenten Hofmann wird vornehmlich an den Herrnhutern kritisiert, dass sie »nicht die Sprache der symboli-
285 Das tatsächliche Veröffentlichungsdatum fällt in das Jahr 1785, jedoch wurde die Ausg. vordatiert. Siehe hierzu WuB 2, S. 995. 286 Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Göttingen 1989 (Göttinger theologische Arbeiten 41), S. 41. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Siehe hierzu den zu Beginn des Kapitels bereits zitierten Ausschnitt aus: Bibliolatrie [1779], in: WuB 10, S.171. 290 Im 35. Stück der BPZ rezensiert: Wittenberg und Zerbst. Dritte und letzte gegründete Anzeige derer Herrenhuthischen Grund-Irrthümer in der Lehre von der H. Schrift, Rechtfertigung, Sacramenten und letzten Dingen; denen evangelischen Kirchen zur nöthigen Warnung ans Licht gestellt von D. Carl Gotlob Hofmann, Generalsuperintendent. nebst einem Register über sämtliche drey Theile. Wittenberg und Zerbst, verlegts Sam. Gottf. Zimmermann. 1751. in 8t. 8 Bogen. In: WuB 2, S. 38f. Zieht man Rezensionen des frühen Lessing heran, muss man, wenn man wissenschaftlich redlich bleiben will, die Frage nach der Verfasserschaft stellen, die so eindeutig nicht ist, wie es die Aufnahme in diverse Werkausgaben nahezulegen scheint. Vgl. hierzu Karl S. Guthke: Lessings Rezensionen. Besuch in einem Kartenhaus. In: Jb. des Freien deutschen Hochstifts. Tübingen 1993, S. 1–59. In den vorliegenden Fällen darf die Verfasserschaft aber zweifelsfrei Lessing zugeschrieben werden. Neben den inhaltlichen Kriterien siehe auch Klaus Briegleb: Lessings Anfänge 1742–1746. Zur Grundlegung kritischer Sprachdemokratie. Frankfurt am Main 1971 (Athenäum-Paperbacks Germanistik 71).
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schen Bücher führen«.291 Bei gleichzeitigem Lob der grundsätzlichen Ausführung hält Lessing dagegen: Der Kopf eines Herrenhuters, voll von Enthusiasterei, ist zu nichts weniger als systematischen Begriffen und abgemessenen Ausdrücken geschickt. Warum macht man ihm die Schwäche seines Verstandes zu Verbrechen seines Willens? Warum folgert man aus gewissen Orten [. . . ] Taten der sträflichen Unzucht? Nur zum Beweise der Verleumdung, und mehr zum Ärgernisse als zur Erbauung, schreibt man aufgedeckte Bosheiten der Herrenhuter, so lange noch keiner von ihnen der Verbrechen, welche man ihnen Schuld giebt, und welche die schärfste Ahndung verdienten, von der weltliche Obrigkeit überführt worden.292
Schon hier, vor der Abfassung der eigentlichen Rettungen, fällt der Schlüsselbegriff derselben: Verleumdung. Eine Anschuldigung ohne begründete und erwiesene Tatsachen lässt sich nicht halten. Nur eine Woche später, in der Rezension vom 30. März 1751, kam das Thema erneut aufs Tableau, diesmal allerdings mit einer inhaltlich bedeutsamen Verschiebung.293 Hier wird die in Lessings Augen vorbildliche Auffassung von einem der Beiträger, dem Prediger Wilhelm Saldeni aus dem holländischen Delft, hervorgehoben: Es ist ein Glück, daß noch hier und da ein Gottesgelehrter auf das praktische des Christentums gedenkt, zu einer Zeit, da sich die allermeisten in unfruchtbaren Streitigkeiten verlieren; bald einen einfältigen Herrnhuter verdammen; bald einem noch einfältigern Religionsspötter durch ihre sogenannten Widerlegungen, neuen Stoff zum Spotten geben; bald über unmögliche Vereinigungen sich zanken, ehe sie den Grund dazu durch die Reinigung der Herzen von Bitterkeit, Zanksucht, Verleumdung, Unterdrückung, und durch Ausbreitung derjenigen Liebe, welche allein das wesentliche Kennzeichen eines Christen ausmacht, gelegt haben. Eine einzige Religion zusammen flicken, ehe man bedacht ist, die Menschen zur einmütigen Ausübung ihrer Pflichten zu bringen, ist ein leerer Einfall. Macht man zwei böse Hunde gut, wenn man sie in eine Hütte sperret? Nicht die Übereinstimmung in den Meinungen, sondern die Übereinstimmung in tugendhaften Handlungen ist es, welche die Welt ruhig und glücklich macht.294
Provokativ formuliert, redet Lessing hier einer natürlichen, auf Eklektizimus basierenden Religion das Wort. Aber wohl nicht aus programmatischer Sicht, sondern nur aus dem Grund, dass die Lehrmeinungen jedweder Kirche nach den aus
291 WuB 2, S. 39. 292 Ebd. 293 Im 38. Stück der BPZ rezensiert: Leipzig und Greifswalde. Sammlung auserlesenster Abhandlungen ausländischer Gottesgelehrten zur Unterweisung des Verstandes und Besserung des Herzens; zusammen getragen von Friedr. Eberh. Rambach, Past. zum Heil. Geist in Magdeburg. Leipzig und Greifswalde. 1750. in 8t. 1 Alph. 16 Bogen. In: WuB 2, S. 44f. 294 Ebd.
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ihnen resultierenden moralischen Handlungen der Gläubigen beurteilt werden müssen. Und diesbezüglich sind die Querelen der orthodoxen Pastoren um die rechte Lehre gerade das Gegenteil, es herrschen »Bitterkeit, Zanksucht, Verleumdung, Unterdrückung«. Zwischen Wort und Tat klafft eine Lücke, die sich immer schwerer wird schließen lassen. Man fühlt sich unweigerlich an Lessings Brief an den Vater erinnert. Die beinahe zeitgleiche Abfassung dieser Rezension mit dem Brief an den Vater wirkt sich bis in die beinahe identische Wortwahl hinein aus. Insofern kann man annehmen, dass der junge Lessing sich hier zu einer eigenen Position durchringt, die er immer wieder neu zu formulieren versucht. So auch in der dritten Rezension. Diese hat ein dialogisch abgefasstes Werk eines Theologen zum Gegenstand, das Lessings volle Zustimmung findet: Dem Menschen ist alles eher angenehm zu machen, als seine Pflicht, und die Kunst das Joch der Religion als ein sanftes Joch vorzustellen, ist zu schwer, als daß sie jeder Gottesgelehrte haben sollte. Daher kommt es, daß man gegen ein Werk, von der Art wie das gegenwärtige ist, zwanzig findet, worinne man die Theologie als eine Sophisterei treibet, welche nichts weniger als einen Einfluß auf das Leben hat. Der Seelenschlaf, das jüngste Gericht, das tausendjährige Reich, die verklärten Körper werden noch jetzt in ganzen Alphabethen abgehandelt. Vortreffliche Gegenstände, welche wenigstens den Witz der Spötter tätig zu erhalten geschickt sind. Diesen aber durch ein Leben, welches der Geist der Religion beherrscht, und durch Lehrsätze zu entwaffnen, die durch eine erhabne Einfalt von ihrem göttlichen Ursprunge zeigen, ist ein Werk, womit man sich nur ungerne vermengt, weil es Herrenhutern eingekommen ist, sich damit abzugeben.295
In dieser letzten Rezension nehmen die Herrenhuter erstmals eine Vorbildfunktion ein. Ihre Einsicht, dass der Weg zum rechten Glauben nicht über die Gelehrsamkeit der Theologen führt, sondern allen wirklich Gläubigen in ihrer »erhabne[n] Einfalt« unmittelbar möglich ist, bricht mit einer Tradition innerhalb des Christentums. Weder Priester oder Prediger noch ein genaues Studium der Heiligen Schrift sind die Vehikel zur Glückseligkeit des Menschen. Es bedarf keiner
295 Im 103. Stück der BPZ rezensiert: Hannover. Dieu meriteroit-il bien qu’un homme eutpour lui des egards et du respect et qu’il lui en offrit un hommage public? Traduit de l’Allemand par une Westphalienne. à Hannovre aux depens de Jean Christ. Richter. 1751. in 8t. 12 ½ Bogen. In: WuB 2, S. 180f. Es handelt sich dabei um die Übersetzung der Schrift Sollte Gott wol auch verdienen daß ein Mensch Achtung und Ehrerbietung für ihn hätte und selbige öffentlich an den Tag legte? des hannoverschen Predigers Johann Friedrich Jacobi, Hannover 1750. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werdem, dass Ernst Consentius die Meinung vertritt, dass diese Rezension nicht Lessing zuzuordnen sei (Ernst Consentius: Lessing und die Vossische Zeitung. Leipzig 1902, S. 77). Eine Verfasserschaft Lessings hingegen nehmen Budde (in PO) und Lachmann an. Ich denke allein aufgrund der inhaltlichen Kohärenz der drei vorgestellten Rezensionen erübrigt sich Consentius’ Einwand.
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Vermittlung durch Dritte, der einzelne Mensch rückt auch in seiner Eigenschaft als Gläubiger in den Mittelpunkt. Diese »anthropozentrische Wende«296 wird zum Ausgangspunkt für eine umfassende Kulturkritik, die Lessing in den folgenden Jahren ausführlicher zu formulieren versucht. Die drei in den Rezensionen angesprochenen Aspekte – die Abwendung von der Buchgelehrsamkeit der Theologie, das Primat eines praktischen Christentums und die unmittelbare Erkennbarkeit der göttlichen Wahrheit – vereinigt Lessing dann in den Gedanken über die Herrnhuter, die wohl gegen Ende des Jahres 1751 in Berlin entstanden sind.297 Er erreicht dabei eine programmatische Ausweitung der Gedanken, die in den theologischen Überlegungen bis zu diesem Zeitpunkt in seinem Werk nicht erfolgt war. Die Themen wurden ja bereits benannt, aber wie geht Lessing im Einzelnen vor? Am Beginn steht die moralische Entrüstung darüber, dass die zeitgenössischen Theologen ihre ganze sogenannte Gelehrsamkeit gegen »Feinde«298 aufbieten, die weder die Möglichkeit haben sich zur Wehr zu setzen, noch überhaupt den Wunsch dazu verspüren. Und dennoch feiern diese Theologen ihre auf dem Schlachtfeld der Gelehrsamkeit errungenen Siege als Siege der eigenen Moralität. Lessing ist der Ansicht, dass nichts weniger der Fall ist, denn es waren »[g]lückliche Zeiten, als der Tugenhafteste der Gelehrteste war!«299 Aber diese Zeiten sind vorbei. Die direkte Verbindung zwischen Gelehrsamkeit und Tugend gehört seit Langem der Vergangenheit an, die Verhältnisse haben sich vielmehr umgekehrt. Was folgt, ist eine Geschichte der Philosophie in nuce – ganz entgegen den Prämissen seiner Zeit, nicht als eine Fortschrittsgeschichte der menschlichen Erkenntnisse, sondern als Verfallsgeschichte.300 »Der
296 F (2010), S. 137. 297 Inwiefern eine separate Abhandlung für Lessing geboten erschien, begründet Klaus Briegleb mit dem Hinweis auf die Rezeptionshaltung der Leserschaft von Rezensionen überzeugend: »Der ganze Gegenstand der Urteilsbildung, die der Rezensent anregen will, ist, so sagte ich, in der Besprechung nicht aufgegriffen, ein gerechtes Urteil vielmehr erst vorbereitet durch die Reinigung der öffentlichen Debatte von Vorurteilen und zweideutigen Angriffen gegen die Herrnhuter als Gemeinde. Das persönliche Urteil Lessings über den ganzen Gegenstand, nämlich über das ›Problem der Herrnhuter-Gemeinde in der Gesellschaft‹ ist demgemäß nur angedeutet.« Briegleb (1971), S. 197f. (Hervorhebung im Original). 298 WuB 1, S. 935. 299 Ebd., S. 936. 300 Hugh Barr Nisbet verweist auf den Einfluss Rousseaus, des Vorbildes für diese Darstellung, der hier unverkennbar ist: »Dieses bemerkenswerte Fragment und gleicherweise die Rezension im ›Neuesten‹ vom April 1751 (die vermutlich kurz vorher entstand) zeigen, wie stark Rousseaus erster Diskurs Lessing angeregt und aufgestört hat. Er gab ihm das Stichwort für seine eigene historische Erklärung nicht nur des Versagens der zeitgenössischen Kultur, sondern auch der grundsätzlichen Unzulänglichkeiten der lutherischen Konfession, in der er erzogen wor-
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Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen. Aber eben deswegen, weil er nicht dazu erschaffen ward, hängt er diesem mehr als jenem nach«301 und entfernt sich immer weiter von seiner eigentlichen Bestimmung. »Plato fing an zu träumen, und Aristoteles zu schließen« – der Verfall wird exemplarisch an weiteren Figuren der Geistesgeschichte vorgeführt, bis zu dem Punkt, da man meinte, die »verborgensten Geheimnisse der Natur« selbst »auf der Tat ertappt zu haben«.302 Diesen Verfall, als die immer weiter zunehmende Entfernung vom Wesentlichen, entdeckt Lessing in gleichem Maße, wenn er auf die Geschichte der Religion blickt: »Ich behaupte also: es gieng der Religion wie der Weltweisheit.«303 Auch hier greift Lessing auf eine plakative genealogische Reihe zurück, was dort Plato war, ist hier Adam. Denn war die ursprüngliche Religion noch »einfach, leicht und lebendig«,304 so setzte »[j]eder von seinen [Adams] Nachkommen [. . . ] nach eigenem Gutachten etwas hinzu. Das Wesentliche wurde in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt. Alle waren der Wahrheit untreu geworden, nur einige weniger, als die anderen.«305 Der »richtige Begriff von Gott« wurde zusehends verfälscht. Mit Jesus Christus sollte die Religion von dem in ihr angehäuften, aber überflüssigen Erbe gereinigt werden: Christus kam also. Man vergönne mir, daß ich ihn hier als einen von Gott erleuchteten Lehrer ansehen darf. Waren seine Absichten etwas anders, als die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen, und sie in diejenigen Grenzen einzuschließen, in welchen sie desto heilsamere und allgemeinere Wirkungen hervorbringt, je enger die Grenzen sind? Gott ist ein Geist, den sollt ihr im Geist anbeten. Auf was drang er mehr als hierauf? und [!] welcher Satz ist vermögender alle Arten der Religion zu verbinden, als dieser?306
den war.« (N, S. 179). Ulrich Kronauer verfolgt Lessings Rousseau-Lektüre über die HerrenhuterSchrift hinaus und kommt dabei zu dem Schluss, dass Lessing Rousseau sogar oft paraphrasierte, dies aber an keiner Stelle kenntlich machte. Dieses Verfahren kennt man von Lessing auch in Bezug auf andere Autoren, denen er so stillschweigend zustimmte. Ulrich Kronauer: Der kühne Weltweise. Lessing als Leser Rousseaus. In: Jaumann, Herbert (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin / New York 1995, S. 23–45. 301 WuB 1, S. 936. 302 Ebd., S. 937f. Lessing spielt in dieser Passage allem Anschein nach auf Newton und Leibniz an. 303 Ebd., S. 938. 304 Ebd. 305 Ebd., S. 939. 306 Ebd. Piszczatowski sieht in der Setzung »Christus kam also.« das »welttheatralische Bild von Christus als Maschinengott«. In seiner Interpretation dieser Stelle ist »[d]ie Göttlichkeit Jesu [. . . ] die eines Maschinengottes, also eine absolut konventionelle, auf das Ereignis der neuen Offenbarung bezogene. Sein Erscheinen markiert, erklärt und legitimiert gleichsam einen Wendepunkt in der Geschichte (wie das Erscheinen eines deus ex machina in der Handlung eines Dramas).« vgl. Paweł Piszczatowski: »Die Erziehung des Menschengeschlechts« als Ent-
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Diese Stelle ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert und dürfte wohl auch der Grund sein, warum die Schrift zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb. Wir haben eine stark unitarische Position vor uns, wenn Lessing Christus lediglich die Funktion eines »erleuchteten Lehrer[s]« zubilligt. Die Ablehnung der Heiligen Dreieinigkeit ist hier zweifach belegbar, wenngleich zunächst nicht deutlich ausgesprochen.307 Wenn Gott Geist ist, so folgt daraus unmittelbar, das Jesus eben nicht der fleischgewordene Sohn Gottes ist, und es ist der Geist, der angebetet werden soll. Diese Stelle richtet sich auch deutlich gegen eine Verehrung Christi. Wollte Jesus die ursprüngliche Religion wieder einsetzen, man muss für das 18. Jahrhundert das Adjektiv ursprünglich wohl synonym mit natürlich begreifen, so setze die Geschichte der Religion ein zweites Mal bei Null an. Mit dem gleichen Ergebnis: Nach der Reinigung folgt der Verfall. War im Urchristentum noch eine Übereinstimmung zur natürlichen Religion in weiten Teilen gegeben, so verliert sich diese zusehends im Lauf der Geschichte. Und auch das hat unmittelbar mit der Dreinigkeit, oder besser gesagt mit dem Fehler, die Dreinigkeit anzunehmen, zu tun. Nicht umsonst betont Lessing diesen Aspekt, indem er noch einmal wie-
wurf einer Neuen Mythologie. In: Wergin, Ulrich; Sauerland, Karol (Hgg.): Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung. Würzburg 2005, S. 63–72, hier S. 68 (Hervorhebung im Original). Ich denke Piszczatowski begeht hier den Fehler, die Stelle nicht im Kontext zu betrachten. Er isoliert den einzelnen Satz und setzt ihn in Beziehung zum Paragraph 60 der Erziehungsschrift (»Der erste praktische Lehrer. – Denn ein anders ist die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Speculation, vermuthen, wünschen, glauben: ein anders, seine innern und äussern Handlungen darnach einrichten.« WuB 10, S. 90) und eröffnet damit Anschlüsse, die in den Gedanken über die Herrnhuter nicht angelegt sind. Die historische Person Jesus fungiert hier weniger als ein deus ex machina, der alle Übel vereiteln helfen kann, sondern eher als ein Stellvertreter für eine mögliche Rückbesinnung auf die Gebote einer natürlichen Religion. Dieses ursprüngliche Ziel aber wird verfehlt, seine Person wird in der Folge missbraucht, um eine neue Version des eigentlich zu überwindenden Aberglaubens zu installieren. Obwohl Lessing explizit den göttlichen Status Jesu verneint (und damit auch denjenigen eines deus ex machina), liest Piszczatowski diese Stelle gegen den Strich, um die Anschlussfähigkeit an einen Text herzustellen, der knappe dreißig Jahre später erschienen ist. In der Orientierung an den neueren (französischen) Theoretikern, im Falle Piszczatowskis besonders an Paul Ricoeur, scheint dieser Transfer nicht nur erlaubt, sondern vielmehr geboten, wenn uns Lessing als der Vorbote oder gar verfrühte Vollender romantischer Vorstellungen einer »Neuen Mythologie« (wie der Titel schon ankündigt) vorgestellt wird. Im Jahre 1751, um es kurz zu machen, hat Lessing nichts weniger im Sinn als eine Mythologisierung der Religion. Und auch im Jahre 1780 (Die Erziehung des Menschengeschlechts) kann davon noch keine Rede sein. So verlockend diese Vorstellung einer geistesgeschichtlichen Genealogie auch sein mag, sie entbehrt jeder realgeschichtlich-kontextuellen Grundlage. 307 Zum Verhältnis von Rationalität und Trinität bei Lessing siehe Hugh Barr Nisbet: The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel. In: Lessing Yearbook 31 (1999), S. 65–89.
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derholt: »Ich sage es noch einmal, ich betrachte hier Christum nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer. Ich lehne aber alle schrecklichen Folgen von mir ab, welche die Bosheit daraus ziehen könnte.«308 Die Leugnung der Trinität ist keine Kleinigkeit, die sich Lessing hier zu Schulden kommen lässt, vielmehr rührt sie an den Fundamenten des Christentums überhaupt.309 Und dennoch scheint sie unausweichlich, wie die zweifache Betonung untermauert. Wieso, so muss man hier fragen, ist Lessing gerade dieser Punkt so wichtig? Mit dem Zweifel an der Trinität kann Lessing zwei Probleme ansprechen, die ihn in allen seinen Schriften zu dieser Zeit umtreiben und auch hier im Zentrum der Argumentation stehen. Das eine betrifft die gelehrten Sophistereien der orthodoxen Theologen. Dass drei Personen wesensgleich und somit eine sind, dabei jedoch unterschieden, ist nicht gerade selbstevident. Um diesen Umstand plausibel zu machen, bedarf es einiges an gelehrter Argumentation. Man kann die Diskussionen um die Trinität durchaus in die Reihe dieser gelehrten Sophisterein stellen, die Lessing in seiner 103. Rezension in der BPZ eröffnet: »der Seelenschlaf, das jüngste Gericht, das tausendjährige Reich, die verklärten Körper« und auch die Trinität. Mit der »erhabne[n] Einfalt« des einfachen Gläubigen ist dieses Dogma auf jeden Fall nicht unmittelbar einsichtig. Aber die Ablehnung der trinitarischen Vorstellung hat noch eine zweite, apologetische Konsequenz. Wenn man, wie Lessing, Jesus nur die Rolle eines von »Gott erleuchteten Lehrers« zubilligt, ihm also den göttlichen Status abspricht, sind die in der Apologetik und insbesondere im Vergleich der Religionen als wichtigstes Element der Überlegenheit des Christentums hervorgehobenen Wundertaten Jesu ohne argumentative Überzeugungskraft. Die monotheistischen Offenbarungsreligionen stehen somit auf einer Stufe. Diesen Beweis anzutreten, schickte sich Lessing in seiner Rettung des Hier. Cardanus an, freilich ohne an der Trinität zu rütteln. Dennoch darf man aufgrund der zeitlichen Nähe der beiden Abhandlungen annehmen, dass die hier geäußerte, aber unpubliziert gebliebene Meinung auch grundlegend für die Cardanus-Schrift war. Ausgehend von diesen Überlegungen entsteht der Eindruck, dass Lessing die Rolle Jesu vonseiten der Rezeptionsgeschichte aus analysiert und darstellt. Es geht ihm weniger darum, die Gründung des Christentums per se anzugreifen, als vielmehr die schädlichen,
308 WuB 1, S. 939 309 »As his disclamer indicates, he is fully aware that the view he expresses is unorthodox; with its implicit denial of Christ’s equality of substance with the Father, it in fact embodies the Arian (or unitarian) heresy, and implicitlly calls the Trinity itself into question.« Nisbet (1999), S. 66. Nisbet versäumt es allerdings, hier die Frage nach der Funktion zu stellen. Er konstatiert Lessings frühe Überzeugung lediglich, um im Anschluss zu zeigen, dass weitere, elaboriertere Entwürfe der Trinität folgen.
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sich beinahe zwangsläufig ergebenden Ergebnisse der Annahme, dass Jesus Sohn Gottes sei, aufzuzeigen: Ich wollte nur wünschen, daß ich meinen Leser Schritt vor Schritt durch alle Jahrhunderte führen und ihm zeigen könnte, wie das ausübende Christentum von Tag zu Tag abgenommen hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen und menschliche Erweiterungen zu einer Höhe stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat.310
Hier darf man wohl einen Einfluss annehmen, den die Lektüre von Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzterhistorie hinterlassen hat. Es sind die sogenannten »Rechtgläubigen«, die dem größten Aberglauben verfallen sind. »Der Erkenntnis nach sind wir Engel, und dem Leben nach Teufel.«311 So stellt sich aus Lessings Sicht die zeitgenössische Religion dar. Aber es gibt auch dem ›Leben nach‹ Engel, die jedoch als Ketzter verteufelt werden: die Herrenhuter, insbesondere in der Person des charismatischen Führers Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.312 Diese religiöse Gruppierung verkörpert die Ideale, die sich Lessing als allgemein verbindlich vorstellt: ein praktisch orientiertes Christentum, gelebte Toleranz gegenüber anderen religiösen Gruppen und der Verzicht auf jegliche Missionierung durch Belehrung und Überredung.313 Auch hier ist nicht mehr der Gelehrteste der Tugendhafteste, aber vielleicht verhält es sich umgekehrt: Ist der Tugendhafteste am Ende der Gelehrteste? Indem Zinzendorf sich »nie zu einem Religionsverbesserer aufgeworfen hat«,314 gewinnt er eine Glaubwürdigkeit, die den Würdenträgern der Amtskirche völlig fehlt. Ebenso wie Lessing auf einen Minimalkonsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner im Verbund der Religionen abzielt, hat sich auch Zinzendorf beschieden: »Hat er ihnen [den orthodoxen Theologen, M. M.] nicht mehr als einmal die deutlichsten Versicherungen getan, daß seine Lehr-
310 WuB 1, S. 940. 311 Ebd., S. 942. 312 Zu den Hauptvorwürfen, die Zinzendorf und seiner Gemeinde entgegengebracht wurden siehe Martin Brecht: Zinzendorf in der Sicht seiner kirchlichen und theologischen Kritiker. In: Brecht, Martin; Peucker, Paul (Hgg.): Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Göttingen 2005, S. 207–228. Martin Brecht hat 386 Streitschriften für den Fall Zinzendorf bibliographiert, ein deutliches Indiz für die flächendeckende Wahrnehmung und vor allem die Virulenz des Problems in der Zeit (vgl. S. 227). Einen allgemeinen historischen Überblick bietet Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Göttingen 2009, insb. S. 5–62. 313 »Haben die Herrnhuter, oder hat ihr Anführer, der Graf von Z. jemals die Absicht gehabt, die Theorie unseres Christentums zu verändern? Hat er jemals gesagt, in diesem oder jenem Lehrsatz irren meine Glaubensgenossen? Diesen Punkt verstehen sie falsch? Hier müssen sie sich von mir zu Rechte weisen lassen?« WuB 1, S. 945 (Hervorhebung im Original). 314 Ebd.
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sätze in allem dem augspurgischen [sic] Glaubensbekenntnis gemäß sind?«315 Es ging Zinzendorf um Konfliktvermeidung, ganz im Gegensatz zu den Vertretern der lutherischen Orthodoxie: »Schon gut, werden sie [die lutherischen Theologen, M. M.] antworten; allein warum behauptet er [Zinzendorf, M. M.] in seinen eigenen Schriften Sachen, die diesen Versicherungen offenbar widersprechen? Haben wir ihn nicht der abscheulichsten Irrtümer überführt?«316 Mit dieser scheinbaren Aporie und der weiterhin offenen Frage »Was will er denn? –«317 bricht der Text unvermittelt ab. Dieser Umstand wurde bis dato immer angeführt, um den Fragmentcharakter des Textes zu betonen oder stillschweigend vorauszusetzen.318 Die Tatsache, dass die Schrift zu Lessings Lebzeiten unpubliziert blieb und erst über den Nachlass den Weg an die Öffentlichkeit fand, hat die These vom Fragmentcharakter mit Sicherheit begüngstigt. Dennoch kann man begründete Einwände dagegen vorbringen. Die Frage, mit der der Text endet, ist eine rhetorische, deren Beantwortung nichts weniger ist, als die gesamte Abhandlung davor.319 Wirft man einen Blick auf das jeweilige Ende der vier Rettungen von 1754, kann dieses Ende kaum überraschen, vielmehr ist es eine für Lessing zu dieser Zeit typische Schlusswendung. Die direkte Hinwendung an den Leser initiert in allen Texten die Möglichkeit zur weiteren – man muss hinzufügen suggestiv angeleiteten – Reflexion.320 Insofern überzeugt dieses Argument nicht. Nur weil der
315 Ebd. 316 Ebd. 317 Ebd. 318 So etwa explizit im Titel bei Erich Beyreuther: Die Bedeutung Pierre Bayles für Lessing und dessen Fragment über die Herrenhuter. In: Bornkamm, Heinrich; Schmidt, Martin; Schindler, Alfred (Hgg.): Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag. Bielefeld 1975 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 14), S. 84–97. Auch Monika Fick spricht von einem »Fragment gebliebenen Aufsatz«, in F (2010), S. 134 und folgt damit den einhelligen Meinungen der älteren und neueren Literatur, für die hier stellvertretend genannt sei: Bernd Bothe: Glauben und Erkennen. Studie zur Religionsphilosophie Lessings. Mesenheim am Glan 1972 (Monographien zur philosophischen Forschung 75), S. 19. 319 Darauf weist schon Karin Hüskens-Hasselbeck in Bezug auf die Textstruktur und die Textpragmatik in den Gedanken über die Herrnhuter hin: »Folgt der Leser den Implikationen der Struktur, so stellt er den von Lessing selbst intendierten Zusammenhang von Textstruktur und Textpragmatik her. Denn erst wenn der Leser aus der fragmentarischen Struktur Lessings Antwort erschlossen hat, hat die Textstruktur der Dialoge ihren Abschluß gefunden.« HüskensHasselbeck, Karin: Stil und Kritik. Dialogische Argumentation in Lessings philosophischen Schriften. München 1978 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Künste: Texte und Abhandlungen 48). Zu den Gedanken über die Herrnhuter siehe S. 97–103, hier S. 103. 320 Man vergleiche nur die Schlusspassagen der anderen Rettungen in Lessings Werk: »Ich weiß, daß man noch vieles zur Rettung des Horaz beibringen könnte; ich weiß aber auch, daß
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Text nicht zu Lebzeiten veröffentlicht wurde, kann daraus nicht gefolgert werden, dass es sich um ein Fragment handelt. Aber ein viel gewichtigerer Einwand gegen den Fragmentcharakter der Herrenhuter-Schrift ist ihre inhaltliche Geschlossenheit. So wie der Text mit den unberechtigterweise vorgebrachten Anschuldigungen gegen die Herrenhuter beginnt, so endet er mit deren Entkräftung. Dass für den argumentativen Zwischenteil nichts weniger als eine »Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß«321 bemüht wird, legt auf den ersten Blick nahe, dass die in Andeutungen parallel ausgeführte Geschichte der Religion oder vielmehr der Theologie mit dem Auftreten des Grafen von Zinzendorf nicht beendet sein kann. Zu marginal erscheint diese kleine pietistische Splittergruppe im Vergleich zu den zuvor angestellten Überlegungen. Aber genau sie dient Lessing als Vehikel, um zum Kern seiner religösen Vorstellungen vorzustoßen und diese zu kommunizieren. Die Frage »Was will er denn?«322 kann man mit Lessing übereinstimmend beantworten: ein an der Praxis orientiertes Christentum, denn »[d]er Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen.«323 Die Argumentation ist also in sich geschlossen und die Frage nach dem, was wohl noch hätte kommen
man eben nicht alles erschöpfen muss.« (Rettungen des Horaz, WuB 3, S. 197); »Sollte dieses die Katholiken nicht etwa weit mehr verdrossen haben, als alles das andre? Allein sie waren vielleicht zu klug, um nicht einen anderen Vorwand zu suchen. Ich bitte dieses zu überlegen.« (Rettung des Hier. Cardanus, WuB 3, S. 223); »Doch muß ich nur aufhören, ehe mich die Lust zu Ausschweifungen mehr Beispiele vorzulegen, verleitet.« (Rettung des Inepti Religiosi, WuB 3, S. 243); »[. . . ] und hätte der Herr D. Kraft auch nicht diesen kleinen Ausspruch in Betrachtung ziehen sollen? – Doch genug hiervon.« (Rettung des Cochläus, WuB 3, S. 258). Diesen Ausstieg aus dem Text wird Lessing innerhalb dieser ›Gattung‹ auch weiterhin beibehalten, einige Beispiele seien hier noch angeführt. »Der arme Fontenelle! Aber hatte er diese Lästerung nicht ein wenig um Leibnitzen verschuldet?« (Andreas Wissowatius, WuB 7, S. 581); besonders prägnant ist diesbezüglich das Ende der Berengarius Turonensis, das in direkter Weise auf ein erhofftes weiteres Gespräch drängt. Nach vier aufeinanderfolgenden Fragen ist dort zu lesen: »Ich weiß nicht, ob Sie mich recht verstehen; ich weiß nicht, ob ich etwas frage, worauf man schon längst geantwortet hat: aber ich weiß, daß daraus wenigstens ein Gespräch unter uns werden kann, und daß ich mich auf jedes Gespräch mit Ihnen freue. Leben Sie wohl.« (WuB 7, S. 126). Auch in der Schrift Leibnitz von den ewigen Strafen ist dieses Muster erkennbar. Nach einer Reihe von Fragen kommt die direkte Ansprache an den Leser: » – Oh meine Freunde, warum sollten wir scharfsinniger als Leibnitz, und menschenfreundlicher scheinen wollen als Sokrates?« (WuB 7, S. 501), (alle Hervorhebungen im Original). 321 WuB 1, S. 938. 322 Ebd., S. 945. 323 Ebd., S. 936. Diesen Kampf um die ›innere Wahrheit‹ des Christentums, die vor jeder Verschriftlichung existiert, blieb zeitlebens ein Kerngedanke Lessings. Für die Wolfenbütteler Zeit siehe hierzu Harald Schultze: Lessings Auseinandersetzung mit Theologen und Deisten um die ›innere Wahrheit‹. In: Harris, Edward P.; Schade, Richard E. (Hgg.): Lessing in heutiger Sicht. Beiträge zur Internationalen Lessing-Konferenz Cincinnati / Ohio 1976, S. 179–185.
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sollen, ist falsch gestellt. Sein oberstes Ziel, das schon im vorangestellten Cicero-Motto anklingt,324 nämlich die Gerechtigkeit wiederherzustellen, hat Lessing erreicht und dabei geschickt seine eigenen Überzeugungen mit einfließen lassen. Auch hier wird die vermeintliche Rettung in die Tagespolitik überführt und zugleich ein weiterführendes Programm formuliert. Die Schrift verdient schon aus diesen Gründen eine nicht-marginalisierte, gleichwertige Position innerhalb des lessingschen Werkes.325 Ein zumindest in Teilen ausformuliertes Programm bietet auf den ersten Blick Das Christentum der Vernunft.
Zweiter Exkurs: Das Christentum der Vernunft Ebenso wie die Herrnhuter-Schrift ist die kleine nach Paragraphen geordnete Abhandlung Das Christentum der Vernunft zu Lessings Lebzeiten unveröffentlicht geblieben.326 Trotz Moses Mendelssohn, der in seinen Morgenstunden erzählt, Lessing habe ihm ›gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft‹, also etwa im Jahre 1754, daraus vorgelesen, war man lange geneigt, sie in Lessings späteste Jahre zu datieren – und zwar wegen der bemerkens-
324 »Ich bitte und beschwöre euch, daß ihr die von so viel Unrecht erschütterte und verfolgte Gerechtigkeit an diesem Orte endlich bekräftigen lasset. Cicero, Rede für Publius Quintus«. WuB 1, S. 935, hier zitiert nach der Übersetzung des Kommentars S. 1419. 325 Warum die Schrift unpubliziert blieb, lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Unzweifelhaft ist allerdings, dass sie in das weitere Umfeld der Rettungen von 1754 eingeordnet werden muss. Vielleicht war letztendlich die doch sehr radikale Leugnung der Trinität der Ausschlag, die Abhandlung nicht in den dritten Teil der Schrifften aufzunehmen. Auf der einen Seite darf man die tagespolitischen Umstände gerade zu der Zeit nicht außer Acht lassen. Am 17. Mai 1751 hatte der preußische König die Zensur wieder eingeführt, und Lessings Vetter Mylius war mit seiner satirischen Zeitschrift Der Wahrsager eines der ersten Opfer, vgl. hierzu N, S. 126f., sowie F (2010), S. 83. Dass Lessing Skrupel hatte, sehr deistisch geprägte Gedanken zu veröffentlichen, ist, dies eingedenk, nur zu verständlich. Ein weiterer Umstand, den man ins Spiel bringen kann, ist dem persönlichen Umfeld Lessings geschuldet. Wie schon aus dem Brief an den Vater vom 30. Mai 1749 deutlich wird, gab es auch hier Spannungen, die der immer noch von der Familie finanziell abhängige Lessing bestimmt nicht weiter verschärfen wollte. Die Göttlichkeit Jesu zu leugnen, und sei es auch nur unter Vorbehalt, wäre für den Vater ein untragbarer Affront gewesen, auch wenn dessen Position in Bezug auf die Herrenhuter grundsätzlich »nicht so weit entfernt« war (WuB 1, S. 1418). Es sind nur Spekulationen, aber dennoch hat es nachvollziehbare Gründe gegeben, diese Schrift der engeren und weiteren Öffentlichkeit vorzuenthalten. 326 »Der Text erschien zuerst in Karl Lessings Ausg. des theologischen Nachlasses, 1784 (tatsächlich 1785).« so Jürgen Stenzel im Kommentar: WuB 2, S. 995.
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werten Ähnlichkeit des Fragments mit dem langem Paragraphen 73 über die Dreieinigkeit aus der Erziehung des Menschengeschlechts [. . . ].«327
Es ist das Verdienst von Alexander Freiherr von der Goltz, diese Einschätzung korrigiert zu haben, der 1857 in einem Aufsatz anhand eines Brieffundes zweifelsfrei eine Datierung vor 1754 vornehmen konnte.328 Mit dieser Umdatierung aber ergeben sich, glaubt man der Forschung, mehr Probleme als wenn man die Schrift in das Spätwerk einordnet.329 Die Probleme sind so weitreichend und in ihrer Komplexität tiefgreifend, dass »[d]as Fragment [. . . ] eine sorgfältige und unvoreingenommene Monographie [verdiente], die allerdings erst einmal den philosophischen Horizont des jungen Lessing kritisch zu rekonstruieren hätte.«330 Insofern als dass das Ziel dieser Arbeit auch in der Aufarbeitung des (religions-) philosophischen Hintergrundes des jungen Lessing besteht, kann vielleicht ausgehend von der komplexen Problemlage diesbezüglich ein Beitrag geleistet werden. Der problematische Kernbegriff ist im Christentum der Vernunft der der »einfachen Wesen«. Daran schließt die Frage an, was Lessing denn mit diesen gemeint haben könnte. Die Komplexität der Gedankengänge erlaubt leider kein verkürztes – weil somit auch gleich immer verkürzendes – Referat, so dass hier ausführlich aus dem Desideratsbericht der Frankfurter Ausgabe zitiert werden muss: In einem Verfahren [die Einteilung einer philosophischen Schrift nach Paragraphen wie sie noch bei Leibniz und Wolff gängig war, M. M.], das erst mit der in Lessings Todesjahr 1781 erschienen Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants obsolet geworden ist, entwickelt Lessing in den ersten zwölf Paragraphen aus dem Begriff der Vollkommenheit Gottes die Existenz des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Existenz Gottes selbst wird vorausgesetzt und gilt Lessing offenbar durch die ›Religion der Vernunft‹ – in wessen Fassung auch immer, vor allem in derjenigen von Leibniz und Wolff – als hinreichend erwiesen. Das Fragment ist also als Fortsetzung einer solchen Religion der Vernunft aufzufassen. Die biblische Offenbarung leistet dabei bestenfalls Hilfestellung (›nennt die Schrift‹ heißt es in § 6 und § 10), kann so-
327 Ebd. 328 Alexander Freiherr von der Goltz: Lessing’s Fragment: »Das Christenthum der Vernunft« – eine Arbeit seiner Jugend. In: Theologische Studien und Kritiken 30 (1857), H. 1, S. 56–84. Teile des dort vorgestellten Briefes von Lessings Freund Christian Nikolaus Naumann an den jungen Theologen Theodor Arnold Müller (datiert auf den 1. 12. 1753) sind auch abgedruckt im Kommentar der Frankfurter Ausg. (WuB 2, S. 995f.), D Nr. 72. Naumann war ein guter Bekannter Lessings in der Wittenberger Zeit, wie die Berichte vom ihm über Lessing an Albrecht von Haller bestätigen, vgl. A (2003), Bd. 1, S. 14. 329 Die genauen Umstände der Entstehung, soweit sie zu rekonstruieren sind, und die möglichen Inspirations- und Einflussquellen sowie die weitere Rezeption fasst Jürgen Stenzel ausführlich und übersichtlich zusammen (WuB 2, S. 995–1002). 330 WuB 2, S. 1006.
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gar präzisiert werden (S. 403, 24f.: ›oder welches noch besser sein würde‹); die Hinweise auf das Neue Testament zeigen freilich auch, daß die Ergebnisse der Vernunft mit der Offenbarung übereinstimmen.331
Der Hinweis, den Stenzel hier im Hinblick auf den ontologischen Gottesbeweis in Richtung Leibniz und Wolff lenkt, ist mit Sicherheit nicht falsch, doch setzt Lessing nicht mit diesen beiden Denkern – expressis verbis wird in der ganzen Abhandlung kein einziger Philosoph genannt –, sondern bereits vor ihnen ein. Dieser Umstand ist insofern von herausragender Bedeutung, als dass Stenzel eine durchgängig an leibnizscher Terminologie orientierte Lesart verfolgt, wie im Weiteren gezeigt wird. Im ersten Paragraph ist zunächst noch gar nicht von Gott die Rede: »Das einzige vollkommenste Wesen hat sich von Ewigkeit her mit nichts anderem als mit der Betrachtung des Vollkommensten beschäftigen können.«332 Das ist in der Tradition des klassischen ontologischen Gottesbeweises von Anselm von Canterbury aus gedacht und kann auch so noch für Descartes gelten.333 Eine bestimmte Einschränkung, etwa dass hier eine Trennung von Materie und Seele zu überwinden sei, die der Beweis ja immer mit sich führt, wie es Leibniz mit seinem Modell der Monaden beabsichtigte, ist hier noch nicht zu erkennen. Auch im nächsten Paragraphen findet sich davon keine Spur: »Das Vollkommenste ist er selbst; und also hat Gott von Ewigkeit her nur sich selbst denken können.«334 Die Offenbarung spielt eine noch untergeordnetere Rolle, als Stenzel das herauszustellen versucht. Von ›Offenbarung‹ ist nämlich überhaupt nicht die Rede, sie wird weder in Paragraph sechs335 noch in Paragraph zehn336 erwähnt. Hier scheint der Blick schon allzusehr von der Lektüre der Erziehung des Menschengeschlechts her gelenkt, worin alle diese Begriffe auch tatsächlich verwendet werden, Vernunft und Offenbarung aufeinanderprallen und ins Verhältnis zu-
331 WuB 2, S. 1003. 332 Ebd., S. 403. 333 Siehe hierzu grundlegend: Dieter Henrich: Der Ontologische Gottesbeweis: sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 1960. Sowie Wolfgang Röd: Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie. München 2009. 334 WuB 2, S. 403. 335 § 6: »Dieses Wesen nennt die Schrift den Sohn Gottes, oder welches noch besser sein würde, den Sohn Gott. Einen Gott, weil ihm keine von den Eigenschaften fehlt, die Gott zukommen. Einen Sohn, weil unserm Begriffe nach dasjenige, was sich etwas vorstellt, vor der Vorstellung eine gewisse Priorität zu haben scheint.« Ebd. (Hervorhebungen im Original). 336 § 10: »Zwei solche Dinge sind Gott und der Sohn Gott, oder das identische Bild Gottes: und die Harmonie, welche zwischen ihnen ist, nennt die Schrift den Geist, welcher vom Vater und dem Sohn ausgehet.« Ebd., S. 404 (Hervorhebung im Original).
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einander gesetzt werden, durchaus auch in leibnizscher Manier.337 In den beiden Paragraphen wird »die Schrift«338 lediglich als Explikationsfolie herangezogen und keineswegs wertend betrachtet, sie »nennt«339 einen bestimmten Sachverhalt, ohne diesen aus der ihr zugesprochenen Autorität zu erweisen. Aber weiter in der Ausdeutung Stenzels: So wie Gott, alle seine Vollkommenheiten auf einmal denkend und also schaffend, von Ewigkeit her einen ›Sohn Gott‹ (§§ 5 und 6) schafft (oder nach Naumanns Bericht ›zeugt‹), so schafft er die Welt, wenn er seine Vollkommenheiten zerteilt denkt (§ 4). So entsteht, dem Optimismus Leibnizens gehorchend, ein lückenloses und (vermutlich hier Pope folgendes) gradweise gestuftes, endloses Kontinuum (§§ 13 bis 18).
Jetzt geht es endgültig durcheinander. Also der Reihe nach. In Paragraph drei heißt es: »Vorstellen, wollen und schaffen ist bei Gott eines. Man kann also sagen, alles was Gott sich vorstellet, alles das schafft er auch.« Das ist gerade keine leibnizsche Konzeption – ihr fehlt die für Leibniz konstitutive Komponente der Auswahl unter mehreren Möglichkeiten –, sie tendiert eher in eine spinozistische Richtung, wie Henry Allison anschaulich zeigt und dabei einschränkend bemerkt: »There is some dispute as whether Lessing was already familiar with Spinoza at the time when he wrote this (1753), or whether he was influenced by other thinkers such as Giordano Bruno.«340 Zusätzliche Evidenz für die These Allisons liefert Karl Lessing, der in der Lebensgeschichte seines Bruders davon berichtet,
337 Zum Verhältnis der berühmten Paragraphen 4 und 73 – und deren (scheinbare) Unvereinbarkeit in Bezug auf Vernunft und Offenbarung – in der Erziehung des Menschengeschlechts siehe für einen ersten Überblick im Forschungsdickicht F (2010), S. 473–476. Karl Eibl versucht den von allen Seiten mit spekulativen Lösungsangeboten bearbeiteten Problemzusammenhang mit einem einfachen Blick ins Wörterbuch zu lösen: Karl Eibl: ». . . kommen würde« gegen ». . . nimmermehr gekommen wäre«. Auflösung des ›Widerspruchs‹ von Paragraph 4 und Paragraph 73 in Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 34 (1984), S. 461–464. Eibls Vorstoß blieb in der Forschung allerdings ohne nennenswerte Resonanz. Hugh Barr Nisbet hat mir – nach eigener Prüfung – versichert, dass Lessing ›nimmermehr‹ in allen anderen im Werk nachweisbaren Fällen tatsächlich in der Bedeutung von ›nie‹ verwendet. 338 WuB 2, S. 404. 339 Ebd. 340 Henry E. Allison: Lessing’s Spinozistic Exercises. In: Bahr, Ehrhard (Hg.): Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Beiträge zum Internationalen LessingMendelssohn-Symposium anläßlich des 250. Geburtstages von Lessing und Mendelssohn; veranstaltet im November 1979 in Los Angeles, Kalifornien. Detroit 1982 (Lessing Yearbook / Beiheft, 1979), S. 223–233, hier S. 228. Allison verweist dabei auf Otto Nieten: Lessings religionsphilosophische Ansichten bis zum Jahr 1770 in ihrem historischen Zusammenhang und in ihren historischen Beziehungen. Dresden 1896, S. 31–36.
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dass sich Lessing mit einer Rettung Giordano Brunos eben zur Wittenberger Zeit beschäftigt hat.341 Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob letztlich Bruno oder Spinoza den Anknüpfungspunkt bilden sollen, wichtig bleibt festzuhalten, dass es sich bei diesem Paragraphen um keine spezifisch leibnizsche Position handelt. Das ist der zweite Punkt, der sich nur schwer direkt auf Leibniz’ Philosophie applizieren lässt. Ein dritter kommt im Paragraph vier zum Vorschein, wenn man ihn unvoreingenommen, d. h. nicht mit Leibniz im Hinterkopf, liest. Mit welchem Grund, so kann man fragen, folgert Stenzel aus dem vierten Paragraphen, dass Gott die Welt schafft, »wenn er seine Vollkommenheiten zerteilt denkt«? Er könnte, nimmt man Bezug auf den Paragraphen drei, die Welt auch schaffen, wenn er »alle seine Vollkommenheiten auf einmal« denkt. Dann kommt man aber nicht mehr zurück auf den Begriff der Monade, auf den alles hinauslaufen soll. Auch der direkt folgende Paragraph spricht eher gegen die Lesart Stenzels, dort heißt es: »Gott dachte sich von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit; das ist, Gott schuf sich von Ewigkeit her ein Wesen, welchem keine Vollkommenheit mangelte, die er selbst besaß.«342 Der Begriff der Teilung und des damit einhergehenden angenommenen Kontinuums – »dem Optimismus Leibnizens gehorchend« – wird erst in Paragraph 13 mit dem Begriff des ›Wesens‹ eingeführt. »Alle diese Wesen zusammen heißen die Welt.«343 Diese kann nun unterschiedlich gedacht werden in der Anordnung der Zerteilung. Eine Teilung nach »unendlichen Graden« ist dabei die »vollkommenste Art« (§ 16). Diese Anordnung nach Graden erfolgt unter qualitativen Gesichtspunkten: »Sie [die Wesen in dieser Welt, M. M.] müssen eine Reihe ausmachen, in welcher jedes Glied alles dasjenige enthält, was die untern Glieder enthalten, und noch etwas mehr; welches etwas mehr aber nie die letzte Grenze erreicht.« (§ 17). Das vermag nun zu verwundern. Es gibt demnach entweder einfache und zusammengesetzte Wesen, wobei die Zusammengesetzten in der Rangfolge höher stehen, oder sie sind jeweils singulär, aber in den Graden der Vollkommenheit unterschieden und folgen lückenlos aufeinander. Eindeutig lässt sich das hier nicht bestimmen.344 Fest steht nur, dass das Ende der Reihe, die höchste Vollkommenheit, in beiden Fällen scheinbar nicht erreicht wird. Aus Paragraph 14 aber wissen wir, dass alle
341 Siehe hierzu: KGL, S. 95. Nisbet weist weiter darauf hin, dass Bruno zwei Jahre in Wittenberg gelehrt hat und Lessing somit wieder an einen genius loci, wie auch in den anderen Rettungen, anknüpfen konnte. 342 WuB 2, S. 403. 343 Ebd., S. 405. 344 Folgt man diesem Gedankengang wird es meiner Meinung nach immer schwerer und unplausibler, für die in § 13 erwähnte ›Welt‹ die physische, materielle Welt einzusetzen. Endgültige, weil widerspruchsfreie, Klarheit ist hier schwer herzustellen.
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diese Wesen zusammen »die Welt« heißen.345 Eine materielle Komponente kann also folgerichtig nicht gemeint sein. Wir kommen sonst nie auf die ganze, sprich vollkommene Welt. Im folgenden Paragraph erfährt der Begriff der Reihe eine weitere Spezifikation: »Eine solche Reihe muß eine unendliche Reihe sein, und in diesem Verstande ist die Unendlichkeit der Welt unwidersprechlich.«346 Ist die Unendlichkeit dieser Reihe nun sukzessive oder synchron zu verstehen? Ein weiterer, nicht aufzulösender Widerspruch. Was ist denn nun die Welt? Vielleicht kann der Begriff der ›einfachen Wesen‹, der im Paragraphen 19 eingeführt wird, helfen die Widersprüche zu klären. Für Stenzel stellen sich die weiteren Paragraphen wie folgt dar: Die §§ 19–21 setzen mit den ›einfachen Wesen‹, also den Monaden von Leibniz, gleichsam neu an, um die Vorstellung der Harmonie einfügen zu können (als Harmonie hatten die §§ 9–12 bereits den Heiligen Geist begriffen; der Begriff war durch Leibnizens ›prästabilisierte Harmonie‹ zwischen Seele und Körper vertraut und verfügbar; [. . . ].347
Es steht, so hat es den Anschein, außer Frage, dass mit den ›einfachen Wesen‹ die leibnizschen Monaden gemeint sein müssen. Untermauert wird diese Auffassung in der entsprechenden Notiz im Stellenkommentar, dort heißt es: »einfache Wesen] In der sogenannten Monadologie von Leibniz [. . . ] heißt es in § 1: ›Die Monaden / wovon wir allhier reden werden / sind nichts als einfache Substanzen / woraus die zusammen gesetzten Dinge oder composita bestehen.‹«348 Als Absicherung sollte das nicht reichen. Ein Blick in ein zeitgenössisches Wörterbuch kann nicht schaden: ›Wesen‹, so kann man dort finden, ist keineswegs in eins zu setzen mit Substanz, die Bedeutung ist vielmehr eine ganz andere: Wesen ist
345 Hier gilt es noch eine weitere Abgrenzung vorzunehmen – nämlich gegen den in Christian Wolffs Deutscher Metaphysik definierten Begriff des Wesens, den er in den Paragraphen 33–35 vorstellt. Eine Reihe der Wesen, abgestuft nach Graden der Vollkommenheit, ist in der Konzeption Wolffs nicht vorgesehen. Seine Bestimmung bezieht sich einzig auf die Qualität eines einzelnen »Dinges« als seine Möglichkeit. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, [. . . ]. Magdeburg 1747, hier S. 18f. Siehe hierzu zudem den allgemeinen Überblick, auch im Hinblick auf Lessing, von Gunter E. Grimm: Christian Wolff und die deutsche Literatur der Frühaufklärung. In: Stolzenberg, Jürgen; Rudolph, Oliver Pierre (Hgg.): Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses in Halle (Saale) 4.–8. April 2004. Bd. 1. Hildesheim u. a. 2007 (Gesammelte Werke / Abt. 3, 101), S. 221–245. 346 WuB 2, S. 405. 347 WuB 2, S. 1003. 348 Ebd., S. 1011.
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die deutsche Übersetzung für das lateinische ›essentia‹,349 das sich von der ›substantia‹ gerade dadurch unterscheidet, dass es nicht auf das Leblose abzielt.350 Im Mittelpunkt steht eine ›Sache‹ an sich oder eine ›(all-)gemeine Lehre‹. Blättert man im Wörterbuch weiter, findet man noch einen weiteren aufschlussreichen Eintrag. Wesen, wird auch der Glaube genannt, Ebr. III, 14 weil er nicht eine eitle Meynung und Einbildung, sondern eine gewisse Wissenschaft und Zuversicht ist, die zwar nicht abwesende Dinge actu und in der Tat gegenwärtig machet, denn das hiesse denen Verheißungen Gewalt anthun; sondern da ergreift sie das Gegenwärtige als gegenwärtig, und das Vergangene und das Zukünftige als vergangen und zukünftig; sie ergreifet es aber so gewiß, als wenns actu, in der That, zugegen wäre, weil solches nicht betriegen kan und ihm nichts unmöglich ist.351
Nach dieser Definition wären die ›einfachen Wesen‹ einfache, das soll heißen nicht zusammengesetzte und damit komplizierte, religiöse Überzeugungen. Diese religiösen Überzeugungen, genannt ›Glaube‹, sind keine bloßen Meinungen oder Einbildung, sondern haben ihren Anteil an der Wahrheit, sie können eben »nicht betriegen«. Der Paragraph 19 erhält durch diese Lesart einen Sinn, der nicht auf der breiten Basis von philosophischen Winkelzügen beruht. »Gott schafft nichts als einfache Wesen, und das Zusammengesetzte ist nichts als die Folge seiner Schöpfung.« Könnte es nicht sein, dass das Zusammengesetzte für die religiösen (vielleicht orthodoxen) und auf kirchlicher Dogmatik beruhenden Gedankengebäude und ihre Unzugänglichkeit für den Laien steht? Es wird ja von Lessing in diesem Paragraphen nicht abqualifiziert, sondern vielmehr als Folge der Schöpfung gerade als notwendig erachtet; zunächst einfache Gedankengänge gewinnen an Komplexität. Die im vorausgehenden Paragraphen genannte unendliche Reihe würde dann nicht mehr auf eine lückenlose Kette der Geschöpfe verweisen, sondern auf die unendlich vielen Arten, in denen sich religiöse Überzeugungen manifestieren können. In diese Richtung zielen meiner Meinung nach auch die Paragraphen 16 und 17. Die Vollkommenheiten teilen sich in unendlich viele Grade des »Mehrern und Wenigern«, und »jedes Glied [enthält] alles dasjenige [. . . ], was die untern Glieder enthalten, und noch etwas mehr; welches etwas mehr aber nie die letzte Grenze erreicht.« Jede Überzeugung, ob komplex oder weniger komplex, hat damit Anteil an der Vollkommenheit und so auch an der Wahrheit, die der Überzeugung zukommt. Das Argument gewinnt an Plausi-
349 Zedler, Bd. 55, Sp. 742: »Hier siehet man entweder auf die gemeine Lehre, sonderlich der Scholastiker, oder auf die Sache selbst.« 350 Das Lemma ›Wesen, lebloses‹ verweist weiter auf den Substanzbegriff. Zedler 55, Sp. 767. 351 Zedler 55, Sp. 765 (Hervorhebungen im Original).
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bilität, wenn man den Verlauf der weiteren Paragraphen miteinbezieht. »Es sind wiederum die ›einfachen Wesen‹, die ab § 22 [. . . ] zur Ethik hinleiten.« stellt Stenzel fest. Und hier bin ich erstmals in diesem Zusammenhang völlig gleicher Meinung, natürlich unter der Voraussetzung, dass die ›einfachen Wesen‹ nicht die Monaden, sondern einfache religiöse Überzeugungen sind, die jeder Mensch erreichen kann oder als die eingeborene Idee einer natürlichen Religion ohnehin in sich trägt.352 Von diesem neuen Punkt aus – der universellen Basis einer natürlichen Religion – beginnt Lessing seine weitere Deduktion, die das Gemeinsame über das Trennende stellen will. Der Paragraph 20 bildet hierzu den Auftakt: Da jedes von diesen einfachen Wesen etwas hat, welches die andern haben, und keines etwas haben kann, welches die anderen nicht hätten, so muß unter diesen einfachen Wesen eine Harmonie sein, aus welcher Harmonie alles zu erklären ist, was unter ihnen überhaupt, das ist, in der Welt vorgehet.353
Das Religiöse an sich könnte sich demnach als ausreichend erweisen, zwischen den einzelnen positiven Religionen zu vermitteln, insofern es die allen gemeinsame Basis bildet. Zumal es sich bei den positiven Religionen ausnahmslos um historische Phänomene handelt, die sich jeweils auf einem bestimmten Abschnitt der »unendlichen Reihe« befinden. Für das Christentum führt dies der Paragraph 21 aus: Bis hieher wird einst ein glücklicher Christ das Gebiete der Naturlehre erstrecken: doch erst nach langen Jahrhunderten, wenn man alle Erscheinungen in der Natur wird ergründet haben, so daß nichts mehr übrig ist, als sie auf ihre wahre Quelle zurückzuführen.354
Dass die Menschen, und hier bleibt Lessing bei der genuin christlichen Vorstellung vom Menschen, überhaupt zu dieser Erkenntnis gelangen können, liegt daran, dass sie an der Göttlichkeit teilhaben, wenn auch nur partiell: »Da diese einfachen Wesen gleichsam eingeschränkte Götter sind, so müssen auch ihre Vollkommenheiten den Vollkommenheiten Gottes ähnlich sein; so wie Teile dem Ganzen.«355 Ein letzter Zwischenschritt in der Argumentation ermöglicht es Lessing
352 Auch die einzige Monographie zu Lessings Leibnizrezeption spart Das Christentum der Vernunft aus der Untersuchung aus. Vgl. Bernd Meyer: Lessing als Leibnizinterpret. Ein Beitrag zur Geschichte der Leibnizrezeption im 18. Jahrhundert. Inaugural-Dissertation der Philosophischen Fakultät. Erlangen-Nürnberg. Friedrich-Alexander-Universität 1967. 353 WuB 2, S. 406. 354 Ebd. 355 Ebd.
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nun, sein eigentliches Ziel, die Begründung eines moralischen Wesens zu erreichen. Dies geschieht in Paragraph 23: Zu den Vollkommenheiten Gottes gehöret auch dieses, daß er sich seiner Vollkommenheit bewußt ist, und dieses, daß er seinen Vollkommenheiten gemäß handeln kann: beide sind gleichsam Siegel [!] seiner Vollkommenheiten.
In dieser Passage bringt Lessing den für seine Frühschriften typischen Gedanken ins Spiel, dass letztlich der Primat des Religiösen im Ethischen liegt. Das Ethische ist der Prüfstein jeder Religion. Insofern der Mensch nur bruchstückhaft Anteil an den Vollkommenheiten Gottes hat, kann sein Verhalten auch nicht die gesamte Vollkommenheit in sich tragen, es bleibt immer, gemessen am göttlichen Verhalten, defizitär.356 Dennoch ist es den einfachen Wesen möglich, je nach Stufe ihrer Erkenntnis, die von ihnen eingesehenen Gesetze zu befolgen und sich damit als »moralisches Wesen« zu qualifizieren.357 Die Ableitung eines moralischen Imperativs, wie ihn Lessing in Paragraph 26 mit seinem »handle deinen individualistischen Vollkommenheiten gemäß«358 formulieren kann, ergibt sich aus dem zuvor Ausgeführten beinahe zwangsläufig. Wenn man seinen »individualistischen Vollkommenheiten gemäß« handelt, agiert man aus der je eigenen religiösen Überzeugung heraus, die – es sei nochmals erwähnt – auch jenseits der positiven Religion liegen kann359 und dennoch anteilig an der Wahrheit partizipiert. Genau diese Einschränkung wird im letzten Paragraphen noch einmal eigens expliziert: Da in der Reihe der Wesen unmöglich ein Sprung Statt finden kann, so müssen auch solche Wesen existieren, welche sich ihrer Vollkommenheiten nicht deutlich genug bewußt sind, – [. . . ].360
Diese Aussage beschreibt nichts anderes als den status quo. Die »Wesen« zu Lessings Zeit sind sich »ihrer Vollkommenheit nicht deutlich genug bewußt«. Genau um diesen Umstand kreisen alle religionsphilosophischen Schriften der Jugendjahre. Das Christentum der Vernunft reiht sich ein in die Versuche, die ethi-
356 § 24: »Mit den verschiedenen Graden seiner Vollkommenheit müssen also auch verschiedene Grade des Bewußtseins dieser Vollkommenheiten und der Vermögenheit denselben gemäß zu handeln, verbunden sein.« Ebd. 357 § 25: »Wesen, welche Vollkommenheiten haben, sich ihrer Vollkommenheiten bewußt sind, und das Vermögen besitzen, ihnen gemäß zu handeln, heißen moralische Wesen, das ist solche, welche einem Gesetze folgen können.« Ebd. 358 Ebd., S. 407. 359 Eine einseitige Festlegung auf die natürliche Religion wäre vielleicht vorschnell. 360 WuB 2, S. 407.
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sche Komponente von Religion – auch im Vergleich – fassbar und anschaulich zu machen.361 Ausgehend von den hier angestellten – zugegebenermaßen ebenfalls
361 Mir ist bewusst, dass ich hier mit den Ausführungen Stenzels hart ins Gericht gegangen bin. Dies schien mir unumgänglich, um die notwendige Distanz zu den von Stenzel angenommenen Prämissen zu gewinnen. Die Überlegungen Stenzels sind gewohntermaßen gelehrt und führen, gerade was den ersten Teil der Schrift betrifft, gewichtige und wichtige Beobachtungen ins Feld. An manchen Stellen hat hier vielleicht die große Kenntnis der philosophischen Zusammenhänge der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Kombination mit Lessings teilweise trügerischer Verwendung einzelner, aus unserer Sicht eindeutig besetzter Termini dazu geführt, dass dem Text Überlegungen unterstellt wurden, die nicht intendiert waren. Ich denke, dass man mit der hier vorgestellten Lesart zu konziseren Ergebnissen, vor allem in Hinblick auf den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Lessing-Schriften, kommt und einige der von Stenzel im Kommentar der Klassiker-Ausgabe aufgeworfenen Fragen befriedigend beantworten kann, im Gegensatz zu ihm selbst, wie er freimütig zugibt: »Der letzte Abschnitt, § 27, knüpft noch einmal an § 16 an (die Lückenlosigkeit des Weltkontinuums) und spricht von Wesen, ›welche sich ihrer Vollkommenheit nicht deutlich genug bewußt sind‹. Ob damit die undeutliche Erkenntnis der Sinne gemeint ist, wie der damalige Sprachgebrauch etwa Wolffs oder Baumgartens es nahelegt, bleibe dahingestellt. Anscheinend wollte Lessing hier zu einer Schilderung der Laster übergehen, mithin zum Problemkreis der Theodizee. [. . . ] So fest und entschieden Lessings Paragraphen auftreten, so stark zerfließen doch bei näherem Hinsehen die Konturen ihrer Einzelelemente und ihrer Verknüpfung. Und so gehen denn die Ansichten der Forschung darüber weit auseinander, wo der synkretisch verfahrende Lessing sich an Leibniz und Wolff anlehnt, wo er dagegen eigener ›Sagacität‹ (vgl. WuB 5/I, S. 403) oder anderen Vorbildern folgt; ob mit den ›einfachen Wesen‹ die Monaden oder nur die Seelen gemeint sind; von wem Lessing die Vorstellung eines nicht nur lückenlosen, sondern auch gradweise geordneten Weltkontinuums hat; ob es bei den ›moralischen Wesen‹ von § 25 um die empirischen Menschen oder nur um deren Ideal geht [. . . ]; wie Lessing auf den moralischen Imperativ des § 26 verfallen ist; was den Abbruch der Gedankenreihe verursacht hat und was hätte folgen sollen; und noch über manch andere Probleme.« Den weiteren Einschätzungen Stenzels pflichte ich völlig bei: »Der Name Spinoza sollte, bis zwingende Gründe etwas anderes nahelegen, bei der Erörterung dieses Fragments tunlichst unerwähnt bleiben, auch wenn die Versuchung dazu angesichts ›pantheistischer‹ Vorstellungen übermächtig ist.« Ebenso, und nur dergestalt erwähnenswert, dass es sich um die letzte ausführliche Arbeit zum Christentum der Vernunft handelt, muss Stenzel beigepflichtet werden, dass Hans Leisegangs Arbeit aus dem Jahre 1931 »bei aller eindrucksvollen Gelehrsamkeit von haarsträubender methodischer Unzulänglichkeit und der fixen Idee beherrscht [wird], Lessing habe einem ›monistischen Personalismus‹ angehangen und sei in eine Tradition einzuordnen, die von der abendländischen Mystik zu Hegel führe; Geistesgeschichte im fragwürdigsten Sinne.« (WuB 2, S. 1004–1006), Hans Leisegang: Lessings Weltanschauung. Leipzig 1931. Während der Entstehung dieses Kapitel war eine eingehendere Auseinandersetzung mit den trinitätslogischen Überlegungen in der ersten Hälfte der Schrift noch ein Desiderat. In der Zwischenzeit liegt eine überzeugende Untersuchung von Ralph Häfner vor, deren Ergebnisse zu meinen Überlegungen nicht im Widerspruch stehen. Die Synthese der Ergebnisse kann an dieser Stelle, da die Überlegungen den Kernbereich der Arbeit nur am Rande berühren, nicht weiter vertieft werden. Ralph Häfner: Das Menschengeschlecht im Zeitalter des Heiligen Geistes. Eine Hypothese zu Ur-
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sehr spekulativen – Überlegungen kann man mit dieser Lesart des Christentums der Vernunft auch den oft benannten Widerspruch zur Herrenhuter-Schrift auflösen.362 Die Kernaussage der Mensch sei »zum Tun und nicht zum Vernünfteln« erschaffen, wurde immer als Gegensatz zum Christentum der Vernunft gesehen, als ob Lessing in dieser Schrift gegen seine eigene, wohl erst kurz zuvor aufgestellte Maxime verstoßen würde. Das mag wohl vielleicht noch für den »vernünftelnden« Lessing gelten, für die Aussagen der Texte kann man diesen Vorwurf aber nicht in Anschlag bringen. Zu eindeutig zielen beide auf den gleichen Umstand: Man muss die Religion an ihrer Fähigkeit messen, zu ethischem Handeln anzuleiten. Aufgrund dieser Schlussvolte in beiden Texten, wie auch in vielen anderen des jungen Lessing zu der Zeit, kann man wiederum die Frage stellen, ob es sich bei dem Text tatsächlich um ein Fragment handelt. Der Abbruch mitten im Satz kann als rhetorisches Element aufgefasst werden.363 Zudem liefert die Beobachtung Stenzels einen weiteren Grund zur Skepsis: »Es ist merkwürdig, daß das Fragment an derjenigen systematischen Stelle abbricht, an der auch das Lehrgedicht Die Religion aufhört«.364 Ein kurzer Blick auf dieses Gedicht soll daher den Exkurs beschließen.
Dritter Exkurs: Das Lehrgedicht Die Religion Das Gedicht365 Die Religion wurde in der Forschung oftmals als doppelter Lückenfüller betrachtet. Sowohl der Erstdruck im November 1751 in der Beilage zu den Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen mit dem Titel Das Neueste aus dem Reiche des Witzes sowie die Wiederaufnahme in die Schrifften, dort in der eigens eingerichteten Abteilung ›Fragmente‹, verweise auf »akuten Stoffmangel des jungen Journalisten und Dichters«.366 Selbst wenn man diesen Umstand beiseite lässt, bietet das Gedichtfragment scheinbar wenig Anknüpfungspunkte zu
sprung und Gestalt von Lessings Anthropologie. In: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 126–137. 362 Zu diesem Widerspruch siehe: Stenzel in WuB 2, S. 999; N, S. 181f. 363 Die Gestaltung der jeweiligen Enden in den religionsphilosophischen Schriften wurde bereits thematisiert. 364 WuB 2, S. 1004. 365 Zur Lehrdichtung im 18. Jahrhunder vgl. Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974 (Germanistische Abhandlungen 43). Für den Bereich des Erkenntnisoptimismus und der Erkenntnisskepsis insb. S. 188–193. 366 WuB 2, S. 901.
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den zeitgleich abgefassten Schriften des jungen, vom Optimismus der Aufklärung durchdrungenem Lessing. Zu düster und pessimistisch sind die von einem lyrischen Ich im Gedicht geäußerten Ansichten. Dieses lyrische Ich – wie der Autor selbst ein junger Dichter von gerade zwanzig Jahren – führt an »einem einsamen Tage des Verdrusses« ein Selbstgespräch, in dem »er sich in den Labyrinthen der Selbsterkenntnis zu verlieren scheint.«367 – so verrät es die dem Gedicht vorangestellte Vorerinnerung in Prosa. Diese Beschreibung ist durchaus treffend: Der Mensch, beginnt er wie das lyrisch Ich, einmal mit methodisch angeleitetem Zweifeln, findet keinen Halt mehr. Die Welt stellt sich als durch und durch schlecht dar und er selbst sieht sich zum Sündigen verdammt – trotz besserer Einsicht, was jedem Vernunftoptimismus den Boden entzieht. Selbst der letzte Ausweg, eine Erlösung der sündhaften Menschennatur über den Umweg der Dichtung, scheitert. Ein Notanker ist nicht in Sicht, insofern es keine Gruppe innerhalb der Menschheit gibt, die sich zu entziehen vermag. Bildung und Erziehung zeitigen keinerlei Erfolge, wie sich das lyrische Ich vergewissert: Die gelehrten und gebildeten Stände sind dem »Pöbel« gegenüber nicht im Vorteil, sie vermögen lediglich »die Laster [sinnreich] zu verkleiden.«368 Es ist geradezu zynisch zu nennen, der angenommene Königsweg – die Vernunft – lästert dem Menschen am meisten: »Umsonst lacht die Vernunft, und spricht dem Wunsche [ein lasterfreies Leben zu führen, M. M.]: Tor!«369 Der Leser bleibt nach dem zurückgelegten Weg der Selbsterkenntnis, der noch in der Vorrede als sicherster Weg zur wahren Religion beschrieben wurde, zusammen mit dem lyrischen Ich in »dem Schacht, den ihr stets tiefer wühlet«370 gefangen. Am Grunde dieses Schachtes findet sich nichts als die »schwärzern Laster«,371 sie sind es, die übrigbleiben. Wie kann man diesem Albtraum nun begegnen, wenn man, wie die Schlussverse des Gedichtes nahelegen wollen, dem Schöpfer nicht die Schuld am Übel in der Welt geben will?372 In der Forschung haben sich drei Positionen herauskristallisiert. Die erste Lesart nimmt den Fragmentcharakter des Gedichtes ernst. Die
367 WuB 2, S.264. 368 Ebd., S. 275, Z. 6. 369 Ebd., Z.18f. 370 Ebd., Z. 37f. 371 Ebd., S. 276, Z. 2. 372 Die letzten vier Verse lauten: »Pandorens Mordgefäß, woraus das Übel flog, Im Fluge wachsende durch beide Welten zog! Es wäre Lästerung, Dir Gott zum Schöpfer geben! Lästerung, ist Gott ein Gott, im Tode unvergeben etc.« Ebd., S. 276.
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editorische Notiz des Herausgebers (der hier natürlich identisch mit dem anonymen Dichter ist) verspricht schon für die Dezemberausgabe der Beilage eine Fortsetzung, die den im ersten Teil religionskritischen dargebrachten Äußerungen Positionen entgegensetzen wird. Dazu kommt es freilich nicht. »Weiter jedoch als bis zur Darstellung des moralischen, intellektuellen und somatischen Elends ist das Fragment wahrscheinlich nicht gediehen,« – so vermutet Jürgen Stenzel – »obgleich Lessing – aber auch erst 1753 – versichert, er habe sechs Gesänge ›größtenteils [. . . ] ausgearbeitet‹, Zeitmangel habe die Vollendung verhindert«.373 Das Gedicht bleibt also unabgeschlossen. Hier sei an die Einschätzung Stenzels zu Das Christentum der Vernunft erinnert, dass Die Religion an der gleichen »systematischen Stelle abbricht«.374 In beiden Texten scheint es Lessing nicht zu gelingen, nach der Darstellung des Problems der Theodizee auch eine tragfähige Lösung dafür anzubieten. Dies müsste umso mehr verwundern, da Lessing ja, als ein Schüler Leibniz’ im Geiste ein elaboriertes und breit ausformuliertes Angebot zur Verfügung gestanden hätte. Entweder hielt er es für ungenügend oder aber das Lehrgedicht zielt auf anderes. Hugh Barr Nisbet widerspricht der Einschätzung, dass Lessing jemals eine Fortsetzung im Sinn gehabt habe. Das Fragment gibt sich nur als solches, es hält sich an ein zu vertrautes literarisches Muster [. . . ]. Das poetische Fragment als bewußter Kunstgriff für die Erörterung religiöser Zweifel oder ketzerischer Meinungen (normalerweise wie hier bei Lessing von der Versicherung begleitet, daß solche Zweifel in einer geplanten, aber noch ungeschriebenen Fortsetzung widerlegt würden) – das kannte man schon von Hallers ›Unvollkommenem Gedicht über die Ewigkeit‹ und von anderen Dichtern wie Johann Heinrich Oest und auch von Lessing selbst; und überhaupt ist der seelische Kampf mit religiösen Zweifeln ein Thema, das in der deutschen Lehrdichtung immer wiederkehrt.375
Nisbet wehrt sich ferner dagegen, »dieses Gedicht als den autobiographischen Ausdruck einer religiösen Krise zu lesen.«376 Es geht vielmehr um eine »religiöse Frage [. . . ], auf die Lessing (wie auch mehrere Figuren in seinen Dramen) an verschiedenen Stationen seines Lebens zurückkommt, nämlich die Frage der Theodizee und des Risikos der Misanthrophie, das leicht mit ihr Hand in Hand geht.«377 Das ethische Moment – wie kann ich meinen Mitmenschen begegnen – scheint hier zentraler zu sein als ein Lösungsangebot für die Frage nach dem Übel
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WuB 2, S. 901. WuB 2, S. 1004. N, S. 154. N, S. 153. N, S. 153f.
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in der Welt. Das ganze Gedicht kreist nicht um ein Gottesbild oder die Rechtfertigung Gottes im Angesicht all der Übel – dieses Moment kommt, wie erwähnt, erst in der Schlussvolte –, sondern um die Stellung des Menschen in dieser Welt. Gesucht wird eine verlässliche Handlungsanleitung.378 Die letzte Lesart in der Forschung zielt auf ein anthropologisches Erklärungsmuster. Zwei wesensgleiche Ansätze kommen dabei aber zu unterschiedlichen Ergebnissen. Monika Fick stellt die These zur Debatte, dass die »›Selbsterkenntnis‹ von Lessings Rollen-Ich [. . . ] weder zur Kapitulation vor der Triebnatur noch zur Emanzipation der Vernunft [führt]; vielmehr wird das Hinabtauchen in den finsteren Abgrund der Seele als solches unter Melancholie-Verdacht gestellt und damit problematisiert.«379 Das Gedicht stellt eine Absage an die »lutherische Sündentheologie und die Lehre von der Knechtschaft des Willens (unter das Böse)«380 dar. Für Lessing – so Fick – war diese Position nicht haltbar und sie wird deshalb dem dichtenden lyrischen Ich in der Phase tiefster Melancholie unterstellt.381 Eben durch diesen Umstand ist dieses nur teilweise zurechnungsfähig, mit der Melancholie geht immer auch ein gewisser Grad an Realitätsverlust einher. »Die Ausweglosigkeit des Dilemmas ›klärt‹ sich als Ausdruck einer Depression.«382 Lessing würde demnach hier im spielerisch frei verfügbaren Raum der Poesie ein krankes Subjekt vorstellen, das zwar unter den Vorzeichen der Vernunft handelt, aber in seinen Schlüssen zu weit geht. Gott eine solche Schlechtigkeit zu unterstellen, wie es im Gedicht geschieht, wäre nicht mehr als eine »melancholische Obsession«,383 die den Weg einer am Fortschrittsoptimismus orientierten Aufklärungsanthropologie nicht verstellt. »Was als Erkenntnis bleibt – [. . . ] –, ist die Mischung von Gut und Böse, die für Lessing die conditio humana ausmacht; [. . . ].«384 Die Ambivalenz, zu sündigen und doch gleichzeitig die Sünde zu has-
378 Nisbet verfolgt die Motivation Lessings für dieses Lehrgedicht nicht weiter, sondern konzentriert sich auf die eine Einordnung in den weiteren Werkzusammenhang unter biographischen Gesichtspunkten. Dabei wird aber der vorausweisende Charakter dieses Gedichtes auf die Wittenberger Zeit und die dort entstehenden Schriften deutlich herausgestellt. 379 F (2010), S. 113. 380 Ebd. 381 Die Argumentation lehnt sich dabei an die Ausführungen Hans-Jürgen Schings an. HansJürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. 382 F (2010), S. 114. 383 Ebd. 384 Ebd. (Hervorhebung im Original).
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sen,385 die zum Ende des Zweifels stehen bleibt, zielt in erster Linie auf die Verfassung des Menschen, weniger aber auf den eigentlichen Gegenstand des Gedichtes, der – nimmt man die Überschrift ernst – Die Religion sein soll. Dazu gleich mehr – vorher eröffnet ein letzter Blick in die Forschungsliteratur den Kontext des Gedichtes. Die ausführlichste Studie zum Thema hat jüngst Barbara Mahlmann-Bauer vorgelegt. Der Titel weist schon die Richtung, auf die die Fragestellung abzielt: Lessings Fragment ›Die Religion‹ und das Saatgut, das in ›Die Erziehung des Menschengeschlechtes‹ aufgegangen ist.386 Die Ausgangsfrage lautet: »Gehörten die Relativierung aller positiven Offenbarungen und das Postulat, das Gute aus vernünftiger Einsicht zu tun, schon zum intellektuellen Grundgepäck des jungen Lessing?«387 Den ersten Teil der Frage muss man bejahen, für den zweiten Teil gibt Mahlmann-Bauer eine Antwort, die doppelt in die Zukunft weist. Für den jungen Lessing wäre es ein wünschenswerter Zustand gewesen, »das Gute aus vernünftiger Einsicht zu tun«, die argumentativen Angebote, die in der Zeit vorhanden waren, vermochten ihn jedoch sämtlich nicht zu überzeugen, wie es den Anschein hat. So kann Mahlmann-Bauer konzise und überzeugend herausarbeiten, von welchen Konzepten sich Lessing in seinem Lehrgedicht abzugrenzen versuchte. Die bisherige Spurensuche nach Vorbildern führte, ähnlich wie im Fall Das Christentum der Vernunft, immer nur zu partiell befriedigenden Ergebnissen, die einige dunkle Passagen des Gedichtes zu erhellen vermochten, in ihrer Gänze aber nie hinreichend integriert werden konnten.388 Ein eigenes Konzept entwickelte Lessing zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht, das sollte das Programm der weiteren Lebens- und Schaffensjahre werden, beginnend beim Faust-Drama bis hin zur Erziehung des Menschengeschlechts. Und auch dort, dies als zweiter Verweis auf die Zukunft, stellte sich die Bildungsidee als ein Konzept heraus, das über die Zeitspanne eines einzelnen Lebens hinaus als langer historischer Pro-
385 »[. . . ] – – Nichts hab ich mehr entdeckt, Wann ich auch eins vor eins, die Mustrung gehen lasse, Als daß ich sündige, und doch die Sünde hasse.« WuB 2, S. 276, Z. 3–6. 386 Barbara Mahlmann-Bauer: Lessings Fragment »Die Religion« und das Saatgut, das in »Die Erziehung des Menschengeschlechts« aufgegangen ist. In: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 27–72. 387 Ebd., S. 29. 388 Im Einzelnen werden folgende Konzepte näher unter die Lupe genommen: Leibniz’ Theodizee (S. 41–43), Albrecht von Hallers Lehrdichtung (S. 43–49), Louis Racines Gedicht La Religion und das Erbe Pascals (S. 49–58) sowie Spaldings Die Bestimmung des Menschen [1748] (S. 58–64).
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zess angelegt ist. Erst in dieser Perspektive kann die Offenbarung oder, allgemeiner gesprochen, die Religion zur Erziehung beitragen. In dem frühen Gedichtentwurf ist diese Möglichkeit noch nicht zu finden und so muss das Projekt einer Besserung des Menschen qua Religion verneint werden. Im Folgenden soll noch einmal ein Schritt zurück getreten werden, und nicht so sehr auf Vorbilder und Wirkungen eingegangen werden, sondern stärker auf den Text selbst und dessen Gestalt. Ausgehend von der Tatsache, dass hier Lessing in der Vorerinnerung – für den zeitgenössischen Leser vielleicht nicht unbedingt einsichtig – als Herausgeber seines eigenen Gedichtes in Erscheinung tritt, darf dieser die Funktion einer gewissen Leserlenkung unterstellt werden. Gleich zu Beginn, nach einer kurzen vorausgeschickten Apologie des Dichters, werden das Thema und die näheren Umstände der Abfassung benannt: Der erste Gesang ist besonders den Zweifeln bestimmt, welche wider alles Göttliche aus dem innern und äußern Elende des Menschen gemacht werden können. Der Dichter hat sie in ein Selbstgespräch zusammengenommen, welches er, an einem einsamen Tage des Verdrusses, in der Stille geführt.389
Dieses Szenario ist selbstredend topisch. Man muss sich nur die Eingangspassage von Descartes’ Meditationen vor Augen führen, um die Parallelität festzustellen: Ich hatte schon vor mehreren Jahren bemerkt, wie viel Falsches ich in meiner Jugend für wahr gehalten hatte, und wie zweifelhaft alles war, was ich darauf erbaut hatte. Ich meinte deshalb, daß im Leben einmal alles auf den Grund umgestoßen und von den ersten Fundamenten ab neu begonnen werden müßte, wenn ich irgend etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aufstellen wollte.390
Nun liegt es in der Natur des methodisch angeleiteten Zweifels, dass er zwei mögliche Richtungen in sich birgt. Zweifel, der wie im Falle Descartes auf ein erstes, festes und nicht weiter bezweifelbares Fundament abzielt und die Variante des pyrronhischen Zweifels, der jegliche Form von wahrem Wissen oder Erkenntnis gänzlich ausschließt.391 Zieht man in Betracht, um welche Textsorte es sich
389 WuB 2, S. 264. 390 René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie [EA 1641]. Nach der Ausg. von Johann Hermann von Kirchmann bearb. von Heinz-Jürgen Steffen. Essen 1996. 391 Die Literatur zum Phänomen ›Skeptizismus‹ respektive ›Zweifel‹ und den jeweils möglichen Ausformungen in der Frühen Neuzeit ist kaum mehr zu überblicken. Stellvertretend seien hier nur einige grundlegende bzw. für den hier einschlägigen Fall relevante Arbeiten genannt: Popkin, Richard H.; Vanderjagt, Arjo (Hgg.): Scepticism and irreligion in the seventeenth and eighteenth centuries. Leiden u. a. 1993 (Brill’s studies in intellectual history 37); zur Vorgeschichte vgl. immer noch grundlegend: Popkin (2003); für die Mitte des 18. Jahrhunderts und die Wir-
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hier handelt, verbietet sich die letztgenannte Variante des Zweifels von selbst. Ein Lehrgedicht des Nihilismus war, wenngleich als postmoderne Spielerei eine sicherlich reizvolle Aufgabe, in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht denkbar.392 Darüber dürfte Konsens herrschen. Demnach begibt sich der Dichter auf die Suche nach einem festen Fundament. Wofür? Die Religion – wie der Titel verrät. Gesucht wird also ein Fundament der Religion, von dem aus sich gerechtfertigte Schlüsse ziehen lassen und auf dem ein Gebäude393 errichtet werden kann. Dementsprechend ist der Gegenstand »die Religion überhaupt, nicht [. . . ] die einzig wahre Religion«.394 Verdeutlicht wird diese Suche auch in der Bildsprache des Gedichtes: Das lyrische Ich findet sich gegen Ende in einem »Schacht«, wo die ursprüngliche »Neugier [. . . ] sich in melancholisch Grauen [kehret].«395 Hilfe ist dort nicht mehr zu erwarten, das Licht einer aufgeklärten Theologie – um im Bild zu bleiben – scheint nicht bis dorthin. Die vorformulierten Lösungsangebote bieten weder Halt noch Erklärung oder Trost. Auf den ersten Blick ist die Aufforderung umso erstaunlicher, die in den folgenden Versen artikuliert wird: Doch bleibt nur in dem Schacht, den ihr stets tiefer wühlet, Je näher ihr den Feind, die Selbsterkenntnis, fühlet. Ihr schwärzern Laster, bleibt! Was die Natur versteckt, Zieh Unsinn an das Licht! – Nichts hab ich mehr entdeckt, Wann ich auch eins vor eins die Mustrung gehen lasse, Als daß ich sündige, und doch die Sünde hasse.396
Die Laster erfüllen zumindest in dieser Konstellation, am Grund des Schachtes, eine Funktion: dort sollen sie auch bleiben. Sie sind der Wetzstein der Selbsterkenntnis, zu der sich das lyrische Ich durchgekämpft hat.
kung Descartes siehe: Sikander Singh: Gellert und Descartes. Zwei Kapitel zur Begriffsgeschichte des Zweifels im Zeitalter des Skeptizismus. In: Heinz, Jutta; Ilbrig, Cornelia (Hgg.): Literatur und Skepsis in der Aufklärung. Hannover 2009 (Wezel-Jahrbuch 10/11 (2007/08)), S. 39–56; für Lessings Spätwerk siehe Thomas Berger: »Grenzvernunft« und Theodizee – Zum Verhältnis von Skepsis und Heilsgewissheit in Lessings Spätwerk. In: ebd., S. 195–219; einen allgemeinen Überblick für die Aufklärungsperiode bietet Kevin F. Hilliard: Der Skeptizismus in der deutschen Aufklärung und die literarischen Folgen. In: German Life and Letters 62 (2009), H. 1, S. 7–20. 392 Was passiert, wenn man sich einer solchen Position annähert, und La Mettries dezidierter Materialismus ist nicht allzuweit davon entfernt, wird an den Reaktionen deutlich. Lessing in jedem Fall distanziert sich deutlich davon, wie oben gezeigt. 393 Das ist ohne eine sichere Basis eben nicht möglich. Wenn es doch versucht wird, endet es in Hochmut: »Dem Irrtum in dem Schoß, träumt er von Lehrgebäuden, / Und kann, stolz auf den Traum, kein wachsam Zweifeln leiden.« WuB 2, S. 267, Z. 12f. 394 WuB 2, S. 264. 395 Ebd., S. 275. 396 Ebd., S. 276.
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Was bleibt also, wenn man – dem Titel folgend – der Religion auf den Grund geht? Am Ende, nachdem man von allem anderen abstrahiert hat, steht ein moralisches Urteil, die Unterscheidung zwischen Sünde und Nicht-Sünde. Ohne alle Anleitung, vermag der Mensch diese Entscheidung zu treffen. ›Gut und Böse‹ – ganz gleich wer im Sinne der Theodizee letztendlich dafür verantwortlich ist – bleibt eine stabile Unterscheidungsmöglichkeit für den Menschen. Vielmehr konstituiert den Menschen dieses Vermögen erst als solchen. Der Hinweis für diese Lesart wird schon in der Vorerinnerung gegeben. In extrem pointierter Weise soll der Rückgang, den das skeptische Verfahren nimmt, nicht wie gewöhnlich bis zu den ersten Erkenntnissen gehen, sondern »[m]an gehe auf den ersten Tag seines Lebens zurück.«397 Dort entdeckt man, soweit noch ganz in der allgemeinen Topik der Zeit, »[e]ine mit dem Viehe gemeinschaftliche Geburt; ja, unser Stolz sage was er wolle, eine noch elendere. Ganze Jahre ohne Geist, ohne Empfindung, folgen darauf, [. . . ]«.398 Die Wende kommt nun mit der eigentlichen ›Menschwerdung‹, in der gängigen Vorstellung bleibt die Doppelexistenz des Menschen zwischen Tier und Engel lebenslang erhalten, als zwei Seiten einer Medaille. Lessing dreht das Konzept geradezu um, das Laster, eigentlich dem viehischen Teil in uns zugeordnet, macht uns überhaupt erst als Menschen erfahrbar: [D]en ersten Beweis, daß wir Menschen sind, geben wir durch Laster, die wir in uns gelegt fanden, und mächtiger in uns gelegt fanden, als die Tugenden. Die Tugenden! Vielleicht ein leerer Ton! Die Abwechslung mit den Lastern sind unsere Besserungen; Besserungen, die die Jahre wirken, die ihren Grund in der Veränderung unserer Säfte haben.399
Die Tugenden sind in der Darstellung Lessings die schwerer und weitaus seltener erfahrbaren Brüder des Lasters, die beide doch gerade dadurch geschwisterlich verbunden sind, dass sie die möglichen, aber nie ganz einfach zu bestimmenden Seiten eines moralischen Urteils sind. Erinnert sei an dieser Stelle an Lessings Faust-Fragment, in dem der Gelehrte auf der Suche nach dem schnellsten Höllengeist, demjenigen den Zuschlag erteilt, der so schnell ist, wie der »Umschlag
397 Ebd., S. 264. 398 Ebd. Man denke nur an das in der Forschung zu Lessings Text immer wieder anzitierte »Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh!« aus dem Lehrgedicht Albrecht von Hallers Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben [1729]. In: Haller, Albrecht von: Die Alpen und andere Gedichte. Auswahl und Nachwort von Adalbert Elschenbroich. Stuttgart: 2004 (RUB 8963), S. 23– 37, hier S. 24. Ausführlicher hierzu F (2010), S. 111ff; zuletzt versuchte Barbara Mahlmann-Bauer die bisher weitestgehend nivellierten Unterschiede zwischen den beiden Dichtern herauszuarbeiten. Mahlmann-Bauer (2011), S. 43–49. 399 WuB 2, S. 264f.
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vom Guten zum Bösen«.400 Dass mit der Faust-Figur wenig später ein Gelehrter diese Einsicht vertreten wird, ist im Gedicht und auch in der Vorerinnerung noch nicht abzusehen.401 Hier stehen der Pöbel und die Gelehrten noch auf einer Stufe: »Wer ist von diesem elenden Lose ausgenommen? Auch nicht der Weiseste. Bei ihm herrschen die Laster nur unter schönern Larven, und sind, wegen der Natur ihrer Gegenstände, nur minder schädlich, aber ebenso stark, als bei der verworfensten Seele aus dem Pöbel.«402 Das Allgemein-Menschliche ist die Fähigkeit, ein moralisches Urteil zu fällen, dabei spielen religiöse Überzeugungen, der Stand an Gelehrsamkeit oder Wissen und alle weiteren denkbaren Faktoren keine Rolle. Zwischenmenschliche Beziehungen dienen als die einzige Richtschnur, der Umgang mit anderen wird zum zentralen Element. Es liegt in der Natur des Menschen, das Laster oder die Sünde zu erkennen und damit moralisch handeln zu können. Die primäre Erkenntnis des lyrischen Ichs in Die Religion deckt sich exakt mit dem vorletzten Paragraphen des Christentums der Vernunft: »Dieses Gesetz ist aus ihrer [der ›moralischen Wesen‹ M. M.] eigenen Natur genommen, und kann kein anderes sein, als: handle deinen individualistischen Vollkommenheiten gemäß.«403 Mit diesem ›Rüstzeug‹ an religionsphilosophischen oder religionskritischen Anschauungen im Gepäck, klopfte Lessing an die Tore der alten Lutherstadt Wit-
400 Zum Zusammenhang zwischen dem Faust-Fragment und den religionsphilosphischen Schriften Lessings siehe Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den »Rettungen«, zum »Faust«-Fragment, zu der Schrift über »Leibnitz von den ewigen Strafen« und zur »Erziehung des Menschengeschlechts«. In: Euphorion 100 (2006), H. 3, S. 359–393. 401 Auch Barbara Mahlmann-Bauer äußert sich dahingehend, dass mit dem Faust-Fragment ein Lösungsansatz erarbeitet wird, der hier noch nicht angelegt ist: »Lessings Faust-Plan setzt dort ein, wo das Fragment Die Religion abbricht, nämlich mit der moralischen Entlastung des Ausnahmemenschen und der Projektion seiner Schuld auf drei Teufel.« In: Mahlmann-Bauer (2011), S. 65. Noch einen Schritt weiter, bis zur Spätschrift Leibniz von den ewigen Strafen, verfolgt Friedrich Vollhardt die weitere Entwicklung in Lessings Denken und kommt zu dem Schluss: »Die Suche nach der Übereinstimmung von Sein und Sollen führt über die Aufhebung der Trennungen, in der Begrifflichkeit der Tradition gesagt: die Relativierung der Bereiche von Gut und Böse, Tugend und Laster.« Vollhardt (2006), S. 386f. Von einer Relativierung kann hier noch nicht die Rede sein, dies scheint sich erst im Zuge der weiteren Jahre herauszukristallisieren. In Die Religion werden Tugend und Laster nur insofern in eins gesetzt, als dass sie die mögliche Projektionsfläche für ein moralisches Urteil bilden und somit als funktionsäquivalent gelten können. Insofern würde ich der oben angeführten Darstellung Monika Ficks zu diesem frühen Zeitpunkt in Lessings Schaffen widersprechen: »Was als Erkenntnis bleibt – [. . . ] –, ist die Mischung von Gut und Böse, die für Lessing die conditio humana ausmacht; [. . . ].« F (2010), S. 114. Die conditio humana ist vielmehr das Dasein als ein ens morale. 402 WuB 2, S. 265. 403 WuB 2, S. 407 (Hervorhebung im Original).
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tenberg und fand dort den Ineptus religiosus in der Bibliothek. Dass Lessing diesen Text allen Ernstes für eine satirische Schrift eines orthodoxen Theologen gehalten hat, wie seine Rettung vorgibt, scheint vor dem Hintergrund der hier diskutierten Positionen nicht mehr sehr wahrscheinlich. Aber der Reihe nach: Ich werde mich der Schrift in vier Schritten nähern, nach einem Blick auf Johann Vogt, gegen den sie gerichtet ist, wird möglichen Kongruenzen der Ineptus-Schrift mit Lessings eigenen religionsphilosophischen Überzeugungen nachgegangen. Im Anschluss soll erneut die Verfasserfrage und die Frage nach der Funktion der Zuschreibung gestellt werden. Ein Blick auf das Ende der Rettung und die dort genannten Namen, die als Schlüssel für die Lektüre angesehen werden können, schließt das Kapitel ab.
4.4.1 Der Opponent – Pastor Johann Vogt und sein Catalogus historico-criticus librorum rariorum von 1747
Schon der Rettung des Hier. Cardanus diente eine Einschätzung des protestantischen Predigers Johann Vogt als dankbarer Einstieg. Auch »[d]iese ganze Rettung wird wider den Herrn Pastor Vogt gerichtet sein;« – so Lessing gleich zu Beginn seiner Abhandlung – »oder vielmehr sie wird diesem Gelehrten Gelegenheit geben, sich eines Umstandes wegen zu erklären, welcher, wenn er ihm erst nach seinem Tode sollte zur Last gelegt werden, seiner Aufrichtigkeit einen ziemlichen Stoß geben könnte.« Für dessen Verdienste hatte Lessing dem eigenen Bekunden nach »alle Hochachtung; ja eben diese Hochachtung ist es, welche mich, diesen Schritt zu tun, bewegt.«404 Johann Vogt wurde am 5. August 1695 in Beverstädt (»im Bremischen«) geboren, studierte in Stade, Bremen und Wittenberg und wurde 1719 Prediger zu Horneburg im Herzogtum Bremen. Ab 1733 bekleidete er die Stelle eines Pastors am königlichen Dom zu Bremen. Er starb am 28. August 1764.405 So viel lässt sich zur Person noch vergleichsweise leicht in Erfahrung bringen. Mit seinen das Predigeramt begleitenden Publikationen weist er sich grosso modo als Vertreter der zweiten oder dritten Reihe der lutherischen Orthodoxie aus.406 Johann Vogt war aber, und nur in dieser Eigenschaft war er
404 WuB 3, S. 224 (Hervorhebung im Original). 405 Alle Informationen aus: [Art.] Vogt (Johann). In: Meusel, Johann Georg (Hg.): Lexikon der vom Jahre 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller. Leipzig 1802–1816, Bd. 14, S. 276– 278. 406 Ebd. findet sich auch eine ausführliche Bibliographie seiner Schriften. Der Eintrag im Zedler liefert weniger Informationen, auch die Bibliographie ist weniger vollständig (siehe Zedler 50, Sp. 277f.). Eine kleine, aber repräsentative Auswahl sei hier genannt. Neben einigen Leichen-,
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für Lessing von herausragendem Interesse, ein Bibliophiler und Sammler ersten Ranges. Eine nähere Beschäftigung mit dieser Personalie und ihrem unmittelbaren Umfeld ist daher dringend geboten. Mit Johann Vogt haben wir eine Person vor uns, die bislang durch die Maschen der Geschichtsschreibung gerutscht ist.407 Bis auf wenige Hinweise in zwei einschlägigen Lexika des frühen 19. Jahrhunderts ist er ein Unbekannter.408 Auch dort erfahren wir nur wenig mehr als seinen unmittelbaren Werdegang. Allerdings lassen sich die Hinweise verdichten, dass er schon bald, nachdem er 1733 eine Anstellung als Pastor am königlichen Dom St. Petri zu Bremen erhalten hatte, zu einer wichtigen und vor allem gut vernetzten Figur im geistigen Leben der Hansestadt wurde. Er kam mit denkbar guten Voraussetzungen dort an. Der Sohn eines lutherischen Pastors durchlief eine solide Ausbildung. Nach dem ersten Unterricht durch den Vater und einem extra bestellten Lehrer für Hebräisch besuchte Vogt ab 1712 das Gymnasium in Stade, wo er vornehmlich Theologie studierte. Ab 1715 wechselte er auf die Universität und setzte seine theologischen Studien in Wittenberg fort.409 Er befand sich also zur gleichen Zeit in Wittenberg wie Lessings Vater und teilte seine Lehrer mit diesem. Beide machten im gleichen Jahr ihren Abschluss. Und noch ein weiterer Kandidat der Theologie, der in Gotthold Ephraim Lessings Leben eine entscheidende Rolle spielen sollte, war zu eben dieser Zeit zugegen: ein gewisser Hermann Samuel Reimarus.410 Es ist wohl keine zu kühne Spekulation, anzunehmen, dass sich die drei Genannten kannten.
Ab- und Antrittspredigen (Predigt vom rechten und wahren Christentum, Stade 1721; Predigt von dem Gerichte Gottes über die Verstockten, Stade 1724; Predigt über das starke Geschrey des sterbenden Jesu, Stade 1729; u. a.) findet sich unter seinen Schriften einiges zur Lokalgeschichte (Bremen und Horneburg), sowie mehrere schmalere Traktate (Nöthige Einkehrung in sich selbst, aus den jährlichen Evangelien, Lemgo 1731; Die Erkenntnis Gottes und unseres Heils, Bremen 3 1760). Zusammenfassend kann man wohl behaupten: Die gewöhnliche schriftstellerische Tätigkeit eines nicht gerade herausragenden protestantischen Pastors der Zeit. 407 Auch die umfassende Darstellung des Bremer Geisteslebens von Andreas Schulz kennt Johann Vogt nicht. Siehe hierzu Andreas Schulz: Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen 1750–1880. München 2002 (Stadt und Bürgertum 13). 408 Neben dem bereits erwähnten Artikel bei Meusel handelt es sich um Heinrich W. Rotermund: [Art.] Vogt, Johann. In: Lexikon aller Gelehrten, die seit der Reformation in Bremen gelebt haben, nebst Nachricht von gebohrnen Bremern, die in andern Ländern Ehrenstellen bekleideten. 2 Bde. Bremen 1818, hier Bd. 2, S. 231–233. 409 Er hörte dort unter anderen – das ist durch die auf ihn gehaltene Leichenpredigt verbürgt – die Vorlesungen des Philosophen Johann Wilhelm Bergers, des berühmten Theologen Martin Chladni und die Veranstaltungen Johann Hermann von Elswichs und Johann Wilhelm Jahns, um nur einige zu nennen. Man kann sich ein recht genaues Bild über Vogts akademische Sozialisation machen. 410 Für diesen Hinweis bin ich Christoph Bultmann sehr zu Dank verpflichtet.
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Die theologische Fakultät war vergleichsweise übersichtlich. Aber zurück zu Johann Vogt: 1718 wurde er zunächst Hofmeister der Kinder Eberhardt Ludwig von Schlafs, Hannoverischer Resident und Kaufmann in Hamburg. Ab 1719 bekleidete er das Amt des Pastors in Horneburg, bevor er 1733 nach Bremen weiterzog. Schon in dieser frühen Phase trat Vogt mit einigen Schriften in Erscheinung, darunter auch die erste Fassung seines Catalogus – dazu gleich ausführlicher. Neben einigen historischen Abhandlungen zu einzelnen Aspekten der Theologiegeschichte und Arbeiten zur Lokalhistorie fällt ein erster Versuch einer »Bibliothecae« ins Auge.411 Die produktivere Zeit sollte aber erst in Bremen beginnen, als Vogt in ein intellektuelles Klima eintrat, das seine Versuche begünstigte und wo er offenbar gefördert wurde.412 Im Umkreis des Domes und des Bremer Gymnasiums, mit seiner zu der Zeit zwar reichlich unsortierten, aber umfangreichen Bibliothek,413 bildete sich ein Zirkel an Bibliophilen und Gelehrten heraus, die die Jagd nach seltenen Büchern und anderen Kuriositäten kultivierten. Eine der Zentralfiguren in diesem Spiel scheint der Professor für Beredsamkeit und Philologie Johann Philipp Cassel (1707–1783) gewesen zu sein. Er war es auch, der federführend zusammen mit zwei Kollegen die Stadt- und Ratsbibliothek in Bremen ordnen sollte. Die Gutachten monierten in erster Linie die schlechte Katalogsituation: »Allen drei Gutachten ist gemein, dass sie den Bibliotheksbestand nicht nur für veraltet und antiquarisch erachteten, sondern den mangelhaften Zustand beanstandeten. Alle drei verwiesen auf eklatante Ansetzungsfehler, besonders bei anonymen Titeln, [. . . ].«414 Cassel erwies sich als intimer Kenner der Bremer Bibliothekslandschaft mit ihren zahlreichen privaten, exquisit bestückten Gelehrtenbibliotheken415 – eine Situation, die sich wohl nicht zufällig zur gleichen Zeit
411 Johann Vogt: Bibliotheca historiae haeresiologicae selectiores, & rarissime obvias Doctissimorum Virorum Dissertationes Haereticorum, Haeresiumque Historiam exponentes, complectens. Tom. I. Hamburg 1723. Zur Tradition der »Bibliothecae« als elementare Ausdrucksform der Historia Literaria siehe Mulsow (2012), dort insb. das Kapitel I, 5: ›Eine Bibliothek der verbrannten Bücher‹. 412 Bis jetzt können nur wenige Grundzüge dieser Konstellation rekonstruiert werden, aber diese sind bereits vielversprechend. Eine genaue Aufarbeitung der Archivbestände war mir im Rahmen der Arbeit leider nicht möglich, soll aber zu gegebener Zeit nachgeholt werden. 413 Thomas Elsmann: Die Bibliotheca Bremensis bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: Sammlung, Nutzung und der Weg zum Gestaltwandel. In: ders.; Müller, Maria Elisabeth; Staroske, Uwe (Hgg.): Vom Katharinen-Kloster zum Hochschul-Campus: Bremens wissenschaftliche Literaturversorgung seit 1660. Festschrift zum 350jährigen Jubiläum der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen. Bremen 2010 (Schriften der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen 7), S. 55–81. 414 Ebd., S. 76 (Hervorhebung im Original). 415 Johann Philip Cassel: Observationes literariae de bibliothecis Bremensibus. Bremen 1776.
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in Hamburg vorfinden lässt, wie Martin Mulsow eindrücklich gezeigt hat.416 Die hanseatischen Städte schienen gute Voraussetzungen für die Sammlung nicht nur seltenen, sondern auch gefährlichen Schriftguts geboten zu haben. Eine dieser Privatbibliotheken war die Johann Vogts.417 Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir diese Bibliothek vollständig kennen. Sein Schwiegersohn, Johann Georg Olbers, der Vater des später berühmten Astronomen Heinrich Wilhelm Olbers, hat nach Vogts Tod einen gedruckten Katalog der Bibliothek herausgegeben.418 Auch Olbers trat publizistisch in Erscheinung und die Wahl seines Gegenstandes deutet auf ein, zumindest in Teilen, freigeistig inspiriertes Umfeld hin.419 Deutlicher greifbar wird dies, wenn man die beiden Kataloge Vogts, den von ihm publizierten und den seiner Privatbibliothek, vergleicht. Alles in allem umfasste seine Privatbibliothek etwa 9000 Bände, eine beträchtliche Anzahl für einen einfachen Pastor am Dom, darunter auch knapp 300, die unter der Rubrik der Rara zusammengefasst wurden. Dieser Teil ist von besonderem Interesse, hat sich der Pastor privat doch einen ansehnlichen ›Giftschrank‹ zusammengestellt. Verbotene und ketzerische Literatur füllte die Regalbretter des Pastorenhaushaltes. Viele der Bücher, die er in seinem Catalogus verdammte und vor deren Lektüre er ausdrücklich warnte, hortete er zu Hause. Nun könnte man annehmen, dass es sich schlicht um eine Arbeitsbibliothek handelte. Dafür aber scheint der Aufwand, sowohl in finanzieller als auch zeitlicher Hinsicht zu groß gewesen zu sein – irgendeine Art von tieferem Interesse darf man wohl unterstellen. Für die wenigen Zeilen, die Vogt in seinem Katalog beispielsweise den Opera omnia Spinozas widmete, war es mit Sicherheit nicht nötig, sie selbst zu besitzen, zumal das Urteil recht pauschal ausfällt. Wie dieser Umstand zu bewerten ist, lässt sich nicht mit
416 Martin Mulsow: Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg. In: Steiger, Johann Anselm (Hg.): 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Mit einem Verzeichnis sämtlicher Promotionen der Theologischen Fakultät Hamburg. Berlin / New York 2005 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 95), S. 81–111. 417 Cassel kaufte nach Vogts Tod einen Teil dieses Bestandes auf. Er selbst vermachte seine Sammlung der Universitätsbibliothek Bremen – man kann die Provenienzen bis heute nachvollziehen –, so dass wir auch in der Lage sind, in Teilen auf die eigenen Exemplare Vogts zurückzugreifen. 418 Johann Georg Olbers (Hg.): Bibliotheca Vogtiana. Sive Catalogvs Librorvm Tam Typis Qvam Manv Exaratorvm, Qvos Magno Stvdio Olim Collegit Joannes Vogt Pastor Ad Reg. Cathedr. S. Pet. Brem., Cvjvs Pars Prior Dogmatica D. VIII. Septemb. Seq. Pars Posterior Historica D. III. Novemb. Seq. MDCCLXVI. Bremae [. . . ] Pvbl. Avctionis Lege Divendetvr [Vorr.: Jo. Georg Olbers]. Bremen 1766. 419 Johann Georg Olbers: Schriftmaeßige und erbauliche Betrachtungen ueber die letzten Dinge. 4 Bde. Bremen 1773–1775.
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Sicherheit entscheiden. Haben wir hier eine Person vor uns, die ein intellektuelles Doppelleben geführt hat? Am Ende gar einen zweiten Reimarus in Bremen?420 Wir wissen es nicht. Auszuschließen ist es aber ebensowenig, zumal sich im Umfeld Vogts weitere Indizien für eine intensive Auseinandersetzung mit heterodoxen Texten finden lassen. Johann Hinrich Pratje wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Er war eng mit Vogt bekannt, übernahm die Pfarrstelle in Horneburg als dieser nach Bremen berufen wurde und folgte diesem schließlich nach. Er hatte zuvor Theologie bei Johann Lorenz von Mosheim studiert und musste daher mit den größeren Projekten zur Kirchengeschichtsschreibung vertraut sein. Später überholte er Vogt auf der Karriereleiter – er wurde Superintendent in Bremen –, blieb ihm aber immer freundschaftlich verbunden. Er war es auch, der die ausführliche Leichenpredigt bei Vogts Begräbnis hielt. Sein Wissen um heterodoxe Texte, vielleicht auch vermittelt durch Vogt, steht indes außer Frage. Prajte ist der Verfasser der ersten ›Gesamtdarstellung‹ des zu seiner Zeit berüchtigten und als äußerst gefährlich erachteten Johann Christian Edelmann, dem Lessing Zeit seines Lebens ablehend gegenüber stand.421 Hier begann Pratje ein Unterfangen, für das eine Vielzahl an Informationen und teils schwer zugänglichen Schriften notwendig war. Dass ihm sein büchersammelndes Umfeld dabei Hilfestellung leisten konnte, kann nur vermutet werden. Ich breche die Beschreibung von Vogts Umfeld an dieser Stelle ab. Es sollte lediglich deutlich werden, dass Vogt als Gelehrter sowie als intimer Kenner heterodoxen Schriftguts eine ernst zu nehmende Größe war und Lessing mit seinem Angriff einem Gegner auf Augenhöhe begegnete. Vogts Hauptsammelgebiet waren also Rara und Rarissima, vor allem auf theologischem Gebiet. Das Resultat aus diesem Interesse bildete sein Catalogus historico-criticus librorum rariorum, jam curis tertiis recognitus et copiosa accessione ex symbolis et collatione bibliophilorum per germaniam doctissimorum adauctus, der 1732 erstmals erschien. Dieses umfangreiche, kommentierte Nachschlagewerk wurde zu Lebzeiten des Pastors dreimal in erweiterter Form neu aufgelegt (1737, 1747, 1753), eine letzte Neuauflage erschien posthum 1793 in Nürnberg.422 Johann Vogt stand mit seinem Katalog bei Weitem nicht alleine in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, es handelt sich bei dieser Leidenschaft viel-
420 Es sei daran erinnert, dass beide die gleiche akademische Sozialisation erfahren haben. 421 Johann Hinrich Pratje: Historische Nachricht von Joh. Chr. Edelmanns, eines berüchtigten Religionsspötters, Leben, Schriften und Lehrbegrif [!], wie auch von den Schriften, die für und wider ihn geschrieben worden, gesamlet und mitgetheilet von Joh. Hin. Pratje [. . . ]. Hamburg 1753. 422 Die für Lessing maßgebliche Ausg. ist Johann Vogt: Catalogus (1747).
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mehr um ein nicht nur modisches Phänomen der Zeit.423 Gerade das ›rare‹ oder ›seltene‹ Buch, im besten Falle auch noch anonym publiziert und mit fingiertem Druckort, bürgte entweder in besonderer Weise für die Wahrheit oder bestimmte einen ansonsten im Feld der Gelehrsamkeit unterrepräsentierten Bereich, so eine gängige Auffassung.424 Beide Seiten waren, gleich ob man ihnen affirmativ begegnete oder sie als unbedingt zu verwerfende Position verdammte, von höchster Bedeutung für die Fragen der Moral und somit auch der Gelehrsamkeit. Als Pate hierfür kann man Jakob Friedrich Reimmanns (1668–1743) Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit von 1708 anführen. Dort empfiehlt Reimmann als Leitfaden für die Auswahl der Lektüre Bücher von Autoren, welche »1. von einer Sache zum ersten mahl: 2. Zu allerletzt: 3. Gantz alleine: 4. Am paradoxesten und sonderbarsten [handeln]: 5. Am vortrefflichsten geschrieben: 6. Die unter allen am seltensten und rarsten zu finden sind.«425 Seltene Bücher hatten also eine
423 Die Faszination für seltene Bücher scheint in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich zugenommen zu haben. Eine ähnlich konzipierte Zusammenstellung, wenngleich nicht so ausführlich kommentiert, ist etwa Georg Serpilius: Verzeichniß einiger rarer Bücher. Frankfurt / Leipzig 1723. Das Themenfeld ›rare Bücher‹ war in der Zeit ein beliebtes Thema auch jenseits der bloßen Sammelleidenschaft von Kuriositäten, erste Überlegungen zum Nutzen als auch zur Methodik tauchten auf, vgl. die Darstellungen von Jakob Friedrich Reimmann: De libris raris. In: Observationes selectae ad rem litterariam spectantivm. Bd. 10. Halle 1705, S. 180–231; sowie Ernst Joachim Berger: Diatribe De Libris Rarioribus, Horumque Notis Diagnosticis Accedit Mantissae Loco, Scriptorum Marchiae Brandenburgicae Brevis Delineatio, Berlin ²1729. Eine moderne Übersicht bietet: Michael S. Batts: The 18th-century concept of the rare book. In: The Book Collector 24 (1975), S. 381–400. Es gab im Verlauf des späten 17. und 18. Jahrhunderts mehr als 30 solcher, größtenteils mehrbändigen Kataloge, deren Wirkung bisher nicht in den Blick der Forschung geriet. Zweifelsohne aber bildete – das ist schon bei einer nur oberflächlichen Sichtung deutlich zu erkennen – Vogts Katalog die Standardreferenz und den Ausgangspunkt vieler weiterer Projekte. Siehe hierzu Michael Multhammer: Ausgrenzung und Attraktivität – Kataloge seltener und gefährlicher Bücher als doppelter Wertmaßstab. In: Mulsow, Martin; Rexroth, Frank (Hgg.): Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt am Main / New York [in Vorbereitung für 2013]. 424 Unter den Ratschlägen, die der Ineptus religiosus gibt, findet sich im Bereich der Lektüreanweisungen dementsprechend auch folgender Paragraph: »Endlich, welches ich gleich zuerst hätte erinnern sollen, halte besonders diejenigen für auserlesene Bücher, welche ohne den Namen des Verfassers heraus kommen, und auch keinen Ort des Drucks angeben, es müßte denn etwa eine Stadt in Utopien sein. In solchen Büchern wirst du Schätze antreffen, weil sie meistenteils von witzigen und wahrheitliebenden Männern kommen. Die Welt ist sehr undankbar, daß sie dergleichen Schriften verbieten, oder sie nicht frei verkaufen lassen will.« WuB 3, S. 232. 425 Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam so wohl insgemein als auch in die Historiam Literariam derer Teutschen insonderheit. Halle 1708, S. 196. Zitiert nach Frank Grunert: Von ›guten‹ Büchern. Zum moralischen Anspruch der Gelehrsam-
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Bedeutung an sich, allein durch den Umstand, dass sie selten waren. Diese Bedeutung konnte aber auch darin bestehen, und bei Reimmann war dies eher die Regel als die Ausnahme, dass sie in besonderem Maße gefährlich waren. Die Konsequenz aus der Lektüre war dann auch, parteiisch zu bewerten und gegebenfalls davor zu warnen und nicht wie Bayle, der hier als Lessings Vorbild zu sehen ist, lediglich kritisch zu referieren.426 Dieses Verfahren legt Reimmann ausführlich in seiner Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum [1725] dar.427 Diese Universalgeschichte des Atheismus ist in mehrerer Hinsicht für den hier verfolgten Zusammenhang von Bedeutung. Zunächst zum titelgebenden Begriff des ›Atheismus‹. Wie Winfried Schröder in seiner Einleitung zur Historia präzise herausarbeitet, muss man die vielfache Besetzung des Begriffes beachten, ebenso wie den damit zusammenhängenden geistesgeschichtlichen Hintergrund.428 Bei Reimmann muss man generell einen sehr weiten Atheismusbegriff
keitsgeschichte. In: ders.; Vollhardt, Friedrich (Hgg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 65–88, hier S. 67. Dort heißt es zur weiteren Einschätzung dieser Auswahl: »Der Katalog macht deutlich, daß es für Reimmann um eine Darstellung von gelehrtem Wissen geht, die mit Blick auf die gesamte Geschichte sich jeweils auf die Sachgehalte konzentriert und dabei – ohne Ballast – hinreichend differenziert ist.« Ebd. Zu Reimmanns Erkenntniskonzept und seiner radikalen Skepsis im Kontext seiner Zeit siehe ausführlich Ralph Häfner: Das Erkenntnisproblem in der Philologie um 1700. Zum Verhältnis von Polymathie und Aporetik bei Jacob Friedrich Reimmann, Christian Thomasius und Johann Albert Fabricius. In: ders. (Hg.): Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher Philologie. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 95–128. »Reimmann beharrte demgegenüber [den Positionen Joachim Langes, M. M.] auf einer radikalen Skepsis, indem er erwiderte, daß die höchste Pflicht des Menschen vielmehr durch Salomons Prinzip der Weisheit, [. . . ], ›d. h. zu erkennen, daß wir Menschen nichts wissen‹, genau umschrieben sei, denn diese Skepsis sei kein ungelehrtes Nichtwissen, sie falle vielmehr mit dem äußersten Wissen, das dem gefallenen Menschen noch erreichbar sei, zusammen.« S. 101. 426 Zum Verhältnis von Pierre Bayle und Reimmann siehe Herbert Jaumann: Jakob Friedrich Reimmanns Bayle-Kritik und das Konzept der ›Historia literaria‹. Mit einem Anhang über Reimmanns Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte. In: Mulsow, Martin (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen 1998 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 7), S. 200–216. Die explizite Kritik aus Reimmanns Feder ist: Versuch Einer Critique über das Dictionaire Historique [und] Critique Des Mr. Bayle: Darinnen I. Die Schreibart / Ordnung und Innhalt desselben insgemein / II. Der daselbst befindliche LebensLauff des Johannis Woweri insonderheit bescheidentlich untersuchet, Und Nach denen GrundRegeln der Geschicht- und Richt-Kunst auf das genaueste geprüfet werden. Halle 1711. 427 Jakob Friedrich Reimmann: Historia universalis atheismi et atheorum falso et merito suspectorum [1725]. Mit einer Einleitung hg. von Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992 (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung. Abt. 2, Supplementa Bd. 1). 428 Die folgenden Ausführungen lehnen sich an die Einleitung Winfried Schröders an, in: ebd. S. 7–44.
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ansetzen. Jeder, der mit dem Prädikat ›Atheist‹ belegt wurde, kommt in seiner Historia vor. Den Ausgangspunkt bei Reimmann bildete die Überzeugung, dass jeder Mensch eine eingeborene Idee von Gott hat, was ihm ermöglichte verschiedene Formen des Atheismus zu unterscheiden.429 Schröder schlüsselt diese wie folgt auf: In nicht wenigen Fällen macht sich Reimmann das Verfahren der theologischen Apologetik zu eigen, ihre Gegner nicht wegen ihrer erklärten Meinungen, sondern wegen der unterstellten Konsequenzen zu bekämpfen. Da man selten mit Fällen von ›atheismus directus‹ zu tun hatte, galt die Aufmerksamkeit dem ›atheismus indirectus‹ bzw. ›per consequentiam‹. Mit Atheismus glaubte man es auch dann zu tun zu haben, wenn es sich nicht um in unmittelbarer Konsequenz (›per consequentiam immediatam‹), sondern nur in mittelbarer und nicht offensichtlicher (›consequentia non tam proxima & evidens‹), aber doch ›unvermeidlicher‹ Folge zum Atheismus führende Meinung handelte.430
Diese Art den Begriff oder besser gesagt das Label ›Atheismus‹ zu verwenden, eröffnete eine enorm große Angriffsfläche für die orthodoxe Theologie. Von der Seite der Theologie wurde demnach das Werk größtenteils positiv aufgenommen, vonseiten Beschuldigter wurde meist auf eine Übertreibung Reimmanns hingewiesen. Auch Gundling mischte sich in die Diskussion ein. Sein Hauptvorwurf war, dass beinahe jeder, der auch nur einmal heterodoxe Positionen vertreten hat, mit aufgenommen und gebrandmarkt werde.431 Die unreflektierte und vor allem ungeprüfte Fortschreibung von Urteilen, insbesondere moralischen, war es, gegen die Lessing in all seinen Rettungen angeschrieben hat. Die sogenannten ›Ketzermacher‹ und ihre ›Konsequenzenmacherei‹ aus gefühlter dogmatischer Überlegenheit heraus ist auch die Hauptzielrichtung in Lessings Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers.
429 Anders verhält es sich bei der Atheistengeschichte Jankin Thomas Philipps (Historia atheismi breviter delineata, Altdorf ²1713), der im Rückgriff auf Lockes Diktum, dass es grundsätzlich keine eingeborenen Ideen gibt, zu wesentlich anderen Einschätzungen gelangte. Demnach gibt es ein natürliches Wissen von Gott. Die komplette Leugnung der Existenz Gottes ist in diesem Falle dann einzig als Atheismus zu bezeichnen. Vgl. Schröder (1992), S. 16. 430 Ebd., S. 22f. 431 »Es ist gar leicht, geschehen, daß Einer, vor einen Atheisten, gehalten wird. Denn, sobald, er nur von den Opinionibus receptis, abgehet, wird er, pro atheo, ausgeschrieen. Herr Reimmann kann die Künste auch, in seiner Historia Atheismi; Von der, ich, deshalb gar Nichts halte. Wenn einer, nur einmal, ein Atheus genennet worden, so hat er denselben, gleich mit hinein gesetzt. Ja, ich glaube; Im Fall Einer, wider mich, schriebe und nennete mich einen Atheisten, würde ich, alsobald, auch, ohne sonderliches Bedencken, in Seine Rolle kommen.« Nikolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrtheit, Bd. 4. Frankfurt am Main / Leipzig 1736, S. 6068f., zitiert nach Schröder (1992), S. 27.
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Aber noch einmal zurück zu Johann Vogt. Ihn sieht Lessing als direkten, um eine Generation jüngeren Nachfahren Reimmanns. Dies belegt Lessings Engführung der beiden im Ineptus, dort heißt es gegen Ende in Bezug auf ein anderes Werk: So [dem Inhalt nach atheistisch machen, M. M.] ist es zum Exempel mit den Werken des Bruscambille ergangen, wider die Herr Reimann [!] nach seiner Art auf der 392. Seite der Historiae universalis Atheism. sehr fürchterlich declamiert. Herr Vogt hat in seinem Verzeichnisse dessen eigne Worte beibehalten, und beiden sind sie liber aeternis tenebris dignus.432
Vogt hat sich schon früher auf dem Gebiet der Ketzereien umgesehen und dazu publiziert: 1723 erschien der erste Teil einer Sammlung mit dem Titel Bibliotheca historiae haeresiologicae: selectiores [. . . ] dissertationes Haereticorum, Haeresiumque Historiam exponentes, complectens. Collegit, recensuit, notis, supplementisque necessariis illustravit Johannes Vogt [. . . ] bei Kisner in Hamburg.433 Das Interesse an den Häresien blieb zeitlebens bestehen. Sein Hauptwerk aber bleibt der Catalogus und dieser hat in doppelter Hinsicht besonderen Stellenwert. Er versucht die Summe der Diskussionen um das ›rare‹ Buch zu ziehen und will gleichzeitig eine möglichst vollständige Zusammenstellung der Titel liefern.434 Von besonderem Interesse ist seine Beantwortung der Frage, was denn ein ›rares‹ Buch überhaupt sei, da die zeitgenössischen Einschätzungen darüber weit auseinandergingen. In seinen Axiomata historico-critica de raritate librorum gibt Vogt sechs allgemeine Definitionen (axiomata generalia), die mit Ausnahme der letzten kaum überraschen. Sie beziehen sich entweder auf die geringe Verfügbarkeit oder auf eine besondere Form, herausragendes Material oder Verarbeitung. Jedoch sollte man auch nicht der Versuchung unterliegen, dass ein Buch schon allein deshalb rar zu nennen sei, bloß weil man es nicht oft in Bibliotheken finde. Die sechste und letzte Definition innerhalb der Gruppe der axiomata generalia schert hier aus. Sie ist die einzige, die ein qualitatives Urteil bezüglich des Inhaltes liefert: »VI. Libri rari non semper sunt optimi, aut digni, qui legantur; quinimo
432 WuB 3, S. 243 (Hervorhebungen im Original). 433 Johann Vogt: Bibliotheca historiae haeresiologicae selectiores, & rarissime obvias Doctissimorum Virorum Dissertationes Haereticorum, Haeresiumque Historiam exponentes, complectens. Collegit, recensuit, notis, supplementisque necessariis illustravit Johannes Vogt [. . . ]. Tom. I. Hamburg 1723. 434 Eine Liste von Personen, auf die er sich stützte oder deren Arbeiten er für seinen Katalog in Anspruch nahm, liefert Vogt im Vorwort zur ersten Aufl. (unpaginiert). Es findet sich jeder, der unter den Bibliophilen der Zeit Rang und Namen hatte: Johannes Ludolf Bünemann, August Bayer, Georg Serpil, Richard Simon, Johannes Georg Schelhorn und natürlich auch Jakob Friedrich Reimmann, um nur einige aus der Liste zu nennen.
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nonnunquam sunt pessimi. Saepissime liber malus, ac inutilis, ob solam raritatem in pretio est.« Die seltensten Bücher sind also oftmals auch die schlechtesten und unnützesten, die – als sei es nicht genug – »sint minus erudite scripti«, wie Vogt in der Fußnote weiter ausführt.435 Erinnern wir uns vor diesem Hintergrund an die Einschätzung Vogts des Ineptus religiosus als ein »höchst seltenes aber böses und gottloses Büchlein« – im lateinischen Original »Libellus summe rarus; at malus, & impius.«436 Allein aufgrund der Seltenheit, die nicht den materiellen Umständen geschuldet war, ließ sich – auch ohne eigene Prüfung – auf die Gottlosigkeit schließen.437 Diesem Zusammenhang wollte Lessing in seiner Rettung unter anderem begegnen. Mit dem Namen Johann Vogt und dem Rückgriff gerade auf seinen Katalog, gewinnt die Rettung an Tragweite. Der Ineptus ist – wenngleich vielleicht besonders prägnant – kein Einzelfall, die Zeitgenossen Lessings dürften das bei der Lektüre ohne Weiteres bemerkt haben, sondern steht vielmehr exemplarisch für eine Praxis der Beurteilung von Schriften durch die lutherische Orthodoxie. Es geht hier unter anderem auch um das von Vertretern der Orthodoxie angewandte Schlussverfahren in ihren Argumentationen, das, so will Lessing zeigen, einer kritischer Prüfung nicht standhält. Die Pauschalverurteilung eines Werkes anhand einer isoliert betrachteten und aus dem Zusammenhang gerissenen Stelle in Kombination mit dem Verdacht, dass besonders seltene Bücher in aller Regel auch gottlos, oder zumindest »in consequentiam« atheistisch sind, fügte auch ihren Autoren einen Schaden zu, der in seinen gesellschaftlichen Konsequenzen gesehen, enorm sein konnte. Insofern ist die Rettung des »ungenannten Verfassers« der moralisch gewichtige Part.
4.4.2 Lessing – ein Ineptus Religiosus?
»Ich bin Liebhaber der Theologie und nicht Theolog« verkündete Lessing in seinen Axiomata.438 Und als ein solcher tritt er auch schon hier, in jungen Jahren,
435 Alles in Vogt (1747): Catalogus, Vorrede zur ersten Aufl., unpag. 436 Ebd., S. 369. 437 Eine kritische Aufname dieses Gedankens findet sich in theoretischer und systematischer Absicht bei Anonymus [= Georg Christoph Schwarz]: Versuch einer Theorie von seltenen Büchern. In: Beyträge zur Litteratur besonders des sechszehnten Jahrhunderts 2 (1787), 2. St., S. 443–466. 438 WuB 9, S. 57. Zur Unterscheidung von ›Theolog‹ und ›Liebhaber der Theologie‹ siehe Martin Bollacher: Lessing. Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Literatur 56), S. 79–93. Sowie Johannes von Lüpke (1989), S. 12ff.
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auf. Die Auseinandersetzung in der Rettung des Inepti religiosi findet auf den ersten Blick nicht auf einer theologischen, sondern auf einer rein philologischen Ebene statt. Der Hauptvorwurf an Vogt ist, dass er durch das verkürzt wiedergegebene Zitat in seinem Katalog den Sinn der Schrift völlig entstellt, ja sogar in ihr Gegenteil verkehrt hat: »Nun muss ich aber in allem Ernste fragen, warum der Herr Pastor Vogt das ab aliis probatum aut decisum an einem Orte weggelassen hat, wo der ganze Verstand davon abhängt.«439 Lessing versucht also den Fokus auf die Eigenständigkeit des Gläubigen zu richten, der eben nicht von anderen Überprüftes und Entschiedenes bedingungslos übernehmen soll. Der Vorwurf Vogts gegenüber dem Verfasser – man solle zweifeln, ob Christus jemals in der Welt war – wird insofern gewendet, als dass nun die Frage im Raum steht, ob man es für gegeben annimmt. Nicht mehr die Tatsache selbst, sondern der Modus, wie man zur Überzeugung gelangt, wird zum Hauptkriterium für Wahrheit. »Der Herr Vogt wird ihm [dem Verfasser, M. M.] doch nicht Schuld geben wollen, als habe er gezweifelt, ob jemals ein Christus in der Welt gewesen sei? Und beinahe kann er ihm nichts anders damit Schuld geben.«440 Die Argumentation zielt in diesem Sinne auf einen durchaus modernen Wahrheitsbegriff, als wahre gerechtfertigte Meinung ab.441 Die Rechtfertigung muss dabei jeder selbst leisten. Lessing verteidigt den Nutzen des eigenen Hinterfragens und somit auch die Vorgehensweise des »ungenannten Verfassers« in einer Kette rhetorischer Fragen: Es ist zwar wahr, will der ungenannte Verfasser sagen, andre haben es längst ausgemacht und bewiesen, daß es Geister giebt, daß Christus in der Welt gewesen ist; aber gleichwohl, was gehen dich, der du klüger als die ganze Welt mußt sein wollen, was gehen dich, sage ich, andre an? Deine Fragen sind zu Millionenmalen beantwortet worden; doch was schadet das? Du kannst sie schon noch einmal aufwerfen, und dir dadurch das Ansehen eines Geistes geben, der bis auf den Grund dringet.442
Das Verfahren an sich goutiert Lessing, ist es zuletzt doch auch sein eigenes. Umso mehr muss verwundern, dass er glauben machen will, die Schrift sei eine Satire, aber dazu später mehr. Vielmehr glaubt man aus den meisten Paragraphen Positionen herauslesen zu können, die Lessings eigenen Überzeugungen sehr nahe standen. Martin Mulsow hat schon darauf hingewiesen, dass Lessing wohl »von
439 WuB 3, S. 241. 440 Ebd., S. 240. 441 Als neuere Zusammenfassung dieses Problemzusammenhangs siehe z. B. Bruno Brülisauer: Was können wir wissen? Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Stuttgart 2008, S. 30–56. 442 WuB 3, S. 241.
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diesem Text angezogen war, drückt sich in ihm doch eine über den Konfessionen stehende Unabhängigkeit aus«.443 Aber auch jenseits konfessioneller Unterschiede bietet die Schrift einiges, geht es ja weniger um Konfession, als um Religion im Allgemeinen. Die zahllosen im Ineptus genannten religiösen Splittergruppen haben alle prima facie ihre Daseinsberechtigung und unter Umständen sogar Anspruch auf einen Teil der Wahrheit. »Aufgrund welches Beweises ist es ausgemacht,« – so der § 45 – »daß der lutherische Glaube mit Gottes Wort übereinstimmt, wobei doch auch die Photinianer fest darauf bestehen?« Gepachtet haben das Wissen um die Wahrheit nach eigener Aussage viele. Es herrsche aber vielmehr ein gleiches Maß an ›Unwissen‹. Eine Prüfung der Religion müsse über die Prüfung der Argumente vorgenommen werden, nichts weniger fordert der kleine Traktat und mit dessen Rettung in Teilen auch Lessing. Woher oder von wem die Argumente stammen, ist dabei zweitrangig und Eklektik das vorgezeichnete Verfahren. Die Gelehrten stehen dabei im Prozess der Meinungsbildung auf einer Stufe mit dem Pöbel, sind sogar eher unterpriviligiert.444 Der ›törichte Gottesgelehrte‹ empfiehlt explizit den Umgang mit dem einfachen Volk, selbst mit Frauen: »Halte dich zu denjenigen, die von den obersten Geistlichen verachtet, und gedrückt werden. Es werden immer witzige und gelehrte Männer sein, die man wegen ihrer Wahrheitsliebe verfolgt, und aus deren Umgang du einiges lernen kannst.«445 Lessing muss diese Aussage mehr als sympathisch gewesen sein, stand er doch den Machtstrukturen gerade auch innerhalb der Orthodoxie immer skeptisch gegenüber. Auch die Parteinahme für Außenseiter, von Nisbet ausführlich dargelegt,446 gehörte zu den Grundeigenschaften von Lessings Charakter. Einschlägiger noch als diese Korrelation war die theologische Überzeugung Lessings, dass es nicht eines ausgefeilten Systems innerhalb der Religionen bedürfe, sondern dass selbst die ›einfachen Wesen‹, insofern sie zu moralischen Urteilen fähig seien, ein gottgefälliges Leben führen können. Die Unterscheidung zwischen den Gelehrten und dem einfachen Volk zielt in ihrer Bildlichkeit ebenfalls auf einen Primat der Praxis gegenüber der Theorie. Diese Position hatte Lessing schon vor der Lektüre des Ineptus selbst in Das Christentum der Vernunft vertreten. »Auch aus den Reden des aller geringsten Menschen schäme dich nicht etwas zu lernen, auch wenn es nur ein alt Weib
443 Mulsow (2002), S. 408. 444 § 34: »Von denen, die wichtige Ämter bei der Kirche oder im Staate bekleiden, glaube durchgängig, daß sie unwissend sind; [. . . ].« WuB 3, S. 233. 445 Ebd., S. 234. 446 Nisbet (2005): Lessings Umgang, S. 79–100.
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wäre, etc.«447 Hier dürften der ungenannte Verfasser und Lessing wohl ebenfalls einer Meinung gewesen sein. Die Aufzählung von zumindest partiellen Gemeinsamkeiten ließe sich en detail noch deutlich verlängern, vor allem wenn man die Parallelen zu den zu Lebzeiten ungedruckt gebliebenen Texten Gedanken über die Herrnhuter und Das Christentum der Vernunft weiterverfolgt. Jesus als nur von Gott erleuchteter Lehrer auf der einen Seite, die Frage ob Jesus überhaupt in der Welt gewesen sei auf der anderen; hier die Ablehnung der Buchgelehrsamkeit in Sachen der Religion, beim Ineptus die Empfehlung, kanonische Texte und vor allem deren Exegese zu meiden; der radikale Zweifel des Individuums, erinnert sei hier nur noch einmal an Lessings Brief an den Vater, dass man nicht alles auf Treu und Glauben von seinen Eltern übernehmen soll.448 Es findet sich aufgrund der Nähe449 zum Ineptus also auch viel »Gift«450 in Lessings eigenen Schriften. Vielleicht liegt gerade in der öffentlichen Wahrnehmung der Grund dafür, dass Lessing einige seiner frühen Überlegungen zur Religion und deren Philosophie nur in Form von poetischen Schriften, etwa im Lehrgedicht Die Religion, und nicht in Form von Abhandlungen publiziert hat. Die Textsorte der Rettung bietet hierzu freilich eine besondere Bühne, die die Möglichkeit von Affirmation und Distanzierung auf ganz besondere Weise herstellen kann. Die ›gerettete‹ Schrift als Satire und so als uneigentliche Rede zu kennzeichnen, ist eine dieser möglichen Strategien zur Dissimulation. Selbst eine indirekte Kommunikation von nur im weitesten Sinne gefährlichen Überzeugungen bedarf Strategien der Verschleierung und Distanzierung, gleichzeitig darf aber das ursprünglich angestrebte Ziel nicht aus den Augen geraten. Namen spielen dabei eine gewichtige Rolle.
447 Ebd. 448 Brief an Johann Gottfried Lessing vom 30. Mai 1749, WuB 11/I, S. 26. 449 Wie in obigem Exkurs ausführlich dargelegt. Ich möchte hier nicht die basalen Unterschiede zwischen beiden Texten, gerade was die Genese aus einer bestimmten Tradition angeht, nivellieren. Trotzdem kann man die von Martin Mulsow erarbeiteten Forschungsergebnisse nicht als Maßstab für Lessings Rezeption des Textes anlegen, die in Gebiete der Gelehrsamkeit clandestinen Schrifttums führt, die Lessing wohl tatsächlich unbekannt gewesen sind. Nichtdestotrotz ist eine Nähe der Gedanken, auch wenn sie sich vielleicht unterschiedlicher Herkunft verdanken, nicht zu übersehen. Es liegt mir also mehr als fern, Lessing zu einem systematischen Eklektiker, einem Vertreter oder gar Propagandist der ’religio prudentum’ oder radikalen Deisten zu machen. 450 WuB 3, S. 225.
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4.4.3 Wer ist der ›ungenannte Verfasser‹?
Die aus Sicht der heutigen Forschung wahrscheinliche, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit gültige Antwort hat Martin Mulsow gegeben: Johann Salvius, Diplomat in schwedischen Diensten.451 Lessing hatte zwei andere Kandidaten genannt, denen er die Autorschaft zugetraut hätte, was Karl Borinski, der Johann Balthsar Schupp als den eigentlichen Verfasser ausgemacht hatte, in tiefste Verzweiflung ob Lessings vorübergehender Inkompetenz in philologischen Zuschreibungen gestürzt hatte. Bezieht man die Grundsätze der Gelehrsamkeit, wie sie in der historia literaria vorgestellt werden, mit ein, ergibt sich eine dritte Sichtweise – Lessing hat sich demnach nicht einfach vertan – sondern die beiden Namen bewusst ins Spiel gebracht, um zwei Positionen zu bezeichnen. Martin Gierl beschreibt die Standards und Voraussetzungen, um an einer polemischen Diskussion überhaupt erst teilnehmen zu können, wie folgt: Der Student sollte lernen, sich in der gelehrten Welt zu bewegen. Die Historia literaria wollte den Weg zu den Wissenschaften weisen; sie sei jedoch nicht der Inbegriff von Gelehrsamkeit. Dies hat eine Vielzahl von Literärhistorikern betont, und es gilt auch für die Historia literaria als Arbeitsfeld. Was blieb war dennoch ein ungeheurer Gegenstandsbereich: Er reicht von der ›Historia literaria universalis‹, ›darinnen das gesamte Schicksal der gelehrten Welt [. . . ] erzählet wird‹, über die ›besondere‹ einer Wissenschaft oder einer Nation bis hin zur ›singulären‹ – der Historie ›eines einzigen Buches, Bibliothec, Lehre Ceremonie, Person, Secte, Schule, Gesellschaft und dergleichen.‹452
Die enge Verbindung von Person und Position gerade in den polemischen theologischen Kontroversen in den Jahrzehnten vor und nach 1700 ist kaum zu überschätzen. Allein deshalb lohnt schon ein näherer Blick auf die beiden Kandidaten, die Lessing scheinbar nur en passant ins Spiel um die Autorschaft gebracht hat. Dabei könnten die beiden unterschiedlicher nicht sein: Wenn es ihm [Pastor Vogt, M. M.] daher gefallen sollte, sich etwa in einer neuen Ausgabe seines Verzeichnisses hierüber zu erklären, so wollte ich wohl wünschen, daß er seine Vermutungen beifügen möge, wer sich etwa unter die Buchstaben M. J. S. könne versteckt haben? Kaum darf ich es wagen, die meinigen vorzulegen, weil ich es ganz gerne gestehe, daß sie auf ziemlich schwachen Gründen ruhen. Anfangs nemlich, da ich die Schrift selbst noch nicht gesehen hatte, gingen meine Gedanken auf den Johann Steller, welcher sich durch die Verteidigung des Pilatus berüchtigt gemacht hat.453
451 Mulsow (2002), S. 379. 452 Gierl (1997), S. 520. Die Zitate im Zitat entstammen: [Art.] Gelehrten-Historie. In: Zedler 10, Sp. 725–730, hier 726f. 453 WuB 3, S. 242.
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Unterbrechen wir das Zitat, um hier der Person Johann Stellers, von der Lessing kaum etwas preisgibt, kurz nachzugehen. Im Kommentar der Klassiker-Ausgabe wird als er »Biographisch nicht näher identifiziert« geführt,454 die Mühe einer Identifizierung allerdings lohnt sich. Johann Stellers Lebensdaten lassen sich leider nicht mehr ermitteln,455 wahrscheinlich stammte er aus Leisnig nahe Leipzig; gewiss ist jedoch, dass er Jurist und nicht, wie bisweilen angegeben, Theologe war. Lessing verweist auf das einschneidende Erlebnis des wohl schon recht alten Stellers:456 1674 veröffentlichte er in Dresden eine Schrift mit dem Titel Defensus Pontius Pilatius, in der er darzulegen versuchte, dass Pilatus Jesus Christus unter den damals gängigen Rechtsvorstellungen und gesetzlichen Rahmenbedingungen rechtmäßig hatte kreuzigen lassen. Die Empörung unter den Angehörigen der lutherischen Orthodoxie kann man sich leicht vorstellen.457 Eine Erwiderung in Form einer Disputation ließ auch nicht lange auf sich warten.458 Und diese war prominent besetzt, niemand geringerer als der junge Christian Thomasius erklärte sich zur Verteidigung des Christentums bereit. Flankiert wurde er von dem später weit weniger einflussreichen, aber nicht unbedeutenden Daniel Hartnack (1642–1708).459 Letzterer ließ im gleichen Jahr, 1676, unter dem Pseudonym D. Maphanafus sogar noch eine Monographie mit dem Titel Confutatio dissertationis perquam scandalosae Johannis Stelleri posthac, Leusnicensis J. U. Doctoris Jenensis, Qua Pilatum defensum superiori anno turpissime prodidit [. . . ] folgen,460 um
454 WuB 3, S. 1053. 455 Die Lebensdaten aus dem Eintrag im VD 17 sind in jedem Fall falsch: 1663–1674. 456 Es gibt eine Schrift aus dem Jahre 1618, in der Steller als ›Vir juvenis‹ bezeichnet wird, er dürfte also 1676 schon gute 70 Jahre alt gewesen sein. Der Titel der Festschrift lautet: Vota Ad Nuptias Doctrina Et Virtute Ornatißimi Viri-Juvenis, Dn. Ioannis Stelleri Leisnicensis, chori Musici Cygneae praefecti primarii, et [. . . ] Reginae [. . . ] M. Davidis Arras, Superattendentis quondam Grimmenses meritissimi, piae memoriae relictae filiae, Tertio Nonarum Maii Anni M.DC.XVIII. celebratas. Leipzig 1618. 457 So abwegig wie diese Vorstellung auf den ersten Blick wirken mag, war sie nicht. Im koptischen und orthodoxen Christentum gilt hingegen nach wie vor die Vorstellung, dass Pilatus ein Heiliger und Märtyrer sei (Gedenktag ist der 19. Juni). Vgl. [Art.] Pontius Pilatus. In: BBKL 4, Sp. 613–616, hier Sp. 616. 458 Johann Steller: Johannis Stelleri, J. U. Doctoris Jenensis Pilatus defens[us]: unà cum Danielis Maphanafi Mulchentinensis Confutatione Scripti Illius Et Disputatione Academica Christiani Thomasii Ph. M. adversus idem Paradoxon [. . . ]. Leipzig 1676. 459 Eine kurze Überblicksdarstellung zu Daniel Hartnack bietet Johannes Weber: Daniel Hartnack – ein gelehrter Streithahn und Avisenschreiber am Ende des 17. Jahrhunderts. In: Gutenberg-Jahrbuch 68 (1993), S. 140–158. 460 Maphanafus, D. [= Daniel Hartnack]: Confutatio dissertationis perquam scandalosae Johannis Stelleri posthac, Leusnicensis J. U. Doctoris Jenensis, Qua Pilatum defensum superiori anno turpissime prodidit [. . . ]. Leipzig 1676.
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Steller endgültig zu widerlegen; Christian Thomasius nahm die gedruckte Fassung in die Sammlung seiner juristischen Disputationen auf. Um die Person Johann Stellers entspann sich im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts ein angeregter Disput, der darauf abzielte, ihn des Atheismus zu überführen. Noch weit in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein hielt dieser Streit an, wobei Steller mit dem in der Rettung des Inepti religiosi schon erwähnten Jakob Friedrich Reimmann einen prominenten Verteidiger fand.461 Reimmann verteidigte die Schrift Defensus Pontius Pilatus zuerst im Jahre 1733 in den Unschuldigen Nachrichten und nochmals in der Gelehrten Zeitung 1738. Dies mag zunächst verwundern, da Reimmann bekanntlich viele Personen in seine Historia Atheismi aufgenommen hatte. Beinahe ausnahmlos handelte es sich dabei aber um Personen, die keine ›A-theisten‹ im strengen Sinn waren, sondern um theologisch Andersdenkende wie Deisten, Antitrinitarier oder Skeptiker und Pantheisten. Nach Reimmanns Auffassung war strikter Atheismus eigentlich nicht möglich, da jeder Mensch die eingeborene Idee von Gott in sich trug.462 Zur Stützung dieser These war natürlich jeder ›echte‹ Atheist ein Argument gegen seine Hauptüberzeugung, weswegen er nur wenige, so hoffnungslose Fälle wie etwa Vanini oder Matthias Knutzen, für den engeren Kreis gelten ließ. Dies erklärt auch, was die Schrift Stellers so gefährlich machte: Sie hatte keinerlei theologische Implikationen, sondern sie argumentierte rein juristisch, rechtspositivistisch. Reimmann musste sich also Stellers anderweitig entledigen. Das Kernproblem, Steller als Atheisten zu bezeichnen, blieb aber auch in der Folge virulent. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts reihte Johann Georg Theodor Gräße Steller in seinem Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte unter die Atheisten des 17. Jahrhunderts ein.463 Um neben den üblichen Verdächtigen wie etwa Giordano Bruno oder Isaac de la Peyrère nur die Deutschen zu nennen: »Von deutschen sogenannten Atheisten werden Knutzen, Hoburg und Breckling unten erwähnt werden, hier nennen wir noch als solche Johann Steller, Advokaten in seiner Vaterstadt Leipzig in Sachsen, den Socinianer Johann Friedrich Stoß (aus Berlin) und seinen Landsmann Johann Georg Wachter an.«464 Steller befand sich also in illustrer, wenn vielleicht auch nicht wünschen-
461 Vgl. [Art.] Steller, oder Stellarus (Johann). In: Zedler 39, Sp. 1760. 462 Für eine detaillierte Schilderung dieses Zusammenhangs siehe Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Quaestiones 11). 463 Johann Georg Theodor Gräße: Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte aller bekannten Völker der Welt, von der ältesten bis auf die neueste Zeit. 3. Bd., 2. Abteilung: Das siebzehnte Jahrhundert. Leipzig 1853. 464 Ebd., S. 407 (Hervorhebung M. M.). Im Anschluss an diese Passage findet sich eine Bibliographie mit den Werken der Genannten. Johann Steller ist mit der Pilatus-Schrift vertreten.
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werter Gesellschaft, so auch noch bei Fritz Mauthner, in dessen monumentaler Studie Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande.465 Mit der Nennung Johann Stellers stellt Lessing in Teilen ein alter ego des Verfassers des Ineptus dar. Die Situation, in der sich Steller in der Historiographie befindet, ist nahezu identisch mit der des ›ungenannten Verfassers‹. Gerade die Nüchternheit in der Beurteilung der je eigenen Sachverhalte dürfte für Irritation gesorgt haben. Sich derart gegen gängige Konventionen zu stellen und eine radikal historische Sichtweise einzunehmen (»war Jesus in der Welt?«), dürften die Zeitgenossen und späteren Kommentatoren als nicht hinnehmbar erachtet haben. Der zweite Vorschlag, den Lessing für die mögliche Autorschaft und die Initialen M. J. S. bereit hält, könnte gegensätzlicher nicht sein: Nach der Zeit aber bin ich auf den Josua Schwarz gefallen, welcher zuletzt Schleßwig Hollsteinischer Generalsuperintendent war. Er war in seiner Jugend ziemlich gereiset, und konnte also Ketzer und Schwärmer genung [!] gekannt haben, um Lust zu bekommen, ihre Torheiten nach dem Leben zu schildern. Was dieser Mutmaßung noch das meiste Gewicht geben mußte, wäre der Haß, den er beständig gegen die Syncretisten geäußert hat. Er mußte ihrentwegen so gar sein Vaterland verlassen, welche Verdrüßlichkeit ihm um die Jahre einige sechzig, begegnete.466
Nach dieser Schilderung wäre Josua Schwartz467 tatsächlich ein Kandidat, dem eine Schrift wie der Ineptus als Satire zuzutrauen gewesen wäre. Der Charakter Josua Schwartzens war aber ein anderer, bei Weitem nicht so harmloser, schon Lessing selbst schränkt umgehend ein: »Doch sage ich es noch einmal, diese Wahrscheinlichkeiten sind zu klein, als daß man darauf bauen könnte.«468 Geht man nach den Fakten, tendieren »diese Wahrscheinlichkeiten« gegen Null. Der Name Josua Schwartz war den Zeitgenossen Lessings bekannt als einer der größten ›Ketzerjäger‹ des 17. Jahrhunderts. Geboren als Sohn eines lutherischen Predigers 1632 in Waldow in Pommern, studierte er ab 1650 Theologie und Philosophie in Wittenberg. Die Reise nach Holland, England und Frankreich, auf die Lessing hier
465 Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 4 Bde. Stuttgart 1920– 1923, hier Bd. 3, S. 167f. Dort heißt es den Kasus Steller zusammenfassend: »Im gleichen Jahre, in welchem der tolle Knutzen von sich reden machte, gab ein Student der Rechtsgelehrsamkeit, Johann Steller, zu Dresden ein Buch heraus, worin der Landpfleger Pontius Pilatus in Schutz genommen wurde: er habe nur seine Pflicht erfüllt, dem angeklagten Jesus sei vom Standpunkte des Rechts nicht Unrecht geschehen. Wer ein solches Paradoxon aufstellte, wer eine solche Herzensangelegenheit mit rechtsgeschichtlicher Nüchternheit untersuchte, der mußte wohl ein Atheist sein.« 466 WuB 3, S. 242. 467 Lessing unterschlägt das ›t‹ im Namen. Richtig ist Josua Schwartz. 468 WuB 3, S. 242.
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anspielt, fand erst in den Jahren 1658/59 statt, also mindestens sechs Jahre nach dem Erscheinen des Ineptus. Ebenso fallen die Streitigkeiten um die Synkretisten in eine Zeit lange nach der Abfassung des Ineptus. Die Lebensgeschichte Josua Schwartzens ist eine Geschichte von gelehrten Streitigkeiten und damit einhergehendem ständigem Wechsel von Wohnsitz und Amt.469 Verallgemeinernd lässt sich feststellen: Wo Schwartz auftauchte, gab es Krawall, was seiner Karriere aber nicht unbedingt geschadet hat. Er war schon 1667 Professor für Theologie an der neu gegründeten Universität von Lund (1666) und wurde 1672 von der dortigen theologischen Fakultät zum Doktor promoviert, ab 1680 war er Hofprediger in Kopenhagen und ab 1684 Generalsuperintendent für Schleswig; er starb, bis zuletzt in gelehrte Händel verstrickt, 1709. Der »Streittheolog«470 suchte zeitlebens die Auseinandersetzung mit allen möglichen konfessionellen und nicht konfessionellen Gruppierungen. Geht man nur die Titel der von ihm verfassten Schriften durch, so kann man den Eindruck gewinnen, dass seine Hauptbeschäftigung das Verdammen war. Die Begriffe ›damnatio‹, ›damnabili‹, ›Widerlegung‹, ›contra‹ usw. durchziehen sein gesamtes Werk. Die Bandbreite dabei ist enorm, mal verspielen Eltern das Seelenheil ihrer Kinder, wenn sie diese auf die falsche Schule schicken oder aber es werden ganze Glaubensgemeinschaften, bevorzugterweise die Pietisten und die Reformierten, samt und sonders zum Teufel geschickt. Der Hass dieses Menschen auf alles, was nicht seiner eigenen Überzeugung entsprach, ist beinahe beängstigend zu nennen. Er stritt buchstäblich bis zu seiner Todesstunde.471 Ein Fall aber sticht heraus, und vermutlich ist es genau der, den Lessing im Kopf hatte. Schwartz hatte in einem Kollegen an der Universität Lund einen neuen Erzfeind gefunden und den offenen Kampf aufgenommen, nachdem dessen De iure naturae et gentium libri octo 1672 erschienen war: Seine Collegen in Lund, Nic. Beckmann, der bei Verlust der ewigen Seligkeit seinen Angriff machen wollte, und Josua Schwartz begannen den Streit, nannten Pufendorf einen monströsen Mann, einen Pasquinus redivivus und schädlichen Atheisten, zogen einen In-
469 Eine detaillierte Auflistung der Stationen sowie eine Auswahl aus dem Werk bietet [Art.] Schwartz (Josua). In: Zedler 35, Sp. 1949–1951. Siehe ebenfalls [Art.] Schwartz, Josua. In: ADB 33, S. 208–210. Eine vollständige Liste der Werke sowie eine Auswahlbibliographie in BBKL 21, Sp. 1427–1433. 470 So die Bezeichnung gleich zu Beginn des ADB-Artikels. 471 Dies belegt ein Vorwort, betitelt ›An den geneigten Leser‹, wo es heißt: »[er befahl], [. . . ] und damit diese seine Schrift [eine Widerlegung, M. M.], wo es möglich wäre, noch ehe als sein Leichnahm beygesetzt würde, völlig abgedruckt und publique gemacht werden möchte, da er dann den andern Tages schlafend verstorben.« In: [Josua Schwartz]: D. Josua Schwartzens [. . . ] Erweiterte Widerlegung / Der nun sonderlich in Holstein einreissenden Pietistischen gefährlichen Lehre [. . . ]. Hamburg 1709, unpag.
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dex novitatum aus seinem Naturrecht, verklagten ihn bei der Regierung, beantragten seine Entfernung von der Universität und ein Verbot des Bücherschreibens.472
Hierbei handelte es sich nicht mehr um einen gelehrten Streit die Reichweite des Naturrechtes betreffend, sondern um einen Vernichtungsfeldzug gegen Pufendorf. Dieses Vorgehen ging selbst der schwedischen Regierung zu weit, sie ließ den Index novitatum verbieten: »den Ruhestörern [wurde] allerhöchste königliche Ungnade angedroht«.473 Pufendorfs Ankläger aber sahen das Recht auf ihrer Seite. Beckmann ließ den Index drucken und musste daraufhin Hals über Kopf das Land verlassen, von Kopenhagen aus forderte er Pufendorf »auf eine gute Fuchtel oder ein Paar Pistolen«.474 Schwartz, dem in der Zwischenzeit Redeverbot vonseiten der Regierung erteilt wurde, sorgte dafür, dass der Index Novitatum quarundam, quas Dn. S. Pufendorf libro suo de Jure Naturae & Gentium contra orthodoxa fundamenta Lundini edidit (1675) an die Universitäten Wittenberg, Leipzig, und Jena gelangte. Der Abhandlung beigelegt war eine epistola cyclica, »worin Pufendorf als ein Mann verdrehten Gehirns, der das natürliche und moralische Recht, den Dekalog und die Gesetze Gottes malitiös und gottlos zu vernichten sich bemühe, als Ausbreiter des Socinianismus und als Magister des reinen Atheismus ausgeschrieen wurde«.475 Es ließe sich noch vieles zum Fortgang dieser Auseinandersetzung beibringen, doch ist es für den darzustellenden Zusammenhang nicht mehr von Relevanz. Festzuhalten bleibt, dass Lessing mit der Zuschreibung des Ineptus religiosus an Josua Schwartz einen Fall aufgriff, der noch die ganze erste Hälfte des 18. Jahrunderts breit diskutiert wurde und als bekannt vorausgesetzt werden kann. Wie unwahrscheinlich diese unter Vorbehalt geäußerte Vermutung Lessings war – sowohl die Tatsache, dass historische Fakten umdatiert werden mussten, als auch die Humorlosigkeit Schwartzens in Religionssachen –, musste zumindest dem gebildetsten Teil der Leserschaft auffallen. Um es auf den Punkt zu bringen: Josua Schwartz war diese Person nicht, der man eine Schrift wie den Ineptus – als Satire verstanden – zutrauen konnte. Es liegt vielmehr nahe, dass Lessing mit den beiden Namen Johann Steller und Josua Schwartz zwei Spuren gelegt hat, die bedeutungstragend für die Interpretation bzw. Entschlüsselung seiner Rettung sind. Dass Steller als Ebenbild des
472 Gustav Frank: Geschichte der protestantischen Theologie. 4 Bde. Leipzig 1862–1905, hier Bd. 2, S. 64 (Hervorhebungen im Original). Eine weitere zusammenfassende, aber nicht ebenso ausführliche Darstellung findet sich bei Hermann Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In drei Theilen. Braunschweig 1862, hier 3. Teil, 1. Buch, S. 83–90. 473 Ebd. 474 Ebd., S. 65. 475 Ebd.
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›ungenannten Verfasser‹ angesehen werden kann, wurde bereits erläutert; in Josua Schwartz haben wir dagegen eine spiegelbildliche Figur – einen ›Konsequenzenmacher‹ und ›Atheistenriecher‹ – zu Johann Vogt, der die Rettung mit seiner Aussage überhaupt erst provoziert hat. Unterstützen lässt sich die These, dass es Lessing nie wirklich darum ging, den echten Verfasser des Ineptus ins Spiel zu bringen, mit zwei sich anschließenden Überlegungen. Die Lessing-Philologie kennt einen Fall, der gewisse Parallelen aufweist. Als Lessing begann, die Fragmente eines Ungenannten herauszugeben, ging er gleich zu Beginn ebenfalls auf die Verfasserfrage ein: Da, nach der Hand und der äußern Beschaffenheit seiner Papiere zu urteilen, sie ohngefähr vor dreißig Jahren geschrieben sein mögen; da aus vielen Stellen eine besondere Kenntnis der Hebräischen Sprache erhellet; und der Verfasser durchgängig aus Wolffischen Grundsätzen philosophieret: so haben mich alle diese Umstände zusammen an einen Mann erinnert, welcher um die besagte Zeit hier in Wolfenbüttel lebte, und hier, unter dem Schutz eines einsichtsvollen und gütigen Fürsten, die Duldung fand, welche ihm die wilde Orthodoxie lieber in ganz Europa nicht hätte finden lassen; an Schmid, den Wertheimschen Übersetzer der Bibel.476
Mit dem evangelischen Theologen Johann Lorenz Schmidt (1702–1749) hatte Lessing ebenfalls einen möglichen, wenngleich auch falschen, Kandidaten für die Autorschaft der Fragmente benannt. Diese bewusste Täuschung der Leserschaft war Voraussetzung gewesen, den radikalen religionskritischen Text Reimarus’ überhaupt veröffentlichen zu können, wollte doch Reimarus’ Familie – auch nach dessen Tod – nicht Gefahr laufen, dass der wahre Autor zum Vorschein kommt. Lessing wandte dort eine ähnliche Strategie an, wie er es schon bei der Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers getan hatte: die Frage nach der Autorschaft zur absoluten Nebensache erklären, aber nicht auf eine ganz kurze Nennung verzichten. Ein Verfahren, dass weniger Verdacht hervorruft, als wenn man es ausgespart hätte: Doch, ohne mich bei Vermutungen über den Verfasser aufzuhalten, hier ist die Stelle, in welcher sich meine Leser mit seinem Geiste näher bekannt machen können. Sie ist aus einer Art Einleitung genommen, in welcher er von der Vortrefflichkeit und Hinlänglichkeit der natürlichen Religion überhaupt handelt.477
Das ist, bis hinein in den Gegenstand, das gleiche Verfahren. Es wird vom Autor ab- und auf den Text hingelenkt. Nimmt man anhand dieser Beobachtungen an,
476 WuB 8, S. 115f. (Hervorhebung im Original). 477 Ebd.
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dass Lessing den eigentlichen Verfasser des Ineptus entweder tatsächlich nicht gekannt oder aber bewusst verschwiegen hat, lässt sich auch eine Antinomie bezüglich des Titels auflösen. Schon in einer der ersten Besprechungen unterlief dem Rezensenten ein Fehler, der symptomatisch auch für die ganze weitere Beschäftigung mit diesem Text ist. Die Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpatheyischen Correspondenten vom 26. Juli 1754 bespricht den dritten Teil von Lessings Schrifften.478 Dort heißt es in einer ersten, dem Überblick dienenden Zusammenfassung: »Er [der dritte Teil, M. M.] enthält lauter Rettungen solcher Männer, deren Ruhm die Einfalt oder der Aberglaube mit unbewiesenen Beschuldigungen hat verdunkeln wollen. Diese sind Horaz, Cardanus, der unbekannte Verfasser des Buches Inepti Religiosi und Cochläus.«479 Nun meinen ›unbekannt‹ und ›ungenannt‹ nicht dasselbe, genauso wenig wie ›kennen‹ und ›nennen‹ synonym sind. Den, den Lessing nennt und vorgibt als Verfasser zu kennen, Josua Schwartz, rettet er nicht. Das würde in doppelter Hinsicht keinen Sinn ergeben. Zum einen ist er eine spiegelbildliche Figur des Angegriffenen, zum anderen passt er nicht in das Schema der übrigen drei Rettungen, die alle Personen zum Gegenstand haben, die von der Orthodoxie zu Unrecht attackiert wurden. Man begeht meines Erachtens einen großen Fehler, wenn man die nicht zufällig en bloc publizierten Rettungen nicht als Einheit begreift. Lessing rettet eben den Text, aus Gründen seiner eigenen religionsphilosophischen Überzeugungen, die mit der Schrift in Teilen eng verwandt sind und den ›ungenannten Verfasser‹, der die ganze Rettung hindurch auch ›ungenannt‹ bleibt. Dafür nennt Lessing gegen Ende seiner Rettung andere.
4.4.4 Chiffren als Anleitung zum Verständnis? – die Schlusspassage
Das Ende der Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers ist wieder einmal ernüchternd. Es gleicht wie so oft bei Lessings frühen Schriften eher einem abrupten Abbruch denn einem ordentlichen Schluss: »Doch ich muß nur aufhören, ehe mich die Lust zu Ausschweifungen mehr Beispiele vorzulegen, verleitet.«480 Die Beispiele, die Lessing zuvor für die satirische Schreibart in An-
478 Abgedruckt in B, Bd. 1, S. 37f. 479 Ebd., S. 37 (Hervorhebung M. M.) 480 WuB 3, S. 243.
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schlag bringt, sind durch die Namen Bruscambille,481 Rabelais und Lucian umrissen. Friedrich Vollhardt weist darauf hin, dass man diese Liste leicht ergänzen könnte, etwa um Erasmus’ Lob der Torheit (1509), Thomas Morus’ Utopia (1516) oder Ulrich von Huttens Dialog Phalarismus (1517). Sie alle »sind dem humanistischen ›Lukianismus‹ zuzurechnen.«482 Diese Tradition muss in enger Verbindung zu skeptizistischen Strömungen gesehen werden.483 Umsomehr verwundert es, dass Lessing gerade diese Strömung am Ende seiner Rettung bemüht. Mit diesen Namen wird eine Gruppe von Satiren assoziiert, die sich einer eindeutigen Aussage verweigern. Sie sind somit das genaue Gegenstück zu dem Verfahren, dass Lessing mit der Figur Josua Schwartz’ und dessen scheinbarer Art der Satire anzeigen will: »Der Verfasser sagt« so will Lessing den Pastor Vogt und seine Leser in erster Instanz glauben machen, »überall das Gegenteil von dem, was er sagen will; und oft sagt er es mit so dürren Worten, daß man sehr dumm sein muß, wenn man seine Meinung nicht fassen will.«484 Man steht hier vor zwei ungleichen Geschwistern, die den gleichen Namen tragen. Eine Satire, die genau das Gegenteil dessen meint, was sie sagt, das ist die vereinfachte Variante. Die andere Möglichkeit ist eine Satire, bei der man nie genau weiß, was ernst gemeint ist und was nicht. Letztere ist nicht ganz einfach auf den Begriff zu bringen, nimmt sie doch Anleihen aus verschiedenen Bereichen,
481 Hinter dem Künstlernamen Bruscambille verbirgt sich Jean Gracieux, der in der Champagne geboren wurde (1575–1634). Er war Mitglied der berühmten Pariser Schauspieltruppe ›Hôtel de Bourgogne‹ und Verfasser mehrerer satirischer Schriften und Traktate. Siehe hierzu: WuB 3, S. 1053. 482 Vollhardt (2006), S. 373. 483 Siehe hierzu Manuel Baumbach: Lukian in Deutschland. Eine forschungs- und rezeptionsgeschichtliche Analyse vom Humanismus bis zur Gegenwart. München 2002 (Beihefte zu Poetica 25), insb. S. 27–65. Baumbach zieht ganz unabhängig von der Kenntnis der lessingschen Rettungen ähnliche Traditionslinien wie dieser 250 Jahre vor ihm. Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Einschätzung von Johannes Rentsch, die Baumbach zitiert. Dort heißt es: »[Lessing besaß], was Lucian und Voltaire fehlte, lautere, tiefernste Ehrfurcht vor dem Unerforschten und, was mehr ist, ein edles, warmes Herz, ohne das doch schließlich auch [. . . ] ein reiches Talent wie Lucian nichts ist als – ein tönendes Erz und eine klingende Schelle.« Johannes Rentsch: Lucian und Voltaire. Eine vergleichende Charakteristik. In: ders.: Lucianstudien. Plauen 1895, S. 1–14, hier S. 14. Ein grundsätzlich ernsthaftes Interesse vonseiten Lessings darf man auch hier unterstellen. 484 WuB 3, S. 238.
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die alle in sich schon problematisch abzugrenzen sind: so etwa die Narrenliteratur,485 die burleske486 oder nur polemische487 Schreibart. Konturiert man die burleske Schreibart im Kontext der Zeit, ergeben sich einige gewichtige Hinweise, dass Lessing damit wohl vertraut gewesen sein muss und nicht, wie Borinski noch annahm, davon keine Kenntnis hatte. Die erste, theoretisch reflektierte Auseinandersetzung im deutschen Sprachraum findet sich bei Daniel Georg Morhof (1639–1691). In seiner literaturgeschichtlichen Abhandlung Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, die erstmals 1682 in Kiel erschien und 1700 eine erneute Auflage erlebte,488 wird das Burleske erstmals thematisiert.489 Im Kapitel ›Von den Erfindungen‹ heißt es dazu mehr als abwertend: Man hat gar eine Schreibart erdacht / die man Burlesque nennet / die von den Italiänern und Frantzosen ist auffgebracht. Es ist zu verwundern / daß / in so klugen Nationen / dergleichen närrisch Ding einen Beyfall hat finden können. [. . . ] Die Italiäner haben uns diese Zierligkeit / die die Heßlig-ligkeit [sic] zur Mutter hat / zu ihrer ewigen Schande ernstlich auff die Bahn gebracht / und haben hernach einige in Franckreich an dieser Mißgeburth / einen Gefallen gehabt. Ein gelehrter Mann nennet dergleichen Carmina nicht unbillig excremanta Pegasi.490
485 Klaus Manger zeigt die möglichen Ausformungen dessen auf, was man in der Literaturwissenschaft unter ›Narrenliteraur‹ zusammenfasst: [Art.] Narrensatire. In: RLW 2, S. 678–680. Eine strikte Bindung an eine bestimmte Textsorte ist dabei nicht gegeben, vielmehr kann sich die Narrensatire in verschiedenster Form, so etwa als Versepos, Roman, Totentanz u. a., präsentieren. Gemeinsam ist ihr »die Möglickeit zur Allegorie« (Ebd., S. 678), die in den meisten Fällen im Rahmen der Lehrdichtung ihre Anwendung findet. Für die Narrensatire im Humanismus immer noch grundlegend ist Barbara Könnekers Habilitationsschrift: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant, Murner, Erasmus. Wiesbaden 1966. Einen über die Narrenliteratur im engeren Sinne hinausführenden Überblick liefert dies.: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung. München 1991 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). 486 Eine eigene Gattung der ›Burleske‹ anzunehmen, scheint nach Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht sinnvoll. Vgl. hierzu: Johann Holzner: [Art.] Humoreske. In: RLW 2, S. 103–105. 487 Auf die Partizipation an der Tradition polemischer Kontroverstheologie wurde bereits hingewiesen. 488 Ich zitiere im Folgenden aus der Ausg. Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie: deren Ursprung, Fortgang und Lehrsätzen; sampt dessen Teutschen Gedichten. Lübeck / Frankfurt 1700. 489 Die einzige Monographie zum Thema, an der sich auch hier orientiert wird, bietet Dieter Werner: Das Burleske. Versuch einer literaturwissenschaftlichen Begriffsbestimmung. Inaugural-Dissertation. Berlin 24.11.1966. Freie Universität Berlin, Philisophische Fakultät. 490 Morhof (1700), S. 610f. (Hervorhebungen im Original).
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Dementsprechend froh ist Morhof dann auch darüber, »daß kein Teutscher solches bißhero nachgemacht« und schließt recht schnell diesen kleinen Exkurs ab: »Wir wollen uns hier mit dergleichen unflätigem Wesen nicht auffhalten.«491 Es darf angenommen werden, dass Lessing diese Einschätzung kannte.492 Viel wichtiger als die eigenen Ausführungen Morhofs – auch was die Betonung der italienischen und französichen Tradition (Rabelais) dieser Schreibweise betrifft – ist aber ein Verweis, den er in diesem Zusammenhang gibt. »Der gelehrte Vavassor hat in seinem Buche / de ludicra dictione, diese Schreibart billig durchgezogen / und seinen Landsleuten solche verwiesen.«493 Gemeint ist hier der Jesuit und neulateinische Theoretiker François Vavasseur (1605–1681), latinisiert Franciscus Vavassor, und dessen Werk De ludicra dictione liber. In quo tota iocandi ratio ex veterum scriptis aestimatur, Erstausgabe Paris 1658 und dann noch einmal Leipzig 1722.494 Gleich im ersten Satz wird der Gegenstand angezeigt: »De ioculari et ridicula dictione, quam homines nostri burlesque appelant.«495 Vavasseur geht im unmittelbar Folgenden darauf ein, dass eine Unterscheidung zu treffen sei bezüglich des burlesken Stils, der sich in zweierlei Manifestation zeigen kann. Zum einen, indem bestimmte Vorlagen (meist mit würdigem Inhalt) auf burleske Weise neu geschrieben werden oder originale Werke sogleich auf diese Schreibart zurückgreifen. Im Zusammenhang der inhaltlichen Bestimmung wird es nun interessant, Vavasseur führt aus: Nec vero satis habent, inepte cogitata sua ineptis efferre verbis, inepta dictione: nisi scripta etiam summorum poëtarum, plena prudentiae, plena gravitatis, mimice & scurriliter tractant, detorquendis aliorsum [!] carminis sententiis; [. . . ].496
491 Ebd., S. 611. 492 Erstlich war Morhofs Werk ein Standard auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und desweiteren schließt Lessing in seiner Theorie des Epigramms an Überlegungen Morhofs an, vgl. F (2010), S. 365. 493 Morhof (1700), S. 610. (Hervorhebungen im Original). 494 Ich zitiere im Folgenden nach der Ausg. Franciscus Vavassor: De ludicra dictione liber. In quo tota iocandi ratio ex veterum scriptis aestimatur [. . . ]. Leipzig 1722. Eine kurze Einordnung von Leben und Werk, insb. in seiner Stellung als Jesuitenpater, gibt Marc Fumaroli: L’âge de l’éloquence. Rhétorique et »res literaria« de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genève 3 2002, S. 407–417. Es gibt in der Bibliothek des Wittenberger Predigerseminars eine Ausg. der Opera omnia. Amsterdam 1709, die Lessing gekannt haben könnte. In ihr bildet De ludicra dict. liber den Auftakt. Die direkt darauf folgende Abhandlung über das Epigramm kannte Lessing in jedem Fall. 495 Ebd., S. 1 (Hervorhebung im Original). 496 Ebd., S. 5 (Hervorhebungen M. M).
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Das ›Törichte‹ ist das Attribut der burlesken Schreibart. Es ist schwer vorstellbar, dass Lessing diese Stelle, zumal sie gleich zu Beginn steht, nicht gekannt haben soll, gerade er, der so viel Sprachgefühl für das Lateinische besessen hat, und viel auf Vavasseur hielt.497 Im Anschluss an Morhof lässt sich der Ursprung der (neuzeitlichen) burlesken Schreibart lokal in Italien und Frankreich festmachen.498 Vor dem Hintergrund dieser Tatsache verwundert es dann auch nicht, dass Lessing nicht auf die von Friedrich Vollhardt ins Spiel gebrachten Kandidaten, die in die gleiche Tradition gehören – Erasmus, Thomas Morus oder Ulrich von Hutten – verfällt, sondern scheinbar ganz bewusst auf zwei Franzosen. Mit dem Komödianten Bruscambille hatte Reimmann, und Vogt folgt ihm darin, einen Possenreißer in seine Atheistengeschichte aufgenommen, dessen Werke »der ewigen Dunkelheit würdig« seien (»liber aeternis tenebris dignus«).499 Allerdings »Herr Reimann irrt sich daher sehr, wenn er vermutet, daß Rabelais vielleicht der eigentliche Verfasser sei. Die Schreibart ist viel neuer, als die Schreibart dieses französischen Lucians – –«.500 Lessing trifft hier eine Unterscheidung, indem er deutlich zu machen versucht, dass Rabelais einer anderen Tradition angehörte, als der vermeintliche Possenreißer. Mit dem Namen Lukian spielt Lessing auf eine Form
497 Vgl. hierzu seine Einschätzung Vavasseurs in den Anmerkungen über das Epigramm: »Der wortreiche Vavassor hat ein langes Kapitel von den Teilen des Epigramms, deren er gleichfalls nur zwei, unter dem Namen der Verständigung und des Schlusses, annimmt, und über deren Bearbeitung er wirklich mancherlei gute Anmerkungen macht.« WuB 7, S. 186. 498 Noch eine weitere Abhandlung zum Themenkomplex des ›Burlesken‹ darf zumindest nicht unerwähnt bleiben, da sie verglichen mit den anderen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Lessings Schrift liegt: Johann Ernst Philippi: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst auch kriechender Poesie; samt bündigem Erweis, des hohen Vorzugs derselben, vor der, heutzutage gerühmten, natürlichen, männlichen und erhabenen Dichterey: [. . . ]. Altenburg 1743. Ich glaube kaum, dass diese bekannte und mit äußerster Polemik geführte Debatte zwischen Philippi und Christian Ludwig Liscow, deren Höhepunkt diese Schrift bildet, für die Herausbildung von Lessings Überzeugungen von besonderer Bedeutung gewesen wäre. Auch die Positionsbestimmung des ›Burlesken‹ innerhalb von Philippis System, scheint eher dem Kampf und der Kontroverse geschuldet, denn treffenden Erkenntnissen. Philippi behandelt das ›Burleske‹ in den Paragraphen 25 und 26 (S. 155ff.). Siehe hierzu auch Werner (1966), S. 35–42. Für die Kontroversen, in die Philippi verstrickt war, siehe Gunter E. Grimm (Hg.): Satiren der Aufklärung. Stuttgart 1975, S. 3–27. Eine ausführliche Bibliographie zur Satire-Forschung, allerdings ohne das Burleske dabei zu berücksichtigen, bietet Harald Kämmerer: »Nur um Himmels willen keine Satyren . . . «. Deutsche Satire und Satiretheorie des 18. Jahrhunderts im Kontext von Anglophilie, Swift-Rezeption und ästhetischer Theorie. Heidelberg 1999 (Probleme der Dichtung 27), S. 321– 326. 499 WuB 3, S. 243. 500 Ebd.
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von antiker Satire an, die in der Nähe skeptizistischer und philosophie- wie auch religionskritischer Strömungen ihren Ursprung hat. Gerade in humanistischen Kreisen, insbesondere bei Erasmus, wurden Lukians Schriften als Exemplum für Vorurteilskritik und moralische Erziehung mit antiklerikaler Spitze geschätzt.501 Rabelais nun – und das ist genau der Punkt, den Reimmann nach Lessing wohl missversteht – war der Ungläubige nicht, wie er in seiner Atheistengeschichte nahelegen möchte. Lucien Febvre hat sich in seiner erstmals 1942 erschienenen mentalitätsgeschichtlichen Studie Le problème de l’incroyance au XVIe siècle die religösen Überzeugungen Rabelais’ zum Leitfaden genommen.502 Rabelais des Atheismus zu bezichtigen, kann durch die Jahrhunderte beinahe als ein locus classicus bezeichnet werden. Lucien Febvre gebührt das Verdienst, die einzelnen Sätze, die für die Vorwürfe der Atheisterei herangezogen wurden, allesamt zu widerlegen. Dies bildet den ersten Teil seiner Studie. Viel interessanter in unseren Zusammenhang ist aber der zweite Teil, in dem Febvre zu verstehen versucht, in welcher Welt sich Rabelais bewegte und von welchen Prämissen sich Rabelais in ›seinem‹ Christentum leiten ließ. Kurt Flasch hat das in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe treffend zusammengefasst.503 Einen Punkt möchte ich dabei herausgreifen: Sowohl Martin Luther als auch Noël Béda, Theologe an der Sorbonne, warfen Erasmus Unglauben vor, »seine milde Art des Christentums sei kein wirkliches Christentum, er trage den spottenden antiken Lukian im Herzen, auch wenn er sich mit dem Mund zu Christus bekenne«.504 Das Christentum ist nur in der Gesamtheit seiner Lehre zu haben. Jede Reduktion ist unzulässig, kein einzelner Lehrsatz steht zur Disposition oder darf aus dem Gebäude der Systematik entfernt werden. Falls dies doch geschieht, steht alsbald der Vorwurf der ›Gottlosigkeit‹ im Raum; Erasmus als Lukian zu titulieren, wie Luther es tat, beinhaltet unausgesprochen eine Unterstellung von Epikureismus.505 Der Glaube an die Wundertätigkeit Jesu, als Ausweis seiner göttlichen Abkunft oder gar eigenen Göttlichkeit, war solch ein Lehrsatz, der oftmals zuallererst bezweifelt wurde.506 Auch Rabelais stand den Wundererzählungen (und vielem anderen in der
501 Siehe hierzu Baumbach (2002), S. 34–40. 502 Die erste deutsche Übersetzung liegt sechzig Jahre nach Erscheinen vor: Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Stuttgart 2002. 503 Ebd., S. 506–536. 504 Ebd., S. 524. 505 Baumbach (2002), S. 40. 506 Erinnert sei hier an die zentrale Position, die der Glaube an die Wundertätigkeit, als unfehlbares Zeichen des Göttlichen, im Argumentationsgang des Religionsgespräches in der Rettung des Cardanus eingenommen hat.
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überlieferten Tradition ebenfalls) skeptisch gegenüber, am deutlichsten in seinem Riesen-Roman Gargantua und Pantagruel (1532–1564 in fünf Büchern). Kurt Flasch verweist auf die Linie, die von Rabelais zurückreicht: Wer wie Ficino oder Erasmus in der Nächstenliebe und in einer unprätentiösen Nachfolge des neutestamentlichen Jesus das Wesen des Christentum sah, konnte durchaus ein gläubiger Christ sein, aber Wundererzählungen mit äußerstem Mißtrauen begegnen, hatte doch nicht nur Erasmus gesagt, das Christentum hänge nicht von Wundern ab. Schon der frühe Augustinus hatte erklärt, Wunder seien nur in der Anfangszeit des Christentums vorgekommen, jetzt seien sie nicht mehr nötig.507
Diesbezüglich kann man sowohl Lessing als auch den von ihm geretteten Ineptus religiosus und seinen ungenannten Verfasser mit in diese Reihe aufnehmen. Während im Ineptus deutliche Züge der Wunderkritik zu finden sind,508 ist die Ausrichtung hin auf ein praktisches, der Nächstenliebe als oberstes Gebot verpflichtetes Christentum eine durch und durch lessingsche Überzeugung. »Pierre Bayle hat schon bezüglich des Rabelais geurteilt: ›Sein Glaubensbekenntnis war nicht mit vielen Glaubensartikeln belastet.‹ Rabelais nahm sich Freiheiten heraus, aber an der Existenz Gottes hat er nie gezweifelt, auch nicht an der göttlichen Vorsehung.«509 Gleiches könnte man wohl auch über Lessing und dessen religiöse Überzeugungen sagen. Teile davon sieht man auch im Ineptus repräsentiert. Das Spiel, das Lessing in der Rettung des Inepti religiosi und seines ungenannten Verfassers spielt, ist geprägt von Simulation und Dissimulation, Verweisen, Hinweisen und bewusst gesetzten falschen Anspielungen, aber auch Chiffren, die, versteht man sie aufzulösen, Anleitung zum rechten Verständnis sind. Es ist ein herausragendes Stück Gelehrsamkeit und in seinen intertextuellen Bezügen bei weitem kein »Versuch, der den Verfasser vermutlich unbefriedigt gelassen hat«,510 sondern das genaue Gegenteil.
507 Flasch in Febvre (2002), S. 526. 508 Lessings späterer Beitrag zur Diskussion besteht in der Veröffentlichung des letzten Reimarus-Fragmentes Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger (1778). 509 Ebd., S. 527. 510 WuB 3, S. 1036.
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4.5 Die Rettung des Cochläus, aber nur in einer Kleinigkeit Ich gestehe es ganz gerne, daß Cochläus ein Mann ist, an den ein ehrlicher Lutheraner nicht ohne Abscheu denken kann. Er hat sich gegen unsern Vater der gereinigtern Lehre, nicht als einen wahrheitsliebenden Gegner, sondern als einen unsinnigen Lästrer, erwiesen; [. . . ] Verfälschungen, Lügen, Schimpfwörter, Flüche waren seine einzigen Waffen, welche der Aberglaube heiligte, so ungerecht sie auch waren.511
Für eine Rettung des Cochläus sind das massive Anschuldigungen, die Lessing hier zu Beginn anführt. Allerdings sind sie strategischer Natur. Cochläus als Person dürfte Lessing jenseits einer allgemeinen Menschlichkeit und dem Ideal fairer Behandlung in der Historiographie tatsächlich wohl wenig angehen. Zwei Auffälligkeiten in dieser Eingangspassage verdienen jedoch eingehendere Beachtung, gerade weil sie unter der geschickten rhetorischen Gestaltung beinahe untergehen, was im Eingangssatz sicherlich nicht ohne bewussten Einsatz der Sprache Lessings geschehen konnte. Zum einen wäre da die im Luthertum doch sehr seltene Formulierung von der »gereinigtern Lehre«. Auch Luthers Lehre ist demnach nicht die gereinigte Lehre, wie es im Jargon der Lutheraner eigentlich zu erwarten wäre. Hier kommt ein Moment hinzu, dass in späteren Schriften, vor allem aber in der Erziehung des Menschengeschlechts prominent werden sollte: die Relativierung der geoffenbarten Religionen vor dem Hintergrund der Geschichte. Keine Religion, auch die reformierte, kann für sich einen Absolutheitsanspruch in Hinblick auf ihre Wahrheit geltend machen. Alle bleiben den Bedingungen der Geschichtlichkeit unterworfen. Die Schmähungen gegen Cochläus täuschen über diese kleine, aber scharfe Spitze beinahe hinweg, nichtsdestotrotz wird genau dieses Thema im weiteren Verlauf des Textes immer wieder an neuralgischen Stellen eingeflochten werden. Es gibt eine zweite Schicht des Textes, die sich nicht unmittelbar offenbart. Der zweite Punkt, auf den es hinzuweisen gilt, sind die Vorwürfe, die Lessing Cochläus scheinbar entgegenbringt. Des Lästrers »Verfälschungen, Lügen, Schimpfwörter, Flüche waren seine einzigen Waffen, welche der Aberglaube heiligte«. Diesen Eifer unterstellt Lessing im Folgenden den Geschichtsschreibern der lutherischen Orthodoxie (sie sind ebenfalls »ungerecht«, wenn vielleicht auch »nur in einer Kleinigkeit«). Das wirft ein völlig anderes Licht auf den Begriff des Aberglaubens. Die Luther-Verehrung und Luther-Hagiographie der Orthodoxie wird dem katholischen »Aberglaube[n]« angenähert. Dogmatismus verstellt den Blick auf Wahrheiten, sei es nun von katholischer oder protestantischer Seite
511 WuB 3, S. 244.
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aus. So verschränken sich hier Verteidigung und Angriff auf eine bemerkenswerte Weise: Obwohl Cochläus an der ›Oberfläche des Textes‹ gegen die scheinbare Intention der Überschrift angegriffen wird, kommt auf einer versteckteren Ebene des Textes die lutherische Orthodoxie in den Blick, der gleiches Vorgehen attestiert wird. Dass Lessing Cochläus vor Gegenverleumdungen schützen will, ist sein ethisches Ziel, und das obwohl er wohl kaum etwas Besseres zu verdienen scheine, denn: »Man würde ihm [Cochläus], wenn man es auch noch so arg machte, dennoch nicht so viel Unrecht tun können, als er Luthern getan.«512 Aber man muss ihm gar kein Unrecht tun, um ihm den gebührenden Platz in der Geschichte zuzuweisen. Und auch dieser ist nicht allzu schmeichelhaft aus protestantischer Sicht.513 In der katholischen Geschichtsschreibung wiederum bleibt das von Cochläus gezeichnete Lutherbild bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bestimmend.514
4.5.1 Johannes Cochläus – ein Erzfeind Luthers
Den Einfluss Cochläus’ kann man kaum überschätzen und man würde einen Fehler begehen, die Rolle dieses Gelehrten zu marginalisieren, wie dies zurzeit in der neueren Lessing-Forschung geschieht: »Die Rettungen sind in der Forschung kaum berücksichtigt worden, was aufgrund der Themen, bei denen es sich um spezifische Zeitfragen handelt, nicht verwundert. Interessant sind die Rettungen jedoch, wenn man sie nicht im Hinblick darauf betrachtet, was Lessing rettet, sondern wofür er rettet.«515 Erst wenn man die Bedeutung Cochläus’ und das durch seine Schriften mitbestimmte Selbstbild der lutherischen Orthodoxie hinzuzieht, wird das doppelte Spiel, das Lessing hier treibt, deutlich. Aber zurück zum Text. Lessing fährt in der Rechtfertigung seiner Schrift mit einer geschickt eingefädelten captatio benevolentiae fort: Doch endlich überlegte ich auch auf der andern Seite, daß man dadurch, so gut als er, einen Mangel an Gründen, die keines falschen Zusatzes benötigt sind, verraten würde; daß durch
512 Ebd. 513 Eine prominentere Rolle spielen die Verdienste Cochläus’ außerhalb der engen konfessionellen Grenzen, wo er durchaus als geachteter Gelehrter wahrgenommen wurde. 514 Erst Adolf Herte sollte dies korrigieren: Die Lutherbiographie des Johannes Cochläus. Eine quellenkritische Untersuchung. Münster 1915; sowie ders.: Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus. 3 Bde. Münster 1943. 515 Horsch (2004), S. 29. Dass man deshalb dem »wofür« weiterhin Beachtung schenken muss, versteht sich von selbst, allerdings ist kein »wofür« ohne das »wen« sinnvoll beschreibbar.
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eine ungezwungene Aufrichtigkeit sich sein Ansehen sicherer untergraben ließe, als durch ihm abgelernte Ränke; und kurz, daß man auch dem Teufel nicht zu viel tun müsse. Dieser Überlegung habe ich es also zuzuschreiben, daß ich mich folgendes aufzusetzen habe überwinden können.516
Fairness besteht also gerade nicht in der Imitatio von Schmähschriften, sondern darin, dass man einen Schritt zurücktritt und nach gegebenem Maße ein objektives Urteil fällt, in dem man nicht einmal dem Teufel unrecht tun sollte. Auch hier verschleiert Lessing bis zu einem bestimmten Grad seine Strategie, denn er wird durchaus Vorwürfe vorbringen, allerdings weniger gegen Cochläus, als gegen die lutherische Orthodoxie. In einem nächsten Schritt nennt Lessing in Paraphrase die oftmals wiederholte Beschuldigung: Unter den Vorwürfen, welche die Katholiken uns wegen der Reformation zu machen pflegen, ist derjenige keiner von den geringsten, den sie von den vorgeblichen veranlassenden Ursachen hernehmen. Dieses Werk, sagen sie, ward ganz und gar nicht aus einem heiligen Eifer angefangen; der Neid war die Triebfeder. Es verdroß Luthern, dass man seinem Orden den Ablaßkram entzogen, und ihn den Dominikanern gegeben hatte.517
Mit Nennung der Anschuldigung Luthers ist der Gegenstand des Prozesses benannt, der Hauptstreitpunkt, um dessen Willen die Rettung in einem ersten Schritt angestrengt wird. Sie bildet den Eintritt in die Oberfläche des Textes, Cochläus wird als Urheber dieses Gedankens nicht genannt, er ist bereits zum Allgemeingut geworden – ebenso wie die Antworten auf diese Beschuldigungen seitens der lutherischen Orthodoxie.518 »Hunnius, Seckendorf, Möller scheinen alles gesagt zu haben, was man darauf sagen kann.«519 Mit diesen drei Namen bezeichnet Lessing Widerlegungen, die von den Anfängen der Reformation bis zu Beginn seines Jahrhunderts von Seiten der Lutheraner wider die Vorwürfe der Katholiken veranstaltet wurden, in chronologischer Folge.520 Wenngleich alle drei ihre Ver-
516 WuB 3, S. 244. 517 Ebd., S. 244f. 518 Ebd., S. 245. 519 Ebd. 520 Den Auftakt bildet dabei Aegidius Hunnius (1550–1603), Professor der Theologie zu Marburg sowie Probst und Superintendent des sächsischen Kurkreises in Wittenberg. Er gilt als einer der ersten Vertreter der lutherischen Frühorthodoxie: »An gelehrter Gründlichkeit und Scharfsinn übertraf er seine gleichzeitigen Parteigenossen, an Verdienst ist er sogar der Dritte nach Luther genannt worden«, wie der Eintrag in der ADB (Bd. 13, S. 415f.) vermerkt. Ein Theologe von Gewicht also, wenngleich heute nur noch in Spezialistenkreisen bekannt, zu Lessings Zeiten aber wohl noch eine Autorität, deren Namen man kannte, so dass die bloße Nennung Evidenz
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teidigungen »nur mit wenig Worten getan haben«,521 so galt dass Thema doch ungeachtet der weiteren Vorwürfe von katholischer Seite als erledigt. Für die lutherische Orthodoxie war das Problem keines mehr, oder doch zumindest eines von geringer Dringlichkeit. Um so erstaunlicher ist es, dass es der Herr D. Kraft vor einiger Zeit für wert gehalten, sich umständlicher darüber einzulassen. Er verteidigte daher, im Jahr 1749, als er sich noch in Göttingen befand, eine Streitschrift de Luthero contra indulgentiarum nundinationes haud quaquam per invidiam disputante. Diese Arbeit ward sehr wohl aufgenommen, so gar, dass man auch einige Jahr darauf eine freie Übersetzung, unter dem Titel die gerettete Ehre des sel. D. Martin Luthers, davon besorgte.522
Kraft fügt dabei dem Thema eine Komponente hinzu, die sich Lessing für seine Rettung respektive seinen Angriff zu Nutze machen wird.
genug schien. Mit Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) führt Lessing ein weiteres Schwergewicht der Reformationsgeschichtsschreibung an, dessen Bekanntheit sich über Theologenkreise hinaus bis heute bewahrt hat. Sein Werk Commentarius historicus et apologeticus de lutheranismo von 1688 (3 Bde., vollendet 1692) kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Auch hier steht der Name bereits für Autorität. Für die Bedeutung von Seckendorffs für die Verteidigung der Reformation siehe Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005 (Historia profana et ecclesiastica 11), insb. S. 5–21. Den Abschluss der Trias bildet, folgt man dem Kommentar, Johann Gottlieb Möller (1670–1698, dort ist als Sterbedatum fälschlicherweise das Jahr 1700 angegeben), dessen Arbeiten zur Kirchengeschichte und vor allem zu Luthers Leben bedeutend waren und lange blieben. Der hier zu Debatte stehende Text ist, wie der Kommentar vermutet, Lutherus Lutheranus ante Lutheranismum, erschienen Rostock 1693. Das ist falsch (ein Lesefehler im Manuskript kann ausgeschlossen werden, auch G 7, S. 53, bringt: Möller. Der Kommentar verfällt auf den gleichen Fehler wie WuB). Es liegt hier eine Verwechslung vor, denn Lessing spielt an dieser Stelle auf Johann Müller (1598–1672) und dessen Schrift Lutherus defensus: das ist / Gründliche Wiederlegung dessen / was die Bäpstler D. Lutheri Persohn fürwerffen / von seinen Eltern / Geburt / Beruff / [. . . ] Kürtzlich [. . . ] verfasset. an. Die Schrift erschien erstmals 1634 in Hamburg und erlebte bis 1706 fünf weitere Auflagen. Welche Blüten das Verteidigen zeitigen kann und dass es mitunter sogar bis zu einem regelrechten Schlagabtausch kommen kann, zeigt die ebenfalls von Müller verfasste Schrift: Defensio Lutheri defensi. Das ist: Der Wolvertheidigte Luther Entgegen gesetzet Dem Unvertheidigten Luther Des Preußischen Jesuiten P. Carll von Kreutzen: Darinne die Einwürffe des Jesuiten gründlich beantwortet / und bestendiglich wird erwiesen / das Lutherus kein Teuffels-Sohn / kein Sodomit / kein Nonnenschender / kein Zigeiner / Goteslästerer noch Auffrührer / etc. gewesen / und sich nicht erhencket habe / etc. Hamburg 1659 (ebenfalls mehrere Auflagen). Zu Johann Müller siehe auch das Kapitel 4. 2. 1, dort auch Hinweise zur Biographie. 521 WuB 3, S. 245. 522 Ebd.
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Wer war Friedrich Wilhelm Kraft? Im Vergleich zu den drei zuvor Genannten muss man Friedrich Wilhelm Kraft in die hinteren Reihen der lutherischen Theologen einordnen. Den großen Nationalbiographien war er keinen Eintrag wert. Einzig Heinrich Döring widmete ihm einen Artikel in seiner großen Panoramaschau Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert: Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt.523 Der Wert der Schrift Krafts, obgleich »diese Arbeit [. . . ] sehr wohl aufgenommen [ward]«,524 kann Lessings Motivation zur Rettung des Cochläus nicht hinreichend erklären. Kraft war ein aufstrebender, wenngleich nicht brillanter Theologe, der kurz vor der Veröffentlichung seiner Disputation als Universitätsprediger nach Göttingen berufen worden war und sich Hoffnungen auf eine akademische Karriere machen durfte.525 Dennoch war der ehemalige Dorfpfarrer kein – auch für den jungen Lessing nicht – würdiger Gegner. Es war vielmehr die Möglichkeit seiner Rettung eine zeitgenössische Note zu geben, indem er Krafts jüngst erschienene Studie zum Anlass nahm. Zudem sich Kraft auch auf einem anderen Gebiet bemerkbar gemacht hatte, das Lessing brennend interessierte: dem Umfeld Balthasar Bekkers und dessen Bezauberter Welt (1691). Es ist bekannt, dass Lessing eine Übersetzung und kritische Kommentierung dieses Werkes in seiner Wittenberger Zeit plante, dann aber von dem Vorhaben wieder Abstand nahm.526 Die Auffassung Krafts, dass »die Vernunft [. . . ] auf dem Gebiet der Dämonologie eine inkompe-
523 Heinrich Döring: Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert: Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt. 4 Bde. Neustadt a. d. Orla 1831–1835, hier Bd. 2 (1832), S. 176–178. 524 WuB 3, S. 245. 525 Über den unmittelbaren Werdegang informiert Konrad Hammann: »Kraft verdankte seine Ernennung zum Universitätsprediger hauptsächlich der Fürsprache des hannoverschen Hofrats und Mediziners P. G. Werlhof sowie des im Dienst des Herzogs von Sachsen-Gotha stehenden Hofrats C. Fr. Buddeus, die beide übereinstimmend Krafts gediegene theologische Bildung und die überzeugende, ›Sinnreiche‹ und freimütige Anlage seiner bis dato veröffentlichten Arbeiten. Buddeus hebt daneben hervor, er habe Kraft gelegentlich selbst auf der Kanzel erlebt und von seinem Predigtvortrag einen angenehmen Eindruck gewonnen. [. . . ]. In der Tat drängte es Kraft in das akademische Lehramt. Dabei konnte er, als er die Göttinger Stelle antrat, nicht nur auf eine achtjährige Erfahrung als Gemeindepfarrer zurückblicken, sondern er hatte sich auch in seiner bisherigen theologischen Arbeit zumal in Sachen Predigt einen gewissen Namen gemacht.« Konrad Hammann: Universitätsgottesdienst und Aufklärungspredigt. Die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus. Tübingen 2000 (Beiträge zur historischen Theologie 116), S. 235. 526 N, S. 187. Sowie Aner (1929), S. 234–252. Auch Bekker war dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt. Näheres hierzu bei Annemarie Nooijen: Balthasar Bekker und der Atheismusvorwurf. Zur Auseinandersetzung mit dem Spinozismus und dem Cartesianismus in der deutschen Debatte um die »Betoverde Wereld«. In: Duhamel, Roland; Gemert, Guillaume van (Hgg.): Nur Narr? Nur
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tente Ratgeberin [sei]«,527 steht konträr zu der Lessings. Vielleicht, man kann hier nur mutmaßen, ist Lessing über diesen Weg auf die Spur Krafts gekommen. In jedem Fall war Krafts Schrift – und Kraft selbst als Vertreter der Orthodoxie – der passende Einstieg für Lessing und somit eine dankbare Vorlage, denn »[d]er Herr D. Kraft will nemlich, dass Cochläus der aller erste Erfinder obgedachter Verleumdung sei, und dass vor ihm auch Luthers allerärgsten Feinde nicht daran gedacht hätten.«528 Mit diesem Zusatz, den Kraft in die ohnehin bereits breit diskutierte und ad acta gelegte Anschuldigung einbrachte, machte er nicht nur einen historiographischen Fehler. Lessing zitiert die in Frage stehende Stelle aus der deutschen Übersetzung in aller Ausführlichkeit: Wir setzen aber [. . . ] den allgemeinen Grund voraus, welcher allerdings ein großes Gewicht hat, daß alle Schriftsteller, welche zu Luthers Zeiten gelebt, nicht ein Wort von dieser Zunötigung [dem Vorwurf des Neides, M. M.] gedacht haben. Es ist nicht einmal nötig, daß wir uns auf die berühmten Männer, welche sich eine allgemeine Hochachtung erworben haben, beziehen, nemlich den Schleidan, Thuan, Guicciardini; oder daß wir diejenigen anführen, welche sich noch ziemlich unparteiisch und aufrichtig bewiesen, nemlich den Jovius, Alphonsus a Castro, Ferron, Surius etc. als die insgesamt Luthers Aufstand aus andern Quellen herleiten, und von dieser Anschuldigung nichts wissen; sondern wir wollen uns, ohne alles Bedenken, auf die Schriften der giftigsten Feinde Luthers berufen, welche den möglichsten Fleiß angewandt, alles mit vieler Bitterkeit zu sammeln und drucken zu lassen, was ihre Raserei wider ihn Verdächtiges und Lächerliches nur aussinnen können.529
Hier gilt es kurz zu unterbrechen, um eine kleine Beobachtung anzubringen. Rhetorisch ist diese Stelle nicht ungeschickt gestaltet, in der Klimax werden die Gelehrten, deren allgemeiner Hochachtung man versichert ist, schnell übergangen. Ebenso geht es den Historikern, denen man zumindest ein in Teilen unparteiisches Urteil zutrauen kann. Für die dritte Gruppe zieht Kraft dann alle Register der möglichen Attribute, um die Folgenden von vornherein moralisch zu diskreditieren. Daher urteilt er auch gleich im Superlativ: Es sind die »giftigsten Feinde Luthers«, die den »möglichsten Fleiß« darauf verwenden, ihn und sein Werk in den Schmutz zu ziehen. Dieses Vorgehen lässt sich nur mit »Raserei« erklären, die Anschuldigungen hingegen entbehren jeder Grundlage.530 Namen nennt
Dichter? Über die Beziehungen von Literatur und Philosophie. Würzburg 2008 (Deutsche Chronik 56/57), S. 117–142. 527 Hammann (2000), S. 245 528 WuB 3, S. 245. 529 Ebd., S. 245f. 530 In der zeitgenössischen Bedeutung von ›Raserey‹ spielt das Grundlose noch eine zentrale Rolle: Im entsprechenden Eintrag bei Zedler heißt es dazu: »[W]iewohl nicht unwahrscheinlich
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Kraft überraschenderweise, oder vielleicht doch aus Berechnung, keine. Aber weiter im Text: Es ist dieser Umstand wahrhaftig nicht obenhin anzusehen, daß unter allen diesen Vorfechtern, welche vom Jahr 1517 bis an den Tod Luthers 1546, ihm mündlich und schriftlich einen Rang abzulaufen gesucht, auch nicht einmal in dem ersten Treffen, als von dem Ablaß allein, und von den Ursachen des angefangenen Streits eigentlich die Rede war, nicht ein einziger so unverschämt gewesen, daß er diesen Bewegungsgrund angegeben, und Luthern eines solchen Neides beschuldigt hätte, dergleichen ihm nach der Zeit zur Last gelegt worden.531
Die Vorwürfe steigern sich nochmals enorm. Selbst Luthers erbitterteste Gegner hatten Anstand genug, ihn nie zu Lebzeiten anzuschuldigen, die Reformation nur aus Neid angezettelt zu haben. Erst die üble Nachrede nach seinem Ableben konnte auf so einen ungeheuren Vorwurf verfallen. Und Cochläus war mit einer der ersten unter diesen Feiglingen. Kraft setzt zwei Bindestriche, gleichsam als ob er noch einmal durchatmen müsse, um das über die Lippen zu bringen, was folgt: – – Cochläus selbst, der unglückliche Erfinder dieser Fabel, hat in den Schriften, die er dem noch lebenden Luther entgegen gesetzt, davon nicht einmal gelallt; sondern erst, (§ 4) nach dessen Tode, in dem Verzeichnisse der Taten und Schriften Martin Luthers in Sachsen, damit hervor gerückt etc.532
Kraft wirft Cochläus nicht nur vor, dass er der erste war, der diese Legende in die Welt gesetzt hat, sondern bezichtigt ihm zudem auch der Feigheit. Er habe nicht den Mut gehabt, diese Anschuldigung zu Luthers Lebzeiten vorzubringen, so dass sich dieser selbst hätte verteidigen und den Vorwurf entkräften können. Dies vorausgesetzt, müsse man Cochläus also auch noch List und Heimtücke unterstellen. Der Gedanke schwingt zumindest in der Darstellung mit. Cochläus war – nach Krafts Darstellung – ein infamer Einzelgänger mit seiner Idee, auf die gesunder Menschenverstand, wie die anderen genannten Beispiele belegen, nie
ist, daß die Meynung von dieser Raserey ihren Ursprung von der verstellten und erdichteten Raserey der heydnischen Priester bey deren Orackeln genommen. Und was einige auch zu unsern Zeiten, von dem, was in den menschlichen Wissenschafften und auch in der Poesie göttlich, ist fürgegeben, beruhet auf dem schlechten Grunde, besonders, wenn sie durch das göttliche etwas übernatürliches, das keines Menschen Verstand erreichen kan, verstehen, [. . . ].« Zedler 28, Sp. 1011f. 531 WuB 3, S. 246. 532 Ebd. Die Schrift, auf die Kraft hier verweist, ist Johannes Cochläus: Commentaria de actis et scriptis Martin Lutheri. Mainz 1549.
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kommen würde. Der lutherische Theologe hingegen stilisiert sich als Anwalt des Reformators, der den Beschuldigten in Sachen übler Nachrede verteidigt; der Urheber ist ausgemacht und von dort aus kann dieser falsche Mythos mitsamt der gegnerischen Fortschreibung desselben in der Geschichte der Reformation zerstört werden. Wenn man Cochläus, und das ist Krafts Hauptziel, als unmoralischen und unglaubwürdigen Menschen erkannt hat,533 erledigt sich die Lüge von selbst und Luthers Leben und Erbe ist reingewaschen. Man entledigt sich elegant eines störenden Flecks im Selbstbild. Diesen Hintergrund gilt es bei Lessings Widerlegung mitzudenken. Lessing bestreitet zweierlei, zum einen, dass Cochläus diese Geschichte »zuerst vorgebracht habe« und des Weiteren, dass »in den Jahren von 1517 bis 1546 von keinem Menschen jemals sei daran gedacht worden«.534 Denn beides, »mit Erlaubnis des Herrn Dokters [!], ist falsch.«535
4.5.2 Die Widerlegung der Anklage – zwei Briefe des Alphonsus Valdesius
Die reine Faktenlage ist schnell widerlegt. Lessing zitiert, zunächst noch ohne Nennung des Autors, eine Briefstelle, die beide Anschuldigungen als haltlos erkennen lässt. Schon im Sommer 1520, also nahe zur Geburtsstunde der Reformation, fielen beide Anschuldigungen, die zunächst noch nicht einmal als üble Nachrede oder abwertende Bemerkung zu verstehen sind, sondern lediglich als Bericht über das, was man von den Vorgängen in Wittenberg gehört hatte. Der spanische Humanist und Sekretär Karls V., Alphonsus Valdesius, hielt sich zu besagter Zeit in nicht allzu großer Entfernung zum Ort des Geschehens auf und schrieb an seinen ebenfalls zeitweilig am spanischen Hofe beschäftigten italienischen Kollegen Peter Martyr zwei Briefe, einen aus Brüssel und einen weiteren aus Worms. Lessing gibt beide vollständig in Übersetzung wieder, nicht jedoch ohne zuvor einige Bemerkungen zu den Briefpartnern einzuschieben. In dem Maße, wie Kraft versucht hat, Cochläus zu diskreditieren, versucht Lessing seine Quellen stark zu machen, das will heißen, als unabhängig und von politischen oder konfessionellen Ränkespielen frei darzustellen. Die Belehrung beginnt mit einer kleinen, aber bestimmt gesetzten Spitze: Erstmals wird Kraft in der Anrede der Doktortitel versagt und ganz unvermittelt, mit dem Gestus der
533 Lessing nennt ihn nicht ohne Grund nach der Darstellung Krafts einen »Mann ohne Treu und Glauben«, WuB 3, S. 246. 534 Ebd. 535 Ebd.
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Kennerschaft eingesetzt: »Wer ist denn aber dieser Alphonsus Valdesius?«536 Noch bevor Lessing sich näher mit seiner bis dato unbekannten Quelle auseinandersetzt, schließt er eine Verwechslung aus und kontert damit eventuell mögliche Einwürfe. Johann Valdesius, »der in Neapolis den ersten Samen des Luthertums ausgestreuet hat«, ist nicht gemeint. Über Lessings Alphonsus »ist überall das tiefste Stillschweigen.«537 Die Informationen, die Lessing zu geben vermag, sind äußerst dürftig, wie er selbst eingesteht, es sind lediglich »sehr dunkle und unzulängliche Nachrichten«.538 Neben der Einschätzung, dass Alphonsus ein ›vielversprechender junger Mann‹539 gewesen sei, kann er nur noch den Namen seines Vaters – Fernandus de Valdes540 – und dessen Profession angeben: er war Statthalter (Ratsherr) in Cuenca (Kastilien). Ein wenig mehr ist doch zu sagen, auch um die Option zu prüfen, ob Lessing, trotz gegenteiligen Bekenntnisses,541 vielleicht bewusst die ein oder andere Information unterschlagen hat, um seine Argumentationsziele nicht zu gefährden. Johann und Alphonsus Valdesius waren so weit nicht voneinander entfernt, wie Lessing glauben machen wollte, sie waren Zwillingsbrüder mit ähnlichen Karrieren.542 Beide sind von Erasmus und dessen Auffassung von Humanismus tief geprägt, was sie zeitlebens verband. Beide waren Reformbestrebungen innerhalb der katholischen Kirche äußerst aufgeschlossen und bekundeten offen ihre Sympathie aus humanistischen Überzeugungen heraus. Ebenso eint sie, dass eine Kirchenspaltung für sie nie zur Debatte stand.543 Alphonso spielte gegenüber
536 Ebd., S. 247. 537 Ebd. 538 Ebd. 539 »magnae spei juvenis«, ebd. 540 Der Stellenkommentar gibt den Namen ›Ferdinando de Valdés‹ an. Das ist falsch und kann leicht zu einem Missverständnis führen. Fernando de Valdés (1483–1568) war spanischer Bischof und Großinquisitor unter den Päpsten Paul IV. und Pius IV., vgl. hierzu BBKL 12, Sp. 1037–1040. Das ist natürlich mitnichten der Vater Alphons’, dessen Namen Hernando de Valdés war. 541 »Das sind sehr dunkle und unzulängliche Nachrichten, wird man sagen; es ist wahr; allein, kann ich sie besser geben, als ich sie habe? Ich habe es nicht einmal gewagt, sie deutsch zu übersetzen, aus Furcht, auch nur mit dem allergeringsten Worte von ihrem eigentlichen Verstande abzuweichen.« WuB 3, S. 247. 542 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Artikel von Erich Wennecker im BBKL, für Alphonso siehe Bd. 12, Sp. 1035–37, für Juan Bd. 12, Sp. 1040–1051. Dort findet sich auch weiterführende Literatur. Eine detaillierte und auf den neuesten Stand gebrachte Literaturliste zu den beiden Brüdern findet sich bei Jaumann (2004), S. 670f. 543 Selbst dem vor der spanischen Inquisition nach Italien geflüchteten Juan, der nach Lessing »den ersten Samen des Luthertums« (WuB 3, S. 247) in Neapel ausstreute, lag dieses Bestreben fern: »Valdés war kein Reformator im klassischen Sinne. Seine humanistische Prägung war für
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Juan, wenngleich vielleicht nicht in der Wirkung, so doch in der konkreten historischen Situation die gewichtigere Rolle. Er reiste im Gefolge Kaiser Karls V. 1521 zum Reichstag nach Worms, wo er am 17. und 18. April die Befragung Luthers durch den Kaiser miterlebte. Ob und wenn ja inwieweit er bei der Schlichtung des Falles, die ja bekanntlich scheiterte, beteiligt war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Sicher ist hingegen, dass er knappe zehn Jahre später auf dem Augsburger Reichstag an der Vermittlung zwischen dem Kaiser und Philipp Melanchthon, in seiner Funktion als Verhandlungsführer der protestantischen Seite, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Aber zurück nach Worms. Alphonso de Valdés hatte also Luthers Anhörung hautnah miterlebt und die dortigen Ereignisse nur einen knappen Monat später – am 21. Mai 1521 – brieflich mitgeteilt. Für die Widerlegung Krafts spielt dieser zweite von Lessing übersetzte und abgedruckte Brief keine Rolle mehr, die beiden Vorwürfe hatte er schon mit dem anonymen Zitat zu Beginn, das dem ersten Brief vom 31. August 1520 entstammt, völlig entkräftet. Der zweite Brief muss demnach eine andere Funktion haben. Inwieweit ein Bericht eines Augenzeugen für Integrität und historische Wahrheit sprechen kann, auch in Bezug darauf, ob Luther die Reformation tatsächlich aus Neid angestoßen hat, bleibt als Frage im Raum. Dazu gleich mehr. Zunächst gilt es noch zu klären, wie Lessing überhaupt an die Briefe kam. Die beiden Briefe sind im Opus Epistolarum des, wie Lessing ihn nennt, Peter Martyr abgedruckt. Hinter der latinisierten Form verbirgt sich der italienische Diplomat und Geschichtsschreiber Pietro Martire d’Anglerius (1457–1526), der zeitweise am spanischen Hof tätig war.544 Über dieses »sehr rare Buch«545 gibt Lessing ausführliche bibliographische Angaben:
seinen Lebensweg entscheidend. Über die Mystik kam er zu evangelischen Lehren, ohne völlig mit der katholischen Kirche zu brechen. Seine Schüler wurden durch die Inquisition und ihre Tätigkeit oftmals zu diesem Schritt genötigt. Über seine Schriften und seine zahlreichen Kontakte übte Valdés einen erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der Reformation in Italien aus. Durch seine Schüler Pérez de Pineda und Don Carlos de Seso kamen seine Ideen zurück nach Spanien und prägten die Theologie der evangelischen Gemeinden in Sevilla und Valladolid.« BBKL 12, Sp. 1041f. 544 Lessing weist selbst darauf hin, dass dieser nicht mit Peter Martyr Vermilium (1499–1562) zu verwechseln sei. Dieser, um die Sache weiter zu verkomplizieren, hielt Umgang mit seinem Zwillingsbruder Juan de Valdés in Italien. Der Theologe war Mitglied in der Gruppe um Juan in Neapel, die sich um Praktiken der Mystik und des Illuminismus bemühten, vgl. hierzu: BBKL 12, Sp. 1040ff. 545 WuB 3, S. 247.
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Seine Schriften sind bekannt, ob sie gleich fast alle unter die seltnen gehören. Besonders werden seine Briefe, wegen der ganz besondern darinne enthaltenen Nachrichten, sehr hoch geschätzt. Sie sind das erstemal im Jahre 1530 zu Complut in Folio gedruckt, und von den Elzeviren im Jahr 1670 zu Amsterdam, in eben demselben Formate, nachgedruckt worden; doch hat man nur sehr wenige Exemplare davon abgezogen, so daß sie in dieser neuen Auflage ohngeachtet, gleichwohl noch ein sehr rares Buch bleiben. Sie sind in 38 Bücher abgeteilet, und die Briefe, deren Zahl sich auf 813 beläuft, gehen vom Jahre 1488 bis auf 1525.546
Was Lessing hier als spektakulären Fund zu verkaufen sucht, war nach seinen eigenen Kriterien eher eine Entdeckung, denn er unterschlägt die Provenienz seiner Informationen. Diese finden sich allesamt in – und das verschweigt Lessing hier im Gegensatz zu den anderen Rettungen – ebenfalls in Vogts Catalogus. Seine Beschreibung ist eine eindeutige Paraphrase in Übersetzung des vogtschen Eintrages.547 Und Lessing verschweigt Weiteres über die Art und Beschaffenheit seiner Quelle. Das Opus Epistolarum548 Martyrs ist erstmals 1530, also fünf Jahre nach dessen Tod erschienen und gerade in der erneuten Ausgabe von 1670 von den Herausgebern massiv bearbeitet worden. Auf den ersten Blick gibt es sich als eine Zusammenstellung gelehrter Korrespondenz zeitgeschichtliche Umstände betreffend. Martyr hatte aber, schon in seiner eigenen Komposition des Werkes, ein Geschichtswerk in Briefform im Auge gehabt, was das Problem aufwarf, dass das vorhandene Material sich nicht immer einwandfrei in einen Zusammenhang einordnen ließ. Die Folge war, dass der überwiegende Teil der Briefe, um es wohlwollend auszudrücken, ›angepasst‹ wurde, sowohl was Inhalt als auch Datierung betrifft.549 Die beiden hier zur Debatte stehenden Briefe des Alphons de Valdés sind
546 Ebd., S. 247f. Wahrscheinlich benutzte Lessing das Exemplar, das sich heute in der Universitätsbibliothek Halle unter der Signatur Np 225, 4º findet, mit absoluter Sicherheit kann man diese Aussage aber nicht treffen. 547 Dort heißt es: »Petri Martyrius, Angelerii Mediolanensis Protnonatarii Apostolici, atque a Consiliis Rerum Indicarum, Opus Epistolarum, quod quidem praeter styli venustatem nostrorum quoque temporum Historae loco esse poterit. Compluti, in aedibus Michaelis de Eguia, 1530. in fol. Editio haec rarissimis Libris est adnumernda. Recusae etiam sunt hae Martyris Epistolae Amstelodami 1670. apud Elzevirios; qui tamen pauca tantum exemplaria, & adeo parca manu publicarunt, ut semper rarus maneat Liber.« Vogt: Catalogus historico-criticus librorum rariorum [. . . ]. Hamburg 1753, S. 445. 548 Pietro Martire Anghiera: Opus Epistolarum Petri Martyris Anglerii Mediolanensis, Protonotarii Apostolici, Prioris Archiepiscopatus Granatensis, [. . . ]. Amsterdam 1670. 549 Minutiös und detailversessen hat dies Jakob Bernays für jeden einzelnen der 813 Briefe herausgearbeitet. Jakob Bernays: Petrus Martyr Anglerius und sein Opus Epistolarum. Strassburg 1891. Dort findet sich zu Beginn auch eine aufschlussreiche Biographie Martyrs, die auch über
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hingegen weitgehend unproblematisch, bis auf einige kleinere, die Sache aber nicht gravierend verändernde Interpolationen.550 Viel interessanter aber als die nicht ganz einwandfreie Quellenlage ist die ursprüngliche Funktion dieser Briefe, das heißt, die Intention, mit der sie veröffentlicht wurden. Sowohl Alphonso de Valdés – das wurde bereits erwähnt – als auch Pietro Martyr waren Reformbewegungen innerhalb der katholischen Kirche nicht abgeneigt bzw. hielten sie sogar für unumgänglich.551 Gerade letzterer war ein Profiteur des römischen Klerus. So stieg er als theologischer Laie und nach seiner diplomatischen Karriere in spanischen Diensten, zwischenzeitlich empfing er die Priesterweihe, bis zum Bischof auf.552 Dieser Aufstieg war bei aller kirchenpolitischen Unsicherheit ein Balanceakt, der es erforderte, nie eine zu eindeutige Position zu beziehen und sich zur rechten Zeit im Hintergrund zu halten. Gute und sichere Information war für solch eine Karriere die Grundvoraussetzung. In diesem Zusammenhang stehen auch die Briefe, die den sonst nicht ungelehrten, aber eben auch nicht gerade nach akademischen Weihen strebenden Martyr aus Brüssel und Worms erreichten. Die Briefe und vor allem deren Abdruck dienten also der kirchenpolitischen Positionierung und Lessing sollte ihnen die gleiche Funktion zuweisen. Dies vermag auch zu erklären, warum Lessing zusätzlich den zweiten Brief, der für die eigentlich zum Ziel gesetzte Rettung schon keine Relevanz mehr besaß, mit in seiner Schrift abdruckte. Bislang wurde das in der Forschung, wenn überhaupt, nur in Ansätzen gewürdigt. Übersieht man dies, kann man schnell über das Ziel hinausschießen. Exemplarisch zeigen lässt sich das etwa an der Deutung Wilm Pelters’, der von der Emphase mitgerissen meint, »Lessing will die innere Wahrheit aller positiven Religionen als die eine Wahrheit retten; er will die Wahrheit schlechthin retten.«553
die Motivation dieses ›Karrieremenschen‹ des 16. Jahrhunderts tiefgreifende Einblicke rekonstruiert. 550 Vgl. ebd., S. 136–139. 551 So empfand etwa Alphonso den Sacco di Roma später als gerechte Strafe Gottes für das ausschweifende Leben des römischen Klerus und die Sünden des Papsttums, vgl. Jaumann (2004), S. 670. 552 »Die Abtei in Jamaica sollte seine letzte Pfründe sein.« Verliehen wurde sie ihm von Clemens VII. Siehe hierzu Barneys (1891), S. 30. 553 Pelters (1972), S. 58. Dass Pelters mit der Textsorte der Rettungen ohnehin nicht sonderlich vertraut ist, und damit auch die Regeln, nach denen diese funktionieren, wohl nicht kennt, spiegelt sich in der direkt anschließenden Passage wider, dort heißt es: »So übernimmt er [Lessing, M. M.] den von Professor Christ an der Universität Leipzig bereits geprägten Begriff der ›Rettung‹, um mit seinem eigenen Schaffen das ganze Geschlecht der Menschen von der sich behauptenden Gewalt des Vor-Urteils zu befreien, damit das ursprüngliche ungetrübte Verhältnis von Mensch und Welt sich wieder erneuere, der Mensch sich nicht länger an einer Unordnung orientiere, die
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Das lässt sich natürlich grosso modo so festhalten, blickt man allerdings etwas genauer auf den Text, stimmt es nicht mehr so ganz. Das von Pelters ausgemachte Ziel der Rettung des Cochläus, die »Rettung der Menschlichkeit Luthers«554 würde zwar gut in das allgemein angenommene Konzept passen, ist aber schlichtweg falsch und funktioniert nur, wenn man die betreffenden Textstellen sinnverzerrend aus ihrem Zusammenhang löst. Die Schrift müsste nach Pelters Auffassung den Titel »Rettung Luthers« tragen.555 Eine textnahe Lektüre ist auch gar nicht in Pelters Sinn, vielmehr geht es ihm darum, Lessings Geschichtsphilosophie zu ergründen wie schon der Untertitel seiner Studie anzeigt: »Sinndeutung der Geschichte als Kern seines Denkens«. Dieses Programm läuft dem Plan der Rettungen geradezu diametral entgegen, in denen der Fokus ja von der großen, teleologisch auf ein Endziel hinlaufenden Geschichte abgewendet wird. Im großen Strom der Geschichte spielen Einzelschicksale keine Rolle. Wohl nicht zufällig weiß Pelters demnach auch mit den übrigen Rettungen – abgesehen von der Rettung des Lemnius, die ja ebenfalls mit Luther eine geschichtstragende Person behandelt – wenig anzufangen. Näher am Text, und damit auch nachvollziehbarer in der Argumentation ist die Studie Johannes Schneiders über die Stellung Lessings zur Theologie.556 In Bezug auf die Rettung des Hier. Cardanus heißt es dort: »Diese Verteidigung [gegen den Vorwurf des Indifferentismus M. M.] scheint Lessings Hauptzweck zu sein. In Wirklichkeit ist sie aber nur die Außenseite, die Hülle des eigentlichen Inhalts. Das, worauf es Lessing [. . . ] ankommt, ist nicht
sich dem vernünftig durchdachten subjektiv widersetzt. Wahrheit ist ein göttliches Prinzip, sie duldet keine Verdunklung durch Mißbrauch des Verstandes.« 554 Ebd., S. 59. 555 Diese aber wurde, wie bereits angesprochen schon von Lessings Vater anlässlich des Reformationsjubiläums verfasst. Auch sonst fehlte es nicht an Rettungen Luthers. Stellvertretend für viele weitere seien hier nur einige genannt, darunter die besonders umfangreiche des Laurentius Laelius: Rettung D. Martin Luthers, seeligen, Lehr, Ehr vnd guten Namens: Wider D. Sixti Sartorii, genandt Mildtenberger, Canonici zu Passaw, in den Causis Motivis seines Abfalls außgestossene Schmachreden: Sampt angehefften Vrsachen: Warumb ein Christ das Papstthumb verlassen, vnd zu der Reinen Evangelischen Warheit Augspurgischer Confeßion sich halten soll; Zu dieser schwürigen Zeit der Jrrsamen Welt, nützlich zu lesen; [. . . ]. Onoltzbach 1614. Erst wenige Jahre vor Lessings Schriften erschien Johann Roehm: Christliche Ehrung-Rettung Des theuren und seligen Mannes Gottes D. Martini Lvtheri, Oder gründliche und bescheidene Beantwortung einer vom P. Francisco Xaverio Pfyffer, der Gesellschaft Jesu Priester [. . . ] heraus gegebenen anzüglichen und schmähsüchtigen Predigt Von der wundersamen Himmelfart D. Martin Luthers [. . . ]. Darinnen die Scheingründe [. . . ] geprüfet und zugleich [. . . ] widerleget werden, [. . . ]. Frankfurt am Main 1747. Auf eine Rettung Luthers, die sich explizit gegen Lessing und dessen Rettungen richtet, wird im weiteren Verlauf zurückzukommen sein. 556 Schneider (1953). Dabei handelt es sich um die noch immer beste Darstellung aller fünf Rettungen im Verbund, siehe S. 89–105.
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eine Rettung, sondern vielmehr das Umgekehrte, nämlich eine Anklage [. . . ].«557 Gleiches gilt für die Rettung des Cochläus. Auch hier kippt die Verteidigung in einen Angriff. Das primäre Ziel scheint dabei zunächst die Person Luthers selbst zu sein. Nochmals greift Lessing den Vorwurf, der Cochläus von Kraft unterstellt wurde, auf, um festzuhalten, »daß Cochläus den unserm Luther vorgeworfenen Neid, nicht, wie man zu reden pflegt, aus den Fingern gesogen habe, sondern dabei ohne Zweifel dem Gerüchte gefolgt sei.«558 Das ist die Kleinigkeit, die Lessing an Cochläus zu retten vermag.559 Cochläus ›ganz‹ zu retten, konnte nicht in Lessings Sinn sein – und selbst dann nicht, wenn man von biographisch motiviertem Skrupel absieht –, der Umstand ist vielmehr in der Sache selbst begründet. Dabei spielt die Zeichnung eines ›menschlicheren Lutherbildes‹, wie viele der Interpreten glauben machen wollen, wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle, das war ja bereits in der Rettung des Lemnius geschehen. Im Fokus des Interesses steht hier die Geschichte und zwar zunächst einmal in Form von Kirchengeschichte, die sich als Kirchenpolitik versteht, sowie in einer abstrahierten Form als Religionsgeschichte als solche. Damit ordnet sich die Rettung des Cochläus in die übrigen Rettungen ein, die allesamt auf einer zweiten Ebene auf ein Allgemeines abzielen. Lessing bemüht hierbei ein Gedankenspiel. Seiner persönlichen Überzeugung nach, wäre Luthers Charakter nicht dazu geschaffen, die Reformation nur aus Neid angestoßen zu haben, aber seine persönliche Überzeugung tut hier nichts zur Sache.560 »Eine Betrachtung«, so fährt Lessing fort, »aber wird man
557 Ebd., S. 105. 558 WuB 3, S. 256. 559 Warum Lessing Cochläus nur in einer Kleinigkeit zu retten vermag oder auch will, führte zu verschiedenen Erklärungsversuchen, wobei eine biographische Lesart dominiert. Johannes Schneider schätzt die Lage wie folgt ein: »Einen hinreichenden Grund, warum Lessing den fleißigen Cochläus ›nur in einer Kleinigkeit‹ hat retten wollen, habe ich nicht finden können. Diesem temperamentvollen Vielschreiber hätte er doch wohl eine ganze Rettung widmen können. Cochläus stand als Polemiker weit über Lemnius, der doch kaum eine Rettung verdiente. Ich erkläre mir die Sache so: Lessings Vater hatte die ›Rettung des Lemnius‹ [. . . ] gelesen und war damit nicht zufrieden. An Kenntnissen in der Reformationsgeschichte war er dem Sohn überlegen und er hat diesem auch wohl in leider verlorengegangenen Briefen die unglaublich schwierige Lage geschildert, in der Luther sich 1538 befand. [. . . ] Lessing hatte damals schon die Rettung des Cochläus entworfen. Der gemässigt-orthodoxe Vater war ihm ein Gradmesser für die Reaktion der lutherischen Orthodoxie auf seine Versuche, ein menschlicheres Lutherbild als Arznei gegen die mit Luther betriebene Idolatrie zu bieten.« Schneider (1953), S. 95. 560 Die Stelle dazu lautet: »Indem ich aber leugne, daß dieser geschworene Feind des großen Reformators der Erfinder gedachter Beschuldigung sei, so will ich sie doch deswegen für nichts weniger als für wahr halten. Sie hat zu wenig Wahrscheinlichkeit, wenn man sie mit Luthers uneigennützigem und großmütigen Charakter vergleicht. Er, der durch seine Glaubensverbesse-
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mir erlauben.« Es kommen, wie so oft, wenn es zur Sache geht in den Rettungen, die schon beinahe obligaten zwei Bindestriche und damit einhergehend der Wechsel in den Konjunktiv. Das Gedankenspiel setzt an: Ich sehe nicht, was unsere Gegner gewinnen würden, wann es auch wahr wäre, daß Luthern der Neid angetrieben habe, und wann auch sonst alles wahr wäre, was sie zu Verkleinerung dieses Helden vorbringen.561
Man darf nicht vergessen, dass aus den Briefen Alphonso de Valdés’ ein Augenzeuge spricht. Für gewöhnlich brachte Lessing Quellen, deren Autoren zeitlich nahe am Geschehen waren, größeres Vertrauen entgegen als der historiographischen Aufarbeitung. Er muss demnach zumindest in Betracht gezogen haben, dass die Aussagen nicht völlig unbegründet waren. Letztgültig entscheiden lässt sich der Kasus nicht mehr, es ist aber ohnehin nicht relevant. An dieser Stelle kann man beobachten, wie sich Lessings Argumentationsziel unter historiographischen Gesichtspunkten verdoppelt. Lessing plädiert dafür, sich nicht weiter auf polemisch geführte Streitigkeiten zwischen den Konfessionen einzulassen: Wir sind einfältig genug, und lassen uns fast immer mit ihnen in die heftigsten Streitigkeiten darüber ein; wir untersuchen, verteidigen, widerlegen, und geben uns die undankbarste Mühe; oft sind wir glücklich, und öfters auch nicht, denn das ist unstreitig, daß es leichter ist, tausend Beschuldigungen zu erdenken, als eine einzige so zu Schanden zu machen, daß auch nicht der geringste Verdacht mehr übriggbleibe. Wie wäre es also, wenn man dieses ganze Feld, welches so vielen Kampf zu erhalten kostet, und uns doch nicht das geringste einbringt, endlich aufgäbe?562
Der Streit zwischen Religionen oder Konfessionen kann nie zum Besten der Religion ausgehen. In dem Moment, in dem eine Religion sich ihrer eigenen Historizität bewusst wird, beginnt ihr Verfall. Dieser Zug kam schon in den Gedanken über die Herrenhuter zum Tragen und wird hier erneut aufgegriffen. All dieses ›Vernünfteln‹ an der Religion kann ihr nur schaden, weil es den Fokus von den eigentlichen Lehren und damit dem positiven Fundament ablenkt. Der Effekt des Religiösen, und nicht seine Motivation ist entscheidend:
rung nichts irdisches für sich zu gewinnen suchte, sollte den die Gewinnsucht, oder welches auf eins hinaus kömmt, der Neid über den Gewinn eines andern, dazu getrieben haben?« WuB 3, S. 256. 561 Ebd., S. 257. 562 Ebd.
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Genug, daß durch die Reformation unendlich viel gutes ist gestiftet worden, welches die Katholiken selbst nicht ganz und gar leugnen; genug, daß wir in dem Genusse ihrer Früchte sitzen; genug, daß wir diese der Vorsehung des Himmels zu danken haben.563
Das kann man als religionsgeschichtliche Lehrstunde verstehen, die, sobald sie den Blick auf die Kirchengeschichte wirft, anders zu schreiben ist. Hat man einerseits eine Erfolgsgeschichte, bestehend in der erneuten Hinwendung zu einer praktischen Religion, wie sie Luther mit angestoßen hat, – die ›gereinigtere Lehre‹ hieß es zu Beginn des Textes, – so muss die kirchengeschichtliche Entwicklung, als deren neu gesetzter Nullpunkt die Reformation gelten kann, als eine Verfallsgeschichte gelesen werden. »Die Vergangenheit muß von der Gegenwart her begriffen werden und von dort dann auch ihre Rechtfertigung erhalten«, wie Arno Schilson festhält.564 Rechtfertigen lässt sich die Reformation aber nur mit den von ihr verfolgten Zielen und nicht mit den Streitigkeiten und den polemischen Ausschweifungen ihrer Hauptvertreter. Eben sowenig lässt sich die Reformation aus den realgeschichtlichen Umständen sinnvoll begreifen, die, wie die Briefe Alphonsus gezeigt haben, vielleicht doch nicht ganz unprekär sind. Man hat also einen doppelten Blick auf die Geschichte zu werfen. Lessing wollte seinen Beitrag leisten, indem er die historische Ausgangslage, zumindest in einem der Streitpunkte, endgültig entschied und die Frage an sich für ungültig erklärte. Der damit verbundene Eingriff in die Kirchenpolitik war somit das erklärte Hauptziel. Wie wenig ihm das gelungen ist, zeigt die Rezeption seiner Schriften. Dazu gleich mehr. Der Anspruch besteht darin, die Reformation von ihren möglichen Wirkungen aus zu denken, und die Betonung liegt dabei auf dem Wort ›möglich‹. Dieser Aspekt fehlt in der Darstellung Schilsons, der noch allzu sehr von einer teleologisch verfassten Geschichtsphilosophie des jungen Lessing ausgeht. In der Rettung des Cochläus spricht aber mehr der Pragmatiker, denn der Geschichtsphilosoph.565 Illustriert wird das von Lessing selbst mit einer Anekdote: Ein neuer Schriftsteller hatte vor einiger Zeit einen witzigen Einfall; er sagte, die Reformation sei in Deutschland ein Werk des Eigennutzes, in England ein Werk der Liebe, und in dem liederreichen Frankreich das Werk eines Gassenhauers gewesen. Man hat sich viel Mühe gegeben, diesen Einfall zu widerlegen; als ob ein Einfall widerlegt werden könnte? Man
563 Ebd. 564 Arno Schilson: Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz 1974 (Tübinger theologische Studien 3), S. 63. 565 Wie das auch ein durchgängiges Kennzeichen aller Rettungen ist. Ihnen fehlt gänzlich das, was man eine ausgearbeitete Geschichtsphilosophie nennen könnte. Der Blick auf das einzelne Schicksal der zu Rettenden liefe dem geradezu entgegen.
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kann ihn nicht anders widerlegen, als wenn man ihm den Witz nimmt, und das ist hier nicht möglich. Er bleibt witzig, er mag nun wahr oder falsch sein.566
Das ist die gegenteilige Position zur Orthodoxie und ihrer bedingungslosen Luther-Verehrung, die für Lessing bereits in »Idolatrie«567 abgleitet. Hinter dem Reformator soll der Mensch Luther erkennbar bleiben: Billig bleibt Luthers Andenken bei uns in Segen; allein die Verehrung so weit zu treiben, daß man auch nicht den geringsten Fehler auf ihn haften lassen, als ob Gott das, was er durch ihn verrichtet hat, sonst nicht würde verrichtet haben können, heißt meinem Urteile nach, viel zu ausschweifend sein.568
Erst mit der Erhaltung der Menschlichkeit Luthers gewinnt die Reformation eine ethische Komponente. Und um diese ethische Komponente geht es letztendlich, wie Lessing auch andernorts nicht müde wurde zu betonen. So ist der siebte und schnellste Geist in Lessings Faust-Fragment nicht weniger schnell »als der Übergang vom Guten zum Bösen«;569 die Richtung wird dabei gerne einseitig vom Guten zum Bösen hin interpretiert, kann aber auch umgekehrt gedacht werden. Für den vorliegenden Fall hieße das: selbst wenn Luther die Reformation aus niederen Motiven angestoßen hatte, so entwickelte sich doch – aus Sicht Lessings – unendlich viel Gutes aus ihr.570 Valdesius hatte das gesehen, indem er in seinen Briefen auch die Verfehlungen des Papstes nicht unerwähnt ließ und so ein getreues Bild vom »damalige[n] Verderben der Kirche«571 gezeichnet hatte. Ethische Handlungen, so kann man folgern, sind genuin human, allgemeinmenschlich und daher bedarf die Religion stets der Fokussierung auf ihren praktischen Teil, um wirksam zu werden. Theorie oder Dogmatik vermögen dies nicht zu leisten. So schließt die letzte der vier Rettungen aus dem dritten Band der Schrifften von 1754, indem eine Summa über die Praxis des Verleugnens gezogen wird. Der Appell lautet, »daß sich künftig unsre Theologen ein wenig genauer erkundigen, ehe sie den zuversichtlichen Ausspruch wagen: dieses und jenes hat der und der zuerst ausgeheckt«.572 Es ist ein Aufruf, der ausgehend vom Einzelnen auf das Allgemeine zielt, gegen das Verdammen und für eine differenzierte historische Prüfung, die Schuld einzuordnen und fair zu bewerten vermag. Indem man sich
566 WuB 3, S. 258. 567 Ebd., S. 257. 568 Ebd., S. 257f. 569 WuB 4, S. 63. 570 »[. . . ] wollte nur Gott, daß jeder Neid eben so glückliche Folgen hätte.« WuB 3, S. 257. 571 Ebd., S. 258. 572 Ebd.
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einer an der kritischen Rationalität orientierten Urteilskraft verpflichtet, könnte der »Irrweg der Orthodoxie«, der auf »[f]alsche[n] Vergewisserungen«573 beruht, verlassen werden.
4.5.3 Erste Aufnahme und weitere Reaktionen
Zweifelsohne scheint Lessing mit der Rettung des Cochläus einen neuralgischen Punkt getroffen zu haben. In jedem Fall waren die dieser Publikation folgenden Resonanzen die gewichtigsten. Inwieweit sich das Interesse primär auch an der Person Luthers festmachen lässt, ist eine berechtigte Frage. Naturgemäß als erste reagierten die Rezensionsjournale der Zeit. Sowohl die Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen574 als auch die Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten575 besprachen die Rettung positiv. Gelobt wurde an vorderster Stelle Lessings Gelehrsamkeit und Urteilskraft verbunden
573 Thielicke (1988), S. 128. 574 Dort heißt es in Bezug auf die Rettung des Cochläus: »Die 4te Rettung ist dem Cochläus, doch nur in einer Kleinigkeit, gewidmet. Unser ehemaliger werthester Hr. College, der Hr. D. Kraft, hatte in seiner Schrift de Luthero contra indulgentiarum nundinationes haud quaquam per invidiam disputante, in welcher er nach Hrn. L. Urtheil das Haupt=Werck, so er beweisen wollte, glücklich bewiesen hat, noch den Neben=Umstand mit einfliessen lassen: Cochläus habe die Beschuldigung zuerst und zwar nicht vor Lutheri Ableben vorgebracht. Hiegegen führt Hr. L. eine bisher unbemerckte Stelle aus einem Briefe Alphonsi Valdesi an, der Brüssel am 31 August 1520. unterzeichnet, und unter den Briefen Petri Martyris der 689ste ist. Dieser Brief, den man in der Elzevirischen Ausg. S. 381. findet, sagt, dass ein Augustinermönch, mit Nahmen Martinus Luther, vielleicht aus Neid gegen die Dominicaner, verschiedene Artikel gegen den Ablaß habe drucken lassen: ferner: habes primam hujus tragoediae scenam, quam Monarchorum odiis debemus. Dum enim Augustinensis invidet Dominicano , & Dominicanus vicissim Augustinensi, atque hi etiam Franciscanis − − Er bemerckt im übrigen sehr wohl, daß die Beschuldigung selbst unrichtig und von H. D. Kraft zernichtet sey, und daß Cochläus diese Rettung in einer Neben=Sache kaum werth seyn würde, wenn man nicht deshalb solche kleine historische Fehler zu entdecken hätte, damit sie nicht unsere Sache verdächtig machen mögen, wenn unsere Gegner sie uns zuerst zeigen sollten. Wir finden in diesem 3ten Theil, auch da wo wir von H. L. abgehen oder zweifelhaft sind, so viele mannigfaltige Gelehrsamkeit, und sonderlich so viel besondere Kenntniß einzelner Stücke in der gelehrten Geschichte, als sonst selten mit so vieler Lebhaftigkeit des Geistes verbunden ist.« Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, Göttingen, 1754, 10. Junius. Zitiert nach B, Bd. 1, S. 34. 575 »In der vierten Rettung kommt Cochläus vor. Man bemerket durchgehends die Belesenheit, die gründliche Beurtheilung und die lebhafte Schreibart des Hn. Leßings mit einer Aufmerksamkeit, welche ein wahres Vergnügen und eine Hochschätzung für seine Geschicklichkeit zurück lässt.« Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, Hamburg 1754, 26. Juli. Zitiert nach B, Bd. 1, S. 37f.
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mit der Gabe, trotz der Sprödigkeit des Stoffes zu unterhalten. Seinen Biographen des 19. Jahrhunderts ging er bei der Rettung des Cochläus gar nicht weit genug, wenn Erich Schmidt schreibt: Leicht könnte seine Rettung viel weiter und tiefer gehn [!] und dem ungeheuer productiven Theologen schulmännisches und gelehrtes Verdienst zuerkennen, vor allem seiner Wandlung aus dem Humanismus in den katholischen Kampf gegen die Reformation nachfragen.576
Nichts lag Lessing wohl ferner als die Anhäufung gelehrten Wissens ohne weitere Funktion oder Erkenntnisgewinn. Sensibler reagierten hier die Zeitgenossen Lessings, von denen einer noch genauer zu betrachten ist.577 Die wohl heftigste Reaktion auf die Rettung des Cochläus findet sich in der von Andreas Gottlieb Masch anonym verfassten Schrift Vertheidigung des seligen Lutheri und der Reformationsgeschichte, wider den Verfasser der Kleinigkeiten.578 Gleich zu Beginn rechtfertigt sich Masch, dass er erneut den Versuch beginnt Luthers Andenken rein zu waschen. An und für sich wäre das gar nicht mehr nötig, gibt es doch Verteidigungen Luthers zur Genüge, die alle auch überzeugend ihr Ziel erreicht haben.579 Alle diese Schriften richteten sich aber gegen Angriffe von außen, gegen Gegner, die selbst nicht der lutherischen Konfession angehörten. »Ich werde es«, so Masch zur Rechtfertigung seiner Bemühungen, »vielmehr mit einem Gegner zu thun haben, der sich für einen Sohn Lutheri ausgiebt, oder ein ächter Bekenner seiner Lehre seyn will, ihn aber mit solchen Farben mahlet, wie nur ein ausgearteter Sohn gebrauchen kann, das Bild seines geistlichen Vaters zu verstellen.«580 Lessing sei einer dieser Menschen, die bei all der ihnen
576 S 1, S. 230. Nobert Oehlke äußert sich in ähnlicher Weise, wenngleich mit der Einschränkung, dass die Kritik Cochläus’ an Luther und der Reformation in erster Linie auf Papsttreue fußte und eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Inhalten der Mühe wohl nicht lohnen würde. Vgl. OE 1, S. 352. 577 Eine weitere Erwiderung in den Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens wird im nächsten Unterkap. zur Sprache kommen. 578 M. S. B. [= Andreas Gottlieb Masch]: Vertheidigung des seligen Lutheri und der Reformationsgeschichte, wider den Verfasser der Kleinigkeiten. Frankfurt / Leipzig 1756. Zu Andreas Gottlieb Masch (5. 12. 1724–26. 01. 1807), der in Beseritz geboren, die unspektakuläre Karriere eines Pastors in der Provinz (Neustrelitz) machte, aber es dort immerhin bis zum Superintendenten brachte, siehe: ADB 20, S. 550f. Sowie Stephan Sehlke: Pädagogen – Pastoren – Patrioten. Biographisches Handbuch zum Druckgut für Kinder und Jugendliche von Autoren und Illustratoren aus Mecklenburg-Vorpommern von den Anfängen bis einschließlich 1945. Norderstedt 2009, S. 247. Dort auch weiterführende Literaturhinweise. 579 Masch (1756), S. 7. Genannt werden die Schriften von Seckendorf, Müller und Walch. 580 Ebd.
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zugestandenen Gelehrsamkeit, »sich durch Kleinigkeiten groß zu machen«581 suchen. Und das auf Kosten Luthers. Masch sieht in den Rettungen weniger Altriusmus gegen unschuldig Angeklagte als eitle Großmannssucht auf Seiten Lessings, die er damit befriedigt, »das Ansehen eines verdienstvollen Mannes herunter[zu]setzen«.582 Seine Angriffe, so das Urteil, fallen alle unverhältnismäßig aus.583 Dies will Masch nun in zwei Abschnitten korrigieren. Der erste versucht die Ehre Luthers als Mensch wieder herzustellen,584 in einem zweiten Schritt verteidigt Masch seinen engen Freund Johann Peter Fischer, »ein naher Anverwandter des Hrn. D. Friedr. Wilh. Krafts«,585 und dessen Streitschrift De Luthero contra indulgentiarum nundinationes haudquaquam per inuidiam disputate aus dem Jahre 1749.586 Tenor die ganzen Rettung Maschs hindurch bleibt: Lessing geht eklektisch vor und findet das, was ihm zu finden beliebt. Und dabei scheint die Motivation, die Dissertation Fischers (Krafts) anzugreifen und um einer »Kleinigkeit«587 willen so einen Streit zu beginnen, weitestgehend im Dunkeln. Masch versucht sich einen Reim darauf zu machen und folgert: Vielleicht soll man einen Schluß a minori ad majus machen, und denken, verfähret er bey Kleinigkeiten schon so, wie wird man nicht mitgenommen werden, wenn man in Absicht größerer Dinge ihn als einen Zuchtmeister sehen muß. Und wenn alles dieses nicht ist, so hat er allezeit, wenn er widerlegt wird, den Trost, so bald er auch seine unleugbarsten Fehler siehet, daß es eine Kleinigkeit sey. Wie fruchtbar ist also der Ausdruck: Es ist eine Kleinigkeit.588
Im Anschluss an diese Passage geht Masch seinerseits in Form der Verteidigung zum Angriff auf Lessing und dessen Redlichkeit in der Gelehrsamkeit über, und
581 Ebd., S. 14. 582 Ebd., S. 8. 583 Masch nennt die Händel mit Lange um die Horaz-Übersetzung als den Zeitpunkt, da er auf Lessing aufmerksam wurde. 584 Der Abschnitt zu Luther, der hier aus der Untersuchung ausgespart bleibt, da es primär um die Vorwürfe aus der Rettung des Lemnius geht, findet sich in Masch (1756), S. 16–49 unter dem Titel: Rettung des seligen Lutheri wider die Lessingschen Vorwürfe. 585 Ebd., S. 10. Masch gibt S. 9ff. eine kurze Biographie seines früh verstorbenen Freundes. 586 Siehe ebd., ab S. 50. Bei dieser Schrift handelt es sich um eine von Fischer gehaltene Dispuation, die unter eben jenem Titel 1749 zu Göttingen gedruckt wurde. Aus ihr geht die Schrift Friedrich Wilhelm Krafts, Die gerettete Ehre des seel. D. Martin Luthers / Wieder die Anschuldigungen derer, so die Reformation aus gottlosen und fleischlichen Absichten herleiten Nach dem Zuschnitt eines berühmten Gottesgelehrten sicher gestellet. Frankfurt 1752, hervor. Das ist die Übersetzung, auf die Lessing anspielt, WuB 3, S. 245. 587 Ebd., S. 56f. passim. 588 Ebd., S. 57 (Hervorhebung im Original).
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Die eigentlichen Rettungen von 1754
das äußerst ausführlich und über weite Strecken mit guten Argumenten. Masch kommentiert die Rettung des Cochläus Absatz für Absatz durch.589 Auch Masch hält sich an die Spielregeln der Rettungen, wenn er das billige Urteil am Ende, freilich ebensowenig unangeleitet wie das Lessing zu tun pflegte, dem Leser überlässt. Glauben darf man aber Masch in der Intention seiner Schrift, die weit weniger zu erreichen sucht als die lessingsche. Darin besteht ihre Redlichkeit, aber auch der Grund, dass sie vergessen wurde: Mir ist es zwar genug, die Unschuld vertheidigt zu haben; indessen würde es mir doch unendlich lieb seyn, wenn mein Gegner hieraus lernen wollte, sich entweder zu bessern, oder wenigstens andre in Ruhe zu lassen.590
Lessing, der die Schrift kannte,591 gehorchte dem frommen Wunsch Maschs nicht. Ob er sich gebessert hat, will ich nicht entscheiden, andere in Ruhe gelassen hat er in jedem Falle auch nach 1756 nicht.
589 Um ein Beispiel von der Vorgehensweise und dem Tonfall zu geben, sei hier der Kommentar zu Alphonso de Valdés kurz wiedergegeben: »Wichtige Entdeckung! parturiunt montes! Ist es wahr, daß der Name Alphonsus Valdesius ein ganz unbekannter Name ist? Ganz gewiß nicht. Ist denn nur ein Johann Valdesius bekannt? Ganz gewiß nicht. Ist von einem Alphonsus überall das tiefste Stillschweigen? Ganz gewiß nicht. Man muß denn sehr unbewandert in der Reformationsgeschichte seyn, wenn man dergleichen neue Entdeckungen machet, wie die Lessingschen? Das ist ganz gewiß wahr.« Ebd., S. 94. 590 Ebd., S. 132. 591 Das Buch findet sich in Lessings Büchernachlass. Inwiefern Lessing auf die Schrift reagiert hat, lässt sich nicht mehr ausmachen. Siehe hierzu Raabe / Strutz (Hgg.) (2007), S. 65.
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5 Die Emanzipation des Denkstils von der Form Lessings Rettungen blieben nicht ohne Folgen. In ihrer Form als gelehrte Streitschriften waren sie nachgerade darauf angelegt, Reaktionen zu provozieren. Einige davon, wie im Falle der Rettung des Cochläus durch Masch, wurden bereits angesprochen. Trotzdem ist es sinnvoll, eine Zusammenschau der Wirkungen vor Augen zu führen, nicht zuletzt um den Erfolg der lessingschen Bemühungen einschätzen zu können. Darüber hinaus ist aber auch nach Lessings eigenem Profit zu fragen, immerhin bestimmten die Rettungen eine beträchtliche Zeit lang sein Beschäftigungsfeld. Überdies waren die Rettungen sein erster monographischer Auftritt auf dem Parkett der Gelehrsamkeit und somit gewiss ein durchaus überlegter und kalkulierter Schritt – die denkbare Eitelkeit, bereits mit fünfundzwanzig Jahren den dritten und vierten Band seiner gesammelten Schriften zu veröffentlichen, kann man als Ursache hintanstellen. Für Lessing selbst war der Ertrag aus seinen Rettungen deutlich bestimmbar. Der darin entwickelte Denkstil durchzieht weite Teile seines im Anschluss entstehenden Werkes – auch dort finden sich Spuren und Niederschläge, wo man sie auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Diese Spuren in Auswahl und in ihrer Emanzipation von der Form aufzuzeigen, bemüht sich dieses Kapitel.
5.1 Zeitgenössische Reaktionen auf die Rettungen Ganz selbstverständlich wurde Lessings dritter Band seiner Schrifften bereits kurz nach dessen Erscheinen besprochen. Zur Ostermesse 1754 angekündigt, erschien die erste Rezension bereits am 10. Juni des Jahres in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen. Die anonyme Rezension fasst zunächst vergleichsweise ausführlich den Inhalt zusammen, um anschließend zu überschwänglichem Lob überzugehen: »Wir finden in diesem 3ten Theil, auch da wo wir von H[errn]. L[essing]. abgehen oder noch zweifelhaft sind, so viele mannigfaltige Gelehrsamkeit, und sonderlich so viel besondere Kenntniß eintzelner Stücke in der gelehrten Geschichte, als sonst selten mit so vieler Lebhaftigkeit des Geistes verbunden ist.«1 Bemerkenswert an dieser Beurteilung ist die ungeteilte Zustimmung für das Projekt trotz einiger inhaltlicher Differenzen. Nicht zuletzt ist es Lessings Stil, so hat es den Anschein, der den Rezensenten für sich einnimmt. Die Erwartungshaltung an eine Rettung in den 1750er Jahren muss demnach eine dezidiert andere gewesene sein als unsere heutige. In die gleiche Richtung weist der Rezensent
1 Zitiert nach B 1, S. 34.
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der Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten vom 26. Juli: Sie [Lessings Schriften, M. M.] sind so sinnreich, wie die vorigen, und bestätigen, daß der Verfasser kein bloßer witziger Kopf, wie der größte Theil unserer Belustiger, Bemüher, Beyträger, u. a. sondern ein Mann sey, der sich mit dem Kern der Litteratur und der Wissenschaften genau bekannt gemacht hat, und dessen Feder alles zu beleben weiß. Ein jeder muß den dritten Theil mit Vergnügen lesen, wenn er auch in allen Puncten mit dem Herrn Leßing nicht einerley Meinung seyn sollte.2
Zu der angenehmen und vergnüglichen Lektüre tritt hier noch ein Moment hinzu, das es zu beachten gilt. Hervorgehoben wird die Güte der Forschung, denn als nichts anderes werden die Rettungen hier gesehen. Sie machen in einem positiven Sinne auf Lessing als Wissenschaftler aufmerksam. Das ist insofern von Bedeutung, als dass Lessing bis zu diesem Zeitpunkt vornehmlich in Gestalt des Dichters dem Publikum ein Begriff war. Lessing war auf dem besten Wege, sich auch in der Philologie als ernstzunehmender Gesprächspartner zu erweisen.3 Erstaunlich ist allerdings, vor allem nach dem in den Einzelanalysen erarbeiteten Ertrag, dass keiner der beiden Rezensenten näher auf die religionskritischen Anteile der Rettungen eingegangen ist. Dass diese Komponete schlichtweg übersehen wurde, ist kaum vorstellbar, zumal andere Kritiker das Gefahrenpotenzial deutlich erkannt hatten. Dazu gleich mehr. Es scheint vielmehr so, dass hier stillschweigendes und zugleich vorsichtiges Einvernehmen mit Lessings Positionen bestand. Die Lektüre der Schriften wurde der potenziellen Leserschaft ja nachdrücklich ans Herz gelegt. Die Haltung der Rezensenten lässt sich heute nicht mehr eruieren, es spricht aber nichts gegen eine Befürwortung der geäußerten Gedanken, auch wenn sie nicht explizit formuliert wurde.4 Bisweilen verrät vorsichtige Zurückhaltung mehr als appellative Zustimmung. Allerdings würde ein falsches Bild entstehen, wenn man dies als Normalfall präsentierte. Es fehlte auch nicht an deutlicher Kritik und an Polemik gegen Lessings Rettungen. Inwiefern das jeweils mehr mit der Person Lessings als mit den eigentlichen Schriften zu tun hatte, lässt sich nicht immer zweifelsfrei entscheiden. Eine Kritik an der Rettung des Lemnius in den Leipziger Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des
2 Zitiert nach B 1, S. 37. 3 Großen Anteil daran hatte ohne Frage die Auseinandersetzung mit Samuel Lange und seinen Horaz-Übersetzungen. Dabei überwog allerdings meist noch die Sichtweise, Lessing als Kritiker vorzustellen, hier geht es dann aber doch um etwas anderes. 4 Den Göttinger Anzeigen darf wohl eine progressivere Haltung als den meisten anderen deutschen Journalen der Zeit, gerade auch in Religionsfragen, unterstellt werden. Inwieweit das auch auf den Hamburger Correspondenten zutrifft, vermag ich nicht zu entscheiden.
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Vergnügens hat mehr als deutlich ausgesprochen, was von den Unternehmungen Lessings zu halten sei. In einer der Ausgaben wurde ein über zwanzig Seiten langer Artikel mit dem Titel Rettung Luthers wider Simon Lemnius5 veröffentlicht. Unausgesprochen hingegen bleibt im Titel, dass es sich ebenfalls um eine Rettung Luthers gegen Lessing handelte: »Gegenwärtiger Aufsatz soll zur Vertheidigung Luthers gereichen. Ich setze dieselbe dem Herrn Lessing entgegen.«6 Der Tenor dieses Aufsatzes ist, dass Lessing sich in seiner Parteinahme für Lemnius viel zu weit hat treiben lassen und somit selbst mehr als parteiisch geurteilt hat. Ganz falsch ist das freilich nicht und eine solche Lesart der Rettung des Lemnius, wie auch aller anderen Rettungen, ist durchaus möglich. Es zeigt sich ganz allgemein, dass die Auseinandersetzung mit Lessing und im Zuge dessen teilweise auch mit seinen Rettungen in der Regel auf einer äußerst sachlichen, am Argument orientierten Ebene stattfand.7 Wie so oft bestätigen Ausnahmen die Regel. Lessing sah sich im Nachgang der Publikation seiner Schriften auch einer äußerst polemischen, bösartigen Attacke ausgesetzt. In Frankfurt wurde bereits 1754 ein kleines Bändchen gedruckt, das den Titel Possen im Taschenformate8 trägt. Einen Autor weist das Titelblatt nicht aus.9 Lessing vermutete Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725–1807) als Urheber der Schmähschrift, der 1751 ein Epos mit dem Titel Hermann oder Das befreite Deutschland an Gottsched übersandte, der es sogleich drucken ließ.10 Sie stellt eine Parodie nicht zuletzt auf Lessings Rettungen dar, indem sie – die bunte Vielfalt der lessingschen Schriften imitierend – diese der Lächerlichkeit preisgibt.11 Als ernsthafte und gewichtige Einwände sind die Beiträge kaum zu sehen,
5 Karl S. Guthke: Feindlich verbündet: Lessing und die »Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens«. In: Goethe Yearbook 17 (2010), S. 327–347, hier S. 334. 6 Zitiert nach WuB 2, S. 1262. 7 Vgl. hierzu auch die späteren Auseinandersetzungen mit den Beiträgern des Nordischen Aufsehers. Auch dort ging es primär, wie Ursula Goldenbaum gezeigt hat, um Inhalte und nicht um einen Vernichtungsfeldzug seitens Lessings. Sein Haupteinwand gegen den Nordischen Aufseher betrifft die mehrfach wiederholte Aussage aus dem 49. Literaturbrief, »daß man ohne Religion kein rechtschaffner Mann seyn könne.« (WuB 4, S. 602). Siehe hierzu ausfühlich Goldenbaum (2004). 8 Anonymus [= Christoph Otto Freiherr von Schönaich]: Possen im Taschenformate. Frankfurt 1754. 9 Über mögliche Autoren informiert Otto Deneke: Lessing und die Possen 1754. Heidelberg 1923 (Stachelschriften 1). 10 Zur Biographie siehe Otto Ladendorf: Christoph Otto Freiherr von Schönaich. Beiträge zur Kenntnis seines Lebens und seiner Schriften. Univ. Diss., Leipzig 1897. 11 So lauten die Überschriften: I. Etwas Historisches. Von dem Titel dieses Werkes. II. Etwas Kritisches. Von den Urtheilen, die über diese Schrift gefällt werden können. III. Streitigkeiten. Eine
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aber dennoch fühlte sich Lessing zu einer Reaktion provoziert. Lessing rezensierte die Schrift für die BPZ am 17. September 1754.12 Gegen Ende, als die Schrift als eine »Satyre auf das Format und die zufällige Einrichtung der Lessingschen Schriften« erkannt wird, macht Lessing eine Ankündigung: Sie kosten drei Groschen; aber auch drei Groschen giebt man nicht für Possen hin. Was war also zu tun, damit sie gleichwohl bekannt würden? Ohne Zweifel hat der Verleger dieser Blätter den besten Einfall gehabt, den man in dieser Absicht nur haben kann. Er hat sie nemlich nachdrucken lassen, und ist entschlossen sie für ihren innerlichen Wert zu verkaufen, d. ist, sie umsonst auszugeben. Sie stehen in den Voßischen Buchläden, hier und in Potsdam den Liebhabern zu Dienste.13
Was man als journalistischen Effekt abtun könnte, war ernster gemeint, als es den Anschein hatte: Die Schlußwendung dieser Rezension ist von den Lessing-Forschern bisher anscheinend nicht recht ernst genommen. Noch der neueste Lessing-Biograph, Oehlke (1919), meint, Lessing habe Voß scherzhaft den Vorschlag gemacht, die Possen abzudrucken und umsonst abzugeben. Jedenfalls hat man sich bisher nicht die Mühe genommen, diesen von Lessing hier angekündigten Berliner Druck der Possen bibliographisch nachzuweisen. Der Lessingsche Nachdruck existiert aber wirklich.14
Man sieht, wie kreativ sich Lessing in der Verteidigung seiner eigenen Schriften gab. Es scheint ihm ein Anliegen gewesen zu sein, auch auf noch so abstruse Einwürfe wider sein Schaffen zu reagieren. Und der Konflikt weitete sich aus. Der Anonymus antwortete mit einer dritten Auflage seiner Schrift, diesmal unter dem Titel: Possen. Calumniator miserabilior. Wie man also sieht: eine regelrechte Polemik auf den Titelblättern. Gegen Lessings Motto von der Juvenalschen jämmerlichen Einfalt [auf dem Titelblatt der gratis ausgegeben Schrift, M. M.] setzt der Gegner das Wort: ›Noch jämmerlicher ist der Verläumder, wie die
recht feine Satyre auf alle meine Widersacher. IV. Poesien. Ein Neujahrswunsch. V. Etwas Geographisches. Gewisseste Erdbeschreibung von Utopien. VI. Aus der Mathematik. Fragment aus den Anfangsgründen der Akestik. VII. Etwas Aestethisches. Daß man beym Scherze lachen müsse. VIII. Aus der Meßkunst. Verschiedene Arten die Verdienste zu messen. IX. Alterthümer. Was Trochus eigentlich gewesen? X. Etwas Moralisches. Unterricht für die Kunstrichter. XI. Etwas Vermischtes. Schöne Raritäten. XII. Etwas ohne Überschrift. XIII. Etwas Kriegerisches. Verschiedene Arten von Waffen. XIV. Etwas Verewigendes. Eine anakreontische Ode. Etwas Galantes. Der Versuch, ein Lustspiel in Versen von fünf Abhandlungen. Anonymus [= Christoph Otto Freiherr von Schönaich?] (1754). 12 WuB 3, S. 72f. 13 Ebd., S. 73. 14 Deneke (1923), S. 49.
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Erfahrung lehrt;‹ und gegen den Lessingschen Hohn ›Wird gratis ausgegeben‹, setzt er unerschüttert und vergnügt: ›Dritte Auflage, die man los zu werden denket, ohne sie gratis auszugeben.‹ Auf der Rückseite dieses Titels findet sich ein direkter Abwehrstreich: ›Denen Unverständigen und denen, die diese Schrift auf sich gezogen, dienet zur Nachricht, daß der Verfasser nirgends auf einen, sondern auf hundert Narren zugleich gezielet habe.‹15
Diese Ausgabe wiederum besprach Lessing in der BPZ vom 24. Oktober 175416 und zeigte sich erstaunt, dass diese »Paar Bogen Maculatur«17 erneut an die Öffentlichkeit getreten waren. Die Überlegung, eine vierte Auflage drucken zu lassen, die wiederum gratis abzugeben wäre, schließt die Rezension. Doch der Schlagabtausch ging weiter, ein Kritiker-Schimpfwort-Lexikon erschien, das hauptsächlich Begriffe aus dem Vademecum Lessings vorstellte und eine weitere Zugabe zum Mischmasche von allerley ernsthaftigen und lustigen Possen; von dem Verfasser der Possen im Taschenformate, Luxemburg 1756. Es würde keinen Mehrwert erbringen, diese Auseinandersetzung weiter zu verfolgen. Der Punkt, der deutlich werden sollte, nämlich dass Lessing seine frühen Arbeiten auf dem Gebiet der Gelehrsamkeit mit äußerstem Nachdruck verteidigte, wurde sichtbar. Die Reaktionen auf Lessings Rettungen fielen also gemischt aus. Zwischen begeisterter Aufnahme und dezidierter Ablehnung findet sich ein weites Spektrum an Kritik. Insgesamt blieb die unmittelbare Wirkung der Rettungen unter den Zeitgenossen allerdings vergleichsweise schwach. Bedenkt man die Sprengkraft, die die Rettungen hätten freisetzen können, wäre ein vorgezogener Fragmentenstreit ebenso denkbar gewesen. Dazu kam es nicht. Lessing selbst fand aber Gefallen an seiner Methode und hatte nur kurz nach dem Erscheinen bereits einen traurigen Anlass, den von ihm eingeübten Denkstil weiter zu erproben, diesmal allerdings unter Voraussetzungen, die ihn selbst betrafen. Der Blick wendet sich ab von der Geschichte der Gelehrsamkeit und richtet sich auf das Hier und Jetzt.
5.2 »Er starb.« – Lessing würdigt seinen verstorbenen Freund Christlob Mylius Zur Ostermesse 1754 erschienen Lessings Rettungen als dritter Band seiner Schrifften endlich im Druck und er konnte die Früchte seiner Bemühungen in der Wittenberger Bibliothek nun endlich als Buch in Händen halten. Etwas mehr als einen Monat zuvor musste Lessing die traurige Nachricht vom Tode seines Freun-
15 Ebd., S. 54. 16 WuB 3, S. 84–86. 17 Ebd., S. 84.
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des und frühen Förderers auf dem Gebiet der gelehrten Journale, Christlob Mylius, vernehmen. Es war die Nacht vom 6. auf den 7. März des Jahres, als Mylius in London nach kurzer schwerer Krankheit, mit erst 32 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung verstarb. Es war ein tragischer Tod: nicht nur wegen des jungen Alters des bekannten und berüchtigten enfant terrible der Berliner Gesellschaft. Die Umstände mussten einen einerseits rühren, andererseits konnten sie als eine ›gerechte‹ Strafe gesehen werden. Mylius war – mit reichlichen finanziellen Mitteln ausgestattet – auf eine Expedition über den Atlantik aufgebrochen, hatte allerdings sämtliche Gelder für die Reise schon in England aufgebraucht, andere behaupteten: verschleudert. Ein Brief von Mylius an Albrecht von Haller, der federführend der Gruppe von Förderern vorstand, offenbart das ganze Elend, in dem sich der Todkranke in der ungewohnten Umgebung befand – es war Mylius’ letzter Brief.18 Obwohl der Tod des berühmten und vielmehr noch berüchtigten Journalisten in der Hauptstadt sofort nach dem Bekanntwerden für immenses Aufsehen sorgte, dauerte es einige Tage, bis die Meldung in der BPZ erschien. Erst am 26. März zeigte Lessing den Tod seines Freundes mit wenigen gesetzten, die letzten Monate des Verstorbenen rekapitulierenden Worten an.19 Diese große zeitliche Verzögerung und die doch distanzierte, in jedem Fall aber wenig herzliche Art der Mitteilung sollte aufhorchen und nach Gründen fragen lassen. Was war in der Zwischenzeit geschehen, das einen solchen Aufschub erklären kann? Wir besitzen ein zweites Dokument aus der Feder Lessings, das just in dieser Zeit begonnen worden sein dürfte.20 Und dieses führt auch zum unmittelbaren Gegenstand: dem Niederschlag des in den Rettungen entwickelten Denkstils. Wir hatten eingangs der Beschäftigung mit den Rettungen festgehalten, dass Lessing sich um eine Nachlasspflege nicht auf einer materiellen, sondern auf einer geis-
18 Über die genauen Umstände der geplanten Reise und die Gründe für ihr Scheitern informiert die Biographie von Dieter Hildebrandt: Christlob Mylius. Ein Genie des Ärgernisses. Berlin 1981 (Preußische Köpfe 5). Dort ist auch der Brief an Albrecht von Haller abgedruckt, S. 141f. Für biographische Informationen – gerade die Studentenzeit betreffend – siehe auch Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis: Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007, passim. Den weiteren Kontext, vor allem unter biographischen Gesichtspunkten Lessings, stellt N, S. 214–223 dar, eine kürze Zusammenfassung bei F (2010), S. 48. 19 WuB 3, S. 36. 20 Jürgen Stenzel rekonstruiert den zeitlichen Ablauf – überzeugend, wie ich finde – folgendermaßen: »Nimmt man diese kargen Daten zusammen, dann kann man sich die Entstehungsgeschichte der Vermischten Schriften wie folgt vorstellen: Lessing erfährt vom Tod seines Freundes und macht sich an einen einläßlicheren Artikel für die BPZ, der sich jedoch zu einem kritischen Charakter- und Autorenporträt auswächst, also für die BPZ nicht taugt. Darauf schaltet er die verspätete Anzeige.« WuB 3, S. 1114.
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tigen Ebene bemühen wollte. Hier kommen nun beide Seiten zusammen. Lessing muss sich recht unmittelbar mit dem Gedanken beschäftigt haben, die bis dato nur verstreut zugänglichen Schriften seines Freundes zu sichten und für eine Edition in Auswahl vorzubereiten. Im Zuge dessen verfasste Lessing in der Funktion als Herausgeber eine Reihe von wohl fingierten Briefen, sechs an der Zahl, die er den Vermischten Schriften – so der Titel – anstatt eines oder als Vorwort voranstellte.21 Als die Ausgabe noch im gleichen Jahr erschien, stieß sie auf große Resonanz, was allerdings weniger mit den Texten Mylius’ zusammenhing als mit der von Lessing verfassten und den eigentlichen Texten vorangestellten Einleitung. Sie sorgte für einen kleinen Skandal – gerade weil die enge Freundschaft der beiden weithin bekannt war. Am deutlichsten lässt sich der Eindruck, den Lessing unter den Zeitgenossen hervorgerufen hat, in einem kleinen Vierzeiler veranschaulichen, der zwei Jahre nach der Veröffentlichung gedruckt wurde. Darin heißt es: Was wünsch ich meinem Feinde doch? Nichts wünsch ich ihm als eines noch: Du, der Du mir so manche Tück erwiesen, Sey einst von Gnißels Kiel als Mylius gespriesen.
Dichter dieser Verse war der uns schon vertraute, bekennende Lessing-Gegner Christoph Otto Freiherr von Schönaich, der sie unter der Überschrift Auf Gnißels Vorrede vor die myliussischen Schriften zum Besten gab.22 Lessings Lob ein posthumer Rufmord? So hat es den Anschein, auch die Lessing wohlgesonneneren Kreise waren irritiert. In einer Rezension in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen vom 25. Januar 1755 steht zu lesen: Das Urtheil [in den vorangestellten Briefen, M. M.] ist strenge, und gar nicht, wie man es von der gewöhnlichen Partheylichkeit eines Freundes und Herausgebers erwarten könnte. Er findet gemeiniglich, daß Herr M. sich in seinen Gedichten und witzigen Schriften der Mittelmäßigkeit, die den Leser gleichgültig läßt, nicht genug entzogen habe, und tadelt billig an ihm, daß er zu viel und zu geschwind geschrieben habe, dabey ihn aber bedauret, daß ihn die Noth so früh gezwungen habe, ein Schriftsteller von Profeßion zu werden, und ihn doch gehindert, den dazu nöthigen Schatz einzusammlen. [. . . ] Gegen die Beschuldigung, als sey er ein Freygeist und Verächter der Religion gewesen, vertheidiget er ihn, und meldet woher der Verdacht entstanden ist.23
21 [Christlob Mylius]: Vermischte Schriften des Hrn. Christlob Mylius, gesammelt von Gotthold Ephraim Lessing. Berlin 1754. 22 Anonymus [= Christoph Otto Freiherr von Schönaich]: Ein Mischmasch von allerlei ernsthaften und lustigen Possen. o. O. 1756, S. 15f. 23 Zitiert nach B, Bd. 1, S. 48f.
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In den sechs Briefen, die man als einzelne »Miniaturen«24 ansehen darf, zeichnet Lessing ein Bild seines verstorbenen Freundes, das sich den Erwartungen der Leserschaft größtenteils verweigert. Es ist kein hymnischer Lobgesang, den Lessing in seinen Ausführungen anstimmt, ein feierlicher Nekrolog schon gar nicht. Nach der eingehenden Sichtung der Rettungen kann dieses Verfahren kaum verwundern, auch dort begegnete Lessing seinen ›Klienten‹ mit einer Mischung aus affirmativer Annäherung und bisweilen ablehnender Distanz, wobei er häufig die gewohnten und konsensfähigen Ansichten geradezu umkehrte. Dieser Strategie begegnen wir auch hier. Der gängigen Meinung, Mylius sei Freigeist und »Verächter der Religion« gewesen, wird widersprochen, den allgemein anerkannten und mitunter auch geachteten Arbeiten auf dem Gebiet der Poesie und Gelehrsamkeit bescheinigt er dagegen nur mittelmäßige Qualität. In diesem Zusammenhang sei erinnert, was Lessing zu Beginn seiner Horaz-Rettung zu bedenken gab, dass die Nachwelt nie ungerecht sein wird in der Beurteilung der geistigen Leistungen, aber auch der moralischen Integrität der Person. »Anfangs zwar pflanzt sie [die Nachwelt, M. M.] Lob und Tadel fort, wie sie es bekömmt; nach und nach aber bringt sie beides auf ihren rechten Punkt.«25 Zugegeben, die Nachwelt betritt hier in der Person Lessings sehr plötzlich und unmittelbar das Parkett der Geschichtsschreibung, aber nichtsdestotrotz sind vonseiten Lessings erste Korrekturen angebracht, wie die Umkehrung der gängigen Meinung belegt. Würde man die Schriften des Freundes rein aus Pietät loben, urteilte man ebenfalls ungerecht – in entgegengesetzter Richtung. Ihr Wert – folgt man Lessing – reicht nun einmal nicht über Mittelmäßigkeit hinaus. Alle diese Beobachtungen fügen sich gut in das Bild, das auch schon in den Rettungen begegnet ist – die ähnliche Herangehensweise an den Gegenstand ist nicht zu übersehen. Es geht Lessing einmal mehr darum, »Vorurteilen die Stirne zu bieten, und alles in seiner wahren Gestalt zu zeigen, sollte auch ein vermeinter Heiliger dadurch zum Bösewichte und ein vermeinter Bösewichte zum Heiligen werden.«26 Mylius war, soviel vorweg, keines von beiden. Um aber auch hier den Denkstil explizit zu machen, fehlt ein gewichtiger Baustein, der auf der Ebene der reinen Beschäftigung mit der Person Christlob Mylius und dessen Werk nicht zu finden sein wird. Alle zuvor behandelten Rettungen wiesen über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus und kamen zu Schlüssen, die mehr wollten, als die bloße Verteidigung und Rehabilitierung einer verleumdeten Person. Ein programmatisches Element kam stets hinzu, das nur durch die Umdeutung der bis-
24 So Jürgen Stenzel im Kommentar, WuB 3, S. 1120. 25 WuB 3, S. 158. 26 WuB 3, S. 158.
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her etablierten Urteile zum Vorschein kommen konnte und Gestalt annahm. Um der ohnehin schon immer betonten Nähe der Vorrede zu den Rettungen Substanz zu verleihen ist es unerlässlich, gründlicher auf den Text einzugehen.27 Die Rettungen hatten allesamt historische Personen zum Mittelpunkt und bezogen sich in ihrer Kritik, das war der jeweilige Ausgangspunkt, auf Urteile, die in der Geschichtsschreibung tradiert worden waren und einer Revision bedurften. Hier, so macht schon die geschilderte Ausgangslage deutlich, ist der Fall ein wenig anders gelagert. Lessing schreibt über und in seiner unmittelbaren Zeitgenossenschaft, und die Kontexte, die er gewohnt war aus neu aufgefundenen Quellen zu gestalten, entfallen hier. Er selbst ist es, der aus Freundschaft zum Verstorbenen zum Kronzeugen der Verteidigung wird. Ehrlichkeit und Redlichkeit im Zeugnis werden auf diese Weise desto dringlicher und Lessing versäumt nicht, gleich zu Beginn darauf hinzuweisen: Ich war verschiedene Jahre hindurch einer seiner vertrautesten Freunde, und jetzt bin ich sein Herausgeber geworden; zwei Titel, die mir hinlängliche Erlaubnis geben könnten, mich weitläuftig in sein Lob einzulassen, wenn ich mir nicht ein Gewissen machte, denjenigen im Tode zu schmeicheln, welcher mich nie in seinem Leben als einen Schmeichler gefunden hat.28
Diese Passage ist insofern von Bedeutung, als dass die Objektivität der Urteile herausgestellt wird, nicht so sehr um historische Gerechtigkeit zu ermöglichen, sondern vielmehr um die aus diesem exemplarischen Leben gezogenen Schlüsse nicht ihrer Legitimation und Gültigkeit zu berauben. Eine zu große Nähe könnte Parteilichkeit suggerieren und das soll in jedem Falle vermieden werden. Der erste Brief, datiert auf den 20. März 1754, stellt den Freund Mylius als einen Menschen dar, der schon seit jungen Jahren fremd war in dieser Welt und dessen Tod durchaus, ohne dabei zynisch zu werden, als eine Befreiung aus dieser begriffen werden darf. Machten sich Freunde und Bekannte vor seiner Abreise Sorgen, er könnte nicht lebendig zurückkommen, weiß Lessing ihn schon
27 Eine dezidiert andere Lesart der Vorrede verfolgt Hugh Barr Nisbet, der das Ziel einer radikalen Abrechnung mit Mylius in den Vordergrund stellt. Nach Nisbet war es der tiefen Enttäuschung Lessings über die Fehleinschätzung von Mylius’ Charakter geschuldet, dass die Vorrede zu einem Vernichtungsfeldzug und der Auslöschung seines Gedächtnisses in der Nachwelt geriet (N, S. 214–223). Diese Auslegung ist für meinen Begriff zu einseitig, und überdies wäre dann ein gänzlicher Verzicht auf die Herausgabe der Schriften der wohl probatere Weg gewesen, dieses Ziel zu erreichen. Im Folgenden wird daher eine behutsamere, weniger eindeutige Interpretation angestrebt. 28 WuB 3, S. 330.
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»vorher gestorben«.29 In dem Moment, in dem er sich auf seine Reise begab und Forschung sowie bloße Sammeltätigkeit für die Interessen seiner Geldgeber übernahm, hatte er sein eigentliches Leben bereits aufgegeben. Das war kein Einzelschicksal, vielmehr war es ein »gewisses neidisches Geschick über die deutschen Genies, welche ihrem Vaterlande Ehre machen könnten«.30 Der Konjunktiv deutet hier eine allgemeine Misere bereits an. »Wie viele derselben fallen in ihrer Blüte dahin! Sie sterben reich an Entwürfen, und schwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Größe nichts als die Ausführung fehlt.«31 Mylius verkörpert ein Gelehrtenschicksal in Deutschland, ein Schicksal, dass in ärmlichen Verhältnissen geboren zu sein nicht verzeiht und beinahe zwangsläufig Mittelmäßigkeit zur Folge hat. Er verfügte nie über die Mittel und Möglichkeiten seinen Geist seinen Fähigkeiten entsprechend zu entfalten. Mit den bekannten tragischen Konsequenzen: Er schrieb, und die grausame Verbindlichkeit, daß er viel schreiben mußte, raubte ihm die Zeit, die er seiner liebsten Wissenschaft, der Kenntnis der Natur, mit bessern Nutzen hätte weihen können. Er verließ endlich die Akademie, und begab sich an einen Ort, wo es ihm mit seiner Gelehrsamkeit beinahe wie denjenigen ging, die von dem, was sie einmal erworben haben, zehren müssen, ohne etwas mehrers dazu verdienen zu können. Nach einiger Zeit ward er zu einem Unternehmen für tüchtig erkannt, von welchem einige Leute sagten, daß man sich nur aus Verzweiflung dazu könne brauchen lassen. Er wollte und sollte reisen; er reisete auch, allein er reisete auf fremder Leute Gnade; und was folgt auf fremder Leute Gnade? Er starb. – – 32
ChristophOttovonSchönaichverspotteteauchdieseStelleundverkanntedasTragische, das Lessing lakonisch formulierte. Bei Schönaich heißt es: »Ein Mensch, der nie was that, was Gnißels Lob erwarb, / that eh’ er starb doch was; Und was denn wohl?Erstarb.«33 SchönaicherklärtMyliushierausganzanderen,einerböswilligen LesartgeschuldetenGründenfür verstorben, für ihnist es der geringe Grad anAnerkennung (durch Lessing), der dieses Leben überflüssig machte. Dabei hatte Lessing nur die besten Absichten, wenn er glaubte oder nur glauben machen wollte, dass es seinem Freund im Jenseits nur besser gehen kann, als es ihm auf Erden erging.34 Es ist nicht nur ein Urteil über einen Freund, das hier gefällt wird, sondern ebenso eine
29 Ebd., S. 332 (Hervorhebung im Original). 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 333. 33 Schönaich (1756), S. 16. 34 »Ja mein Herr, das ist sein Lebenslauf. Ein Lebenslauf, ohne Zweifel, in welchem das Ende das unglücklichste nicht ist.« WuB 3, S. 333.
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ZeitdiagnosedereigenenGegenwart,allerdingsmitweniger »traurigangenehmen« Aussichtenfür dienähereZukunft: Sein Eifer, die Werke der Allmacht näher kennen zu lernen, trieb ihn aus seinem Vaterlande. Und eben dieser Eifer führt seine entbundene Seele nunmehr von einem Planeten auf den andern, aus einem Weltgebäude in das andre. Er gewinnet im Verlieren, und ist vielleicht eben jetzt beschäftiget mit erleuchteten Augen zu untersuchen, ob Newton glücklich geraten, und Bradley genau gemessen habe. Eine augenblickliche Veränderung hat ihn vielleicht Männern gleich gemacht, die er hier nicht genug bewundern konnte. Er weiß ohne Zweifel schon mehr, als er jemals auf der Welt hätte begreifen können. Alles dieses hat er sich in seinem letzten Augenblicke gewiß zum voraus vorgestellt, und diese Vorstellungen haben ihn beruhiget, oder es sind keine Vorstellungen fähig, einen sterbenden Philosophen zu beruhigen –35
Man darf hier, denke ich, nicht den Fehler begehen und zwei, wenngleich miteinander verbundene, Ebenen des Textes uneingeschränkt in eins setzen. Lessing instrumentalisiert hier den Lebensweg Mylius’, um ein generelles strukturelles Problem im Geistesleben seiner Zeit anzusprechen. Die damit einhergehende »Abrechnung« ist nur die andere Seite der Verteidigung des jungen Gelehrten. Steht in diesem ersten Brief noch eine Summe des Lebens und die möglichen Bedingungen für dessen Scheitern im Fokus des Interesses, analysiert Lessing diese im weiteren Verlauf der Vorrede, um genau die Stellen identifizieren zu können, die sich als verhängnisvoll erwiesen haben. Der Leitfaden, an dem sich diese Diskussion orientiert, ist das gelehrte und poetische Werk Mylius’. Schon im zweiten Brief wird der Fokus deutlich enger gestellt. Lessing zieht eine Bilanz über die frühen Arbeiten Mylius’ zu seiner Zeit in Leipzig, als er unter der Ägide Gottscheds Beiträge für die Physikalischen Belustigungen schrieb. Das Urteil fällt, gerade was die poetischenVersuche betrifft, vergleichsweise vernichtend aus. Es fehlte ihm schlichtweg an Witz, um auf diesem Gebiet zu reüssieren. Nichtsdestotrotz wurden seine Arbeiten gedruckt, was sich einzig der treuen Anhängerschaft Gottscheds verdankte – Mylius setzte dessen Vorstellungen von Poesie getreu um, mit dem bekannten Ergebnis. Hier wird neuerlich eine Front gegen die aus Lessings Sicht überkommenen Ansichten und Programmatiken Gottscheds auf dem Gebiet der Poesie polemisiert, deren Leidtragender nun konsequenterweise auch Mylius ist. Dabei war nach Lessing nicht alles schlecht, was der verstorbene Freund zu dieser Zeit zu Papier brachte, seine popularwissenschaftlichen und -philosophischen Untersuchungen hätten durchaus Wertschätzung verdient, wenngleich ihr Autor öfter über das Ziel hinausschoss. Er wollte gelehrter erscheinen als er es zu diesem Zeitpunkt war. Aber auch für die-
35 Ebd., S. 334.
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se ›Verblendung‹ ist nicht Mylius allein verantwortlich zu machen: »Zwar – – als wenn man nur die Leser klug zu machen schriebe! Gnug, wenn man zeigt, daß man selbst klug ist.«36 Das ist ein allgemeines Urteil, wenn man den Textverlauf genau verfolgt, aber Lessing hatte es nur kurz zuvor klug vorbereitet: »Ernsthafte gesetzte Männer müssen zweifeln; und wir, wir jungen Gelehrten, müssen entscheiden. Wer würde es auch sonst wagen, gebilligten Meinungen die Stirne zu bieten, wenn wir es nicht wären, die wir noch alle unser Feuer beisammen haben?«37 Was arrivierte Gelehrte als »flüchtigen Gedanken, der keine Billigung verdiene«38 vortragen können, müssen junge Gelehrte als eine »Wahrheit« verkaufen, um auf dem konkurrierenden Markt der Meinungen wahrgenommen zu werden. Der unbedingte Wille zur Originalität – so darf man verallgemeinern – ist nicht immer zum Besten der Wissenschaften. Mit der angebrachten Bescheidenheit ist hingegen – so folgert Lessing – kein Preis zu gewinnen. Der Freund spielte das Spiel nach den ihm diktierten Regeln. Sich dieser Praxis nicht verweigert zu haben, ist daher auch der Vorwurf, der an Mylius haften bleibt. In eine ähnliche Kerbe schlägt der dritte Brief. Ein Wechsel der Verantwortlichkeit in der literarischen und gelehrten Produktion steckt das Thema ab. Mylius gewinnt als Herausgeber seiner beiden, von ihm selbst verantworteten Journale – dem Freygeist und dem Wahrsager – weiter Kontur. Beide fallen in die gemeinsame Berliner Zeit. Lessing hat viel Gutes über das erste selbstständige Projekt, den Freygeist, zu berichten, wenn – und sogleich wird eine Einschränkung gemacht – man die Umstände der Publikation mitbedenkt. Mylius hatte sich in der Anlage seiner moralischen Wochenschrift an den englischen Vorbildern, vornehmlich dem Spectator, orientiert. Und darin liegt auch schon die Crux. Waren die Herausgeber der englischen Variante doch »Männer, denen es weder an Witz, noch an Tiefsinn, noch an Gelehrsamkeit, noch an Kenntnis der Welt fehlte. Engländer, die in der größten Ruhe und mit der besten Bequemlichkeit, auf alles aufmerksam sein konnten, was einen Einfluß auf den Geist und auf die Sitten ihrer Nation hatte.«39 Der junge Berliner Journalist arbeitete hingegen unter gänzlich anderen Voraussetzungen und teilte damit das Schicksal der meisten deutschen Blattmacher. Zum einen schrieb er für seinen Broterwerb – im Gegensatz zu den englischen Gentlemen –, zum anderen fehlte es seinen Urteilen auf diesem Gebiet, um wahrhaft gewichtig zu sein, schlicht an der dazu unerlässli-
36 37 38 39
Ebd., S. 337. Ebd., S. 336. Ebd. Ebd., S. 338.
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chen Lebensfahrung. Ebenso ungünstig wie die Voraussetzungen des Projektes waren aus Lessings Sicht auch seine Folgen, zumindest für den Herausgeber: Gleichwohl aber ward es – – – und dieses muß ich Ihnen zu melden nicht vergessen – – seinem guten Namen einigermaßen nachteilig, ihn geschrieben zu haben. Er behielt von der Zeit an den Titel seines Buchs statt eines Beinamens, und seine Bekannten waren noch lange hernach gewohnt, die Namen Mylius und Freigeist eben so ordentlich zu verbinden, als man jetzt die Namen Edelmann und Religionsspötter verbindet. Sie können sich leicht einbilden, daß diese Verbindung bei denen, welche die wahre Ursache davon nicht wußten, oft ein sehr empfindliches Mißverständnis werde verursacht haben. Es ist aber so ungegründet, daß ich es auch nicht mit einem Worte weiter widerlegen will.40
Hier befinden wir uns ganz eindeutig in dem Bereich, der einen Großteil der früheren Rettungen bestimmt hat: die unlautere Vermischung von Werk und moralischer Integrität der Person. Hatte Mylius mit dieser Gleichsetzung schon einiges an Kredit und Ansehen in der Öffentlichkeit verspielt – wenn auch ohne substanziellen Grund in der Zeitschrift selbst – so sollte sein nächstes Projekt noch weit höhere Wellen schlagen. Hauptsächlich wegen mangelnder pekuniärer Ausstattung gründete Mylius ein weiteres Journal: den Wahrsager. Und dessen Ausrichtung war wenig ruhmvollen Zielen verpflichtet. Sorgten sich die Beiträge im Freygeist noch um die moralische Erziehung der Leserschaft, begründete Mylius mit dem Wahrsager eine in ihren Artikeln vielfach diffamierende Klatschzeitung für die Berliner Gesellschaft. Wie gefährlich so ein Unternehmen sein konnte, hat jüngst Robert Darnton für das 18. Jahrhundert in Frankreich in einer materialreichen Studie dargelegt.41 Und unweigerlich beschwerten sich Mylius’ Zeitgenossen, was so weit führte, dass sich Friedrich II. genötigt sah zu intervenieren. Er verbot die Zeitung und verschärfte im Zuge dessen die Zensur. Mylius hatte die Gedankenfreiheit in der preußischen Hauptstadt maßlos überschätzt und diese Fehleinschätzung fiel auf seine Person zurück. Seine ohnehin schon angeschlagene moralische Integrität hatte weiter gelitten, nicht zuletzt weil viele seiner Kollegen unter den verschärften Bedingungen zu leiden hatten. Vor diesem Hintergrund kann Lessings Einschätzung, Mylius hätte die Zeitschrift am besten nie begonnen, nicht verwundern.42 Was sich bei einer oberflächlichen Betrachtung als reines Qualitätsurteil
40 Ebd., S. 340 (Hervorhebungen im Original). 41 Robert Darnton: The Devil in the Holy Water, or the Art of Slander from Louis XIV to Napoleon. Philadelphia 2010. 42 »Die fernere Fortsetzung ward ihm höheres Orts verboten, und es wäre seiner Ehre zuträglicher gewesen, wenn man ihm gleich den Anfang untersagt hätte. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ungleich er sich darinne sieht!« WuB 3, S. 340.
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darstellt, hat tiefere Beweggründe. Mylius hat nicht nur Schund produziert, sondern sich auch moralisch auf Abwege begeben. Freiwillig tat er dies indes nicht, er war gezwungen gewesen, schnelles Geld zu verdienen, und Meldungen des Boulevard waren ein Weg, zügig und ohne großen Rechercheaufwand viel Text zu produzieren. Die Beiträge sind von nicht einmal mittelmäßiger Qualität, aber Lessing vergisst nicht zu erinnern, dass man nicht glauben solle, »daß unser Tachygraphus sie nicht hätte besser habe machen können.«43 Vielmehr haben es die finanziellen Umstände verhindert – wie schon in den Rettungen ausgeführt, sollte man in der Beurteilung die jeweiligen Konsequenzen nicht von ihren Ursachen entkoppeln.44 Der vierte Brief geht mit den dramatischen Stücken Mylius ins Gericht und ist dem Ton nach eher heiter, wie ich ganz im Gegensatz zu Hugh Barr Nisbet finde.45 Die Begegnung seines Freundes Mylius mit der dramatischen Kunst war von Beginn an ein großer Irrtum. Zum fehlenden Talent gesellten sich auch noch schlechte Lehrmeister, wie sonst könnte man es erklären, dass Mylius mit seinem ersten Drama Die Ärzte von 1745 – hatte er sich doch an alle Regeln und Anweisung zur Einrichtung eines guten Dramas gehalten – kein zweiter Molière wurde?46 Auch wenn der Name Gottscheds hier nicht fällt, ist die Zielrichtung dieser Spitze eindeutig zu erkennen. Explizit wird der Angriff auf den Leipziger Professor im folgenden Brief, in dem der Gegenstand wieder gewichtiger wird – Mylius’ Charakter steht erneut auf dem Prüfstand. Die Opposition, die Lessing dabei aufbaut, entspricht der bekannten Strategie, die er bereits in den Rettungen erprobt hat. Er spielt zwei inkompatible Urteile gegeneinander aus und versucht dergestalt eine höhere Wahrscheinlichkeit für ein positives Endurteil zu erzielen.
43 Ebd., S. 341. 44 Eine redliche Kontextualisierung war eines der Grundmotive der Rettungen. 45 »Von hier an herrschen dann in den Vorwort-Briefen negative Urteile vor. Der vierte Brief hat kein gutes Wort über Mylius’ leichtgewichtige Dramen zu sagen; verständlicherweise machte Kästner es Lessing zum Vorwurf, daß er das schwächste davon überhaupt in die Ausgabe aufgenommen habe.« N, S. 219. 46 »Das erste Lustspiel ward 1745. in Hamburg gedruckt und heißt Die Ärzte. Es ist in Prosa; es hat fünf Aufzüge; es beobachtet die drei Einheiten; es läßt die Bühne vor dem Ende eines Aufzugs niemals leer; es hat keine unwahrscheinliche Monologen. – – Warum darf ich nun nicht gleich darzu setzen: kurz, es ist ein vollkommnes Stück? Warum giebt es gewisse schwer zu vergnügende ekle Kunstrichter, welche eine anständige Dichtung, wahre Sitten, eine männliche Moral, eine feine Satyre, eine lebhafte Unterredung, und ich weiß nicht, was noch sonst mehr, verlangen? Und warum, mein Herr, sind Sie selbst einer von diesen Leuten? Ich hätte Ihnen ein so vortreffliches Quidproquo machen wollen, daß Sie meinen Freund den deutschen Moliere nennen sollten. Ein deutscher Moliere! und dieser mein Freund! O wenn es doch wahr wäre! Wenn es doch wahr wäre!« WuB 3, S. 341f.
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Beginnen wir, Lessing folgend, mit der positiven Seite der Charakterzeichnung: »An Kenntnis der vortrefflichsten Muster fehlte es dem Hrn. Mylius gar nicht. Und wie hätte es ihm auch so leicht daran fehlen können, da er das Hülfsmittel der Sprachen vollkommen wohl in seiner Gewalt hatte? Die vornehmsten lebendigen und toten waren ihm geläufig.«47 Lessing präsentiert Mylius als einen veritablen Vertreter der Gelehrtenrepublik, in Fremdsprachen bewandert und geschickt, was sich in seinen Bemühungen um neue Übersetzungen aus diversen Sprachen niederschlägt – wir werden im nächsten Kapitel auf seine Übersetzung von Alexander Popes Essay on Man zurückkommen. Überdies pflegte er eine reiche Korrespondenz inner- und außerhalb der Republik, stand mit namhaften Gelehrten in Verbindung, seine Meinung wurde geschätzt. Gleiches gilt für den Kritiker Mylius, der sich vornehmlich in der Sichtung der dramatischen Literatur nicht-deutschsprachiger Provenienz auszeichnete. Ein Geschäft, dem er auch noch in England – dem eigentlichen Zwischenstopp auf dem Weg nach Amerika – nachging. Hier sind aber auch schon die Grenzen seines Könnens zu verorten, hatte er sich doch nie aus der Einfluss-Sphäre Gottscheds befreien können. Sein Geschmack blieb durch diesen geschult und damit auch über einen langen Zeitraum hinweg limitiert. Zum Beweis für diesen Umstand lüftet Lessing ein bis dato gut gehütetes Geheimnis: In Halle erschien ab 1743 eine neue Zeitschrift unter dem Titel Bemühungen zur Beförderung der Kritik und des guten Geschmacks,48 die gleich in ihrer ersten Nummer eine vernichtende und auch in Teilen beleidigende Besprechung des ansonsten vielgelobten Gedichtes Über den Ursprung des Übels von Albrecht von Haller beinhaltete. Bei Adolf Frey findet sich ein Abdruck besagter Stelle: Die oft ganz seltsamen und unbekannten Wörter und Wortfügungen, deren sich der Herr D. Haller in seinen Gedichten bedienet, tragen auch nicht wenig zu ihrer Dunkelheit bey. Die vielen Mittelwörter (participia) in der vergangenen Zeit, welche zwar im Lateinischen und Griechischen gewöhnlich sind, thun desgleichen . . . Der Herr D. Haller würde demnach [. . . ] in seinen Gedichten, wenigstens um die Hälfte, deutlicher seyn, wenn er nicht allzu philosophisch dichtete und allzu abgesonderte Begriffe mit wenig Worten ausdrückte, wo ihn eben die Materie nicht dazu zwingt. Was die öfters sehr rauhen Wörter, Silbenmaasse und Reime anbelangt, so machen sie seine Verse auch sehr unangenehm: jedoch diesen Fehler
47 Ebd., S. 344. 48 Die Zeitschrift erschien bis 1747. Der im Kommentar der Klassiker-Ausgabe angegebene Titel ›Hällische Bemühungen‹ ist freilich Nonsens und lediglich Paraphrase der lessingschen Bezeichnung. Die Bemühungen erschienen in Halle, daher resultiert die von Lessing gewählte Bezeichnung. Siehe WuB 3, S. 1137.
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wird man wohl grösstentheils seiner noch gar unausgebesserten Landessprache zuschreiben müssen.49
Das ist ein Schlag ins Gesicht des Dichters Albrecht von Haller, aber auch des Gelehrten – soweit kann kein Zweifel bestehen. Zweifel bestanden bis zur Offenlegung Lessings in seiner Vorrede lediglich über den Autor: aber »dieses war Hr. Mylius, denn aus seiner Feder ist die Beurteilung des Hallerischen Gedichts, über den Ursprung des Übels [. . . ] geflossen.«50 Viele von Lessings späteren Interpreten, aber auch Freunde aus dem unmittelbaren Umkreis – Kästner etwa – nahmen Lessing diesen Zug übel, bezichtigten ihn des posthumen Rufmords oder hielten es für schlichtweg überflüssig, wenn nicht sogar unanständig. Vor dem Hintergrund der Gönnerschaft Albrecht von Hallers musste die Enthüllung doppelt infam wirken. Das ist die angesprochene, aus den Rettungen bekannte Opposition, die Lessing hier eröffnet. Beide Seiten, die des respektierten Gelehrten und die des anonymen Verleumders und Verfassers von kompromittierenden Rezensionen, lassen sich nur schwer vereinbaren. Wie also lässt sich diese Widersprüchlichkeit in der Person (und am Ende gar im Charakter) Mylius’ auflösen? Wie schon in den Rettungen erprobt, hebt Lessing auch hier auf die Grundlage der Urteilsfindung ab: Zur Verantwortung ziehen kann man nur den, der auch verantwortlich ist. Und Mylius war es in diesem Falle nicht: »Ich sage mit Fleiß, aus seiner Feder und nicht aus seinem Kopfe. Der Hr. Prof. Gottsched dachte damals für ihn, und mein Freund hat es nach der Zeit mehr als einmal bereuet, ein so schimpfliches Werkzeug des Neides gewesen zu sein.«51 Mylius war seinerzeit von Gottsched instrumentalisiert worden, es war eine Auftragsarbeit, die ihm nun, nach seinem Ableben nicht zum Verhängnis werden sollte. Allein darin besteht der Wert der Mitteilung. Irgendwann, so stand zu vermuten, hätte die Verfasserschaft ohnehin ans Licht der Öffentlichkeit kommen können, und unter Umständen hätte niemand mehr Partei für Mylius ergriffen. So viel zu einer Ebene dieser Offenlegung. Offengelegt wird aber auch eine Praxis vonseiten Gottscheds. Diese ist weit mehr als eine Anklage gegen Mylius. Unausgesprochen steht nun auch der Vorwurf im Raum, dass Gottsched nicht nur einmal dergestalt Meinung gegen unliebsame Kollegen formiert hat, sich selbst dabei im Hintergrund hal-
49 Nach Adolf Frey: Albrecht von Haller und seine Bedeutung für die deutsche Literatur. Leipzig 1879, S. 60. 50 WuB 3, S. 346. 51 Ebd.
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tend.52 Gottsched wird auf diese Weise zum moralisch fragwürdigen Charakter. Und sein Opfer? Aber, bewundern Sie doch mit mir den Hrn. von Haller! Entweder er hat es gewußt, daß ihn Hr. Mylius ehedem so schimpflich kritisiert habe; oder er hat es nicht gewußt. In dem ersten Falle bewundre ich seine Großmut, die auf keine Rache dieser persönlichen Beleidigung gedacht, sondern sich den Beleidiger vielmehr unendlich zu verbinden gesucht hat. In dem andern Falle bewundre ich – – seine Großmut nicht weniger, die sich nicht einmal die Mühe genommen hat, die Namen seiner spöttischen Tadler zu wissen.53
Der Großmütigkeit Albrecht von Hallers steht der Neid Gottscheds gegenüber. Dass hiermit auch konkurrierende Modelle auf poetischen Gebiet gemeint sein können, bleibt unausgesprochen. Wenn man aber bedenkt, dass Namen immer auch als Chiffren für bestimmte Denktraditionen oder zumindest Positionen gelesen werden können, ist der Gedanke einer impliziten Parteinahme für die Dichtung Albrecht von Hallers zumindest nicht abwegig. Auch dieses Verfahren kam bereits in den Rettungen zur Anwendung. Bleibt noch der sechste und letzte Brief der Vorrede. Auch er greift ein Thema auf, das aus dem Umfeld der Rettungen bereits bekannt ist – das der Ehre. In einer fingierten Gesprächssituation zu Beginn des Briefes wird thematisiert, was nun von der teuren aber scheinbar unfruchtbaren Reise Mylius’ bleibt. Lessings Antwort in diesem Gespräch ist eindeutig und prägnant: »Ehre! habe ich denen, die ich näher kenne, geantwortet. Ehre!«54 Sein Gesprächspartner, einer der Investoren, fühlt sich brüskiert, hatte er doch auf etwas ganz anderes spekuliert. Er erhoffte sich eine reiche Ausbeute für seine naturgeschichtliche Sammlung. Hier treffen zwei vollkommen unterschiedliche Auffassungen dessen aufeinander, was man – modern gesprochen – als Ertrag von Wissenschaftsfinanzierung erwarten darf. Der Geldgeber oder Förderer sieht sich in seinen Erwartungen getäuscht und um seine (bestellte) Ausbeute des Unternehmens gebracht. Lessing hingegen gibt zu bedenken, dass Forschung diese gerade nicht garantiere. Ertrag sei nie in dieser Weise kalkulierbar. Die Schadenfreude, die Lessing artikuliert, ist ob dieser falschen Erwartungshaltung mehr als verständlich. Einmal mehr hätte sein Freund Mylius – der Gelehrte – degradiert und damit diskreditiert werden sollen. Dabei unterlief Mylius diese Instrumentalisierung bereits bevor er überhaupt selbst die Chance zu einer Expedition hatte. In einem von seinem Heraus-
52 »Doch ich weiß schon, auf wen die größte Schande fällt; auf den ohne Zweifel, auf welchen alle seine Schüler ihre Vergehungen bürden, und ihn, wie den Versöhnungsbock, in die Wüste schicken sollten.« Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 346.
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geber mitabgedruckten Brief äußert sich Mylius über die Möglichkeiten, vermögende Männer um ihr Geld zu bringen – freilich zum Besten der Wissenschaft. Und davon könnten dann auch die Geldgeber profitieren – nicht auf materielle Weise, wohl aber immer in ideeller. Wären sie verständig genug, wüssten sie, dass sie nichts zu verlieren, sondern zu gewinnen hätten. Mylius war in den Augen Lessings ein umfassend interessierter Gelehrter, der sich nicht auf Neugierde in einem isolierten Feld reduzieren ließ. Es wäre ihm wohl nie in den Sinn gekommen, bloß mit den Augen eines Naturforschers zu sehen, und um nichts, als um einen Stein oder um ein Kraut sich Gefahren auszusetzen. Er würde ein allgemeiner Beobachter gewesen sein, und die Kenntnis des Schönsten in der Natur, des Menschen, für keine Kleinigkeit angesehen haben, ob sie gleich in dem gemeinen Plane seiner Reise nicht in Betrachtung gezogen war.55
Lessing verteidigt hier ein letztes Mal das Ethos des Gelehrten gegen ungerechtfertigte Ansprüche von außen. Damit schließt sich der Kreis, der eingangs mit der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen als Voraussetzung mit der ein junger Gelehrter aus unterprivilegiertem Elternhaus zu kämpfen hat, eröffnet wurde. Der Brief endet mit der noch einmal geäußerten tiefen Betroffenheit des Herausgebers: »Die Erinnerung der Geschicklichkeiten meines Freundes ist mir zu peinlich, und ich empfinde seinen Verlust zu lebhaft, wenn ich derselben allzusehr nachhänge.«56 Was von Mylius bleibt, sind seine hinterlassenen Werke und das Bewusstsein, dass einer trotz seiner guten Anlagen nicht vor dem Scheitern bewahrt werden kann.57 Die Vorrede bricht mit den Erwartungshaltungen der Leserschaft, stellt sie doch keinen Lobgesang oder eine umfassende Würdigung des verstorbenen Freundes dar. Unter den Prämissen des in den Rettungen sich entwickelnden Denkstils ist sie hingegen mehr als konsequent, geht es in ihr doch darum, ein historisch gerechtes Urteil zu finden bzw. für das Verständnis eines solchen zu werben. Die Irritation unter den Zeitgenossen allerdings blieb groß, wenngleich die Nähe zu den Rettungen bemerkt wurde. Illustrieren lässt sich das am anschaulichsten anhand der Einschätzung Abraham Gotthelf Kästners, ein Freund Lessings und zugleich der frühe Lehrer Mylius’ an der Leipziger Universität: »Mein Herr!« schrieb
55 Ebd., S. 348. 56 Ebd. 57 Hier stimme ich Hugh Barr Nisbet uneingeschränkt zu. Man kann diese Schlusspassage durchaus auch biographisch motiviert auslegen. Lessing hatte sich auch selbst wiederholt Hoffnungen auf eine feste Anstellung gemacht, die seine prekäre Existenz gesichert hätte. Mehrfach wurde auch er enttäuscht. N, S. 222.
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dieser im Herbst 1754, also kurz nach Erscheinen der Vermischten Schriften an Lessing, »Das ist wahr, die Briefe welche Sie der Sammlung von unsers Freundes Mylius Schriften vorgesetzt haben, sind ein Muster für einen unparteiischen Herausgeber. Wenn ein Herausgeber ihres und meines Horazens mit demselben so verfahren wäre, so hätte er sich gewiß ein paar Rettungen zugezogen.«58 Dass sich die Rettungen Lessings um ein objektives historisches Urteil bemühten, und die Vorrede in diesem Sinne als eine solche Rettung angesehen werden kann, übersah Kästner von seiner subjektiven, aus der Perspektive des Freundes nachvollziehbaren Position aus. Er steht damit Pate für viele spätere Interpreten. Gerechtigkeit walten zu lassen und Lessings Bemühungen, Mylius den ihm gebührenden Platz in der Geschichte zuzuweisen, fielen in seinem Selbstverständnis in eins – auch oder gerade, wenn es sich um einen guten Freund handelt. Schon im folgenden Jahr, 1755, kämpfte er erneut um das gerechte Andenken eines Mannes, diesmal mit Unterstützung. Mit Pope, ein Metaphysiker! zog Lessing abermals die Aufmerksamkeit auf sich, indem er eine scheinbar eindeutig gestellte Frage, die eine ebenso eindeutige Beantwortung zum Ziel hatte, unterlief. Zusammen mit Moses Mendelssohn lancierte er einen Angriff auf die Berliner Akademie.
5.3 Eine Rettung vor der Akademie? – Pope, ein Metaphysiker! Es gehört zu den Gemeinplätzen der Lessing-Forschung die zusammen mit Moses Mendelssohn verfasste Schrift Pope, ein Metaphysiker! zu den Rettungen oder mindestens zu ihrem erweiterten Umfeld zu rechnen.59 Fraglich bleibt dabei meistens lediglich, was denn gerettet wird: Pope, der Dichter an sich, Leibniz oder schlicht die Poesie sind mögliche Kandidaten. Es ist vor dem Hintergrund der erarbeiteten Ergebnisse zu den Rettungen ratsam, sich die historische und ideengeschichtliche Ausgangsposition vor Augen zu führen, bevor man eine Sinnzuschreibung vornimmt. Im Jahre 1753 hatte die vornehmlich von französischen Denkern dominierte Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin einen erneuten Anlauf genommen, die Philosophie Leibniz’ auf den Prüfstand zu stellen. Bereits 1747 und 1751 war sie Gegenstand der Preisfragen gewesen.60 Diesmal wählte man eine
58 WuB 11/I, S. 60 (Hervorhebung im Original). 59 So etwa bei N, S. 242; LM 1, S. 14. 60 Für die frühen Einwürfe gegen Leibniz’ Philosophie, vornehmlich von einer theologischen Warte aus, siehe Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997 (Studia Leibnitiana, Supplementa 31), insb. S. 99–150.
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andere Strategie, um Leibniz und sein Gedankengebäude zu diskreditieren. Der Umweg erfolgte über den Essay on Man (1733/34) des englischen Dichters Alexander Pope (1688–1744). Dieser schloss sein Lehrgedicht mit der Formel »Whatever is, is right«, die zum Anlass genommen wurde, einen Vergleich mit Leibniz’ Vorstellung der Theodizee anzustellen.61 Zum Zeitpunkt der Ausschreibung hatte Popes Lehrgedicht bereits eine bewegte Rezeptionsgeschichte in Deutschland hinter sich, die auch in der Folge des Jahrhunderts nicht abreißen sollte.62 Erste Übersetzungen lagen vor, so hatte Barthold Hinrich Brockes das Lehrgedicht 1740 in Versen veröffentlicht, ein Jahr darauf folgte eine anonyme Übertragung über den Umweg einer französischen Fassung, bevor Lessings Verwandter und Freund Christlob Mylius zwischen 1745 und 1747 die erste Prosaübersetzung lieferte.63 Lessing muss also eingehend mit der popeschen Schrift vertraut gewesen sein, schickte er sich doch im März 1754 – unmittelbar nach Mylius’ Tod – an, dessen Schriften zu publizieren. Diese biographische Randnotiz gilt es unter anderem mitzubedenken, wenn man den Anlass der Pope-Schrift und ihre Nähe zu den Rettungen rekonstruieren möchte. Ein zweiter Punkt betrifft die enge Freundschaft zu Moses Mendelssohn, die gerade in Lessings Berliner Zeit einen ersten Höhepunkt in der intellektuellen Auseinandersetzung des ungleichen Paares darstellt.64 Mendelssohn arbeitete zu der Zeit an seinen Philosophischen Gesprächen, die sich unter anderem dezidiert mit der Anthropologie Leibniz’ und Spinozas auseinandersetzen. Insofern war, zumindest was die leibnizsche Philosophie betrifft, Lessing der unterlegenere Partner, wenn es um die Kenntnisse auf diesem Gebiet geht. Beide beschlossen nun, vielleicht aus ganz unterschiedlichen Motiven, für die Preisfrage eine Antwortschrift aufzusetzen. Pope, ein Metaphysiker! zerfällt in zwei Teile, die sich relativ eindeutig dem jeweiligen Bearbeiter, also Lessing und Mendelssohn, zuordnen lassen.65 Demnach sind die eigentliche Vorrede, die Eingangspassage, die den Problemaufriss
61 Eine übersichtliche Zusammenschau der Positionen Popes und Leibniz’ unter dem Stichwort ›Gottes Anwälte‹ gibt Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt am Main 2004, S. 47–72. 62 Rainer Baasner: Alexander Popes ›An Essay on Man‹ in deutschen Übersetzungen bis 1800. In: Das 18. Jahrhundert 27 (2003), H. 2, S. 189–216. 63 Eine Auflistung der deutschen Ausgaben findet sich im Anhang zu Baasners Aufsatz. Ebd., S. 214–216. 64 Vera Forester: Lessing und Moses Mendelssohn. Geschichte einer Freundschaft. Vollst. überarb. Fassung. Darmstadt 2010 (1. Aufl. Hamburg 2001), insb. S. 45–71. 65 Am deutlichsten nachzulesen in der Einleitung von Leo Strauss: ›Einleitung‹ und Stellenkommentar zu »Pope, ein Metaphysiker!« In: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 (Faks.-Ndr. der Ausg. Berlin 1931), S. XV–XX und S. 379–387.
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bietet, sowie der Abschnitt ›Vorläufige Untersuchung‹ Lessing zuzuordnen. Für die Ausführungen im Mittelteil zeichnet Mendelssohn verantwortlich und Lessing schließt die Schrift mit seinem ›Anhang‹ ab. Uns soll es hier primär um die Rahmung Lessings gehen, die die Argumentation Mendelssohns umschließt, um zu sehen, wie sich der in den Rettungen entwickelte Denkstil in der Konfrontation mit einem weitaus gewichtigeren Gegner zu bewähren versucht.66 Die Abhandlung war kein Beitrag zu der von der Akademie gestellten Preisaufgabe, wenngleich sie sich der Ausschreibung verdankte. Lessing hatte die Schrift, ohne zuvor Mendelssohn davon in Kenntnis zu setzen, nicht eingereicht.67 Nichtsdestotrotz wurde sie gedruckt. Lessing erklärt zu Beginn die Umstände der Entstehung und die Gründe für den Verzicht der Teilnahme an der Preisaufgabe. Die dreigeteilte Ausgangsfrage der Akademie nimmt er jedoch ernst, sie eröffnet in der Wiederholung der zu beurteilenden Aussagen die Abhandlung: Die Akademie verlangt eine Untersuchung des Popischen Systems, welches in dem Satze alles ist gut enthalten ist. Und zwar so, daß man Erstlich den wahren Sinn dieses Satzes, der Hypothes seines Urhebers gemäß, bestimme. Zweitens ihn mit dem System des Optimismus, oder der Wahl des Besten, genau vergleiche, und Drittens die Gründe anführe, warum dieses Popische System entweder zu behaupten oder zu verwerfen sei.68
Anstatt, wie zu erwarten, die Fragestellung und ihre Wichtigkeit zu loben und daraufhin mit der Bearbeitung zu beginnen, hakt Lessing unversehens ein:
66 Für die Analyse der Argumenation Mendelssohns sei verwiesen auf Alexander Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik. Tübingen 1969, S. 184–208; für die Einbettung der Überlegungen Mendelssohns in seine Anthropologie siehe Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 32). Über die Grundlagen der Diskussionen um Popes Essay on Man informiert Bernhard Fabian: Newtonische Anthropologie: Alexander Popes Essay on Man. In: ders. (Hg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München 1980 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 2/3), S. 117–133. 67 Vgl. hierzu den Brief an Moses Mendelssohn vom 18.2.1755. Dort heißt es: »Ich wollte Ihnen meine Ursachen nach der Länge anführen, warum ich, Ihnen die Wahrheit zu gestehen, die bewußte Preisschrift mit Fleiß zurück gehalten habe. Ihr Verweigern, sich nicht dabei zu nennen, war die vornehmste. Gesetzt nun, daß wir aus dieser gelehrten Lotterie das größte Los gezogen hätten; was meinen Sie wohl, daß alsdann geschehen wäre? Sie hätten wollen verborgen bleiben, und ich hätte es müssen bleiben. Wenn sich alsdenn niemand genennt hätte, so hätten wir unsre Schrift auch nicht einmal dürfen drucken lassen, oder wir wären doch zuletzt verraten worden.« WuB 11/I, S. 62f. (Hervorhebungen im Original). 68 WuB 3, S. 614f. (Hervorhebungen im Original).
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Die Akademie verlangt eine Untersuchung des Popischen Systems, welches in dem Satze: alles ist gut, enthalten ist. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich gleich Anfangs gestehen muß, daß mir die Art, mit welcher diese Aufgabe ausgedrückt worden, nicht die beste zu sein scheinet.69
Man kann diese Fragestellung als Selbstverständlichkeit annehmen – die Philosophie Leibniz’ ins Verhältnis zu Popes Essay zu setzen, ist so abwegig nicht – oder aber, wie Lessing in seinen Rettungen demonstriert hat, unhinterfragte Gegebenheiten und Denkmuster in Zweifel ziehen. Nichts weniger geschieht hier. Bevor überhaupt daran gedacht wird, sich inhaltlich mit der gegebenen Fragestellung auseinanderzusetzen, kommen die Voraussetzungen auf den Prüfstand. Lessing betreibt Begriffskritik: »Wenn ich also glauben könnte, der Konzipient der Akademischen Aufgabe habe schlechterdings in den Worten Alles ist gut ein System zu finden verlangt; so würde ich billig fragen, ob er auch das Wort System in der strengen Bedeutung nehme, die es eigentlich haben soll?«70 Lessing will die Sinnhaftigkeit der Frage angreifen, um sich selbst eine neue Ausgangsposition für die Argumentation zu schaffen. Die dabei intendierte »Sinn-Verschiebung«71 hat Methode. Entsprechend seiner eigenen Abstraktion vom Einzelfall kann Lessing dann auch kein System in dem Gedicht Popes finden. Wie sollte er auch, wäre es doch mehr als verwunderlich, wenn »bei ihm der Poet und der strenge Philosoph – strenger aber als der systematische kann keiner sein – nicht zwei mit einander abwechselnde Gestalten, sondern [. . . ] beides zugleich«72 ist. Die erste der zu beantwortenden Fragen, die die Akademie gestellt hat, wird zunächst zurückgestellt zugunsten einer noch allgemeineren Reflexion: »Ob ein Dichter, als Dichter, ein System haben könne?«73 Man sieht, in der scheinbaren Beantwortung der Frage bzw. der Suche nach der Lösung entfernt sich Lessing immer weiter von seinem ursprünglich vorgegeben Gegenstand. Er zieht Konsequenzen, die offenbar nicht intendiert waren. Mehr und mehr verdrängt Lessings Reflexion, was denn die eigentliche Aufgabe des Dichters sei, die Ausgangsfrage. Unter der Hand, Lessing spricht das an keiner Stelle explizit aus, erfahren wir wonach niemand je gefragt hatte: Was versteht Lessing unter einem Dichter
69 Ebd., S. 615 (Hervorhebung im Original). 70 Ebd. 71 Wolfram Mauser: Toleranz und Frechheit: zur Strategie von Lessings Streitschriften. In: Freimark, Peter (Hg.): Lessing und die Toleranz. Beiträge der vierten internationalen Konferenz der Lessing Society in Hamburg vom 27. bis 29. Juni 1985. Sonderband zum Lessing Yearbook. Detroit 1986, S. 276–290, hier S. 289. 72 WuB 3, S. 616f. 73 Ebd., S. 617.
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und was sind dessen spezifische Leistungen, nach denen er beurteilt werden soll? Wolfram Mauser hat für diese Vorgehensweise, wenn auch in anderem Zusammenhang, den treffenden Ausdruck der »Ästhetik der Frechheit«74 geprägt, deren Effekt gerade darin besteht, trotz gegenteiliger Meinung für die lessingsche Position eingenommen zu werden. Der ›schleichende‹ Prozess, bei dem Zustimmung um Zustimmung zu Randphänomenen ›erschlichen‹ wird, lenkt die Diskussion in Bahnen, die ursprünglich nicht vorgesehen waren. Dieses Phänomen übersieht Peter Michelsen,75 wenn er nachzuweisen versucht, dass Pope sehr wohl einen systematischen Anspruch verfolgt hatte und Lessing mit einer allzu tendenziösen Lesart zu nicht tragbaren Schlüssen voranschreitet. Die inhaltliche Kritik Michelsens ist dabei durchaus zutreffend, allerdings geht sie an der Intention und der Strategie des lessingschen Textes vorbei. Wie schon in den Rettungen geht es in erster Linie um Lessings eigene Überzeugungen; die Geretteten sind von nachrangiger Bedeutung und dienen als Folie für die Reflexion. Der Einzelfall wird zur Illustration degradiert, die als Ausgangspunkt für die eigenen Überlegungen brauchbar, allerdings danach nicht mehr zwingend notwendig ist. Nach all den Zweifeln ob der Sinnhaftigkeit der Fragestellung der Akademie muss Lessing gleichsam neu ansetzen, ehe er Mendelssohn das Wort übergibt. Der Ton ändert sich schlagartig und unüberhörbar. Ich übergehe hier die Ausführungen im Einzelnen und komme sogleich auf die Schlusspassage, in der erneut Lessing die Federführung übernimmt. Nachdem der direkten Einflussbeziehung der leibnizschen Philosophie auf das popesche Werk eine deutliche Absage erteilt wurde, und damit die Fragestellung eigentlich erledigt ist, findet sich in Pope, ein Metaphysiker! ein zusätzlicher Anhang. Das letzte Wort in diesem Fall war noch nicht gesprochen. Dieser ›Anhang‹ ist vielmehr ein Überhang, der sich der Dynamik der Argumentation verdankt und
74 Mauser (1986), S. 288f.: »Die Wirkung des Sprech-Gestus der Frechheit beruht nicht darauf (was denkbar wäre), daß sich Lessing aggressiverer Formen der Umgangssprache bedient, des Grobschlächtigen oder Unflätigen, sie liegt vielmehr darin, daß er Frechheit in einer sprachlichen Gestalt äußert, die von ästhetischem Rang ist und ästhetischen Genuß vermittelt, und dies auch dort, wo der einzelne mit den Inhalten nicht ohne weiteres übereinstimmt.« 75 Peter Michelsen: Ist alles gut? Pope, Mendelssohn und Lessing. In: ders. (Hg.): Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Würzburg 1990, S. 43–69. »Hängt das [man erkennt Pope in der Darstellung Lessings und Mendelssohn nicht wider, M. M.] womöglich grundsätzlich mit der Verfahrensweise der Verfasser zusammen, einzelne ›Sätze‹ aus der Popeschen Dichtung herauszuschreiben und den Zusammenhang, in dem sie in ihr stehen, zu vernachlässigen, um nicht zu sagen: zu ignorieren? Vielleicht könnte man das Popesche ›System‹ – wenn anders Dichtungen ein System zuerkannt werden darf (aber es braucht ja kein metaphysisches, überhaupt kein philosophisches zu sein!) – ganz anders formulieren, als die Verfasser es taten.« Ebd., S. 59.
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damit die Fragestellung unwillkürlich ausweitet bzw. nach alternativen Lösungsvorschlägen suchen lässt. Die eindimensionale Richtung der Fragestellung wird aufgebrochen und Alternativen werden aufgezeigt. Das gelingt, indem Lessing die systematische Ebene verlässt und sich auf die historischen Umstände besinnt. Diese Doppelstrategie, System und geschichtliche Betrachtung gegeneinander auszuspielen, ist ebenfalls aus den Rettungen bekannt. Als erstes historisches Dokument, das den Fall in ein gänzlich anderes Licht zu rücken vermag, führt Lessing eine Richtigstellung William Warburtons (1698– 1779) an, die Pope ausdrücklich billigte.76 Dort ist zwar von einem ›System‹ die Rede, das Pope zu eigen gewesen sei, jedoch gehen die Anlehnungen weniger auf Leibniz als vielmehr auf Platon zurück. Die Verbindung von Leibniz und Platon, gerade in der Frage nach der ›besten aller Welten‹ und ob Gott diese frei gewählt hatte oder hat wählen müssen, war ein Topos des frühen 18. Jahrhunderts. Insofern scheint das Dokument für Lessing noch wenig Aussagekraft hinsichtlich der Frage nach Popes System zu haben. Lessing bringt – auf Warburton rekurrierend – einen anderen Kanditaten ins Spiel, der als Vorbild viel geeigneter erscheint, schränkt aber unverzüglich ein: »Ich will also hier nur soviel anführen, daß Pope den Schaftesbury [sic] zwar offenbar gelesen und gebraucht habe, daß er ihn aber ungleich besser würde gebraucht haben, wenn er ihn gehörig verstanden hätte.«77 Lessing und noch mehr Mendelssohn hatten sich intensiv mit der Philosophie Shaftesburys auseinandergesetzt und konnten wohl zurecht für sich in Anspruch nehmen, diesen auch verstanden zu haben.78 Das gibt der ganzen Fragestellung eine Wendung, die sich aufs Beste mit den Bemühungen in den Rettungen vereinbaren lässt. Gerade aus der Tradition Shaftesburys heraus wird der deistische Zug in Popes Schlusswendung »And, spite of pride, in erring Reason’s spite, / One truth is clear: ›Wahtever is, is right.‹«79 noch einmal verstärkt betont.80 Shaftesburys Bemühungen um die Fundierung einer ›natür-
76 WuB 3, S. 643. 77 Ebd., S. 645. 78 Zur Rezeption bei Lessing siehe Engbers (2001), S. 67–102; sowie Hugh Barr Nisbet: Lessing’s Ethics. In: Lessing Yearbook 25 (1993), S. 1–40. Für Mendelssohns Auseinandersetzung siehe insb. Mark-Georg Dehrmann: Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 246–270. 79 »Ist auch Vernunft des stolzen Irrtums Knecht, / Die Wahrheit bleibt: Was immer ist, ist recht.« Zitiert nach Alexander Pope: Vom Menschen. Englisch-Deutsch. Übersetzt von Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung hg. von Wolfgang Breidert. Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 454), S. 36f. 80 Darauf weist Rainer Baasner hin: »So [in der Übersetzung des ›right‹ mit ›gut‹, M. M.] klang die deistische Fragestellung von der Unverrückbarkeit der Naturgesetze plötzlich wie ein leibnizianisches Bekenntnis.« Baasner (2003), S. 191.
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lichen Religion‹ blieben für den weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts von prägender Bedeutung wie Mark-Georg Dehrmann gezeigt hat.81 Man könnte die Fäden hier in alle möglichen Richtungen weiterspinnen, beispielsweise hin zu Lessings eigenen poetischen Werken, etwa der Miß Sara Sampson, die annähernd zeitgleich entstand. Wir werden im folgenden Abschnitt ausführlich darauf zurückkommen. Für den Moment kann man versuchen, die Strategie Lessings (und auch Mendelssohns) noch einmal auf den Punkt zu bringen. Pope wird in einem ersten Schritt als Dichter von dem Diktat der leibnizschen Philosophie befreit und in einen neuen kontextuellen Rahmen versetzt. Dieser Rahmen speist sich vornehmlich aus historischen Rezeptionszeugnissen, die eine anders geartete Fundierung der Dichtung erlauben, weg vom Systematischen und hin zum spezifisch Poetischen. Beinahe unmerklich führt Lessing den Leser auf das Feld seiner eigenen Überzeugungen und rettet so in der Person Popes nicht zuletzt sich selbst und sein Verständnis von Dichtung. In der Diskussion um eine dritte Person (Pope) entsteht so ein programmatischer Entwurf, der die eigenen Überzeugungen als historisch angelegt und aus der Tradition heraus begründet vorführen kann. Er verwehrt sich dabei ebenso wie Pope, einen »philosophischen Bart«82 tragen zu müssen, um seiner Dichtung Gewicht zu verleihen. Besonders deutlich wird dies, wenn man die beinahe satirisch zu nennende Spitze gegen die Akademie betrachtet, die die Schrift abschließt: »Wie sehr sollte er sich wundern, wenn er erfahren könnte, daß gleichwohl eine berühmte Akademie diesen falschen Bart für wert erkannt habe, ernsthafte Untersuchungen darüber anzustellen.«83 Ein Letztes gilt es noch anzufügen. Mit dieser Schlussbemerkung spricht Lessing der Akademie die Kompetenz ab, in poetischen Fragen urteilen zu dürfen. Das Pikante dabei ist die antifranzösische Note – die Akademie war unter Vorsitz von Maupertuis französisch dominiert – und die damit klare Positionierung auch in einem ganz anderen Diskurs. Ausgehend von einer genuin philosophischen Fragestellung kommt Lessing zu einem stark durchargumentierten Abgesang auf das französische Dichtungsverständnis. Der vorbildliche Engländer hat dergleichen philosophische Überfrachtung nicht nötig. Es ist bekannt, wohin der Vorbildcharakter englischer Dichtung im weiteren Verlauf des Jahrhunderts führte. Hier konnte einstweilen nur gezeigt werden: »Den Religionsgesprächen, wie sie in der Literatur des 18. Jahrhunderts geführt wurden, kann man sich nicht auf ge-
81 So etwa die Aneignung und christliche Umdeutung der Gedanken bei Spalding, später aber auch bei Wieland und Herder. Siehe grundlegend Dehrmann (2008). 82 WuB 3, S. 650. 83 Ebd.
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radem Weg zu den herausragenden künstlerischen Dokumenten nähern.«84 Den Unterbau bildet die minutiöse Auseinandersetzung mit Philosophie und Theologie in der Praxis, wie auch das nächste Beispiel nahelegt.
5.4 Niederschlag im Poetischen: Miß Sara Sampson »Wirkungsästhetik läßt sich im 18. Jahrhundert nicht ohne Berücksichtigung zeitgenössischer theologiegeschichtlicher Kontexte untersuchen.«85 Diese Einsicht Cornelia Mönchs findet sich nicht zufällig im Umkreis ihrer Besprechung von Lessings erstem sogenannten Bürgerlichen Trauerspiel Miß Sara Sampson. Allein Konsequenzen wurden aus dieser Einsicht – sowohl bei ihr selbst als auch bei ihren weiteren Kommentatoren – nicht in befriedigendem Maße gezogen. Dabei waren schon zeitgenössische Kritiker und Leser sich der schwierigen Gemengelage in Lessings Drama bewusst. Mittlerweile überdecken allerdings unzählige Schichten, gebildet aus einer zweihundertfünfzig Jahre währenden und immer noch fortgeschriebenen Interpretationsgeschichte, oftmals den ersten Eindruck und somit auch den Kontext der Zeitgenossen. Ich werde deshalb im Folgenden nicht noch eine Interpretation der Sara vorlegen,86 sondern mich auch zwei Auf-
84 Vollhardt (2002): Kritik der Apologetik, S. 29. 85 Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993 (Studia Augustana 5), S. 40. 86 Eine beinahe schon komisch zu nennende Zusammenstellung möglicher Interpretationen findet sich bei Roswitha Jacobsen: »Daß der tragische Konflikt in Lessings erstem bürgerlichen Trauerspiel auf der Kollision zweier legitimer Ansprüche von allerdings ungleichem Gewicht beruht, ist in der Forschungsliteratur – verschieden akzentuiert – vielfach herausgestellt worden. Für Zimmermann handelt es sich um den Zusammenstoß der göttlichen Ordnung mit der in einer ›wilden Ehe‹ sich realisierenden Liebe; für Saße um die Opposition von Familienordnung und Liebe, die – durch Mellefonts Heiratsscheu – sich jener nicht integrieren lasse; für die Autoren des Lessing-Handbuches um den Konflikt von väterlicher Autorität mit der eigenmächtigen Liebeswahl der Tochter, wobei im Anschluß an Seeba die Familie als ›reduzierte Modellsituation‹ und ›Medium der Konfliktdarstellung‹ begriffen und der Konflikt auf den Gegensatz von Öffentlichkeit und Privatheit zurückgeführt wird; für Neumann um den Gegensatz von Autorität und gegen sie geltend gemachtem Mündigkeitsanspruch bzw. um die Kollision des ›väterlichen Über-Ich‹ mit dem ›(Freudschen) Es‹; für Kittler um den in der familialen ›Primärsozialisation‹ zu leistenden Ausgleich von Kultur, Vernunft, väterlichem Gesetz einerseits und der Triebabhängigkeit der inferioren Teile der Familie andererseits; für Eibl um den Zusammenstoß des gesellschaftlichen Normensystems, präsent in verschiedenen überindividuell-autoritären Instanzen, mit individuellen Bedürfnissen; für Vogg um den Konflikt zwischen Sittlichkeit und individueller Freiheit.« Roswitha Jacobsen: Ordnung und individuelle Selbstbestimmung im bürgerlichen Trauerspiel. Der Fehler der Sara Sampson. In: Fischer, Richard (Hg.): Ethik und Ästhetik. Wer-
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gaben konzentrieren, die noch weit vor einer Interpretation anzusiedeln sind. Es geht mir erneut darum – wie schon in den Rettungen – Kontexte zu erschließen und der Logik des Textes gerecht zu werden, ohne sofort eine Ebene zu betreten, die Bedeutungszuschreibungen vornimmt und damit erst die ›eigentlichen Bedeutungen‹ freilegt respektive konstruiert. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Exposition und den Schlussakt gelegt werden, um die Nähe zu dem in den Rettungen entwickelten Denkstil nachzuzeichnen.
5.4.1 Zeitgenössische Reaktionen – spürbares Befremden
Nimmt man die eingangs zitierte Feststellung Cornelia Mönchs ernst – und ich denke das sollte man –, dann wäre ein erster Zugriff auf die rezeptionsästhetisch relevanten theologiegeschichtlichen Positionen bzw. eine Irritation bezüglich selbiger am besten unter den unmittelbaren Zeitgenossen Lessings zu suchen. Und ein spürbares Befremden ist trotz mehrheitlich freundlicher Aufnahme des Dramas nicht zu leugnen. Schon unmittelbar nach den ersten Aufführungen und dem Erscheinen des ersten Druckes – 1755 im sechsten Teil der Schrifften – begann eine Diskussion um die Stellung des Trauerspiels auch zu den vergleichbaren Texten der Zeit. Eine der kritischsten Stimmen war dabei Lessings Freund Moses Mendelssohn. Er meinte, dass die Sara »für die Schaubühne allzuphilosophisch«87 sei und damit nicht unbedingt für das Theater geeignet.88 Hier wurde also der geistesgeschichtliche Gehalt des Stückes als unangemessen empfunden, ohne dass weitere und konkretere Einwände überliefert sind. Es war zwischen den Freunden wohl eindeutig, was gemeint war, wenn Mendelssohn gerade die
ke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a. 1995, S. 81–92, hier S. 81. Für Jacobsen selbst ist Saras ›Fehler‹ von Beginn an das strukturierende Moment, das das ganze Drama hindurch nicht an Wirkung einbüßt. Erlöst – und damit versöhnt – wird Sara erst im Tod. Ich erspare mir hier weitere Literaturhinweise und verweise stattdessen auf die ausführliche, aktuellere und ebenso gründliche Darstellung bei F (2010), S. 148–164. Auf weitere Positionen der Forschung wird an entsprechender Stelle verwiesen, wo dies nötig oder zumindest geboten scheint. 87 Moses Mendelssohn an Lessing, 11. 08. 1757. WuB 11/I, S. 233. 88 Den Hintergrund bildet eine Diskussion über die »Kenntniß der Declamation« und damit zusammenhängend dem philosophischen Gehalt, der schwer in einer Sprecherrolle transportiert werden kann. Siehe hierzu Moses Mendelssohn: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Leipzig 1757, Bd. 1, 1. Stück, S. 231–261, hier S. 260.
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Stellen benannte, »in welchen ich Sie als Weltweisen am meisten bewundere«.89 Ganz allgemein bleibend fährt er fort: Wenn die Philosophie sich in ihrer ganzen Stärke zeigt; so will sie mit einer gewissen Monotonie ausgesprochen werden, die sich auf dem Theater nicht gut ausnehmen kann. Ja, die vortrefflichsten Gedanken entwischen dem Zuhörer unvermerkt, die den Leser am meisten vergnügt haben. Überhaupt glaube ich, giebt es gewisse Grenzen in der Philosophie, die das Gemeine von dem Höhern unterscheiden, und die von dem tragischen Dichter nicht überschritten werden müssen.90
Diese Kritik an den für die Aufführungspraxis ungeeigneten Stellen ist auch ein implizites Lob der philosophischen Tiefgründigkeit des Stückes an sich. Wir werden später darauf zurückkommen. In die gleiche Richtung zielten auch die Bedenken von Lessings späterem Gegner Christian Adolf Klotz. Bei aller Sympathie für das Stück bemängelte er die unglaubwürdige Zeichnung der Figur des Dieners Waitwell: »Ueberhaupt redet Waitwell oft nicht als ein Diener, sondern als ein Philosoph.«91 Und weiter, als Klotz von seiner erneuten Lektüre des Stückes berichtet: »Gelehrsamkeit unterbrach mein Gefühl und meine sanften Empfindungen [. . . ].«92 Diese beiden Einschätzungen können als Illustrationen verstanden werden, die ohne größere Schwierigkeit zu vermehren wären. Der Punkt auf den es ankommt, wird aber auch ohne weitere Beispiele deutlich. Verallgemeinernd kann man vor dem Hintergrund dieser beiden Aussagen festhalten: Die rezeptionsästhetischen Erwartungshaltungen wurden dahingehend von Lessing enttäuscht, dass das Stück mehr die Vernunft als das Gefühl ansprach. Zudem scheint die Handlung – wie Klotz betont – nicht immer eindeutig motiviert. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, die breite Literatur zum exzeptionellen Status der Miß Sara Sampson im Verbund zeitgenössischer Dramenproduktion zu diskutieren93 und wende mich stattdessen einer dritten Stimme der Lessingzeit zu, die
89 Moses Mendelssohn an Lessing, 11. 08. 1757. WuB 11/I, S. 233. 90 Ebd., S. 233f. 91 Christian Adolf Klotz an Johann Valentin Briegleb, 29. 12. 1763, wieder abgedruckt in WuB 3, S. 1241–1243. Eine im Grundsätzlichen positive Sicht auf die Sara findet sich in Christian Adolf Klotz: Epistolae Homericae. Breslau 1764. Deutsche Übersetzung, nach der hier zitiert wird, bei S 1, S. 263. Die Ausführungen können hier noch als vergleichsweise wertneutral erachtet werden, die Auseinandersetzungen zwischen Klotz und Lessing fallen in all ihrer Heftigkeit erst in die Jahre 1768/69. 92 Ebd., S. 1242. 93 Was nun letztendlich außergewöhnlich an Lessings erstem bürgerlichen Trauerspiel ist, das zu entscheiden, bleibt – je nach Perspektive – weitgehend den Interessen des Interpretierenden überlassen. Mindestens zwei unterschiedliche Richtungen lassen sich dabei allerdings deutlich benennnen. Für die eine Seite ist Lessings Drama den übrigen zeitgleichen (und auch vielen
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zwar in der Literatur gerne genannt wird, in ihren Konsequenzen allerdings noch einer genaueren Aufarbeitung bedarf. Die ausführlichste zeitgenössische Besprechung der Miß Sara Sampson stammt von Johann Jakob Dusch und wartet mit einer Besonderheit auf: Dusch liefert uns in seinen 1758 erschienenen Vermischte[n] kritische[n] und satyrische[n] Schriften nebst einigen Oden auf gegenwärtige Zeiten nämlich zwei Sichtweisen – eine durch und durch positive und eine dezidiert negative – in Form zweier (wohl) fiktiver Briefe.94 Dieses Verfahren, die Einwände und Argumente in ihrer stärksten Gestalt vor Augen zu stellen, erinnert unweigerlich an die in den Rettungen und ihrer Tradition gepflegte methodus polemica. Den Auftakt bildet die negative Kritik des lessingschen Dramas aus der Feder Duschs, die sich bereits Gisbert Ter-Nedden für seine Untersuchung zunutze gemacht hat.95 Für den Moment sollen aber erstlich Duschs Einwürfe rekapituliert werden, um die Irritationen genau benennen zu können, die unter Lessings Zeitgenossen die vordringlichsten waren. Zwei unterschiedliche ›Stränge‹ bzw. Zielrichtungen sind dabei zu unterscheiden. Zum einen wären Kritikpunkte zu nennen, die sich auf die Einrichtung des Dramas vor dem Hintergrund der dramenpoetischen Konventionen der Zeit beziehen. In erster Linie sind das – wenig verwunderlich – Verstöße gegen die drei Einheiten oder eben Unstimmigkeiten, die sich gerade aus deren Beachtung erst ergeben. So kann sich Dusch in weitschweifigen Ausführungen und genauen Rekonstruktionen des »elenden Wirtshauses« (I. 1)96 als Ort der Handlung echauffieren, da dieses so »elend« ob seiner schieren Größe nicht sein könne. Im Fokus der Kritik stehen ferner unglückliche Szenenwechsel, bei der die Bühne gänzlich leer bleibt und weitere, rein technische ›Schwächen‹ des Stückes. Das sind per se interessante Fragen, gehen sie doch mit einer Kritik an den handwerklichen
früheren und späteren) qualitativ, von einer kunstkritischen Warte heraus gesehen, schlichtweg überlegen und besetzt beinahe alleinig den Gipfel des Höhenkamms, dessen Basis die ›Gattung‹ bürgerliches Trauerspiel bildet. Die andere Seite sieht die herausragende Rolle gerade darin, dass die Sara mit anderen bürgerlichen Trauerspielen nicht vergleichbar ist, da sie bereits eine Reaktion (und Kritik oder Fortführung der Gattung) darstellt. Beiden Positionen ist gemein, dass sie nur schlecht anschlussfähig an weitere Kontexte sind. Genau dies soll hier aber geleistet werden. 94 Johann Jakob Dusch: Vermischte kritische und satyrische Schriften nebst einigen Oden auf gegenwärtige Zeiten. Altona 1758. Die beiden Briefe finden sich auf den Seiten 46–100. 95 Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986 (Germanistische Abhandlungen 57). 96 WuB 3, S. 433.
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Fertigkeiten des jungen Lessing einher. Sie können allerdings im Hinblick auf die Frage nach den rezeptionsästhetischen Bedingungen hintangestellt werden. Viel interessanter in diesem Zusammenhang ist zum anderen Duschs Kritik vornehmlich des ersten Aktes, den er ob seiner Unzulänglichkeit am liebesten auf eine einzige Szene verkürzt sähe. Er findet in ihm allzu häufig die Verletzung der grundsätzlichsten Wahrscheinlichkeiten und noch weitaus schlimmer, ein Großteil der dargestellten Handlung verdient den Namen einer solchen nicht: Was geschieht, ist oftmals völlig unmotiviert, es wiederholen sich, so Dusch, lediglich Informationen, die schon längst bekannt sind, während man auf basale Bausteine, die das Verständnis befördern würden, vergeblich wartet.97 Mithin, so könnte man zusammenfassend formulieren, ist der erste Akt über weite Strecken schlichtweg redundant. Oder noch einmal aus der entgegengesetzten Richtung formuliert: Ein klarer und in seinen Gründen nachvollziehbarer Handlungsstrang fehlt. Der dramatische Konflikt, der ebenda vorgestellt werden sollte, wird nie richtig greifbar. Der Zuschauer / Leser sieht sich einer diffusen und nicht klar benennbaren Konstellation gegenüber. Soweit einer der Vorwürfe.98 Es ließe sich allerdings auch die Gegenfrage stellen: Welche Funktion hat diese uneindeutige Exposition oder kann sie haben? Erinnert man sich an das von Lessing in den Rettungen erarbeitete und praktizierte Verfahren, Komplexität in einem ersten Schritt zu erhöhen, um festgefügte (Vor-)Urteile ihrer Selbstgewissheit zu berauben, wirft das ein völlig anderes Licht auf mögliche Funktionen der Exposition in der Sara. Denn hier ist nicht von Anfang an klar, wer sich nun schuldig gemacht hat und sein (gerechtes) Urteil im weiteren Verlauf zu erwarten hat. Vielmehr reklamieren – im Wechsel der Szenen – gleich mehrere Personen für sich, die eigentlich Schuldigen zu sein. So etwa Sir Sampson gleich zu Beginn des Stückes, der sich von seinem Diener wünscht, ihm aus seiner »Zärtlichkeit ein Verbrechen« zu machen, um sich selbst nicht länger schuldig zu fühlen.99 Nicht
97 Dusch formuliert seine Erwartungshaltung an das dramatische Genie, dem Lessing nach diesen Kriterien nicht genügt: »Handlungen von der größten Wichtigkeit, die uns so sehr am Herzen liegen, durch die wahrscheinlichsten Umstände, oder Zufälle und Wirkungen von denen wir den Ausschlag erwarten, immer auf eine Art hintertreiben, die wir für nothwendig halten, und andre Zufälle, die wir nicht erwarteten, aus der Haupthandlung hervorzuziehen; [. . . ].« Dusch (1758), S. 59f. 98 Von späteren Interpretatoren wird diese Ausgangssituation nicht gleichermaßen als diffus empfunden. Stellvertretend könnte man hier die Einschätzung Nisbets anführen, der im Hinblick auf den analytischen Charakter des Beginns festhält: »[. . . ] und da alle Personen Grund haben, sich ständig auf die Vergangenheit zu beziehen, gestaltet sich die Exposition zügig und natürlich [. . . ].« N, S. 264f. 99 WuB 3, S. 433.
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weniger schuldig fühlt sich Mellefont, der gleich in seinem ersten Auftritt (I. 3) gesteht, wiederum eine Nacht hinter sich zu haben, »die ich auf der Folter nicht grausamer hätte zubringen können!«100 Damit aber nicht genug: Es bleiben auch immer Restzweifel an der eignen Schuld, die auf andere Figuren projiziert werden und nach denkbaren alternativen Deutungen suchen lassen. Der eigene Wunsch der Figuren nach moralischer Legitimität ihrer Handlungen bleibt immer präsent, aber wird nicht als unanfechtbar angesehen. So sind es die innerlichen Zerrissenheiten der vorgestellten Figuren, die weite Teile des ersten Aktes bestimmen und eine Handlung im Sinne Duschs tatsächlich nicht hervorbringen. Mit dieser polyperspektivischen Darstellung, die Dusch als bloße Redundanz in der Informationsverteilung bemängelt hat, erreicht bereits die Ausgangssituation einen Grad an Komplexität, die vergleichbaren Stücken der Zeit offensichtlich fehlte und daher von den Zeitgenossen folgerichtig als Irritation aufgefasst wird.101 Unterschiedliche religiöse Vorstellungen von Schuld / Sünde und Tugend werden – verkörpert durch die je verschiedenen Figuren und ihren Situationen – zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dass unter diesen Voraussetzungen keine ›einfache‹ Antwort und damit einhergehend ›einfache‹ Lösung des Konfliktes zu erwarten ist, macht die Besonderheit der vorgestellten Konstellation aus. Der nächste Abschnitt wird diesen Punkt wieder aufnehmen, zunächst verdient aber noch ein weiterer Kritikpunkt Duschs Aufmerksamkeit. Der harscheste Vorwurf, den Dusch an Lessings Sara heranträgt, führt tief hinein in die rationalistischen Überzeugungen der Aufklärung, die Dusch auf geradezu lächerliche Weise unterlaufen sieht. Ich zitiere ausführlich: Man verabsäumet den wahren Affect eines beunruhigten Frauenzimmers, das die Liebe zu einem Fehler verleitet, den es bereuete, das seine Ehre hochschätzte, das sein Gewisen gern befriedigen wollte, alle diese hierinn liegende mächtige Empfindungen verabsäumet man, um uns mit einem Traume zu unterhalten; man schwächet dadurch unsern Begriff von der Liebe zur Tugend, den wir von diesem Frauenzimmer haben könnten,von ihrer heißen Reue, die sie empfinden, und von der Begierde, die sie haben sollte, wenigstens durch die Ehe ih-
100 Ebd., S. 436. Weitere Beispiele werden im Verlauf der Darstellung diese These absichern. 101 Kirsten Nicklaus spricht für den ›trivialen‹ Bereich des Bürgerlichen Trauerspiels, zu dem sie Lessings Dramen freilich nicht zählt, von einer diese kennzeichnende »Vereindeutigungsintention«. Kirsten Nicklaus: Die ›poetische Moral‹ in Lessings Bürgerlichen Trauerspielen und der zeitgenössischen Trivialdramatik. Ein Strukturvergleich. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 117 (1998), H. 4, S. 481–496, hier S. 492. Nicklaus kommt zu dem Schluss: »Dieses dramatische Modell nun greift Lessing in seinen Trauerspielen in all seinen Facetten im Modus impliziter Kritik auf, nämlich mittels einer ungleich komplexeren Dramentektonik: diese nimmt die Strukturmerkmale des trivialen Gattungsmusters auf und reflektiert sie so, daß deren Kritikwürdigkeit zutage tritt.« Ebd. Allein das ist nur eine Diagnose, erklärt wird dadurch aber nichts.
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re Ehre zu retten, und diese Liebe rechtmäßig zu machen; diesen ganzen Begriff, sage ich, schwächet man, weil man gern etwas prophetisches in das Trauerspiel haben wollte, und setzt seine Heldinn in Gefahr, daß wir, anstatt ihre Beunruhigung dem Gefühl der Tugend, dieselbe der Furcht eines Traumes zuschreiben, der sie mit dem Tode geschreckt hatte! Herrliche Vortheile! Und was für Nutzen hat der Traum? Wie wird er in der Folge gebraucht? zu nichts anders, als dem Leser den Ausgang von Ferne zu zeigen. Denn ich wollte wohl darauf geschworen haben, daß Sara sterben müßte, so bald ich den Traum hörte! Und nur in einer einzigen Rede einer Scene hernach hat dieser Traum seine Anwendung, und setzt Sara in eine Angst, worein sie die bloße Gegenwart der Marwood ohne hundert Träume hätte setzen können, und setzen müssen.102
Soweit der Vorwurf Duschs, der in seiner Auslegung der Sache nicht unbegründet ist. Er fährt mit einem verallgemeinernden Urteil fort: In was für einem Ansehen stehen in unsern Tagen die Träume? dem ohngeachtet wagt es der Dichter, den Traum fast Wort für Wort eintreffen zu lassen, und empöret alle Vernunft wider sich, indem er uns so abergläubische Dinge glaublich machen will. Der Traum ist also mehr, als unnütz und leer; er ist der Wirkung schädlich!103
Es ist das Verdienst Gisbert Ter-Neddens, diese Vorwürfe wieder ins Bewusstsein der Forschung gerückt zu haben und gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass eine überzeugende Beantwortung noch aussteht.104 Ter-Nedden selbst versucht Saras Traum auf philologische Weise einen Sinn zu geben, der sich aus der Übernahme eines Motivs begründet. Seine These lautet: »der Traum wie das, was er antizipiert, also der Mord, folgt aus einer ganz natürlichen Interaktions- und PsychoLogik; und eben diese Verwandlung des Mirakulösen ins Natürliche ist die Aufgabe, die Lessing am Motiv des Orakels reizt, [. . . ].«105 Als Beleg hierfür dient ihm die (scheinbare, aber zumindest ungewisse) Übernahme eines Motivs aus der Medea, gepaart mit einer Argumentation aus dem Bereich der Traumdeutung, Sara verhandle in ihrem Angsttraum einen »Tagesrest«. So elegant und gelehrt die Argumentation Ter-Neddens auch ist, verfehlt sie meiner Meinung nach den entscheidenden Punkt: »Das Moderne dieses modernisierten Orakels«, so der Interpret, »liegt also in der Verwandlung von Prophetie in Psychologie. Lessing neutralisiert das Prophetische des Traums, indem er die Kausalität umkehrt und ge-
102 Dusch (1758), S. 70f. 103 Ebd., S. 72. 104 Ter-Nedden erwähnt die beiden Interpretationen Manfred Durzaks und Karl Eibls, die allerdings beide – hier stimme ich völlig zu – über die Problematik hinweggehen bzw. versuchen, sich ihrer mit einer schnellen Erklärung zu entledigen. Ter-Nedden (1986), S. 44f. 105 Ebd., S. 45.
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nau wie im Horoscop aus der Vorhersage eine ›self-fulfilling-prophecy‹ macht.«106 Zwei Aspekte dieser Deutung scheinen mir vor dem Hintergrund der bisher erarbeiteten Ergebnisse mehr als fraglich. Zum einen, warum hält man an der OrakelFunktion des Traumes fest – ganz andere Alternativen sind denkbar – und geht davon aus, dass Lessing an einer Modernisierung desselben gelegen wäre? Zum anderen: Was gewinnt man, wenn man seine Beschreibungskategorie von Prophetie auf Psychologie umstellt, die nicht zu den dominaten Themen des jungen Lessing gehörte?107 Es scheint mir wesentlich sinnvoller dort anzusetzen, wo Lessing bzw. seine Schriften uns Anhaltspunkte für eine Erklärung geben, also mithin der Kontext seines eigenen Frühwerks. Meine Gegenthese lautet daher: Lessing bringt im Traum Saras eine Konzeption von Moral zur Anschauung, die ihren Ausgang in den moralphilosophischen Überlegungen der vorangegangenen Jahre nimmt. Es handelt sich um eine für die Bühne aufbereitete Kritik der moralischen Urteilskraft,108 die uns in der Figur der Sara präsentiert wird. Sara trägt den Probierstein hierzu bei sich selbst, kann mithin wissen, was gut und böse, was richtig und falsch ist. Die Katastrophe ergibt sich demnach zwangsläufig daraus, dass sie es trotz der Möglichkeit ›richtigen Handelns‹ versäumt, die vernünftigen Schlüsse zu ziehen. Die Funktion des Traums besteht also in der Illustration dieser Möglichkeit. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Kritik Duschs, so darf man wohl festhalten, dass er in seiner Interpretation des Traumes von einer externalistischen Wirkung ausgeht, also der Traum für den Zuschauer Saras Verhängnis schon früh anzeigt. Dusch deutet den Traum aus einer falschen Perspektive, was verhängnisvolle Konsequenzen für sein Verständnis der Szenerie nach sich zieht. Zu diesem frühen Zeitpunkt und auch noch wesentlich später deutet im bloßen Dramengeschehen nichts auf diesen Ausgang hin. Einzig Sara hat eine Ahnung, dass die ganze Geschichte schlecht für sie ausgehen könnte, denn unschuldig fühlt sie sich nicht – man denke nur an die Schuldgefühle ihrem Vater gegegenüber. Ferner ist der Traum nicht unbedingt gleichzusetzen mit Schwärmerei und Aberglauben – wie das bei Dusch anklingt –, sondern kann durchaus auch für einen ›gesunden‹ und vernünftigen Enthusiasmus stehen, der einen Blick in
106 Ebd., S. 49. 107 Auch Wilfried Barner deutet besagte Stelle hinsichtlich ihrer Funktion für die spätere Anagnorisis der Marwood in diese Richtung aus: »Der Psychologe Lessing hat [. . . ] sogleich auch einen dramtischen Plan bereit, nach dem sich die Raserei aus einer Sequenz von ›Stafeln‹ entwickelt.« Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, S. 46. 108 Zu den konzeptionellen Überlegungen siehe Friedrich Vollhardt: Kritik der moralischen Urteilskraft. Jan Philipp Reemtsmas Lessing-Essay. In: Merkur 703 (2007), S. 1156–1161.
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die eigene Seele garantiert. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fand in der Bewertung eine »epistemologische Verschiebung der Einbildungskraft und des Traums« statt, wie Claire Gantet überzeugend dargelegt hat.109 Diese Rationalisierung an sich als unvernünftig gekennzeichneter Überzeugungen – hier eben des Traums – fügt sich nahtlos in Lessings Bemühungen, wie wir sie in den Rettungen vor uns haben. Was auf den ersten Blick nur abergläubisch erscheint, kann bei einer erneuten Sichtung durchaus rationale Gültigkeit für sich beanspruchen. Wie sähe dies im Falle von Saras Traum aus, welche Umdeutung wäre vonnöten, und ließe sie sich mit Lessings theoretischen Ausführungen zu Wesen und Moral des Menschen in Einklang bringen? Eine Antwort auf diese Fragen kann nur in einer textnahen, den geistesgeschichtlichen Hintergrund beachtenden Lektüre gegeben werden. Lessing liefert gleich zu Beginn selbst das Stichwort, wenn er den Diener Waitwell sagen lässt: »Das Gewissen ist doch mehr, als eine ganze uns verklagende Welt.«110
5.4.2 Der juristische Kontext – Schuld, Sühne und (poetische) Gerechtigkeit
Verklagt, angeklagt, beschuldigt und verurteilt wird viel in den ersten Szenen der Miß Sara Sampson und im weiteren Verlauf des Stückes. Es findet sich eine wahre Kanonade an juristischem Vokabular. Schuldzuschreibungen und Schuldeingeständnisse wechseln einander in steter Folge ab und verhindern eine eindeutige Einschätzung der Lage. Auch hier bietet Duschs – diesmal positive – Kritik eine dankbare Folie für eine weitere Annäherung. Der fiktive Respondent hält der Redundanz in der Informationsverteilung entgegen: Sie beklagen sich über gar zu viele Nachrichten in dem Trauerspiele; wir müssen also sehr verschieden von demselben urtheilen: denn ich habe noch nicht Nachrichten genug! Ich weis zu wenig Böses von der Marwood und von dem Mellefont, und zu wenig Vortheilhaftes von der Sara, daß ich mich schon für sie, für einen jeden nach Verdienst, intereßieren könnte, indem ich sie sehe.111
Die Klagen über die uneindeutigen Charaktere in Lessings erstem Trauerspiel haben sich verfestigt – unter den Zeitgenossen, aber auch in der Forschung – und sie wiederholen sich für das meistinterpretierte Drama der deutschen Literatur,
109 Claire Gantet: Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kuturellen Wissenschaftsgeschichte. Berlin 2010 (Frühe Neuzeit 143), S. 457. 110 WuB 3, S. 433. 111 Dusch (1758), S. 78f.
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die Emilia Galotti.112 So gehört es bei den Interpreten beinahe zum guten Ton, darauf zu verweisen, dass Sara zu unschuldig sei, um das ihr von Lessing zugedachte Schicksal zu ›verdienen‹. Überdies ist das Dramengeschehen nur schwer mit dem moralischen Optimismus der Aufklärung zu vereinbaren,113 was Leser und Interpreten nach immer wagemutigeren Erklärungen suchen ließ.114 Schon allein aus diesem Grund ist eine philologische Annäherung an den Gegenstand allen übrigen Spekulationen zu Sinn und Unsinn von Saras Schicksal vorzuziehen. Die Ausgangsituation erinnert an den Auftakt eines Prozesses, die Erhebung der Anklage mit dem Verweis auf die Gattung als Trauerspiel ist dabei vorausgesetzt. Ähnlich unübersichtlich ist die Lage, in der die einzelnen Parteien ihre je eigene Sicht auf die Situation schildern und die Beweisaufnahme beginnt. Festmachen lässt sich diese nicht nur methaphorische Nähe zum Gerichtsgeschehen an der auffälligen Häufung juristischen und juridischen Vokabulars, das bisher von den Interpreten nicht zur Kenntnis genommen wurde. Eine kleine Auswahl aus dem ersten Akt mag das in loser Reihung illustrieren: So will Mellefont »ihr [Sara] und mir Gerechtigkeit widerfahren [lassen]« und weist seinen Diener Norton im Zuge dessen darauf hin, dass er sich »seiner Verbrechen mit teilhaft gemacht« hat.115 Norten kontert mit dem Verweis auf seinen »strafbare[n] Umgang mit allen Arten von Weibsbildern.«116 Sara hingegen kann sich auf ihr Mitgefühl gegenüber Mellefont zurückziehen, wenn sie ihre eigene Frage selbst beantwortet: »Was sollte ich Ihnen nicht vergeben? Sie wissen, was ich Ihnen bereits vergeben habe!«117 Es gibt »mühsame Gebäude von Schlüssen«118 und »strafende Stimmen«,119 die »Lust zu strafen«120 und sich anschließende »Blutgerichte«.121 Ich breche die Aufzählung hier ab. Bei den genannten Attributen handelt es sich al-
112 Siehe hierzu jetzt den hervorragenden Aufsatz von Gisbert Ter-Nedden: Lessings dramatisierte Religionsphilosophie. Ein philologischer Kommentar zu »Emilia Galotti« und »Nathan der Weise«. In: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hgg.): Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 283–335. 113 So etwa bei N, S. 267. 114 Siehe hierzu die aufgeführten Interpretamente bei F (2010), S. 150–154. 115 WuB 3, S. 437 (Hervorhebungen, auch im Folgenden, von mir). 116 Ebd. 117 Ebd., S. 440. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 441. 120 Ebd., S. 443. 121 Ebd., S. 445.
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lerdings nur um die Spitze des Eisberges.122 Die Befunde sind eindeutig genug, um eine Beziehung zu den Rettungen und deren Denkstil gerechtfertigt erscheinen zu lassen, zumal, wenn man ein weiteres Element hinzunimmt, das im ersten Akt bestimmend ist. Neben dem eben beschriebenen semantischen Feld findet sich ein weiteres Charakteristikum der gelehrten Abhandlungen. Eine Verschränkung von juristisch motivierten oder vorgebildeten Urteilen und der Sphäre moralischer Sanktionen, die in strikter Abhängigkeit zu betrachten gerade in den Rettungen angeprangert wurde. Verbrechen und Tugend bzw. Laster sind ebenso auf zwei unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln wie Glaube und Moralität. Gerade Letzere sind nicht strikt aneinander gebunden, wie immer wieder betont wurde. Wir hatten also auch in den Rettungen Personen vor uns, denen man einen »uneindeutigen Charkter« nicht absprechen kann: Insofern sind sie den dramatis personae nicht unähnlich. Dies eingedenk, kann man erneut einen Blick auf eine in der Literaturwissenschaft lange als unbrauchbar erachtete Konzeption richten: die poetische Gerechtigkeit. Zwar hat es den Anschein als käme die poetische Gerechtigkeit in den letzten Jahren zu neuen Weihen, gleichfalls fehlen aber neue theoretische Fundierungen des Konzeptes und seiner historisch je unterschiedlichen Ausprägungen – gerade die Frühe Neuzeit bleibt meist ausgeblendet.123 Gerechtigkeit – auch oder gerade in ihrer poetischen Ausprägung – ist ein schwer zu handhabendes Phänomen und will argumentativ abgesichert sein, insbesondere wenn man sich von den Niederungen der sogenannten Trivialliteratur, wo vieles scheinbar einfacher ist, abwendet. Man tat sich deshalb bei Lessings Schriften – das kann
122 Das semantische Feld ›Gericht / Gesetz / Strafe‹ ist im ersten Akt – in der Reihenfolge des Erscheinens im Text – wie folgt repräsentiert: verklagende Welt; unschuldigste Kind; Verbrechen (mehrfach); Rache; vorsätzliche Laster; übler Ruf; Folter; Henker; Gerechtigkeit; den Hals gekostet haben; Bessrung; strafbarer Umgang; Strafe (mehrfach); Unschuld; [Sara wurde] entwendet; sein eigen war; Mörder; Standhaftigkeit; Verstellung; verurteilter Sünder; Unrecht; Misstrauen; ich stritt mit mir selbst; Gebäude von Schlüssen; strafende Stimmen; Klagen Sie den Himmel nicht an!; Erbarmen; rettete (mehrfach); Richter; Übertretungen seiner Ordnung; Ehre (mehrfach); gesetzmäßiges Band; schuldig; Rechtfertigung; unsträfliche Jahre; Lust zu strafen; Sünde; Zeugen; Verbrecherin; ruchlos; Blutgerichte; unverbrüchlichsten Gesetze, Geständnisse; erbarmt; Gerechter Gott; Verruchte; Frevlerin; Verräter; mit dem Leben büßen; Unschuldige. 123 Eine neuere Zusammenstellung von Studien mit einem ausführlichen Überblick zur älteren Forschung findet sich bei Sebastian Donat u. a. (Hgg.): Poetische Gerechtigkeit. Düsseldorf 2012. Immer noch einschlägig ist Wolfgang Zach: Poetic Justice. Theorie und Geschichte einer literarischen Doktrin, Begriff – Idee – Komödienkonzeption. Tübingen 1986. Zum Poeten als Richter vgl. Martha C. Nussbaum: Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life. Boston 1995, insb. S. 79–121. Eine Verbindung zwischen Literatur und Naturrecht findet sich bei Jonathan Kertzer: Poetic Justice and Legal Fictions. Cambridge 2010, insb. S. 71–90.
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nicht verwundern – in Bezug auf die Realisierung der poetischen Gerechtigkeit schon immer schwer in der Beurteilung. Während Wulf Segebrecht eine völlige Abkehr von der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit124 – vornehmlich in Abgrenzung zu Gottsched125 – sehen will, zeichnet Cornelia Mönch ein differenzierteres, allerdings auch von mehr Vorannahmen und argumentativen Winkelzügen geprägtes Bild der dramentheoretischen und wirkungsästhetischen Bemühungen Lessings.126 Beiden Interpretationen ist gemein, dass die Funktion der poetischen Gerechtigkeit und ihr Gehalt zugleich und als untrennbare Einheit vorgestellt werden. Ich schlage hingegen vor, zunächst einmal eine Trennung zwischen einem Begriff der Gerechtigkeit und der Frage nach der dramatischen Funktion in der Darstellung selbiger zu machen. Für einen Begriff der Gerechtigkeit haben wir nämlich in Anbetracht der religionsphilosophischen Schriften ein brauchbares und auch übertragbares Konzept – das Attribut ›poetisch‹ bleibt zunächst außen vor. Die Nachwelt, so Lessings feste Überzeugung, wird nie ungerecht sein.127 Wir hatten gesehen, dass sich diese Äußerung in erster Linie auf den der Person gebührenden Platz in der Geschichte und – weitaus wichtiger – auf ihre moralische Integrität richtet. Mithin steht am Beginn der Frage nach einem gerechten Urteil – Gerechtigkeit – eine abwägende und unparteiische Einschätzung der moralischen Leistungen und Verfehlungen. Wir können einen von Dusch angesprochen und vielfach von anderen wiederholten Kritikpunkt bezüglich der Zeichnung der Dramenfiguren aufnehmen, der uns direkt in den Mittelpunkt moralischer Lasterhaftigkeit führt, allerdings anders, als von den bisherigen Interpreten gesehen. Die Figuren, so der Tenor, handeln allesamt nicht, sondern räsonieren über ihr Schicksal und Fragen der Schuld. Bisweilen haben sie sogar Einsicht in ihre eigene Schuldigkeit, wie bereits angesprochen. Doch keine der Figuren zieht Konsequenzen daraus und überführt die Einsicht in Handlung. Man muss sich hier unweigerlich das Primat eines praktischen Christentums ins Gedächtnis rufen, wie Lessing es wenige Jahre zuvor für sich entwickelt und in den Rettungen zur Anschauung gebracht hatte. Wieso sollte sich seine Überzeugung bezüglich dieser Präferenzen geändert
124 Wulf Segebrecht: Schwert und Waage in der Dichtung. Über »poetische Gerechtigkeit«. In: Kreutzer, Helmut (Hg.): Deutsche Nation. Acta Ising. München 1985, S. 126–138, hier S. 130. 125 Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Konzeptionen bei Wulf Segebrecht: Über ›Poetische Gerechtigkeit‹. Mit einer Anwendung auf Kafkas Roman »Der Proceß«. In: Richter, Karl; Schönert, Jörg; Titzmann, Michael (Hgg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 49–69, insb. S. 50–55. 126 Mönch (1993), S. 49–51. 127 So Lessing gleich zu Beginn der Rettungen des Horaz, die programmatischen Charakter haben. WuB 3, S. 158.
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haben, nur weil er in die Rolle des Dramatikers geschlüpft ist? Hat der Dramatiker Lessing einen anderen Begriff von Gerechtigkeit als der Gelehrte Lessing? Wohl kaum, unterschiedliche Gerechtigkeiten anzunehmen widerspräche schon dem Wortsinn. Insofern geht man nicht fehl, auch hier dem Satz aus der Herrnhuter-Schrift Geltung zuzubilligen: »Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen«.128 Legt man dieses Diktum zugrunde, wirft das ein völlig anderes Licht auf die Schuldverhältnisse. Unter diesen Bedingungen hat sich Sara schuldig gemacht – ihr fehlendes Engagement für eine Lösung ihrer misslichen Lage und der der übrigen Beteiligten lässt diesen Schluss zu. Ist das gerecht? Oder mutet Lessing seiner Dramenfigur zu viel zu? Zwei berechtigte Fragen, die sich allerdings vor dem Hintergrund seiner moralphilosophischen Überlegungen beantworten lassen. Im Paragraph 26 des Christentum der Vernunft heißt es: »Handle deinen individualistischen Vollkommenheiten gemäß.«129 Diese »individualistischen Vollkommenheiten« sind strikt an die Möglichkeit vernünftiger Einsicht gekoppelt, wie der vorangehende Paragraph ausführt: »Wesen, welche Vollkommenheiten haben, sich ihrer Vollkommenheit bewußt sind, und das Vermögen besitzen, ihnen gemäß zu handeln, heißen moralische Wesen, das ist solche, welche einem Gesetze folgen können.«130 Nun spricht nicht nur Sara beständig von Gesetzen, die sie für sich zu reklamieren weiß oder von denen sie sich verurteilt fühlt – mangelnde Einsicht ist der Hinderungsgrund hin zu einem »moralischen Wesen« also nicht. Am deutlichsten ist diese Unterscheidung zwischen ›Richtigem‹ und ›Falschem‹ im Traum repräsentiert, der Sara als moralisches Wesen ausweist und ihre Gewissensnöte auf die Bühne bringt. So bleibt das Versäumnis als Schuld zurück, die auch zu späterer Zeit nicht beglichen werden kann. Im Leben gewinnt man durch späte Reue nicht – vor Gott vielleicht. Nimmt man das Gewissen als mahnende Instanz ernst, Waitwell verweist gleich in der ersten Szene darauf, hat man einen Gradmesser für moralisches Handeln. Es ist hier eine Konzeption von Gewissen sichtbar, die Lessing später in seiner ebenfalls im Umfeld der Rettungen angesiedelten Schrift Leibnitz von den ewigen Strafen erneut aufgreifen und vertiefen sollte.131 Versäumnisse in der moralischen Bildung oder Weiterentwicklung – so die Grundidee – lassen sich nicht kompensieren und sind somit der Ewigkeit der Höllenstrafen wesensverwandt. Fehlende Bereitschaft zu einem mit dem praktisch verstandenen Christentum einhergehenden Handeln sanktioniert sich selbst und kann nicht in gleicher Weise gesühnt oder gar ent-
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WuB 2, S. 936. WuB 2, S. 406. Ebd. Siehe hierzu jetzt auch Ter-Nedden (2011), S. 308–318, sowie das Kapitel 6. 2 dieser Arbeit.
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schuldigt werden, wie das die Glaubenswächter gerne als dogmatische Wahrheit ausgeben. Auf diese Art wird der Tod Saras ein exemplarischer Beleg für diesen Umstand. Er führt eine Form von Moral vor Augen und mutet sie damit einhergehend den Zuschauern zu. Diese hier gezeigten Umstände verweigern sich traditionellen Lösungsmöglichkeiten, allen voran den traditionellen theologischen. Die Gestaltung des Endes der Miß Sara Sampson kann in dieser Kontextualisierung kaum verwundern. Unter spezifischen moralphilosophischen Annahmen ist das Urteil, das über beide gesprochen wird, gerechtfertigt und damit auch in besonderer Weise gerecht: Sara und Mellfont söhnen sich nur scheinbar mit dem Leben aus.
5.4.3 Moral als Zumutung und der spezifische Denkstil der Rettungen
Am deutlichsten treten die theologiegeschichtlichen Prämissen und Lösungsangebote, mit denen sich Lessing ins Verhältnis setzen will, im fünften Akt zutage, als die Dramenhandlung auf ihre Katastrophe zusteuert. Sensibilisiert durch neuere Untersuchungen zur Emila Galotti und der Umdeutung des von Augustinus am Beispiel der Lukretia vorgeführten absoluten Selbstmordverbots im Gottesstaat durch Lessing, muss man auch für Miß Sara Sampson die Frage nach angebotenen und verworfenen Lösungen stellen.132 Denn Sara und Mellefont sterben unterschiedliche Tode, die beide auf je eigene Weise unbefriedigend bleiben und ein natürliches Gerechtigkeitsempfinden (nicht nur der Zeitgenossen) beleidigen können. Mellefont reklamiert für seinen Exitus dabei die älteren Traditionen der Sühne eigener Schuld. Er vergilt Gleiches mit Gleichem, tötet sich, da er sich für Saras Tod verantwortlich fühlt. Selbst die Beteuerungen Sir Sampsons, dass alle Schuld vergeben und Rache, auch gegen sich selbst gerichtete, nicht notwendig sei, prallen an ihm ab. »Diese Heilige befahl mehr, als die menschliche Natur vermag!«133 Die klassische Antwort des Neuen Testaments wäre bei Matthäus 5, 21–25 zu suchen, die hier als Lösung nicht akzeptiert wird, im Sinne eines praktisch verstandenen Christentums aber durchaus Anleitung hätte sein können. Mellefont aber verweigert gerade jede Aussöhnung im Leben, weil er sie für unmöglich hält. Stattdessen beruft er sich – geschickt antithetisch vorgeführt – auf eine andere Instanz. Der Heiligen wird die Natur entgegengestellt – eine rein säkulare Bezugsgröße, die es verbietet, sich zu Lebzeiten zu entschuldigen. Hoff-
132 Siehe hierzu Monika Fick: Verworrene Perzeptionen. Lessings »Emilia Galotti«. In: Jb. der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 139–163. Und jetzt auch Ter-Nedden (2011). 133 WuB 3, S. 525.
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nung auf Gnade wird erst im Moment des Sterbens und der überraschenden Hinwendung zu Gott gewährt: »Was für fremde Empfindungen ergreifen mich! – Gnade, o Schöpfer, Gnade! –«134 In der Figur Mellefonts verbinden sich also alttestamentarische Vorstellungen von (ausgleichender) Gerechtigkeit135 mit der in der lutherischen Überzeugung letzlich offenen Frage nach der allein selig machenden Gnade Gottes (sola gratia). Nimmt Mellefont sein Geschick noch selbst in die Hand, weiß sich Sara ihrer Sache ab dem Zeitpunkt, da ihr Sterben für sie selbst absehbar ist, sicherer. Die Figur der Sara wird deutlich in Kontrast zu Mellefont angelegt, vornehmlich festmachen lässt sich diese Differenz an den Referenzen auf das Neue Testament im Schlussteil. Während Mellefont die Marwood verflucht und auf Rache sinnt, geht Sara auf Distanz: »Lassen Sie mich von Rache nichts hören. Die Rache ist nicht unser«, lässt sie den Rasenden in Anlehnung an Röm. 12, 19 wissen.136 Sie zieht sich zurück auf den Standpunkt des christlichen Caritas-Gebots. Gleichzeitig wird allerdings dieser Rückzug als ein Akt der Schwäche ausgelegt: »Ach, Mellefont,« fährt Sara fort, »warum sind wir zu gewissen Tugenden bei einem gesunden und seine Kräfte fühlenden Körper weniger, als bei einem siechen und abgematteten aufgelegt? Wie sauer werden Ihnen Gelassenheit und Sanftmut, und wie unnatürlich scheint mir des Affects ungeduldige Hitze!«137 Sara weiß mit einem Mal um die Fragilität moralischer Handlungen, die jederzeit erneute und konsequente Aufmerksamkeit erfordern. In ihrem Monolog lässt sie den Zuschauer wissen: »Wie schlau weiß sich der Mensch zu trennen und aus seinen Leidenschaften ein von sich unterschiedenes Wesen zu machen, dem er alles zur Last legen könne, was er bei kaltem Blute selbst nicht billiget –«138 Es ist nicht mehr als eine Ausflucht, die man sich zurechtlegt, wenn man unmoralisches Verhalten mit regierenden Leidenschaften entschuldigt. Sie gilt es zu kontrollieren, denn »[u]nempfindlich konnte der Mensch nicht sein; unleidlich muss er nicht sein.«139 Mit dem Begriff der ›Unleidlichkeit‹ verbindet sich ein ethisches Konzept, das als positiven Gegenpart die Sanftmut (oder Gelindigkeit) kennt. »Die
134 Ebd., S. 526. 135 Das ist nicht die einzige Stelle bei der sich Mellefont alttestamentarischer Diktion bedient. So verflucht er etwa Marwood in Anlehnung an 4 Mos. 16, 30, was sich nicht zuletzt in der Sprache manifestiert: »Unglück und Tod, und wo möglich, die ganze Hölle möge sich auf ihrem Wege finden! Verzehrend Feuer donnre der Himmel auf sie herab, und unter ihr breche die Erde ein, der weiblichen Ungeheuer größtes zu verschlingen.« WuB 3, S. 516. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Ebd., S. 517. 139 Ebd., S. 519.
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Gelindigkeit nennen die Sitten=Lehrer die Fertigkeit, da man die nöthige Beurtheilung anderer, auch alles nöthige Verhalten gegen derselben unrechtmäßiges Verfahren aufs möglichste denselben erträglich und vortheilhafft errichtet.«140 Das stimmt mit der Situation – Sara ist im Begriff zu sterben – überein: Erstmals stellt sie ihre Eigeninteressen zurück und zeigt Empathie, wenn sie ihrer Dienerin Betty erlaubt, das Sterbezimmer zu verlassen: »es ist nicht eines jeden Sache, um Sterbende zu sein.« Nichtsdestotrotz hält Sara bis zuletzt an ihrer Schwachheit fest. Sie zeigt sich als reuige Sünderin: Die bewährte Tugend muß Gott der Welt lange zum Beispiele lassen, und nur die schwache Tugend, die allzu vielen Prüfungen vielleicht unterliegen würde, hebt er plötzlich aus den gefährlichen Schranken.141
Noch der letzte Auftritt der Sara ist also bestimmt durch die neutestamentarischen Hoffnungen auf eine Erlösung und Vervollkommnung der Tugenden im Jenseits – hier in Anspielung auf Luk. 7, 47.142 Wir hatten zuvor die Frage nach der poetischen Gerechtigkeit suspendiert, um allein nach möglichen Formen der Gerechtigkeit zu fragen. Nach dem bisherigen Befund müsste eine Form der poetischen Gerechtigkeit in einen moralischen Imperativ zu überführen sein, der in etwa lauten könnte: Bereue, bevor es zu spät ist und hoffe auf göttliche Gnade! Das wäre vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Erwartungshaltung und des theologiegeschichtlichen Kontextes eine denkbare Möglichkeit. Nun wissen wir aber von Lessings moralphilosophischen Abhandlungen, dass er eine gänzliche andere Konzeption für die weitaus vernünftigere und tragfähigere erachtete. Sein Imperativ lautete: Handle Deinen individualistischen Vollkommenheiten gemäß! Oder parallel formuliert: Handle, bevor es zu spät ist! Durch die an Sara vollzogene Strafe, die als eine gerechte vorgestellt wird, steht die eigentliche Katastrophe in einem gänzlich neuen Licht und hebt sich von den Trauerspielen, die nach wie vor auf eine bloße Bestrafung des Lasters und die damit intendierte Abschreckung zielen, dezidiert ab. Nun wird auch eine den theologischen Kontexten der Zeit adäquate Lösung als ungenügend vorgestellt. Lessing geht es in der Sara Sampson um nicht weniger als die Umdeutung von religionsphilosophischen Traditionen. Indem er die Unzulänglichkeit der bisherigen Lösungsangebote orthodoxer Prägung – sowohl aus alttestamentarischer wie neutestamentarischer Perspektive – vor Augen führt, en-
140 Zedler 49, Sp. 1862. 141 WuB 3, S. 524. 142 »Derhalben sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.«
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det das Stück rezeptionsästhetisch gesehen mit einer Zumutung. Die Zeitgenossen haben das dergestalt empfunden und waren trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, tief berührt und gleichzeitig unbefriedigt. Lessing hat als Dramatiker sein Ziel erreicht: Die Unsicherheit, wie man sich die Schicksale der Figuren zu erklären habe, ist letztlich die beste Voraussetzung für das Mitleiden – Lessings zentrales Anliegen im Trauerspiel. Die Einsicht des Zuschauers, dass alles auch ganz anders hätte ausgehen können, ja mit minimalen Korrekturen sogar hätte ausgehen müssen, erschafft einen Resonanzraum, in dem das Mitleiden seine volle und stärkste Wirkung entfalten kann. Eine Belehrung wird gerade nicht explizit ausgesprochen, sondern über das Mitleiden vermittelt. Denn zurück bleiben erbarmungswürdige Figuren, die trotz allem nicht ohne Fehler waren. Damit knüpft Lessing an zwei Komponenten an, die schon für die Rettungen charakteristisch waren und hier – bei gründlicher Lektüre – wieder zu finden sind. Zum einen werden auf den ersten Blick vernünftige, ja sogar durch Tradition scheinbar legitimierte Ansprüche der Religion als Anhaltspunkt für moralisches Handeln zurückgewiesen bzw. zumindest in Teilen revidiert. Auch wenn das christliche Gebot der Nächstenliebe seine absolute Gütigkeit behält, verschiebt sich der zeitliche Fokus und mithin wird der angestammte Geltungsbereich in neuer Weise betont. Wenn sich Sara erst in ihrer Sterbestunde auf die Postulate eines praktischen Christentums zurückzieht, kommt sie zu spät. Die von ihr gemachten Fehler mag wohl Gott ent-schuldigen, aus der Perspektive eines gelungen Zusammenlebens hat sie die Anforderungen nicht erfüllt. Wie schon in den Rettungen werden mögliche Anknüpfungspunkte – wiederum angeleitet – dem Leser oder Zuschauer überantwortet, was den Rahmen einer bloßen Moraldidaxe sprengt. Die moralphilosophischen Konzeptionen des jungen Lessing, soviel wurde hoffentlich auch ohne ausführliche Interpretation deutlich, haben ihren Ursprung in den Schriften, die dem Gebiet der Gelehrsamkeit zuzuordnen sind. Gleichwohl wirken sie sich auch auf die poetischen Texte aus und entfalten dort ihre Wirksamkeit: als eine dramatisierte Form praktischer Philosohie.
5.5 Die angekündigten Rettungen zu Johann Konrad Dippel und Spinoza Wir verdanken das Wissen um Lessings Pläne weiterer Rettungen einem Brief Samuel Benjamin Kloses (1730–1798) aus dem Jahr 1774. Lessing hatte in dem studierten Theologen, Lehrer und zeitweiligen Bibliothekar von St. Bernhardin in Breslau einen Freund gefunden, der nicht nur sein Interesse an mittelalterlicher Literatur teilte, sondern auch ein intimer Kenner der dortigen Bibliotheks- und
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Archivlandschaft war.143 Während Lessings Tätigkeit als Gouvernementssekretär in Breslau144 entstanden zahlreiche Projekte, von denen allerdings nur ein Bruchteil ausgeführt wurde. Die Breslauer Jahre gehören, neben der Zeit in Wittenberg, zumindest teilweise zu den dunkleren Kapiteln in Lessings Biographie.145 Will man zu einem aussagekräftigen Bild gelangen, muss man vieles aus fragmentarischen Stücken rekonstruieren. Das betrifft auch die Schriften, die in jener Zeit entstanden und oft erst über den Bruder und Nachlassverwalter Karl Lessing bekannt gemacht wurden. Die Folgen sind nicht selten ungenaue Datierungen. So auch im vorliegenden Fall: Zehn Jahre nachdem Lessing Breslau verlassen hatte, stellte der damalige Freund die Frage nach einigen Schriften, deren Planungsphase offenbar in die Zeit des gemeinsamen Umgangs zurückreichte: »Werden wir niemals den D. Faust sehen? Ihre vermehrte [!] Apologien, Ihre Erzählgen., Ihren fortgesetzten Laokoon, Ihren Sophokles lesen?«146 Klose spricht in seinem Brief lauter fallengelassene oder bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiter verfolgte Unternehmungen Lessings an.147 Um auf die Spur zu kommen, wer den
143 ADB 16, S. 226f. 144 Für die Breslauer Zeit siehe A (2008), S. 44–51. Lessing befand sich, mit einer kurzen Unterbrechung, die ihn nach Potsdam und Berlin führte, vom 3. November 1760 bis Ende April 1765 in Breslau. 145 N, S. 368–398. Den Großteil der Information verdanken wir Lessings Bruder Karl: »Über sein persönliches Leben war Lessing, wie schon bemerkt, außerordentlich verschwiegen. In den Breslauer Jahren kommt noch die generelle Spärlichkeit der Dokumente hinzu. Immer schon unzuverlässig als Briefschreiber, hat er, soweit bekannt, in den viereinhalb Jahren in Breslau nicht mehr als sechsundzwanzig Privatbriefe geschrieben, von denen vier verloren sind; und aus der Zeit von seiner Ankunft in Breslau bis Ende 1762 haben sich nur sechs erhalten. Diese Briefe erlauben jedoch wichtige Einblicke in seine seelische Verfassung während dieser kritischen Zeit, die er selbst als den Wendepunkt seines Lebens empfand. Auch ist die Biographie seines Bruders für diese Zeit ungewöhnlich aufschlußreich, nicht nur, weil Karl Lessing Klose und andere befragen konnte, nachdem er selbst 1779 nach Breslau gezogen war, sondern vor allem, weil er nach Lessings Rückkehr nach Berlin 1765 dort viel mit ihm zusammen war, da er länger als ein Jahr bei ihm wohnte und, jetzt fünfundzwanzig Jahre alt, alt genug war, von seinem Bruder ins Vertrauen gezogen zu werden.« N, S. 376. Die Informationen sind also mit Vorsicht zu genießen, entstammen sie doch zum Großteil der Feder des Bruders und entstanden zudem in einem zeitlichen Abstand von mehr als zwanzig Jahren. 146 Samuel Benjamin Klopp an Lessing, 18. 04. 1774. WuB 11/II, S. 636–638, hier S. 638. 147 Der Faust ist uns nur in den wenigen Szenen überliefert, die letzte Szene findet sich am Ende des 17. Literaturbriefes. Datiert ist dieser Brief auf den 16. 02. 1759, die erste Erwähnung des Projektes findet sich in einem Brief an Mendelssohn vom 19. 11. 1755. Zur Überlieferungs- und Enstehungsgeschichte siehe F (2010), S. 212; sowie Günther Mahal: Lessings Faust. Planen, Ringen, Scheitern. In: ders. (Hg.): Faust. Untersuchungen zu einem zeitlosen Thema. Neuwied 1998, S. 321–346 und Erwin Neumann: »Meinen Faust holt der Teufel, ich aber will Goethe’s seinen holen«. Lessings »17. Literaturbrief« und seine »Faust-Pläne. Zur Doppelstrategie seiner Polemik
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Gegenstand dieser »Apologien« gebildet haben könnte, sind wir wiederum auf Lessings Bruder und dessen Nachforschungen angewiesen. Er teilt uns mit: Imgleichen wurde Spinoza’s Philosophie Gegenstand seiner Untersuchungen. Er las diejenigen, welche ihn hatten widerlegen wollen wobei Bayle nach seinem Urtheile derjenige war, welcher ihn am wenigsten verstanden hatte. Dippel war ihm der, welcher in des Spinoza wahren Sinn am tiefsten gedrungen. Doch hat er hier nie das mindeste, wie gegen Jacobi, auch gegen seine Vertrautesten geäußert.148
Sowohl Erich Schmidt als auch Lachmann / Muncker nehmen diese Aussage Karl Lessings zum Anlass, Johann Konrad Dippel und Spinoza zum Thema der ungeschriebenen oder zumindest nicht erhaltenen Rettungen zu machen.149 Unwahrscheinlich ist das nicht, jedoch sollte Vorsicht geboten sein, bevor man sich zu Analysen und Spekulationen hinreißen lässt. Eingedenk der Tatsache, dass in den folgenden Überlegungen gerade nicht auf eine Textbasis zurückgegriffen werden kann, erscheint es notwendig, einen Möglichkeitsraum abzustecken, der sinnvolle Fragestellungen von reinen Spekulationen unterscheidet.150 Sicher ist: Es gab die Ankündigung oder den Plan Lessings, weitere Apologien bzw. Rettungen zu verfassen. Dafür steht uns der Brief Kloses Pate. Vom Plan auf die Existenz solcher Schriften zu schließen, ist freilich nicht zulässig. Zu viele Faktoren könnten eine Ausführung verhindert haben. Denkbar wären ganz triviale äußere Umstände – etwa das Fehlen entsprechender Literatur – wie auch
gegen Gottsched und Goethe in epistularischer und dramatischer Form. In: Mauser, Wolfram; Saße, Günter (Hgg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati / Ohio USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau. Tübingen 1993, S. 401–409. Gleiches gilt für das Sophokles-Projekt Lessings, auch dieses liegt uns fragmentarisch vor und datiert aus der Zeit vor dem Breslauer Aufenthalt. Gedruckt wurde es bereits 1760 bei Voß in Berlin. Siehe hierzu F (2010), S. 250–256; sowie Uta Korzeniewski: »Sophokles! Die Alten! Philoktet!«. Lessing und die antiken Dramatiker. Konstanz 2003 (Xenia 46). 148 KGL, S. 246. 149 Im Rückgriff auf Erich Schmidt steht bei LM zu lesen: »Erich Schmidt (Lessing Bd. I, S. 452) deutet auf die Möglichkeit hin, daß unter diesen neuen Apologien, die Lessing in Breslau plante, eine Rettung Spinozas, namentlich gegen Bayle, gewesen sei, nebenher vielleicht auch eine Rettung des vielgeschmähten Johann Konrad Dippel, bei dem Lessing zuerst ein tieferes Verständnis Spinozas entdeckte. Dann wäre der Plan dieser neuen Apologien, von denen wir sonst nichts wissen, wohl auch am ersten dem Jahre 1763 zuzuweisen.« LM 14, S. 296. 150 Dass diese Art der Geschichtsschreibung möglich ist, ohne den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgeben zu müssen, hat Alexander Demandt eindrucksvoll dargelegt. An seinen methodischen Überlegungen orientieren sich auch die folgenden Ausführungen. Alexander Demandt: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn . . . ? Göttingen 3 2001.
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persönlich motivierte Gründe. Gehen wir probehalber davon aus, dass tatsächlich Dippel und Spinoza die Personen sein sollten, deren Rettung Lessing in Angriff nehmen wollte. Der eine, Dippel, war radikaler Pietist und Intimfeind seines Vaters.151 In dessen Dissertation bildet Dippel beinahe durchgängig die Negativfolie, von der er sich als gesinnungstreuer Vertreter der Orthodoxie abgrenzen wollte. Johann Gottfried Lessing starb erst 1770 und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Lessing seinem Vater, dem er trotz diverser differierender Überzeugungen zeitlebens zugeneigt blieb, die Zumutung einer solchen Schrift, die sie zweifelsohne dargestellt hätte, ersparen wollte. Eine Rettung Spinozas war, noch mehr als eine Parteinahme für Dippel, auch in den 1760er Jahren ein risikoreiches Unternehmen. Allzu leicht konnte man selbst in Verruf geraten, ein Atheist oder Befürworter des Atheismus zu sein.152 Der Grat diesbezüglich war schmal. Ein weiterer ganz pragmatischer Grund wäre in den Möglichkeiten zur Publikation zu suchen. Wer hätte sich getraut, eine solche Verteidigungsschrift zu drucken? Lessing war fernab seiner Berliner Freunde und Unterstützer. Welche Konsequenzen waren vonseiten seines Dienstherren, des Generalleutnants von Tauentzien, zu befürchten, wenn die Unternehmung publik geworden wäre? Es gab also vorderhand genügend gute Gründe, diese Rettung(en) nicht zu schreiben. Einen Erkenntnisgewinn bringen diese Überlegungen – ohne auf das Gebiet der Spekulation zu verfallen – trotzdem mit sich, erlaubt doch die bloße Absichtserklärung, zusätzliche Rettungen zu schreiben, weiterführende Schlüsse.153
151 Für einen kursorischen Überblick zum radikalen Pietismus und dessen Positionen siehe beispielsweise Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000, S. 275– 284. 152 Wie vorsichtig die Auseinandersetzung mit den Gedanken Spinozas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war, zeigt Michael Czelinski-Uesbeck: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland. Würzburg 2007 (Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft 13). Zwar sieht Czelinski-Uesbeck es als erwiesen an, dass die mit Spinoza in Verbindung gebrachte Debatte, ob Moral grundsätzlich auch ohne Religion denkbar sei, bereits Mitte des Jahrhunderts entschieden war (S. 194), die Folgen im publizistischen Alltag hingegen waren nach wie vor dezidiert andere als auf rein akademischer Ebene. Jakob Friedrich Reimmann, dessen Geschichte des Atheismus auch zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen wirkmächtig war, führt Spinoza ganz selbstverständlich unter den Atheisten. Reimmann (1992 [1725]), S. 49. 153 »Um die Geschichte aus der Sicht der Handelnden zu verstehen, müssen wir die einzelnen Fakten auch im ungeborenen Zustand betrachten, als bloßen Plan, als pure Möglichkeit. Denn jede rationale Handlung resultiert aus einem vorgreifenden Urteil über das, was passieren würde, wenn sie nicht geschähe. Der Denkende simuliert ungeschehene Geschichte und entscheidet danach unter den ihm erkennbaren Alternativen.« Demandt (2001), S. 26.
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Als erstes gilt es festzuhalten, dass sich die Rettung als Form offensichtlich bewährt haben muss. Sie war nach wie vor eine Option, sich Gegenständen, zumal wenn sie prekären Inhalt repräsentierten, zu nähern und sie zu gestalten. Gleichzeitig Nähe und Distanz zu erzeugen, um einen eigenen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Thesen zu erarbeiten, war auch mehr als zehn Jahre nach den ersten Versuchen noch möglich. Beide, Spinoza und Dippel, konnten Lessings uneingeschränkte Zustimmung mit Sicherheit nicht finden. Kritik, gerade in Form der Rettung, scheint sich in diesem Fall geradezu aufzudrängen. Zweitens erlaubt uns die Absichtserklärung Lessings den Schluss, und diese Beobachtung ist von fundamentalerem Charakater, dass sich die Zeiten nicht dergestalt geändert haben, dass solche Verteidigungen überflüssig geworden wären. Eine Verdammung aus überkommenen Vorurteilen war stets der Ausgangspunkt der Rettungen; es gilt also zu fragen, wer in diesem konkreten Fall das Urteil ausspricht und auf welche Argumente, so sie denn vorhanden, sich das Urteil gründet. Auch hier besteht noch kein Anlass zur Spekulation, die Vorwürfe finden sich unabhängig davon, ob Lessing sie kannte oder am Ende gar für eine Rettung gebrauchen wollte. Wenden wir uns also zunächst Johann Konrad Dippel (1673–1734) zu,154 der nach Lessings Aussage Spinoza am besten verstanden hat. Auf diese Weise kommen wir über einen Umweg auch zu Spinoza. Als erster Ausgangspunkt soll die zeitgenössische Beurteilung Dippels dienen, um den Anlass einer Rettung gerechtfertigt zu sehen. Im Jahre 1735, nur ein Jahr nach Dippels Tod, urteilte Johann Georg Heinsius, Dippel sei, wenn nicht der Verfasser, so doch der Editor einer »gottlosen Schrift«.155 Verwunderung konnte das freilich nicht auslösen, galt er doch ohnehin als der »ärgste Socinianer«,156 der »die reine Lehre unserer Kir-
154 Zur Biographie Dippels siehe ADB 5, S. 249–251; NDB 3, S. 737f.; sowie Karl-Ludwig Voss: Christianus Democritus. Das Menschenbild bei Johann Conrad Dippel. Ein Beispiel christlicher Anthropologie zwischen Pietismus und Aufklärung. Leiden 1970 (Beihefte der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 12), insb. S. 1–66. 155 Johann Georg Heinsius: Unpartheyische Kirchen-Historie Alten und Neuen Testaments, von Erschaffung der Welt bis auf das Jahr nach Christi Geburt 1730. Darinnen von der Lehrer und anderer Scribenten zu allen Zeiten Leben und Schrifften, von der Lehre aller Religionen, vom Gottesdienst, Kirchen-Regiment, Ketzereyen und Trennungen, [. . . ] aufrichtig gehandelt wird. [. . . ] Jena 1735, S. 731. In Wahrheit war Dippel der Verfasser der Unpartheyischen Gedancken / Über eines so genannten Schwedischen Theologi, kurtzen Bericht von Pietisten. Laodicea [=Berlin] 1706. Der Druckort darf wohl als Anspielung auf das Konzil von Laodicea (363–364) gelesen werden, das sich unter anderem dem Umgang mit Häresien kirchlicherseits widmete. 156 Ernst Friedrich Neubauer, Johann Jacob Rambach: Hessisches Heb-Opfer theologischer und philologischer Anmerckungen. Einundzwanzigstes Stück. Gießen 1739, S. 101.
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che so oft verlästert hat«.157 Man könnte die Beispiele der Beschuldigungen leicht um ein Vielfaches vermehren, die Richtung aber scheint auch nach dem bisher Gesagten deutlich. Zusammenfassend lässt sich mit Johann Anton Trinius noch im Jahr 1765 festhalten: Dippel wurde als ein »grobe[r] Indifferentist und fanatische[r] Freygeist«158 gesehen.
5.5.1 Dippels Verhältnis zur Philosophie Spinozas
Ohne Zweifel war Dippel zu einer wichtigen Figur innerhalb der Diskussion um Heterodoxien geworden. Zu Beginn seines Lebensweges war dies allerdings keineswegs abzusehen. Wie so oft – später etwa bei Edelmann oder Reimarus – nahm Dippels Radikalisierung ihren Ausgang in einem strikt orthodoxen Milieu. Noch in den Anfangsjahren seines Studiums hatte Dippel deutlich gegen die Pietisten Stellung bezogen.159 Das änderte sich schlagartig zum Jahreswechsel 1695/96 aus nicht eindeutig zu klärenden Ursachen. Dippels eigene Erklärung folgt dem typischen Schema eines Erweckungserlebnisses und ist als realgeschichtliche Begebenheit nicht glaubwürdig.160 Im Zuge der Bekanntschaft mit
157 Adam Struwensee: Zweyte Vertheidigungsschrift gegen einen Gräfl. Zinzendorfischen Brief [. . . ]. [Halle] 1740, S. 25. 158 Johann Anton Trinius: Johann Anton Trinius Erste Zugabe zu seinem Freydencker=Lexicon. Leipzig und Bernburg 1765, S. 182. Es spricht für die Wirkmächtigkeit Dippels, dass Trinius dem Gelehrten beinahe sechzig Druckseiten widmet, wovon ein Großteil die Besprechung seiner eigenen Werke einnimmt (knapp vierzig Seiten). Etwas mehr Raum als Dippels Freunde und Befürworter (zehn Seiten) nehmen seine Gegner ein (gut zwölf Seiten). 159 Ein guter und knapper Überblick über die Radikalisierung Dippels findet sich bei Gerhard Alexander: Spinoza und Dippel. In: Gründer, Karlfried (Hg.): Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 12), S. 93–110, dort insb. S. 95–102. 160 Goldschmidt schildert die Szene: »Für Dippels Entwicklung ist eine merkwürdige Begebenheit wichtig, die er in der Abfertigung der absurden Prahlerey schildert. Er war, wohl in den Weihnachtsferien 1695/96, zu Besuch bei einem Verwandten, der wahrscheinlich als Angestellter eines Adeligen in dessen Schloß wohnte. Dippel sah durch das Fenster des Zimmers, in dem er übernachten durfte, einen Bettler in den Hof treten. Weil er sich wunderte, dass die Hunde nicht anschlugen, ging Dippel ebenfalls selbst in den Hof, um zu erfahren, mit welchen Trick dieser an den Hunden vorbeigekommen war. Der Bettler kam Dippel merkwürdig vor, der ihm statt sich für ein erhaltenes Almosen zu bedanken ein Orakel gab, das ihm noch einige Jahrzehnte später präsent war: ›Du bist . . . ein Mensch von gutem Gemüthe und Willen, hast auch von Gott . . . einen guten Verstand bekommen, und bildest dir Wunder ein, wie gelehrt du seyest; aber es wird nicht lange mehr anstehen, so wirst du gantz andere Gedanken von dir selbst und von allen Dingen kriegen, und die Welt wird dir, wie du der Welt, viel zu schaffen machen. Und dieses will Gott so
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Arnold, den er im Verlauf des Jahres 1697 an der Universität Gießen kennenlernte, radikalisierte sich sein Denken weiter.161 Spätestens in den unmittelbar darauf folgenden Jahren wurde Dippel über die Grenzen der eigentlichen Disziplin hinaus als scharfer Polemiker bekannt. Sein Hauptkritikpunkt an der lutherischen Theologie war dabei die Prädestinationslehre, die er als völlig unsinnig verwarf – immerhin handelt es sich dabei um den Kern der reformierten Lehre (sola fides). An dieser Stelle kreuzen sich die gedanklichen Wege mit Spinoza: In Dippels theologisch-philosophischen System ist Freiheit162 das absolute und alleinig regierende Grundprinzip:163 Wenn es nun keinerlei Gesetzlichkeit, sondern nur absolute Freiheit gebe, so sei die moderne Philosophie seit Descartes absolut falsch. Nicht nur die Prädestinationslehre der Reformierten, sondern auch die Zweisubstanzenlehre von Descartes, die Lösungsversuche für die Schwierigkeiten dieser Lehre durch Malebranche, Leibniz’ Monadenlehre und prästabilierte Harmonie und deren Weiterführung durch Wolff: sie alle könnten nicht überzeugend erklären, wie Geist und Körper zusammenhängen und aufeinander wirken können, was doch die Erfahrung lehrt.164
haben.‹ Nach diesem Orakel verschwand der Bettler, den außer Dippel niemand, nicht einmal die Wache, gesehen haben soll.« Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung. Göttingen 2001 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 39), S. 108. 161 Siehe ebd., S. 184–233, sowie ferner Kristine Hannak: Die »alte, vernünfftige Philosophie« als »Weg=Weiser« zur Aufklärung: Johann Conrad Dippel als Grenzgänger zwischen Pietismus, Hermetik und Frühaufklärung. In: Neugebauer-Wölk, Monika; Rudolph, Andre (Hgg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 37), S. 53–75. 162 Martin Schmidt spricht von der »Gottunmittelbarkeit der Autonomie des Menschen«, aufgrund der Dippel »nur noch ein[en] Schritt« von der »Proklamation der ›religiösen Menschenrechte‹« entfernt gewesen sei. Martin Schmidt: Teilnahme an der göttlichen Natur. 2. Petrus 1, 4 in der theologischen Exegese des Pietismus und der lutherischen Orthodoxie. In: Künneth, Walter; Jost, Wilfried (Hgg.): Dank an Paul Althaus. Eine Festgabe zum 70. Geburtstag, dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern. Gütersloh 1958, S. 171–202, hier S. 184. 163 Alexander (1984), S. 102. Im Folgenden werde ich mich in Teilen auf die Überlegungen Alexanders stützen. Schon ein Blick auf den Titel von Dippels Hauptwerk, das unter dem Pseudonym Christian Democritus erschien, verrät Gegenstand und Ziel der Untersuchung: Christ. Democriti Fatum Fatuum / Das ist / Die Thörige Nohtwendigkeit [!] / Oder / Augenscheinlicher Beweis / Daß alle / die in der Gotts=Gelehrtheit / und Sitten=Lehre der vernünfftigen Creatur / die Freyheit des Willens disputiren /durch offenbahre Folgen / gehalten sind / die Freyheit in dem Wesen / GOttes selbst aufzuheben / oder des Spinosae / Atheismum festzusetzen. / Wobey zugleich die Geheimnisse der Carte=/ sianischen Philosophie entdecket und angewiesen / wie / absurd diese Gauckeley sich selbst vernichtige / und was für Schaden dadurch im gemeinen Wesen / gestiftet worden. Amsterdam 1710. 164 Alexander (1984), S. 102.
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Gerade der strikte Determinismus leibnizscher Prägung war für Dippel eine Zumutung.165 Einsichtiger ist dagegen noch »die volle Konsequenz des Determinismus, die Spinoza mit der Lehre von der einen Substanz, ihren Attributen und Modifikationen gezogen hat«.166 Wenngleich sich Dippel zeitlebens von Spinoza abzugrenzen versuchte,167 so ist doch nicht zu übersehen, dass sich sein eigenes System auch und gerade in der Auseinandersetzung mit spinozistischem Gedankengut entwickelte. Und überraschenderweise sind beide, obwohl sie bisweilen von gegensätzlichen Überzeugungen ausgingen, zu ähnlichen Ergebnissen in ihrer Philosophie gekommen. Zentrales Element in Dippels Philosophie ist die absolute Freiheit des Menschen, die sich in fundamentaler Weise auf seinen Gottesbegriff auswirkt.168 Gott als vollkommenes Wesen ist von Anbeginn
165 Das Verhältnis zwischen Spinoza und Leibniz zu bestimmen, gestaltet sich seit jeher schwierig und hängt letztendlich auch vom jeweiligen Interpreten ab. Eine Einführung in diese Problemkonstellation gibt Detlev Pätzold: Spinoza – Aufklärung – Idealismus. Die Substanz der Moderne. Frankfurt am Main 1995 (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften 29), S. 51– 93. 166 Alexander (1984), S. 102f. 167 Gerhard Alexander stellt die Beschimpfungen zusammen; so ist bei Dippel »der närrische, tolle, unsinnige Spinoza«, ein »degenerierter Jud«, ein »verblendeter Tropf« oder schlicht »Hans Ochse«. Ebd., S. 103. 168 Ich zitiere hier eine längere Passage aus dem Vorwort, die einen Überblick geben soll, auf was sich Dippels Gegner bei der Lektüre einzustellen haben. Sie bietet eine gute programmatische Zusammenfassung der Gedanken Dippels, die nichts weniger sind als ein Rundumschlag gegen die gelehrte Welt: »Sie [seine Gegner, M. M.] müssens derohalben nach ihrem hypothesi mit Geduld ansehen, und die heimliche Führung GOttes noch darzu preisen, wann sie in dem Verfolg dieser Schrift werden lesen, daß GOtt ein freywilliges Wesen sey, daß er durch einen freywilligen Actum die Welt erschaffen, daß ER, ohne sich auf einigerley Art dependent zu machen, freywillige Creaturen nach seinem Bilde habe schaffen können, und würcklich geschaffen habe, daß diese freywillige Creaturen durch einen freywilligen Abfall ihren Ursprung haben verlassen können, und würcklich verlassen haben, durch praesentirung eines falschen Guts, und die Liebe zu sich selbst und den Creaturen, daß sie in dem Fall, wann sie von GOtt erst mit neuem Licht geruffen werden, Freyheit haben, sich wiederum nach ihrem Ursprung zu wenden, und durch dieses freywillige Umkehren sich dem Einfluß des Lebens aus GOtt zu unterwerffen, oder in der Liebe der Welt zu beharren, und die heilsame Gnade von sich zu stossen. Im Gegentheil, daß sie fatalität erstlich alles Gute in der Welt mit alle dem Bösen unter einen Ursprung ziehe, und nothwendig ziehen müsse, daß aus dieser confusion nothwendig folge, daß GOtt selbst keine Freyheit gehabt, sondern alles so habe per emanationem aus seinem Wesen gehen lassen, wie es jetzt stehet: Und daß dieser Spinosistische Atheismus so gut sey als der Epicureorum, welche die particulgen oder die Atomos, vor das erste Beginn aller Creaturen gesetzt, die in ihrer Vermischung von ohngefähr alle Sachen so dargestellet, wie sie jetzt stehen. Ferner, das Renatus des Cartes ihr Abgott, ein sehr dummer Gauckeler gewesen, der nach dem omine seines Namens, nichts als leere und falsche Bilder, oder ein gauckelhafftiges Karten=Spiel der alten Epicurer wiederum auf die Welt gebracht, und noch darzu aus dem Hobbes seine Stellungen gestohlen, den
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auch ein durch und durch glückseliges Wesen. Diese seit der Scholastik bekannte Wesenszuschreibung mündete bei Dippel in die Überzeugung, dass dementsprechend Gott es nicht nötig habe, verehrt zu werden. Auch ein strafender Gott, der den Menschen für seine Vergehen in der Endlichkeit mit unendlichen Strafen belegt,169 war für Dippel nicht denkbar. Die daraus resultierende Absage an die lutherische Theologie,170 dass der Mensch letztendlich und einzig von der Gnade Gottes abhängt, widerspricht der Freiheit, die Gott dem Menschen in seiner Erschaffung zu teil werden ließ.171 Die Erbsünde verliert damit ihren Charakter auf ewig sündhaft zu machen und diesen Zustand als unantastbar zu belassen. Das Beispiel für die mögliche Erlösung hat Jesus geliefert, der aber »nicht an unserer Statt, sondern für uns gestorben [ist]; er habe uns gezeigt, wie wir leben sollen, um selig zu werden, nämlich in Gehorsam und Liebe: Gehorsam gegen Gottes Gebote, als Abwendung von der Selbstsucht und dem Hang zu irdischen Dingen, Liebe zu Gott und damit zu unserem Nächsten.«172 Dippel hat sich bemüht, die Grundlagen des Christentums neu zu reflektieren und zu bewerten und ist dabei zu ähnlichen Bestimmungen der Religion gekommen, wie sie auch Spinoza formuliert hat. Ergibt sich die Liebe zu Gott und seinen Geboten bei Dippel aus einem reinen Willensakt, der sich aus der Freiheit des menschlichen Willens schlechthin speist und nicht dem Verstand sondern dem (irrationalen) Gefühl entspringt, verhält es sich bei Spinoza geradezu umgekehrt. Bei Spinoza gründet sich die Liebe zu Gott auf einen Erkenntnisakt, sie ist eine notwendige Folge aus Einsicht – es ist keine affektive, sondern eine geistige Liebe (Amor Dei intellectualis).173 Trotz der offensichtlichen Differenzen darf die Gemeinsamkeit der Überlegungen beider nicht übersehen werden. Das Vermögen Gott zu lieben, liegt in
er zum Schein nur wiederleget [!]. En fin! daß die Excrementa oder der Koth der natürlichen und Moral=Philosophie aus den blindesten Heyden, als Aristotele und seines gleichen, noch würdiger und besser seyn, als alles, was von Cartesio in diesen disciplinen zu hoffen, und das nichs pestilentzischeres und abgeschmackteres habe ersonnen können werden, so wohl die principia der Religion, als einer gesunden Politique und Morale, item der Medicin, und anderen natürlichen guten Künsten gänzlich zu subvertieren und alles Gute zum Schimpff zu stellen.« Democritus [= Dippel] (1710), S. 5f. 169 Siehe hierzu Democritus [= Dippel] (1710), S. 120ff. 170 Eine ausführliche Darstellung der Kritik Dippels an der Refertigungslehre gibt Voss (1970), S. 82–93. 171 Das Theodizeeproblem, das uns hier nicht weiter interessiert, löst Dippel im Rückgriff auf mystische Traditionen. 172 Alexander (1984), S. 104. 173 Die Herleitung dieses Gedankens und dessen Notwendigkeit innerhalb des Systems Spinozas ist ein kompliziertes Unterfangen. Siehe hierzu die ausführliche und detaillierte Darstellung bei Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, S. 345–354.
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beiden Fällen im Menschen selbst. Die Konsequenz daraus ist bei beiden ein Primat des Praktischen gegenüber metaphysischen Spekulationen. Spinoza konnte seine Philosophie sämtlich unter ›Ethik‹ subsumieren, Johann Konrad Dippels Weg führte ihn in den Pietismus, nachdem er zu der Einsicht gelangt war, dass der Mensch nicht auf die göttliche Gnade, im Sinne einer Grundvoraussetzung für Erlösung, angewiesen ist.174 Die Nachfolge Jesu wird hier verstanden als ein moralischer Auftrag, der die Möglichkeit verspricht, schon in diesem Leben selig zu werden175 – oder in Spinozas Worten, die höchste Freude in der Liebe zu Gott zu genießen.
5.5.2 Lessing zwischen Spinoza, Dippel und Bayle – Versuch einer Rekonstruktion
Ausgehend von dem eben Dargestellten, lässt sich der Versuch einer Rekonstruktion dessen wagen, was Lessing bei einer Rettung Dippels176 hätte in Anschlag bringen können. Es soll nicht darum gehen, zu spekulieren, wie die Rettung denn ausgesehen hat oder ausgesehen haben könnte, sondern vielmehr darum, einen Raum abzustecken, innerhalb dessen Grenzen sich sinnvolle und widerspruchsfreie Aussagen machen lassen. In einem ersten Schritt müssen die Koordinaten abgesteckt werden, die uns das Material liefert. Danach kann man dem Diktum Alexander Demandts folgen, der in Bezug auf die Grenzen des Vorstellbaren treffend formuliert: »Verbotsschilder an unvermeidbaren Wegen verschandeln nur die Landschaft.«177 Wir wissen aus der Äußerung Kloses, dass sich die Rettung Spinozas gegen Bayle und dessen Eintrag in seinem Dictionnaire richten sollte. Die Position Bayles ist uns bekannt. Will man den ausführlichsten Artikel innerhalb des bayleschen Wörterbuches und das damit verbundene Urteil auf den
174 Alexander stellt eine interessante und gar nicht so unwahrscheinliche Spekulation in Hinblick auf Dippels Bekehrungserlebnis an. Verbürgt ist, dass Dippel sich zu besagter Zeit intensiv mit Spinozas Philosophie beschäftigte und, wie er selbst zugibt, beinahe Atheist geworden wäre. »Ja, vielleicht ist es nicht allzukühn anzunehmen, das zuletzt angeführte Spinoza-Zitat, das mit den Worten endete: ›et Christus in eo est‹, sei mit ein Anstoß für Dippels Zuwendung zum mystischen Pietismus gewesen.« Alexander (1984), S. 110. 175 So nimmt Dippel an, dass »die heilsame Gnade GOttes allen Menschen erschienen, daß Christus ein Licht sey, welches erleuchtet einen jeglichen Menschen, der in diese Welt kommt; [. . . ].« Democritus [= Dippel] (1710), S. 71. 176 Letztlich lässt sich nur eine Rettung Dippels rekonstruieren, wir wissen leider nicht, ob die Rettung beide, also Dippel und Spinoza, hätte umfassen sollen. Eine eigenständige Rettung zu Spinoza lässt sich redlicherweise wohl nicht rekonstruieren. 177 Demandt (2001), S. 24.
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Punkt bringen, kann man festhalten: Bayle verfolgte die Trennung von Religion und Moral und demonstrierte diese Möglichkeit anhand Spinozas, er galt ihm als der berühmte ›tugendhafte Atheist‹. Das Urteil beruft sich auf seine empirische Überprüfbarkeit. Die Folge dieser Einschätzung ist, dass zwei ›Naturen‹ in ein und derselben Person vereinigt sind, der ›moralische Mensch‹ und der ›Atheist‹.178 Diesem Urteil oder zumindest den sich daraus ergebenden Konsequenzen wollte sich Lessing nicht anschließen. Nun ließe sich fragen warum? Entweder sah er die Unmöglichkeit dieser Unterscheidung, die Bayle auf Spinoza anwandte, in dessen eigenem System als nicht begründbar. Das würde für die Seite Spinozas der Wahrheit entsprechen, dennoch lässt sich dieser Gedankengang Lessings nicht belegen. Wahrscheinlicher scheint, dass Lessing die vollständige Loslösung der Moral von der Religion nicht mitzutragen bereit war. Zwar lässt sich Moral auch ohne Religion denken, praktisch umsetzbar ist sie nicht wirklich. Bayle hatte es sich insofern einfach gemacht, als dass er sich gar nicht auf diese Suche nach einem gemeinsamen, die beiden nun getrennten Sphären vereinigenden Grund begeben hatte. Er konstatierte die Möglichkeit einer parallelen Existenz und sah sein Ziel erreicht.179 Lessings Anstrengungen um eine vernünftige Begründung der Religion im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen zielten in eine andere Richtung: Im Zentrum steht die Fundierung von Religion, nicht deren Abschaffung zugunsten einer säkularen oder rein philosophischen Morallehre. Hier befand sich Lessing zweifelsohne auf der Seite Dippels und Spinozas, die beide Moral erst aus der Teilhabe des Menschen am Göttlichen für möglich hielten (wenn auch, wie oben ausgeführt, aus je unterschiedlicher Perspektive). Zur Absicherung dieser These kann man eine kleine Schrift Lessings aus der Breslauer Zeit heranziehen, der in der Forschung zumeist mit Ratlosigkeit begegnet wurde. Gemeint ist Über die Wirklichkeit der Dinge ausser Gott.180 Der erste Satz dieser Abhandlung bringt sogleich Lessings eigene Überzeugung:
178 Siehe hierzu ausführlich Czelinski-Uesbeck (2007), S. 100–115. 179 Bollacher erkennt hier, dass »[. . . ] das Paradox des Bayleschen Spinozabildes, in dem Ketzerei und Humanität unvermittelt nebeneinander standen, [. . . ] Lessings Widerspruch [provozierte] und [. . . ] ihn auf die Seite Spinozas [trieb].« Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturm und Drang. Tübingen 1969 (Studien zur deutschen Literatur 18), S. 201. 180 Winfried Barner weist explizit darauf hin: »Die beiden Texte [Über die Wirklichkeit der Dinge ausser Gott und Durch Spinoza ist Leibnitz auf die Spur der vorherbestimmten Harmonie gekommen, M. M.], die mit den genannten Briefen Lessings und Mendelssohns vom Frühjahr 1763 einen kleinen Komplex für sich bilden, stehen heute fast ganz im Schatten der späten Auseinandersetzung um Lessings Spinozismus. Meist wird nur kurz darauf verwiesen, ein Spinoza-Studium sei
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Ich mag mir die Wirklichkeit der Dinge außer Gott erklären, wie ich will, so muß ich bekennen, daß ich mir keinen Begriff davon machen kann.181
Daran schließt sich eine Aporien-Reflexion an, die sämtliche Einwände gegen diese Überzeugung der Reihe nach widerlegt.182 Die Bedeutung dieses Unternehmens wird unmittelbar einsichtig, wenn man die Entwürfe Dippels und Spinozas dem Bayles gegenüberstellt. Die Teilhaftigkeit am Göttlichen ist die Voraussetzung für die Glückseligkeit des Menschen. Nur in Anlehnung an das Göttliche lässt sich eine Vollkommenheit des Menschen denken, die im Sinne eines Perfektibilitätskonzeptes zwar nie erreichbar sein wird, der man sich aber trotzdem annähern kann.183 Ob die Teilhabe am Göttlichen auf einer intellektuellen Ebe-
für die Breslauer Zeit ›belegt‹ (so etwa Höhle, S. 32), gewissermaßen als Frühstufe.« WuB 5/I, S. 803. Barner bezieht sich hier auf Thomas Höhle (Hg.): Lessing und Spinoza. Halle 1982. Gleiches ließe sich für einen Großteil der neueren Forschung ebenso festhalten, so etwa Louise Crowther: Freedom and Necessity: Spinoza’s Impact on Lessing. In: German Life und Letters 62 (2009), H. 4, S. 359–377; sowie Toshimasa Yasukata: Lessing’s philosophy of religion and the German Enlightenment. Lessing on Christianity and Reason. Oxford 2002 (American Academy of Religion reflection and theory in the study of religion series), S. 117–139; gleichfalls mit einem Schwerpunkt auf dem Spätwerk Johannes von Lüpke: Auf der Suche nach besseren Begriffen von Gott und Mensch. Überlegungen zum Zusammentreffen von lutherischer Theologie und spinozianischer Philosophie bei Lessing. In: Schürmann, Eva; Waszek, Norbert; Weinreich, Frank (Hgg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus 44), S. 171–191. Die Fixierung auf das Spätwerk hat allerdings Tradition, so schon bei Karl Rehorn: G. E. Lessing’s Stellung zur Philosophie des Spinoza. Frankfurt am Main 1877. Die einzige Ausnahme Allison (1982). 181 WuB 5/I, S. 401. 182 Zur Herkunft der einzelnen Positionen und derer Widerlegung im Detail siehe Gideon Stiening: »Werden Sie lieber ganz sein Freund«. Zur Bedeutung von Lessings Spinoza-Rezeption. In: Schürmann, Eva; Waszek, Norbert; Weinreich, Frank (Hgg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung. Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus 44), S. 193– 220, hier insb. S. 205ff. 183 »Es ist der in der Zeit vielfach bedachte Begriff der Perfektibilität, bezogen auf die Entwicklung der Einzelseele. Eine der bekanntesten Versionen stammt von Goezes neologischem Amtsbruder Johann Joachim Spalding. Spalding entwickelt die Vorstellung einer förmlichen Seelenkarriere, in der der Einzelne im Diesseits wie im Jenseits zu immer größerer Vollkommenheit sich läutern kann. Mag diese Vorstellung auch in der alten christlichen Seelenlehre wurzeln oder bei Spalding von ihr aufgefangen worden sein, so ist sie in ihren aktuellen Formen doch eindeutig eine Neuapplikation. Der in der Zeit immer wieder erörterte Gedanke der Palingenesie zum Beispiel folgt einer ähnlichen Grundstruktur.« Karl Eibl: Aporien-Reflexion. Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung. In: Friedrich, Hans Edwin; Haefs, Wilhelm; Soboth, Christian (Hgg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkur-
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ne, wie bei Spinoza, angesiedelt ist oder sich in der Nachfolge Christi und der Einhaltung der göttlichen Gebote manifestiert, stellt diesbezüglich keinen substanziellen Unterschied dar. Dippel ging sogar so weit, die Möglichkeit der Selbsterlösung auf dem Pfad der Tugend in Erwägung zu ziehen. Selig werden kann man – und Lessing folgt dieser Einsicht – letztlich nur in Gott.184 Mit der säkularen Moralphilosophie Bayles kann man zwar ein tugendhaftes Leben führen, wahre Glückseligkeit bleibt indes unerreichbar. So sehr Lessing Bayle in der Kritik der kirchlichen Autoritäten und ihrer Dogmatik auch folgte, seinen letzten, weil in seinen Augen zu einfachen Schritt mitzugehen, verbot er sich. Soweit zu den möglichen Motiven, die eine Abgrenzung von Bayle rechtfertigen würden. Der zweite Hinweis, den man verwerten kann, um das Koordinatensystem weiter einzuschränken, ist nach der Aussage Kloses, dass Dippel derjenige gewesen sei, »welcher in des Spinoza wahren Sinn am tiefsten gedrungen.«185 Diese Auskunft impliziert, dass Lessing für sich reklamierte, selbst den »wahren Sinn« Spinozas ergründet zu haben. Damit will nicht gesagt sein, dass Lessing in irgendeiner Weise einem Spinozismus nachhing. Ernst Cassirer hat das erstmals – und in meinen Augen nach wie vor richtig – unparteiisch auf den Punkt gebracht: Nun aber vollzieht sich in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts die merkwürdige Wendung, daß der einzige große Denker, der hier Spinoza wirklich verstanden hat, der seine Grundgedanken bis zum letzten durchdacht und kongenial erfaßt hat, an eben diesem Punkte [dem Verhältnis von Offenbarung und Rationalität] über ihn prinzipiell hinausschreitet. Lessing erst ist es gewesen, der das Bild Spinozas von all jenen Verzerrungen befreit hat, die es durch die theologischen und philosophischen Gegner erfahren hatte. Er sieht Spinozas Lehre in ihrer eigenen Gestalt; und er gibt sich, ohne Bedenken und Vorurteil, dieser Lehre hin; [. . . ].186
renzen. Berlin / New York 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 41), S. 1–13, hier S. 11. Bei der Handhabung des Begriffs ›Perfektibilität‹ ist Vorsicht geboten, kann er doch ganz unterschiedliche, sich bisweilen sogar widersprechende Konzepte beinhalten. Lessings Auffassung steht der Konzeption Rousseaus entgegen, wonach das Streben nach Vollkommenheit lediglich in potentia vorhanden ist. Er folgt damit seinem Freund Moses Mendelssohn, der als erster den zweiten Discours Rousseaus übersetzt und zuerst die aus seiner Sicht defizitären Punkte angesprochen hatte. Siehe hierzu die ausführliche Darstellung bei Günther Buck: Selbsterhaltung und Historizität. In: Koselleck, Reinhardt; Stempel, Wolf-Dieter (Hgg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5), S. 29–94, hier insb. S. 33ff. Lessing ging, auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit artikulierte, von einer notwendigen Entwicklung aus, die allerdings insofern ihr Ziel verfehlen kann, als der Mensch sich seiner Pflichten bewusst entzieht. 184 Einige Aspekte hierzu, vor allem im Hinlick auf das Spätwerk, beleuchtet Berger (2009). 185 KGL, S. 246. 186 Cassirer ([1932] 2007), S. 199.
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Wenn Lessing Dippel attestiert, dass er den Sinn Spinozas verstanden habe, so kann nur Dippels Kritik an Spinoza gemeint sein. Es muss demnach davon ausgegangen werden, dass er sich die Kritik Dippels an Spinoza zumindest in Teilen zu eigen machen konnte und überdies wollte. Die Grundlegung des Religiösen aus dem Geist des Mystizismus ist nach all den Bemühungen um eine natürliche Religion so unwahrscheinlich, dass man sie verwerfen kann. Was bleibt dann an Kritik? Dippel hatte immer die praktische Seite der Religion im Blick und bemängelte an Spinoza gerade die intellektuelle Komponente der Gotteserkenntnis. Die Aufgabe, der sich Lessing also aller Wahrscheinlichkeit nach stellen wollte, nachdem er die Systematik Spinozas als tragfähig anerkannt hatte,187 bestand gerade darin, das Welt- und Gottesbild Spinozas188 mit einem gelebten Christentum und der sich daraus ergebenden Moral zu vereinigen. Das wäre der von Cassirer ins Spiel gebrachte Schritt des Darüber-Hinausschreitens.189 Zur Erhärtung der Plausibilität dieser These können zwei Belege beigebracht werden, die mit den hier angestellten Überlegungen korrespondieren. Beginnen wir mit dem zeitlich näherliegenden. In einem Brief vom April 1763 an Moses Mendelssohn kommt Lessing auf die von seinem Freund geschriebenen und von ihm selbst in den Druck gebrachten Philosophischen Gespräche190 aus dem Jahr 1755 zurück. »Ich muß Ihnen gestehen,« so Lessing, »daß ich mit Ihrem ersten Gespräche seit einiger Zeit nicht mehr so recht zufrieden bin. Ich glaube, Sie waren da-
187 »[. . . ] ja es scheint, als ob er gegen Ende seines Lebens dem logischen Zwang und der systematischen Geschlossenheit dieser Lehre nichts Entscheidendes und Wesentliches mehr entgegenzusetzen hätte.« Cassirer ([1932] 2007), S. 199. Die Grundlagen für diese Anerkennung könnten in der hier besprochenen Beschäftigung liegen. Er sah wohl nichts Gefährliches in den Schriften Spinozas. Winfried Schröder hält fest, dass »Lessing [. . . ] sich nicht eigens auf die Zeit der Frühaufklärung bezogen [hat], sie aber wohl auch im Auge gehabt [hat], als er mit dem Bild des ›toten Hundes‹ das bis zu dieser Zeit vorherrschende Renommee Spinozas umschrieb. [. . . ] Das Bild bringt zwar nicht das Gefühl der Bedrohung auf Seiten der orthodoxen Theologie – nur lebendige Hunde beißen –, wohl aber die Geringschätzung Spinozas durch die erdrückende Mehrheit der Späteren auf die angemessene Formel.« Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987, S. 146. 188 Wichtig scheint hier insb. die Betonung einer »Unmöglichkeit eines transzendenten, absolut von der Welt verschiedenen Gottes« Stiening (2001), S. 205. 189 Dass es in der Ausarbeitung dieses Konzepts an begrifflicher Stringenz mangelt, bzw. dass eine solche Versöhnung auf systematischen Gebiet wohl nicht zu leisten ist, zeigt Stiening (2001). Sein Fazit, dass Lessing letztendlich in der Erarbeitung einer eigenen Philosophie gescheitert sei, mag aus Sicht des Philosophen durchaus richtig sein und einen Erkenntniswert an sich darstellen. Worum es Lessing bei seinen Bemühungen ging, vermag eine solche Analyse nicht zu erklären. Gerade dies steht hier im Zentrum des Erkenntnisinteresses. 190 Zur Publikationsgeschichte der Philosophischen Gespräche siehe Alexander Altmann (1969), S. 5–8.
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mals, als Sie es schrieben, auch ein kleiner Sophist, und ich muß mich wundern, daß sich noch niemand Leibnitzens gegen Sie angenommen hat.«191 Im Mittelpunkt von Lessings Brief steht die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele, das Spinoza als Identität versteht. Lessings Frage diesbezüglich lautet, wie dieser Identitätsbegriff mit der Harmonie-Lehre Leibniz’ in Verbindung gebracht werden kann, da Harmonie eine Unterscheidung von mindestens zwei separaten Entitäten fordert. Ihn interessiert gerade der Übergang zwischen beiden.192 Warum konnte gerade dieser Übergang Lessings erneutes Interesse an den alten Arbeiten des Freundes wecken? Es scheint nicht unplausibel, dass Lessings Frage auf ein Perfektibilitätskonzept zielte, das, gerade was die Bildung und Entwicklung der Seele betrifft, notwendig auf die Möglichkeit von Veränderung angewiesen ist. Diese Veränderung, die mit Spinozas Gottesbegriff und dem daraus folgenden strengen Determinismus nicht zu vereinbaren ist, aufzulösen, könnte einen wichtigen Schritt in Richtung eines vernünftigen Gottesbegriffes und der Fundierung der Moral in einem praktisch orientierten Christentum darstellen. Leibniz hatte diese Aporie einseitig zugunsten eines transzendenten Gottesbegriffes gelöst, der eine Teilhabe des Menschen an seiner Vollkommenheit nicht vorsieht. Gerade darauf aber legte Lessing besonderen Wert, was uns zum zweiten Beleg führt. Schon zu Zeiten, als Lessing noch keine genauere Kenntnis der Philosophie Spinozas hatte,193 unternahm er den Versuch, eine systematische Darstellung eines auf Vernunft begründeten Christentums auszuarbeiten. Die Grundidee ist seit dem Christentum der Vernunft unverändert geblieben, allein die Ausgangslage hat sich geändert.194 Bereits in der frühen Schrift finden wir ausgehend von der göttlichen Vollkommenheit Überlegungen, wie der Mensch an dieser Vollkommenheit teilhaben könnte. Der Lösungsweg, den der junge Lessing eingeschlagen hat, führt, wie bereits dargestellt, über seine Eigenschaft als moralisches Wesen.195 Nicht mehr ein selbstständiger Entwurf, der Anleihen aus der scholasti-
191 G. E. Lessing an Moses Menddelssohn, 17. 04. 1763. WuB 11/I, S. 384–387, hier S. 385. 192 »Spinoza denket dabei weiter nichts, als daß alles, was aus der Natur Gottes, und der zufolge, aus der Natur eines einzelnen Dinges, formaliter folge, in selbiger auch objective, nach eben der Ordnung und Verbindung, erfolgen muß. Nach ihm stimmt die Folge und Verbindung der Begriffe in der Seele, bloß deswegen mit der Folge und Verbindung der Veränderungen des Körpers überein, weil der Körper der Gegenstand der Seele ist; weil die Seele nichts als der sich denkende Körper, und der Körper nichts als die sich ausdehnende Seele ist.« Ebd., S. 386f. 193 Eva J. Engel: Relativ wahr? Jacobis Spinoza-Gespräch mit Lessing. In: Euphorion 93 (1999), S. 433–452, hier S. 450 194 Pätzold (1995), S. 104ff. war der erste, der auf eine mögliche Kontinuität hingewiesen hat. 195 Siehe hierzu das Grundlagen-Kapitel im Ineptus-Abschnitt (Kap. 4. 4. 1) dieser Arbeit.
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schen Philosophie mit eigenen Ableitungen kombiniert, sondern die Philosophie Spinozas wird zur dankbaren Folie, vor der sich der Gedankengang vollziehen könnte. Darüber, welchen Weg dieser Gedankengang nehmen würde, kann nur spekuliert werden. Daher noch eine letzte, abschließende Bemerkung, die sich wieder auf einen, wenn auch fragmentarischen Text beziehen kann. Klose stellte in seinem Brief nicht nur die Frage nach Lessings »Apologien«, sondern auch nach seinem Faust. Offensichtlich hatte Lessing an dem in den 1750er Jahren begonnen Projekt während seines Aufenthaltes in Breslau weitergearbeitet. Auf eine inhaltliche und strukturelle Ähnlichkeit zu den Rettungen weist Friedrich Vollhardt hin.196 Insbesondere, und das wurde in den einzelnen Kapiteln schon mehrfach angesprochen, muss uns die Gestaltung der Teufelsszene interessieren. Im Wettstreit um die Schnelligkeit erhält derjenige Höllengeist den Zuschlag, der so schnell ist »als der Übergang vom Guten zum Bösen«. Der Gelehrte Faust, der in den Szenen zuvor noch über scholastischen Problemen gesessen hatte (man darf hier vielleicht nicht ohne Grund an Lessings eigene Bemühungen im Christentum der Vernunft denken), wählt auf dem Weg zur Wahrheit einen Geist, der ein moralisches und damit intellektuelles Dilemma verkörpert. Wohl nicht ohne Grund, dramatisch gesehen, darauf weist Vollhardt hin, ist das nur wenig effektvoll.197 Dafür bietet sich eine Möglichkeit, an deren systematischer Darstellung Lessing bisher gescheitert ist, den »Grundfragen der Ethik in äußerster Zuspitzung«: Es sind, wenn man will, ›scholastische‹ Probleme, deren Lösung durch kein theologisches Konzil und keine philosophische Schule garantiert wird, was sie für eine poetische Darstellung um so mehr qualifiziert. Ein Faust-Drama bietet sich dafür an, einmal gründlich [. . . ] nach der Möglichkeit moralindifferenter Handlungen, dem Verhältnis von Gutem und Bösem oder Wahrheit und Tugend zu fragen.198
Der Weg zur Vollkommenheit und Glückseligkeit ist schmal, wie das Beispiel Fausts zeigt, dass er gangbar sein muss, stand für Lessing trotzdem außer Frage.199 Mit Dippel und Spinoza hatte Lessing zwei Philosophien auf die Tragfähigkeit zu einer Lösung des Dilemmas hin untersucht und zumindest mit dem Gedanken gespielt, diese in einer oder mehreren Rettungen weiter zu gestalten. Warum er darauf verzichtet hat, werden wir wohl nicht mehr ergründen kön-
196 Vollhardt (2006), S. 376–379. 197 Ebd., S. 378f. 198 Ebd., S. 380. 199 Friedrich Vollhardt sieht im Rekurs auf Nisbet darin die »zweite Dimension des Ethischen im Werk Lessings«. Vgl. auch Nisbet: Lessing’s Ethics (1993), S. 20, sowie ders.: Lessing and Philosophy. In: Fischer, Barbara; Fox, Thomas C. (Hgg.): A companion to the works of Gotthold Ephraim Lessing. Rochester, NY 2005, S. 133–154, insb. S. 141.
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nen. Zumindest mögliche Gründe für ein produktives Scheitern wurden hier angeführt. Produktiv insofern, als dass Lessing auch weiter Rettungen schrieb, in denen er selbst meist mehr gewann, als seine Verteidigten je verloren hatten.
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6 Der Denkstil im Spätwerk – eine kurze Skizze Herder sah in der Vorrede zu Lessings Magisterarbeit diesen schon »ganz kenntlich«.1 Nun kann man im Rückblick auf das Leben eines Menschen so manche scheinbare Kontinuität entdecken, die im Moment des Erlebens als außerhalb der Reihe stehend empfunden werden mag. Noch viel größer ist die Versuchung, Kontinuitäten im Falle eines Dichters oder Denkers im Sinne einer konsequenten, mitunter sogar notwendigen Entwicklung zu interpretieren. Dieser teleologisch motivierten Beschreibung hat sich die Arbeit in der Sichtung des lessingschen Frühwerkes bewusst versagt. Umso mehr Vorsicht ist geboten, wenn hier der Blick auf vergleichsweise späte Schriften gelenkt wird. Der Eindruck, dass hier eine notwendige Entwicklung aufzuzeigen wäre, soll gerade vermieden werden. Es geht mir auch um etwas völlig anderes. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich der Denkstil ›Rettung‹ im Laufe von Lessings Leben und Schaffen von der Form emanzipiert hat. Was ursprünglich in der Adaption der formalen Vorgaben angeeignet und damit erst zu eigen gemacht wurde, bleibt im Arsenal der Methodik erhalten. Der Zugewinn ist die freie und somit wesentlich variablere Verfügbarkeit im Umgang mit dem Material. Der Vollzug des Urteils ergibt sich nach wie vor in der Auseinandersetzung mit divergierenden Positionen und deren jeweiligen Vertretern; der Akt des In-Schutz-Nehmens vor ungerechtfertigten und vorschnellen Urteilen bleibt auch im Spätwerk sichtbar. Die Entwicklung der Gedankengänge, die Lessing uns präsentiert, vollzieht sich weiterhin auf einer Ebene der Konfrontation. Es gilt diesen Begriff des ›Denkstils‹ gegen zwei Positionen der Forschung abzugrenzen, um nochmals deutlich zu machen, worin der qualitative Mehrwert in der Beschreibung besteht. Dabei sollen diese keinesfalls diskreditiert werden, sie haben beide ihre Berechtigung. Zum einen wäre eine Form der intentionalen Handlungszuschreibung und der daran anknüpfenden ›funktionalen‹ oder ›funktionalistischen‹ Lesart der Texte zu nennen: Lessing hat den Vorsatz, eine bestimmte verleumdete Person zu retten. Zwar gruppieren sich auch die späten Schriften um Personen, jedoch wird der Vorsatz der Rettung nicht mehr explizit verbalisiert, wie das noch in den frühen Rettungen der Fall war. Ein deutliches Indiz hierfür ist, dass in den jeweiligen Titeln sämtlich auf den Begriff der Rettung verzichtet wird. Vielmehr schwingt das, was wir aus den frühen Schriften kennen, unterhalb der eigentlichen Textoberfläche mit. Die Assoziation mit den Rettungen findet unisono statt, wenngleich sich die textuellen Merkmale dafür rar machen. Das juristische Vokabular etwa taucht in weitaus spärlicherem
1 Herder (1993 [1781]), S. 690.
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Umfang auf, ebenso ist die Inszenierung eines Gerichtsprozesses nur rudimentär erkennbar. Nichtsdestotrotz bleibt die Methode, etwas im klaren Lichte der Vernunft (scheinbar) unvoreingenommen zu prüfen, erhalten. Der zweite Punkt ist am ehesten als eine an die Biographie sich anlehnende Erklärung zu bezeichnen. Hugh Barr Nisbet geht in seiner Biographie im Zusammenhang mit dem vielfach erwähnten Konzept der ›Rettung‹ von einer charakterlichen Konstante der Person Lessings aus. So unmittelbar einleuchtend und richtig das nach all dem hier Ausgeführten ist, so beraubt sich die Zuschreibung an den Charakter meiner Meinung nach einer Chance, die zu versäumen man sich nicht leisten sollte. Sowohl der Vorsatz als auch die Charaktereigenschaft bleiben an die real existierende Person Gotthold Ephraim Lessing gebunden, wohingegen das, was ich als Denkstil bezeichne, die Möglichkeit beinhaltet, über die Ebene der Einzelperson hinaus wirksam zu werden, wenngleich es sich auch der praktischen Auseinandersetzung einer Person mit bestimmten Themen verdankt. Der ›private‹ Denkstil wird zu einer Denkgewohnheit, die vielen offensteht, ohne dabei auf eine direkte Imitation Lessings angewiesen zu sein. Gewohnheiten sind gerade von der Pflicht entbunden, sich ihrer Herkunft stets aufs Neue zu vergewissern. Der Begriff des Denkstils zielt darauf ab, jenen Anteil Lessings an der Aufklärung oder seinen Einfluss auf dieselbige zu bestimmen, der sich der Praxis verdankt, jedoch darüber hinaus zu einer freien Praktik, der der kritischen Rationalität im Sinne des modus tollens wird.2 Das Modell des Denkstils wäre demnach in einem Dreischritt zu denken. Erstens: die persönliche Aneignung, vermittelt oder gebunden an eine bestimmte Form; zweitens: die Emanzipation von der Form und damit einhergehend eine freie Verfügbarkeit für den Einzelnen; schließlich drittens: die Loslösung von den Ursprüngen und der Übertritt in den Modus einer allgemeinen Methodik. Im Folgenden soll die zweite dieser Phasen in einer begrenzten Auswahl genauer in den Blick genommen werden. Dass hier keine Übersicht für das Spätwerk geliefert werden kann, ist unmittelbar einsichtig, umso mehr bedarf die Auswahl der hier mit den Rettungen in Verbindung gebrachten Texten einer Rechtfertigung. Trotz der vorgenommenen Auswahl wird eine Besprechung der Texte in extenso nicht angestrebt, es soll vielmehr in einzelnen Schlaglichtern die Manifestation des Denkstils vor Augen geführt werden. Die Schrift Von Adam Neusern einige authentische Nachrichten
2 Siehe hierzu auch Karl Eibl: Von der dogmatischen zur kritischen Rationalität. In: Mauser, Wolfram; Saße, Günter (Hgg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. [Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio / USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau.] Tübingen 1993, S. 238–247.
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bildet den programmatischen Auftakt des Fragmentenstreits, auf den hier nicht näher eingegangen werden soll. Sie stellt aber nochmals einen Häretiker vor, der im kollektiven Gedächtnis des 18. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle für sich beansprucht und einen dem Fragmentisten nicht unähnlichen Lebensweg vorzuweisen hat, zumindest was die zunehmende Skepsis in Religionssachen betrifft. Die Adam-Neuser-Schrift wurde ebenso selbstverständlich wie die weiteren hier noch zu besprechenden Traktate in der Forschung den Rettungen zugeschlagen. Dabei sind sie in einigen Gesichtspunkten durchaus abweichend. Insofern scheint es angebracht, die Unterschiede gerade an den eng verwandten Schriften aufzuzeigen, ohne diese im gleichen Maße ausführlich zu behandeln, wie die frühen Rettungen. Von da ausgehend, so steht zu hoffen, lassen sich Strukturen des Denkstils auch in anderen, nicht genuin den Rettungen zugeordneten Schriften erahnen. Die Aufgabe, die sich zum Abschluss stellt, kann nur sein, die früh an einer Form angelehnte Arbeitsweise Lessings dergestalt darzustellen, die etablierte Herangehensweise, den »Moment des Aufschlusses«3 auch in den späten Texten als wirksam sichtbar zu machen. Die Ausgangsposition ist dabei eine ähnliche wie in den frühen Rettungen. Lessing schreibt seine Texte aus der Bibliothek heraus. Diesmal aber nicht mehr als heimlicher, nur geduldeter Gast, sondern als Verantwortlicher für die Bestände der Herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel. Die späten ›Rettungen‹ sind der gelehrte Ertrag des ungeliebten Brotberufes in der nie zur Heimat gewordenen provinziellen Herzogsresidenz. Es sind Gesprächsangebote an Freunde und Kritiker.
6.1 Von Adam Neusern oder der programmatische Auftakt zum Fragmentenstreit Von Adam Neusern, einige authentische Nachrichten eröffnet den dritten Teil der von Lessing in seiner Funktion als Bibliothekar ins Leben gerufenen Reihe Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Zu wesentlich größerer Berühmtheit ist der zweite Beitrag innerhalb des Bandes gelangt. Es ist die erste Lieferung der Fragmente eines Ungenannten, die Teile der reimarusschen Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes erstmals einem Publikum vorstellt.4 Während die Forschungsliteratur zum
3 Henrich (2011), S. 20ff. 4 Zur Entstehung und Rezeptionsgeschichte siehe Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009 (Beiträge zur historischen Theologie 145).
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Fragmentenstreit Regalmeter um Regalmeter füllt,5 blieb die Schrift über den Heidelberger Antitrinitarier aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowohl unter den Zeitgenossen6 als auch in der neueren Forschung beinahe wirkungslos. Letztlich war es die positivistisch orientierte Forschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die der Schrift Lessings und damit dem Fall Adam Neuser Interesse entgegenbrachte. Es ging in erster Linie darum, fehlende Details zu ergänzen und neue Quellen beizubringen.7 Auf diese Funde aufbauend hat sich die neuere Forschung dann auch weniger dem lessingschen Text gewidmet, sondern Fragestellungen im Bereich der Antitrinitarismusforschung8 oder dem interkulturellen Kontakt in der Frühen Neuzeit9 erarbeitet. Die Gründe für die geringe Beachtung dürften ähnlich gelagert sein, wie bei den frühen Rettungen. Der Gegenstand ist aus heutiger Sicht in einem abseitigen Teil der Kirchengeschichtsschreibung anzusiedeln, die Argumentation Lessings ist kompliziert und detailversessen; viele Schlüsse, deren zugrundeliegende Prämissen man nur undeutlich erkennt oder die man sich zuerst rekonstruieren muss, verkomplizieren die Lektüre zusätzlich. Ein direkter und ungehinderter Zugang zum Gehalt der Schrift ist, jenseits von
5 Ich verzichte hier auf die Nennung einzelner Titel und verweise stattdessen auf den Eintrag im Lessing-Handbuch, der ausführlich die neuere Literatur verzeichnet. F (2010), S. 408–441. 6 Die einzige Besprechung, die näher auf die Schrift eingeht und deren Gewichtung deutlich auf diese ausgelegt ist, findet sich in den Erlangischen gelehrte Anmerkungen und Nachrichten vom 24. 01. 1775. Dort heißt es abschließend: »Endlich bemerckt Herr L. daß Neuser weder an der Pest noch an den Franzosen, sondern an der rothen Ruhr, mitten unter seinen Freunden, im Trunke gestorben, und daß sein Charakter zwar nicht gut und erbaulich, aber auch nicht so lüderlich und eckelhaft gewesen sey, als seine Gegner ausgeben.« Zitiert nach B 2, S. 40–43, hier S. 42. 7 Zu nennen sind hier Karl Wild: Adam Neuser oder Leben und Ende eines Lichtfreundes aus früherer Zeit. Bern 2 1878; Georg M. Veesenmeyer: Noch etwas von Adam Neuser. In: Theologische Studien und Kritiken 2 (1829), H. 3, S. 553–559; Theodor Wotschke: Zur Geschichte des Antitrinitarismus. In: Archiv für Reformationsgeschichte 23 (1926), S. 82–100; Curt Horn: Joh. Sylvanus und die Anfänge des Heidelberger Antitrinitarismus. Ein Beitrag zur pfälzischen Kirchengeschichte. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 17 (1913), S. 219–310; Hans Rott: Neue Quellen für eine Aktenrevision des Prozesses gegen Sylvan und seine Genossen. In: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfalz 9 (1911), H. 1, S. 1–70. Eine nicht ganz vollständige Bibliographie findet sich bei Christopher J. Burchill: The Heidelberg Antitrinitarians: Johann Sylvan. Adam Neuser. Matthias Vehe. Jacob Suter, Johann Hasler. Baden-Baden und Bouxwiller 1989 (Bibliotheca Dissidentium 11). 8 Antal Pirnát: Die Heidelberger Flüchtlinge (Neuser und Glirius). In: ders.: Die Ideologie der Siebenbürger Antitrinitarier in den 1570er Jahren. Budapest 1961, S. 117–134. 9 Raoul Motika: Adam Neuser. Ein Heidelberger Theologe im Osmanischen Reich. In: Prätor, Sabine; Neumann, Christoph K. (Hgg.): Frauen, Bilder und Gelehrte. Studien zu Gesellschaft und Künsten im Osmanischen Reich. Festschrift Hans Georg Majer. 2 Bde. Istanbul 2002, Bd. 2, S. 523– 538.
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pauschalisierenden Urteilen über Toleranz und den Kontakt zum Islam, kaum möglich. Vor dem Hintergrund der erarbeiteten Ergebnisse gestaltet sich der Zugriff deutlich leichter. In dem Theologen Adam Neuser (um 1530–1576)10 verteidigt Lessing eine der problematischsten Figuren der Theologiegeschichte. Der Verlauf der Ereignisse und damit einhergehend auch das Urteil über Neuser waren allgemein bekannt, es war ein spektakulärer Fall. Adam Neuser, ein Prediger im lutherischen Heidelberg war innerlich tief zerrissen und von Zweifeln ob dem Dogma der Trinität erfüllt. Schon einmal hatte er die Konfession gewechselt und war der reformierten Seite beigetreten. Ein unsicheres Gefühl blieb dennoch zurück. Nach und nach wurde er zu einem überzeugten Unitarier und entfernte sich dabei immer weiter von der Glaubensgemeinschaft, die ihm bis zu diesem Zeitpunkt Heimat und Arbeitgeber war. Die Beschäftigung mit dem Islam, der unitarischen Religion schlechthin, war so nur eine logische, wenn auch gewagte Konsequenz. Der Koran lag seit 1543 in einer lateinischer Fassung, die der Baseler Gelehrte Theodor Bibliander besorgt hatte, vor und konnte wohl vergleichsweise leicht über das ebenfalls reformierte Basel, wo die Ausgabe auch erstmals gedruckt wurde,11 bezogen werden. Und den in einer Glaubenskrise befindlichen Neuser schien zu überzeugen, was er dort zu lesen bekam. Aus der Beschäftigung mit dem Islam resultiert sein Platz in der Theologiegeschichte. Zusammen mit einigen Freunden – Johann Sylvanus, Matthias Vehe und Jacob Suter – hatte sich Neuser immer tiefer in die Zweifel an der Trinitätslehre verstrickt und sah sich zum Handeln genötigt. Nachdem er erfolglos versucht hatte, in Siebenbürgen,12 wo Antitrinitarier immerhin geduldet waren, eine Anstellung zu finden, griff er zu einem weit radikaleren Mittel. Im März 1570 setzte er einen Brief an den türkischen Sultan Selim II. auf und und bat ihn, das Reich zu überfallen und von den Ungläubigen zu befreien. Er selbst sei, zusammen mit vielen anderen bereit, die türkischen Truppen zu unterstützen. Nichts weniger als Hochverrat beging Neuser mit diesem lediglich aufgesetzten Brief, schenkt man den Akten der Anklage Glauben. Der Brief wurde abgefangen und Neuser inhaftiert.13 Nach einer spektakulären Flucht wur-
10 Siehe BBKL 4, Sp. 653–655. 11 Siehe hierzu Martin Steinmann: Johannes Oporinus. Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Basel 1967 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 105), S. 20–30. Dort auch einiges zu den Bedenken und Schwierigkeiten bis hin zur Zensur, die die Drucklegung begleiteten. 12 Siehe hierzu Pirnát (1961). 13 Zu den genauen Umständen, die sich durch mehrere Neufunde von Autographen Neusers in der Forschungsbibliothek Gotha nun besser erhellen lassen, als dies noch zu Lessings Zeiten der Fall war, siehe die ausführliche Rekonstruktion bei Martin Mulsow: Fluchträume und Konversi-
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de Neuser ein zweites Mal, nachdem er scheinbar freiwillig zurückgegekehrt war, inhaftiert. Die Familie war nach wie vor in Heidelberg, so dass dieser Entschluss nachvollziehbar wäre. Als aber Johann Sylvanus, der mit Neuser verhaftet worden war, am Tag vor Weihnachten des Jahres 1572 enthauptet wurde, musste Neuser ernsthaft um sein Leben fürchten. Ihm gelang zum zweiten Mal die Flucht. Sie führte Neuser zurück nach Siebenbürgen und nach London, er wurde ebenso in Paris gesehen und kam schließlich nahe an die Grenze des Osmanischen Reiches. Sein Weg führte ihn also nicht geradlinig nach Osten, wie man hätte vermuten können. Auch der Grenzübertritt war mehr ein tragisches Ungeschick denn eine geplante Tat. Neuser wollte einen Text drucken lassen und musste sich dafür in das Grenzgebiet begeben. Aufgrund eines angeblichen Übertritts wurde er verhaftet und nach Buda überstellt. Als er aussagte, dass er nach Konstatinopel gehen und zum Islam konvertieren wolle, ließ man ihn in Begleitung ziehen. So trat Neuser, in Konstantinopel angekommen, tatsächlich zum Islam über und ließ sich beschneiden. Inwieweit dieser Schritt aus tiefer Überzeugung erfolgte, ist nur schwer zu beurteilen. Es gibt auch Berichte, er sei bis zuletzt im Herzen Christ geblieben. Unzweifelhaft hingegen ist, dass ihm der Übertritt zum Islam soziale und ökonomische Vorteile versprach. Er fand eine Anstellung als Übersetzer und arbeitete am Hof des Sultans. Nach mehreren gescheiterten Versuchen zurück in die Heimat und damit zu seiner Familie zu gelangen, verstarb Neuser, schwer alkoholkrank, 1576 in Konstantinopel infolge einer Erkrankung an der roten Ruhr. Soweit eine kurze Darstellung von Adam Neusers Leben. Dass die Vita Adam Neusers eine denkbar dankbare Vorlage bot, den moralischen Zeigefinger zu erheben, ist unmittelbar einsichtig. Am eindrücklichsten, vor allem wegen der Kürze der Darstellung, zeichnet Jacob Friedrich Reimmann den Abstieg Adam Neusers in seiner Historia universalis atheismi nach. Adam Neuser »ex Orthodoxo factus est Arrianus, ex Arriano Muhamedanus, ex Muhamedano Atheus«.14 Beinahe logisch scheint ein Schritt auf den nächsten zu folgen, die Häresien entfernen sich immer weiter vom Christentum, was schließlich in einem konsequenten Atheismus endet. Auf die moralische Dimension dieses Urteils wurde bereits mehrfach hingewiesen. Lessing hat auf einen anderen biographischen Artikel zurückgegriffen und damit seine früh begonnene Kritik an Jöchers Gelehrten-Lexicon fortgesetzt. Der Artikel bei Jöcher zeichnet Adam Neuser in den hässlichsten Zügen und dient als idealer Einstieg für Lessing. Jöcher be-
onsräume zwischen Heidelberg und Istanbul: Der Fall Adam Neuser. In: ders. (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten: Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Köln / Weimar 2013 [i. Dr.]. 14 Reimmann (1992 [1725]), S. 501.
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schreibt Adam Neuser als »ein[en] merkwürdige[n] Apostata«,15 der »sonderlich dem Trunke sehr ergeben war«. Man sieht an dieser ersten Einschätzung bereits die Verquickung von Religion und Leben. Jöcher geht aber noch viel weiter: Er war ein wollüstiger Mensch, ein Trunkenbold und ein rechter Atheist, deswegen er auch von den Türken nicht weniger verachtet, als von den Christen gehaßt wurde. Seine lüderliche Lebensart stürtzte ihn in eine schändliche Krankheit, da er von Würmern gleichsam gefressen ward, und einen so abscheulichen Gestank von sich gab, daß ihm kein Mensch nahe kommen wollte, bis er endlich mit erschrecklicher Verfluchung Gottes und aller Religionen, den 15ten October 1576 zu Constantinopel starb.16
Was Jöcher dem Leser hier bietet, ist ein vernichtendes Urteil über den Lebensweg eines gottlosen Menschen, dessen Ende man durchaus als ein vorweggenommenes Strafgericht deuten kann. Mitleid für den Menschen Neuser findet sich nicht. Viel schlimmer für Lessing aber wiegt neben der Beurteilung zunächst die Art und Weise, wie dieses Urteil zustande gekommen ist. Jöcher hat sich bei seinen Vorgängern bedient, sie vielmehr lediglich abgeschrieben. Aufgrund dieser, nicht selbst erarbeiteten Basis eine Verdammung auszusprechen, ist für Lessing nachgerade unerträglich. Die moralische Belehrung ist nicht mehr als die Vorstellung eines Exemplums, »ein Blümchen für die Kanzel«, denn: »Der Geschichtsschreiber verlangt Wahrheit, oder doch wenigstens Wahrscheinlichkeit.«17 Dieser Wahrheit kommt Lessing ein Stück näher, indem er neu aufgefundene Dokumente aus der Wolfenbüttler Bibliothek präsentieren kann. Nicht mehr weitgehend unbekannte, wenn auch gedruckte Quellen, wie vormals in den Rettungen, bilden nun Lessings argumentatives Grundgerüst, sondern neue Manuskriptfunde, die der Öffentlichkeit zum ersten Mal überhaupt vorgelegt werden. Das ändert stillschweigend auch die Vorgehensweise, die als bisher geläufige angesehen werden muss. Anstatt auf theoretisch jedem zugängliches Evidenzmaterial zurückzugreifen, hält Lessing nun den Trumpf der originären Forschungsleistung in Händen. Gegen neue Quellen ist es wesentlich schwieriger zu argumentieren, als gegen neue Deutungen bekannter Texte. Insofern wird, zumindest für eine bestimmte Zeitspanne, die neu entdeckte Quelle selbst zum besten Argument. Und nicht zuletzt verrät sie den Fleiß und das ehrliche Anliegen, einen von der Geschichte
15 Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Darinne die Gelehrten aller Stände sowohl männ- als weiblichen Geschlechts, welche vom Anfange der Welt bis auf ietzige Zeit gelebt, und sich der gelehrten Welt bekannt gemacht, Nach ihrer Geburt, Leben, merckwürdigen Geschichten, Absterben und Schrifften aus den glaubwürdigsten Scribenten in alphabetischer Ordnung beschrieben werden. 4 Bde. Leipzig 1750–1751, hier Bd. 3, Sp. 887f. 16 Ebd. 17 WuB 8, S. 80.
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Verfemten zu rehabilitieren. Auf die einzelnen Argumente, die Lessing aus seinem Fund gewinnt, möchte ich nicht näher eingehen, sondern sogleich auf die Absicht, die hinter der Schrift, auf einer zweiten, nicht explizit ausgesprochenen Ebene zu finden ist, abzielen. Lessing will eine grundsätzliche Anmerkung machen, die er exemplarisch an der Lebensgeschichte Neusers und dessen moralischem Charakter demonstriert: die fundamentale Unterscheidung zwischen Zeugnis und Nachrede. »Mich ekelt,« schreibt er, »gegen alte Weiber zu streiten.«18 Gemeint sind in diesem speziellen Fall Jöcher und Heineccius, jedoch könnte man unzählige weitere Namen aus dem lessingschen Werk anführen, die er wohl ebenfalls unter diese wenig schmeichelhafte Rubrik subsumiert hätte. Zu oft wird, wie schon weiter oben erwähnt, die erste Pflicht des Geschichtsschreibers – Streben nach Wahrheit oder zumindest Wahrscheinlichkeit in der Darstellung – verletzt. Diese Tugenden müssen jeder Person gegenüber gelten, egal wie abstoßend man auch sonst ihre Auffassungen finden mag. Lessing, das darf man wohl ohne weitere Belege konstatieren, teilte die Auffassungen Neusers nicht, umso wahrhaftiger wirken seine Ausführungen. Sie sind weit mehr als eine Parteinahme, wie wir sie in Teilen noch in den frühen Rettungen gesehen haben. Abstrahiert man von der Position, bleibt die Integrität der Person, die in keinem Fall diskreditiert werden darf. Der argumentative Aufwand dafür ist hoch. Lessing rechtfertigt diesen Aufwand, indem er auf andere Fälle verweist, etwa auf die Verleumdungen, die sich mit der Person Michel Servets verbinden. Niemand Geringerer als Leibniz hatte Sympathie für diesen Vorkämpfer des Antitrinitarismus, und das ganz und gar nicht wegen dessen religiösen Überzeugungen, sondern wegen seines Intellektes. Ebenso empfindet Lessing für Neuser, wie er selbst bemerkt: Ich habe umso viel mehr Mitleiden mit Neusern, da ich finde, daß er noch etwas mehr als ein Antitrinitarier gewesen; daß er auch ein guter mechanischer Kopf gewesen zu sein scheint, indem er an einer Erfindung gearbeitet, die mit der etwas ähnliches haben musste, die hundert Jahr hernach selbst Leibnitzen einmal durch den Kopf ging.19
Lessing plädiert hier ganz deutlich dafür, einen Menschen nicht auf ein einziges Wesensmerkmal zu reduzieren. Dann ist man beinahe automatisch davor gefeit, ungerechte und vor allem ungerechtfertigte Schlüsse zu ziehen, die eine Person in Gänze zu diskreditieren vermögen. Eine letzte Bemerkung über die Präsenz des Denkstils ist noch angebracht. Was rettet Lessing hier und in welchem Verhältnis steht es zu Teilen seines üb-
18 Ebd., S. 114. 19 Ebd. (Hervorhebung M. M.).
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rigen Werkes? Mit Adam Neuser hat man in der Darstellung Lessings einen Menschen vor sich, den ernsthafte Zweifel an seiner Religion quälten und der für sich einen Ausweg aus diesem Dilemma suchte. Das ist keine Kleinigkeit, die man lapidar als Häresie oder bloßes ›Apostatentum‹, wie Jöcher meint, abstempeln darf. Hier hatte ein Mensch ein gravierendes, sein Seelenheil betreffendes Problem, ein wahres menschliches Drama. Im Rückgriff auf die Kategorie des Mitleids, die Lessing in seiner Dramentheorie entwickelt hatte, und die auch hier eine zentrale Rolle spielt, sehen wir die nicht-poetischen Konsequenzen, die er aus dieser Konzeption zieht. Theater und Leben vermischen sich. Auf ihn selbst angewandt, sieht man, wie eng verwandt sich Lessing seine Dramentheorie mit der Praxis verknüpft vorstellte. In seinem Briefwechsel über das Trauerspiel kommt Lessing zu dem Schluss: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.«20 Hier sehen wir, wie in der Form der Rettung, die für sie charakteristische dialogische Nähe, bei gleichzeitiger Distanz, wirksam wird. Eine Rettung erfordert keine uneingeschränkte Zustimmung, der wesentliche Kern findet sich auf einer Ebene jenseits des Inhalts. Dramen finden eben nicht nur auf der Bühne statt.
6.2 Kontinuitäten: drei Funde – drei Rettungen? Wer sich aktiv um Wahrheit bemüht und unter Wahrheit mehr als das schon immer für wahr Gehaltene versteht, kommt in einer historischen Perspektive gar nicht umhin Rettungen zu verfassen. Auffällig im Falle Lessings jedoch ist, dass alle seine Rettungen personenzentriert sind. Der Mensch bleibt der Meinung vorgeordnet und bildet somit das unausgesprochene Zentrum, auf das sich Aufklärung zu richten hat. Im Spätwerk zeigt sich der Wahrheitssucher Lessing noch einmal in ganzer Gestalt, sind es doch wiederum Personen, die seinen gelehrten Abhandlungen die Titel geben und einzig und allein die Rechtfertigung der Beschäftigung mit den Themen bilden. Kämpfe, die sich darin erschöpfen, recht zu haben und recht zu behalten, sind es gerade nicht. Die drei noch zu erwähnenden Abhandlungen verdanken sich alle, ebenso wie die Schrift zu Adam Neuser, Funden in der Wolfenbütteler Bibliothek. In der Reihenfolge ihres Erscheinens sind dies: Berengarius Turonensis oder die Ankündigung eines Werkes desselben (1770) als selbständige Publikation sowie die – in der von Lessing initiierten und besorgten Reihe Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Biblio-
20 Siehe hierzu als ersten Ausgangspunkt einer komplexen Konzeption den Beitrag von HansJürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980.
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thek zu Wolfenbüttel zuerst veröffentlichten – Schriften Leibnitz von den ewigen Strafen (Januar 1773) und Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (Oktober 1773). Obgleich alle diese Schriften einer genaueren Untersuchung ohne Zweifel wert wären, können hier nur einige Streiflichter darauf geworfen werden, die primär die Unterschiede zu den frühen Rettungen betonen. Hätte man nicht das lessingsche Gesamtwerk vor Augen, so fiele es wohl schwer, die vorliegenden Schriften ohne weiteres als Rettungen zu identifizieren. Blickt man nüchtern auf dieselben, käme man ohne größere Umschweife zu dem Schluss, dass es sich um Editionen bisher unbekannter Texte handelt, die erstmals einem breiteren Publikum vorgestellt werden sollten und dementsprechend mit einer Einleitung versehen wurden. Besonders deutlich wird dies im Falle des Berengarius Turonensis. Das Leben des Berengar von Tour (Anfang 11. Jahrhundert bis 1088) durfte unter den Lesern als bekannt vorausgesetzt werden, zumal er in der lutherischen Theologie eine nicht unprominente Rolle spielte. Er war einer der ersten, der fundamentale Zweifel an der Leib- und Blut-Werdung und damit der substanziellen Präsenz Christi im Abendmahl hegte und auch artikulierte.21 Insofern wurde er von der lutherischen Orthodoxie dankbar als Vorreiter, als Lutheraner vor Luther aufgegriffen. Er bot die Folie, vergleichsweise ›moderne‹ Ideen schon bei mittelalterlichen Denkern vorgeprägt zu finden.22 Der Kampf, den Berengar für seine Version der Lehre ausgefochten hatte, blieb über weite Strecken seines Lebens bestimmend. Mehrfach wurde er wegen Häresie angeklagt und zum Widerruf gezwungen. Bis zu Lessings Fund wurde angenommen, dass Beregar von der römischen Kirche zum Schweigen gebracht wurde, ein letztes Zeugnis für die Beständigkeit seines Glaubens und seiner Lehre fehlte. Dieses fehlende Zeugnis, das Rescriptum contra Lanfrancum, konnte nun Lessing mit seinem Fund liefern.23 Diese Schrift als eine Rettung zu bezeichnen ist nicht ganz unproblematisch. Bringt Lessing doch den Nachweis, dass Berengar sich durchaus selbst zu helfen wusste und einer Rettung im eigentlichen Sinne nicht bedurf-
21 Unverzichtbar in diesem Zusammenhang ist nach wie vor die wegweisende Studie von Jean de Montclos: Lanfranc et Bérenger. La controverse eucharistique au XIe siècle. Leuven 1971 (Spicilegium Sacrum Lovaniense 37). Eine Zusammenstellung von Einzelbeiträgen zum Werk Berengars findet sich bei Peter Felix Ganz u. a. (Hgg.): Auctoritas und Ratio. Studien zu Berengar von Tours. [Vorträge gehalten anlässlich eines Arbeitsgespräches vom 2. bis 6. Oktober 1988 in der Herzog-August-Bibliothek]. Wiesbaden 1990 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 2). 22 Zum Problem dieses vermeintlichen Anachronismus siehe Kurt Flasch: Aufklärung im Mittelalter. Zur Einführung. In: ders.; Jeck, Reinhold Udo (Hgg.): Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter. München 1997, S. 7–17. 23 Der Datierung der Schrift kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, deren Nachweis den Großteil der Abhandlung bestimmt.
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te. Weitaus schwerer aber wiegt, dass »Lessing hier Partei für eine lutherische Auslegung des Abendmahls zu nehmen [schien], und das mitten in einer Zeit, in der aufgeklärte Theologie auch im Luthertum eher dazu neigte, die Differenzen der Reformationszeit in dieser Frage einander anzugleichen [. . . ].«24 Die Rettung, wenn man sie als solche bezeichnen will, schlägt um in einen Angriff auf zeitgenössische Interpretationen und Meinungen. Insofern ist eine Teilhabe an der Tradition der Rettungen nicht zu bestreiten. Die Richtung, in die sie zielt, ist zunächst überraschend. Sie ist konservativer ausgerichtet, als man es bei Lessing vermuten würde. Doch ist das, was in einem ersten Moment reaktionär anmutet, aus der Sicht Lessings nur konsequent. Erinnert man sich an seine frühen Schriften, insbesondere an seine Kritik der Apologetik, kann es kaum verwundern, dass das vorschnelle Aufgeben oder Aufweichen einer an und für sich vernünftigen Position die Kritik Lessings provozierte.25 Wenn Lessing hier etwas an der Person des Berengar rettet, dann seine Fähigkeit Gedanken konsequent zu Ende zu denken und die notwendig daraus resultierenden Schlüsse zu ziehen. Ebenso reaktionär und aus der Zeit gefallen scheint die zweite Schrift, Leibnitz von den ewigen Strafen. Im Jahr 1773 war wohl selbst der strengste Vertreter der Orthodoxie erstaunt, als Lessing verkündete, die Ewigkeit der Höllenstrafen sei nichts weniger als vernünftig. Der Anlass der Schrift war wohl ein doppelter: Zum einen fand Lessing in der Bibliothek einen unveröffentlichten Text seines Amtsvorgängers Leibniz, der sich in Gestalt einer Vorrede zu Ernst Soners Theologisch philosophischem Beweis, daß die ewigen Strafen der Gottlosen nicht für die Gerechtigkeit Gottes, sondern für seine Ungerechtigkeit sprechen mit dieser Thematik auseinandergesetzt hatte.26 Die von der gängigen Kirchenlehre abweichende Meinung des frühen Sozinianers Ernst Soner und die Einwände Leibniz’ waren die unmittelbaren Gründe für die Publikation des Textes. Ein zweiter, in die zeitgenössische Debatte zum Thema eingreifender Grund, mag der bei Weitem wichtigere sein. Johann August Eberhard hatte kurze Zeit zuvor (1772) seine Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Heiden vorgelegt,
24 Volker Leppin: Ein mittelalterlicher Fund für das aktuelle Gespräch. Lessings »Berengarius Turonensis«. In: Bultmann, Christoph; Vollhardt, Friedrich (Hgg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 88–103, hier S. 88. Dass die Publikation nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten ging, zeigt Klaus Bohnen: Grenzsetzungen. Zensur-Kritik und Selbstzensur bei G. E. Lessing. In: Haefs, Wilhelm; Mix, York-Gothart (Hgg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007 (Das achtzehnte Jahrhundert / Supplementa 12), S. 133–143. 25 Zu erinnern sei hier ferner an Lessings harsche Absagen an die zeitgenössische Neologie. 26 Zur weiteren Geschichte der Publikation, die ich hier übergehe, siehe WuB 7, S. 1070ff.
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die ebenfalls die Ewigkeit der Höllenstrafen bestreitet. Lessings Abhandlung bildet insofern eine Klammer, die von frühen häretischen Gedanken ausgehend den Weg nachzeichnet, den diese Vorstellung genommen hat. Eberhard steht Lessing Pate, dass eine vormals ketzerische Auffassung in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint. Lessings Strategie ist es dabei, zu verdeutlichen, dass Leibniz’ gewichtiger Einspruch überhört worden war.27 Er bricht die Entwicklung des Gedankenganges auf und schafft mit dem Einwand des bedeutendsten deutschen Philosophen eine neue Ausgangsbasis für die Diskussion. Dem nur vermeintlich aufklärerischen Duktus, sich der ewigen Höllenstrafen unter Berufung auf die Vernunft elegant zu entledigen, erteilt Lessing eine scharfe und deutliche Absage. Auch hier vermeint man die Spuren der polemischen Methode, wie sie in der Apologetik-Kritik des frühen Lessing leitend waren, wiederzuerkennen. Die Position, die widerlegt werden soll, wird so stark als möglich gemacht – in diesem Fall die Ewigkeit der Höllenstrafen. Erst unter diesen Voraussetzungen erkennt man, dass die Konzeption so unvernünftig nicht ist, wie sie dargestellt wird. Mitnichten widerstreitet sie der leibnizschen Auffassung von der besten aller Welten. »Die theologische Frage«, so fasst Klaus Bohnen zusammen, »wird überlagert von einer ›Rettung‹ des Philosophen und dessen Denkart, die zugleich einer Selbstdarstellung und -erklärung Lessings nahekommt.«28 Der Weg der Erkenntnis verläuft also gerade in die Gegenrichtung. Diesen zu gehen, ersparen sich nach Lessings Ansicht sowohl Philosophen als auch Theologen allzu oft. Sie präferieren eine leichtere Lösung. Das hört man deutlich aus Lessings eigenen Worten gegenüber seinem Bruder: Was gehen mich die Orthodoxen an? Ich verachte sie eben so sehr, als Du; nur verachte ich unsere neumodischen Geistlichen noch mehr, die Theologen viel zu wenig, und Philosophen lange nicht genug sind. Ich bin von solchen schalen Köpfen auch sehr überzeugt, daß, wenn man sie aufkommen läßt, sie mit der Zeit mehr tyrannisieren werden, als es die Orthodoxen jemals getan haben.29
Kämpfte Lessing zu Beginn seines Schaffens noch dagegen, dass vernünftige oder zumindest bedenkenswerte Positionen und Einwürfe gegen die christliche Religion als bloße Häresien abgestempelt wurden, die es nicht weiter ernst zu nehmen hieß, so haben sich schon wenige Jahre später – zumindest aus der Perspekti-
27 Inwiefern dieser Einspruch einer exoterischen Ebene des leibnizschen Werkes anzusiedeln ist, umreißt kurz Till Kinzel: Lessing und die englische Aufklärung. Bibelkritik und Deismus zwischen Esoterik und Exoterik. Wolfenbüttel 2011 (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte 12). 28 WuB 7, S. 1075. 29 G. E. Lessing an Karl Lessing, 08. 04. 1773. WuB 11/II, S. 540.
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ve Lessings – die Verhältnisse nahezu umgekehrt. Besonders augenscheinlich wird dies im letzten hier zu erwähnenden Text. Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit rühren an dem Grunddogma des christlichen Glaubens schlechthin – der Trinität. Gibt man dieses Dogma auf, bleibt wenig übrig in Bezug auf das, was das Christentum in seiner speziellen Essenz ausmacht. Dennoch schien Lessing Tendenzen in der neueren Theologie wahrzunehmen, die dieses Dogma aufweichen und sich somit den früher als Häresien gebrandmarkten und verketzerten Positionen annäherten.30 Winfried Schröder sprach jüngst treffend von einem »geschmeidigen Christentum«, das sich im Rückgriff auf Traditionen der natürlichen Religion zu etablieren suchte.31 Wiederum ist Leibniz der Gewährsmann Lessings, der in einer ungedruckten Auseinandersetzung dem ›polnischen Bruder‹ und Enkel Fausto Sozzinis das Recht absprach, die Geheimnisse der Religion, insofern sie Geheimnisse sind, mit Mitteln der Vernunft beizukommen.32 In Leibnizens Defensio Trinitatis, die Lessing abdruckt, sieht er all das vereint, was sein theologisches und philosophisches Denken der vorangegangen Jahre bestimmte und weiter bestimmend sollte: Die Unantastbarkeit gewisser religiöser Dogmen, für die Vernunft schlicht nicht zuständig ist. Nichtsdestotrotz kann man diese Geheimnisse durch und mit der Vernunft verteidigen und als vernünftig deklarieren. Das Verhältnis von Dogmengeschichte, Vernunft und Offenbarung sowie die Unterscheidung von historischer Wahrheit und Vernunftwahrheit bilden Lessings weiteres Programm, im Fragmentenstreit und darüber hinaus. Das ist hier nicht mehr das Thema, festzuhalten aber bleibt die Erkenntnis: Pauschale Verurteilungen sind der Wahrheitsfindung ebenso nachteilig wie vorschnelle Zugeständnisse – und die Rettungen damit, ganz ihrer Herkunft aus der juristischen Sphäre verpflichtet, immer nach zwei Seiten ausgerichtet.
30 »Die neue Orthodoxie, die sich damit etabliert, speist sich aus den Quellen der bisherigen Heterodoxie.« Lüpke (2002), S. 171. 31 Winfried Schröder: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (Quaestiones 16), S. 229. 32 Die Schrift des Andrzej Wiszowaty, so der nicht latinisierte Name, ist in einer dreisprachigen Neuedition wieder leicht greifbar. Andreas Wissowatius: Religio rationalis seu de Rationis Judicio, In Controversiis etiam Theologicis, ac religiosis, adhibendo, tractatus [1685]. Ed. trilinguis. Hg. von Zbigniew Ogonowski. Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen 20). Eine erste Übersetzung ins Deutsche stammt aus dem Jahr 1703.
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6.3 Zusammenfassung Diese Arbeit war nicht zuletzt bestimmt durch Überlegungen zu den Verfahrensweisen und dem Vokabular der Jurisdiktion.33 Wer darf Recht sprechen, wer urteilen oder gar verurteilen? Welche Instanz urteilt auf welcher Grundlage? Welche Bedingungen gelten, um Unvoreingenommenheit zu garantieren und nicht zuletzt, als Grundgedanken der Vindicatio ihrem Ursprung nach: Wer hat das Eigentum an der Wahrheit? Auch wenn wir in der Literaturwissenschaft poetischen oder fiktionalen Texten selten in Fragen der Wahrheit begegnen, so ist das Motiv der Wahrheitssuche häufig präsent. Eingangs der Arbeit wurde erwähnt, dass die Vorstellung, Texten aus dem Gebiet der Gelehrsamkeit moralische Qualitäten beizumessen und sie unter diesen Vorzeichen auch zu bewerten, uns fremd erscheinen mag. Nichtsdestotrotz ist sie über einen langen Zeitraum hinweg eine unumstößliche Tatsache gewesen. Umgekehrt gehört aber die Annahme einer moralischen Dimension poetischer Texte, je nach Jahrhundert vermittelt durch bestimmte Vorstellungen von Ästhetik, zu den Grundüberzeugungen des Faches. Mit Lessing haben wir einen Dichter und Gelehrten vor uns, der beide Felder moralischer Zuschreibung bediente. Wie eng diese bisweilen verschränkt sein können, wurde an Lessings erstem Trauerspiel Miß Sara Sampson deutlich. Auf einfachem oder geradlinigem Weg ist diese Verschränkung nicht ersichtlich. Einem direkten Zugriff verweigern sich die literarischen Texte auch noch der Mitte des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Nicht wenige von ihnen partizipieren auf die ein oder andere Weise an frühneuzeitlichen Voraussetzungen, gleichwohl sie bereits Züge der zur Moderne neigenden Neuzeit tragen. Fokussiert man nur den uns deutlich näheren und vertrauteren Anteil, verkürzt man sein eigenes, mögliches Verständnis auf unzulässige Weise. Folgt man aber den verschlungenen Pfaden frühneuzeitlicher Gelehrsamkeitsgeschichte und lässt sich auf ihre je eigenen Regeln und Voraussetzungen ein, versprechen die Bemühungen nicht nur Erkenntnisgewinn, sondern die Erträge können auch erkenntnisleitend werden. So bleibt von manchem Bruch in der Tradition oder einem konstatierten radikalen Neuansatz nicht mehr viel übrig. Feine Änderungen im Modus, die eine qualitative Veränderung erst beschreibbar machen, gehen dabei zwangsläufig unter. Bleibt man hingegen beharrlich und vertraut den im Fach seit jeher bewährten Mitteln der Philologie und Ideengeschichte, eröffnen sich Kontexte, die für ein präzises Verständnis – auch für eine Interpretation – notwendige Voraussetzung sind. In der Folge kann man sich des Eindrucks oftmals nicht er-
33 Der Begriff der ›Jurisdiktion‹ ist hier bewusst gewählt, um sowohl die weltliche als auch die geistliche Seite zu integrieren.
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wehren, dass gerade diejenigen Interpreten, die Brüche und Zeitenwenden am deutlichsten markieren wollen und einen Neubeginn absolut setzen, nicht selten einfach nur die falschen (oder zu wenige?) Texte gelesen haben. Vielleicht mag diese eher traditionelle Herangehensweise nicht den Theorienmoden genügen, die über die letzten Jahrzehnte in stetem Wechsel in die Literaturwissenschaft importiert wurden und zur jeweils gültigen Methode aufstiegen; den hier behandelten Texten wird man meines Erachtens aber in einem ersten Schritt nur auf diese Weise gerecht. Das über den eigentlichen Gegenstand hinausreichende Ziel der Arbeit ist demnach eine Sensibilisierung für unser Verständnis der Literatur im Übergang von der Frühen Neuzeit hin zur Hochaufklärung bzw. Goethe-Zeit. Wo allgemein noch ein Bewusstsein für die kategoriale Trennung humanistisch-barocker Gelehrsamkeit und der ihr verwandten Literatur und der sogenannten bürgerlichen Literatur, wie sie uns spätestens im letzten Drittel des 18. Jahrhundert begegnet, besteht, soll eine tiefgreifende Abhängigkeit betont werden. Eine Sensibilität für diese schleichenden, die Tradition partiell umgestaltenden Prozesse könnte helfen, aus dem in der literaturwissenschaftlichen Praxis eingefahrenen Nacheinander der Epochensignaturen einen Ausweg zu finden, der die strikte Trennung zugunsten eines Ineinander-Übergehens aufzugeben hilft. Letztlich steht der literarische Höhenkamm der deutschen Dichtung auf einem Fundament oder vielleicht sogar Abraum der barock-gelehrten Tradition. Die literarische Polemik und ihre besondere Ausprägung in Form der ›Rettung‹ mag hier exemplarisch, aber sicherlich nicht solitär, für den beschriebenen Sachverhalt stehen. Das erlaubt es zuletzt noch das Problem der Korpus-Bildung der Arbeit anzusprechen, das hier gleich ein doppeltes ist. Sowohl die Auswahl der Lessing-Texte als auch die für die Darstellung der Tradition gewählten Werke können gerechtfertigten Widerspruch provozieren. Gewichtet man bestimmte ideengeschichtliche Traditionen anders, würden andere Wege zu beschreiten sein, die etwa nach Frankreich führen. Ferner fehlen wichtige Vertreter, die zu behandeln nur legitim gewesen wäre – etwa Christian Thomasius – beinahe gänzlich. Einige Leser werden mit Sicherheit die engere Anbindung der Gedankengänge an die weiten Bereiche der frühneuzeitlichen Kritik vermissen – und erheben diese Forderung sicherlich nicht zu Unrecht. Aber die Reichweite der These, schon allein bezogen auf das Werk Lessings, verhindert eine erschöpfende Darstellung. Die So-
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phokles-Studien, der Laokoon34 oder die Hamburgische Dramturgie35 wären unter vielen anderen Schriften ebenso veritable Prüfsteine gewesen. Vom Fragmentenstreit ganz zu schweigen. Unerlässlich dabei bliebe meines Erachtens allerdings, den Begriff der Rettung nicht so weit aufzuweichen, geschmeidig zu machen und von seinen Ursprüngen zu entfernen, dass nicht mehr übrigbleibt, als eine Stimmung, die letztlich der Beliebigkeit anheimfällt. Es gäbe noch vieles beizubringen, um den Charakter der Rettungen und des damit einhergehenden Denkstils zu beschreiben und Spuren desselben im Werk zu identifizieren. Um Lessing das letzte Wort zu überlassen, das er nie für sich in Anspruch nehmen wollte: »ich weiß aber auch, daß man eben nicht alles erschöpfen muß.«36
34 Anknüpfungspunkte gäbe es mehr als genug, der Präsenz und dem Wirken dieses Denkstils nachzuspüren. Wenn etwa Winfried Barner in Bezug auf den Laokoon feststellt, sie sei eine »Tendenzschrift zur ›Rettung‹ der Poesie als der ›weiteren Kunst‹.« WuB 5/II, S. 666. Ausgeführt und mit Belegen unterstützt hat diesen plakativen Befund Friedrich Vollhardt, und damit in einem ersten Schritt gezeigt, wie weit die Tragfähigkeit dieses Konzeptes reichen kann. Friedrich Vollhardt: Nachwort. In: G. E. Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 437–467, insb S. 441f. 35 Die Hamburgische Dramaturgie ließe sich ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt analysieren. Thomas Martinec hat mir in einem persönlichen Gespräch anlässlich eines von der LessingAkademie in Wolfenbüttel veranstalteten Doktorandenkolloquiums diese Dimension der Hamburgischen Dramaturgie in Grundzügen dargelegt. Siehe hierzu Thomas Martinec: Lessings Theorie der Tragödienwirkung. Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntniskritik. Tübingen 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 116). 36 So der letzte Satz in den Rettungen des Horaz, WuB 3, S. 197.
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Abbildungsverzeichnis 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Titelblatt Epigrammata der Ausgabe der Bibliothek des Wittenberger Predigerseminars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchschnitt, der beweist, dass die Bände ursprünglich zusammengebunden waren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Titelblatt Mönchshurenkrieg des Wittenberger Exemplars . . . . . . . Titelblatt Mönshurenkrieg des Exemplars in der BSB, Rem. IV 1956 . Nachträglich herausgetrennte Bände . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 34 . 35 . 36 . 37 . 38
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Register Agricola, Johann 86 Alberti, Valentin 77, 78 Albrecht von Brandenburg 23, 25, 28 Albrecht, Michael 142, 144 Allison, Henry 221 Anselm von Canterbury 220 Antiphon von Rhamnus 58 Aristoteles 58, 64, 76, 114, 140, 160, 212 Arletius, Johann Kaspar 134 Arnold, Gottfried 81, 82, 102–106, 112, 215, 332 Arpe, Peter Friedrich 112–115, 117, 118 Augustinus von Hippo 171, 263, 323 Augustus (Kaiser) 109, 153, 154, 158–160 Averroes 178 Azouvi, François 51 Barner, Wilfried 118, 135, 170, 172, 202 Baumgarten, Alexander Gottlieb 227 Baxter, William 155 Bayer, August 245 Bayle, Pierre 52, 74, 79, 102, 106–113, 118–121, 162, 171, 175, 243, 263, 328, 335–338 Beckmann, Nicolaus 254, 255 Béda, Noël 262 Bekker, Balthasar 268 Bembus, Peter 115 Berengar von Tours 134, 352 Berger, Johann Wilhelm 10, 238 Bibliander, Theodor 347 Bodin, Jean 115 Bohnen, Klaus 354 Bora, Katharina von 42, 43 Borinski, Karl 201, 202, 250, 259 Bracken, Harry 111 Bradley, James 295 Brant, Sebastian 259 Breckling, Friedrich 252 Breuer, Dieter 52 Brockes, Barthold Hinrich 304 Brosseder, Claudia 175 Brown, Thomas 115 Brucker, Jakob 174, 175
Bruno, Giordano 182, 221, 222, 252 Bruscambille siehe Gracieux, Jean Brutus, Marcus Iunius 159 Bubenheimer, Ulrich 72 Buddeus, Johann Franz 77, 86–90, 268 Bünemann, Johannes Ludolf 245 Caesar, Julius 171 Cajetan, Thomas 115 Calvin, Johannes 115 Camerarius, Joachim 44 Campanella, Thommaso 115 Cardano, Hieronymus 99–101, 118–121, 139, 170–184, 186–193, 197–200 Cassel, Johann Philipp 239, 240 Cassirer, Ernst 106–108, 338, 339 Castro, Alfonso de 269 Cherbury, Herbert von 148 Chladni, Martin 238 Christ, Johann Friedrich 18, 118–122, 175, 275 Cicero, Marcus Tullius 59, 114, 121, 218 Clemens VII. (Papst) 275 Cochläus, Johannes 97, 101, 135, 139, 217, 257, 264–266, 268–271, 276, 277, 279, 281, 282, 284, 285 Commelius, Hieronymus 59 Cramer, Carl Friedrich 101, 149 Crusius, Christian August 44 Dacier, André 155, 165, 166 Damerau, Burghard 140 Darnton, Robert 297 Decker, Gunnar 104 Dehrmann, Mark-Georg 309 Descartes, René 220, 233, 234, 332 Dilthey, Wilhelm 118, 137 Dippel, Johann Konrad 106, 326, 328–339, 341 Döring, Heinrich 268 Duperron, Jacques Davy 115 Durand, David 113 Dusch, Johann Jakob 313–318, 321
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Eberhard, Johann August 148, 308, 353, 354 Eckermann, Johann Peter 2 Edelmann, Johann Christian 207, 241, 297, 331 Eibl, Karl 114 Elswich, Johann Hermann von 238 Epikur 163, 164, 166, 167 Faust, Johann 100, 232, 235, 236, 280, 327, 341 Febvre, Lucien 262 Ferron, Arnold 269 Fichte, Johann Gottlieb 117 Ficino, Marsilio 263 Fick, Monika 41, 146, 231 Fischer, Johann Peter 283 Flacius Illyricus, Matthias 76 Flasch, Kurt 262, 263 Fleck, Ludwik 127, 271 Fludd, Robert 115 Franzbach, Martin 10 Frey, Adolf 299 Freytag, Friedrich Gotthilf 179 Friderici, Valentin 78 Friedrich II. 297 Fuhrmann, Wilhelm David 117 Gadamer, Hans-Georg 69 Gantet, Claire 318 Garasse, François 94, 95 Gawlick, Günter 79 Gellert, Johann Christian Fürchtegott 16 Gellius, Aulus 121 Georgi, Christian Siegmund 10 Gierl, Martin 90, 250 Giovio, Paolo (= Jovius) 115, 269 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 16 Göbel, Helmut 119 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 357 Goldenbaum, Ursula 56, 287 Goltz, Alexander Freiherr von der 219 Gottsched, Johann Christoph 52, 124, 125, 287, 295, 298–301, 321 Gracieux, Jean (= Bruscambille) 258, 261 Gräße, Johann Georg Theodor 252 Gregor, Immanuel Friedrich 8 Grotius, Hugo 76, 77, 79, 115, 144
Guicciardini, Francesco 269 Gundling, Nicolaus Hieronymus 121, 244 Haack, Julia 55 Habermas, Jürgen 55–57 Hagedorn, Friedrich von 145 Haller, Albrecht von 6, 51, 219, 230, 232, 235, 290, 299–301 Hamann, Johann Georg 148 Hartnack, Daniel (= D. Maphanafus) 251 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 63, 227 Heineccius, Johann Gottlieb 350 Heinsius, Johann Georg 330 Hempel, Gustav 201 Hempfer, Klaus W. 126 Henrich, Dieter 127, 128, 130 Herder, Johann Gottfried 45, 53, 64, 309, 343 Herricht, Hildegard 11–14 Heudecker, Sylvia 138, 139, 169 Hiller, Johann Friedrich 10 Hobbes, Thomas 115, 333 Hoburg, Christian 252 Hoffmann, Johann Wilhelm 10 Hofmann, Carl Gottlob 208 Horaz 9, 15, 17, 39, 135–142, 145–155, 157–170, 257, 283, 286, 292, 303 Hostius 154 Huarte, Juan 7, 8, 45–53, 101, 120, 174 Hunnius, Aegidius 266 Hutten, Ulrich von 28, 258, 261 Innozenz III. (Papst) 67 Jacobi, Johann Friedrich 210 Jahn, Johann Wilhelm 238 Janotzky, Johann Daniel Andreas 42 Jöcher, Christian Gottlieb 17, 107, 121, 348–351 Jonas, Justus 33 Jordan, Johannes Christian 8 Kant, Immanuel 49, 116, 162, 219 Karl V. (Kaiser) 67 Kästner, Abraham Gotthelf 298, 300, 302, 303 Kettenbach, Heinrich von 70, 71, 84 Klose, Samuel Benjamin 326–328, 335, 338, 341
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Klotz, Christian Adolf 312 Knutzen, Matthias 252, 253 Konstantin (Kaiser) 103 Kraft, Friedrich Wilhelm 267–271, 273, 277, 281, 283 Kreimendahl, Lothar 110 Krenner, Franz von 34 Kuschel, Karl-Joseph 192, 197 La Mettrie, Julien Offray de 51, 207, 234 Lachapelles, Jean de 141 Laertius, Diogenes 142 Lange, Gotthold Samuel 9, 15, 17, 136, 137, 166, 243, 283, 286 Leibniz, Gottfried Wilhelm 57, 74, 100, 201, 212, 219–223, 227, 230, 232, 303, 304, 306, 308, 332, 333, 340, 350, 353–355 Lemnius, Simon 15, 17–34, 36, 38, 39, 41–44, 139, 203, 276, 277, 286, 287 Lessing, Dorothea Salome (Schwester) 16 Lessing, Johann Gottfried (Vater) 80–84, 86, 90, 206, 249, 329 Lessing, Theophil (Großvater) 77–79 Lessing, Theophilus (Bruder) 6 Lessing, Theophilus Gottlob (Bruder) 6 Lessius, Leonardus 76 Lipsius, Justus 115 Liscow, Christian Ludwig 261 Locke, John 148, 244 (Pseudo-)Longinus 159 Longinus Gaius Cassius 159 Löscher, Valentin Ernst 80, 82 Lucian 258, 261 Lüpke, Johannes von 208 Luther, Martin 7, 20–27, 29–33, 36, 38–44, 59, 69–72, 80–85, 97, 106, 115, 148, 262, 264–267, 269–271, 273, 276–283, 287, 352 Machiavelli, Niccolò 119 Mahlmann-Bauer, Barbara 232 Malebranche, Nicolas 332 Marcus Antonius 159 Marmontelles, Jean-François 148 Martyr, Peter (= d’Angelerius, Pietro Martire) 271, 273–275 Masch, Andreas Gottlieb (= M. S. B.) 282–285
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Matthesius, Johann 26–29, 31, 39, 41, 42 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 309 Maurer, Ernstpeter 74 Mauser, Wolfram 307 Mauthner, Fritz 253 Mazarin, Jules 100 Melanchthon, Philipp 23, 28–30, 32, 76, 115, 180, 273 Mendelssohn, Moses 218, 303–305, 307–309, 311, 312, 327, 336, 338, 339 Mersennus, Marinus 179, 200 Michelsen, Peter 307 Molina, Luis de 76 Möller, Johann Gottlieb 266, 267 Mönch, Cornelia 310, 311, 321 Monnoye, Bernard De La 177–179 Monod, Albert 73 Montaigne, Michel 94, 109 Morhof, Daniel Georg 179, 259–261 Morus, Thomas 258, 261 Mosheim, Johann Lorenz 241 Müller, Arnold 144, 219, 282 Müller, Gottfried Ephraim 149, 162 Müller, Johann 144, 267 Mulsow, Martin vii, 202, 240, 247–250 Muret, Marc Antoine 115 Murner, Thomas 259 Murr, Gottlieb von 46 Mylius, Christlob 6, 121, 218, 289–304 Naudé, Gabriel 93–103, 114, 171, 175, 180 Naumann, Christian Nikolaus 219, 221 Neuser, Adam 134, 194, 344–351 Newton, Isaac 212, 295 Nicolai, Friedrich 9, 14 Nicolai, Gottlob Samuel 9, 205 Nisbet, Hugh Barr vii, 7, 230, 248, 298, 344 Octavian siehe Augustus Oest, Johann Heinrich 230 Olbers, Heinrich Wilhelm 240 Olbers, Johann Georg 240 Ovid 121 Partridge, John 65 Paul IV. (Papst) 272 Pelters, Wilm 275, 276
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Petitus, Johannes 115 Petreius, Johannes 179 Peyrère, Isaac De La 252 Philippi, Johann Ernst 261 Pineda, Pérez de 273 Pius IV. (Papst) 272 Platon 153, 154, 308 Plautus, Titus Maccius 138 Plinius der Ältere 113 Poggio, Francesco 115 Politanus, Angelius 115 Pompejus Varus 160 Pomponazzi, Pietro 173, 178 Pons, Georges 73–75, 82, 86 Pontius Pilatus 251–253 Pope, Alexander 149, 221, 299, 303–309 Postel, Guillaume 115 Pratje, Johann Hinrich 241 Ptolemäus, Claudius 174 Pufendorf, Samuel 77, 79, 254, 255 Raabe, Paul 100 Rabelais, François 258, 260–263 Rambach, Friedrich Eberhard 209, 330 Reh, Albert M. 129 Reich, Johann 96–98 Reimarus, Hermann Samuel 238, 241, 256, 263, 331, 345 Reimmann, Jakob Friedrich 113, 179, 242–245, 252, 261, 262, 329, 348 Reland, Adrian 193 Richter, Jean Christian 210 Ricoeur, Paul 213 Riedel, Volker 138 Rio, Martinus del 173, 174 Ritter, Johann Daniel 10 Rot(t), Johann 70 Rousseau, Jean-Jacques 211, 212, 338 S(ch)leidan, Johann 269 Sabinus, Georg (= Schuler, Georg) 23, 30 Sack, August Friedrich Wilhelm 188 Saldeni, Wilhelm 209 Sale, George 193 Salvius, Johann 202, 250 Scaliger, Julius Caesar 177, 178, 180, 186, 199 Schelhorn, Johannes Georg 245
Schlaf, Eberhardt Ludwig von 239 Schlegel, Friedrich 2 Schmidt, Erich 6, 53, 119, 135, 282, 328 Schmidt, Johann Lorenz 256 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 142 Schmiederer, George Gottlob 8 Schneider, Johannes 276 Schönaich, Christoph Otto Freiherr von 287, 291, 294 Schönitz, Hans von 24 Schreiber, Alois Wilhelm 116 Schröder, Winfried 243, 244, 355 Schupp, Johann Balthasar 202, 250 Schwar(t)z, Friedrich Immanuel 9, 10, 14, 179 Schwar(t)z, Josua 202, 253–258 Seckendorff, Veit Ludwig von 267 Segebrecht, Wulf 321 Selim II. (Sultan) 347 Seneca, Lucius Annaeus 47, 153, 154 Serpil, Georg 242, 245 Servet, Michel 350 Seso, Carlos de 273 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl Of 308 Simon, Richard 245 Simons, Olaf vii, 61 Sokrates 148, 217 Solignac, Pierre-Joseph de la Pimpie de 141 Soner, Ernst 353 Soto, Domingo de 76 Sozzini, Fausto 355 Spalding, Johann Joachim 232, 309, 337 Spener, Philipp Jacob 88 Sperbach, Karl Gottlob 10 Spinoza, Baruch de 106, 221, 222, 227, 240, 304, 326, 328–341 Stahr, Adolf 137 Steller, Johann 250–253, 255 Stemplinger, Eduard 142 Stenzel, Hartmut 94, 96, 220–223, 225, 227, 228, 230 Stephanus, Henricus (= Estienne, Henri) 43 Stoß, Johann Friedrich 252 Suarez, Francisco 76 Sueton 150, 151, 153–155, 171 Surius, Lorenz 269 Suter, Jacob 347
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Swift, Jonathan 65, 150 Sylvanus, Johann 346–348 Tauentzien, Friedrich Bogislaw von 329 Ter-Nedden, Gisbert 313, 316 Terenz, Publius 138 Thomas von Aquin 76 Thomasius, Christian 53, 77, 96, 115, 143, 144, 251, 252, 357 Thuan(us), Jacques Auguste de 175, 176, 269 Trinius, Johann Anton 331 Valdés, Fernando de 272 Valdez, Alfonso (= Valdesius, Alphonsus) 271–275, 278, 280, 284 Valdez, Hernando (= Valdes, Fernandus de) 272 Valdez, Juan (= Valdesius, Johann) 272, 273, 284 Valla, Laurentius 115 Vanini, Lucilio 112–114, 116–118, 252 Vasquez, Gabriel 76
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Vavasseur, François 260, 261 Vehe, Matthias 347 Vitoria, Francisco de 76 Voetius, Gisbert 113 Vollhardt, Friedrich vii, 2, 75, 258, 261, 341 Voltaire 258 Wachter, Johann Georg 252 Walch, Christian Wilhelm Franz 43, 132, 282 Warburton, William 308 Wegmann, Nikolaus 133 Weidler, Johann Friedrich 10 Werle, Dirk 127 Wieland, Christoph Martin 309 Winckelmann, Johann Joachim 119 Wissowatius, Andreas 101, 217, 352, 355 Wolff, Christian 88, 219, 220, 223, 227, 332 Wolzogen, Johann Christoph von 119 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 88, 215–217 Zwingli, Ulrich 86
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