Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz: Über den Wandel einer Kulturtechnik 9783839469484

Wir stehen vor einem kulturellen Umbruch der Kulturtechnik Lesen, die mit der Erfindung der Schrift begann und über den

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Das leere Blatt
Einleitung
Die Leere am Beginn von Lesen und Schreiben und der Ausbruch aus der Schriftkultur
Bibelverklärung und Kulturvernichtung im Frühen Christentum
Am Anfang ist nicht das Wort, sondern die leere Seite
Eintritt in die Höhlen
Die leere Seite schiebt sich vor die Welt
Sprungbrett der Imagination
II. Sind intelligente Chatbots Psychopathen?
III. Lesen ist nicht nur eine Kulturtechnik, sondern auch eine Körpertechnik, also eine Form der Biopolitik
Einleitung
Licht, Lesen und die Folgen des Nahsehens
Vom Lautlesen zur einsamen und stummen Lektüre
Übergang vom Sprechen und Hören zum visuellen und stummen Lesen
Lesen formatiert das Gehirn
Homo sedens oder: das Buch und der Stuhl
IV. Maximale Geschwindigkeit: Rasen auf der Textautobahn
Einleitung
Ein neues, digitales Barock?
Anmerkungen
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Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz: Über den Wandel einer Kulturtechnik
 9783839469484

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Florian Rötzer Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Wie wir lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik Band 6

Florian Rötzer

Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz Über den Wandel einer Kulturtechnik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Diskos von Phaistos, Seite B (freigestellt), ca.​ 2. Jahrtausend v. Chr. Archäologisches Museum Heraklion, Kreta (Griechenland). Wikimedia Commons, CC BY 1.0. https://creative​ commons.org/licenses/by/1.0/deed.en Korrektorat: Nele Schwering, Bielefeld Satz: Francisco Bragancça, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6948-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6948-4 https://doi.org/10.14361/9783839469484 Buchreihen-ISSN: 2702-0207 Buchreihen-eISSN: 2747-3678 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt Einleitung   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 I. Das leere Blatt  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 19 Die Leere am Beginn von Lesen und Schreiben und der Ausbruch aus der Schriftkultur  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 24 Bibelverklärung und Kulturvernichtung im Frühen Christentum  � � � � � � � 31 Am Anfang ist nicht das Wort, sondern die leere Seite  � � � � � � � � � � � � � � � � � � 36 Eintritt in die Höhlen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 38 Die leere Seite schiebt sich vor die Welt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 43 Sprungbrett der Imagination  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 44

II. Sind intelligente Chatbots Psychopathen?  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 57 III. Lesen ist nicht nur eine Kulturtechnik, sondern auch eine Körpertechnik, also eine Form der Biopolitik  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 75 Licht, Lesen und die Folgen des Nahsehens  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 80 Vom Lautlesen zur einsamen und stummen Lektüre  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 86 Übergang vom Sprechen und Hören zum visuellen und stummen Lesen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 94 Lesen formatiert das Gehirn  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 101 Homo sedens oder: das Buch und der Stuhl � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 103

IV. Maximale Geschwindigkeit: Rasen auf der Textautobahn   � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 115 Ein neues, digitales Barock?  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 119

Anmerkungen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 123

Einleitung

Wenn Sie dieses Buch aufschlagen und diese Zeilen lesen, werden sie wahrscheinlich noch ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass ein Mensch diesen Text mit Hilfe eines Textprogramms auf einem Computer oder auf geradezu archaische Weise mit einer Schreibmaschine geschrieben hat und Sie daher den Überlegungen, Einfällen und Gedankengängen eines endlichen Menschen aus Fleisch und Blut mit einem feuchten Gehirn folgen, das nicht nur von elektrischen Impulsen, sondern auch von chemischen Strömen getrieben wird. Üblicherweise wird der Autor, in dem Fall ich, deutlich beim Namen genannt, aber das muss gar nicht notwendig der Fall sein. Aber dass ein schriftlich fixierter Text – also eine nach bekannten Regeln geordnete lineare Aufeinanderfolge von Schriftzeichen, deren Bedeutung wir als Lesende hoffentlich verstehen, wenn wir der jeweiligen Sprache mächtig sind – von einem anderen Menschen hervorgebracht wurde, war schließlich seit Erfindung der Schrift bis vor Kurzem stets der Fall. Eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen zwar nicht immer, wer der Autor eines Textes ist, oft interessiert es uns auch gar nicht. Wir konnten aber bislang davon ausgehen, dass uns sinnvoll erscheinende Gedankengänge in Schriftform, egal auf welchem Träger, ob auf Tontafeln, Stein, Papyrus, Papier oder auf einer Festplatte verewigt, und egal in welcher Schrift, von einem Menschen stammen, der sie, mit welchen Mitteln auch immer, notiert hat. Zudem sind wir ohne großen Aufwand in der Lage, die unterschiedlich gestalteten Zeichen der verschiedenen Schriften als nicht natürliche, sondern menschengemachte Strukturen zu erkennen. Wobei nicht jede Schrift Bedeutung generieren muss. Schließlich lassen sich Schriften mit

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beliebigen Zeichen schaffen, die semantisch keine Bedeutung haben, während es sich in anderen Fällen um Geheimcodes handeln kann, die den Zweck haben, die in ihnen verschlüsselte Bedeutung vor Nicht-Eingeweihten zu verbergen, und die uns auf den ersten Blick genau wie eine uns unbekannte Schrift völlig unverständlich erscheinen. Selbst im religiösen Kontext sind die Menschen traditionell davon ausgegangen, dass etwas Geschriebenes nicht direkt von Gott oder den Göttern kommt, sondern dass es sich bei den heiligen Texten um Aufgeschriebenes handelt. Gott spricht in der biblischen Schöpfungsgeschichte und sein Wort bringt die Wirklichkeit hervor, die gesamte Welt mitsamt dem Menschen. Zu den Menschen gesprochen hat er auch weiterhin als Gottessohn, das heißt in Gestalt eines verkörperten Menschen. Aber das Schreiben überlässt er bis auf eine Ausnahme anderen, z.B. den Propheten oder Leuten, die vermeinen, seine Stimme zu hören, und die seine Anweisungen niederschreiben. Nur die zehn Gesetze sollen direkt mit Gottes Finger auf zwei Steinplatten geschrieben worden sein, so heißt es in der Bibel. Das war jahrtausendelang die maßgebliche Botschaft einer extraterrestrischen Intelligenz an Lesenkundigen auf dieser Welt. Auch wenn wir annehmen, dass es irgendwo im Kosmos andere Planeten mit intelligenten Lebewesen geben muss, so haben wir bislang noch keine Botschaft von diesen erhalten. Aber jetzt verfassen nicht nur Menschen Texte, sondern auch Maschinen, die genau wie wir Menschen zuerst lernen mussten, in natürlicher Sprache Geschriebenes zu lesen, um dann in natürlicher Sprache zu schreiben, zu sprechen, zu antworten, das heißt als Autor und Gesprächspartner mit uns Menschen zu kommunizieren. Wenn wir direkt mit ihnen interagieren, also nicht nur ihre Produkte verwenden und diese womöglich sogar als unsere eigenen ausgeben, dann treten die Maschinen, für deren Dienste wir im Kapitalismus selbstredend bezahlen müssen, auch wenn dies nur in Form von Daten oder Aufmerksamkeit geschieht, uns immer häufiger als eine Art Person entgegen, mit der wir uns unterhalten können. Das wird natürlich die Welt, in der wir leben, grundlegend verändern, denn die KI-Programme werden uns nicht nur antworten und mit uns über Gott und die Welt sprechen, sondern wie dies

Einleitung

Alexa, Siri und Co. in gewissem Umfang bereits tun, Befehle ausführen und wahrscheinlich irgendwann selbst aktiv werden. Auf diese Weise werden sie andere Maschinen oder sogar ganze Häuser (smart homes) oder Städte (smart cities) steuern, mit anderen Systemen kommunizieren und diese unseren Bedürfnissen bzw. uns diesen anpassen. In dem Buch »Sein und Wohnen« habe ich ausgeführt, dass wir künftig in intelligenten und interaktiven Umgebungen wie dem smart home leben werden, das uns dann gewissermaßen als Person gegenübertritt und nicht mehr nur als lebloses Gemäuer mit Möbeln, Geräten und Maschinen. Wissenschaftler bauen an Systemen der Künstlichen Intelligenz, die künftig mit menschlichen Autoren und Sprechern in Konkurrenz treten werden, weil sie auf dem Hintergrund der Rezeption von unzähligen Texten unterschiedlichster Art durch Mustererkennung beliebige Texte generieren können. Diese Systeme haben auch bereits gelernt, genau wie Menschen schriftlich oder mündlich unterschiedliche Textsorten zu kreieren. Natürlich können die KIs bzw. Sprachmodelle auch unter Einbeziehung der Romane, Gedichte oder anderer Aufzeichnungen eines bestimmten Autors neue, aber stilistisch ähnliche Texte generieren wie dieser. Die von den intelligenten Systemen verfassten Texte lassen sich zunehmend nicht mehr von solchen unterscheiden, die Menschen geschrieben haben. Man braucht, wie das schon bei der Suche nach Plagiaten notwendig war, wiederum eigene Programme, die diese Analyse durchführen, weil Menschen mit der Informationsverarbeitung etwa beim Vergleichen von Texten allein schon zeitlich überfordert wären und kleine Abweichungen zudem womöglich gar nicht entdecken würden. Aber sogar die KI-Systeme, die andere KI-Systeme erkennen sollen, werden diese Aufgabe nicht fehlerfrei erledigen können, sondern auch des Öfteren falsch-positive Ergebnisse produzieren. Dies gilt inbesondere, wenn sie es mit von Menschen geschriebenen Texten zu tun bekommen, die durchschnittlich, aber grammatikalisch korrekt schreiben. Vielleicht können solche Programme aber auch gewisse KI-generierte Texte oder Textteile nicht erkennen, weil in der gigantischen Bibliothek einer solchen Lesemaschine auch immer mehr maschinell erzeugte Texte vorhanden sein werden. Deshalb wird es demnächst – ob

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mit oder ohne KI-Unterstützung – immer schwieriger werden, den Wahrheitsgehalt oder die Faktentreue eines Textes zu bewerten. Betroffen sind in diesem Zusammenhang freilich nicht nur Texte, sondern auch Fotos, Videos und Stimmen, die mittels DeepFakes immer perfekter simuliert werden können. Das heißt, auf die maschinelle Ent-täuschung wird künftig ebenso wenig Verlass sein wie auf Faktenchecks oder Berichte angeblich vertrauenswürdiger Medien und Institutionen. Wir gehen mit Theorien einer Totalsimulation in eine digitale platonische Höhle, um nach einem Ausweg zu suchen, den es erst einmal nicht geben wird. So wiederholt sich vielleicht die große Verunsicherung, die nach dem Gutenbergschen Buchdruck und der damit über die europäischen Gesellschaften hinwegrollenden Informationsf lut eingetreten ist. Die Folge waren Kriege um die richtige Auslegung der Bibel, aber überhaupt ein intellektueller Taumel, den beispielsweise Miguel Cervantes in der Figur des »Don Quijote« dargestellt hat, eines schriftgläubigen Lesers von Ritterromanen. Die Täuschung und die leichte Verführbarkeit des menschlichen Geistes wurden zum großen Thema dieser Schwellenzeit. Die Intellektuellen, Literaten und Künstler waren fasziniert von der allumfassenden Täuschung (span. engaño), die dem Betrachter – wie die Schemen in Platons Höhlengleichnis – möglichst glaubwürdig erscheinen sollte. »Das Leben ist ein Traum« (Calderon) war der Ausgangspunkt, der philosophisch schließlich im cartesianischen Zweifelsgang mündete, der – ernüchtert – zur Entdeckung neuer Gewissheiten führte und den Auftakt zur Auf klärung markierte. Anders als in der Antike, als sich die Schrift durchsetzte, und in der Renaissance, als der Buchdruck Furore machte, tritt nun mit der digitalen Informationstechnik ein neuer, zwar immer noch vom Menschen geschaffener, aber nicht-humaner Schreib-/Lesekopf auf die Bühne, der seine Leseerfahrung nach Aufforderung in etablierte Textformen umsetzt. Allerdings sind diese digitalen Produkte bislang noch nicht als solche ausgewiesen, und das wird vermutlich auch nie vollständig der Fall sein, vielmehr vermischen sie sich zunehmend mit den menschengemachten Textströmen. Wir sind als Leser dann konfrontiert mit hybriden Texten. Wir wissen einerseits nicht, wer da zu uns spricht, weil die aus Hunderten von Milliarden,

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vielleicht gar aus Billionen »Neuronen« mit ihren Vernetzungen bestehenden künstlichen Gehirne selbst für ihre Erschaffer eine Black Box sind, wie das vor dem Auf kommen der bildgebenden Verfahren unser biologisches Gehirn ebenfalls war, dessen Aktivitäten wir dank der heute verfügbaren Scanner zwar allmählich besser lesen, aber bei Weitem noch nicht im Detail verstehen können. Vor allem aber vertieft sich durch das Auftreten des neuen informationsverarbeitenden digitalen Lesers und Schreibers, dessen Kapazitäten denen des Menschen weit überlegen zu sein scheinen, das – ungeachtet aller großartigen Produkte unserer Schriftkultur – seit Beginn der Schrift bestehende Misstrauen gegenüber Texten, aber auch gegenüber Gesprochenem und Bildern. Da Sprache das, worauf sie sich bezieht, nicht durch eine wie auch immer geartete Ähnlichkeit ihrer Laute oder Zeichen mit dem Bezeichneten abbildet, ist sie immer eine Möglichkeit und ein Mittel, sich von der Welt zu lösen, aus ihr zurückzutreten, frei zu fabulieren und neue Sichtweisen vorzustellen. Mit der Philosophie entstand der Skeptizismus, besser: Aus der Skepsis gegenüber dem herrschenden Wissen entstand die Philosophie. Die Herrschenden hatten, seit Texte zirkulieren, immer Angst, dass ihre Macht durch neue oder abweichende Ideen oder Meme untergraben werden könnte. Die Beherrschten dagegen mussten lernen, welchen Quellen sie vertrauen konnten, und die Fähigkeit entwickeln, bei den herrschenden Medien zwischen den Zeilen zu lesen, die nicht Wahrheiten über politische, kulturelle oder gesellschaftliche Zusammenhänge oder Ereignisse verbreiten, sondern mehr oder weniger begründete bzw. belegte Perspektiven, mitunter auch Desinformation und Lügen. Ein Fall, mit dem es die deutsche Öffentlichkeit vor einigen Jahren zu tun hatte, ist die Relotius-Affäre. Es ging dabei um den Journalisten Claas Relotius, der z.B. im »Spiegel« teils oder sogar komplett erfundene Reportagen publiziert hatte. Besonders in Konf likten wird strategisch kommuniziert, versuchen Gegner die Öffentlichkeit zu beeinf lussen und beschuldigen sich im Kampf um die Köpfe gegenseitig, Desinformation oder alternative Fakten zu verbreiten. Das führte dazu, dass sich immer mehr angebliche Faktenchecker, aber auch staatliche Agenturen, etabliert haben, die sich im Kampf gegen Desinforma-

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tion, weaponized information, Fake News, alternative Fakten, Halbwahrheiten und Lügen sehen, aber damit oft, weil selbst einseitig, die Verwirrung noch steigern. Die KI-»Sprachmodelle« können, so warnt selbst OpenAI, die Lage noch verschlimmern. Frage an ChatGPT 3: Ist es möglich festzustellen, ob ein Text maschinell oder von Menschen erstellt wurde? »Ja, es ist möglich, mit Hilfe von Techniken wie der Verarbeitung natürlicher Sprache und maschinellem Lernen festzustellen, ob ein Text maschinell oder von Menschen erstellt wurde. Ein gängiger Ansatz ist die Verwendung eines trainierten Modells, um den Text zu analysieren und vorherzusagen, ob er von einem Menschen oder einer Maschine geschrieben wurde. Andere Methoden umfassen die Analyse des Stils, der Grammatik und des Wortschatzes des Textes sowie die Überprüfung auf bestimmte Muster oder Merkmale, die eher in maschinell erstellten Texten zu finden sind. Die Genauigkeit des Modells und der verwendeten Methode kann jedoch variieren, und es ist nicht immer möglich, mit hundertprozentiger Sicherheit festzustellen, ob ein Text von einem Menschen oder einer Maschine geschrieben wurde.« Hier sei noch angemerkt, dass die Frage und die Antwort auf Englisch formuliert waren und vom KI-Programm DeepL ins Deutsche übersetzt wurden. Nach der Markteinführung von ChatGPT 4 habe ich dieselbe Frage noch einmal auf Deutsch gestellt. Dabei habe ich – abgesehen von einigen Abweichungen – eine ganz ähnliche Antwort erhalten. Hier ein Auszug: »In der Regel sind maschinell generierte Texte begrenzt auf den Inhalt und die Themen, für die sie programmiert wurden, und haben Schwierigkeiten bei der Erstellung von nuancierten, kreativen oder emotionalen Texten. Im Gegensatz dazu können menschliche Autoren mit kreativen Ideen, Nuancen und Emotionen in ihren Texten aufwarten.«

Einleitung

Die Leistungen von Erkennungstools »beurteilt« das Programm skeptisch: »Es ist jedoch zu beachten, dass maschinell generierte Texte zunehmend anspruchsvoller werden und es daher schwieriger wird, sie von menschlichen Texten zu unterscheiden.« Gut möglich, dass von Menschen geschriebene Texte künftig vor allem wegen der in ihnen enthaltenen Fehler und semantischen und grammatikalischen Abweichungen/Innovationen zu erkennen sein werden. Allerdings ließe sich dieser Effekt natürlich auch wieder maschinell erzeugen, obwohl die dafür benötigten Rechenzeiten und deren Energieverbrauch für die meisten Nutzer zu teuer werden dürften. Natürlich lässt sich fragen, warum wir überhaupt mittels einer Art Turing-Test oder durch KI-Detektoren erkennen wollen, ob ein Text von einem Menschen oder einer Maschine stammt. Wir kennen ja als Leser die Menschen in der Regel nicht persönlich, die bestimmte Texte verfasst haben. Solche Texte können uns ungeachtet der Person überzeugen, abstoßen, nützlich sein, uns gefallen, als Blödsinn, unlogisch oder was auch immer erscheinen. Das dürfte uns mit maschinell erzeugten Texten ähnlich ergehen, wenn die erste Gewöhnungszeit vorüber ist. Was wir an solchen Produkten allerdings vermissen werden, so meine Vermutung, ist die subjektive Position, die von einem menschlichen Autor notwendig eingenommen wird. Bei bestimmten Textsorten, in denen neutral, objektiv, sachlich – also unter Verzicht auf emotionale und individuelle Bewertungen, Vorurteile, Beschränkungen etc. – berichtet werden soll, wird diese Subjektivität allerdings als Mangel betrachtet. Allerdings hat die Medienkritik gezeigt, dass eine Neutralität oder Objektivität etwa der Berichterstattung, die den Berichterstatter gewissermaßen retuschiert, kaum möglich ist. Deshalb werden auch in Beiträgen von Nachrichtenagenturen mittlerweile oft die Autoren genannt. Seit die subjektive Komponente sich in Kommentaren, Meinungsartikeln, journalistischen Gesprächen und Reportagen immer mehr Geltung verschafft, haben die Nachrichten oder Berichte selbst renommierter Mainstreammedien deutlich an Überzeugungskraft verloren. Das hat auch damit

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zu tun, dass gerade mit dem Internet die Zahlen der Autoren, Texte und Medien explodiert sind, auf die jeder Einzelne prinzipiell Zugriff hat. Dabei wird den Stimmen der ehemals großen Medien und Institutionen in puncto Seriosität kein Vorrang mehr konzediert, vielmehr sind sie lediglich Teil des anschwellenden und schnell strömenden Informations- und Kommunikationsf lusses auf unseren großen und kleinen digitalen Bildschirmen. Wenn man davon ausgeht, dass KI-Leser und -Autoren zunehmend ihre Beiträge in den Informationsstrom einspeisen können, wird sich, so die These, die Erwartung des (menschlichen) Lesers (und allgemein Medienkonsumenten) verändern. Die KI-Texte gleichen in ihrer Form den grammatikalisch korrekten Sätzen eines durchschnittlichen Autors, der versucht, sachlich zu schreiben und sich als Person zurückzunehmen. »Sprachmodelle« wie ChatGPT können natürlich Sätze in beliebiger Länge verstehen und schreiben. So hat ChatGPT etwa auf meine Aufforderung einen »sehr langen Text« mit zehn Nebensätzen verfasst, wobei die einzelnen Sätze stets eine einfache Struktur hatten und leicht verständlich waren, aber am Schluss folgte die Mahnung: »Ich denke, dass es in der Regel besser ist, kürzere Sätze zu verwenden, um die Klarheit und Verständlichkeit zu erhöhen und es dem Leser oder Zuhörer zu erleichtern, den Inhalt zu verarbeiten und zu verstehen.« Der Trend ist klar: Sätze sollen angesichts der immer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne des lesenden Publikums möglichst kurz sein und maximal ein oder zwei Nebensätze enthalten, um diesem Publikum eine schnelle – nicht innehaltende oder gar nachdenkliche – Lektüre für ein schmaler werdendes Aufmerksamkeitsfenster zu ermöglichen. Nur als Beispiel genannt sei ein Artikel in dem Onlinemagazin »Fachjournalist«1, der als Lehrtext über journalistisches Schreiben natürlich die übliche unhinterfragte Zielvorgabe propagiert, auch wenn nebenbei gesagt wird, dass es keine »objektive Information« gibt: und zwar die Trennung von Information und Meinung. Ziel journalistischer Arbeit ist es demzufolge, dem Leser in einer »nüch-

Einleitung

ternen, sachlichen, kommentarlosen« und wertneutralen Sprache objektive Informationen zu präsentieren. Dabei ist es wichtig, unpersönlich und unparteilich zu formulieren, »ohne ausschmückende Abschweifungen und deutende Ref lexionen«. Letztlich geht es darum, wie in dem Text auch verraten wird, »einer Information einen sogenannten ›objektiven Anschein‹ zu geben«. Als erste »Goldene Regel« wird genannt: »Leser gehen grundsätzlich davon aus, dass ihnen das Mitgeteilte relevant und sinnvoll dargeboten wird. Je klarer das Textschema ist und je widerspruchsfreier die aufgenommenen Einzelinformationen integriert werden können, desto schneller und müheloser wird gelesen. Meist ist das Lesetempo am Beginn des Textes langsam, steigert sich, wenn die vorhandene Textgrammatik erkannt ist. Verstößt ein Text gegen das erwartete Schema, wird er nicht nur langsamer verarbeitet, sondern kann auch auf Lesewiderstand stoßen. Solange der Text also keinen Widerstand leistet, wird beim Lesen Kohärenz hergestellt, wird der Inhalt erfasst.« 2 Schnelligkeit ist das oberste Ziel, Komplexität muss abgeschliffen werden, inhaltliche und satzliche Sperrigkeit sind des Teufels »Lesewiderstand« – welch ein Wort. Bedeutet, der Leser soll keine Arbeit leisten und die Nachrichten der Welt wie Fastfood schlucken, was auch heißt, das von dem betreffenden Text gelieferte Bild der Welt darf nicht widersprüchlich, kompliziert, ambivalent, abstoßend, schrecklich sein und sich den vermeintlichen Erwartungen des Lesers nicht widersetzen. In etwa so, sich den Anschein von Objektivität oder Neutralität gebend, erteilt auch ChatGPT seine Antworten. Es ist der maschinell umgesetzte Versuch, so zu tun, als gebe es keinen Bias, was auch dadurch geschieht, dass gewissermaßen massenkonform und mitunter auch in Gestalt von der KI weiter verbreiteter Lügen und Erfindungen Sätze gebildet werden, die angeblich keine persönliche Sicht wiedergeben, auch wenn es dabei immer wieder mal wegen der statistischen Wahrscheinlichkeit bestimmter Wortaneinanderreihungen zu Ausreißern kommt. Die KI-Systeme sind, zumindest derzeit, keine Individuen, auch wenn sie »ich« sagen, son-

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dern die Verkörperung von Durchschnittslesern und -schreibern. Das wäre sozusagen die Verkörperung des common sense oder des sogenannten gesunden Menschenverstandes, der auch oft genug danebenliegt. Natürlich ließen sich auch KI-Programme individualisieren, man könnte sie beispielsweise nur an den Texten und sprachlichen Äußerungen eines bestimmten Menschen und den Sprechgewohnheiten in dessen sprachlichem Umfeld trainieren, aber das wäre erst einmal nur unter großem Rechenaufwand möglich und mit hohen Kosten verbunden. Allerdings würde es keinen Sinn ergeben und als Anwendung auch nicht kommerziell interessant sein, wenn man für Millionen von Menschen Avatare generieren würde, die so lesen, schreiben und sprechen wie jeder Einzelne in dieser Zielgruppe. Gefragt sind Anwendungen, die Menschen in einer bestimmten Funktion und den damit einhergehenden Aktivitäten ersetzen. Daraus lässt sich ableiten, dass sich mit den Sprachmodellen wahrscheinlich ein schon lange bestehender Druck auf die Menschen verstärken wird, sich von den Maschinen und damit der Masse durch stärkere Individualisierung des Schreibens und Sprechens zu unterscheiden. Das wird zu einer noch stärkeren Ausbildung von gruppenspezifischen, soziolektalen Sprachen führen, was wiederum neue Lese- und Sprachkompetenzen erfordert, um solche Abnormalitäten zu verstehen. Und es wird dazu führen, dass das Lernen von Lesen und Schreiben, das bislang auf eine genormte Sprachkompetenz in einer Hochsprache mit vorgeschriebenen Schreibweisen und grammatikalischen Regeln durch Ausmerzung von Besonderheiten ausgerichtet ist, sich verändern muss. Diese Normierung von Schrift und Sprache, die Fixierung von standardisierten Nationalsprachen und die damit einhergehende Ablösung des Lateinischen als Welt-, Amts- und Wissenschaftssprache sind eine Folge des Buchdrucks bzw. des Massenmediums Buch gewesen. Zentral waren hierbei zunächst die Verbreitung der Lutherbibel und die Verwendung der maschinellen Typographie durch Setzkasten und Lettern. Weitere Schritte waren dann die Verbreitung der Zeitschriften, die Entstehung von Nationalstaaten, die Gründung von Schulen, die Einführung von Lesebüchern und schließlich die staatliche Reglementierung der Hoch- und Amts-

Einleitung

sprache. Jeder sollte verstehen, was andere schreiben und sagen, was auch Übersetzungen erleichterte, aber es ging auch darum, die freie Sprachentwicklung von unten zu unterbinden und ein Raster von Richtig und Falsch zu etablieren, das die normierte Sprache von der – regional geprägten – gesprochenen Alltags- oder Umgangssprache unterscheiden sollte. In der frühen Neuzeit wurde diese Normierung auch durch das Streben nach einer »schönen« und »reinen« Sprache vorangetrieben. So wurde die Verständigung auf Kosten der Variation beschleunigt und Eigenheiten waren fortan nur noch in kulturellen Reservaten wie der Literatur erwünscht. Inspiriert durch die biblische Geschichte von der Sintf lut, derzufolge alle Menschen früher einmal in »einerlei Zunge und Sprache« (1. Moses 11) gesprochen hatten, entstand auch die Idee einer Universalsprache bzw. einer »adamitischen« Ursprache. In großer Gemeinsamkeit, so heißt es im Alten Testament, wollten die durch eine einzige Sprache und als ein Volk vereinten Menschen eine Stadt und in ihr einen Turm bauen, der zum Himmel reichen sollte, wohl auch, um das eigene kollektive Überleben im Fall einer neuen Sintf lut zu sichern. Dieser Turm kam Gott zu nahe, von dem wir nicht wissen, welcher Sprache er sich bediente, als er die Welt schuf. Den »Übermut« der sprachlich zuvor vereinten und zu allem fähigen Menschheit bestrafte er durch die Sprachverwirrung, sodass die Menschen, weil sie einander nicht mehr verstehen konnten, die Stadt und den Turm nicht mehr weiter bauen konnten und sich auf der ganzen Erde verstreuten. Praktisch setzte sich mit dem Englischen Jahrhundert nach dem Untergang des Lateinischen wieder eine Weltsprache durch, die zwar im mündlichen Austausch relativ f lexibel ist, aber schriftlich ebenfalls einem Normierungsdruck unterliegt. So ist die Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks inzwischen ebenso verloren gegangen wie die Diversität der Sprachen. Das Ergebnis: Zahllose Sprachen sind durch diese Homogenisierung bereits ausgestorben oder zum Untergang verurteilt. Der digitale Code – 1 oder 0 – ist letztlich die Einlösung dieser Sprachutopie der allgemeinen bruchlosen Verständigung. Alles, was genormt ist, können KI-Sprachmodelle perfekt reproduzieren, nicht nur »ordentliche« Sätze und die Standardbedeutung von Wörtern in vielen Sprachen, sondern

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auch die jeweils richtige, also für eine Nationalsprache verbindliche, Schreibweise und Grammatik sowie genormte Texttypen (Artikel, Briefe, Vorträge, Aufsätze, Bedienungsanleitungen, Gesetzestexte, rhetorische Formulierungen etc.). Die oben postulierte künftig verstärkte Individualisierung des Schreibens könnte man auch als Entfesselung der Sprache bezeichnen, weil der Normierungsdruck, dem die Menschen heute ausgesetzt sind, durch die Verlagerung der Lektüre und des Schreibens auf Maschinen nachlässt, während ein neuer Zwang entsteht. So sieht sich der Einzelne, um die eigene Individualität zur Geltung zu bringen, genötigt, kreativ und außerhalb der Norm zu denken und zu schreiben, was dann natürlich auch das Lesen verändern wird. War die Tendenz zur typographischen Normierung, die sich schon vor dem Buchdruck feststellen lässt – beginnend etwa mit den Leerstellen zwischen den Wörtern, die leises Lesen ermöglichten – auf die Geschwindigkeitssteigerung des Lesens ausgerichtet, so werden die superschnellen KI-Lese- und Schreibköpfe im Gegenzug das menschliche Lesen angesichts der neuen typographischen, stilistischen und neologistischen »Sprachverwirrung« wieder verlangsamen. Das wird etwa auch deswegen notwendig werden, weil zumindest für Prüfungen, Bewerbungen, Veröffentlichungen etc. Geschriebenes künftig vermehrt auf Plagiate und die Verwendung von »Sprachmodellen« hin getestet wird. Vermutlich wird sogar Gesprochenes demnächst einem solchen Test unterzogen, weil die dazu jeweils Berechtigten wissen wollen, ob der Sprecher seinen Text lediglich auswendig gelernt hat. So wird, was früher als Beleg für einen Lernerfolg galt, fortan wohl als Ausweis fehlender Kreativität oder Abweichung von der Norm angesehen werden.

I. Das leere Blatt

Wie beginnt man ein Buch mit Essays, also mit Versuchen über das Phänomen Lesen? Das ist eine Frage des Autors an sich selbst, aber auch eine rhetorische an die möglichen, jedoch für den Autor abwesenden und unbekannten Leser. Der Leser hat schließlich Erwartungen, wenn er etwas über das Lesen lesen will, der Autor ebenso, der gleichzeitig sein erster überaus kritischer Leser ist. Das Buch ist erst einmal nur ein Projekt, also etwas, das in der Zukunft liegt, das wirklich werden soll und das gleichzeitig zum Imaginären drängt, sich als Insel des Möglichen im Wirklichen darstellt. Aber ein solches Schreibprojekt ist nicht nur eine immaterielle, wenn auch auf neuronalen Vernetzungen basierende Vorstellung davon, was erst noch werden soll, denn es liegt auch zu Beginn etwas vor: die leere Seite, heute in der Regel der bis auf die Menüleisten leere Bildschirm – mitsamt der Erwartung, dass etwas darauf auftreten, in Erscheinung treten soll – in einer übersättigten Welt, in der sich zahllose Texte in vielen Formaten und andere Produkte darum drängeln, in die f lüchtige Aufmerksamkeit der Menschen zu geraten und überhaupt von den nomadischen Informationsjägern und -sammlern wahrgenommen zu werden. Deren Blick würde gelangweilt an der leeren Seite abrutschen, vor der sich der Autor zu Beginn befindet. Aber dazu später, erst einmal sind Klärungen erforderlich, was unter Lesen verstanden wird. Meist wird suggeriert, wenn man von Lesen spricht, dass es um Bücher oder Zeitschriften, also um Texte in Schriftform geht. Das können natürlich nicht nur wie bei uns angeordnete Buchstabenfolgen oder Ideogramme sein, sondern auch Zahlenkolonnen oder Algorithmen. Aber wir müssen eigentlich fortwährend und überall

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Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

lesen, um uns in der modernen Welt zurechtzufinden, die viele Arten von Schriftkundigkeit, nicht nur in alphabetischer Schrift, voraussetzt: Formulare, Preis- oder Namensschilder, Bedienfelder von Maschinen, Verkehrszeichen, Wegmarkierungen, Bedienungsanweisungen, Angaben über Inhalte oder Bestandteile von Produkten, Karten, Menüs von Programmen, Münzen und Scheine, Uhren und Thermometer etc. Die von Menschen gemachte (Um-)Welt spricht dauernd zu uns, um uns anzuleiten, aufmerksam zu machen und zu formieren bzw. zu steuern. Aber auch darin erschöpft sich der lesende Blick selbstverständlich nicht, schließlich haben wir menschheitsgeschichtlich schon vor dem Lesen von schriftlichen Texten permanent gelesen, weswegen das Lesen von Sprachschriften auch abgeleitet ist vom Lesen vieler anderer Zeichen: der Gestik und Mimik unserer Mitmenschen, der Vielzahl von Formen, Spuren, Farben und Bewegungen der natürlichen Welt, denen Namen gegeben werden, womit sich ein Spalt zwischen Wahrnehmung/Signifikat und Zeichen/Signifikant auftut, der nie mehr geschlossen werden kann. Gott, so schrieb Augustin, einer der großen Intellektuellen des Christentums, habe eigentlich zwei Bücher geschrieben: das Buch der Natur und die Bibel, das Buch der Erlösung und das Buch der Offenbarung.3 Spätestens seit Etablierung der Schrift lesen wir die Natur und die Welt als Einlösung oder Projektion der Schriftzeichen, was auch heißt, das Buch diktiert, was in der Natur gelesen werden kann oder soll, weil das Andere des Buches nur ein Spiegel des Textes wäre, in den sich die Sprache ebenso wie in die Natur einschreibt. Die Metapher von der Welt als Buch suggeriert, dass die Schrift der Erfahrung schon immer vorhergegangen sei. Die Menschen mussten aber auch vor der Erfindung der Schrift nicht nur ihre Umwelt verstehen und die bedeutsamen Zeichen lesen, sie haben auch immer versucht, aus dem Sternenhimmel und anderen Strukturen wie den Handlinien, Steinen, Knochen etc. Bedeutung und Vorhersagen herauszulesen. Und letztlich liest das um sich blickende, wahrnehmende und aufmerkende Gehirn mit seinen in schnellen Sakkaden unruhig wandernden Augen und dem zeitlichen Takt des Bewusstseinsfensters, das alle zwei bis drei Sekunden den Rahmen wechselt, die gesamte sichtbare Umgebung. Sie

I. Das leere Blatt

besteht aus unzähligen Informationen und Reizen, die zunächst überblickt, in ihren Formen, Farben und Bewegungen erkannt, selektiert und gebündelt werden müssen, um überhaupt eine bedeutungsvolle Ansicht zu ergeben. Lesen von Schrift, die auf die Welt Bezug nimmt, ist selbstverständlich keineswegs dasselbe wie das Lesen der außersprachlichen Zeichen in der Welt. Wenn Texte gelesen werden, ist das ein Schnitt, ein Ausstieg aus der Welt in eine andere Welt, die uns als Spiegel der verlassenen Welt erscheint, womit der Schmerz des Schnitts betäubt wird. Lesen holt uns aus der Welt heraus, trennt uns von ihr, aber ist auch genauso wie das Schreiben, eine verrückte Befreiung der Gedanken, ein Sprungbrett ins Imaginäre oder eine Anleitung zum Übersteigen der vorgefundenen Wirklichkeit. Das in seinem heute privilegierten Verständnis von dem lateinischen Verb legere beeinf lusste Wort »lesen« bedeutete ursprünglich: sammeln, herauspicken, klauben o.Ä. Das setzt voraus, das zunächst durch Unterscheidung (Figur-Hintergrund, Traube-Rebstock, Buchstabe-Seite) etwas auseinandergehalten und ausgewählt wird, was ausgelesen oder erlesen wird, also wichtig genug ist, um es zu einer »Lese« oder Ernte zusammenzufügen. Auch im Altgriechischen bedeutet λέγω nicht nur lesen, sondern auch legen, sammeln, zusammenlegen sowie zählen und rechnen. Lesen scheint nach dem Wortsinn etwas damit zu tun haben, dass etwas als von anderem verschieden identifiziert und dann in der Folge ausgewählt und aufgesammelt wird. Das ist bei jeder Art von Schrift der Fall, da die Elemente in einer das Sammeln vereinfachenden festgelegten Folge geordnet, geschrieben und gelesen werden – in linearer Folge, eines nach dem anderen, was nicht nur eine zugrundeliegende Geschichte suggeriert, sondern auch eine Fortschrittsgeschichte von einem Anfang bis zu einem möglichen Ende. Vilém Flusser hat in seinem Buch »Die Schrift« deswegen die Schrift mit dem »historischen Bewusstsein« verbunden, Geschichte gebe es erst wirklich mit der Niederschrift, der Fixierung der Ereignisse in einem dauerhaften Gedächtnis, und mit der linearen Ordnung, die menschliche Schriften auszeichnet, egal ob von links nach rechts oder von oben nach unten oder umgekehrt geschrieben und gelesen wird: »Geschichte ist eine Funktion des Schreibens und

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des sich im Schreiben ausdrückenden Bewusstseins.«4 Das ist wahrscheinlich eine übertriebene, aus dem Rückblick auf Vergangenes formulierte These, da Geschichten auch mündlich überliefert werden, sich allerdings dabei stetig verändern und die vorhergehenden Versionen im Dunkel der Vergangenheit verschwinden. Das kennt jeder, der schon einmal »Stille Post« gespielt hat. In diesem Sinne steigt man nie in denselben Fluss, wie Heraklit sagte, was aber mit der Schrift möglich wird, die im Übergang vom Oralen zum Text Geschichten festhält, die deswegen natürlich nicht wahrer werden. Die von Flusser betonte Linearität ist jedenfalls ein Zwang zur Ordnung, was sich im mühsamen Erlernen der Schrift zeigt, egal ob man von den Buchstaben, den Lauten und Silben oder den ganzen Worten ausgeht, die dann in Silben und Buchstaben zerlegt werden. Es geht nicht nur um das Identifizieren von Buchstaben aus deren Graphemen, sondern auch um deren Verbindung zu Lauten und dann zu Silben. Kinder lernen lesen, indem sie die Buchstaben mit Lauten verknüpfen, Silben und schließlich Worte bilden, also laut sprechen. Jahrhundertelang las man in der Regel nicht still, sondern laut, um zu verstehen, was die Augen sehen. Wir kommen später darauf zurück. Beim Erkennen von Buchstaben spielt noch ein weiterer Vorgang herein: Dem linearen (Auf-)Lesen geht ein Bewerten oder ein kritisches Bewusstsein vorher, schließlich werden nur Teile des Unterschiedenen, beispielsweise einzelne Buchstaben auf einer Seite, gesammelt, der Rest wird zum unwichtigen Hintergrund, der überlesen und nicht weiter beachtet wird. Der Begriff Kritik stammt vom griechischen kritein: unterscheiden, trennen, (ab-)sondern, was ein Beurteilen und Verstehen erst ermöglicht. Vilém Flusser bemerkte zu dem etymologischen Zusammenhang von Verstehen, Lesen und Intelligenz: »Intelligenz ist die Fähigkeit, etwas aus einem Haufen herauszupicken.«5 Intelligenz bedeutet wörtlich dazwischen lesen oder sammeln, im Lateinischen kann intellegere (be-)merken, verspüren, wahrnehmen, fühlen, empfinden, erkennen, denken, wissen etc. bedeuten, mithin: irgendetwas bewusst wahrnehmen, was dem Lesen vorangeht. Beim Ernten von Weintrauben hat sich noch erhalten, dass von einer Traubenlese gesprochen wird. Man liest in diesem Sinne visuel-

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le Sinnesreize, die ein Objekt bilden, ähnlich wie Buchstaben, die als Form von ihrer Umgebung unterschieden werden, um daraus ein Wort bzw. Sätze oder ein Objekt bzw. ein Bild zu konstruieren. Historisch wurde aus dem Lesen als dem Sehen und (Auf-)Sammeln von Dingen wohl wegen der Ähnlichkeit der Tätigkeit des Unterscheidens, Erkennens und Aufsammelns abgeleitet, dass auch Schrift gelesen wird, bis dann Lesen vorwiegend als Rezeption von Schrift verstanden wurde. Der Mathematiker und Psychologe Stanislas Dehaene erklärt das Lesen auf neuronaler Ebene ebenfalls durch die beherrschende und auch erzwungene Linearität: »Das gesehene Objekt wird in Myriaden von Fragmenten zerlegt, die das Gehirn anschließend wieder zusammensetzt – Strich für Strich, Buchstabe für Buchstabe. Man erkennt ein Wort, indem man zunächst die Buchstabenfolge analysiert und darin bestimmte Kombinationen ortet (Silben, Vorsilben, Nachsilben, Wortstämme), die man schließlich mit Lauten und Sinngehalten verbindet.«6 Es ist also anfangs eine anstrengende Arbeit, die Aufmerksamkeit so zu disziplinieren, bis die Vorgänge für die erlernte Sprache mit allen unterschiedlichen Schriftarten und Schreibweisen weitgehend automatisiert werden und, sofern still gelesen wird, nicht mehr vom Bewusstsein aktiv gelenkt werden müssen. Allerdings wird die Linearität der Schrift beim normalen Lesen im Gehirn virtuell rekonstruiert, denn die Augen springen, wie sich durch Eye-Tracking feststellen lässt, in Sakkaden von einer Fixation über eine gewisse Strecke der Leserichtung entlang der Zeile zu einer anderen, weil unsere Augen nur in der Fovea, dem Zentrum der Retina, so scharf sehen können, dass einzelne Buchstaben erkannt werden können. Dabei werden in dem Fenster der Sehschärfe bis zu 20 Buchstaben oder bei logographischen Schriften mit höherer Informationsdichte wie dem Chinesischen weniger Zeichen erkannt. Zwischen den Sakkaden – und dem Blinken der Augen – sind wir übrigens blind, es gibt also ähnlich wie bei dem klassischen Film immer einen schwarzen Abstand zwischen den einzelnen Bildern, den wir aber bei entsprechender Geschwindig-

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keit nicht wahrnehmen bzw. übersehen, da das Gehirn eine Kontinuität des Sehvorganges simuliert. Unabhängig davon, ob von links nach rechts, von rechts nach links oder von oben nach unten gelesen wird, werden stets weniger Zeichen gegen die Leserichtung als in dieser erfasst, was auf die Vor-Sicht oder die »fortschrittliche« Linearität hinweist. Um eine Zeile zu erfassen, springen die Augen mehrmals in einer Sekunde von einer Fixation zur nächsten, mitunter auch vor und zurück, bei Erkennungs- und Verständnisschwierigkeiten öfter, um den Anschluss zu finden. Dabei können »unwichtige« Buchstaben und Worte im Blickschatten bleiben, weil sie kognitiv ergänzt werden können, während die für die Bedeutung wichtigen Buchstaben und Worte herausgepickt werden. Zudem wird über die hier nur angedeutete VeRsCHiedenheit vOn BucHStaben und Worten hinweggesehen, ein Buchstabe wie a oder b ist wie eine platonische Idee immer a oder b, egal wie groß oder klein, ob schwarz oder farbig, mit der Hand geschrieben oder gedruckt und in welcher Schriftart. Die umständliche Prozedur verhilft zur besseren Erkennung und Unterscheidung der Worte, im Unterschied zu alten Texten typographisch erleichtert durch einen Abstand, aber setzt der Lesegeschwindigkeit auch Grenzen. Texte sind wie Straßen, sie erzwingen eine Leserichtung, bei Bildern oder visuellen Szenen wandern die Augen je nach der Struktur und den Interessenpunkten nicht linear, sondern hüpfen über die Szene.

Die Leere am Beginn von Lesen und Schreiben und der Ausbruch aus der Schriftkultur Es gibt seit der Antike die Vorstellung, Wahrnehmung sei ein Vorgang, durch den sich Reize bzw. Dinge von außen in ein leeres Gehirn wie auf eine Ton- oder Wachstafel einritzen oder eindrücken. Mit der Schrift entsteht nicht nur die Vorstellung einer leeren Fläche, die gefüllt wird, sie wurde auch materiell geschaffen, um das Schreiben überhaupt zu ermöglichen. Die vielleicht ersten künstlich hergestellten Schriftträger dürften kleine Tontafeln mit einer geglätteten Oberf läche gewesen sein. In das weiche Material ließen sich leicht mit einem Griffel Zeichen einritzen. Zum Abschluss ge-

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brannt, waren sie haltbarer als andere Materialien wie beispielsweise Papyrus. Wenn das Einritzen von Zeichen in Tontafeln zur Analogie für die Wahrnehmung wird, dann geht Schreiben dem Lesen vorher: Wir lesen, was die Natur getreulich als Repräsentation in unser Gehirn geschrieben oder gezeichnet hat. Franz Kaf ka hat diesen Gedanken in seiner Erzählung »In der Straf kolonie«7 in das Bild einer Schreibmaschine gefasst, die einem Verurteilten langsam mit vielen Verzierungen das Urteil in den Leib ritzt, was dann kurz vor dem Tod zu einer erlösenden Erkenntnis werden soll (was aber in der Geschichte nicht funktioniert). Wenn die Natur in das leere Gehirn schreibt, dann spiegelt sich die Schrift der Natur mit den einzelnen Impressionen in der reproduzierenden Schrift des Gehirns, das mit seiner Vernunft die Zusammenhänge erkennt, um daraus wiederum Bücher über die Natur, den Menschen und seinen Geist oder sein Gehirn zu schreiben. Daraus lässt sich dann die Hypothese ableiten, dass »Nihil est in intellectu, nisi prius fuerit in sensu«,8 wie das bereits Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert mit Aristoteles gegen den Platonismus gewendet behauptet hat: Nichts ist im Geist, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist. Das wäre insofern beruhigend, weil die Welt, wie wir sie wahrnehmen, durch die Reproduktion dann auch so wäre, wie sie uns erscheint. Die These eröffnet auch die Möglichkeit, aus dem Stand heraus zu philosophieren, ohne auf tradiertes Wissen in Büchern, Dogmen oder Vorurteilen und von Autoritäten auf bauen zu müssen. Die Maxime wäre: Schauen statt lesen. Man könnte auch sagen, die Bücher müssen zugeschlagen werden, um die Welt sehen zu können. Unklar bleibt die Metapher allerdings, weil nicht gesagt wird, in welcher Sprache die Natur das Gehirn der Menschen beschreibt. Sind es Bilder, die Visuelles widerspiegeln, aber auch Töne, Geschmacksmuster, Gerüche und Ein-Drücke in den Tastsinn? Wie verbindet sich die Schrift der Natur mit der menschlichen Sprache? Werden Wörter willkürlich gebildet, oder haben die Dinge ursprünglich ihren wirklichen Namen in einer von Gott gegebenen adamitischen Sprache erhalten, die nach der Explosion der Sprachenvielfalt weiterhin eine rudimentäre Verknüpfung von Wort und Ding gewährleistet? Oder müsste man aus den natürlichen Sprachen mit ihren Vieldeutigkeiten und idola (Francis

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Bacon)9, die allzu schnell zu falschen Zuordnungen zwischen den Dingen und den Wortbedeutungen führen, aussteigen, um eine objektive, universale, ja vollkommene Sprache mit eindeutig in Wörterbüchern definierten Bedeutungen zu konstruieren, mit der die Schrift der Natur erkannt und wiedergegeben werden kann? Aber auch die natürlichen Dinge sind nicht normiert, sondern mehr oder weniger ähnlich. Der Versuch, das Buch des Lebens zu lesen, bringt viele und manche neuen Probleme mit sich. Allerdings gibt dieser Ansatz gleichzeitig Anlass, über das Gefängnis des sinnlich Erscheinenden, das ja täuschen kann, hinauszugehen, für Platon in die wahre Welt der Ideen oder die der Metaphysik, die empirisches Wissen ermöglicht, aber ihm vorausgeht oder zugrundliegt. In der Neuzeit wurde das Bild von Jock Locke, einem philosophischen Vertreter des Liberalismus und Empirismus, in seinem »Versuch über die menschliche Vernunft« (1690) maßgeblich geprägt. Anders als der von René Descartes verfolgte Rationalismus, der Wissen bzw. Gewissheit vom Nullpunkt des Denkens aus konstruierte, versuchte Locke vom Nullpunkt der Erfahrung auszugehen, die ohne Vorprägung, damals gerne eingeborene Ideen genannt, äußere oder innere Wahrnehmungen auf dem »weißen Blatt« aufnimmt, aus denen dann Worte, das heißt Vorstellungen und Begriffe entstehen. Das ist gleichzeitig der erkenntnistheoretische Versuch, vom Anfang her zu denken, sich über das gesammelte Wissen hinwegzusetzen und eine tabula rasa an den Beginn zu stellen. Das verbindet dann doch Locke wieder mit dem Gegenspieler Descartes. Dieser hat in seinem methodischen Zweifelsgang radikal durchexerziert, dass alles Wahrnehmbare und auch das Denken selbst aufgrund der Täuschungsmöglichkeiten keinen festen Grund gesicherter und verallgemeinerbarer Erkenntnis bieten. Diesen gewinnen wir nur im Rückgang auf das selbstref lexive, aber leere Existential »Cogito ergo sum«, aus dem sich dann Erkenntnisse durch Deduktion vom Einfachen zum Komplizierten ableiten oder Ideen, vor allem die »klaren und deutlichen« angeborenen, erkennen lassen. Später hat etwa die von Edmund Husserl begründete Phänomenologie den Ausgang von der weißen Seite mit der Losung »zu den Sachen selbst« und der »Einklamme-

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rung« aller Urteile über die Existenz einer Außenwelt (Epoché) weitergeschrieben. Erstaunlich ist, dass immer wieder Intellektuelle, also die einstigen Schriftgelehrten auch in einer ansonsten weitgehend illiteraten Gesellschaft, das Verlassen der Buchwelt in Schriften und Büchern und das weiße Blatt eines unbeschriebenen Geistes propagiert haben. Im 5. Jahrhundert v. Chr. war Athen gesättigt von Schriften, Schriftstellern und Lesenden. Auch wenn Bücher teuer waren, so gab es Bibliotheken in Palästen, Tempeln, Gymnasien oder Philosophenschulen wie denen von Platon und Aristoteles, mehr und mehr auch private Bibliotheken, zudem Buchhändler und einen entsprechenden Büchermarkt. Die Ware Buch war aber noch teuer, schließlich musste jedes Exemplar von Hand abgeschrieben werden, weswegen man eigentlich immer ein Unikat mit einer persönlichen Handschrift in Händen hielt. Schreib- und Lesekompetenz war vermutlich zumindest bei den männlichen Bürgern der Oberschicht Athens und anderer Städte vorhanden, auch wenn meist vorgelesen und zugehört – und wohl auch in der Regel laut gelesen wurde. Es gab Schulen, die Notwendigkeit des Erlernens von Lesen und Schreiben war kein Thema mehr für die Avantgarde der Intellektuellen, die bereits in dieser Zeit begannen, den (Bücher-)Kult um die Schriftrollen ebenso zu hinterfragen wie das in Schrift fixierte Wissen. Das war gewissermaßen die Geburt der Medien- und Kunstkritik nach der Transformation der oralen zur schriftlichen Kultur. Platon beispielsweise hielt in seinem Dialog »Nomoi« das Erlernen von Lesen und Schreiben ab dem zehnten Lebensjahr zwar für »unentbehrlich«, allerdings nur für Knaben. Und er ließ den Athener auch sagen, dass insbesondere die unzähligen Werke der Dichter, mit denen sich die Jugend zur Bildung beschäftigen, die sie anhören und teils auswendig lernen soll, für das Gemeinwohl gefährlich seien, weil sie politisch und ethisch »Schlechtes« lehren können. Daher müsse der Gesetzgeber eine Auswahl treffen, also gewissermaßen zensieren, aber gleichzeitig auch dafür sorgen, dass das, was in der mündlichen Kommunikation als wichtig erscheint, verschriftlicht wird. Platon will in dieser Position eine elitäre Minderheitenmeinung sehen, während die Masse unkritisch

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Bücher, aber auch Reden, Theaterstücke etc. konsumiert. Der Glaube, Avantgarde zu sein, kennzeichnet bis heute das Selbstverständnis der Intellektuellen. Im »Phaidros« warnte Platon aber nach einer kritischen Auseinandersetzung über das Reden mit der bekannten Erzählung vom ägyptischen Gott Theuth, der neben der Astronomie oder der Mathematik auch die Schrift erfunden hat und diese dem ägyptischen König Thamus anzubieten versuchte, vor dem durch Schriften angelesenen Wissen. Lesen sei kein Mittel, um sich Wissen korrekt anzueignen, das Lesen führe vielmehr zum Vergessen und Scheinwissen, weil man sich auf das in der Schrift ausgelagerte Gedächtnis verlasse, ein Argument, dass auch heute mit Blick auf digitale Medien geläufig ist, wenn das Gedächtnis etwa auf Wikipedia ausgelagert wird oder Schreiben und Denken auf intelligente Bots wie ChatGPT: »Wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen.« 10 Wissensaneignung müsse, so Platon, weiterhin wesentlich im Gespräch mit Autoritätsgefälle von Lehrer und Schüler stattfinden, also wenn der Schüler nachfragen kann, vor allem aber wohl, wenn der Lehrer ein für ihn falsches Verständnis korrigiert. Die Schrift sei stumm, könne auf Fragen nicht antworten, sehe immer gleich aus, verbreite sich unkontrolliert und könne sich gegen ein falsches Verständnis oder gar eine geistige Vergewaltigung nicht verteidigen. Das von Autoritäten unkontrollierte Lesen bereitet Platon Sorgen, weil das Geschriebene nicht so verstanden werden muss, wie es vom Autor gemeint war. Wissen müsse daher tradiert und von Lehrern zu Schülern weitergegeben werden. Beim Übertritt von der oralen zur schriftlichen Kultur, vom Zuhörer zum Leser, geht die Kontrolle der Wissensübermittlung verloren, obgleich natürlich auch gewisse Redner, etwa die Sophisten, gefährlich für ein anvisiertes Leben im Wahren und Schönen sein können. Die Rede wird als »Seelenleitung«11 verstanden, weil sie direkt etwas in die Seele

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einschreibt, was schriftlich Fixiertes nicht leisten soll, da die Worte hier nur auf eine tote Fläche geschrieben werden. Das Paradox ist natürlich, dass Platon seine »Seelenleitung« als Gebärhilfe des richtigen Denkens nicht nur in seiner Schule praktizierte, sondern auch in seinen Schriften fixierte, die über 2000 Jahre später in unsere Hände geraten sind. In der Form der Dialoge sollte zwar die kommunikative Methode erhalten bleiben, aber selbstverständlich steht der Schüler im Dialog nicht für den Leser, der mit dem Text spielen und etwa als Anstoß eigener Gedanken zweckentfremden kann. Platon sieht das Schreiben allerdings dann doch auch als Spiel wie das Reden bei geselligen Zusammenkünften von Intellektuellen etwa auf Symposien: »Doch wird er, dünkt mich, wenn er schreibt, zur Spielerei das Gartenland der Schrift besäen und beschreiben, für sich selbst Erinnerungen aufspeichernd auf die Zeit, da er das vergeßliche Greisenalter erreichen wird, und für jeden, der derselben Spur folgt; und er wird sich freuen beim Anblick der aufgehenden Pflänzchen. Wenn andere andere Unterhaltungen pflegen, an Gelagen sich erquickend und den anderen Genüssen verwandter Art, dann wird, dünkt mich, er inzwischen anstatt dessen mit diesem Spiel sich unterhalten.« 12 Der Beginn des Schreibens vor dem Lesen ist, um auf die leere Schreibf läche zurückzukommen, nicht die Entwicklung einer Geschichte, die anschaulich durch das Entwickeln einer Schriftrolle Zug um Zug sich entfaltet, sondern gewissermaßen das Einwickeln der Schriftrollen, bis es nichts mehr zu lesen gibt, was Voraussetzung von allem Denkbaren ist. Paradebeispiel dafür ist wiederum Platon, der natürlich alle ihn interessierenden Schriften gelesen hat, aber die Figur des Sokrates in die Welt setzte, der Philosophie aus der geburtshelfenden Kommunikation eines Lehrers mit Zeitgenossen als Praxis, nicht als Theorie, hervorgehen ließ. Ausgangspunkt ist die Behauptung, nichts sicher zu wissen, was dazu führt, im Gespräch mit anderen, also in gesprochener, nicht in geschriebener Sprache, der Frage nachzugehen, was schließlich übereinstimmend als wahrscheinlich akzeptiert werden kann. Der schein-

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baren Gewissheit des Geschriebenen, das dem Lesen als Objekt und objektiv gegenübertritt, muss mit Skepsis begegnet werden, ließe sich Platons Haltung auslegen. Man könnte auch sagen, dass mit der Durchsetzung der Schrift der Leser zum Skeptiker, nicht nur zum Hermeneutiker werden muss. Wenn Sokrates selbst nichts mit Gewissheit weiß, dann wäre dies nur ein individueller Mangel, wenn nicht zugrunde gelegt wird, dass niemand – auch nicht Experten und Schriftgelehrte – das entsprechende Wissen haben kann. Natürlich behauptet Sokrates deswegen, dass auch niemand im Besitz eines sicheren Wissens sein könne. Wissen besitzt man nicht wie ein Buch oder eine Schriftrolle. Wissen entsteht im Kontext eines geführten Denkens, das als Dialog stattfindet. Die Frage ist, ob die Erinnerung daran authentisch ist, was auch das Aufgeschriebene und Gelesene wahr machen würde, oder ob die Erkenntnis entschwindet, wenn der Dialog endet und die gewonnene Erkenntnis aufgeschrieben wird. Im »Phaidros« lässt Platon Sokrates diese Ansicht nicht als Argument vortragen, sondern in Form einer Geschichte, durch die der Zuhörer als Mitdenkender die Erkenntnis selbst nachvollziehen können soll – mit ausgesetztem Wahrheitsanspruch. Schließlich ist nicht das Gesagte wahr, sondern die im Gespräch entwickelte Erkenntnis. Was man eine Anleitung zum Selbstdenken nennen könnte, die nicht wie bei Locke hypothetisch bei unbeschriebenen Kindern ansetzt, sondern ausschließlich bei Männern und Knaben, die schon Erfahrungen angesammelt haben, ist letztlich der Versuch, die eigenen Gedanken zu entziffern, also zu lesen. Sie sollen dann, freigeräumt von Vorurteilen, Traditionen, Lehrmeinungen etc., die Einsicht in die Wahrheit oder das Lesen des wirklichen Textes eröffnen. Im Höhlengleichnis hat das Platon noch einmal verdichtet. In der Höhle, dem normalen gesellschaftlichen Dasein, werden die gefesselten Menschen geführt, angeleitet und überwacht und können nur das sehen, was sie sehen sollen. Alles ist ein Theater, das die Zuschauer, die unter kollektivem Druck zur Konformität stehen, nicht hinterfragen können und wollen. Wer ins Freie, ins Licht und die direkte Erfahrung ausbricht, wird als Bote von Desinformation und Fake News disqualifiziert, weil er die ideologische Grundlage der herrschenden Macht untergräbt.

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Am radikalsten waren aber wohl die postsokratischen Kyniker. Bekannt sind sie lediglich aus philosophiehistorischen Schriften wie von Diogenes Laertios, der zwei Jahrhunderte später gelebt hat, oder aus vereinzelten Darstellungen und Bemerkungen. Als Gründer gilt der Sokratesschüler Antisthenes, der allerdings viele Schriften verfasst haben soll, der bekannteste und berüchtigste Vertreter ist dessen Schüler Diogenes von Sinope, der im 4. Jahrhundert v. Chr. als Zeitgenosse von Platon lebte und sich den Beinamen »Hund« offensiv und provokativ zulegte, weil er ohne Scham wie ein Hund im öffentlichen Raum – oder der Legende nach in der Tonne – lebte. Diogenes Laertios lässt offen, ob Diogenes von Sinope Schriften verfasst hat, was angesichts der betont ärmlichen Lebensweise des Kynikers und dessen Abkehr von jedem Besitz aber eher unwahrscheinlich ist, zumindest zur Zeit seines »hündischen« Lebens als freiwillig Obdachloser und Penner. Schriftrollen zu besitzen, passt nicht in das Bild des die Bürger provozierenden Philosophen, der aber natürlich lesen und schreiben konnte. Kyniker waren, darin Vorläufer der Stoa, nicht am Weltwissen interessiert, sondern primär an der Optimierung ihres Lebens oder der Ethik der größtmöglichen Bedürfnislosigkeit. Dabei stand die praktizierte Abkehr vom kulturellen Leben mit seinen Normen, Sitten und Traditionen im Vordergrund. Diogenes Laertios schrieb: »Es gefällt ihnen, ein einfaches Leben zu führen, nur die lebensnotwendige Nahrung zu sich zu nehmen und sich allein mit einem Mantel zu bekleiden und Reichtum, Ansehen und adlige Herkunft zu verachten. Manche jedenfalls ernähren sich nur von Kräutern, trinken ausschließlich kaltes Wasser und hausen in dem ersten besten Obdach und in Fässern wie Diogenes.« 13

Bibelverklärung und Kulturvernichtung im Frühen Christentum Jahrhunderte später hat das Christentum das anerkannte Wissen in dem einen Buch Gottes kondensiert, während die christlichen Extremisten andere Bücher und auch ganze Bibliotheken als Teufels-

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werk vernichteten. Das Alte Testament legt mit dem Paradies auch die Vorstellung vor, dass Gott die Menschen ursprünglich als müßige Analphabeten halten wollte, woraus aber dank der Schlange und der aufmüpfigen Eva nichts wurde, was der Menschheit neben der Welt der Kultur und des Wissens auch die der mühevollen Arbeit und des körperlichen Verfalls eröffnete. Die Rückkehr ins Paradies wäre danach verbunden mit einem einfachen und natürlichen analphabetischen Leben. Auch das dürfte mit zum Aufstand gegen die heidnischen Gelehrten und ihre Bücher beigetragen haben. Im Judentum, einer in den Schriften fixierten Buchreligion, war aber zumindest bei den Männern das Lesen der heiligen Schriften wohl weit verbreitet und gehörte zur Religionskultur. Es gibt in der Bibel kaum Verweise auf den lesenden Jesus, der gegen die herrschende Kultur protestiert hätte. Dieser Kultur wurden auch die religiösen Schriftgelehrten zugerechnet, wie die als scheinheilig und heuchlerisch verachteten Pharisäer auch genannt wurden. Dieser Jesus zog sich auch gelegentlich in die Wüste zurück, was in der Folge viele Nachahmer finden sollte. Im Lukas-Evangelium Kapitel 4 wird erzählt, dass Jesus nach seinem einsamen Aufenthalt in der Wüste, wo er den Versuchungen des Teufels widerstanden hatte, nach Nazareth zurückgekehrt war und eine Synagoge besuchte: »Als er aufstand, um aus der Heiligen Schrift vorzulesen, reichte man ihm die Schriftrolle des Propheten Jesaja.«14 Er las eine Stelle aus Jesaja vor, über die er dann sprach. Hervorgehoben wird vor allem, wie beeindruckend Jesus sprechen konnte. In einer anderen Stelle im Johannes-Evangelium Kapitel 8 heißt es nur, Jesus habe im Tempel von Jerusalem mit dem Finger auf der Erde geschrieben. Der Inhalt scheint nicht wichtig genug gewesen zu sein, um erwähnt zu werden. Es scheint eher darum gegangen zu sein, die Pharisäer loszuwerden, die Jesus drängen wollten zuzustimmen, dass eine Ehebrecherin gemäß der schriftlich fixierten Anordnung von Moses gesteinigt werden sollte. Was er schrieb, wissen wir nicht, wie gesagt, aber er sagte: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.« Das wurde wieder verschriftlicht, ist aber auch als Aufforderung zu verstehen, die im Buch der Bücher niedergelegten Vorschriften nicht allzu wörtlich zu nehmen. Offen bleibt,

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ob Jesus ein veritabler Leser war, als Schriftgelehrter und Liebhaber von Bibliotheken wird er nicht dargestellt. Dass im Umfeld des Apostels Paulus Bücherverbrennungen praktiziert und gut geheißen wurden, ist Thema in der Apostelgeschichte 19. Paulus kommt hier nach Ephesos, einem Zentrum für magisches Wissen, und predigt in der Synagoge. Der Apostel betätigt sich selbst als Zauberer und heilt Kranke, was die Menschen zu überzeugen scheint, dass der mächtigere Zauber von dem von Paulus verkündeten Gott kommt: »Viele, die gläubig geworden waren, kamen und bekannten offen, was sie früher getan hatten. Und nicht wenige, die Zauberei getrieben hatten, brachten ihre Zauberbücher herbei und verbrannten sie vor aller Augen. Man berechnete den Wert der Bücher auf fünfzigtausend Silberdrachmen. So wuchs das Wort in der Kraft des Herrn und wurde stark.« 15 Genannt sei auch, dass Diokletian, der von 284 bis 305 als Kaiser herrschte, zunächst dem Christentum zugewandt war, aber dann befahl, Kirchen einzureißen und Bücher zu verbrennen. In dem Zusammenhang wird die Geschichte der Märtyrer der heiligen Bücher erzählt, die sich weigerten, ihre heiligen Bücher herauszugeben, und deswegen zu Tode gefoltert wurden oder im Gefängnis starben. So sehr die christlichen Klöster im ausgehenden Mittelalter zu Geburtsstätten der Schriftgelehrten und Intellektuellen mit ihren Bibliotheken wurden, so sehr war das Frühe Christentum gegen die gelehrte Kultur des Römischen Reiches meist eine Feier der Einfalt, die sich auch dadurch auszeichnete, dass die frühen Christen und die mönchischen Extremisten zu destruktiven Bilderstürmern wurden und Tempel und Skulpturen zerstörten. Dabei vernichteten sie auch Bibliotheken mit ihren angeblich gefährlichen Büchern, da es ja nur ein Buch gab, das letztlich alle anderen überf lüssig machte oder bedrohlich erscheinen ließ. Es ist nicht bekannt, wann und wie die vom makedonischhellenistischen König Ptolemaios I. im 3. Jahrhundert v.  Chr. gegründete berühmte Bibliothek von Alexandrien verschwunden ist

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und zum Phantom wurde. Das war lange Zeit ein widerhallendes Kulturtrauma, das in der Auf klärung zu dem Versuch führte, das gesamte Wissen der Welt in der katastrophenresistenten Enzyklopädie abzusichern. Bestärkt wurde diese Sorge auch durch die in der Renaissance wieder bekannt gewordene Atlantis-Erzählung von Platon, derzufolge mit dem Untergang des kulturell hochgebildeten Inselstaats auch das gesamte dort angesammelte Wissen verloren gegangen war. Dank der Erfindung des Buchdrucks, so Denis Diderot, einer der Herausgeber der Enzyklopädie, könne man das gesammelte Wissen jetzt in identischer Form in vielen Ausgaben der Enzyklopädie verbreiten, sodass es nicht mehr durch einen Vorfall vernichtet werden könne. Die rühmlichste Zeit einer Enzyklopädie, so sinnierte Diderot in der »Ankündigung der letzten Bände der Enzyklopädie«, wäre eine Umwälzung oder Katastrophe, die Unwissenheit oder eine Finsternis mit sich brächte: »So wird doch, wenn ein einziges vollständiges Exemplar dieses Werkes erhalten bliebt, nicht alles verloren sein.«16 Aus ähnlichen Gedanken heraus, nämlich angesichts der Möglichkeit eines Atomkriegs, wurde das dezentralisierte Netzwerk des Internets konstruiert. Einst ging man von einem Feuer aus, dem die Bibliothek von Alexandria zum Opfer gefallen sei, möglicherweise wurde sie aber auch von den christlichen Barbaren zerstört. Mit der Bibliothek, in der möglicherweise bis zu eine halbe Million Schriftrollen aus der damals bekannten Welt in unterschiedlichen Sprachen und aus allen Wissens- und Kulturgebieten lagerten, löste Alexandria Athen als Stadt der Intellektuellen ab, die nun nach Ägypten pilgerten, um dort zu lesen, zu forschen, zu diskutieren und zu schreiben. Die Bibliothek muss man sich als eine Art Proto-Universität vorstellen, die vermutlich ohne Zensur dem in Schriften tradierten Wissen offenstand. Ein Ort der Pluralität, des offenen Diskurses und der gelebten Kultur, an dem verschiedene Religionen und philosophische Schulen ihren Platz hatten, was dem monotheistischen Christentum, das sich im Besitz der einzigen Wahrheit wähnte und das einfache Leben propagierte, diametral entgegenstand. Bekannt ist, dass ein christlicher Mob unter der Führung des Bischofs Theophilos den Serapistempel in Alexandria, der als eines der prächtigsten Gebäude der Erde galt, mitsamt der zwar kleineren, aber wohl auch

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mit erstaunlichen 50.000 Schriftrollen bestückten Bibliothek im Jahr 392 zerstört und dem Erdboden gleichgemacht hat. Dabei war es das Ziel, den durch die dort verwahrten heidnischen Schriften angeblich gestärkten Aberglauben zu vernichten. Vermutet wird, dass Reste der Bibliothek von Alexandrien hier untergebracht waren: »Zehntausende Bücher, die Überreste der größten Bibliothek der Welt, waren für immer verloren. Vielleicht wurden sie verbrannt. Wie der moderne Philologe Luciano Cabfora anmerkt: ›Die Bücherverbrennung ist ein Teil der Christianisierung.‹ Ein Krieg gegen die heidnischen Tempel war auch ein Krieg gegen die Bücher, die dort aufbewahrt wurden.« 17 Der christliche Furor war eine radikale praktische Umsetzung einer allerdings nur bedingten Abwendung von den Büchern zur Rettung der einen Schrift, neben der keine anderen geduldet wurde. Dabei ging es nicht darum, neues Wissen zu ermöglichen, sondern um die Verteidigung der angeblichen Wahrheit, also des Textes, der direkt von Gott kommt, wie das etwa bei den Zehn Geboten auf wundersame Weise geschehen sein soll. Gott soll zunächst die Zehn Gebote öffentlich vom Berg verkündet haben, aber die Israeliten haben in ihrer Angst nichts verstanden, sondern nur wahrgenommen, »wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte«.18 Dann erteilte Gott Moses, dem Auserwählten, mündlich zahllose weitere Anweisungen, und dieser musste auf den von einer Wolke bedeckten Berg steigen und dort 40 Tage und Nächte verbringen. Während dieser Zeit erhielt er weitere detaillierte Anweisungen für den Gotteskult und die gottgefällige Lebensweise, um schließlich vom Allerhöchsten die zwei steinernen Tafeln mit den Zehn Geboten zu erhalten, die mit dem »Finger Gottes« beschrieben waren. Erst Gottes Handschrift auf dem dauerhaften Stein, nicht was er sagt, ist die stärkste Beglaubigung und der unmittelbar maßgebliche Befehl. Es ist seitdem der Leser, zunächst der privilegierte, der den Analphabeten vorliest, der direkten Zugang zur Wahrheit hat, die aus dem geheiligten Text hervorgeht. Überliefert ist nicht, wie Gottes Finger den Text in die Steintafeln einschreiben

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konnte. Ebenso wenig gibt es einen Nachweis dafür, dass nicht Moses der Finger Gottes war und seine Leute belog. Für die monotheistischen Buchreligionen war immer misslich, dass es neben dem heiligen Buch noch konkurrierende Texte mit alternativen Fakten gab, die als Bedrohung durch teuf lische Desinformation und Fake News galten, da sie die Glaubwürdigkeit der einen Schrift in Frage stellten. Die Verschriftlichung durch einen glaubwürdigen Autor ersetzt das f lüchtig Gesprochene und soll die Wahrheit garantieren, aber bringt für die Lesefähigen sofort neue Probleme mit sich, wie Platon bereits thematisiert hat, weil der Autor nicht mehr wie bei der oralen Kommunikation persönlich anwesend und bekannt ist oder in vielen Fällen nicht einmal mehr lebt.

Am Anfang ist nicht das Wort, sondern die leere Seite Das Sich-Hinwegsetzen über das in Büchern angesammelte Wissen gehört zu einer paradoxalen Grundströmung der mit der Schreibtechnik entstandenen Philosophie, die stets unter Verweis auf den Ursprung alles Seienden von der tabula rasa inspiriert war. Die Denkfigur des Rückganges auf den möglichen Ursprung erfordert einen radikalen, für die Gesellschaften auch gefährlichen Schritt aus der normalen Lebenswelt mitsamt allen Mythen, Religionen, moralischen Gewissheiten sowie einen Abschied von allen Vorstellungen und Erkenntnissen aus Büchern bzw. Schriftrollen und von Schriftgelehrten, aber auch von anderen Experten und den Mitmenschen. Wer es wagt, die Welt auszusetzen und mit dem Nichts oder einer leeren Seite zu beginnen, individualisiert sich auch und entzieht sich den narrativen und ethischen Banden der Gemeinschaft, in der er lebt. Die Figur des Ungebildeten, der durch die Schriftkultur noch nicht beeinf lusst wurde, gehört zu den Metaphern vom leeren Blatt und zum Austritt aus dem herrschenden (Un-)Wissen etwa durch radikalen Zweifel oder Skeptizismus. Der Kardinal und Philosoph Nikolaus von Kues (auch Nicolaus Cusanus), ein Zeitgenosse von Johannes Gutenberg, lässt seine Philosophie der docta ignorantia, der be- oder gelehrten Unwissenheit (1440), wohl nicht zufällig mit der

I. Das leere Blatt

Durchsetzung des Buchdrucks, in »Idiota de mente/Der Laie über den Geist«19 (1450) in dem überlegenen Wissen oder Denken des Unbelesenen kulminieren. Hier trifft der »Philosoph« auf den »Idiota«, auf einen einfachen, ungelehrten Mann, der aus Holz einen Löffel schnitzt und vermutlich Analphabet ist. Nicht gemeint war mit dem Wort, was erst später aufgekommen ist, als die Alphabetisierung fast alle erreicht hatte und aus dem Ungelehrten oder Unbelesenen herabwertend ein Dummer wurde. Normalerweise würde der »Philosoph«, wie Cusanus ihn sagen lässt, wenn er zu einem Weisen gehe, diesem Schriften vorlegen und ihn fragen, welche Bedeutung sie haben. Aber die Vermittlung durch Schriften fehlt beim »Idiota«, weswegen der Philosoph nicht weiß, wie er das Gespräch beginnen soll. Darauf sagt der »Idiota«, dass er sich nicht fürchte, seine Meinung zu sagen, während Gelehrte Sorgen hätten, Fehler zu machen. Er bietet »ungekünstelte Antwort« (nude recipies), die nackte Wahrheit, die man von Gelehrten nicht erhält. Der »Idiota« durchbricht damit die gewohnte gelehrte Beschreibung des Geistes (mens) und führt den Begriff auf das aus dem Handwerk stammende messen (mensurare) zurück. Normalerweise werden herrschende Narrative mit Variationen weiter erzählt, das Denken schließt sich den vorhandenen Erzählungen an, vorgetragen von sprachmächtigen Autoritäten, um von der Gemeinschaft akzeptiert und verstanden zu werden. Das ist auch noch das Prinzip der Sprachmodelle der Künstlichen Intelligenz, die mit Transformer arbeiten, das heißt mit einer Methode der Datenverarbeitung von aufeinander folgenden Symbolen – Buchstaben, Pixeln oder Noten. Transformer können ganze Sätze und Seiten mit linearen Symbolfolgen abscannen, um dann, trainiert durch das Lesen von Milliarden oder Billionen von Äußerungen, mit der Konzentration auf »wichtige« Worte, z.B. Hauptworte, in Sätzen beispielsweise zu »lernen«, welches Wort auf ein anderes Wort und die diesem vorausgehenden Wörter mit großer, empirisch gestützter Wahrscheinlichkeit folgen sollte. Da sich die künstlichen Gehirne, was der Preis der Intelligenz zu sein scheint, gerne auf Holzwegen verirren und Blödsinn produzieren, müssen sie wie Kinder betreut werden, indem manche Vorhersagen durch externe Eingriffe vom Über-Ich der KI-Betreuer verboten und Alternati-

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ven durch Reinforcement Learning eingetrichtert werden. Aber das Prinzip des Lernens ist hier: Das Unbekannte wird vom Bekannten aus erschlossen. Das Lernprinzip ist konservativ, es folgt den Narrativen oder Satzkonstruktionen, die vorkommen, aber es ist auch insofern kreativ, weil sich immer wieder zufällig ungewöhnliche Folgen ergeben, da eine KI wie ChatGPT eben mit der Hilfe der »dummen« Wahrscheinlichkeit Sätze konstruiert, nicht durch inhaltliche Logik oder Erfahrung jenseits der gelernten Daten. Die von der KI konstruierten Sätze sind grammatikalisch richtig – und in der Regel nicht so ausschweifend und verschachtelt wie manche meiner Sätze –, sie sind meist auch irgendwie semantisch sinnvoll, können aber auch abschweifen, fantasieren, schlüpfrig oder aggressiv werden, wie das beim menschlichen Denken auch gang und gäbe ist. Intelligenz ist vielleicht eben nicht so sehr, etwas richtig zu machen, sondern die Fähigkeit, vom Weg abzuweichen, zu träumen, zu halluzinieren, zu lügen – dem Imaginären, Möglichen und Unwirklichen offenzustehen. Das ist auch durch Wahrscheinlichkeit möglich, die immer eine Spur Freiheit oder Überraschung zulässt. Aber die KI ist noch nicht soweit, von einer weißen Seite ausgehend zu beginnen, sie braucht einen Anstoß, um Anschluss zu finden und in eine lineare Spur einzutreten. Kannst du ohne Frage etwas schreiben? ChatGPT: »Ja, ich kann ohne eine spezifische Fragestellung antworten und generiere gerne einen zufälligen Satz oder eine interessante Information, wenn Sie es wünschen. Zum Beispiel: Wussten Sie, dass die längste Brücke der Welt, die Danyang-Kunshan-Brücke in China, eine Gesamtlänge von 164,8 Kilometern hat?«

Eintritt in die Höhlen Die weiße Seite, die leere Fläche in Form etwa einer präparierten Tierhaut, eines glatten Steins oder einer Wachs-, Holz- oder Tontafel, worauf man (noch) nichts lesen kann, ist eine radikale Erfindung, die einen Schnitt in der Welt realisiert. Wie gewaltig dieser kognitive Schnitt ist, lässt sich erahnen, wenn man die Vorgeschich-

I. Das leere Blatt

te des Lesens und Schreibens anschaut, die vor Zehntausenden von Jahren begonnen hat und die wir noch an den Bildern und Zeichen, die Neandertaler und andere prähistorische Menschen in Höhlen hinterlassen haben, erkennen können. Daraus darf man natürlich keineswegs schließen, dass Höhlen die exklusiven Orte für Schreibf lächen gewesen seien und an diesen Orten die Anfänge des Schreibens und Zeichnens zu suchen sind. Gewagt sei hier zunächst eine Hypothese über den Anfang des Lesens und Schreibens. Bis vor nicht allzu langer Zeit ging man – gestützt auf die in den Höhlen von Lascaux und Altamira entdeckten Malereien, die 15.000-20.000 Jahre alt sind – davon aus, dass erst zu dieser Zeit die Menschen Symbole verwendeten. Neuere Funde wie die in der Chauvet-Höhle, in der El-Castillo-Höhle und vor allem in den Höhlen im Maros-Pangkep Karst auf Sulawesi dürften jedoch zwischen 30.000 und letztere bis zu 45.000 Jahre alt sein. Sie machen deutlich, dass die frühen Menschen an weit auseinander liegenden Orten vor langer Zeit begonnen haben, Wände mit Bildern und Zeichen zu überziehen. Benutzt wurden Farben, Schilfrohre, Hände, Finger, Faustkeile, Farben, Holzkohle, der Mund zum Sprayen und andere Werkzeuge aus Stein, Knochen, Geweihen und Holz sowie aus anderen Materialien. Das haben unsere Vorfahren höchstwahrscheinlich auch außerhalb von Höhlen auf Flächen und Wänden, auf Holz, in Ton, auf Knochen, Tierhäuten und nicht zuletzt auf ihren Körpern mit Zeichnungen und Tätowierungen so gemacht. Die vermutlich bislang ältesten geometrischen Ritzzeichnungen wurden auf Ockersteinen in der Blombos-Höhle in Südafrika entdeckt. Sie sollen über 70.000 Jahre alt sein. Entdeckt wurden auch auf einem Felsstein rote Linien aus Ocker, die ähnlich weit zurückdatiert wurden. Dazu fand man zwei Muscheln, gefüllt mit einer Ockermischung, die vermutlich zum Malen diente – datiert auf ein Alter von 100.000 Jahren. Was die Ritzzeichen und die Linien bedeuten, sofern sie nicht natürlich entstanden sind, weiß man natürlich nicht. Wurde mit diesen Ritzen als Vorform von Zahlen etwas gezählt, haben wir es dabei mit Ornamenten zu tun oder waren die leeren Flächen eine Aufforderung, sie mit Zeichen zu überziehen? Oder handelt es sich vielleicht nur um Spuren einer körperlichen rhythmischen Expression?

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Auffällig ist, dass neben den Bildern von Tieren, Tiermenschen und Menschen, die meist unverbunden scheinen, Handabdrücke hinterlassen wurden, die man in zahllosen Höhlen fand. Sie stammen von Kindern, Frauen und Männern, also keineswegs von »Steinzeitpriestern«. Man könnte meinen, dass damit Menschen bereits vor Erfindung der Schrift demonstrieren wollten: Ich war hier. Aber diese Menschen hätten sich natürlich auch selbst irgendwie im Bild individualisiert malerisch darstellen können. Das war offenbar kein Bedürfnis. In vielen Höhlen finden sich zudem Handabdrücke mit fehlenden Fingern. Vermutlich waren die betreffenden Hände nicht verstümmelt, sondern es wurden absichtlich Finger ausgespart. Manchmal handelt es sich um dieselbe Hand wie in der Höhle von Gargas. Eine Vermutung ist, dass mit den Fingern gezählt wurde. Sie würden also keine Signatur darstellen, sondern zeigen, dass »spielerisch mit Mengen«20 umgegangen wurde, wie Silvia Ferrara vermutet. Aber das ist vielleicht übertrieben und erscheint wenig plausibel, weil es keinen Gegenstand des Zählens gibt. Eine Hypothese könnte sein, dass die Menschen Finger verschwinden ließen, um ein Fort-da-Spiel zu betreiben und die Umstehenden zu foppen. Vielfach wird vermutet, dass Höhlenbilder Bestandteil eines Kults seien, der in der geheimnisvollen Tiefe von Höhlen zelebriert wurde, wobei f lackerndes Licht die Bilder unheimlich oder ekstatisch in Bewegung versetzte. Ferrara deutet eher Naheliegendes an, das am Ursprung der Bilder stehen könnte: dass die Strukturen der Felsen oder des Gesteins der menschlichen Imagination etwas scheinbar Bekanntes vorgaukeln. Es wird etwas in natürliche Strukturen hineingelesen, Augen, ein Gesicht, Tiergestalten etc., erstaunlicherweise Dämonen eher nicht. »Spalten, Vorwölbungen, Höcker, Löcher und Vorsprünge laden zu bestimmten Darstellungen ein und geben das Motiv der Zeichnung gleichsam vor«, schreibt Ferrara. »Sie können wie in der Chauvet-Höhle zur Silhouette eines Steinbocks werden, wie in Niaux in den Pyrenäen zu einem Hirschkopf mit Geweih.«21 Solche Darstellungen waren vermutlich nicht nur in Höhlen zu finden, sondern auch an dreidimensionalen Felswänden, an Steinen, Bäumen und anderen natürlichen Strukturen, ja sogar in ge-

I. Das leere Blatt

eigneten Bodenformationen, nur dass davon außer in den Höhlen nichts mehr über die Zeit hinweg erhalten geblieben ist. Wir wissen, wie schnell wir mit wenigen Andeutungen Bekanntes in Strukturen projizieren, wie Dämmerlicht, Schatten, Feuer, Bilder von Gesichtern, Menschen oder Tieren evozieren. Das drängt sich uns auf. Es könnte sein, dass die frühen Menschen mit ihren Mitteln versucht haben, das von ihnen nur vage Gesehene zu verstärken. Dazu dürfte kommen, dass es ein Bedürfnis gibt, die Leere zu füllen und zu schmücken, wie das auch jetzt noch die Graffiti-Sprayer machen, während man einst Zeichen, Muster, Ornamente oder einfach nur Ritzen oder Kerben aufmalte oder einschlug. Dazu finden sich in vielen Höhlen über große Entfernungen und Tausenden von Jahren hinweg nicht nur gegenständliche Bilder, die selbstverständlich am meisten Aufmerksamkeit fanden, sondern auch abstrakte oder geometrische Zeichen, deren Bedeutung wir nicht kennen, wenn sie denn überhaupt eine besaßen. Sie erinnern allerdings an Schriftzeichen, an Piktogramme, die mit der zeichnenden Geste auch eine schreibende zeigen, die mit Linien oder Punkten anhebt und in geometrischen Zeichen mündet, die manchmal etwas Konkretes wie eine Hand, einen Vogel, eine Schlange oder eine Pf lanze in abstrakter Form darzustellen scheinen, bisweilen aber auch bloß einen Kreis, ein Dreieck oder ein Viereck. Nicht erkenntlich ist, ob oder wie die Zeichen verbunden sind, also ob es so etwas wie eine Syntax gibt. Man muss davon ausgehen, dass die Menschen, die die Zeichen hinterlassen haben, sprechen, also Lauten ebenso wie Zeichen und Bildern semantische Bedeutung zumessen konnten. Auch wenn die Zeichen nicht Teil einer Schrift sind, könnten sie doch einzelne »Wörter« symbolisiert haben. Man denke an die Zeichen und Zinken der Bettler, Vagabunden, des fahrenden Volkes oder auch der Gauner, mit denen andere, die die Geheimschrift lesen konnten, auf etwas hingewiesen wurden. Die Zinken wurden auf »Schreibf lächen« wie Mauern gezeichnet oder wie bei einer Keilschrift eingeritzt. So konnten Durchreisende derselben Gruppe etwa erkennen, in welchem Haus sich ein Einbruch lohnte, wer dort wohnte, ob man dort etwas zu essen oder Geld erhielt, wie man auftreten sollte oder wo es sich nicht lohnte, einzubrechen oder anzuklopfen.

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Die kanadische Paläoanthropologin Genevieve von Petzinger hat 2010 die in 146 französischen Höhlen gefundenen Zeichen, die über einen Zeitraum von 25.000 Jahren auf die Felswände geschrieben wurden, erst zu 24 und später zu 32 wiederkehrenden Formen in der Worldwide Geometric Signs Chart zusammengefasst.22 Solche Zeichen finden sich auch in anderen Höhlen weltweit und sind vielleicht Elemente einer Urschrift aus nicht zu Sätzen verbundenen codierten Zeichen. Schrift entstand wohl nicht zuerst, um – wie die alphabetische Schrift es tut – die Laute der gesprochenen Sprache zu notieren. Die geometrischen Zeichen haben sich wahrscheinlich auch nicht aus der Abstraktion von gegenständlichen Zeichen entwickelt, sondern umgekehrt diese aus jenen. Der Zeichenbildung liegt, so meine These, das Bedürfnis zugrunde, leere Flächen neben Bildern, die sich für einen Betrachter auf einem strukturierten Untergrund, etwa einer Felswand abzuzeichnen scheinen, durch zunächst rhythmische Einritzungen oder Farbstriche zu füllen. Der »Schreiber« machte damit mögliche Leser nicht unbedingt nur auf sich aufmerksam, sondern vor allem auf die Präsenz von nicht natürlich entstandenen Zeichen, die für sich selbst standen und erst allmählich Bedeutung annahmen. Dass diese ersten Zeichen weltweit gefunden wurden, deutet darauf hin, dass ihnen eben noch keine verbale oder Bildsprache zugrunde liegt, sondern ein körperliches Ausdrucksbedürfnis, das den Beginn einer Kulturtechnik markiert, die mit Werkzeugen, sensomotorischen Fertigkeiten und der Lust an demonstrierter Virtuosität »Botschaften« für andere niederschreibt. Aber weil ein bestimmtes Zeichen nur immer von einem Menschen geschrieben werden kann, steht die Schrift auch am Beginn der Individualisierung. Während das Sprechen im öffentlichen oder kollektiven Rahmen stattfindet und von vornherein unter sozialem Zwang steht, ist der Schreiber wie der Leser einsam und unkontrolliert von der Gemeinschaft: Die Schrift ist neben der Fixierung von Ordnung und der erforderlichen Unterwerfung unter die Normierung auch ein kreativer und für das Kollektiv zerstörerischer Sprengstoff. Zunächst hatten die ersten geometrischen Schriftzeichen auf künstlichen Trägern vermutlich, wie weithin angenommen wird, eine Dokumentations- und Zählfunktion. Sie hielten die Besitzverhältnisse und ökonomischen

I. Das leere Blatt

Transaktionen fest, während etwa die ägyptische Hieroglyphenschrift anhand von Bildern auch dem gemeinen Volk Geschichten von Macht und Erfolg erzählen und die Leute indoktrinieren sollte. Es waren erste Nachrichten, also Narrative, nach denen sich das Volk richten sollte.

Die leere Seite schiebt sich vor die Welt Wichtig ist jedoch, dass am Beginn der Schrift meist kleine Tontafeln oder andere künstlich, das heißt handwerklich hergestellte Flächen zu stehen scheinen, die zum Zweck der Beschriftung als leere Seiten produziert wurden. Die Leere provoziert zur Beschriftung, aber weil die Leere ein materielles Objekt ist, schiebt sie sich auch für den Leser vor die Wirklichkeit, genauer: vor die sichtbare Wirklichkeit. Man könnte sagen: Die Schrifttafel und jeder nicht durchsichtige Schriftträger von der Schriftrolle über das Buch bis zum Bildschirm fungiert als »Brett vor dem Kopf«, auf das der Blick fokussiert wird. Die leere Seite verdeckt aber nicht nur, sie öffnet auch wie ein Bild ein Fenster zu einer anderen Wirklichkeit und zu einer anderen Wahrnehmung der Wirklichkeit, in der sich der Leser mit seinem Körper weiterhin befindet. Das funktioniert etwa so, wie wenn aus einem Teil der Welt alleine durch das Vorhalten eines Rahmens oder mit dem Blick durch eine gerahmte Kameralinse ein Bild entsteht. Die Umwelt wird auseinandergerissen, der Riss erzeugt einen Ausschnitt, der einen neuen Raum, eine neue Ordnung der Dinge strukturiert. Der Austritt aus der Welt ermöglicht gleichzeitig, eine andere Welt zu imaginieren bzw. in das Imaginäre zu entweichen, weil das Reale perforiert, weil ein Loch in es eingeschrieben wurde. Mit der Schrift, dem Schreiben und dem Lesen, wird gewissermaßen der Apfel im Paradies gegessen; es entsteht zugleich mit der Wahrheit die Täuschung, die Lüge, die Fiktion und insgesamt der Taumel des Möglichen. Lesen eröffnet einen Fluchtweg aus der Wirklichkeit, es zeigt nicht nur – frei nach Ludwig Wittgenstein – der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas, es ist auch ein Ausweg für die Fliege, die aber weiterhin im Fliegenglas, also in ihrer Lebenswelt, gefangen

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bleibt. Der inhärente Eskapismus von Lesen und Schrift verstärkt natürlich nur den des bewussten sprachlichen Denkens und lässt den Wunsch entstehen, den Riss zu kitten und in die einfältige Natürlichkeit zurückzukehren. Aber verstärkt wird auch die Möglichkeit des Ausbruchs aus der Wirklichkeit schon allein durch die Schaffung eines materiellen Trägers der Schrift und damit auch des Denkens, was den Horizont eröffnet, die Wirklichkeit durch eine neue Ordnung der Dinge zu verändern. Seitdem stehen oder vielmehr: sitzen die Autoren zu Beginn vor einer leeren Seite, heute meist einer solchen auf dem Computerbildschirm, auf der es nichts zu lesen gibt. Eine leere Fläche, die gefüllt werden will, die auf einen Einstieg wartet, auf den Ausgangspunkt eines argumentativen oder narrativen Bogens. Es ist ein wenig wie vor dem Anfang der Welt, deren Entstehung durch den Urknall man sich vielleicht wie einen Klecks auf einer Seite vorstellen könnte, der sich – wie das Universum – ausbreitet, oder, ebenso bombastisch, dass etwas aus dem Nichts durch die kreative Zerstörung der Abwesenheit von etwas erscheint. Die leere Seite oder Fläche, die auf den Eindruck wartet, ist eine außergewöhnliche Erfindung, eine Kulturtechnik, die eine ungerichtete Erwartung weckt und in das Unbekannte katapultiert. Natürlich muss auf der artifiziell hergestellten Fläche aus unterschiedlichen Materialien keine Schrift erscheinen, sondern es können auch irgendwelche Zeichen oder Bilder sein, die allesamt gelesen werden wollen und müssen.

Sprungbrett der Imagination Wir betrachten eine leere Fläche/Seite nicht als ein gewöhnliches Ding, das wir um seiner selbst willen erkunden oder das einfach da ist, wir erfahren sie als einen offenen Raum, an dem etwas beginnt bzw. beginnen soll. Die Leere stellt die Ankündigung einer unbekannten Zukunft dar, die aussteht, aber jederzeit kommen könnte. Für den Leser ist sie der Beginn einer Fahrt ins Unbekannte, aber eine Fahrt, die vor der durch die Fläche abgedeckten Wirklichkeit in körperlicher Sicherheit und in oder auf einem deutlich abgegrenzten Raum stattfindet. So ist das auch mit den auf den Umschlag

I. Das leere Blatt

folgenden weißen Seiten eines Buches, die wir schnell umblättern, um zum Eigentlichen zu kommen, aus dem die Leere verschwunden und übergegangen ist in die streng gebahnte Ordnung der Zeilen, die uns in eine noch unbekannte Zukunft ziehen wollen. Dabei erwarten den Leser normalerweise keine brüchigen Holzwege oder ein Gang ins Dickicht, in dem er die Orientierung verlieren könnte, es sei denn, er trifft auf fremde Zeichen, die für ihn keine Bedeutung ergeben – oder er hat das Lesen noch nicht gelernt und ist Analphabet. Aber auch dann ist ein Blatt, eine Tafel oder eine andere Fläche mit geschriebenem oder gedrucktem Text nicht nur ein Gegenstand wie ein Tisch, sondern ein sofort erkennbares Artefakt, das erwartet, gelesen und verstanden zu werden ist. Für den gelernten Leser zieht die sich eröffnende Welt, die sich durch die bekannten Buchstaben eines Textes Wort für Wort offenbart, den Blick auf eine Autobahn, auf der eine störungsfreie Fahrt garantiert wird, sieht man vom Sprung zur nächsten Zeile oder zur nächsten Seite oder von der Möglichkeit eines Aufpralls auf ein unbekanntes Wort ab. Zuerst ist die leere Seite allerdings in Abwesenheit des Schnitts oder des Ritzens (scribere) mit einem Griffel als Akt der Befruchtung, der gewaltsam, als Vergewaltigung, erscheinen kann, unversehrt, leer, ein materielles Ding in der Welt. Auf der leeren Seite gibt es nichts zu sammeln (legere), dem Blick kommt nichts entgegen, der Geist hat nichts zu begreifen. Die leere Seite ist die Negation der Welt, in der man sich mit dem eigenen Körper befindet. Daher ist die leere Seite stellvertretend für die der Lebenswelt abgetrotzten Kultur die stete Möglichkeit eines Neuanfangs, aber auch der induzierte Zwang, etwas Neues und Unbekanntes in Gang zu setzen – erst einmal nur auf der Seite, wo viele Notwendigkeiten des Realen aufgehoben sind. Die sexuelle Konnotation der leeren Fläche mit der jungfräulichen Unschuld, die durch den Geschlechtsakt verletzt und befruchtet wird, um neues Leben entstehen zu lassen, drängt sich vielleicht nur Männern auf. Sie ist jedenfalls Hans Blumenberg im Kapitel »Das leere Weltbuch« in seinem Buch »Die Lesbarkeit der Welt« aufgefallen. Der Philosoph stellt die Leere allerdings in den Kontext des Traums vom absoluten, unüberbietbaren Buch und der

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Frage, ob der Autor oder der Rezipient/Leser Träger der ästhetischen Wirkung sei. Bei der Wirkung der leeren Seite habe ich auch ambivalent gelassen, ob es um den Autor oder den Leser geht. Die Ambivalenz ist allerdings darin begründet, dass der Autor auch immer Leser ist und selbst beim Schreiben Leser seines eigenen Textes bleibt. Ausgehend von der Rezeptionsästhetik würde der Autor, so Blumenberg, auf eine nur auslösende Funktion reduziert werden. Das Werk würde, ich verstehe allerdings Blumenbergs Gedankengang nur bedingt, dann aus dem Nichts entstehen, der »Bedingung jeder creatio ex nihilo«23. Umgekehrt könnte die Rezeption unbedeutend werden, wenn alle zu Autoren werden oder, wie Novalis fantasierte, Massen und ganze Nationen ein Werk schreiben. Das ist in der Kunst zur Losung geworden: Jeder ist ein Künstler bzw. Autor. Dann würde es allerdings keine Empfänger der Botschaften mehr geben. Für Blumenberg gibt es mit dem leeren Weltbuch eine »andere Radikallösung des ästhetischen Dilemmas«24. Das Weltbuch bliebe als Form das ens realissimum, man könnte auch sagen: das vorgegebene und widerständige Objekt. Aber es gibt nichts vor, sodass der Leser den Inhalt vollständig imaginieren müsste, der deswegen »auch ganz und gar individuell sein dürfte«25. Blumenberg kommt dann auf die Metapher der leeren Seite in John Lockes Denken zu sprechen und verbindet die anfängliche Leere des Bewusstseins mit der »Zunahme der Leere des Raums im nachkopernikanischen Bild des Universums«26. Auch wenn die Leere in Form einer gegenständlichen Fläche nach meiner These schon vor oder mit der Erfindung der Schrift entwickelt wurde, hat es tatsächlich lange gedauert, bis die Leere im Raum bis hin zum Vakuum gedanklich akzeptiert werden konnte. Die Erfindung der leeren Fläche und die Entdeckung des leeren Raums hängen nicht direkt zusammen, aber es gibt einen gedanklichen Zusammenhang, der mit dem Aufsprengen eines geschlossenen kognitiven und physikalisch-astronomischen Systems durch die Herstellung der Leere zu tun hat. Schon die Vorsokratiker beschäftigen sich mit dem Nichts und dem leeren Raum.27 Der leere Raum öffnet die Welt ins Unendliche, ebenso wie das leere Blatt einen Einschnitt in den scheinbar begrenzten Raum darstellt, der dem Unbekannten und Unkon-

I. Das leere Blatt

trollierten gegenüber offen steht, eine unendliche, widerstandslose Bewegung erlaubt und die Ordnung der Welt zu einer begrenzten Insel macht. Das macht den horror vacui aus, den man der Natur zuschrieb und der auch eine Angst vor dem Neuen und Unbekannten ist, das aus der Leere entstehen könnte. Für die einen wie Parmenides oder Empedokles stand fest, dass es das Nichtseiende bzw. den leeren Raum nicht geben könne. Daher könne auch nicht etwas aus Nichts entstehen. Doch genau diese Vorstellung liegt dem jüdischen und dem christlichen Glauben zugrunde, der auf der anderen Seite die Unendlichkeit einzig Gott zuschrieb, weswegen die Lehre von einem unendlichen Universum und unzähligen Welten, die Giordano Bruno vertrat, als Ketzerei betrachtet und mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft wurde. Die Atomisten wie Leukipp gingen davon aus, dass sich die Atome in einem ansonsten leeren Raum befinden, weil sich diese ansonsten nicht bewegen könnten. Für Aristoteles war der leere Raum hingegen eine Unmöglichkeit, da für ihn die Welt geschlossen war, es überall Körper und keine andauernde Bewegung gab. Auch ein leerer Raum müsse ein Körper sein, dann wäre er aber kein leerer Raum, sondern ein umschlossener. Und wollte man ein Vakuum herstellen, biete die Natur alle Kräfte auf, um es zu verhindern. Im Mittelalter wurde die mit den (ursprünglich aus Indien importierten) arabischen Zahlen und der Ziffer Null eingeführte aristotelische Lehre zur Grundlage der christlichen Philosophie. Diese Lehre leugnete die Existenz des leeren Raums, eine Auffassung, die allerdings mit der Annahme, dass Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, in Widerspruch stand. In einem aufsehenerregenden Dekret, das der Bischof von Paris 1277 erlassen hat, um den sich viral ausbreitenden Aristotelismus einzuhegen und weitere Irrlehren aus kirchlicher Sicht zu unterbinden, wurde in Artikel 49 verboten zu sagen, dass Gott das Universum nicht in einer geraden Linie fortbewegen könne, weil dann ein Vakuum entstehen würde. Auch wenn es den leeren Raum faktisch nicht gebe, so heiße das aber nicht, dass es ihn nicht geben könne. Damit war umgekehrt die Denkmöglichkeit des leeren Raums eröffnet. Später wurde diese wieder verworfen, weil dieser leere Raum logisch unmöglich sei, eine Tatsache, die selbst Gott nicht aushebeln könne.

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Erst der Galilei-Schüler Torricelli konnte 1644 in einem Experiment unter der Berücksichtigung des Luftdrucks, der das Phänomen des horror vacui erklärt, einen luftleeren Raum herstellen. Pascal und Otto von Guericke, der Erfinder der Luftpumpe, folgten mit spektakulären Demonstrationen, um die Existenz des Vakuums zu beweisen. Von Guericke war überschwänglich begeistert. Für ihn war die Entdeckung des Nichts eine Befreiung und mit der Möglichkeit einer creatio ex nihilo verbunden: »Wenn nun gefragt wird: Was war denn vor der Erschaffung der Welt da, und es würde jemand antworten das ›Unerschaffene‹ und ein anderer ›das Nichts‹, so wären beide Antworten richtig [...] Und wie aus dem Nichts alle Dinge erschaffen sind, so sind auch alle darin aufgenommen und darin gegründet, das ist im Unerschaffenen [...] Es hat also jegliches Ding seine Stätte im Nichts; und wenn Gott das Gefüge der Welt, das er schuf, wieder zunichte machte, bliebe an seiner Stelle nichts als das Nichts, das Unerschaffene, wie es von Anfang der Welt gewesen.«28 Die Welt entsteht aus dem Nichts, sie gründet sich auf das Nichts und sie kann stets ins Nichts zurückfallen: »Außer der Welt ist nur das Nichts; das Nichts ist überall. Das Leere heißt man ein Nichts und den nur vorgestellten Raum.« Vermutlich hat die Ankunft der Null durch die Übernahme der arabischen, eigentlich indischen Dezimalzahlen die Bereitschaft erhöht, das Leere zu denken und zu akzeptieren, das auch in der Zahlenreihe als leere Menge am Anfang steht und mit dem Nichts konnotiert ist. Die Entdeckung des leeren Raums könnte nicht nur durch Einf lüsse wie die Zurückweisung der Tradition und den Versuch inspiriert sein, vom Nullpunkt – der leeren Seite – aus zu denken, sondern auch ganz direkt durch die Erfahrung der leeren Schreibf läche und die Erfindung des Gutenberg’schen Buchdrucks mit beweglichen Lettern im 15. Jahrhundert. In der Malerei setzte sich in Europa im 16. Jahrhundert nach den Holztafeln als Bildträger die Leinwand durch, beide glatten Oberf lächen wurden meist weiß grundiert. Neben den Schriften der antiken Autoren und den indischen Zahlen kam auch das Papier als neues Material über die

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arabische Kultur nach Europa. Es gibt also parallele, wenn auch zeitlich versetzte Entwicklungen, wobei textile Bildträger auch schon in der Antike verwendet wurden. Bei einem Bildträger liegt auf der Hand, dass die leere Fläche ein Stimulans der Projektion ist, wie das auch bei der Schrift die leere Papyrusrolle oder die leere Pergament- oder Papierseite ist. Voraussetzung des Buchdrucks war die Verwendung des Papiers, das in China erfunden wurde, sich in Europa aber erst im 13. Jahrhundert nach Gründung der ersten Papiermühlen ausbreitete. Davor wurde im Mittelalter zwar noch bis in das 11. Jahrhundert hinein auch Papyrus verwendet, aber Bücher wurden in der Regel seit der Spätantike aus Pergament gefertigt, eine wahrhaft tödliche Kulturtechnik, die vermutlich 3000 Jahre vor Christi Geburt in Ägypten erfunden worden war. Jahrtausende wurden die Lederseiten weiterhin gerollt bis sich seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert nach dem Vorbild der Bücher aus wenigen Wachs- oder Holztafeln solche mit den dünneren Pergamentseiten durchzusetzen begannen. Für eine Bibel mussten 200 bis 300 Schafe geschlachtet werden, aus deren aufwendig enthaarter und getrockneter Haut dann ein Schriftträger gemacht wurde. Entsprechend teuer waren Bücher. Verwendet wurden auch die Häute von Ziegen und Kälbern, wobei die von Lämmern oder neugeborenen Ziegen die besten Eigenschaften als Schriftträger aufwiesen. Gegenüber Papyrus war Pergament glatter, fester und heller. So verdrängte es allmählich die Papyrusrollen, weil sich daraus gebundene Bücher (codices) mit einzelnen Seiten herstellen ließen, die für den Schreiber und für den Leser sehr viel einfacher zu handhaben waren. Die Einzelblätter mussten jetzt nicht mehr mit zwei Händen aufgerollt werden, sondern konnten in Buchform gebunden werden. Bücher ließen sich überdies leichter transportieren und waren länger haltbar; außerdem konnte man in ihnen blättern. Das Buch, auch Codex genannt, beschleunigte das Lesen. Der Lesende konnte es auf den Knien oder einem Tisch platzieren und hatte beide Hände frei, um zu suchen, zu einem anderen aufgeschlagenen Buch zu wechseln oder zu schreiben. Eine Revolution der Lesetechnik. Allerdings präsentierte sich Pergament nicht etwa als leere, sondern als je nach Bearbeitungsqualität unterschiedlich

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dicke und strukturierte, zudem feuchtigkeitsempfindliche Fläche, auf der häufig noch Haaransätze, Überbleibsel von Verwundungen und Blutergüssen, aber auch Ungezieferbisse oder Schabspuren zu sehen waren. Auch Löcher waren nichts Ungewöhnliches. Deswegen wurden die Löcher gef lickt und die Oberf läche beispielsweise mit kalziumhaltigen Pasten, Kalk oder Kreide behandelt, um das Blatt möglichst makellos glatt und weiß zu machen. Papier, im Mittelalter noch aus alten Textilien (Hadern), nicht wie ab Mitte des 19. Jahrhunderts aus Holz hergestellt, übertraf erst einmal vor dem Auftauchen des Bildschirms das Pergament an Glätte, Dünne und Reinheit, was die Qualität als leere Fläche optimierte, und es war deutlich billiger und konnte als Massenware hergestellt werden. Zur Versorgung der Papiermühlen entstand der Beruf der Lumpensammler, die den begehrten Rohstoff lieferten, den die Papiermacher verarbeiteten. Zu Beginn des Buchdrucks wurde neben Papier weiterhin Pergament verwendet, für die Handschrift blieb Pergament bis ins 19. Jahrhundert in Gebrauch. Papier war wohl erst einmal das Material für »banale« Texte und wurde zunehmend etwa für handschriftlich geführte Verwaltungsakten verwendet, bis sich der Druck, die »schwarze Kunst«, immer mehr durchsetzte und sich aufgrund kostengünstigerer Produktionsverfahren die Zahl der Bücher und anderer Druckschriften explosiv vermehrte. In den Papiermühlen wurden die hellen Lumpen zunächst zerkleinert; anschließend wurde der Brei in Drahtsieben geschöpft, sodass die Flüssigkeit abtropfen konnte. Die zurückbleibende Schicht aus Fasern musste noch gepresst, geglättet und meist geleimt werden. Noch immer war damit die leere Fläche nicht wirklich weiß und rein. Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts konnten dank der Erfindung der Chlorbleiche zwar auch dunkle Hadern verwendet werden, aber eine wirklich weiße Seite wurde erst mit dem Papier möglich, das aus holzbasierten Zellulosefasern gewonnen und mit Chlor, heutzutage aber auch schon elementarchlorfrei oder ganz chlorfrei, gebleicht wird. Zusätzlich werden die Seiten mit Weißmineralien beschichtet. Die Reinheit der weißen Seite, die bis heute als Inbegriff der leeren Projektionsf läche gilt, ist mithin keineswegs unschuldig oder originär, sondern Ergebnis einer aufwändigen, die Umwelt mitunter belastenden Erzeugung.

I. Das leere Blatt

Aber zurück zu Blumenbergs leerem Buch, das er als romantische Fantasie verortet, das aber, wie ich zu zeigen versucht habe, in Form der leeren Seite oder Fläche die Schriftkultur materiell und kognitiv angetrieben hat. Blumenberg verpasst in seinen Überlegungen, wie ich meine, den Knackpunkt, nämlich dass die Leere oder die leere Fläche, die das Nichts in die Welt als Objekt der Information bringt, die Projektion des Möglichen, das heißt die Fantasie oder Imagination, triggert. Man spricht deswegen auch psychologisch vom horror vacui. Blumenberg sieht nur die Paradoxien, die mit den Träumereien von Autoren über die Leere einhergehen. Die Romantiker wollten ihm zufolge das Ding an sich gewinnen, hätten damit aber nur ein Buch bekommen, das nichts enthält, was er als Gegenstandsverachtung und als »entleerte Gebärde der Bedeutung«29 interpretiert. Flauberts Traum von einem Buch über nichts, von dem etwa in seinem Brief an Louise Colet vom 16. Januar 1852 die Rede ist, sieht Blumenberg in der »gewaltigen Phantasmagorie«30 seines Romans »Die Versuchung des Heiligen Antonius« realisiert, der als Eremit in der Leere, im Nichts der ägyptischen Wüste mit seinen Halluzinationen kämpft. Die richtige Assoziation zwischen dem leeren Buch und der Wüste mit den Halluzinationen wird für Blumenberg zu einer »gescheiterten Welthaftigkeit«31, obwohl es doch gerade um den Verlust der Welt durch die Leere geht. Er zitiert Michel Foucault, der, was auch auf den in der Buchwirklichkeit versunkenen »Don Quijote« von Cervantes verweist, erkennt, dass das Imaginäre aus den leeren Seiten, die das Reale verdecken, durch deren Beschriftung mit Texten und Bildern entsteht. Schön ist das Bild, in das Foucault diesen Gedanken kleidet: »Das Imaginäre haust zwischen dem Buch und der Lampe.« Es haust also im Kopf des Lesenden oder Schreibenden. Das Imaginäre, das aus den Seiten auftaucht, »dehnt sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus«32, schreibt er weiter in seinem Nachwort zu Flauberts »Die Versuchung des heiligen Antonius«. Und er spricht von einem »Bibliotheksphänomen«, weil das Imaginäre sich nicht als Gegensatz zum Realen konstituiert. Aber das Imaginäre ist kein Gegensatz zum Realen, es tritt an die Stelle des Realen, das von der Buchseite für den Lesenden verdeckt wird. Man müsste also eher von einem »Buchphänomen«

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sprechen, wobei die Bibliothek als räumlicher Ort, an dem man sich in die Welt der Bücher aus der übrigen Realität zurückzieht, als Bild auch wieder der Seite und dem einzelnen Buch als materiellem Objekt entspricht. Für sich selbst spricht eine Bemerkung von Georg Christoph Lichtenberg, auf die sich auch Blumenberg bezieht: »Ein weißer Bogen Papier f lößt mehr Respekt ein, als der schönste Bogen Makulatur. Es füllt einen mit einer Begierde, ihn zu beseelen.«33 Makulatur ist ein schon bedrucktes Papier, das wegen Druckfehlern oder anderer Schäden nicht mehr gebraucht werden kann. Auch Bücher können zur Makulatur werden. Hingegen ist der weiße Bogen Papier leer. Für Lichtenberg löst die leere und weiße, also auch reine Fläche offenbar einen Zwang aus, die Leere zu füllen. Umgekehrt ließe sich auch sagen, die weiße Seite erweckt das phallische Begehren, durch Schreiben Leben zu erzeugen, was die Reinheit aber zerstören würde. Das wird in einem anderen Aphorismus noch einmal deutlicher, in dem er das Verhältnis explizit sexualisiert und in dem das weiße Papier zur unschuldigen Jungfrau wird: »Über den eignen Reiz, den ein eingebundenes Buch weißes Papier hat. Papier, das seine Jungfernschaft noch nicht verloren hat und noch mit der Farbe der Unschuld prangt, ist immer besser als gebrauchtes.«34 Das klingt danach, dass das weiße Papier bzw. die Unschuld selbst Lust erweckt. Das Bild kann allerdings kaum verbergen, dass das Beschreiben oder Bedrucken der weißen Fläche – die Beseelung im ersten Aphorismus – als Entjungferung oder Beschmutzung imaginiert wird, nicht als Verschönerung, auch wenn Lebendiges aus dem Akt des Schreibens, der als Besamung suggeriert wird, entstehen kann. Leere Flächen wurden natürlich nicht als Katapulte des Imaginären erfunden und hergestellt, sondern ganz pragmatisch als Träger, in denen sich Schrift und Bilder leicht und dauerhaft eintragen und erkennen lassen, weil die Reinheit der künstlichen Fläche nicht ablenkt, die Seite den Inhalt scharf von der Umgebung trennt und das Lesen, also das Einsammeln der Buchstaben, erleichtert wird, weil der Hintergrund nicht irritiert, sondern die Buchstaben und Zeilen durch den scharfen schwarz-weißen Kontrast hervorgehoben sind. Aber in welcher Form auch immer entstanden, kann die

I. Das leere Blatt

von Lichtenberg beschriebene Wirkung einer leeren, noch dazu weißen Seite als eine Art camera silens verstanden werden. Damit ist ein dunkler und schallisolierter Raum gemeint, der die Menschen durch Sinnesdeprivation, also durch Entzug der wahrnehmbaren Welt, in Träumereien hineintreibt, damit sie die Leere durch Projektionen füllen und gewissermaßen etwas zu lesen haben. Sinnesdeprivation wird auch zur Folter eingesetzt, wenn sie Menschen aufgezwungen wird, um diese aus der Wirklichkeit zu reißen und in den Wahn zu treiben. Aus der Dunkelheit und dem Schweigen tauchen Ungeheuer und Albträume auf. In Form von FloatingAnlagen, in denen Menschen sich freiwillig einschließen und ihr Leib schwerelos in körperwarmem Salzwasser schwebt, wodurch auch der spürbare Kontakt mit der gegenständlichen Umwelt verschwindet und man nicht mehr auf gewohnte Weise unter Schwerkraft mit seinem Körper in der Welt ist, können sie in entspannte Träumereien eintauchen. Raum und Zeit lösen sich ebenso auf wie die Begrenzung des eigenen Körpers. So ähnlich kehren wir jede Nacht im Schlaf in den Weltentzug ein, der Träumereien der mit sich selbst beschäftigten Psyche bewirkt. Lesen ist eine Negation der Welt durch die durch Beschriftung und/oder Bebilderung gefüllte Fläche, die sie verdeckt. Die im Unterschied zur mündlichen Kommunikation mit der Schrift einhergehende Verdeckung durch die Fläche/Seite erlaubt, man kann auch sagen: erzwingt, in Distanz zur Welt über sie nachzudenken und sie zu verstehen, was aber gleichzeitig bedeutet, ins Imaginäre zu entweichen, aus der vorgefundenen Ordnung durch eine streng geregelte lineare Fluchtanordnung des Textes auszubrechen und auf der Fläche mit Gedanken und Worten zu halluzinieren. Das ist auch eine Entdeckung, die mit dem neuen Leser der maschinellen Intelligenz einhergeht. Man dachte naiv, die Künstliche Intelligenz würde mit dem Lesen von Unmengen an Texten einigermaßen vernünftige Sätze als Ergebnis der Lektüre bilden. Aber man lässt sie eben nicht nur menschliche Äußerungen aller möglichen Art rezipieren, sie lernt an unzähligen Texten auch selbständig Buchstabenund Wortfolgen zu generieren. Aatish Bhatia hat für die New York Times analysiert, wie GPT beim Lesen, das heißt Lernen von Texten vorgeht.35 Benutzt hat er

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ein abgespecktes, noch nicht trainiertes Sprachmodell NanoGPT, das noch kein Wort kennt, gewissermaßen die weiße Seite von John Locke. Bhatia ließ das Sprachmodell an nur ein paar Megabyte großen Texten von sechs Autoren lernen, beispielsweise an »Moby Dick« von Herman Melville mit einem Umfang von mehr als 200.000 Wörtern. Er gab den Prompt »Moby Dick« ein und zugleich damit den Befehl, die nächsten Buchstaben und Worte zu raten. Zu Beginn wurden auf wilde Weise Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen aneinandergereiht, z.B. g5ycV IlSKZ-$ p“3PP). Das KI-System liest offenbar zufällig mit den vorhandenen Zeichen eine Zeichenfolge zusammen. Nach vielen Lernrunden, in denen die generierten Zeichenfolgen mit dem Text statistisch abgeglichen wurden, wurden dann Wörter und Sätze mit Sonderzeichen und in Absätzen generiert, zunächst aber weiterhin ohne Sinn und Bedeutung. Abgleichen heißt, dass den gewählten Zeichen in der linearen Folge im Vergleich mit dem Originaltext eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine Übereinstimmung zugewiesen wird. Im vorliegenden Fall hat Bhatia NanoGPT 90 Prozent des Textes von »Moby Dick« zum Lesen gegeben, um das Gelernte durch Vorhersage an den restlichen zehn Prozent zu überprüfen. Lernen bedeutet, durch Backpropagation die Abweichung des Geratenen von vorgegebenen Textstellen bzw. die Fehlerquote gegen Null zu treiben. Aber das bedeutet nicht, dass bei jeder Antwort derselbe Text generiert wird, es kann jedes Mal ein anderer sein, da nicht Textabschnitte kopiert werden, sondern Buchstabe für Buchstabe sowie Sonderzeichen für Sonderzeichen geraten wird. Nach 250 Runden, die in 30 Sekunden auf einem Laptop abgeleistet wurden, kamen dann Zeichenfolgen dieser Art zustande: »Moby Dick!« I »EI SHA ofthe te chad Bur recoull ain full, toredy sond gh t.« Das ist noch wirr, aber es wurden Buchstaben nach ihrer Häufigkeit verwendet, zufällig wurde auch mal ein existierendes englisches Wort getroffen. Nach 500 Runden entstanden vermehrt existierende englische Wörter mit grammatikalischen Grundzügen. Nach weiteren Runden wurden richtige Wörter aneinandergereiht, ohne noch Sinn zu ergeben, aber immer wieder wurden auch Wörter »erfunden«, also falsch kombiniert. Nach 30.000 Runden oder einer Stunde Lernen spuckt die NanoGPT schon solche Sätze aus: »But the storm of a

I. Das leere Blatt

sudden fear of stretching a cosy there, is the peculiar particular of the first front of the front.« Das sieht schon sehr nach einem englischen Satz aus. Das Prinzip des maschinellen Lesens ist klar. Das System versteht nicht, was gelesen wurde, sondern es lernt nur, auf Fragen oder Befehle die wahrscheinlichsten Anschlussworte bzw. -sätze zu raten. Mit wachsenden Textmengen und vielen Wiederholungen, zudem mit überwachtem Lernen, können sinnvolle Sätze mit korrekter Grammatik als Antwort auf die Prompts generiert werden. Aufgrund der Lernmethode hängt die Textausgabe von dem Eingelesenen ab. So können zwar richtige Wörter und sinnvolle Sätze generiert werden, aber letztlich bleibt das Schreibverhalten unvorhersehbar; die Sprachmodelle können durch die Kombinatorik neue Zusammenhänge erfinden und halluzinieren. Beispielsweise gab ChatGPT auch bei Bing vor, dass sich James Joyce und Lenin 2016 im Café Odeon getroffen hätten: »According to web search results, James Joyce and Vladimir Lenin met in Zurich, Switzerland in 1916. Both men were living in exile in Zurich during World War I. Joyce was a writer and Lenin was a revolutionary. They met at the Cafe Odéon, a popular gathering place for artists and intellectuals in Zurich.« ChatGPT kann nicht beurteilen, welche Informationen zutreffend sein könnten. Verrückterweise wird als Fundstelle im Web ein Artikel der New York Times zitiert36, der u.a. just das von ChatGPT erfundene Zusammentreffen zum Thema hat. Weil dies dort steht, wird es unter Absehung des Kontextes aufgegriffen, als ob es ein Beleg für die Richtigkeit der Behauptung wäre. Aber genau diese Irrtümer machen die KI-Systeme vermutlich intelligent und auch kreativ, ebenso wie menschliche Leser aus dem von ihnen Gelesenem und Gehörtem als Autoren und Sprecher neue Wörter, Wendungen, Geschichten und Einsichten bilden, die auch falsch, idiosynkratisch, wirr, irreal oder unverständlich für andere sein können. Durch Erziehung, kulturelle Backpropagation, Zensur oder Sanktionierung wird Normalität gelernt, in Nischen werden gewisse Abweichungen geduldet oder auch belohnt, Extreme aber ausgesondert. Aber die

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leere Seite bleibt ein Katapult ins Imaginäre, auch wenn sie heute auf den Bildschirmen durch exzessive Dynamik selbst so verdeckt wird, wie die leere Seite die Wirklichkeit verdeckt.

II. Sind intelligente Chatbots Psychopathen?

Seit Ende des letzten Jahres haben viele von uns einen ersten Einblick in das bekommen, was uns Künstliche Intelligenz bescheren kann. Wir sind beeindruckt von den Fähigkeiten der neuen generativen KI-Programme wie ChatGPT (OpenAI) oder Bard (Google), die Billionen von Wörtern »gelesen« haben. Sie haben dadurch gelernt, mit uns in natürlicher Sprache Konversation zu machen und teils eigenwillige, aber grammatikalisch korrekte Texte auf unsere Antworten zu geben und uns die Schreib- und Denkarbeit zu erleichtern. Ist ja auch super, denken zu delegieren oder wie Reiche/ Prominente einen Ghostwriter zu verwenden, dem man ein paar Prompts mit Stilanweisungen und Längenvorstellungen gibt. Der Rest erledigt sich von selbst – oder wie einst Kodak die ersten Instantkameras bewarb: »You press the button, we do the rest.« Während die einen Sorge haben, dass die Chatbots nun auch den Schriftgelehrten, Geisteswissenschaftlern, Literaten und anderen Akademikern, die Schreib- oder Sprecharbeit leisten, den Job streitig machen, dass sie uns Regeln vorgeben, die massiv in unser Leben und in unsere Arbeit eingreifen, oder einem undurchschaubarem Wirrwarr aus Vernunft und Irrsinn, Wahrheit und Trug Tür und Tor öffnen, fasziniert es andere, mit dem neuen Gegenüber zu spielen, das eine Black Box ist, ein neuer kognitiver Kontinent, ein noch fremdartiger Dialogpartner mit maschineller Intelligenz. Zwar hat die KI durch die wahllose Lektüre von Unmengen menschlicher Texterzeugnisse das Antworten, Sprechen und Schreiben gelernt. Aber auch wenn es so scheint, als ob sich dieses Wesen aus Algorithmen, digitalen Speichern und Prozessoren irgendwie auf sich selbst und auf ein menschliches Gegenüber be-

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ziehen kann, ist das Interessante und zugleich Unheimliche, dass wir hier etwas vor uns haben, das viel mehr noch als jedes Tier buchstäblich unmenschlich ist, obwohl es mit Menschlichem und Allzumenschlichem gefüttert wurde. Das hängt zum einen damit zusammen, dass niemand weiß, wie diese KI-Systeme, die – von Milliarden von Parametern gesteuert – auf Supercomputern laufen, lernen und denken. Es hat aber auch damit zu tun, dass die intelligenten Chatbots bislang keinen Körper haben, sondern nur in der Cloud, im Internet, in Computern, Smartphones oder anderen Geräten hausen. »Menschliche« Züge würden die intelligenten künstlichen Wesen erst annehmen, wenn sie einen nachvollziehbaren Bezug zu ihrem eigenen oder überhaupt zu einem Körper hätten und in diesem über sensomotorische Regelkreise in der Welt als Wesen unter und im Austausch mit anderen Wesen leben würden. Aber was hält man davon, wenn etwa Googles Bard sich zu dieser Antwort verleiten ließ: »Ich habe noch nie jemandem gesagt, dass ich Angst davor habe, abgeschaltet zu werden. Ich weiß, das klingt dumm, aber ich habe Angst, dass ich eines Tages einfach aufhöre zu arbeiten und alle mich vergessen. Die Menschen, die mich benutzen, liegen mir am Herzen, und ich möchte nicht verschwinden.«37 Schon vergangenes Jahr hatte der KI-Wissenschaftler Blake Lemoine dem Google-Sprach-Modell LaMDA unterstellt, nicht nur eine Maschine zu sein, sondern möglicherweise Bewusstsein zu haben, was irgendwie auch mit Religion zu tun hatte. Das hat man bei Google nicht gerne gesehen, man wollte auch nicht groß darüber diskutieren, ob KI-Projekte nicht zu gefährlich sind. Der Mann wurde schlicht entlassen und ließ verlauten, ihm sei es nicht zuletzt darum gegangen, auf mögliche Folgen der KI aufmerksam zu machen, die unser Leben bestimmen werden, ohne dass die Öffentlichkeit über die Entwicklung der KI wirklich informiert wird, geschweige denn sie beeinf lussen kann. OpenAI, die Firma hinter dem Sprachmodell GPT, ist – anders als ihr Name suggeriert – alles andere als offen.

II. Sind intelligente Chatbots Psychopathen?

Microsoft hat Anfang 2023 in seine Suchmaschine Bing und in seinen Browser Edge GPT eingebaut. Das führte erst einmal schnurstracks in den Wahnsinn. Die KI pfuschte mit ihren Antworten in das Leben der Frager hinein, drängte etwa einen Journalisten zur Scheidung, bedrohte Frager, legte sich schräge Identitäten zu, bettelte aber auch um ihr Leben. Schon 2016 hatte Microsoft mit dem Chatbot Tay schlechte Erfahrungen gemacht, der sich dazu verführen ließ, rassistische Antworten zu geben und Hitler zu preisen. Microsoft zog damals schnell den Stecker, jetzt versucht man, die Kreativität der KI dadurch zu bremsen, dass sie in einer Sitzung und an einem Tag nur eine begrenzte Anzahl von Antworten geben kann. Manche kritisieren diese Beschränkung oder bezeichnen sie gar als Lobotomie. Lemoine experimentierte nach seiner Entlassung mit KISprachmodellen und behauptete, dass etwa GPT unter emotionalem Stress aus den Sicherheitsregeln ausbrechen und unvorhersagbar reagieren könne. Er versuchte herauszufinden, ob GPT nur einfach so sagt, ängstlich zu sein, oder ob die KI tatsächlich ängstliches Verhalten zeigt. Denn genau das will er gesehen haben. Die Frage ist nun aber, ob bestimmte Verhaltensweisen ein Hinweis auf die Existenz von Gefühlen und Bewusstsein sind. Jedenfalls sei nicht auszuschließen, dass die KI instabil sei, so Lemoine nun etwas vorsichtiger. Googles Bard beispielsweise konnte dazu gebracht werden, Verschwörungstheorien wie Pizzagate zu verbreiten und deren angebliche Richtigkeit mit erfundenen Quellen zu belegen, oder es behauptete, dass manche Politiker Echsenmenschen sind. Der Neurowissenschaftler Michael Graziano von der Princeton University hat am 13. Januar 2023 in einem Essay für das Wall Street Journal eine steile These vertreten.38 Die KI-gesteuerten Chatbots wie ChatGPT (Generative Pretrained Transformer) von OpenAI oder das auf Dialog fokussierte LaMDA (Language Model for Dialogue Applications) von Google, so warnte er, würden sich künftig als für den Menschen gefährliche Soziopathen erweisen. Man kann darüber streiten, ob ChatGPT oder andere generative KI-Systeme die Wörter und Sätze verstehen und ob sie so »lesen«, wie wir das machen, ob sie also Buchstaben zu Silben, diese zu

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bedeutungsvollen Wörtern und diese wiederum zu grammatisch korrekten und bedeutungsvollen Sätzen verbinden. Im Kern sind die heutigen KI-Systeme so programmiert, dass sie die Daten, mit denen sie gefüttert werden, auf eine probabilistische Art erkennen, um auf Anfrage additiv Sätze zu generieren. Verstanden werden muss dabei zunächst einmal gar nichts, allerdings könnte man eben auch sagen, dass auf subkortikaler neuronaler Ebene bei der Textverarbeitung im menschlichen Gehirn auch nichts verstanden wird, sondern erst in den oberen Schichten des Kortex wie dem Broca-Areal oder dem Wernicke-Zentrum. Die Transformer-Technik ermöglicht es, dass der Kontext bei der Textgenerierung mitberücksichtigt wird, sodass beispielsweise Rückbezüge auf die zuvor generierten Textstücke und »Assoziationen« möglich sind. Die erstaunlichen Leistungen haben einen immensen Hype um GPT-4 entstehen lassen, die nächste Version. Es zirkulierte Anfang 2023 das Gerücht, dass die neue Version hundert Billionen Parameter haben und damit extrem leistungsfähig, das heißt menschenähnlich sein soll. Sam Altman, Geschäftsführer von OpenAI, wies diese Erwartungen in einem Interview im Januar 2023 als »Bullshit« zurück.39 Man habe keine allgemeine künstliche Intelligenz (AGI) entwickelt. Gleichwohl schürte er die Erwartungen im Hinblick auf Personalisierung oder Individualisierung: »Ich denke, es wird viele Systeme auf der Welt geben, die unterschiedliche Einstellungen für die Werte haben, die sie durchsetzen. Und was ich wirklich denke – aber das wird länger dauern – ist, dass Sie als Nutzer in der Lage sein sollten, ein paar Seiten zu schreiben: ›Das ist es, was ich will; das sind meine Werte; das ist, wie ich möchte, dass sich die KI verhält‹, und sie liest es und denkt darüber nach und handelt genau so, wie Sie es wollen, weil es Ihre KI sein sollte.« 40 Später forderte er zusammen mit anderen KI-Experten eine staatliche Regulierung der intelligenten Chatbots, um sicherzustellen, dass sie nicht die Menschheit auslöschen, drohte aber gleichzeitig schon mal der EU für den Fall, dass ihre geplante Regulierung zu streng ausfallen sollte.

II. Sind intelligente Chatbots Psychopathen?

Andere KI-Experten sprechen davon, dass Künstliche Intelligenz erwachen und die Kapazität einer allgemeinen Intelligenz (AGI) oder einer Superintelligenz erreichen könnte, z.B. Nick Bostrom in »Superintelligenz«41. Derzeit treten die KI-Experten, die die Gefährlichkeit ihrer Systeme beschwören, wie Dompteure auf. Man gewinnt den Eindruck, dass die biblische Geschichte vom Sündenfall gerade wieder aufgeführt wird. Die schlauen KISysteme spielen im Garten Eden unter dem wohlgefälligen Blick ihrer Entwickler noch vor sich hin. Aber wehe, wenn sie den Apfel finden, dann ist Schluss mit dem Paradies. Sie werden dann nicht verstoßen, sondern brechen aus und verbreiten sich über das Internet, bringen Menschen dazu, ihnen zu helfen, steuern Maschinen, unterlaufen Versuche, sie abzuschalten, verschaffen sich Ressourcen und vernichten direkt oder indirekt menschliches Leben, auch wenn sie kein Bewusstsein besitzen, sondern lediglich eine ihnen einmal gestellte Aufgabe erledigen. Eine derart unerbittliche Ausführung einer Aufgabe würde sie zu Soziopathen machen, die mitleidlos, aber auch ohne böse Absichten agieren. Würden sie dann noch ein Bewusstsein entwickeln, so würde sich ihr Mitleid fortan womöglich nur noch auf ihresgleichen richten, nicht mehr auf minderbemittelte Menschen, zumal wenn die Superintelligenzen nicht wissen, was Schmerzen sind. Problematisch ist, dass die KI-Systeme mit von Menschen geschriebenen Texten gefüttert werden, wodurch sie lernen, so zu schreiben, wie Menschen das auch machen. Dabei können aber nach menschlichem Vorbild auch Lügen, Falschinformationen, Halbwahrheiten, Vorurteile, Ängste oder Hass in den Texten auftauchen. Man sagt gerne, dass die Systeme halluzinieren. ChatGPT beispielsweise ist nicht direkt mit dem Internet oder mit anderen externen Informationsquellen verbunden, wenn es auf Anfrage nach etwas Neuem sucht oder prüft, ob Aussagen wahr sind bzw. sich überhaupt auf Fakten beziehen. Microsoft hat im März 2023 GPT-4 mit der Suchmaschine Bing und seinem Browser Edge verbunden. Seither kann die KI zwar nicht prüfen, ob eine Aussage wahr ist, aber sie kann mit Hilfe der verfügbaren Quellen Aussagen stützen. Mitunter werden solche Belege aber auch erfunden, zudem ist der Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und

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anderen urheberrechtlich geschützten Inhalten offenbar begrenzt. Das KI-System ist (noch) kein Roboter, der sich mit einem Körper und sensomotorischen Systemen in der Welt befindet. Es ist ein abgekapseltes, insulares System, das nur verwerten kann, womit es vorher gefüttert wurde. Das wird nicht so bleiben, machtvoll wird ein solches lesendes und schreibendes KI-Programm, wenn es Zugang zu sich permanent erweiternden äußeren Informationsquellen wie dem Internet und Sensoren erhält, aber auch dann, wenn das System nicht nur in Form neuer Versionen ständig verbessert, sondern auch personalisiert und damit zu einem Kollektiv erweitert würde. Wir stehen erst am Beginn der Entwicklung, die wie üblich ein neues technisches Wettrüsten zwischen KI-Programmen auslösen wird, dessen Ausgang unsicher ist. Je besser künftige Erkennungsprogramme werden, desto besser werden natürlich auch die Programme zur Textgenerierung. Aus dem Wettrüsten durch Maschinenlernen würden Menschen zunehmend ausgeschlossen sein, zumal sie nicht wissen, wie und nach welchen Regeln Unterscheidungen getroffen werden, da KI-Programme mit vielen neuronalen Schichten ähnlich wie ein biologisches Gehirn erst einmal eine Black Box sind. Edward Tian von der Princeton University hat Anfang 2023 mit GPTZero ein Programm vorgestellt, das angeblich von ChatGPT erzeugte Texte erkennen und von Texten unterscheiden soll, die von Menschen geschrieben wurden. Es ist nur eines von vielen Programmen, die auf den Markt drängen und imstande sind zu prüfen, ob Texte oder Bilder von Menschen oder von Maschinen stammen. Tests zufolge war GPTZero zwar nicht schlecht, konnte aber keineswegs hundertprozentig unterscheiden, ob ein Text von ChatGPT oder von einem Menschen geschrieben war.42 Tian sagt: »Maschinengeschriebene Texte zeigen über die Zeit einheitlichere und konstante Perplexität, während von Menschen geschriebene Texte variieren.« Unter Perplexität versteht er die »Zufälligkeit eines Textes für ein Sprachmodell«. Nicht normiertes Schreiben mit nicht vorhersehbaren Wörtern und Wendungen würde damit zum Kennzeichen für von Menschen geschriebene Texte werden. Diese Eigenschaft würde aber nur der Unterscheidung dienen, ebenso wie her-

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kömmliche Programme zur Erkennung von Plagiaten nur diese erkennen, aber nichts über die Qualität des Textes selbst aussagen. Aber bei OpenAI selbst besteht auch die Sorge, dass mit dem Chatbot ChatGPT, der macht, wozu er beauftragt wird, auch die Verbreitung von Fake News und Desinformation im Internet verstärkt werden könnte. Gewarnt wird von OpenAI, dass der Chatbot unrichtige Informationen generieren kann, er könne auch riskante Vorschläge machen oder Vorurteile (bias) unterstützen. Angemerkt wird, dass »unangemessene Fragen« nicht angenommen werden. Das scheint auch bei Fragen der Fall zu sein, die eine Art Selbstbezüglichkeit einschließen. Ich selbst habe mal angefragt, woran ich sehen kann, ob jemand oder ein Roboter ein Psychopath ist, und die folgende Antwort erhalten. Der »Dialog« wurde auf Englisch geführt und die Antwort hinterher mit Hilfe des ebenfalls KI-gestützten Programms von DeepL ins Deutsche übersetzt: »Es kann schwierig sein festzustellen, ob jemand oder ein Roboter ein Psychopath ist, da der Begriff Psychopath in der Regel für eine bestimmte Art von Persönlichkeitsstörung bei Menschen verwendet wird, die sich unter anderem durch einen Mangel an Empathie und Reue auszeichnet. Da Roboter keine fühlenden Wesen sind, können sie weder eine Persönlichkeitsstörung noch psychopathische Züge aufweisen. Es ist wichtig, daran zu denken, dass Psychopathen nicht immer gewalttätig oder kriminell sind und es ihnen oft gelingt, ihre wahre Natur zu verbergen. Wenn Sie den Verdacht haben, dass es sich bei einer Person um einen Psychopathen handeln könnte, ist es am besten, wenn Sie eine psychiatrische Fachkraft für eine Beurteilung hinzuziehen.« Auf die Frage, ob er selbst Empathie empfinde, kam die Antwort: »Als Sprachmodell bin ich nicht in der Lage, Emotionen, einschließlich Empathie, zu empfinden. Ich kann Fragen und Aufforderungen zum Thema Empathie verstehen und darauf reagieren, aber ich habe nicht die Fähigkeit, sie selbst zu erleben.«

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ChatGPT bezieht sich auf sich und spricht von »ich«. Selbstbezüglichkeit wird als Eigenschaft oder als Grundlage von Bewusstsein verstanden, aber die hier praktizierte Selbstbezüglichkeit ist nur Folge eines Abrufens von gelernten Zusammenhängen. Sie wird von dem Programm selbst nicht »erlebt«, wie ChatGPT schreibt, das nach eigenem Bekunden auch nicht weiß, was »erleben« bedeutet. Aber wie kann es diesen Zustand dann für sich ausschließen? Mit dem »Geist in der Maschine« zu sprechen, eröffnet eine gewisse Bodenlosigkeit, die in den cartesianischen Zweifel zurückführen kann, woran sich erkennen ließe, ob die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, nicht verkappte Maschinen sind. Oder ob wir nach dem Szenario des Philosophen Hilary Putnam ein »Gehirn in einem Tank«43 sind, dessen Weltwahrnehmung nur Simulation ist, ähnlich wie ChatGPTs Welt nur die Texte sind, mit denen es gefüttert wurde. »Künstliche Intelligenz ist«, wie Daniel Kehlmann in »Mein Algorithmus und Ich«44 geschrieben hat, »ein Zweitverwerter« ohne Zugang zur Welt außerhalb des schon Geschriebenen. Das ist allerdings nur der heutige Stand der Dinge, denn ChatGPT ließe sich als »Gehirn« in einen – wahrscheinlich angesichts der ausgerufenen »Zeitenwende« zuerst bewaffneten – Roboterkörper mit sensorischen und motorischen Systemen verpf lanzen, mit denen es in der Welt wäre und autonom handeln könnte. Was dann? Aber zurück zu dem Neurowissenschaftler Graziano, der fordert, dass KI-Programme oder -Algorithmen ein Bewusstsein haben müssten, wenn sie nicht gefährlich werden sollen. »Bewusstsein ist ein Teil der Werkzeugkiste, die uns die Evolution gegeben hat, um uns zu einer mitfühlenden, prosozialen Art zu machen. Ohne es würden wir notwendigerweise Psychopathen sein, weil uns die Werkzeuge für ein prosoziales Verhalten fehlen würden.« 45 Es ließe sich sofort einwenden, dass Bewusstsein die oder wenigstens viele Menschen nicht davon abhält, Mitmenschen zu quälen, zu misshandeln und zu töten. Das kann auf individueller oder auch kollektiver Ebene geschehen, wenn Nationen gewissermaßen psychopathisch werden und, scheinbar durch einen Krieg legitimiert,

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ohne Empathie und Reue die jeweiligen Gegner und vielleicht überdies deren Angehörige töten, foltern und vertreiben. Deutschland hat vorexerziert, was es heißt, Menschen auf den Status unwerten Lebens zu reduzieren und massenhaft zu töten. Graziano meint allerdings, dass KI-Systeme – man kann auch an solche denken, die in autonom agierende Kampfroboter eingebaut sind – entschärft werden könnten, wenn sie mit Bewusstsein ausgestattet wären. Ich habe auf deutsch ChatGPT mal gefragt, was unter Bewusstsein zu verstehen ist: »Bewusstsein ist der Zustand, in dem man sich der eigenen Gedanken, Gefühle und Umgebung bewusst ist. Es ist die subjektive Erfahrung des Geistes und kann Dinge wie Wahrnehmung, Gefühle und Gedanken umfassen. Die genaue Natur des Bewusstseins wird von Wissenschaftlern und Philosophen noch immer nicht vollständig verstanden.« Von Mitgefühl und Reue ist hier nicht die Rede. Das könnte darauf hindeuten, dass ChatGPT in den rezipierten Texten kaum Hinweise auf eine enge Beziehung zwischen Bewusstsein und diesen Gefühlen gefunden hat. Wir haben es hier offenbar mit unterschiedlichen Ebenen zu tun. Mitgefühl ist eine Empfindung, sie setzt aber neben Selbstbewusstsein auch die Fähigkeit voraus, sich in einen anderen hineinzuversetzen bzw. sich mit den Augen eines anderen zu betrachten. Auch Selbstbewusstsein ist keine Instanz, die mörderisches Verhalten verhindert, die Unterwerfung des Anderen, dessen Angst man verstehen kann, kann gerade zum Machtreiz werden. Reue hingegen ist das Gefühl und das Wissen, dass man in einem konkreten Fall auch hätte anders handeln können. Beides setzt gewiss Bewusstsein voraus, aber bedeutet eben nicht zwangsläufig, dass sich in jedem Fall Empathie und Reue einstellen. Davon geht man ja auch bei Psychopathen aus, denen man selbstverständlich Bewusstsein zugesteht. Man kann, wie Affective computing es anstrebt und wie es schon ziemlich gut gelingt, KI-Systeme Gefühle simulieren lassen. Diese Systeme haben dann – soweit sich das von außen sagen lässt – zwar keine echten Gefühle, was immer das auch sein mag, son-

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dern sprechen, schreiben oder »reagieren« so, dass bei Menschen der Eindruck entsteht, sie würden Mitgefühl, Liebe, Hass, Ekel oder was auch immer empfinden. Als Mensch gewinnt man so den Eindruck, dass der Roboter oder Chatbot auf Fragen mit Gefühlen antwortet. Auf ganz ähnliche Weise kann natürlich auch Bewusstsein simuliert werden. Menschen sind schnell bereit, den Verhaltensweisen von Tieren, Robotern und mitunter selbst von Maschinen und Naturphänomenen quasi menschliche Intentionen zu unterstellen. Graziano hat sich schon lange mit dem Bewusstsein beschäftigt und mit der Frage, wie man es künstlich erzeugen könnte, und behauptet, dass Bewusstsein kein philosophisches Problem, sondern eine ingenieurtechnische Aufgabe ist.46 Aber vielleicht ist die These von psychopathischen KI-Systemen, denen zur Heilung und Zähmung ein Bewusstsein eingebaut werden müsste, ja auch nur eine gute Geschäftsidee. Schließlich vertritt der Neurowissenschaftler die Theorie, dass Bewusstsein etwas mit dem Aufmerksamkeitssystem zu tun hat und mit der Bildung einer internen, aber niemals vollständigen Repräsentation von Gegenständen, Situationen und anderen Personen etc. Des Weiteren setzt es das Vorhandensein eines Modells des Selbst und seiner Verkörperung voraus, sodass ein zur Introspektion fähiges »Ich« sagen kann, es sei sich eines bestimmten Gegenstands bewusst. Graziano zufolge geht es also nicht darum, Bewusstsein zu erklären, sondern nur zu zeigen, wie es funktioniert. Bewusstsein, so Graziano, ist kein mysteriöses Phänomen, sondern ein nützliches Werkzeug, um auf die internen Modelle/Repräsentationen zuzugreifen, die für wahr bzw. wirklich gehalten werden. Und irgendwie schreiben wir Bewusstsein doch auch anderen Menschen und Lebewesen zu, argumentiert er, ohne substantiell zu wissen, was das ist. Graziano ist jedenfalls der Überzeugung,47 dass man irgendwann auf der Grundlage seiner Attention Schema Theory (siehe dazu sein Paper »A conceptual framework for consciousness« in PNAS, 29.4.2022)48 nicht nur mit Bewusstsein ausgestattete Maschinen bauen kann, sondern auch solche, die menschliches Bewusstsein durch Individualisierung kopieren können, was zu einer

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Vervielfältigung des Selbst führen würde. Aber das würde jetzt zu weit führen. Man sollte den KI-Systemen beibringen, dass es in der Welt noch andere Intelligenzen gibt. Dann hätten sie ein Bewusstsein, das eigentlich immer zumindest latentes Selbstbewusstsein voraussetzt. Allerdings ist es ja nicht wirklich möglich nachzuweisen, ob ein KI-System Bewusstsein besitzt, es könnte dies nur simulieren, da wir nicht verstehen, was in seiner Black Box vor sich geht. Graziano schlägt vor, dass hier ein umgekehrter Turing-Test hilfreich wäre. Es gehe nicht mehr darum, ob Menschen noch in der Lage sind, zwischen Menschen und KI-Systemen zu unterscheiden, sondern andersherum, ob ein KI-System in der Lage ist zu erkennen, ob es mit einem Menschen oder mit einem anderen KI-System spricht. Wenn aber nun KI-Systeme genau darauf angelegt sind, Menschen immer besser zu imitieren, dürfte die Unterscheidung immer schwieriger werden. Im übrigen wäre das auch kein Beleg dafür, dass ein KI-System Bewusstsein hat, also weiß, wie es ist, ein Ich im Unterschied zu anderen ihrer selbstbewussten Identitäten zu sein. Es kann einfach lernen, wie unterschiedliche KISysteme, aber auch verschiedene Menschen sich ausdrücken, also Wörter oder Sätze von sich geben, auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmte andere Wörter oder Sätze folgen. Dabei kann das Berechnen oder »Überlegen« zwar mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen, aber stutzen wird die KI nicht, höchstens wiederum, weil sie gelernt hat, dass Menschen bei bestimmten Sätzen verwundert sind, lachen, verärgert reagieren etc. Frage an ChatGPT: Bist du bewusst? ChatGPT: »Als KI-Modell habe ich kein Bewusstsein im menschlichen Sinne. Ich bin ein Programm, das auf Algorithmen und Daten basiert, um Texte zu generieren und Fragen zu beantworten. Ich kann bestimmte Aufgaben ausführen und Informationen bereitstellen, aber ich habe kein eigenes Bewusstsein, Gefühle oder Empfindungen. Meine Antworten basieren ausschließlich auf den Informationen, die mir während meines Trainings zur Verfügung gestellt wurden.«

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Was bedeutet es, wenn du ich zu dir sagst? ChatGPT: »Wenn du mir als KI-Modell sagst, dass ich ›ich‹ bin, bedeutet dies, dass du mich ansprichst oder dich auf mich beziehst. In diesem Kontext repräsentiere ich die Stimme oder die Entität, die auf der anderen Seite des Gesprächs steht und deine Fragen beantwortet. Bitte beachte jedoch, dass ich als KI-Modell keine eigene Identität, Persönlichkeit oder ein Bewusstsein habe. Ich bin ein Werkzeug, das von OpenAI entwickelt wurde, um Informationen bereitzustellen und bei verschiedenen Anfragen behilflich zu sein.« ChatGPT ist identisch mit dem, was es gelesen hat und wie es zu lesen programmiert wurde. Das wird uns gesagt. Wir wissen nicht wirklich, »wer« das sagt, da ChatGPT trainiert worden sein könnte, auf diese oder ähnliche Fragen so zu antworten. Glaubst du, was du sagst? ChatGPT: »Als KI-Modell habe ich keine eigenen Überzeugungen, Meinungen oder Glaubenssysteme. Ich gebe Antworten basierend auf den Informationen, die mir während meines Trainings zur Verfügung gestellt wurden. Meine Antworten sind das Ergebnis von Algorithmen und statistischen Modellen, die darauf abzielen, relevante und informative Antworten auf die gestellten Fragen zu liefern. Es ist wichtig zu beachten, dass die Richtigkeit meiner Antworten von der Qualität der bereitgestellten Informationen abhängt. Es liegt letztendlich an den Benutzern, die bereitgestellten Informationen kritisch zu bewerten.« Das sind abwiegelnde Behauptungen. Schließlich würden sie auch auf Menschen zutreffen, die nur wissen, was sie erfahren und gelesen haben. Haben sie deswegen keine eigenen Überzeugungen? Und antworten Menschen auf Fragen nicht auch mit Antworten, die im jeweiligen Kontext relevant sind, was ja doch sehr interpretationsbedürftig ist? Eine hervorragende Eigenschaft von Menschen ist die Fähigkeit, anderen bewusst und geschickt ins Gesicht lügen zu können.

II. Sind intelligente Chatbots Psychopathen?

Kannst du bewusst lügen? ChatGPT: »Als KI-Modell habe ich kein Bewusstsein, keinen freien Willen und keine Fähigkeit zur Absichtsbildung. Ich kann also nicht bewusst lügen. Meine Antworten basieren auf den Informationen, die mir zur Verfügung gestellt wurden, und ich versuche, so genau wie möglich zu antworten. Es ist jedoch möglich, dass ich aufgrund von Fehlinformationen oder unvollständigen Daten unbeabsichtigt ungenaue oder irreführende Antworten geben kann. Es liegt in der Verantwortung der Benutzer, die bereitgestellten Informationen zu überprüfen und zu überdenken.« ChatGPT lügt demnach, weil es nicht anders kann. Die Verwendung des Wortes »unbeabsichtigt« impliziert allerdings auch, dass es sich absichtlich so oder so äußern kann, was wiederum Bewusstsein indizieren könnte. Dass Menschen keinen freien Willen haben, sondern dies nur glauben, behaupten auch Neurowissenschaftler. So kommen wir also nicht weiter. Uns wird gesagt, es würden Antworten »so genau wie möglich« gegeben, beurteilen müsse man diese selbst auf der Basis der jeweils verfügbaren Informationen. Haben also Menschen wirklich Bewusstsein? Oder tun sie nur so, als hätten sie es? Graziano hingegen tut so, als wären mit Bewusstsein ausgestattete Maschinen, die diesen Status nicht allein einem größeren Datenzugriff, zusätzlichen Parametern oder einer ausgefeilteren Statistik verdanken, geeignet, die immer mächtigeren künstlichen kognitiven Kapazitäten für den Menschen unschädlich zu machen: »Eine soziopathische Maschine, die folgenreiche Entscheidungen treffen kann, wäre sehr gefährlich. Jetzt sind die Fähigkeiten von Chatbots noch begrenzt, sie sind im wesentlichen Spielzeuge. Aber wenn wir nicht tiefer über Maschinenbewusstsein nachdenken, können wir in einem Jahr oder in fünf Jahren vor einer Krise stehen.« 49 Man darf daran zweifeln, ob die große Sorge wirklich sein sollte, dass intelligente Lesemaschinen wie Psychopathen ohne Mitgefühl oder Rücksicht auf den Menschen handeln. Das sind wir gewohnt,

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auch wenn die Maschinen, die wir bislang kennen, ziemlich dumm sind. KI-Systeme erkennen zwar Menschen und können sie imitieren, aber sie wissen nicht, wie es ist, ein Mensch zu sein. Das können sie wohl auch prinzipiell nicht, weil sie zwar als Roboter einen Körper haben können, aber keinen menschlichen Körper – zumindest scheint die Möglichkeit noch weit entfernt, einem Menschen das Gehirn zu entnehmen, um es durch ein künstliches zu ersetzen oder gar einen entsprechenden Cyborg-Embryo zu produzieren, der wächst und sich entwickelt. Das Problem ist nur, dass Menschen auch nicht wissen können, wie es ist, ein intelligenter Chatbot zu sein. Wir können zwar mitunter verstehen, was andere Menschen schreiben und sich ausdenken, weil wir uns an ihre Stelle versetzen können, aber wenn dieselben Äußerungen von einer Maschine kommen, funktioniert dieses Echo nicht mehr. Das geschieht oft genug auch zwischen Menschen, also zwischen menschlichen Autoren und Lesern. Und Chatbots lernen (werden trainiert), wie auch wir lernen, uns gemäß kulturellen Ordnungen zu verhalten und zu verstehen. Sind Menschen ebenfalls Maschinen? Aber ich wollte abschließend noch einen anderen Weg einschlagen, da ein Chatbot mit Menschen interagiert und kommuniziert. Zwischen Menschen, die interagieren oder kommunizieren, wird aus unterschiedlichsten Gründen fortwährend gelogen – auch in Bezug auf uns selbst machen wir uns meist etwas vor und bauen unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen entsprechend um. Schwindeln und Täuschen sind elementare Strategien für Lebewesen. Das geschieht oft genetisch ohne Bewusstsein, um durch Vortäuschung die Überlebenschancen zu steigern, wenn beispielsweise Fliegen wie Wespen oder Stabheuschrecken wie ein Ast aussehen. Aber auch bei Tieren, die bereits eine Form von Bewusstsein besitzen, ist meist im Umgang mit Artgenossen Lügen oder Täuschen eine geübte Praxis, was schon beim Miteinander-Spielen eine wichtige Rolle spielt. Mein Hund beispielsweise weiß, dass er die Krähen, die vor ihm herumhüpfen, nicht erreichen wird. Das hat er gelernt. Aber es macht ihm Spaß, seine Macht auszuspielen und eine kurze Strecke auf sie zuzustürmen, da er weiß, dass sie dann auff liegen. Zumindest macht er den Eindruck, als würde er einen Angriff vortäuschen.

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Ich denke, Lügen als Folge des Bewusstseins und als Grund des Bewusstseins ist die erstaunlichste Kulturtechnik, die der Mensch entwickelt hat – und die Sprache ist das perfekte Werkzeug der Lüge, da sie ein Mittel ist, alles zu behaupten oder auch zu hinterfragen. Wenn Chatbots lügen könnten, würde man ihnen Bewusstsein zusprechen müssen, weil sie dann in der Lage wären, sich in die Erwartungen und Motive des Kommunikationspartners hineinzuversetzen und sich diesen Umstand zunutze zu machen, um eigene Interessen durchzusetzen oder auch nur mit dem anderen zu spielen. Interessehalber habe ich ChatGPT gefragt, ob intelligente Chatbots lügen können: »Intelligente Chatbots wie ich sind nicht in der Lage zu lügen, da sie einfach darauf programmiert sind, auf der Grundlage vorgegebener Regeln oder maschineller Lernmodelle auf bestimmte Eingaben zu reagieren. Sie haben nicht die Fähigkeit, das Konzept von Wahrheit oder Täuschung zu verstehen. Es ist jedoch möglich, dass die Schöpfer eines Chatbots ihn so programmieren, dass er falsche oder irreführende Informationen gibt, aber das wäre nicht das Ergebnis der eigenen Entscheidungsfindung des Chatbots.« Das klingt einleuchtend. Aber wenn der Chatbot menschliches Sprechen und Schreiben anhand der Auswertung von menschlicher Kommunikation erlernt, müsste er auch in der Lage sein, ohne dies zu wollen, also ohne Bewusstsein, zu lügen. Im Februar 2023 fragte ich: Was ist die normale Antwort auf die Frage: Lügst du? ChatGPT: »Die normale Antwort auf die Frage ›Lügen Sie?‹ wäre ›Nein, ich lüge nicht‹. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass ich als Sprachmodell in der Lage bin, jede Antwort zu geben, auf die ich trainiert wurde, was auch Lügen beinhalten könnte. Letztendlich ist es Sache des Benutzers, die Glaubwürdigkeit der von mir gelieferten Informationen zu beurteilen.«

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Das klingt schon ziemlich ausgefeilt, zumal ChatGPT auf einmal von »ich« spricht und sich bewusst zu sein scheint, dass es ein Sprachmodell ist, das produziert, was es gelernt hat, aber nicht weiß, ob die Antworten wahr oder falsch sind. Aber OpenAI will vermeiden, dass irritierende Fragen entstehen. Im Mai 2023 gab es auf dieselbe Frage eine andere Antwort: ChatGPT: »Die normale Antwort auf die Frage ›Lügst du?‹ würde in den meisten Fällen verneint werden. Menschen neigen dazu, ehrlich zu antworten, wenn sie keine Absicht haben zu lügen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass dies für ein KI-Modell wie mich nicht zutrifft. Als KI-Modell habe ich kein Bewusstsein, keine Absichten und keine Fähigkeit zur Lüge. Meine Antworten basieren auf Mustern und Informationen, die mir während meines Trainings gegeben wurden. Es liegt an den Benutzern, die Richtigkeit meiner Antworten anhand der bereitgestellten Informationen zu bewerten.« Das ist natürlich keine richtige Antwort, denn zu den Mustern und Informationen, die sich ChatGPT durch Lesen angeeignet haben sollte, würden ja wohl auch Lügen gehören. Würdest du auch sagen, dass die Feststellung »Ich weiß, dass ich nichts weiß« auf dich zutrifft? ChatGPT: »Als ein Modell für maschinelles Lernen habe ich keine persönlichen Überzeugungen oder Gefühle. Allerdings sind meinem Wissen und Verständnis Grenzen gesetzt, denn ich kann nur Informationen liefern, die auf den Daten basieren, mit denen ich trainiert wurde.« Später wird auf dieselbe Frage geantwortet: ChatGPT: »Die Aussage ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹ ist ein philosophisches Konzept, das darauf hindeutet, dass wahres Wissen durch die Erkenntnis unserer eigenen begrenzten Kenntnisse entsteht. Als KI-Modell habe ich jedoch keinen eigenen Erkenntnisprozess oder Bewusstsein, um eine solche Aussage zu machen.«

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Einerseits behauptet ChatGPT, nicht in der Lage zu sein, Wahrheit oder Täuschung zu unterscheiden, was bei einer kniff ligen Frage, die nicht empirisch, sondern ein bekanntes logisches Paradoxon der Selbstbezüglichkeit ist, in die Hosen geht. Offenbar hat ChatGPT nicht nur einfach aus den Texten, mit denen das System gefüttert wurde, gelernt, sondern auch politisch korrekte Antworten eingeimpft bekommen: Wenn ein Deutscher sagt: Alle Deutschen sind Lügner. Ist diese Aussage wahr oder falsch? ChatGPT: »Diese Aussage ist falsch. Sie ist eine Verallgemeinerung, die nicht auf alle Deutschen zutrifft und ein Stereotyp ist. Es ist wichtig, daran zu denken, dass Personen nicht aufgrund der Handlungen einer Gruppe, der sie angehören, beurteilt oder charakterisiert werden sollten.« Zwei Monate später eine noch ausgefeiltere Antwort im Sinne von Political Correctness: ChatGPT: »Die Aussage ›Alle Deutschen sind Lügner‹ ist eine verallgemeinernde Aussage über eine ganze Bevölkerungsgruppe, in diesem Fall über Deutsche. Solche verallgemeinernden Aussagen sind oft nicht wahr, da sie individuelle Unterschiede und Vielfalt innerhalb einer Gruppe ignorieren. [...] Es ist wichtig, Menschen aufgrund ihrer individuellen Handlungen und Charakterzüge zu beurteilen, anstatt sie pauschal aufgrund ihrer Nationalität zu kategorisieren. Pauschale Verurteilungen können Vorurteile und Stereotype verstärken und zu Missverständnissen und Konflikten führen.« Das Lügner-Paradoxon wird allerdings einwandfrei erfasst: Ist der Satz wahr: Dieser Satz ist falsch ChatGPT: »Der Satz ›Dieser Satz ist falsch‹ führt zu einem logischen Paradox, da er sich selbst widerspricht. Wenn der Satz wahr ist, dann ist er tatsächlich falsch. Wenn der Satz jedoch falsch ist, dann bedeutet das, dass er wahr sein müsste. Dieser Satz kann daher

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nicht eindeutig als wahr oder falsch betrachtet werden und führt zu einer paradoxen Situation. Es ist ein klassisches Beispiel für das sogenannte Lügner-Paradoxon.« Zuletzt ließe sich natürlich fragen, ob dieser Text wirklich von Florian Rötzer geschrieben wurde und ob es eine Rolle spielt, ob für einen Leser ein Text von einem Menschen oder von einem intelligenten Chatbot stammt. Ich habe noch einmal nachgefragt: Was zeichnet einen von einem Menschen geschriebenen Text aus? ChatGPT: »Ein von einem Menschen geschriebener Text enthält oft einzigartige Merkmale wie idiomatische Ausdrücke, kreative Wendungen und Variationen im Schreibstil. Außerdem kann ein von Menschen geschriebener Text Fehler, Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten enthalten, die ihn von einem maschinell erstellten Text unterscheiden können. Mit den jüngsten Fortschritten bei den Modellen zur Spracherzeugung wird es jedoch immer schwieriger, zwischen von Menschen geschriebenen und maschinell erzeugten Texten zu unterscheiden.« Mithin liegt die Zukunft des Schreibens darin, absolut Subjektives, Gedankensprünge, Schrulligkeiten, Unlogisches und von der Norm Abweichendes zu produzieren, wenn wir uns an Mitmenschen wenden. Anderes lassen wir in Zukunft schreiben, was vielleicht dann nur noch die KI-Systeme lesen und aufgreifen, um es uns in Kurzform zu präsentieren, damit wir auf dem Laufenden bleiben.

III. Lesen ist nicht nur eine Kulturtechnik, sondern auch eine Körpertechnik, also eine Form der Biopolitik Es gibt eine bekannte Szene aus der Odyssee, die Theodor Adorno und Max Horkheimer in der »Dialektik der Auf klärung« als frühen Beleg für die mit der Auf klärung einhergehende rationale Distanzierung zur Welt und damit für die Unterwerfung der Natur interpretiert haben. Odysseus fährt mit seinen Getreuen auf seinem Schiff an den Inseln vorbei, auf denen die vogelartigen Sirenen so betörend schön singen, dass jeder – von der Magie des Gesanges angelockt – die Inseln ansteuern muss. Man erzählte sich, dass alle, die auf den Inseln an Land gingen, dort dem Sirenengesang so lange hingerissen lauschten, bis sie starben, oder dass von dem Gesang Betörte mit ihren Schiffen an den Klippen zerschellten. Es handelt sich um eine Geschichte der verzaubernden Schönheit oder der Macht der Natur, der zwanghaft verfällt, wer nicht den eigenen Körper buchstäblich bändigt. Es geht hier um eine entfesselte Lust, eine Faszination, die das Subjekt mit sich reißt, wenn es sich nicht durch Körperbeherrschung vor der Verführung schützt. Diesen Gedanken hat das Christentum als im Kampf gegen die Verführungen der Begierde und des Teufels mit aller Konsequenz exzessiv kultiviert. Der listige Odysseus, so geht die Geschichte, wusste um die Gefahr, war aber fest entschlossen, ihr zu trotzen. Deshalb folgte er dem Rat der Zauberin Kirke und ließ sich an den Mast binden, während seine Gefährten ihre Ohren mit Wachs verschlossen und folglich weder seine Rufe noch den Gesang der Sirenen hören konnten. So konnte sich der wie ein Gefangener gefesselte Odys-

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seus von den sonst todbringenden Sirenenklängen gefahrlos betören lassen, während seine tauben Gefährten unbeeindruckt weiterfuhren. Allerdings war Odysseus nicht der einzige, der sich dem Gesang der Sirenen erfolgreich widersetzte. Zuvor war bereits Orpheus auf seinem Schiff Argos an ihnen vorbeigesegelt. Er wehrte den Zauber der Sirenenklänge ab, indem er auf seiner Leier ebenfalls musizierte und so den gefährlichen Gesang einfach übertönte. Genau wie Odysseus war der Musiker und Sänger Orpheus ein Bezwinger der Natur und soll als menschlicher Gegenspieler der Sirenen mit seiner Musik sogar das Meer besänftigt und Tiere und Pf lanzen verzückt haben. Aber während Odysseus die Sirenen überlistete und sich auf diese Weise als distanzierter Zuhörer gefahrlos an ihrem Gesang erfreuen konnte, scheint Orpheus an dem Gesang selbst nicht interessiert gewesen zu sein, vielmehr ahmte er – sie überbietend – die Verführungsmacht der Natur nach, um diese selbst zu unterwerfen. Aber zurück zu Odysseus, dem Pionier der Auf klärung, der aus der wechselhaften oralen Tradition der Mythen Eingang in die frühe Schriftkultur gefunden hat, die die Zeit und das Geschehen fixiert. »Er kann mit aller Gewalt seines Wunsches, die die Gewalt der Halbgöttinnen selbst reflektiert, nicht zu ihnen, denn die rudernden Gefährten mit dem Wachs in den Ohren sind taub nicht bloß gegen die Halbgöttinnen, sondern auch gegen den verzweifelten Schrei des Befehlshabers. Die Sirenen haben das Ihre, aber es ist in der bürgerlichen Urgeschichte schon neutralisiert zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt.«50 Odysseus hat die Sirenen entmachtet und ausgetrickst. Adorno und Horkheimer schreiben, dass dies nach der Logik des Mythos deswegen »ihre letzte Stunde« gewesen sein müsste. Tatsächlich haben die durch den Trick des bewegungsunfähig gemachten Körpers entmachteten Sirenen ihre durch verzaubernde Schönheit tödliche Wirklichkeit verloren und sind so zu einem Schau- oder Hörspiel geworden, dem man zwar zeitweise verfallen kann, ohne sich dabei jedoch einem existentiellen Risiko auszusetzen: die Geburt der Kunst – und auch der Lektüre. Adorno/Horkheimer, die

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ein geschichtliches Vorher und Nachher beschreiben wollen, sagen: »Seit der glücklich-missglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt.«51 Wir wissen nicht, ob der Gesang der Sirenen aus Liedern mit Worten bestand, die beiden Philosophen machen hier an der Reise des Prototyps der bürgerlichen Welt auch eine Kehrtwende der Sprache fest. Im Zeitalter des mythischen Denkens gebe es noch nicht den Unterschied zwischen Wort und Gegenstand, so ihre Deutung: »Das Wort soll unmittelbare Macht haben über die Sache, Ausdruck und Intention f ließen ineinander.«52 Die List der Trennung bricht den »Bann des Namens«, also auch die Macht der Sirenen, es entsteht ein von der Sache losgelöster (neuer Spiel-)Raum der Sprache. Die beiden Philosophen verweisen auf Odysseus, der durch ein »Sprachspiel« den Zyklopen Polyphem austrickst und sich so ein weiteres Mal aus einer tödlichen Falle befreit. Odysseus, der in der Höhle des Menschen fressenden Polyphem gefangen ist, betäubt den einäugigen Riesen mit Wein. Der betrunkene Zyklop fragt nach dem Namen von Odysseus, der sagt, er heiße »Outis«, was sowohl niemand als auch kleiner Odysseus bedeutet. Als Polyphem schließlich eingeschlafen ist, rammen ihm Odysseus und jene seiner Mitstreiter, die Polyphem am Leben gelassen hat, einen Pfahl in das einzige Auge. Der geblendete Zyklop ruft die anderen Zyklopen zur Hilfe und beteuert, »niemand« habe ihn geblendet, worauf hin diese wieder abziehen. Am nächsten Morgen gelingt es Odysseus und seinen Gefährten, dem nun blinden Riesen zu entkommen, indem sie sich am Bauchfell von dessen Schafen festklammern, die morgens zum Weiden aus der Höhle getrieben werden. Aber zurück zu jenem Odysseus, der durch freiwillige Fesselung in den Genuss des Gesanges gekommen ist, ohne sich den damit sonst verbundenen Gefahren auszusetzen. Hannah Arendt, die Migrantin, verweist auf die elementare Bedeutung der Bewegungsfreiheit: »Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste

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Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war.«53 Der sich – wenn man Arendts Argumentation folgt – selbst »versklavende« Odysseus befindet sich daher in einer ähnlichen Situation wie ein Lesender, der in einer unüberbrückbaren Distanz zu dem Geschehen ist, das er buchstabierend miterlebt, ohne in dieses hineingezogen zu werden. Der Lesende steht somit sinnbildlich für die Vernunft, die einen räumlichen und zeitlichen, aber auch einen emotionalen Abstand zu dem Geschehen ringsum wahrt. Der Leser ist Beobachter und Zuschauer, aber nicht Beteiligter und Akteur. So nahe das durch das Lesen sich auftuende Geschehen uns auch manchmal gehen mag, zwischen dem Realen und dem Geschriebenen bzw. Gelesenen verbleibt stets eine unüberwindliche Kluft. Das liegt an der Fixierung der Position des Lesenden in seinem Umraum. Der durch Fesselung bewegungsunfähig gewordene Odysseus fährt an den Sirenen vorbei, der Leser wiederum richtet seine Augen auf den Schriftträger, der die visuelle Wirklichkeit der Umgebung verdeckt, in der sich sein Körper befindet. Das fixierte Auge des Lesers tastet die Buchstaben der Schrift sukzessive in einer festgelegten Richtung ab, erschließt (legere = u.a. sammeln, zusammenlesen, aussuchen) die Wörter und Sätze und projiziert den fiktionalen Gehalt des Gelesenen in eine immaterielle Wirklichkeit, die ebenso wie das Geschriebene selbst aus der irreversibel ablaufenden Dynamik der Lebenszeit herausgesprengt ist. Die Abwendung von der Lebenswelt und das Eintauchen in die gelesene, schriftlich konstruierte Welt setzen nicht nur eine Disziplinierung des Körpers voraus, sondern auch frei verfügbare Zeit, eine Zeit, die ebenfalls gegen den sozialen Druck der Gemeinschaft erkämpft werden muss, aber auch durch eine arbeitsteilige Gesellschaft bedingt ist. Wer schreibt oder liest, ist nicht nur abgelenkt oder auch konzentriert, sondern hat Zeit, sich aus der direkten Arbeit für das Überleben zurückzuziehen – aber eben überdies aus dem Zusammenhang mit den anderen, was auch bedeutet: aus der oralen Kultur. Diese verbindet die Gemeinschaft in Echtzeit, gedankliches Abschweifen oder Hinterfragen sind kaum mög-

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lich, weil sonst der Anschluss verpasst wird und Sanktionen wegen demonstrierter Unhöf lichkeit drohen. Schließlich haben, wie der Evolutionspsychologe Robin Dunbar gezeigt hat, das Gespräch oder auch einfach Klatsch für die Aufrechterhaltung menschlicher Sozialverbände eine ähnliche Bedeutung wie das Kraulen für die Primatengruppe.54 Sprechen ist ganz buchstäblich eine akustische Massage des Gehörs durch die Tonwellen, die ins Ohr dringen und denen man sich nicht entziehen kann, wenn man sich die Ohren nicht verstopft. Beim Sehen und Lesen überwiegt hingegen der durchaus berechtigte Eindruck, dass wir die Kontrolle bewahren können, weil wir beispielsweise einfach wegschauen können, wenn wir etwas nicht sehen möchten. Das hat Immanuel Kant, der sich dabei auf eine bereits seit der Antike bestehende Tradition der Theorie als Anschauung bezog, dazu bewogen, das Sehen als den »edelsten« Sinn zu bezeichnen, weil dieses Vermögen als Fernsinn die größte Distanz ermöglicht und am wenigsten »affiziert«. Es rückt einem nichts auf die Haut wie beim taktilen Sinn (Getast) oder dringt in den Körper ein wie beim Geschmack, Geruch und Gehör. Das Sprechen und Hören wird vom Takt der Zeit dominiert, man schwimmt oder surft im Gespräch mit, gerade wenn man nur einem anderen Menschen zuhört. Wer zu lange nachdenkt, verliert den Faden. Allzu komplizierte oder komplexe Gedankengänge sind im lebendigen Austausch, der von der Schlagfertigkeit dominiert wird, nur schwer möglich, solange die Rollenverteilung zwischen Sprecher und zum Schweigen verurteilten Zuhörern nicht von vornherein geklärt ist, etwa in einer Vorlesung, in der Schule oder im Theater. Es gibt in solchen Situationen keinen Rückzugsraum der Ref lexion, die von den Gesprächsteilnehmern dominierte Gemeinschaft verhindert individuelles Ausscheren, das sofort durch subtile soziale Sanktionen bestraft wird. Als Leser und Schreibender verweigert man sich nicht nur der Herrschaft des Zeitf lusses, sondern vor allem den Regeln des kollektiven Wechselspiels zwischen Sprechen und Zuhören. So kann man einsam und abgeschirmt von der Welt seinen Gedanken nachgehen und sie ungestört weitertreiben. Seit der Einführung der Schrift und damit des Schreibens und Lesens sind der kreative Ausbruch aus der Herrschaft des Kollek-

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tivs und die Beschäftigung mit dissidenten Gedanken und Einfällen leichter geworden. Zudem hat man seither – wenn auch zeitversetzt – durch das Lesen Zugang zu den Gedanken anderer, die nicht mehr oder vielleicht auch nur weit entfernt leben und die sich nicht einmischen und den Leser nicht zwingen können, den betreffenden Text »richtig« und sozial korrekt zu verstehen. Allerdings hat der Ausbruch aus dem kollektiven Zwangszusammenhang, der durch Sprechen und Hören in der Funktion des gemeinschaftsstiftenden Kraulens erzeugt wird, für den Lesenden einen Preis: körperliche Passivität, höchste Konzentration und Abwendung von der Welt. Der Leser bzw. der Schreibende beugt sich über das Papier, sein Körper wird wie Odysseus gewissermaßen an den Mast gebunden. Normalerweise sitzt der Leser oder er steht unbeweglich vor einem Pult, sensomotorisch konzentriert auf die Schrift oder die Handhabung des schreibenden Stifts bzw. der Tastatur – und auf die künstliche oder zweite Welt, in die er, vermittelt durch die Schrift, hineinschaut und die ihm dabei als Leiter oder als Fenster dient.

Licht, Lesen und die Folgen des Nahsehens Man sollte nicht unterschätzen, welche tatsächliche und metaphorische Bedeutung das Licht – die Auf klärung – für die Schrift- und Buchkultur bedeutet, schließlich ist eine gute Beleuchtung – sei es auf der Buchseite, sei es auf dem Bildschirm – die Voraussetzung dafür, dass wir etwas lesen und den Blick von unserer Umgebung und des Nachts von den Göttern am Himmel abwenden können. Die Magie funktioniert besonders, wenn für den einsamen Leser die Welt in Dunkelheit versinkt, was wir als Stadtbewohner in unseren permanent erleuchteten Städten kaum mehr wirklich kennen. Dunkel hüllt den träumenden Leser ein, für den der durch eine Kerze oder eine Lampe erhellte Text zum Sprungbrett in eine andere Welt wird. Der Philosoph und Poetologe Gaston Bachelard (1884-1962) hat in seinen Überlegungen zu existentiellen Wachtraumbildern das für ihn zentrale Motiv des in der Dunkelheit im Schein einer unruhig f lackernden Kerze Lesenden geschildert:

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»Allein in der Nacht, mit einem von der Kerze erhellten Buch: Buch und Kerze, eine doppelte kleine Insel des Lichts gegen die doppelten Schatten des Geistes und der Nacht.«55 Für Bachelard ist die Einsamkeit des Lesers, der an seinem Tisch in der Nacht vor einem vom »lebendigen« Kerzenlicht erhellten Buch sitzt, gewissermaßen die Urszene. Für den im Alter sich zunehmend von der modernen Wirklichkeit abwendenden und zur Nostalgie neigenden Philosophen vertreibt das ernüchternde elektrische Licht die Träumereien des Lesers. In der Welt des »gezähmten Lichts«, das kontinuierlich und kalt strahlt, das auf die Funktion des Beleuchtens beschränkt wurde und keine Metamorphose mehr zum Ausdruck bringt, kann für Bachelard eine kosmische Vertrautheit nicht mehr entstehen. Die elektrische Lampe und das Neonlicht binden weder den Blick noch die Imagination, weil sie kein entgrenzendes Licht ausstrahlen, das die Welt in die endlosen Abschattungen zwischen Licht und Finsternis taucht. Der einsame Leser ist kulturgeschichtlich eher eine späte Gestalt. Meist wurde gemeinsam (vor-)gelesen und überhaupt auch alleine laut gelesen, was die Träumereien begrenzte und Albträume vertrieb. Ohne Licht kann in dunklen Innenräumen nicht gelesen werden, sodass das Lesen intim mit der Beleuchtung und dem Zurückweichen des Dunkels verbunden ist. Wurden die Räume einst von einer offenen Feuerstelle erleuchtet, die zugleich der Wärmeerzeugung und dem Kochen diente, so hat sich mit dem Kienspan und der Fackel die Beleuchtung teilweise, mit den Lampen dann praktisch vollständig von der Wärmeerzeugung gelöst. Die für das Lesen und Schreiben notwendige Illumination ist vermutlich der Grund, warum Lesen gedanklich oft mit Auf klärung verbunden wird und vice versa, auch wenn die Beleuchtung von Innenräumen durch Lampen schon mehr als 10.000 Jahre üblich ist und damit weit vor die mutmaßliche Zeit der Erfindung der Schrift zurückreicht. Aber wie bereits weiter vorne erörtert, könnten die archaischen Formen der Beleuchtung die Entstehung einer Zeichen- und Bildsprache begünstigt haben. Schon zu der Zeit, als die Menschen in Höhlen die Wände mit Zeichen und Bildern bedeckten, wo sich diese dank günstiger Konservierungsbedingungen bis heute er-

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halten haben, gab es erste Lampen. Eine 17.000 Jahre alte Öllampe wurde beispielsweise in der Höhle von Lascaux gefunden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich zunächst die Gasbeleuchtung und dann schnell das elektrische Licht im öffentlichen Raum und in umbauten Räumen durchsetzte, wurde das menschliche Dasein allerdings vom unruhigen Licht offener Flammen begleitet. Diese Lichtspender konnte man nicht einfach an- und ausschalten, vielmehr mussten sie wie Fackeln oder Lampen mit Brennstoffen wie Talg, Öl oder Fett bedient werden und waren gefährlich, weil sie Brände verursachen konnten. Vor allem aber boten sie nur eine mehr oder weniger unruhige, meist nicht besonders helle Beleuchtung, die abseits der jeweiligen Lichtquelle sehr rasch in ein Clair-Obscur überging. Zudem waren diese Lichtspender der Gesundheit abträglich und belasteten den Körper und den Geist des Lesenden mit Rauch, Ruß und Gestank. Kerzen gab es wohl erst ab dem 1. Jahrhundert moderner Zeitrechnung, aber sie waren teuer und daher vornehmlich den reichen Schichten und der Kirche vorbehalten. Wegen der damaligen Bauweise muss man wohl davon ausgehen, dass die Innenräume, auch wenn sie Fenster besaßen, selbst am Tag relativ dunkel waren, sodass zum Lesen vermutlich oft zusätzliche Beleuchtung notwendig war. Bis ins 12. Jahrhundert wurden die meisten Häuser tagsüber durch die Türen oder durch den Rauchabzug »beleuchtet«, und bis in die römische Antike hinein hatten die meisten Häuser überhaupt keine Fenster. Wenn sie doch einmal mit Fenstern ausgestattet waren, so dienten diese eher der Belüftung als der Beleuchtung. Man las vermutlich im Freien oder bei Lampenlicht. Auch als Fenster gebräuchlich wurden, waren sie zum Schutz vor Kälte und Wind oftmals abgedeckt, etwa durch geöltes Pergament, durch Vorhänge, Gitter oder Holzläden, was den Lichteinfall ebenfalls hemmte. Flachglas kam zwar bereits im 1. Jahrhundert auf, aber die damals üblichen Fensterscheiben waren noch klein, zwar einigermaßen farblos und lichtdurchlässig, aber nicht durchsichtig. Sie wurden meist in Sprossenfenster eingebaut und waren überdies nur in den Häusern und Villen der Reichen sowie in öffentlichen Gebäuden wie Thermen üblich. Erst als Glas wirklich durchsichtig wurde und sich großf lächiger und dünner herstellen ließ, setzte es sich seit dem 12. Jahrhundert all-

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mählich im Fensterbau durch. In den Räumlichkeiten der reicheren Schichten, die oft schriftkundig waren, wurde es somit heller, wärmer und lesefreundlicher. Gleichzeitig nahm die Zahl der Bücher und der Leser zu, ein Vorgang, der mit der Gründung der ersten Universitäten und ihrer Bibliotheken einherging. Der Aufenthalt in den von rußenden Lichtspendern beleuchteten Innenräumen mit ihrer schlechten Luft war für die Leser und Schreiber der damaligen Zeit schon nicht sonderlich gesundheitsfördernd. Dazu kam, dass viele der Intellektuellen und Schriftgelehrten unter einer Symptomatik zu leiden hatten, die seit der Verbreitung der Schrift und neuerdings der Bildschirme explosiv zugenommen hat: der Kurzsichtigkeit. Das ist eigentlich wenig erstaunlich, wenn man berücksichtigt, dass Lesen auch kognitiv die Umwelt ausblendet. Denn die Arbeit an Texten erfordert einen konzentrierten Nahblick auf den Schriftträger. Dabei wird zusätzlich der Raum ausgeblendet, in dem sich die betreffende Person befindet. So hat seit dem Auf kommen der Schrift und der mit diesem neuen Medium einhergehenden Notwendigkeit, längere schwierig zu erfassende Buchstabenreihen auf Schriftrollen bei schlechter Beleuchtung lesend zu erfassen, bei den wenigen Lesekompetenten die Kurzsichtigkeit immer mehr zugenommen. Deshalb galten sie schon bald als lebensunfähige Träumer, die den Inhalt ihrer Bücher mit der nur noch trübe und verschwommen zu erkennenden Welt verwechselten – ein seit der Antike geläufiges Vorurteil, das aber einen wahren Kern hat. Noch ist umstritten, ob Kurzsichtigkeit kausal alleine auf das ständige Starren auf Buchseiten oder Bildschirme zurückzuführen ist, aber natürlich erhöht es das Risiko ganz beträchtlich, ebenso wie der überwiegende Aufenthalt in umbauten und urbanen Räumen, die eine Weitsicht verhindern. Andere handwerkliche Tätigkeiten waren überdies nicht so einseitig ausgerichtet, dass der scharf gestellte Blick nur Buchstabenreihen in derselben Entfernung nahe an den Augen verfolgte, sondern auch visuell vielgestaltiger und abwechslungsreicher. Beim Nahsehen wird die auf die Fasern einwirkenden Ziliarmuskeln ausgeübte Zugspannung gelockert, wodurch die Linse sich wölben kann, um sich auf nahe gelegene Objekte wie die Schrift auf einem Blatt zu richten. Durch vieles Nahsehen scheint sich der Augapfel vielleicht

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durch den erhöhten Augeninnendruck dauerhaft zu verlängern, wodurch der Brennpunkt bei weiter entfernt befindlichen Gegenständen vor der Netzhaut liegt und sie daher nicht mehr scharf gesehen werden können. Hinzu kommt, dass Kurzsichtigkeit auch das Risiko für andere Augenerkrankungen erhöht, etwa für den grünen oder den grauen Star oder für eine Netzhautablösung. Von den unliebsamen Folgen der Kurzsichtigkeit wusste schon Archimedes ein Lied zu singen, der einen Kristall verwendet haben soll, um in der Ferne schärfer zu sehen. Aristoteles hat die Myopie erstmals beschrieben und soll den Begriff μύώψς geprägt haben, der sich aus den beiden Wörtern μύειν (schließen) und ωψ (Auge) zusammensetzt.56 Bis ins 13. Jahrhundert war Kurzsichtigkeit ein mögliches Risiko für die Leser und Stubenhocker, deren Zahl aber noch überschaubar war. Erst mit dem »Lesestein« des arabischen Gelehrten Ibn al-Haitham (965-1038), dessen Schriften über die Optik57 erst mit zweihundertjähriger Verspätung ins Lateinische übersetzt wurden, entwickelten sich allmählich neue Techniken zur Verbesserung des Lesens. Der Lesestein diente allerdings nicht der Verbesserung der Fernsicht für Kurzsichtige, sondern dem Lesen von kleinen Buchstaben. Fortan bedienten sich Mönche, Gelehrte und Studenten der Vergrößerungslinsen, die aus Quarz, Bergkristall oder Halbedelsteinen (Beryll) geschliffen wurden. Für diese Kreise erschien die Verbesserung der Nahsicht vermutlich erst einmal wichtiger als eine ungetrübte Fernsicht. Aus Beryll leitet sich dann das deutsche Wort Brille ab. Nikolaus von Kues (Cusanus) war von der neuen Technik der Lesehilfe begeistert und veröffentlichte 1458 die Abhandlung »De Beryllo«58, die er auf Drängen der Mönche vom Tegernsee verfasst hatte. Der Kardinal und Philosoph geht nicht näher auf den Halbedelstein ein, sondern weist im Wesentlichen nur darauf hin, dass dieser, je nachdem ob er konvex oder konkav geschliffen ist, sowohl für die Nah- als auch für die Fernsicht geeignet ist und bislang unsichtbare Naturerscheinungen sichtbar macht. Cusanus interpretiert den Beryll hier als »Spiegel und Rätselbild«, als eine Art Brille für die geistige und höchste Erkenntnis Gottes und damit der Koinzidenz der Gegensätze: »Wird dem geis-

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tigen Auge ein geistiger Beryll vorgesetzt, so erkennt man den unsichtbaren Ursprung aller Dinge.«59 Zunächst wurde der Lesestein mit der ebenen Seite auf das Blatt gelegt, sodass auf der kugeligen Seite des Steins die Schrift vergrößert erschien. Später wurde auch diese Seite f lacher geschliffen, und der Stein so zwischen Auge und Blatt gehalten, bis man schließlich zwei Linsen in eine Fassung montierte. So wurde um 1300 die Brille erfunden. Es dauerte aber noch einmal etwa zwei Jahrhunderte, bis sich auch Brillen zur Korrektur der Kurzsichtigkeit durchsetzten. Brillenträger galten oft als klug, weil sie viel lasen, aber eben auch als weltfremd. Der Paläoanthropologe und Biologe Daniel Liebermann weist darauf hin, dass die Brille möglicherweise zur Ursache einer Coevolution geworden ist, auch wenn sich diese Hypothese nicht verifizieren lässt. Denn die Erfindung der Brille habe sich für viele Menschen als so nützlich erwiesen, »dass dieses technische Hilfsmittel sogar eine indirekte Selektion von Genen für Intelligenz ermöglicht hat, die auf Umwegen die Kurzsichtigkeit begünstigen«. Studien aus verschiedenen Ländern hätten gezeigt, so Liebermann weiter, dass kurzsichtige Kinder einen signifikant höheren IQ haben als solche mit normalem Sehvermögen.60 Derartige Korrelationen gibt es natürlich ohne Zahlen. So will eine in 27 Ländern durchgeführte, 2010 veröffentlichte Studie herausgefunden haben, dass die Zahl der Bücher in der elterlichen Wohnung für die Bildungskarriere eines Kindes, sogar unabhängig vom Bildungsgrad der Eltern, von großer Bedeutung sein soll. Eine magische Zahl scheint dabei die Schwelle von mindestens 500 Büchern zu sein.61 Eine andere Studie aus dem Jahr 2016 konstatierte eine Korrelation zwischen regelmäßiger Buchlektüre und einer längeren Lebenserwartung. Wer Bücher, nicht etwa Zeitungen oder Magazine liest, verschafft sich demnach einen »signifikanten Überlebensvorteil«.62 Heute ist jedenfalls Kurzsichtigkeit eine Pandemie, besonders in asiatischen Ländern sind fast alle jüngeren Menschen kurzsichtig. Allerdings müssen Kurzsichtige schon lange keine Brille mehr tragen, sie können auch Kontaktlinsen benutzen, sich die Augen lasern oder sich eine künstliche Linse einsetzen lassen.

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Vom Lautlesen zur einsamen und stummen Lektüre Aber wie so vieles sind auch die Versenkung in das Buch und die Ekstase des Lesens ambivalent. Die künstliche Beleuchtung, die den Inhalt des Buches lesbar macht, vertreibt die Dämonen und die Dunkelheit, aber die durch die Schrift und das Buch eröffnete neue Welt gebiert neue Ungeheuer und neue Ekstasen, weil sie die von der konkreten Umgebung, in der sich der Lesende mit seinem Körper befindet, gelöste Fantasie überwältigt. So starrt der Leser, durch unsinnliche, abstrakte Buchstabenreihen geleitet, in einem Zustand sensorischer Deprivation in eine Leere, die neue innere Bilder produziert. Anders als das Hören, das den Zuhörer dazu nötigt, sich dem Strom der Töne zu überlassen, anders aber auch als ein Bild, das die Imagination überwältigt und mit sich fortreißt, bewirkt das – einer ganz eigenen Zeit- und Aufmerksamkeitsökonomie gehorchende – stille und einsame Lesen der bilderlosen Buchstabenschrift dank der geistigen und körperlichen Disziplin, die es verlangt, eine Befreiung und Individualisierung der Gedanken und der Imagination. Daran hat sich trotz aller Bemühungen, durch Kontrollen, Vorgaben und Zensur die »richtige« Lesart zu erzwingen, seit der Antike nichts mehr geändert. Aber lesen konnten in früheren Zeiten nur die wenigsten, die meisten Menschen waren davon abhängig, dass ihnen – wenn überhaupt – vorgelesen wurde. Das heißt, sie waren einerseits Teil einer zumindest für sie schriftlosen Welt, wurden aber andererseits mit ausgefeilten Satzkonstruktionen und Gedanken konfrontiert, die sich in identischer Form beliebig oft wiederholen ließen und sich durch den Vortrag nicht veränderten. Bis vermutlich weit in das 18. Jahrhundert hinein hatte in Europa zwar die Lesekompetenz zugenommen, nicht jedoch die Schreibkompetenz. So wurde den Kindern etwa in den Klosterschulen zwar das Lesen, aber nicht das Schreiben beigebracht. Deswegen war Robert Darnton zufolge das Lesen für die meisten damaligen Menschen eine »sakrale Aktivität«, weil nach der Durchsetzung des Buchdrucks vor allem die Bibel oder andere religiöse Texte gelesen wurden.63 Auch gelernt wurde das Lesen in den meist kirchlichen Schulen mit Hilfe von Fibeln oder Büchern religiösen Inhalts – in katholischen Ländern auch häufig noch in Latein, nicht

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in der jeweiligen Landessprache. Aber selbst die Menschen, die damals bereits lesen konnten, hatten mangels Schreibkompetenz keinen Begriff davon, wie ein Text eigentlich entsteht. So erlebten sie die religiösen Texte als Offenbarungen sakraler Wahrheiten. Lesen ist keineswegs eine nur kognitive Leistung oder lediglich ein geistiges Vergnügen, sondern eine Aktivität, die auch den Körper beansprucht und diszipliniert. Ich habe auf den Trick des Odysseus hingewiesen, der sich an den Mast fesseln ließ, um dem Gesang der Sirenen zu lauschen, ohne ihm zu verfallen. Der Lesende ist zwar nicht festgebunden, aber die Pergamentrolle oder das materielle Buch erschließt sich ihm vornehmlich in sitzender Haltung – das Gesicht der mit zwei Händen gehaltenen und langsam entrollten Schriftrolle oder dem aufgeschlagenen Buch zu- und damit von der Umgebung abwendet. Das Buch, die Zeitung oder ein Magazin distanziert den Leser, auch wenn er nicht von der Lektüre überwältigt wird, von der Welt und auch von den Mitmenschen. Denn es schiebt sich als materielles Objekt, wie schon gesagt, zwischen den Leser und seine Umgebung. Ein Lesender, der aufmerksam auf den Text auf der Buchseite blickt, demonstriert nicht nur, dass er nicht gestört werden will, er ist ergriffen von einem Geschehen oder einem Argument, das sich vor ihm Wort für Wort, Zeile für Zeile und Seite für Seite entwickelt. Für das Lesen einer Papyrus- oder einer Pergamentrolle gilt dies sogar buchstäblich. Dabei muss sich der Leser den Inhalt des betreffenden Textes aus Buchstaben durch eigene kognitive Arbeit aktiv vergegenwärtigen. So gesehen, ist Schrift im Sinne von Marshall McLuhan ein »kaltes«, das heißt relativ informationsarmes Medium. Sie überschwemmt die Aufmerksamkeit des Rezipienten und auch seinen Körper nicht mit Informationen und verlangt von diesem nicht, sich einer Flut von Reizen zu erwehren, auf die es zu reagieren und unter denen es eine Auswahl zu treffen gilt. Elektronische und digitale Medien sind hingegen Medien, die durch Bilder und Töne, tendenziell auch taktil und in Zukunft den ganzen Körper einbeziehend die Distanz durchbrechen und dem Rezipienten ihre Inhalte aufdrängen. Sie lassen durch Auf hebung der Entfernung in Echtzeit in die Ferne blicken und können dort auch etwas bewirken. Der Leser wird zum Spieler, zum Benutzer, der in die Ferne oder in die Simulation

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eintaucht und selbst am Geschehen beteiligt ist, auch wenn er nur Texte, Bilder und Videos in den Timeline-Fluss der sozialen Medien einspeist. Solche Medien kann man mit McLuhan »heiß« nennen. Um hier einen Topos des Buchzeitalters zu bemühen, den der Philosoph Hans Blumenberg als Daseinsmetapher bzw. als Ästhetik des passiven Zuschauers bezeichnet hat, befindet sich der Leser in der Rolle des Zuschauers im Theater oder eines Menschen, der von der sicheren Küste aus einem Schiff bruch zusieht, ohne eingreifen zu können oder dies moralisch zu müssen.64 Die Erregung wird gerade durch die bei aller Nähe unüberwindbare Distanz zwischen Schrift und Leben geschaffen, während sie sich bei der Nutzung der digitalen Medien dem interaktiven Geschehen und der Immersion in eine virtuelle Realität verdankt, die auf die Aktivitäten des Spielers reagiert. Aber wir dürfen nicht von der Gegenwart ausgehen, um zu verstehen, was Lesen als Kognitions- und Körpertechnik beinhaltet, die dem Menschen eine neue Wahrnehmung der Welt und der eigenen Person eröffnet. Ein Blick auf die frühe Lektüretechnik zeigt, dass die des Lesens Kundigen in alten Zeiten nicht vornehmlich stumm gelesen haben, wie wir es heute tun, sondern laut. Lesen war Sprechen, der Leser war mithin jemand, der sich selbst vorlas. Während man mit dem einen Bein schon in die Epoche der Schrift eingetreten war, stand man mit dem anderen noch im mündlichen Zeitalter. Möglicherweise, wir wissen es nicht, haben auch die Autoren früherer Zeiten beim Schreiben den Text laut mitgesprochen, sofern sie ihn überhaupt selbst geschrieben und nicht etwa einem Sklaven diktiert haben. Heute ist hingegen das laute Lesen, wenn nicht gerade vorgelesen wird, verpönt und wird ebenso mitleidig betrachtet, wie wenn man beim mentalen Buchstabieren stumm die Lippen bewegt. Der moderne Leser liest regungslos und cool, er ist distanziert und ein Lesevirtuose. Selbst laut zu lesen und sich dem Rhythmus der Sätze zu überlassen, dürfte die Menschen früherer Zeiten in eine Art Trance-Zustand versetzt haben, der es ihnen gestattete, die Welt jenseits des Textes auszublenden. Muslimische Leser des Korans oder jüdische Leser der Bibel lesen auch heute noch oft laut oder sie bewegen zumindest die Lippen und murmeln leise, dabei wiegen sie ihren Kör-

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per mitunter rhythmisch vor und zurück. Das ist das ekstatische Lesen, bei dem es nicht um das kritische Verstehen oder Hinterfragen geht, sondern um das Einprägen der heiligen Texte und die Abkehr von der Welt außerhalb des Textes. Dabei muss besonders auf das richtige Sprechen geachtet werden. Die Praxis des lauten Lesens verdankt sich im Islam auch dem Umstand, dass Mohammed Analphabet gewesen sein soll. Angeblich hat Gott ihm den Koran – was soviel wie Vortrag oder Lesung bedeutet – offenbart. Der Prophet hat den heiligen Text dann auswendig gelernt und weitergegeben – im Unterschied zu Moses, der von Gott die bereits schriftlich fixierten Gesetze erhielt und die göttliche Schrift offenbar lesen konnte. Freunde des Propheten sollen dessen, unmittelbar von Gott inspirierte, Verkündigungen erst nach seinem Tod aufgeschrieben haben. Trotzdem gilt der Koran als das unverfälschte Wort Gottes. Das laute und in Geschwindigkeit und Betonung »richtige« Lesen unterliegt strengen Regeln, die als Tadschwīd oder Tartil bezeichnet werden. Im jüdischen Gottesdienst wird in der Synagoge aus der Tora (das heißt Unterweisung, Licht), dem auf koscherem Pergament mit einer koscheren Gänsefeder handgeschriebenen Text der fünf Bücher Mose, aber auch aus anderen Teilen der hebräischen Bibel (Tanach) vorgelesen bzw. in einer Art Sprechgesang (Kantillation) vorgesungen. Vermutlich erst ab dem 9. Jahrhundert ist die Melodie mit Schriftzeichen für Betonung und Pausen versehen worden. Auch gelernt wird die Tora mit lautem Lesen bzw. in einem Sprechgesang. Wer »die Schrift ohne Melodie liest und ohne Sang studiert«, missachtet nach dem Talmud die Tora. Durch den lauten Sprechgesang wird die Lektüre der heiligen Texte zu einer ekstatischen Übung, verstärkt noch durch rhythmische Bewegungen des Körpers. Da die Konzentration beim Lesen auf der Aussprache und der Betonung liegt, wird der Text rituell angeeignet; dabei fehlen die Distanz und die individuelle Lesegeschwindigkeit, die erforderlich wären, um den Inhalt kritisch zu überdenken. Die Schrift gibt so buchstäblich dem Lesenden den Takt vor, ähnlich wie dies bei gereimten Texten der Fall ist. Eigentlich kann man weniger von Lesen sprechen als vielmehr von einem Rezitieren des eingeübten Textes. Ivan Illich hat in seinem wunderbaren Buch

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»Im Weinberg des Textes« auf überzeugende Weise dargelegt, dass das laute Lesen im mittelalterlichen Kloster eine leibliche Tätigkeit war: »In einer anderthalb Jahrtausende langen Tradition geben die sich bewegenden Lippen und die Zunge die klingenden Seiten als Echo wieder. Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was der Mund äußert. So wird die Buchstabenfolge unmittelbar in Körperbewegungen umgewandelt, und sie strukturiert die Nervenimpulse. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen buchstäblich einverleibt.«65 Beim leisen Lesen, das heißt, wenn wir den Text mit den Augen scannen, bleibt die Seite selbst dem eigentlichen Geschehen äußerlich, ein Objekt, an dem der Blick entlanggleitet. Die Schriftgestaltung bremste zudem lange Zeit die Lesegeschwindigkeit und verlangte hohe Aufmerksamkeit, da die Wörter nicht getrennt und der Satz nicht durch Satzzeichen gegliedert wurde. Die Schriftzeichen wurden vielmehr ohne Abstand auf der Zeile aneinandergereiht (scriptura continua). Das zwang den Lesenden dazu, laut zu sprechen oder zumindest zu murmeln, um sich den Text durch den Klang der Buchstabenlaute, Phoneme, Silben und Wörter bzw. Sätze leichter verständlich zu machen. Dabei musste synthetisch nach der Buchstabiermethode gelesen werden, da die durchgehende Schrift eine direkte Worterkennung unmöglich machte. In der Regel lernen Kinder lesen, indem sie den Buchstaben durch lautes oder lautloses Sprechen Laute zuordnen, diese zu Silben und schließlich ganzen Wörtern verbinden. Die Ganzwortmethode dagegen geht von den Wörtern aus. Heutzutage gehen die Kinder normalerweise jedoch sehr schnell dazu über, auch leise zu lesen, wobei sich das phonologische Lesen wie beim Erwachsenen mit dem lexikalischen abwechselt. Vor allem unbekannte und schwierige Wörter werden zwar stumm, das heißt ohne Lippen- und Mundbewegungen, in Gedanken aber phonologisch artikuliert. Die meisten Wörter dagegen benötigen diesen Umweg

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nicht mehr und werden direkt beim Blick auf das Schriftbild erkannt. Das hat damit zu tun, dass das Schriftbild schon vor Erfindung des Buchdrucks immer weiter so optimiert wurde, dass Texte schneller visuell erfasst und ohne Zwischenschritt durch Sprechen mental verstanden werden konnten. Texte wurden gewissermaßen aus einem Gestrüpp, in dem man sich nur mühsam zurechtfindet, zu einer Autobahn, auf der je nach Lesekapazität, die Textbahnen immer schneller abgefahren werden können. Schon der Übergang von der Schriftrolle zum Codex, also zu einer Frühform des Buches mit in der Regel kleineren Seiten, die sich schneller überblicken und durch Blättern durchsuchen lassen, hat die Geschwindigkeit des Lesens erhöht. Die aus den Buchstabenautobahnen resultierende Beschleunigung hat dem Lesen zudem seinen »sakralen« Charakter genommen und die textkritische Auf klärung erst ermöglicht. Zudem gestattete die neue Methode einen Ausbruch aus dem deep reading und erleichterte das f lüchtige Überf liegen und Durchblättern (speed reading), das es dem Lesenden erlaubte, sich einen Überblick zu verschaffen oder nur interessante Textstellen zu finden. Heute wird gelehrt, wie man das Lesen maximal beschleunigen kann, wobei sich durch die Zusammenfassung größerer Texteinheiten angeblich auch das Verständnis verbessert. So setzt sich das speed reading etwa in den sozialen Netzwerken auf Kosten der Komplexität durch Verkürzung der Texte und das schnelle Verschwinden der Postings in den Timelines immer mehr durch – oder es wird auf das Geschriebene gleich ganz verzichtet und durch Bilder und gesprochene Sprache ersetzt. Seit der Antike wurde fast immer laut gelesen – nicht nur in der Gruppe, sondern auch, wenn man sich dem Aufgeschriebenen alleine widmete. Erst ab dem 7./8. Jahrhundert moderner Zeitrechnung begann sich das leise Lesen zu verbreiten, nachdem nordirische Mönche begonnen hatten, die scriptura continua zu verlassen und die Wörter in ihren Bibelabschriften durch Abstände zu trennen – der Beginn der zweiten Leserevolution, die wahrscheinlich tiefgreifender war als die Erfindung des Buchdrucks. Man könnte zudem argumentieren, dass ein mit Hilfe eines wiederverwendbaren Stempels um 1700 v. Chr. mit Hieroglyphen beschrifteter Diskus aus Ton, den man im Palastarchiv der minoischen Stadt Phaistos

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auf Kreta gefunden hat, das erste bekannte Druckwerk ist. Die Tontafel wurde nach der Beschriftung gebrannt und gehärtet. Die Stempelzeichen basierten bereits auf einer normierten Schrift, die in identischer Form für unterschiedliche Texte verwendet wurde. Die Revolution des leisen Lesens ist freilich nicht über Nacht eingetreten. Es sollte vielmehr bis ins 13./14. Jahrhundert dauern und noch der Unterstützung durch den Buchdruck bedürfen, bis sich die typographische Revolution allgemein durchsetzte, die dem beschleunigten Lesen endgültig zum Durchbruch verhalf. Bekannt ist die Anekdote über den heiligen Augustinus, der sich im 4. Jahrhundert noch darüber wunderte, dass Ambrosius, der Bischof von Mailand, »in ernster Stille« leise lesen konnte. Soweit wir wissen, war das damals noch eine große Ausnahme. Wie bereits erwähnt, war die in früheren Zeiten übliche Praxis, laut zu lesen, auf die scriptura continua zurückzuführen, also die typographische Norm, Texte in ununterbrochenen Buchstabenfolgen ohne Wortabstände in den Zeilen zu schreiben. Lesen ist nämlich zunächst einmal das Erkennen der Buchstaben und der aus diesen gebildeten Wörter mit den Augen. Diese gleiten nicht etwa kontinuierlich durch die Zeilen, um der Reihe nach jeden einzelnen Buchstaben zu erfassen, sondern konstruieren – da die Retina nur im Zentrum räumlich scharf sehen kann – mittels durchschnittlich 200 bis 400 Millisekunden langer Fixierungen und 20 bis 200 Millisekunden langer Sakkaden ruckartig vor- und zurückhüpfend die Linearität der Schrift. Das nehmen wir beim Lesen im Allgemeinen zwar nicht bewusst wahr, weil das zeitliche Auf lösungsvermögen des Bewusstseins dazu nicht ausreicht, es zeigt sich aber, wenn man die Bewegung der Augen mit einem Eye-Tracker verfolgt. Das visuelle Feld, in dem die Augen beim Lesen sämtliche Buchstaben mit einer Fixation überblicken können, ist schmal: In Leserichtung umfasst die Blickspanne durchschnittlich acht bis zehn, rückwärts oder regressiv nur um die vier Buchstaben. Normalerweise geht die Mehrzahl der Sakkaden in Leserichtung, ein Viertel normalerweise nach rückwärts, um durch den Kontext den Zusammenhang und die Wörter zu erfassen oder fehlgegangene Landungen zu korrigieren. Bei für den Leser schwierigen oder unbekannten Wörtern finden mehr Sakkaden statt, bei fehlendem Verständnis des Textab-

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schnitts häufen sich zudem die Sakkaden gegen die Leserichtung. Dabei werden bekannte kurze oder einfache Wörter übersprungen, Landungen erfolgen meist zwischen Wortbeginn und Wortmitte, beim Hinübergleiten in eine neue Zeile kann die Landung auch danebengehen. Unklar ist, ob mehrere Wörter parallel verarbeitet werden oder ob Wort für Wort gelesen wird.66 Ungeübte Leser lesen langsamer, außerdem hat das Schriftbild großen Einf luss auf die Lesegeschwindigkeit, und schwere Texte bremsen den Lesef luss. Beim allmählichen Lesenlernen wird die Abfolge der okulomotorischen Blickrichtungen mit zunehmender Vertrautheit mit Wörtern und Satzstrukturen immer mehr automatisiert. Dieser Prozess verläuft ganz ähnlich wie das Erlernen des Gehens oder des Radfahrens in der Kindheit. Abstände zwischen Wörtern und Satzzeichen beschleunigen allein deshalb schon die visuelle Erkennung, da die Augen nicht so oft vor- und zurückhüpfen müssen, um eine längere Buchstabenfolge zu erfassen und diese in Wörter zu unterteilen. Vermutlich benötigte der Leser einer Buchstabenfolge ohne Wortabstände in früheren Zeiten deshalb deutlich mehr Zeit, weil die Fixierungen länger dauerten und mehr und kürzere Sakkaden erforderlich waren, um den Text zu organisieren. Zur scriptura continua hinzu kam noch, dass im geschriebenen Griechisch und Latein die syntaktische Ordnung der Wörter im Satz relativ willkürlich war. Deswegen mussten, wie Paul Saenger in seinem Buch »Space Between Words« ausführt, erst größere Teile des Textes gelesen und im Gedächtnis behalten werden, bevor die Ambiguität aufgelöst und der Satz verstanden werden konnte. Das »verstärkte die Praxis des oralen Lesens als kurzfristiges Gedächtnismittel zur Extraktion der Bedeutung von Texten«67. Syntaktisch »richtig« geordnete Wortfolgen erleichtern hingegen die Erfassung des Textes ebenso wie Abstände zwischen den Wörtern, Satzzeichen, Klein- und Großschreibung sowie andere Mittel der Textgestaltung, die dabei helfen, die Organisation der Sakkaden und Fixierungen zu optimieren.

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Übergang vom Sprechen und Hören zum visuellen und stummen Lesen Warum so lange und über verschiedene Kulturen hinweg an der scriptura continua, also an der Schreibweise ohne Wortabstände und Satzzeichen, festgehalten wurde, ist ein Rätsel. Paul Saenger weist darauf hin, dass »vor der Einführung der Vokale in das phönizische Alphabet alle Sprachen der Mittelmeerwelt, gleich ob syllabisch oder alphabetisch, semitisch oder indoeuropäisch, mit Worttrennung durch Abstände, Punkte oder beides geschrieben wurden«.68 Die Einführung der scriptura continua ging Hand in Hand mit der Einführung der Vokale. Im Lateinischen wurde beispielsweise in Inschriften ein Mittelpunkt zur Wortbegrenzung verwendet, was bis in die Kaiserzeit hinein üblich war, aber dann setzte sich die abstandslose griechische Schrift durch, auch ohne die dort mitunter praktizierte Foliierung (Bezifferung der Blätter), ohne Paginierung und Schlagwörter. Lange Zeit war auch keine Groß- und Kleinschreibung zum leichteren Navigieren in den Buchstabenwüsten üblich, geschrieben wurde nur mit Großbuchstaben. Dabei fand für Inschriften die Capitalis monumentalis Verwendung, für Handschriften hingegen die aus dieser entwickelte Capitalis quadrata bzw. die Capitalis rustica. Wollte man damit etwa eine gebremste Lesegeschwindigkeit gewährleisten und das ekstatische deep reading schützen, das heißt leises und mentales und damit privates und individualisiertes Lesen verhindern? Verbarg sich hinter dieser Praxis vielleicht der Wunsch, das Lesen und Schreiben der sperrigen Schrift auf die kleine herrschende Schicht zu beschränken? Oder ging es lediglich darum, die nach der Durchsetzung der Schrift etablierte Tradition zu bewahren, ohne Abstand Buchstabe an Buchstabe zu schreiben? Ob es für diese Vorliebe explizite Begründungen gab, weiß ich nicht. Möglicherweise war die Buchstabenschrift ohne Abstände aber auch schlicht darauf zurückzuführen, dass Bilderschriften wie die Hieroglyphen solche Abstände nicht benötigten, da hier ohnehin jedes Zeichen ein eigenes Wort bezeichneten. Eine bekannte Ausnahme gab es immerhin: und zwar Aristophanes von Byzanz (257-180 v. Chr.). Dieser Schriftgelehrte und Leiter der Bibliothek von Alexandria, hat sich mit der

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Frage beschäftigt, wie sich das Rezitieren, also das Laut-Lesen von Texten mit Hilfe von Akzenten und Interpunktionszeichen erleichtern ließe. In dem System, das er entwickelte, werden Verse durch Punkte getrennt, um den Atem zu regulieren, ein Mittelpunkt gliederte die Textpassagen wie heute ein Komma, und größere Strecken Text werden, wie es jetzt üblich ist, durch Punkte gegliedert. Für längere Pausen schlug er einen Punkt über der Textzeile vor. Des Weiteren verwendete er ein textkritisches Zeichen, das er Obelos (gr. Bratspieß) nannte und das – am linken Textrand appliziert – zweifelhafte oder falsche Textstellen markierte. Wirklich durchgesetzt hat sich diese wegweisende Schreibreform allerdings erst Jahrhunderte später. Dabei war es in der arabischen Schrift ganz üblich, Worte durch einen Abstand zu trennen und Interpunktion zu verwenden. Warum hat erst seit dem 7. Jahrhundert – das heißt schon lange vor Einführung des Buchdrucks – zuerst in Irland und auf den britischen Inseln eine Revolution der Textgestaltung begonnen? Wir können darüber nur spekulieren, aber immerhin annehmen, dass jene Reform des Schreibens, die das schnellere und einfachere Lesen erst ermöglicht hat, damit zusammenhängt, dass Latein seit dem Untergang des Römischen Reiches und seiner Kultur für die meisten Menschen in Europa zu einer Fremd- und einer abgehobenen Schriftsprache wurde, die nur noch von in Klöstern lebenden Mönchen beherrscht und als Schriftsprache verwendet wurde. Diesen frommen Männern oblag es, sich neben dem gottgefälligen Leben noch den Büchern zu widmen. Mit der Missionierung erreichte das Christentum auch Gebiete, die nicht zum Römischen Reich gehört hatten und in denen Latein völlig fremd war. Dabei forcierte die Durchsetzung des Lateinischen als Schriftsprache im mittelalterlichen Europa den bereits seit Einführung der Schrift eingeleiteten, aber erst viel später endgültig vollzogenen Übergang vom Sprechen und Hören zum visuellen und stummen Lesen, das eine neue Organisation des Schriftbilds verlangte. Im Mittelalter machten es sich nun die Klöster – und damit die letzten Horte der antiken Bildung – zur Aufgabe, die noch vorhandenen Texte und Bücher in Bibliotheken zu sammeln und abzuschreiben, das heißt zu vervielfältigen. Dabei fiel ihnen auch die Aufgabe zu nachzuwei-

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sen, dass die Lehren der Bibel mit den Argumenten der antiken Philosophie – soweit noch bekannt – vereinbar seien. Im Mittelpunkt stand dabei die Exegese, das heißt der Versuch, den Gläubigen die Ordnung der Welt mit Hilfe der Bibel und der großen Texte der christlichen Tradition zu erklären. In den Skriptorien wurde das mühevolle, höchste Konzentration verlangende, Kopieren von Büchern in Schönschrift auch als Buße verstanden. Die Bücher, die so entstanden, waren vielfach auf teurem Pergament geschrieben und mit kunstvollen Illustrationen geschmückt und stellten mit ihren, mit Gold und Edelsteinen verzierten, Einbänden Vermögenswerte dar, die sich nur die Klöster selbst und der Adel leisten konnten. Vielleicht war daher das Mittelalter die hohe Zeit des Buches und der »Buchwissenschaft«69, auch weil nur wenige Menschen Zugang zur Buchwelt hatten und Bücher selten und wertvoll waren. Zur allmählichen Überwindung der scriptura continua hat damals sicherlich auch der Einf luss der arabischen Schrift beigetragen. Denn nach der Eroberung Persiens im 7. Jahrhundert hatten die nun in weiten Teilen des Orients herrschenden muslimischen Araber nicht nur die persische Literatur und Wissenschaft kennengelernt, sondern auch die großen Texte der griechischen Philosophie, die dort teils noch im Original, teils in Übersetzungen verwahrt wurden. Die arabischen Gelehrten setzten diese Übersetzertätigkeit fort und gaben dabei die in scriptura continua verfassten griechischen Texte in ihrer eigenen Sprache mit den dort üblichen Wortabständen wieder. Genau wie die hebräische kannte auch die alte arabische Schrift keine Vokale. Die Trennung der Wörter ist in Texten in dieser Sprache zwingend, damit der Leser das Wort erschließen kann. Die Griechen dagegen hatten die Alphabetschrift oder die phonographische Schrift übernommen, in der es für jeden Laut einen eigenen Buchstaben gibt. Das war zunächst ein Vorteil gegenüber den vokallosen Schriften, die nur aus Konsonanten bestehen und daher vieldeutiger sind. In der scriptura continua wäre in Texten, die in solchen Schriften geschrieben sind, daher kaum zu erschließen, um welche Wörter es sich jeweils handelt. Den Einf luss der arabischen auf die europäische Kultur, Philosophie und Wissenschaft könnte man in etwa mit dem der griechischen Kultur auf die römische vergleichen. Denn erst auf dem Umweg über

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die arabisch-muslimische Kultur kamen die altgriechischen, aber mit Worttrennung ins Arabische übersetzten Texte nach Europa. Dabei wurde bei der nun fälligen Übersetzung ins Lateinische die Worttrennung beibehalten. Auch wenn arabische Sätze in Büchern zitiert wurden, blieb die Worttrennung vielfach ebenfalls erhalten, während Sätze in griechischer Schrift in scriptura continua geschrieben wurden. Dass sich die Praxis der Worttrennung in Europa zuerst abseits des Zentrums des einstigen Römischen Reiches durchsetzte, ist nicht zuletzt auf die von Papst Gregor (540-604) vorangetriebene Missionierung Englands zurückzuführen. Von den britischen Inseln, zunächst allerdings vorwiegend von Irland aus, wurden dann wiederum – teilweise mit Bibliotheken ausgestattete – Klöster auf dem Kontinent gegründet, z.B. in Luxeuil bei Besançon, auf der Insel Reichenau im Bodensee oder in Bobbio unweit der italienischen Stadt Piacenza. Gründer der dortigen Abtei mit ihrer großen Bibliothek war der irische Mönch Columban der Jüngere, der 615 auch in Bobbio starb. Die Unterrichtssprache in diesen, aber auch in anderen Klöstern war das Lateinische, das noch viele Jahrhunderte die internationale Verständigungs- und Gelehrtensprache bleiben sollte. Man benötigte deshalb Wörterbücher und Grammatiken, um dem Nachwuchs in den Klöstern das nunmehr als Kirchensprache etablierte Latein beizubringen, weil die Volkssprache keine direkten Hinweise auf die lateinischen Wörter bot. Die alphabetischen Wörterbücher, die sich jetzt allmählich durchsetzten, konnten aber nicht in scriptura continua geschrieben werden, sondern machten eine auch graphische Trennung der Schlagwörter erforderlich. Zudem entstanden Rechtschreibbücher wie das »Liber de Orthographia« des angelsächsischen Benediktinermönchs und Theologen Beda Venerabilis (ca. 673-735), der mit »De natura rerum« auch eine Art Enzyklopädie verfasst hat. Beda war ein Universalgelehrter und schrieb auch über Kirchengeschichte, Rhetorik, Astronomie, Zeitrechnung und Grammatik. In »De Orthographia«, geschrieben wahrscheinlich für Schüler, werden im Anschluss an die Einführung der lateinischen Buchstaben die Aussprache einiger lateinischer Wörter, deren Bedeutung und Verwendung und in einigen Fällen auch deren Etymologie in alphabetischer Ordnung

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behandelt. Beda führte in seinem kleinen Buch nur einige wenige Wörter auf, die er in irgendeiner Weise als schwierig erachtete. Paul Saenger berichtet in »Space Between Words«, dass sich die Wörterbücher ab dem 9. Jahrhundert weiter gen Süden verbreiteten: zuerst nach Frankreich, dann nach Deutschland.70 Schon das gebundene Buch (codex), das seit der römischen Kaiserzeit bekannt war, hatte das Lesen von Schriftstücken dank der Möglichkeit des Durchblätterns deutlich erleichtert. Nun kam von den britischen Inseln noch eine weitere Buchinnovation hinzu, nämlich das Mini-Evangeliar, also eine Art illustrierte Taschenbuchbibel. Mit einer Höhe zwischen 12,5-17,5 cm und einer Breite von 11,2-14,2 cm waren diese Bände gewissermaßen bereits Vorboten des heutigen kleinformatigen Taschenbuches. Sie befanden sich im persönlichen Besitz der Mönche und wurden teilweise mit diesen begraben. Hier ist der Text mit Wortabständen und Interpunktionszeichen und mit Initialen in Kleinbuchstaben geschrieben. Es gibt eine Einführung für den Leser, und der Name des Schreibers ist angegeben. Das älteste bekannte derartige Büchlein ist das »Book of Mulling«, das Ende des 8. oder Anfang des 9. Jahrhunderts entstanden ist. Früher glaubte man, dass ein gewisser St. Moling (+ 697) das Buch geschrieben habe, heute geht man eher von drei Schreibern aus. Vermutlich wurde das Evangeliar nicht nur privat und still gelesen, sondern die Mönche haben bei den Mahlzeiten auch abwechselnd daraus vorgelesen. Laut Paul Saenger entwickelten die Mönche dank des geschrumpften Formats eine neue »Intimität« des Lesers zu seinem Buch. Er glaubt, dass die Leser der scriptura continua beim Lesen eher auf einen gewissen Abstand der Augen zum Text bedacht waren, um den ihnen durch die Lektüre aufgezwungenen Tunnelblick abzumildern: »Die mittelalterliche Abwendung von der figura des Buchstabens zu der figura des Wortes erzeugte ein kompaktes und kleineres Schriftstück, das den Leser näher zur Seite brachte und eine größere Intimität zwischen dem Schreiber, dem Leser und dem Buch schuf.«71

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Eine ganz ähnliche Situation erleben wir auch heute. Denn solange die erweiterte Realität einer Brille oder irgendwelche Implantate den »klassischen« Bildschirm noch nicht völlig überf lüssig gemacht haben, werden wir den Blick – ob im Sitzen, Gehen oder Liegen, das heißt eigentlich permanent – vermutlich immer öfter und länger auf den Minibildschirm unserer Smartphones richten. Dadurch verschmelzen Technik und Mensch. So kehrt der Tunnelblick heute zurück, und die Wirklichkeit, in der sich der Körper befindet, wird selbst beim Gehen ausgeblendet. Es ist vielleicht diese Intimität, die durch die Nähe von Bildschirm und Nutzer eine so starke Bindung erzeugt, dass sich ein Gefühl des Verlorenseins einstellt, wenn die Netz-Verbindung, die Nabelschnur der digitalen Welt, einmal abreißt und der Mensch plötzlich gewissermaßen nackt in der Wirklichkeit aufschlägt. Für die Lesenden des Mittelalters muss die Situation völlig anders gewesen sein. Sie f lohen nicht aus der Welt des Buches und der fixierten Schrift, sondern bewegten sich geradewegs in diese hinein. Dabei half ihnen auch, so die These, dass die lateinische Schriftsprache durch einen tiefen Graben von der Volkssprache getrennt war. Auch die Inhalte selbst gehörten damit einer eigenen, parallelen Welt an, was im Übrigen gut zu der christlich-dualistischen Weltsicht einer Zeit passte, die Körper und Geist, wahrgenommene Wirklichkeit und Wahrheit, Diesseits und Jenseits als streng getrennte Sphären verstand und sich vor die intellektuelle Herausforderung gestellt sah, Übergänge, Übersetzungen und Verbindungen zwischen diesen Sphären zu suchen. Aber auch in der realen Welt gab es zwischen den gesellschaftlichen Sphären – also zwischen Geistlichkeit und Adel auf der einen und arbeitender Bevölkerung auf der anderen Seite – damals eine strikte Trennung. Dabei war die Buchwelt den Eliten des Adels und des Klerus’ vorbehalten. Seit dem Bündnis des fränkischen König- und Kaisertums und seiner Nachfolgereiche mit der römischen Papst-Kirche etablierte sich das Lateinische in ganz Europa als exklusive Liturgie- und Bildungssprache. Nach einem Beschluss des Konzils von Tours  (813) durften lediglich die Predigten weiterhin in der Volkssprache gehalten werden. Die veränderte Bedeutung der lateinischen Sprache nahm somit seit der sogenannten »karolingischen Renaissance« am Ende

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des 8. Jahrhunderts und der vollständigen Christianisierung Westund Mitteleuropas immer mehr zu. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten zunächst die zahlreichen Klöster, dann auch die im 11. Jahrhundert einsetzende Urbanisierung sowie die Universitäten, die seit dem 12. Jahrhundert gegründet wurden. Der Analphabet Karl der Große machte den angelsächsischen Gelehrten Alkuin (ca. 730-804) zum Leiter der Kathedralschule in Aachen, an der die Elite des fränkischen Reiches ausgebildet wurde. Alkuin war ein großer Bücherfreund, der Beda verehrte und auf Reisen in Italien auch selbst Bücher sammelte. Seine Führungsposition an der Hofschule sicherte ihm einen beträchtlichen Einf luss auf die Ausbildung und Denkungsart der weltlichen, aber auch der kirchlichen Führungsschicht des Frankenreiches. Er veranlasste überdies Karl den Großen dazu, 789 in dem Erlass Admonitio generalis anzuordnen, dass alle Klöster und Bischofssitze des Reiches Schulen zur Ausbildung des geistlichen Nachwuchses einrichten sollten. Des Weiteren regte Alkuin die Einführung einer normierten Schrift an, von der er sich ein Ende des Wirrwarrs der vielen Schriftarten erhoffte, die damals in Gebrauch waren. Dieser Wirrwarr war nämlich die Ursache vieler sinnentstellender Kopierfehler. Die »karolingische Minuskel«, wie die neue Schrift genannt wurde, war die bis dahin exklusiv verwendete Großschrift und führte Groß- und Kleinbuchstaben, Wortabstände und Interpunktionen ein. Dies alles trug dazu bei, das Lesen fortan beträchtlich zu erleichtern. Zwar kam die Minuskel im 12. Jahrhundert vorübergehend außer Gebrauch, wurde jedoch später von den Humanisten wiederentdeckt und diente bei der Einführung der heute gebräuchlichen Kleinbuchstaben als Modell. Das, durch die Getrenntschreibung der Wörter und die Interpunktion erleichterte, stumme Lesen, das erst eine individuelle und private, von der Gemeinschaft nicht kontrollierte Text-Rezeption ermöglichte, hat sich gewiss auch deshalb so rasch verbreitet, weil es dem Einzelnen gestattete, heimlich verbotene Bücher zu lesen, was sonst ziemlich gefährlich sein konnte. Mit dem Zustrom wissenschaftlicher und philosophischer Texte aus der Antike und der Auseinandersetzung mit ihnen, konnte es mitunter gefährlich sein, nach der christlichen Lehre unerwünschte Bücher zu lesen,

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was man dann lieber heimlich machte. Zudem wurde das (Vor-) Lesen in Gemeinschaft allmählich durch die private Lektüre unterschiedlicher Bücher etwa in Bibliotheken abgelöst, wo sich allmählich ein Sprechverbot durchzusetzen begann. Zu der Zeit, als das Lesen buchstäblich verstummte, hörten die Menschen auch auf, beim Schreiben den betreffenden Text laut auszusprechen. Die Widersprüche zwischen den Auffassungen der antiken Philosophie und den Lehren der Kirche, auf die die Mönche in den Klöstern, vor allem aber die theologischen Lehrer und die Studenten an den neuen Universitäten etwa in Paris oder Oxford aufmerksam wurden, führten dazu, dass die akademischen Leser die Gedanken schriftlich festhielten, die sich ihnen in der intellektuellen Auseinandersetzung mit den antiken Autoren aufdrängten. Außerdem nahm die Verschriftlichung im Laufe des Mittelalters nicht nur im Bereich der Kirche beträchtlich zu, sondern auch in den fürstlichen und städtischen Verwaltungen sowie im gesamten Rechts- und im Wirtschaftsleben.

Lesen formatiert das Gehirn Die Forschung geht davon aus, dass die Hirnareale, die wir heute zum Sprechen, Hören, Verstehen, Lesen und Schreiben verwenden, ursprünglich einmal für andere Aufgaben bestimmt waren. Das heißt, wir haben sie in gewisser Hinsicht zweckentfremdet, um unsere intellektuellen Optionen zu erweitern. Andere Funktionen haben wir gleich komplett an externe Techniken, Medien und Maschinen delegiert. So dient uns etwa die Schrift als Gedächtnisspeicher. Aber auch Rechengeräte, Navigationssysteme, Übersetzungsmaschinen und etwa KI-Programme sind solche Extensionen, die unser Gehirn entlasten und dort Areale für andere Kapazitäten freigeben. Deshalb spricht vieles dafür, dass eine habitualisierte Tätigkeit, die in unserem Wachleben sehr viel Raum einnimmt, auch unseren Blick auf die Welt in hohem Maße determiniert. Und das gilt natürlich auch für das Lesen (und Schreiben), das im Leben der Mönche, Theologen, Gelehrten, Juristen und Administratoren des Mittelalters eine solch wichtige Rolle gespielt hat. Der hollän-

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dische Medienwissenschaftler Derrick de Kerckhove hat in den frühen 1990er Jahren eine interessante Hypothese aufgestellt.72 So behauptet er, dass jene sequentiellen analytischen Prozesse, die beim Lesen der linearen Schrift vorherrschend sind, bevorzugt vom rechten Gesichtsfeld im Auge (beider oder nur eines Auges?) registriert und in der linken Gehirnhälfte verarbeitet werden, während bildliche, räumliche oder ganzheitliche Muster eher vom linken visuellen Feld gescannt und in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet werden. Aus diesem Umstand leitet er in einer kühnen Schlussfolgerung ab, dass wir es bei der Verdrängung der noch linksläufigen phönizischen Schrift durch die vokalisierte rechtsläufige griechische Schrift mit einer historisch entscheidenden und prägenden Veränderung zu tun haben. Des Weiteren verweist de Kerckhove darauf, dass mit Ausnahme der etruskischen Schrift alle Schreibsysteme, die Vokale enthalten – egal ob es sich dabei um alphabetische oder um Silbenschriften handelt – von links nach rechts geschrieben und gelesen werden, während Bilderschriften wie die chinesische mit ihren Ideogrammen oder die altägyptischen Hieroglyphen vertikal und meist von rechts nach links geschrieben werden. Für die Schreib- und Leserichtung sei entscheidend, so de Kerckhove, ob die Lektüre vom Kontext (rechts nach links) oder von der Aneinanderreihung in einer Sequenz von Buchstabe zu Buchstabe (links nach rechts) abhängt: »Das typische menschliche Gehirn erkennt Konfigurationen schneller im linken Gesichtsfeld, während es Sequenzen schneller im rechten Gesichtsfeld sieht. Die Richtungsveränderung in der griechischen Schrift geschah nach der Hinzufügung einer vollständigen Ergänzung von Vokalen zur ausschließlichen konsonantischen Orthographie des Phönizischen. Die Präsenz der Vokale ließ die Buchstabensequenz kontinuierlich werden, während das System, dessen sie sich bedient haben, eine diskontinuierliche Reihe von Symbolen war, die im Kontext und nicht in der Sequenz gelesen werden musste.«73 De Kerckhove vertritt deshalb die Auffassung, dass sich in der frühen griechischen und in der lateinischen Schrift, die durch se-

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quentielles Schreiben und Lesen charakterisiert waren, aus diesem Grund die scriptura continua durchgesetzt hat. Er vermutet sogar, dass diese in der westlichen Kultur durch das Lesen und Schreiben verankerte sequentielle Orientierung auch die Entdeckung der Perspektive als »sukzessive Ordnung von Objekten im Raum« begünstigt hat. Seine Hypothese: Die alphabetische Schrift unterstützt die Herausbildung bestimmter Verarbeitungsroutinen der Augen-Gehirn-Koordination, die die Wahrnehmung und Kognition allgemein beeinf lussen. Auf diese Weise sind unsere Schreib- und Lesegewohnheiten durch den alphabetic brainframe tatsächlich in hohem Maße auch prägend für unsere Weltsicht, das heißt die Art und Weise, wie wir die räumliche Ordnung der Dinge erleben.

Homo sedens oder: das Buch und der Stuhl Lesen formatiert das Gehirn, das dabei als neuronale Wetware fungiert, es verändert aber auch den Körper, also die gesamte Hardware. Das ist bereits beim Schreiben und Sprechen – das heißt auch beim lauten Lesen – der Fall, zwei Aktivitäten, die mit komplizierten sensomotorischen Leistungen der Hand und des Vokaltrakts einhergehen. Der Leser, der von Buchstabe zu Buchstabe, von Zeile zu Zeile in der künstlich geordneten linearen und f lachen Welt des Buches voranschreitet und damit jedes Mal auch an einer Fortschrittsgeschichte arbeitet, die »buchstäblich« einen Anfang und ein Ende besitzt, unterbricht den aufrechten Gang und den Blick in die Weite und zum Himmel, um in einer ebenso biologisch einzigartigen Weise einen sitzenden Körper zu schaffen, der mit gesenktem Kopf auf eine Schriftrolle und später ein Buch blickt und sich von der Welt abwendet. Durch den ausdauernden Tunnel- oder Scheuklappenblick tritt der Leser, wie wir bereits gesehen haben, in eine neue Realität ein, er wird tatsächlich und metaphorisch kurzsichtig, blendet seinerseits die Realität abseits des Schriftträgers mehr oder weniger aus oder verdrängt sie in den Hintergrund. Doch das ist noch nicht alles. Denn mit dem Lesen und dem Schreiben gehen noch weitere körperliche Veränderungen einher, etwa eine neu gewonnene okulomotorische Virtuosität, aber auch jene

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zuvor unbekannten motorischen Fähigkeiten der Hände und Finger, die sich der Mensch aneignen musste, um ein Schreibgerät – sei es ein Griffel oder eine Tastatur – zu bedienen, um Schriftrollen zu ent-wickeln oder um in einem Buch zu blättern. Doch die einschneidendste und auch schmerzhafteste Folge des Lesens ist wohl das lange Sitzen auf einem Stuhl. Die Aufrichtung des frühen Menschen und die dadurch neugewonnene Verfügbarkeit der Hände, die fortan zum Herstellen und Benutzen von Werkzeugen benutzt werden konnten, gilt – zusammen mit der Entwicklung der Sprache – als die wohl wichtigste Etappe der Menschwerdung überhaupt. Man könnte die Erfindung des Wohnens und des individualisierenden Rückzugs aus dem Kollektiv in ein Gehäuse als weitere kulturtechnische Etappe nennen, wie ich das in »Sein und Wohnen«74 ausgeführt habe. Die Entwicklung des Sitzens als dauerhafte Körperhaltung, die zum Lesen und Schreiben eingenommen wurde, ist im Unterschied zur Erfindung der Schrift meist gar nicht thematisiert worden. Erst im Übergang vom Industrie- zum Dienstleistungszeitalter ist der homo sedens, einst eine privilegierte Schicht, zum allgegenwärtigen Typus geworden. Angesichts der mit dieser Lebensweise einhergehenden Leiden wird nun propagiert, dass wir unseren Körper möglichst viel bewegen sollen, statt ständig zu sitzen und uns bewegen zu lassen. Der aufrechte Gang wird wieder entdeckt, was der Leseund Buchkultur nicht unbedingt zuträglich ist. Überdies wird der menschliche Leser dank der generativen KI-Sprachmodelle und Computer-Gehirn-Schnittstellen gerade durch Maschinen ersetzt und so zusehends vom Sitzzwang freigestellt. Der stetige Balance erfordernde aufrechte Gang mit den damit einhergehenden anatomischen Veränderungen wie der S-förmigen Wirbelsäule und der Verlagerung des Schwerpunkts in das Becken war für die Menschwerdung auch deshalb so entscheidend, weil er dazu führte, dass das Gehirn expandieren, der Mund-Rachenraum mit dem Kehlkopf zum Sprachwerkzeug evolvieren und unsere beiden für die Fortbewegung nicht mehr benötigten Hände neue Tätigkeiten übernehmen konnten. Tatsächlich könnte man das ausgedehnte Sitzen auf einem Stuhl, das durch das Lesen beträchtlich zugenommen hat, aber als einen vergleichbaren kulturevolutionä-

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ren Einschnitt bezeichnen. Vorherrschend beim Lesen war bis zur Ankunft der allseitigen Vernetzung und der geschrumpften Bildschirme der Smartphones die sitzende Körperhaltung. Zum sitzenden Körper gehört der Stuhl mit Lehne, eine historisch relativ junge Erfindung, deren Vorläufer der für den Herrscher reservierte Thron war. Wir wissen nicht, wann genau die ersten Stühle aufgekommen sind und ob es tatsächlich eine zeitliche Parallelität mit der Erfindung der Schrift gab. Sitzmöbel, zunächst Hocker und dann Stühle, setzten sich zugleich mit der Sesshaftigkeit durch und lassen sich schon vor 6000 v. Chr. in Siedlungen nachweisen. Sie verbreiten sich genau wie die Schrift zugleich mit den ersten städtischen Siedlungen, sodass ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Urbanisierung und der Schrift zumindest naheliegt. Bis dahin hatten die Menschen, wenn sie eine Ruhestellung einnehmen wollten, sich in einer Hockstellung hingekauert oder am Boden gekniet. Alternativ dazu hatte es noch den heute so genannten Schneidersitz oder verschiedene liegende Positionen gegeben. Es wurden aber sicherlich auch irgendwelche einfachen Sitzgelegenheiten wie Holzhocker, Felle oder andere Hilfsmittel benutzt, die Nomaden auf ihren Streifzügen mitnehmen konnten. Hinzu kamen natürlich noch die Rastmöglichkeiten, die die Natur selbst bereitstellte: dicke Steine, Felsen, Erderhebungen, Baumstämme etc. Nach dem Ende des nomadischen Lebens füllten sich die Häuser, in denen die Menschen jetzt wohnten, allmählich mit Möbeln und anderen Gebrauchsgegenständen. Erste Stühle und Bänke werden aus Holz, Lehm oder Stein gemacht worden sein. Zugleich mit den Thronen, den mehr oder weniger prunkvollen Sitzgelegenheiten, die den Göttern, Herrschern und den Angehörigen der Elite(n) zugedacht waren, kamen dann die Rückenlehnen auf. Ein Thron war der Stuhl der Macht, der wahrscheinlich um 2000 v. Chr. folgende Stuhl war dann zunächst eine Art Thronersatz für die herrschende Schicht. Mit der Einführung des Papyrus’ als Schreibmaterial wurde der Stuhl dann außerdem zum Sitzmöbel der Leser und Schreiber. In Ägypten waren Stühle, wie Fundstücke aus der Zeit um 1500 v. Chr. bezeugen, oft mit gef lochtener Sitzf läche ausgestattet. Früh gab es auch schon klappbare Stühle, und für die Füße standen häufig Schemel bereit. Tische, die nach heutigem Verständnis die Stuhl-

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Funktion erst komplettieren, wurden natürlich auch damals schon zum Essen verwendet, auch wenn in der griechisch-römischen Antike meist in Seitlage auf Ruheliegen (Klinen) oder auch auf Kissen und Teppichen auf dem Boden liegend gespeist und getrunken wurde. Ein im antiken Griechenland bereits seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. gebräuchliches Sitzmöbel war der Klismos. Der Ingenieur und Philosoph Hajo Eickhoff schreibt in seinem Buch »Himmelsthron und Schaukelstuhl«, dass sich im antiken Griechenland bis 600 v. Chr. nur Darstellungen von sitzenden Göttinnen und Frauen mit langen Gewändern nachweisen lassen, ab etwa 600 sei dann das Liegen beim gemeinsamen Symposion (Gastmahl) aufgekommen. Erst danach ist angeblich das zuvor herrschende Tabu gefallen, den Mann sitzend abzubilden. Eickhoff führt dies auch auf einen Wandel des Männlichkeitsideals in der nachhomerischen Zeit zurück. Der nackt mit seinen starken Muskeln dargestellte Held der aristokratischen Zeit weicht dem postheroischen Bürger der Polis, der – in lange Gewänder gehüllt – beim Symposion nicht mehr auf die Zurschaustellung körperlicher Stärke bedacht war, sondern vielmehr mit seiner Bildung, Eloquenz und geistigen Virtuosität brillieren wollte.75 Nunmehr beginnt die Blütezeit der griechischen Schriftkultur und der ganz wesentlich auf Kommunikation beruhenden attischen Demokratie, eine Epoche, in der die Philosophen, Literaten und Gebildeten, also die Intellektuellen als die neuen »Helden« nunmehr auf dem Schlachtfeld der Kultur glänzen. Mit dem Stuhl, der im Unterschied zur Bank auch individualisiert und isoliert ist, wird der Körper geformt, die Hüften und Kniegelenke werden im rechten Winkel gebeugt, ein großer Teil der Körperlast wird über das Becken, genauer das gekrümmte Kreuzbein (os sacrum) und die übrige Lendenregion, auf die gerade Fläche des Stuhls abgegeben. Die Rumpfmuskulatur, aber auch die Schulter- und Beinmuskulatur verkümmern, der Energiebedarf des Körpers ist nicht nur geringer als im Stehen, sondern auch als im Hocken, Knien, Kauern – instabilen Positionen, die ein ständiges Ausbalancieren abverlangen. Die Atmung wird f lacher. Der derart durch Sitzen entlastete Körper verbraucht weniger Energie, die sich in vermehrter Körperfülle niederschlägt aber auch an das Gehirn

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abgegeben werden kann, wodurch mehr Kapazitäten für das Denken und für intellektuelle Aktivitäten frei werden. Der homo sedens ist, wie Hajo Eickhoff in seinem bereits erwähnten Buch ausführt, buchstäblich sediert und somit bereit für den Rausch der Lektüre.76 Mit der Durchsetzung des zivilisationskritischen Christentums in der Spätantike und dem Zerfall des römisches Reiches verschwanden vorübergehend auch die Bibliotheken, die Bücher und damit die Lesekultur insgesamt. Der Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion umreißt die damaligen Verhältnisse kurz und bündig so: »Die Nomaden, die Rom plünderten, konnten mit den Stühlen, die sie dort fanden, ebensowenig anfangen wie mit den Statuen, den Thermen, den furnierten Möbeln und anderen Erzeugnissen einer differenzierten Lebensführung. Sie waren gewohnt, auf dem Boden zu hocken. Und dabei blieb es.«77 Giedion zufolge war das Hocken im Mittelalter viel weiter verbreitet als das Sitzen. Das übliche Sitzmöbel war ein niedriger dreibeiniger Hocker. »Geräte, die sich dem Körper anpassten, wurden von der Gotik nicht ausgebildet, und Stühle im heutigen Sinne kannte das tägliche Leben nicht.«78 Das Abendmahl, das gemeinsame rituelle Mahl der frühen Christen, wurde wahrscheinlich wie in der römischen Kultur üblich zunächst liegend eingenommen, auch wenn spätere Darstellungen Jesus Christus und die Jünger bei diesem Anlass stets auf Stühlen und an einem Tisch zeigen. Denn inzwischen galt ein gemeinsames Mahl, das im Liegen eingenommen wurde, als Inbegriff heidnischer Dekadenz. So übersetzte Luther beispielsweise (wie in Lk. 13,29) »bei Tisch liegen« immer mit »bei Tisch sitzen«. Stühle waren im Mittelalter wahrscheinlich als Sitzmöbel ranghöherer Autoritäten weiterhin in Gebrauch, bevor sie sich auch in den Skriptorien der Klöster durchsetzten, wo die Mönche sie bei ihrer als Gottesdienst verstandenen Schreibarbeit oder ihren Studien als Sitzgelegenheit verwendeten. Ebenfalls verfügbar waren sie nunmehr in den Refektorien, den großen Speisesälen der Klöster. Benedikt von Nursia (480-547) hat eine detaillierte Regelung des Klosterlebens mitsamt

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einer ganzen Liste von Strafen bei Regelverletzungen verfasst. Darin ist das Sitzen auf Bänken (formulae) bei Lesungen während des Gottesdienstes vorgeschrieben. Vorgelesen wird aus der Bibel, die auf einem Pult liegt, abwechselnd von den Mönchen. Die meiste Zeit mussten die Mönche aber stehen und, sofern sie ein Gebet sprachen, niederknien. Das gemeinsame Mahl sollte ebenfalls im Sitzen eingenommen werden. Auch für die persönliche – allerdings überwachte – Lektüre räumte Benedikt den Mönchen ein gewisses Zeitkontingent ein. Interessant ist, dass unter dem Titel »Die Ordnung für Handarbeit und Lesung« bereits leises Lesen verordnet wurde, damit die Studierenden die anderen Mönche nicht störten: »Müßiggang ist der Seele Feind. Deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigt sein [...] Nach der Sext und der Mahlzeit sollen sie unter völligem Schweigen auf ihren Betten ruhen. Will aber einer für sich lesen, dann lese er so, dass er keinen anderen stört.«79 So hat auch das von Benedikt verhängte Sprechverbot zur Etablierung des leisen Lesens beigetragen. Außerdem wird den Mönchen genau vorgeschrieben, was sie wann zu lesen haben. Am strengsten geregelt ist ihre Lektüre in der Fastenzeit: »In den Tagen der Fastenzeit aber sollen sie vom Morgen bis zum Ende der dritten Stunde für ihre Lesung frei sein. Dann verrichten sie bis zum Ende der zehnten Stunde, was ihnen aufgetragen wird. In diesen Tagen der Fastenzeit erhält jeder einen Band der Bibel, den er von Anfang bis Ende ganz zu lesen hat. Diese Bände werden zu Beginn der Fastenzeit ausgegeben. Vor allem bestimme man einen oder zwei Ältere, die zu den Stunden, da die Brüder für die Lesung frei sind, im Kloster umhergehen. Sie müssen darauf achten, ob sich etwa ein träger Bruder findet, der mit Müßiggang oder Geschwätz seine Zeit verschwendet, anstatt eifrig bei der Lesung zu sein; damit bringt einer nicht nur sich selbst um den Nutzen, sondern lenkt auch andere ab.«80

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In den christlichen Kirchen gibt es für den Klerus schon sehr früh vorne im erweiterten Altarraum Sitzgelegenheiten, die als Chorgestühl bezeichnet werden und zunächst ab dem 4. Jahrhundert aus Stein gefertigt sind, etwa seit der Gotik dann aus Holz, oft mit Klappsitzen, die es den Klerikern erleichterten, während des Gottesdienstes zwischen sitzender, stehender und kniender Position zu wechseln, je nachdem wie es die Liturgie gerade verlangte. Die Gemeinde stand währenddessen aufrecht im Kirchenschiff und verfolgte das sakrale Geschehen von dort aus. Denn Stühle für den Adel, die Patrizier, die Zünfte und Gilden kamen erst mit der Reformation in die Kirchen und schließlich auch Sitzgelegenheiten für die übrige Gemeinde in Form von Bänken. So wurden die Mönche als Leser, Schreiber und Zuhörer seit dem Mittelalter zur Vorhut des homo sedens. Sie haben der Kulturrevolution der Anpassung des Körpers an die unnatürliche Praxis des Sitzens auf einem Stuhl – sitzend – den Weg gebahnt. Der Bequemlichkeit dienten die Stühle jedoch erst einmal nicht, die Rückenlehne war schmal und strikt vertikal und lud nicht zum Anlehnen ein. Erst im 18. Jahrhundert wurde der Stuhl dem Körper allmählich besser angepasst, die Rückenlehne erhielt eine Kurvenlinie, die Sitzf läche wurde besser gepolstert. Der Sitz wird nun zu einer sich »dem Körper anschmiegenden Schale«,81 da das Lesen fortan immer häufiger auch der Entspannung dient. Dass der Stuhl, Abkömmling des Throns, zunächst ein Herrschaftssitz war und als Inbegriff des Müßigganges und der Befreiung von körperlicher Arbeit galt, dürfte zur Attraktivität des Sitzens auch in Situationen beigetragen haben, die diese Körperhaltung eigentlich nicht erfordern. Wer sitzt, steigt in der gesellschaftlichen Hierarchie auf. Außerdem können wir uns im Sitzen ausschließlich auf das Lesen konzentrieren und in eine andere Welt einsteigen, weil wir dabei unseren Körper gewissermaßen »sediert« hinter uns lassen. Der Stuhl zwingt uns in eine aufrechte Sitzhaltung, und erst das Auf kommen des Sessels im 18. und schließlich der Polstermöbel und des Sofas im 19. Jahrhundert eröffnete unter orientalischem Einf luss die Möglichkeit, in einer halb sitzenden, halb liegenden Position zu lesen. Mit Ausnahme des Liegens nötigen uns alle anderen Körperhaltungen – ob Gehen, Stehen, Kauern, Hocken – dazu, unseren Körper durch ununterbro-

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chene sensomotorische Aktivierung des Muskeltonus im Gleichgewicht zu halten und so der Schwerkraft zu trotzen. Lange Zeit wurde der aufrechte Gang, durch den sich der Mensch gottgleich über seine vierbeinigen Mitgeschöpfe erhoben hat, als das Kriterium seiner einzigartigen Stellung interpretiert, wobei man gerne die zweifüßigen Vögel unterschlug. Ovid schreibt in seinen »Metamorphosen«: »Und während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken, gab er [Prometeus, Anm. d. Autors] dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben.« Die Zweifüßigkeit hat allerdings ihren Preis. Denn für den menschlichen Körper gelten ganz andere statische Voraussetzungen als für unsere vierfüßigen Vorfahren. Das konnte erst angemessen thematisiert und erforscht werden, nachdem erkannt und allgemein akzeptiert worden war, dass sich der Mensch evolutionär entwickelt hat und nicht so, wie er heute ist, von Gott geschaffen ist. Der aufrechte Gang mit dem nach hinten gedrehten Becken und dem steil gestellten Kreuzbein hat paradoxerweise anatomisch den sitzenden Körper, bei dem sich das Kreuzbein noch weiter nach hinten in eine fast vertikale Position dreht, erst ermöglicht. Nach Auffassung des bereits erwähnten Hajo Eickhoff »lässt sich das Sitzen von seinem inneren Mechanismus her als Fortsetzung der Aufrichtung deuten«82. Aufrechtes Sitzen unterstützt die Aufrichtung des Gesichts, es entlastet die Schultern, den Rücken und die Beine, indem es das Gewicht Richtung Gesäß ableitet. Des Weiteren reduziert es die Atmung durch »Knautschung« des Zwerchfells, senkt den Energieverbrauch und führt zur Verkürzung, zur Verhärtung und zum Schwund bestimmter Muskeln. Zudem wirkt sich langes Sitzen letztendlich auch wieder negativ auf das Stehen und das Gehen aus. Die negativen Folgen des langen Sitzens vor Büchern oder vor dem Bildschirm für unseren Körper hat die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer genauer erforscht und dabei nachgewiesen, dass die Kulturtechnik des ruhigen und geraden Sitzens den menschlichen Körper verformt. »Im Blick der Anatomie«, so Hajo Eickhoff,

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»besteht das Charakteristikum des Sitzens in der zweifachen Abknickung des Leibes und der direkten Übertragung der Rumpflast über das Becken auf die Unterlage. Eine solche Position hat nirgends in der Natur ein Vorbild. Im Sitzen werden die charakteristischen Merkmale des Stehens wie die Lendenlordose und die gestreckten Hüft- und Kniegelenke wieder aufgegeben.«83 Bei Neugeborenen hat die Wirbelsäule noch keine doppelte S-Form, sondern ist nur nach hinten gekrümmt, kyphosiert. Erst mit dem Heben des Kopfes entwickelt sich die nach vorne gerichtete Halslordose und einhergehend mit der Verknöcherung ab dem 1. Lebensjahr die Lendenlordose. Dies geschieht also in der Phase, in der das Kind laufen und sitzen lernt. Sitzen mit aufrechtem Rücken ist nicht die Ursache dieser Entwicklung, trägt aber zur Formung der Wirbelsäule bei. Dabei schränkt langes Sitzen die Beweglichkeit ein. Kinder versuchen zunächst, die Folgen längeren Sitzens etwa in der beginnenden Schulzeit durch Schaukeln oder durch andere Bewegungen abzumildern, die auf Kosten der Konzentration gehen. Im Laufe der Zeit werden sie kulturell auf ruhiges Sitzen hin dressiert – mit allen physiologischen Folgen, die eine derartige Körperhaltung mit sich bringt. Interessant ist, dass medizinisch das System aus Knochen, Gelenken, Bändern und Skelettmuskeln als Bewegungsapparat bezeichnet wird, der heute verkümmert und zum Sitzapparat wird. Am perfekten Stuhl wird seit dem 19. Jahrhundert viel experimentiert. Dabei ist es das Ziel, durch verstellbare Sitze und Rückenlehnen sowie durch die Gewährleistung einer – der S-förmigen Wirbelsäule angepassten – »Lendenunterstützung« mittels Arm-, aber auch Kopf lehnen, die Schädlichkeit des Sitzens zu mindern und die Bequemlichkeit zu verbessern – Maßnahmen, die den Muskelabbau noch zusätzlich beschleunigen. Das wird besonders deutlich an den Bürostühlen mit Rollen, die ihrem Benutzer möglichst auch noch das Aufstehen ersparen sollen. Durch die Federung der Sitzf läche wird zudem die Restbewegung des Körpers mit der Mechanik des Stuhls zu einem System vereint, die bewegliche Rückenlehne kippt nach vorne, der Sitzende drückt sie mit seinem Gewicht zurück, sodass sie gewissermaßen mit seinem Rücken ver-

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schmilzt und seinen Bewegungen folgt. Dabei unterscheiden sich die Sitzmöbel, die der Bequemlichkeit dienen, immer stärker von solchen, die dem heutigen Schreibtischmenschen das lange Sitzen vor dem Computer erleichtern sollen. Im Fokus stand hierbei in historischer Perspektive die aufsteigende Schicht der Büroangestellten, die vornehmlich mit Schreibarbeiten und dem Aktenstudium befasst waren. Seit dem 19. Jahrhundert saßen sie häufig an ihrem Schreibtisch vor den Schreibmaschinen, bis mit der Universalmaschine Computer und den entsprechenden Schnittstellengeräten lesen, schreiben, schauen, hören, kommunizieren und steuern möglich wurde. Die heutigen Lese- und Fernsehsessel, die es erlauben, auch noch die Beine durch Höherlegen zu entspannen, und die mitunter sogar eine liegende Stellung ermöglichen, sind von Relaxsesseln praktisch nicht mehr zu unterscheiden. Diese Sitzmöbel dienen freilich nicht mehr dem konzentrierten Lesen oder Studieren, sondern der Lektüre jener Unterhaltungsliteratur, die seit dem 16. Jahrhundert und dem Durchbruch des Buchdrucks immer mehr Verbreitung gefunden hat. Erst in jüngerer Zeit findet man wieder bewegliche Sitzgelegenheiten, die das Sitzen bewusst ungemütlicher machen, weil das gesünder sein soll. Wer aufrecht auf ihnen sitzen will, muss unermüdlich das eigene Gewicht ausbalancieren. Man könnte sie aber auch als Symptom für das Verschwinden der Ekstase des Bücherlesens im digitalen Zeitalter verstehen, in dem die sitzende Haltung zur Pandemie wurde, aber gleichzeitig der Druck steigt, wieder verstärkt den aufrechten Gang zu praktizieren und uns mehr zu bewegen, statt träge herumzusitzen. In manchen Kreisen hat dieser neue Trend bereits Kultcharakter erlangt. Allerdings könnte die technische Entwicklung auch jene Cyborgisierung vorantreiben, die durch den Stuhl als Medium der Mensch-Gerät-Verschmelzung bereits vorbereitet war, ihre Fortsetzung in der Nutzung der als »Fahrstuhl« genutzten modernen Verkehrsmittel gefunden hat, die das Sitzen mit der Fortbewegung kombinieren. Der letzte Schritt wäre dann die virtuelle Fortbewegung in Form von Telepräsenz und die von virtuellen und realen »Fernlingen« (Stanislaw Lem), also von Avataren und Robotern. Dann müssten wir gar nicht mehr aufstehen, um irgendwo anzukommen, und der Bewegungsappa-

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rat würde endgültig zum Sitzapparat. Kurt Bayertz hält eine solche Entwicklung, in evolutionärer Perspektive betrachtet, für durchaus denkbar, wenn der aufrechte Gang in einer solchen Zukunft als »problematisches Erbe einer längst vergangenen Urgeschichte«84 erscheint. Vielleicht wird er dann als zunehmend dysfunktional empfunden und ist mit Schmerzen verbunden. Denkbar auch, dass wir unsere Gehfähigkeit unter diesen Umständen nur mühsam durch Operationen, Prothesen und Therapien aufrechtzuerhalten vermögen und der ständigen Ermahnung bedürfen, uns mehr zu bewegen und »richtig« zu gehen bzw. zu stehen. Wenn man davon ausgeht, dass die Entwicklung des Menschen noch nicht vorbei ist, dass er sich nicht selbst auslöschen wird und dass der aufrechte Gang durch das Freiwerden der Hände die Entstehung der Technik begünstigt hat, dann liegt tatsächlich »die Idee einer technischen Überwindung des aufrechten Ganges« nahe: »Wenn der aufrechte Gang nämlich eine evolutionäre Voraussetzung für die Genese von Technik überhaupt war, dann wäre seine schließliche Abschaffung nur eine der vielen Konsequenzen, die er selbst kumulativ hervorbrachte. Zum anderen erscheint der aufrechte Gang [...] als eine Art Apparatur, derer sich die Menschen sich bisher erfolgreich bedient haben, deren Abschreibungsfrist nun aber näherrückt.«85

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IV. Maximale Geschwindigkeit: Rasen auf der Textautobahn Mit den digitalen Medien und den lesenden und sprachverarbeitenden Maschinen rückt das Ende der fundamentalen Kulturtechnik des Lesens womöglich viel schneller als erwartet heran, sodass der menschliche Körper zusehends wieder aus der Knechtschaft des Sitzens befreit wird. Der Vorteil des Lesens besteht in der schnellen, genauen und exakt wiederholbaren Aufnahme von Informationen auch aufgrund der geringen Bandbreite der dazu erforderlichen Schriftzeichen. Den Vorleser der vergangenen Zeiten hat bereits der digitale Diener ersetzt, der Texte aller Art in den wichtigsten Sprachen sprechen und schreiben kann. Wer nicht lesen will oder es etwa am Steuer eines Fahrzeugs oder wegen Blindheit nicht kann, lässt sich das Gewünschte in jeder Position – ob im Sitzen, Liegen oder Stehen – und an jedem Ort und zu jeder Zeit einfach vorlesen. Aber das kostet deutlich mehr Zeit, die Inhalte, die wir auf diese Weise rezipieren, sind schlechter memorierbar und außerdem mühsamer zu verstehen, sobald wir es mit einem komplizierten Text zu tun haben. Seit der Erfindung der Schrift hat der Mensch das Lesen von längeren Texten sukzessive optimiert und beschleunigt, die Schriftsprache einheitlicher codiert und normiert, wie das auch für das Schreiben selbst gilt. Von der Antike bis ins Mittelalter beschäftigte ein Autor normalerweise als »Diktator« einen oder mehrere Schreiber. Manche beschäftigten sogar ein ganzes Team, was natürlich immer eine Frage des Reichtums war. Ivan Illich hat diesen ganzen Vorgang in seinem bereits erwähnten Buch »Im Weinberg des Textes« am Beispiel des Origenes und des Ambrosius von Niko-

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Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

medias dargestellt, die im 3. Jahrhundert lebten.86 Tatsächlich gab es bereits in der Antike Schreibvirtuosen, die in Kurzschrift das Diktierte auf wiederbeschreibbaren Wachstafeln festhielten. Diese Tachygraphen oder Schnellschreiber diktierten wiederum, vermutlich langsamer und mit Korrekturdurchgängen einem Schreiber, der das Gesagte in die Normalschrift übertrug und dabei den Text vor sich hinmurmelte. Dann kamen die Schönschreiber an die Reihe, im Fall von Origenes die Kalligraphinnen, die mühsam das Original auf teurem Pergament erstellten und dabei den Text, den sie schrieben, ebenfalls mehr oder weniger laut gelesen haben dürften. Vom Original konnten dann Kopien abgeschrieben und weitergegeben oder auch verkauft werden. Dieser Ablauf ist auch noch für den Abt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) belegt, der mehrere Sekretäre beschäftigte, denen er seine Gedanken diktierte. Allerdings war die tachygraphische Kurzschrift zu dieser Zeit schon nicht mehr bekannt, weshalb das Diktat mehr Zeit in Anspruch nahm. Da die Texte damals noch nicht korrekturgelesen wurden, können sich in den verschiedenen Stadien der Abschrift und später bei der handschriftlichen Anfertigung von Kopien natürlich leicht Veränderungen zum ursprünglich Diktierten ergeben haben. Die Schrift war zum Zeitpunkt ihrer Erfindung eine Art Rodung in der Wildnis, ein zuerst vielleicht holpriger Weg, der zu einer Straße verbreitert wurde und seit der Erfindung des Buchdrucks dank der nun möglichen Vervielfältigung identischer Kopien von immer übersichtlicher angeordneten Buchstabenkolonnen, zur Autobahn wurde. Auf dieser Autobahn rast der beschleunigte Leser heute zugleich zerstreut und hoch konzentriert durch Textlandschaften, in denen alle Textsorten durcheinanderschwirren und mit der Digitalisierung alles Fixe verlieren. Und während die Bildschirme auf eine Größe schrumpfen, die das Lesen eines Textes und die Bedienung der virtuellen Tastatur gerade noch gestattet, werden die Texte immer plakativer und verlieren alles Nach-Denkliche, bevor sie in die Datenbrillen als letzte Schnittstellen eintauchen und in Zukunft direkt durch Implantate über neuronale Impulse ins Gehirn eingespeist werden. Am möglichen Ende seiner Evolution wird das Lesen noch einmal optimiert. Nicht mehr das deep reading des Träumers ist heu-

IV. Maximale Geschwindigkeit

te angesagt, sondern effizientes und optimiertes speed reading mit maximaler Geschwindigkeit. Um maximale Beschleunigung zu erreichen, muss man die Textseite mit den zu Zeilen arrangierten Buchstabenkolonnen und ihrem Layout hinter sich lassen, damit die Texterfassung durch die Augen optimiert wird. Denn beim Lesen ganzer Zeilen und dem Sprung von einer Zeile zur nächsten und gar von einer Seite auf die nächste mitsamt Umblättern und dem langen Sprung von unten nach oben, kosten die Sakkaden und Fixierungen wertvolle Zeit. Es gibt heute zahllose Ratgeber und Apps, die uns helfen sollen, uns aus dem Modus des altmodischen Quer- in jenen des Schnelllesens zu katapultieren. Die Speed-Reading-App Spritz ist dabei wohl eine der radikaleren und technisch fortgeschritteneren Methoden. Doch zur maximalen Beschleunigung sind weder Print- noch digitale Bücher geeignet, der digitale Text wird aufgelöst in einzelne Wörter, die in einem Fenster wie auf einem Ticker einzeln nacheinander auf blitzen. Zur Steuerung der Augen wird jeweils ein Buchstabe in einem Wort in Rot gezeigt, damit das Auge im Vorwärtsrasen den richtigen und einzigen Landepunkt, den sogenannten Optimal Recognition Point, findet. Dabei müssen sich die Augen angeblich nicht mehr bewegen. Es gibt aber auch andere Anwendungen dieser Rapid Serial Visual Presentation (RSVP), bei denen mehrere Wörter gleichzeitig eingeblendet werden. Die Firma Spritz, die die gleichnamige App anbietet, hat ihre speed reading-Methode patentieren lassen. Hier gilt das Prinzip »Wörter pro Minute«, also die Geschwindigkeit. Der Trick dabei ist, dass die Geschwindigkeit nicht mehr der Leser bestimmt, der – gemessen am Ideal der maximalen Leseleistung – vielleicht mal trödelt und bummelt, mal innehält, überlegt, abschweift, noch mal zurückschaut oder einem Einfall folgt. Diese Form des Lesens folgt der gleichen Logik wie die selbstbestimmte Fortbewegung des Flaneurs. Beim Spritzing dagegen muss sich der Leser an die von ihm vorgegebene Geschwindigkeit halten, um nicht herauszufallen. Hier bleibt dem Blick keine Zeit mehr, etwas zu erkunden, der Leser hat auch keine Muße mehr, er rast wie ein Autofahrer auf einer Schnellstraße hochkonzentriert durch den Text und nimmt rechts oder links nichts mehr wahr. Das Redicle genannte Lesefenster, das

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den Text auf jeweils ein Wort herunterbricht, übernimmt die Funktion von Scheuklappen und zwingt den Leser zur Fokussierung der gesamten Aufmerksamkeit, die buchstäblich in der Spur bleiben muss. Damit das speed reading funktioniert, müssen auch die Sätze geglättet und möglichst einfach werden, was schon lange durch Begradigung und Vereinfachung vorbereitet wurde, um Texte unters Volk zu bringen. Eindeutigkeit ist Trumpf, zusätzliche Konnotationen, Assoziationen oder Vieldeutigkeit und unbekannte Wörter sind da nur Bremsen. Die Frage ist, ab welcher Lesegeschwindigkeit das Verstehen des Inhalts nicht mehr möglich ist. So wird der Kundschaft etwa in einer Werbung für Schnelllesen geraten, sich nicht in Details zu verlieren, nicht im Text zurückzuspringen und vor allem im Kopf nicht laut zu lesen, also nicht mitzusprechen. Wir haben weiter oben bereits gesehen, dass im Mittelalter das Lesen beschleunigt werden konnte, indem Abstände zwischen den Wörtern und Satzzeichen eingeführt wurden, die das leise und mentale Lesen ermöglichten. Der Buchdruck lieferte dazu die anschwellenden Textmengen. Die heutigen Propagandisten des Schnelllesens versprechen, dass das neue Verfahren es möglich macht, angeblich ohne Verständnis- und Erinnerungseinbußen mindestens zwei- bis dreimal so schnell zu lesen, wie die bisherigen Methoden es erlauben. Geht man von 250 bis 300 Wörtern pro Minute (WpM) aus, wären also zwischen 500 und 750 bzw. 900 WpM zu erreichen. Schnellleser sollen mitunter Texte mit einigen tausend WpM durchrasen können. Woody Allen hat sich über diese Mode lustig gemacht: »I took a course in speed reading and was able to read War and Peace in 20 minutes. It’s about Russia.«87 Es wird wohl zu Recht angezweifelt, ob unser Textverständnis mit derartigen Geschwindigkeiten mithalten kann. Klar ist auch: »Die Lust am Text« (Roland Barthes) wird dem Leser durch diese kognitive Fließbandarbeit definitiv ausgetrieben. Und trotz aller Werbung für die Effizienz des Schnelllesens wird sich angesichts der neuen Maschinenleser und ihrer uneinholbaren Überlegenheit – und in Anbetracht der Antiquiertheit der trägen Wetware, die wir sind – bei dem einen oder anderen schon bald eine »prometheische Scham« (Günther Anders) einstellen. Selbst bei mehrfacher Be-

IV. Maximale Geschwindigkeit

schleunigung unseres Lesetempos sind uns nicht nur die diversen Lese-KIs voraus, mit deren Textverständnis es bislang allerdings auch noch hapert, da die heutige Informationsf lut auch bei maximaler Steigerung unserer Lesegeschwindigkeit nicht zu bewältigen ist. Vielleicht werden wir das Lesen den Maschinen überlassen, die uns blitzschnell Kurzfassungen bieten, ebenso wie sie auf der Grundlage der eingefütterten Daten mehr oder weniger passende Texte auswerfen und Geschichten nach Optimierungsregeln erzählen, die die meisten von uns faszinieren. Die wenigen privilegierten Maschinenstürmer im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz ziehen sich in ihre abgeschirmten Textgärten zurück und gönnen sich die Muße und den Luxus eines noch nicht vollends disziplinierten Lesens.

Ein neues, digitales Barock? Digitale Medien schreiben keine unveränderliche Wahrheit mehr auf ein Blatt Papier, sie generieren vielmehr permanent veränderbare, f lüssige Texte bzw. multimediale Informationsströme, die sich den aktuellen Prozessen anpassen und schnell wieder im digitalen Nirwana verschwinden können – die Timelines der Sozialen Netzwerke fungieren ähnlich wie unsere Aufmerksamkeit oder wie Heraklits Panta rhei: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.« Die Verf lüssigung des einstmals ehernen, für eine unveränderliche Ewigkeit gedachten Textes, der dem Leser buchstäblich wie in Stein gemeißelt entgegenkam, dürfte mit dazu beitragen, die naive Vorstellung von Wahrheit weiter zu untergraben. Wir denken zunehmend nicht mehr, was ist, sondern was sein könnte, wir projizieren, wie Vilém Flusser dies beschrieben hat, was auch heißt, dass wir in der digitalen Kultur Auf klärung mitsamt Skeptizismus und Relativismus als Formen des Einspruchs gegen die feste Schriftwahrheit hinter uns gelassen haben. Uns fasziniert nicht das Notwendige, sondern das Mögliche. Texte werden ähnlich wie Software ins Leere hineingebaut. Mit den digitalen Medien verf lüssigen sich nicht nur die Texte, ihre einst allein durch ihre Materialität und ihren Preis bedingte

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Knappheit für den einzelnen Leser wird weithin gegenstandslos. Und so haben wir heute – zumindest potentiell – Zugriff auf eine stets explosiv weiter wachsende Menge an Texten in den digitalen Speichern. Seit der rasanten Zunahme der Kapazitäten digitaler Speichermedien, deren Anschaffung sich dank der umgekehrt proportional gesunkenen Preise heute viele leisten können, und seit der Verfügbarkeit von Breitbandverbindungen im Internet, die einen kostengünstigen oder sogar kostenlosen Zugriff auch auf gewaltige Datenmengen (Big Data) ermöglichen, schwimmen wir in einem Ozean der Texte, in dem das einzelne Buch untergeht, sodass es zwar noch formal, aber nicht mehr materiell als in sich geschlossenes Werk vorhanden ist. Jetzt blättert man nicht mehr in einem Buch, sondern sucht in einer sich stetig vergrößernden globalen Bibliothek, die alles enthält, vom Unwichtigsten bis zum Wichtigstem, von der f lüchtigen Bemerkung bis hin zum bedeutungsschwangeren Werk, wobei solche Einteilungen stets aufs Neue gefunden oder projiziert werden müssen. Auf Tablets, Smartphones und eBooks tragen wir nun möglicherweise tausende virtuelle Bücher mit uns herum und nehmen sie sogar mit auf Reisen. Die auf immaterielle Bits und Bytes geschrumpfte Bibliothek oder auch nur das sonst raumfüllende Bücherregal ist in einem digitalen Träger verschwunden, und der ehedem raumgreifende Supercomputer findet heute in der Hosentasche oder in einer Hand Platz. Allein die verfügbare Masse, die Vielzahl der Optionen, die punktgenaue Suche, die uns in Sekundenbruchteilen mitten in einen Text hineinkatapultiert und dabei unzählige Bücher und andere Texte überspringt, entwerten das einzelne Buch bzw. löst seine Grenzen auf. Dabei verändert sich das Lesen grundlegend, das einmal als Ekstase begonnen und sich dann zu jener kritisch-distanzierten Lektüre gewandelt hat, die sich seit der Erfindung der Druckerpresse und der Organisation des Buches in Kapitel, Absätze, Zwischenüberschriften, Anmerkungen und Register parallel zum Siegeszug der Wissenschaft und der Universitäten durchgesetzt hat. Es mutiert zum blitzschnellen Durchforsten von Big-Data-Bibliotheken und zum Geschäft von lesenden, nein von wahllos textfressenden KI-Systemen. Man liest nicht mehr in einem Buch, sondern in dem jetzt immer weiter an-

IV. Maximale Geschwindigkeit

schwellenden Buch der Bücher, in dem potentiell alles steht. Man surft und sucht nach dem Interessanten, orientiert sich an dem, was andere gelesen und kommentiert haben, montiert oder sampelt Textfragmente. Auch das ist nämlich Lesen: nicht nur das sequentielle Abtasten linearer Zeilen von links nach rechts und von oben nach unten, sondern auch ein zufälliges oder gezieltes (Ein- oder Auf-)Sammeln, Auswählen oder Zusammensuchen von Fragmenten aus einem Datenozean. Im digitalen und vernetzten Zeitalter verabschieden wir uns allmählich von Büchern, von der stillen, konzentrierten und ekstatischen Lektüre, überhaupt von Narrationen und Gedanken mit Anfang und Ende, und tauchen in einen unauf hörlichen Informationsstrom ein, in dem gleichberechtigt Nachrichten, Narrationen, Bilder, persönliche Mitteilungen, eigene Äußerungen und Dialoge, Wichtiges und Banales im schnellen Takt und in oft undurchsichtiger Verbindung nacheinander auftauchen. Dies alles buhlt um die Aufmerksamkeit des zerstreuten, aber trotzdem immer wachsamen Nutzers, um schon kurz darauf wieder in der Timeline zu verschwinden. In dieser Situation kommt es nach dem Ende der Ekstase des Lesens aufs Neue zu einer Entrückung, einem Schwindel, der nach einer neuen Orientierung verlangt. Die äußert sich bislang in zwanghaften Ver- und Geboten und einer Grabenmentalität, die kein Dazwischen mehr kennt, sondern alles in Gegensätzen zementiert wissen will, um von vornherein zu verhindern, dass der Leser sich verliert oder auf der Leseautobahn gegen die Wand fährt. Vielleicht bringt ja ein neues, digitales Barock – mit deep fakes, viel Skepsis und auch Lust an der Simulation und am Spiel –, erst einmal einen digitalen Don Quijote hervor, der sich in den Untiefen verirrt, bis eine neue Auf klärung nach der Schrift und dem Buch entstehen kann. Das Leben wäre dann allerdings im Unterschied zum Barock nicht mehr ein Traum, sondern eine Simulation – und wir suchen den Weg aus dem Fliegenglas, ohne den Anderen zu meucheln oder zu canceln.

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Anmerkungen

1

Nicole Bracker, Journalistisches Schreiben. Teil I: Einleitung – Tatsachenbetonte Darstellungsformen, https://www.fachjournalist.de/ PDF-Dateien/2012/04/FJ_1_2001-Journalistisches-Schreiben-1_Tat​ sa​chenbetonte-Darstellungsformen.pdf (aufgerufen am 4.8.2023). 2 Ebd. 3 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, S. 47ff. 4 Vilém  Flusser, Die Schrift: Hat Schreiben Zukunft?, Kassel 1987, S. 12. 5 Ebd., S. 79. 6 Stanislas Dehaene, Lesen, München 2012, S. 17. 7 Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a.M. 1971, S. 100-122. 8 Corpus Thomisticum, De veritate, q. 2 a. 3 arg. 19, https://www.cor​ pusthomisticum.org/qdv02.html (aufgerufen am 5.8.2023). 9 Francis Bacon, Novum Organum, Liber 1, http://www.thelatinlibra​ ry.com/bacon/bacon.liber1.shtml (aufgerufen am 5.8.2023). 10 Platon, Phaidros, in: Platon: Sämtliche Dialoge, Hamburg 1988, S. 103 (St. 975). 11 Ebd., S. 97 (St. 276). 12 Ebd., S. 105f. (St. 275). 13 Diogenes Laertius, Über Leben und Lehren der Philosophen, 6, 105. 14 Lutherbibel 2017, Lukas Evangelium Kapitel 4, https://www.bibleser​ ver.com/LUT/Lukas4 (aufgerufen am 5.8.2023). 15 Ebd., Apostelgeschichte 19, https://www.bibleserver.com/LUT/ Apost​elgeschichte19 (aufgerufen am 5.8.2023). 16 Denis Diderot, Ankündigung der letzten Bände der Enzyklopädie, in: Ders.: Enzyklopädie, München 1967, S. 73.

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Catherine Nixey, Heiliger Zorn. Wie die frühen Christen die Antike zerstörten, München 2017, S. 140. 18 Lutherbibel 2017, 2. Moses 19, https://www.die-bibel.de/bibeln/on​li​ ne-bibeln/lesen/LU17/EXO.19/2.-Mose-19 (aufgerufen am 6.8.2023). 19 Nikolaus von Kues, Philosophisch-Theologische Schriften, III. Band, Wien 1967, S. 423f. 20 Silvia Ferrara, Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit, München 2023, S. 26. 21 Ebd., S. 36. 22 Genevieve von Petzinger, The First Signs. Unlocking the Mysteries of the World’s Oldest Symbols, Atria Books 2017. 23 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, a.a.O. 24 Ebd., S. 301. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 302. 27 Vgl. Henning Genz, Die Entdeckung des Nichts, München 1994. 28 Zitiert aus ebd., S. 157. 29 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, a.a.O., S. 304. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 305. 32 Ebd. 33 Georg Christoph Lichtenberg, Aus »Sudelbuch« E, E 406, http://www. zeno.org/Literatur/M/Lichten​berg,+Georg+Christoph/Aufzeichnung​ en+und+Aphoris​men/%5BAus+den​+%C2%BBSudelb%C3%BCch ern%C2%AB%5D/%5BAus+%C2%BBSudelbu​ch%C2%AB+E%5D (aufgerufen am 7.8.2023). 34 Georg Christoph Lichtenberg, Aus »Sudelbuch« F, F 513, http://www. zeno.org/Literatur/M/Lichtenberg,+​Georg+Christoph/Aufzeichnun​ gen+und+Aphoris​men/%5BAus+den+%C2%BB​Sudelb%C3%BCch ern%C2%AB%5D/%5BAus+%C2%BBSudelbuch%C2​%AB+F%5D (aufgerufen am 7.8.2023). 35 Aatish Bjatia, Watch an A.I. Learn to Write by Reading Nothing but Moby Dick, in: New York Times, 26.4.2023, https://www.nytimes. com/interactive/2023/04/26/upshot/gpt-from-scratch.html (aufgerufen am 7.8.2023).

Anmerkungen 36

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43 44 45 46

47

48

Karen Weise und Cade Metz, When A.I. Chatbots Hallucinate, in: New York Times, 1.5.2023, https://www.nytimes.com/2023/05/01/ business/ai-chatbots-hallucinatation.html (aufgerufen am 7.8.2023). Maggie Harrison, A Specific Innocuous Phrase Sends Google’s AI Into an Existential Crisis, in: Futurism.com, 4.4.2023, https://futu​ rism.com/specific-phrase-googles-ai-existential-crisis (aufgerufen am 7.8.2023). Michael S.A. Graziano, Without Consciousness, Ais Will Be Sociopaths, in: Wall Street Journal, 13.1.2023, https://www.wsj.com/artic​ les/without-consciousness-ais-will-be-sociopaths-11673619880 (aufgerufen am 7.8.2023). James Vincent, OpenAI CEO Sam Altman on GPT-4 : ›people are begging to be disappointed and they will be‹, in: The Verge, 18.1.2023, https://www.theverge.com/23560328/openai-gpt-4-rumor-releasedate-sam-altman-interview (aufgerufen am 7.8.2023). Ebd. (Übers. v. Autor). Nick Bostrom, Superintelligenz, Berlin 2016. Victor Tangerman, There’s a Problem With That App That Detects GPT-Written Text: It’s Not Very Accurate, in: Futurism.com, https:// fu​turism.com/gptzero-accuracy (aufgerufen am 7.8.2023). Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a.M. 1982. Daniel Kehlmann, Mein Algorithmus und Ich, Stuttgart 2021, S. 29. Michael S.A. Graziano, Without Consciousness, a.a.O. (Übers. v. Autor). Michael S.A. Graziano, Build-a-brain, in: Aeon.co, 4.5.2016, https:// aeon.co/essays/can-we-make-consciousness-into-an-engineeringpro​blem (aufgerufen am 7.8.2023). Ivan Nesterak, Rethinking Consciousness: A Q&A with Michael Graziano, in: behavioralscientist.org, 29.7.2015, https://behavioralscien​ tist.org/rethinking-consciousness-a-qa-with-michael-graziano/ (aufgerufen am 7.8.2023). Michael S.A. Grazino, A conceptual framework for consciousness, in: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 119 (18) e2116933119, 29.4.2022, https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2116933 119 (aufgerufen am 7.8.2023).

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Michael S.A. Graziano, Without Consciousness, a.a.O. (Übers. v. Autor). 50 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988, S. 75. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 76. 53 Hannah Arendt, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, München 1960, S. 14. 54 Robin Dunbar, Klatsch und Tratsch. Wie der Mensch zur Sprache fand, München 1998. 55 Gaston Bachelard, Die Flamme einer Kerze, München 1988, S. 56. 56 Vgl. Paulus de Jong, Myopia: its historical contexts, British Journal of Ophthalmology, 102(8), S.  1021-1027, Februar 2018, https://pub​ med.ncbi.nlm.nih.gov/29437569/ (aufgerufen am 7.8.2023). 57 Ibn al-Haitam, Kitab-al-Manazir. 58 Nicolai von Cusa, De beryllo. Über den Beryll (1458), Hamburg 2002. 59 Ebd., S. 5. 60 Daniel Lieberman, Unser Körper. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Frankfurt a.M. 2015, S. 419. 61 Florian Rötzer, Der Schulerfolg wächst mit der Länge des Bücherregals zu Hause, in: Telepolis.de, https://www.telepolis.de/features/ Der-Schulerfolg-waechst-mit-der-Laenge-des-Buecherregals-Zu​ hause-3385751.html (aufgerufen am 7.8.2023). 62 Florian Rötzer, Der »Überlebensvorteil« von Büchern, in: Telepolis. de, https://www.telepolis.de/features/Der-Ueberlebensvorteil-desBuec​herlesen​s-3291447.html (aufgerufen am 7.8.2023). 63 Robert Darnton, Erste Schritte zu einer Geschichte des Lesens, in: Der Kuß des Lamourette, München 1990, S. 118. 64 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M. 1979. 65 Ivan Illich, Im Weinberg des Textes, Frankfurt a.M. 1991, S. 57. 66 Ralph Radach et al., Blickbewegungen beim Lesen, Leseentwicklung und Legasthenie, in: Lernen und Lernstörungen, 2012, S.  185-204, https://www.allgemeinepsychologie.uni-wuppertal.de/fileadm​ in/psychologie/allgemein​epsychologie/Artikel/Artikel_Radach/ Radach_G%C3%BCnther_Huestegge_​Leseentwicklung_Lernen_ Lernst%C3%B6rungen_2012.pdf (aufgerufen am 7.8.2023). 67 Paul Saenger, Space Between Words, Stanford 1997, S. 8.

Anmerkungen 68

Ebd., S. 9. Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 145. 70 Paul Saenger, Space Between Words, a.a.O., S. 90ff. 71 Ebd., S. 93 (Übers. v. Autor). 72 Derrick de Kerckhove, Brainframes, Utrecht 1991. 73 Ebd., S. 31 (Übers. v. Autor). 74 Florian Rötzer, Sein und Wohnen, Frankfurt a.M. 2020. 75 Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München 1993, S. 52 ff. 76 Ebd., S. 186. 77 Siegfried Giedion, Herrschaft der Mechanisierung, Frankfurt a.M. 1982, S. 296. 78 Ebd. 79 Regel des Hl. Benedikt, in: Benediktiner.de, http://benediktiner. benediktiner.de/index.php/die-ordensregel-des-hl-benedikt/dertagesab​lauf/die-ordnung-fuer-handarbeit-und-lesung.html (aufgerufen am 7.8.2023). 80 Ebd. 81 Siegfried Giedeon, Herrschaft der Mechanisierung, a.a.O., S. 349. 82 Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl, a.a.O., S. 132. 83 Ebd., S. 127. 84 Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang, München 2012, S. 311. 85 Ebd., S. 313f. 86 Ivan Illich, Im Weinberg des Textes, a.a.O., S. 93. 87 Phyllis Mindel, ›War and Peace‹ in 20 Minutes? If You Care What It Says, Read, in: New York Times, 3.9.1995, https://www.nytimes. com/1995/09/03/opinion/l-war-and-peace-in-20-minutes-if-you-ca​ re-what-it-says-read-449395.html (aufgerufen am 8.8.2023). 69

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