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German Pages 488 Year 2019
Herausgegeben von Albert H. Friedlander (London) † Bertold Klappert (Wuppertal), Werner Licharz (Frankfurt a.M.), Michael A. Meyer (Cincinnati/Ohio), im Auftrag des Leo Baeck Instituts, New York Die Herausgeber danken Marianne C. Dreyfus, James N. Dreyfus und Richard B. Dreyfus für die Erlaubnis, Leo Baecks Werke wieder im Druck erscheinen zu lassen.
Band 1 Das Wesen des Judentums Band 2 Dieses Volk Band 3 Wege im Judentum Band 4 Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5 Schriften aus der Nachkriegszeit Band 6 Briefe, Reden, Persönliches
Gütersloher Verlagshaus
Band 4
Aus Drei Jahrtausenden Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Herausgegeben von Albert H. Friedlander (†), Bertold Klappert und Werner Licharz
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert H. Friedlander, Bertold Klappert und Werner Licharz Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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AUS DREI JAHRTAUSENDEN Wissenschaftliche Untersuchungen und Abhandlungen zur Geschichte des jçdischen Glaubens Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . GRUNDSØTZLICHES Hat das çberlieferte Judentum Dogmen? . . . Theologie und Geschichte . . . . . . . . . . . . Romantische Religion . . . . . . . . . . . . . . Judentum in der Kirche . . . . . . . . . . . . .
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. 31 . 46 . 59 . 130
DER MIDRASCH Griechische und jçdische Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Zwei Beispiele midraschischer Predigt . . . . . . . . . . . . . . 165 Der alte Widerspruch gegen die Haggada . . . . . . . . . . . . . 182
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Inhalt
DIE WENDE DER ZEITEN Der »Menschensohn« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Simon Kefa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 RELIGIONSGESCHICHTLICHES Drei alte Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechte und Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Secharja ben Berechja . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dritte Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . .
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211 217 222 228
DIE GLAUBENSSPRACHE Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Das Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 »Der im Dornbusch Wohnende« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 MYSTIK UND RELIGIONSPHILOSOPHIE Ursprung der jçdischen Mystik . . . . . . . . . . . . . . Ssefer Jezira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ssefer ha-Bahir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelalterliche Popularphilosophie . . . . . . . . . . .
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251 261 276 292
DIE ERZIEHUNG IM JUDENTUM Die Entwicklung zur sittlichen Persænlichkeit . . . . . . . . . . 345 Die religiæse Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 INDICES a) Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 b) Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 c) Bibelsåtze und Stellen der mçndlichen Lehre . . . . . . . . . 394
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Inhalt
DAS EVANGELIUM ALS URKUNDE DER JÛDISCHEN GLAUBENSGESCHICHTE Vorwort . . . . . . . . . . . . . . Ûberlieferungen . . . . . . . . . Die Begebenheiten . . . . . . . . Die Sprçche und die Gleichnisse
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403 405 448 463
ANHANG Titelseite von »Aus Drei Jahrtausenden« aus dem Jahre 1938
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Quellenverzeichnis von »Aus Drei Jahrtausenden« aus dem Jahre 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einfçhrung in die Neuauflage von »Aus Drei Jahrtausenden« aus dem Jahre 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Titelseite von »Das Evangelium als Urkunde der jçdischen Glaubensgeschichte« aus dem Jahre 1938 . . . . . . . . . . . . . 488
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Vorwort
Leo Baecks Werk Aus Drei Jahrtausenden: Wissenschaftliche Untersuchungen und Abhandlungen zur Geschichte des jçdischen Glaubens erscheint als vierter Band der Leo Baeck Werke. Als das Buch 1938 in Deutschland erschien, wurde es sofort von der NS-Regierung beschlagnahmt und eingestampft. 1958 erschien im J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag, Tçbingen, eine unverånderte Neuedition der Originalausgabe mit einer Einfçhrung von Hans Liebeschçtz, einem ausgezeichneten Wissenschaftler und Mitglied im Vorstand des Leo Baeck Instituts. Diese Einfçhrung erscheint hier im Anhang, ebenso wie die Titelseite der Ausgabe von 1938 und das Quellenverzeichnis der Texte, das in der Ausgabe von 1958 fehlte. Daû uns diese Hinweise wieder zugånglich wurden, verdanken wir Bemçhungen am Hebrew Union College, Cincinnati: Ein langes Suchen nach einem Exemplar der Originalausgabe fçr die Neuedition war hier am Ende erfolgreich. In dieser Ausgabe veræffentlichen wir auûerdem Leo Baecks kleine Schrift Das Evangelium als Urkunde der jçdischen Glaubensgeschichte, das ebenfalls 1938 erschienen war und sogleich vernichtet wurde. Ein långerer Teil unserer Einleitung ist diesem Text gewidmet. Auch von diesem Werk finden sich das Quellenverzeichnis und das Titelblatt der Erstausgabe im Anhang. In den Einleitungen zu den ersten drei Bånden der Leo Baeck Ausgabe findet der Leser und die Leserin biographische und historische Skizzen, die in unserer Einleitung zum vierten Band nur wenig ergånzt werden. Wir hoffen, daû diese Einleitung den Leser und die Leserin ermutigt, die hier neu vorgelegten, aufregenden und beeindruckenden wissenschaftlichen Arbeiten Leo Baecks in ihre Gedankenwelt aufzunehmen. Die Herausgeber mæchten Frau Adelheid Licharz und Frau Evelyn Friedlander fçr die wertvolle Mitarbeit an diesem Band danken. Albert H. Friedlander Werner Licharz
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Einleitung Albert H. Friedlander, Bertold Klappert und Werner Licharz
In den letzten vier Jahren ist dem Werk Leo Baecks, dieses groûen Rabbiners und Religionswissenschaftlers, wieder neue Aufmerksamkeit zuteil geworden. Sein Buch Dieses Volk. Jçdische Existenz, das groûe, zum Teil im KZ geschriebene Hoffnungszeugnis, das 1996 als Band 2 dieser Werkausgabe die Neuedition der Werke Leo Baecks eræffnete, ist als eine wichtige Stimme jçdischen Glaubens nach der Schoah anerkannt. 1998 erschien als Band 1 der Neuedition Baecks klassische Darstellung der religiæsen und geistigen Welt des Judentums: Das Wesen des Judentums. Dieses Werk zåhlt, immer wieder nachgedruckt, noch heute zu den wichtigsten und lehrreichsten Texten çber die Religion des Volkes Israel. Die Werkausgabe bietet die letzte çberarbeitete Edition von 1926 und den Urtext von 1905, so daû die vielen Verånderungen durch die Jahrzehnte hindurch erkannt werden kænnen, wenn man beide Textvarianten miteinander vergleicht. Sichtbar wird darin das Judentum als eine dynamische, wachsende Religion, die gerade auch im Vergleich mit anderen Religionen eine aufregende Lehre bleibt. In der Einleitung zu Band 1 der Werkausgabe findet sich eine Einfçhrung, die die Konfrontation zwischen Baecks Wesen des Judentums und Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums, auf das Baeck mit seinem Werk zu antworten suchte, zum Inhalt hat. Der 1997 erschienene Band 3 der Werkausgabe Wege im Judentum dokumentiert eine 1933 von Baeck selbst zusammengestellte Sammlung von Texten. Baeck deutet an, daû diese trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Entstehungsorte und -gelegenheiten eine Einheit darstellen: »Von Fragen der Menschheit her, von Wegen der Vælker aus, vom Leben einzelner kommend wollen sie, daû eines sich aufzeige: der Glaube und das Wissen des Judentums«. Baecks innerstes Anliegen in der Zusammenfassung dieser vielfåltigen und unterschied11
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Einleitung
lichen Erkenntnisbereiche in Wege im Judentum war es, das Leben des einzelnen und das Leben des jçdischen Volkes in der Polaritåt von Geheimnis und Gebot sichtbar zu machen. In dem nun hier vorgelegten Band 4 Aus Drei Jahrtausenden wird dieser Weg weiter beschritten. Die ersten theologischen Texte dieses Buches kåmpfen fçr die Bewahrung der Dialektik von Geheimnis und Gebot gegen neue Entwicklungen in der damaligen Theologie, die diese Polaritåt in Frage stellten und die Verbindung zwischen Geheimnis und Gebot auseinanderreiûen wollten. Der wichtigste Text in diesem mit »Grundsåtzliches« çberschriebenen Abschnitt ist betitelt Romantische Religion und ist ursprçnglich im Jahr 1922 verfaût. Er ist ein Schlçsseltext im Gespråch zwischen Judentum und Christentum. Baecks Grundsystem der Polaritåten, von W. Dilthey beeinfluût, fçhrt zu einer tieferen Wçrdigung des Phånomens Gefçhl im Religiæsen und zeigt darin ein zu Schleiermacher parallel gehendes Denken. Baeck unterscheidet zwei Gestalten von Religion: die klassische Religion des Judentums mit der Verbindung von Geheimnis und Gebot und die romantische Religion des Christentums mit der Isolierung des religiæsen Gefçhls gegençber dem Gebot. »In dieser verzçckten Hingabe, die so gern umfaût und umschlungen sein mag, die in dem klingenden Weltenozean vergehen mæchte, offenbart sich das Besondere der romantischen Religion ¼ Ihre Fræmmigkeit hat etwas Passives ¼, sie will von oben her ergriffen werden, von einem Gnadenstrom umfaût sein ¼ Das Wort Schleiermachers, daû die Religion das Gefçhl schlechthinniger Abhångigkeit¬ sei, hat dann nur den Begriff hierfçr geprågt«. Obwohl F. Schleiermacher das Christentum der monotheistischethischen Fræmmigkeit zuordnet, fehlt seiner ganzen Ethik ± nach Baecks Auffassung ± das Gegençber von gebietendem Gott und gebotenem Tun. »Darum fehlt der Romantik der starke ethische Drang, der Wille, das Leben sittlich zu bezwingen. Sie hat eine Abneigung gegen jede, das Dasein beherrschende, praktische Idee (im Sinne Kants), die fçr ihre Gebote den freien, schaffenden Gehorsam fordert und den bestimmten Weg (des Gebotes) zu den Zielen des Handelns zeigt; sie mæchte vom Zweck genesen¬. Alle Satzung, alles Gesetzgebende, alle Moral mit ihrem Gebot widerstrebt ihr ¼ Daher ist ja die romantische Persænlichkeit¬ auch so etwas ganz anderes als etwa die Kantische Persænlichkeit, die als Tråger des Sittengesetzes dasteht und in der Treue gegen das Gebot sich selbst und damit die Freiheit findet«. Baeck, der das Judentum als »klassische Religion« auf Kant be12
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Einleitung
zieht und durchaus die Wiederentdeckung der Religion durch Schleiermacher anerkennt, betont doch: Der Glaube des »romantischen Frommen bleibt rein passiv, (ist) ein Glaube nicht an das aufrufende, gebietende Gottesgesetz auch«. Dieser Text, sorgfåltig gelesen, zeigt so den Unterschied zwischen dem Judentum als klassischer Religion¬ und einem romantischen Christentum: Das klassische Judentum steht auf dem Bund, den Gott mit den Menschen schlieût, und zeigt damit das Gebot zugleich mit dem Geheimnis, verweist also nicht nur ± wie das romantische Christentum ± auf ein Geheimnis ohne Gebot . Daû das Christentum jedoch auch andere Ausprågungen aufweisen kann, zeigt Baeck ebenfalls im Gegençber zu Schleiermacher. In seinem Aufsatz Judentum in der Kirche von 1925 stellt Baeck dar, wie die jçdische Lehre des Gebotes mit seiner sozialen Forderung mehr und mehr in den Calvinismus eindringt. Diese echte, wichtige Dimension des Judentums im Christentum muû geschçtzt werden, worauf Baeck am Schluû dieses Aufsatzes hinweist: »Die Geschichte der Kirche hat gezeigt, was vom Christentum çbrig bleibt, wenn es von allem Jçdischen gesåubert und gereinigt werden soll«. Aus Drei Jahrtausenden hat dem Christentum Wesentliches zu sagen, allerdings als ein groûes Buch der jçdischen Tradition. Baecks Schriften, in der ersten Hålfte dieses Jahrhunderts von ihm zusammengestellt, sind eine Wçrdigung des Judentums. Dieser Sammelband belehrt gerade deshalb die Juden unserer Zeit und die Nachbarn im Glauben an den einen Gott. Dies gilt besonders auch fçr den ersten Text dieses Bandes Hat das çberlieferte Judentum Dogmen?, womit Baeck ein noch heute besonders in Amerika umstrittenes Problem aufgreift. In Deutschland protestierte David Einhorn, spåter der wichtigste amerikanische Theologe des Reformjudentums im 19. Jahrhundert, gegen die Meinung, »¼ als ob das Judentum im Widerspruche mit zahllosen Stellen seiner gættlichen Urkunden der Eigenschaft einer geoffenbarten Religion entbehrte und ferner eine Dogmenfreiheit besåûe, demzufolge keine ¼ religiæse Meinung den inneren Zusammenhang mit demselben aufzuheben oder die religiæsen Handlungen ihres Wertes zu berauben vermæchte«. Hundert Jahre spåter stçtzte sich das amerikanische Reformjudentum allerdings nicht mehr auf diese zåhe Verteidigung der Glaubensprinzipien. Der Weg von der Pittsburgh-Plattform 1885 çber die Columbus-Plattform 1937 bis zu den neuen Versuchen in dieser Zeit brachte der groûen Diversitåt des Reformjudentums neue Anerkennung. Man erkannte, daû auch die Laien dieses Judentum 13
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Einleitung
gestalteten und daû die Rabbiner nicht die absolute Autoritåt besitzen. Leo Baeck schreibt in diesem Sinne: »Das Judentum hat nie eine Kirche gebildet, es hat seinem Wesen nach die Gemeinde gestaltet. In der Kirche steht die glaubende Kirche begrifflich am Anfang, in der Gemeinde der Glaube des einzelnen ¼ Darum ist hier auch der einzelne, nicht eine Kirche, Tråger der Tradition, und diese ist darum hier auch nicht eine bloûe Ûberlieferung von Såtzen, sondern sie schlieût die Forderung des Forschens in sich; dem Besitzen geht hier das Suchen voran. Dieses Gebot des Forschens ist der Widerspruch gegen das Dogma«. Diese frçhe Lehre Baecks bleibt auch eine gegenwårtige Forderung an das Judentum. Der in diesem Band im ersten Kapitel erscheinende Text Theologie und Geschichte versucht in Auseinandersetzung mit den Aporien des Historismus aufzuweisen, wie Gemeindefræmmigkeit und Gemeindemoral immer ihre starke Verbindung zum Unendlichen und Ewigen besaûen und nicht in der Geschichte aufgingen. Nach Baeck versteht sich die Gemeinde ursprçnglich in das unsichtbare All des Geheimnisses hineingefçgt. Das Jenseits tritt in das Diesseits mit all seiner Spannung ein. Mit dem Verlust der Gemeinde im assimilierten Judentum verliert sich jedoch diese Spannung und es kommt zu einer Unterbrechung der Tradition. »Die Religiositåt drohte sowohl in dem Versuche, sich die alte Form zu erhalten, wie in dem, sich eine neue zu bilden, reine Diesseitsreligiosiåt zu werden. An die Stelle jener Spannung drångte sich eine Befriedigung des Fertigen, des Arrivierten, ein dogmatischer Rationalismus im Konservatismus wie in der Reform«. Dagegen betont Baeck, daû sowohl das konservative wie auch das Reformjudentum zunåchst Rechenschaft abzulegen haben von dem, was Grund und Recht aller Tradition im Judentum ist. Das ist auch heute der Anfang aller Theologie im Judentum. Das Judentum muû dem Eigenen und dem historischen Ganzen mit dem Wissen und nicht mit dem Meinen begegnen, mit der »episteme«, nicht mit der »doxa«. Als der groûe Lehrer des Judentums verlangt Baeck, das zu erfassen und zu vergegenwårtigen, was die universale und besondere Tradition des Judentums, was seine weltgeschichtliche Individualitåt ist. Auch das zweite Kapitel Der Midrasch ist geprågt von der Dynamik zwischen diesen Polaritåten von Geheimnis und Gebot, besonders der Aufsatz Griechische und jçdische Predigt, ein Text, den Baeck seinerzeit als Antrittspredigt am Beginn seiner Lehrtåtigkeit an der 14
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Einleitung
»Hochschule fçr die Wissenschaft des Judentums« vortrug. Hier kommt eine Beziehung zum Ausdruck, die bei der Beurteilung Baecks immer mitbedacht werden muû: die zwischen Midrasch und Baeck. Sie macht seine ganze Lebensarbeit verståndlicher. Baeck war Hirte und Seelsorger der Juden Deutschlands in schwierigster Zeit. Er war Rabbiner, d. h. Lehrer. Die am Midrasch orientierten exegetischen Untersuchungen zeigen, wie weit er auch in andere Welten eindringen konnte. Gerade so entwickelte er sich zu dem groûen Exegeten an der Hochschule fçr die Wissenschaft des Judentums in Berlin, die spåter von den Nationalsozialisten in »Lehrhaus« umbenannt wurde, um ihr die akademische Wçrde zu rauben. Gerade als am Midrasch orientierter Exeget und Seelsorger wirkte er an eben dieser Hochschule, die bis 1942 Rabbiner ordinierte, fçr seine verfolgte Gemeinde. Jeder Text dieses Buches bringt etwas ganz Eigenes mit sich und kann deshalb auch ohne einen ausfçhrlichen Kommentar gelesen werden. Das vierte Kapitel Religionsgeschichtliches beispielsweise bringt midraschartige Texte, in denen Baeck Gestalten und Lieder jçdischer Tradition mit græûter Sensibilitåt untersucht. Der darin enthaltene Beitrag Das dritte Geschlecht interpretiert das Christentum von seiner jçdischen Wurzel her und bringt so Nåhe und Distanz der beiden Religionen in der Frçhzeit des Christentums neu zum Bewuûtsein. Baecks Text çber Gerechte und Engel soll, wie er sagt, »¼ als ein Beispiel dafçr geboten sein, in welcher Weise aus der fragmentarischen Ûberlieferung der Gedankenweg einer Predigt hervorgeholt werden kann«. Das çbernåchste Kapitel Mystik und Religionsphilosophie beweist, wie wichtig Baecks Arbeit an der jçdischen Mystik fçr die ganze Entwicklung dieser Wissenschaftsorientierung war. Seine Bearbeitung der Texte Sefer Jezira und Sefer ha-Bahir waren wegweisend fçr viele auf Baeck folgende Gelehrte, die dieses Feld so erweiterten, daû es fast zum græûten Forschungsgebiet in der jçdischen Wissenschaft wurde. Im letzten Kapitel unseres Bandes finden wir Beitråge zur Erziehung im Judentum, die uns auf den ersten Blick nicht so anziehen wie die anderen. Doch dieses Vorurteil kænnte uns wirkliche Juwelen in Baecks Lehre çbersehen lassen! Im gewissen Sinne sind die hier gebotenen Texte Predigten fçr unsere Zeit. Wie wir von Baecks Predigten in der Synagoge wissen, verlangte er von den Zuhærern viel; hier verlangt er mehr. Wir zitieren die letzten Zeilen aus Die Entwicklung 15
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Einleitung
zur sittlichen Persænlichkeit: »Es kann noch eine letzte Krisis des SelbstBewuûtseins im Leben geben: im Alter, wenn der Mensch, der ganze Mensch, und die Welt, die Welt als Ganzes, einander fernerrçcken, einander fremd werden. Auch hier entsteht die Spannung. Es ist die zwischen diesem Leben und der Ewigkeit. Ihre Læsung, die Erneuerung der Persænlichkeit in ihr, reicht in das Jenseits hinçber. Hier schenkt die Religion die letzte ihrer Gaben«. Der letzte Aufsatz Die religiæse Erziehung behandelt das Judentum in der Entwicklung der Gemeinde, die jçdische Geschichte und die wichtige Lehre von »Milieufræmmigkeit und Individualfræmmigkeit«. Der Text spricht nicht nur die Lehrer an, und dies bedeutet heute nicht nur die Rabbiner, sondern ebenso die leitenden Mitglieder der Gemeinde und der Akademie, aber auch die einzelnen, die sich heute um den Wiederaufbau des jçdischen Lebens bemçhen. Hinzuweisen ist auf die Gestaltung der Fuûnoten in dieser Ausgabe: Den heutigen Gepflogenheiten entsprechend sind diese hier kapitelweise fortlaufend numeriert. In Klammern findet sich darçber hinaus jeweils die Ziffer der ersten Auflage, die die Fuûnoten seitenweise zåhlte, angegeben. Diese Ziffernangabe ermæglicht zusammen mit der Seitenangabe in der Randmarginalie ein problemloses Auffinden der Registerhinweise auch in den Fuûnoten. Das Evangelium als Urkunde der jçdischen Glaubensgeschichte Die Aufsåtze dieses vierten Bandes der Leo Baeck-Werk-Ausgabe stammen aus verschiedenen Zeiten. Wie Baeck selbst erklårte, sollten dem Wesen des Judentums und den Wegen im Judentum Texte folgen, in denen sich die Ehrfurcht vor dem einzelnen zeigen und beweisen konnte. In seinem Vorwort heiût es in diesem Sinne: »Eine Befugnis, vom Ganzen zu sprechen, ist aber nur dann gewåhrt, wenn sich dem Teile, wie gering er sei, eine Sorgsamkeit und Peinlichkeit gewidmet hat«. Die Herausgeber ergånzen diese Beitråge nun um Baecks kleine Schrift Das Evangelium als Urkunde der jçdischen Glaubensgeschichte. Dieser Kommentar Baecks zum alten Evangelium ist ein Teil dieses Sammelbandes. Diese Schrift gehært zu diesem Buch, weil sie etwas ganz Besonderes im Denken Baecks gerade in dieser Zeit darstellt. Alle Aufsåtze in diesem Buch fçhren uns in eine tiefe Erkenntnis des Glaubensweges, der in eine zukçnftige messianische Zeit weist. Jeder Text ist ein Baustein im Gebåude des jçdischen Denkens. Hier nun finden wir, mit Liebe und tiefer Wissenschaft 16
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Einleitung
vorbereitet, eine Begegnung mit dem Christentum, die uns die jçdischen Wurzeln der christlichen Religion in einer Weise zeigt, wie sie damals unerhært war und eigentlich erst in unserer Zeit, innerhalb einer sich weiter entwickelnden Bibelwissenschaft, zur Kenntnis genommen wird. Das Bçchlein erschien 1938 als Nr. 87 der Bçcherei des SchockenVerlags und wird auch so in dem Quellenverzeichnis von Aus Drei Jahrtausenden aus demselben Jahr erwåhnt. Es erlitt dasselbe Schicksal wie der Sammelband: Da es als ein Angriff gegen die dunkle Macht dieser Zeit gesehen wurde, lieû die Gestapo Hitlers die Auflage sofort beschlagnahmen und zerstæren. Dieser Angriff auf eine jçdische Evangelienbetrachtung muû im Kontext jener Zeit verstanden werden, die sich durch alle wahren Religionslehren bedroht fçhlte. Es gibt hier eine Verbindung mit dem Pogrom im November 1938 und dem weitgehenden beschåmenden Schweigen der Kirchen zu der brutalen Verbrennung von Torah-Rollen und Synagogen. Dadurch ergibt sich eine ungeheure kontextuelle Brisanz der Evangeliumauslegung Baecks: Ihre Anspielungen auf den Zeitkontext und ihre Aufforderungen an die Adresse der Nationalsozialisten und der Kirchen des Jahres 1938 waren nicht zu çberhæren. Selbst Gestapo-Beamte erkannten dies und hatten långst gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Aus dieser Zeit ist der folgende Satz eines Gestapo-Beamten gegençber Baeck dokumentiert: »Wir wissen Bescheid çber die alten Geschichten, die Sie zitieren. Wir sind keine Idioten. Wenn Sie Rom ¼ sagen, meinen Sie Deutschland«. Der Evangelienkommentar muû also im Kontext der Zeit des Nationalsozialismus gelesen werden. Was Baeck çber die Zerstærung des Tempels und deren antijudaistische Deutung, was er çber die Abkehr der heidenchristlichen Gemeinde vom Judentum, was er çber die »Entscheidung fçr Rom und gegen das jçdische Volk« schreibt, ist voll von kontextuellen und abgrçndigen Anspielungen auf die damalige Zeit des Verbrechens, des Dunkels und der Schande. Nicht zuletzt die Aussagen çber die Tempelzerstærung des Jahres 70 sind eine hellsichtige Vorwegnahme dessen, was dann in der Tat in der Zerstærung der Synagogen und im Verbrennen der Torah-Rollen geschah und in antijudaistischer Interpretation als Gerichtszeichen Gottes gedeutet wurde: »Die Hand des Ræmers hatte die Brandfackel geschleudert, aber sie war doch nur das Werkzeug Gottes gewesen. Gott hatte geurteilt.« Doch nicht nur das gesellschaftlich-politische Umfeld, auch wissenschaftliche Entwicklungen stehen im Hintergrund dieses Textes. Die Bibelwissenschaft in Deutschland wurde damals geschåndet. 17
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Einleitung
Furchtbare antijudaistische und pseudowissenschaftliche Angriffe fanden ihre Plattform in dem im Jahre 1939 gegrçndeten Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jçdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. Wenn man bedenkt, daû Baecks Aus Drei Jahrtausenden und das Evangelienbuch eingestampft wurden und Platz geben muûten fçr die dort produzierten unwçrdigen Schriften, die ihre Thesen vom arischen und germanischen Jesus¬ dem Publikum vorstellten, lernt man, was in der Zeit des Nationalsozialismus innerhalb der Religionswissenschaft geschah. Texte wie Vælkische Theologie (1937), Die Entjudung des religiæsen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche (1939) und besonders Jesus, der Galilåer und das Judentum (1940) stehen Baecks vornehmer und gediegener Arbeit als Schande gegençber. S. Heschel, die Tochter des Leo Baeck-Schçlers A. J. Heschel, hat diese Pseudowissenschaft vom germanischen Christus eindrucksvoll in ihrem Werk Theologen fçr Hitler. W. Grundmann und das »Institut zur Erforschung des jçdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« analysiert. Natçrlich war dies nicht das vollståndige Bild im Jahr 1938. Man muû sich erinnern, daû K. Barth in diesem Jahr gegen alle diese Versuche, einen arischen und germanischen Christus und eine judenreine Bibel zu erfinden, mit einer kleinen Zahl von Wissenschaftlern aus der Bekennenden Kirche protestiert hat. Im Band I/2 seiner Kirchlichen Dogmatik, wie Baecks Schriften ebenfalls 1938 veræffentlicht, lesen wir: »Indem die Bibel als Zeugnis von Gottes Offenbarung in Jesus Christus ein jçdisches Buch ist, indem sie gar nicht gelesen, verstanden und erklårt werden kann, wenn wir uns nicht auf ihre Sprache, das Denken, die Geschichte der Juden in gånzlicher Offenheit einlassen wollen, wenn wir nicht bereit sind, mit den Juden Juden zu werden, ¼ fragt sie uns, wie wir uns zu dem in der Weltgeschichte gefçhrten natçrlichen Gottesbeweis durch die Existenz der Juden bis auf diesen Tag stellen, ob wir ihn zu bejahen, oder ob wir ihm gegençber mit den Wælfen zu heulen gedenken« (567). Baecks Werke Das Wesen des Judentums, Wege im Judentum und Aus Drei Jahrtausenden sind mit der kleinen Evangeliumsschrift eng verbunden. Aber auch das letzte groûe Buch Baecks Dieses Volk: Jçdische Existenz, sein Vermåchtnis aus Theresienstadt, sollte in Betracht gezogen werden, um seine Evangeliendeutung richtig zu verstehen. Glaube und Geschichte Israels werden hier zusammengebracht. Und so finden wir nicht zufållig auch die Schriften zum Christentum innerhalb des Rahmens der vier Epochen jçdischer Geschichte, die Baeck im Midrasch aus Theresienstadt¬ entwickelt 18
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Einleitung
hat. Die erste Epoche bestimmt er als die Zeit des Werdens Israels von ca. 1500 bis 500 vor der christlichen Zeitrechnung. Die zweite Epoche, eine Zeit der Neugeburt, in der ein Neues im Judentum innerhalb der Grenzen der Jahre 500 vor bis 500 nach der christlichen Zeitrechnung entstand, charakterisiert Baeck als eine Zeit der »Erziehung und Verfassung« (LBW 1, 186). Die Mitte dieser Epoche wird durch die Entstehung der pharisåischen Bewegung als eine Bewegung im Volk und fçr das ganze Volk entscheidend bestimmt. Die »Torah im Mçndlichen« ist der Schlçsselbegriff fçr diese Epoche. Um den Dialog zwischen dem Judentum und dem Christentum zu verstehen ± im Aufsatz çber die »Romantische Religion« aber ganz besonders in der Evangeliendeutung Baecks ±, muû man zuerst begreifen, daû die Geschichte Jesu und das alte Evangelium in die Mitte dieser zweiten Epoche der Geschichte des Judentums fallen und aus ihr heraus und also von der »Torah im Mçndlichen« her verstanden werden mçssen. Wie in der durch Jesus begrçndeten Bewegung mit seinen zwælf Schçlern geht es auch in der pharisåischen Bewegung im Unterschied zur sich absondernden Bewegung von Qumran um das ganze jçdische Volk. Die Pharisåer bilden »eine abgesonderte Bewegung im Volk und fçr das Volk, fçr die auch die von Jesus und seinen zwælf Schçlern geteilte messianische Erwartung von Sanh. 10, 1 gilt: Ganz Israel hat Anteil an der zukçnftigen Welt¬« (R. Deines), ± eine deshalb auch von Paulus als Pharisåer geteilte Hoffnung (Ræm 11, 25 f.), wie Baeck bei aller ± z. T. unberechtigten (E. L. Ehrlich) ± Kritik an Paulus dennoch ausdrçcklich positiv erwåhnt. 1938, das Erscheinungsjahr der hier zusammengefçgten beiden Bçcher, gehært nach Baecks Geschichtsauffassung in die vierte Epoche, die er in den Zeitraum von 1500 bis 2500 nach allgemeiner Zeitrechnung ansiedelt. Baeck kennzeichnet diese Zeit als das Jahrtausend der »Hoffnung« (LBW 2, 275ff.). Auch nach der Schoah sah Baeck das jçdische Volk in dieser Epoche als Volk fçr die Menschheit, als Licht der Vælker, insofern es in dieser Epoche zur Begegnung des spezifisch Jçdischen mit dem allgemein Menschheitlichen kommt. Ganz besonders die Evangelienschrift Baecks muû als Teil dieser Begegnung des Judentums mit den Vælkern der Welt in dieser vierten Epoche jçdischer Geschichte verstanden werden. Hier gibt es Hoffnung: Man kann sich gemeinsam, çber das ålteste Evangelium gebeugt, begegnen. Baeck unternimmt diesen Versuch in drei Schritten. Am Beginn steht eine ausfçhrliche Besinnung çber den Weg der Ûberlieferung des Evangeliums. Deutlich wird hier, daû diese Botschaft zunåchst 19
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Einleitung
als Botschaft aus dem Judentum fçr das Judentum in der Weise, in der es gewohnt war, seine Glaubenszeugnisse zu tradieren, zu verstehen ist. Baeck betont: »Wenn so diese alte Tradition vor den Blick tritt, dann wird das Evangelium, dieses jçdische, welches es ursprçnglich war, zu einem Buche, einem nicht geringen, im jçdischen Schrifttum«. Entsprechend ist Jesus Jude und ± man denke an den Kontext im Deutschland des Jahres 1938 ± nichts anderes. Baeck betont: ein »Mann, ¼ der im Lande der Juden lebte und half und wirkte, duldete und starb, ein Mann aus dem jçdischen Volke, auf jçdischen Wegen, im jçdischen Glauben und Hoffen, dessen Geist in der Heiligen Schrift wohnte«. Baeck versucht sodann, die Botschaft des jçdischen Menschen Jesus in einem zweiten Schritt anhand der Begebenheiten, die von ihm erzåhlt werden, zu rekonstruieren. Sachlich und nçchtern zitiert und kommentiert Baeck hier neutestamentliche Texte, kann selbst ohne jede Apologie die Verurteilung Jesu in Jerusalem durch die sadduzåische Hochpriesterschaft darstellen und beendet seinen Bericht nicht mit der Erzåhlung çber den Tod, sondern mit dem Bericht von der Auferstehung Jesu: Fçr Baeck ist dieser Bericht ein Ereignis in der Geschichte jçdischen Glaubenslebens. Damit ist natçrlich nicht gemeint, daû das Judentum damals oder Baeck selbst die Auferstehung Jesu als Glaube im Judentum akzeptiert håtten. Dennoch sagt Baeck hier etwas Wichtiges: Der Urtext des Evangeliums und die Jçnger Jesu sind ein Teil der jçdischen Glaubensgeschichte ihrer Zeit. Baeck will den Glauben der Jçnger, den diese als Juden in der Nachfolge eines Juden fanden, als Tatsache dieser Zeit im Judentum anerkennen, auch wenn eine Trennung von Judentum und Christentum die Folge war. Im letzten Teil des Evangelienbuches nimmt Baeck schlieûlich einzelne Sprçche und Gleichnisse in den Blick, die er als jçdischen Traditionsbestand, als urspçngliches Evangelium, meint kenntlich machen zu kænnen. Baeck unterscheidet in dem Text das jçdisch Gemeinsame am Beispiel des »Vaterunsers« von dem jçdisch Besonderen der Jesusçberlieferung und verweist hier besonders auf das Messiasbekenntnis der Jesusschçler. Es war ein Neues im Judentum innerhalb der zweiten Periode von Wiedergeburt und Neuschæpfung, aber nicht ein Neues gegen das Judentum, wie es spåter antijudaistisch gedeutet wurde. Zur Abkehr vom Judentum und zur Trennung von Synagoge und Kirche kommt es darum auch erst, als die Zerstærung des Tempels und die Zerstreuung des jçdischen Volkes in der Diaspora 20
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Einleitung
eine Deutung erfåhrt, die das junge Christentum gewissermaûen aus dieser Katastrophe heraushålt. Hier wird eine antijçdische Interpretation eingetragen, die die Katastrophe des Judentums, wenn nicht zum Sieg des Christentums, so doch zum Zeichen einer verånderten Option Gottes im Blick auf sein Volk nimmt. Die Ablehnung des Alten Testamentes in der Gnosis ist schlieûlich die, wenn auch von der Kirche dann abgelehnte, Spitze dieser Entwicklung. Eine umfassendere Analyse dieser Schrift kann hier nicht geleistet werden. Hier kænnen wir nur Bewertung und Andeutungen zu Baecks Arbeit geben, die zeigen, daû dieser Text eine enge Verbindung mit den in Aus Drei Jahrtausenden gesammelten Aufsåtzen besitzt. Baeck gebrauchte als baal aggadah, als Meister der jçdischen Homiletik, sein tiefes Verståndnis der jçdischen Tradition, um die verschiedenen, ursprçnglich jçdischen Strukturen des Evangeliums nachzuzeichnen: Eine mehr haggadisch orientierte Erzåhlçberlieferung steht der eher halachischen Spruchçberlieferung im alten Evangelium zur Seite. Im Tåufer erkennt Baeck die Aktualisierung der Prophetie von Jesaja bis Maleachi und den Zusammenhang von Reich Gottes und Umkehrruf. Taufe und Berufung Jesu kænnen in der prophetischen Tradition verankert werden. Jesus, als Knecht Gottes berufen, tritt in die weltgeschichtliche Berufung Israels zum Knecht Gottes unter den Vælkern hinein. Baeck zeigt, daû auch die Jçnger innerhalb der messianischen Dimension des Judentums lebten. Im Blick auf die Kirchengeschichte des 2. Jahrhunderts bis in die Aktualitåt des Jahres 1938 hinein bestand er darauf, daû die messianische Deklaration von Mk 1, 11 die Jçngergemeinde in eine unauflæsliche Solidaritåt mit dem Judentum band: »Fçr sie begann mit der Taufe die messianische Sendung Jesu, diese seine Sendung, Helfer und Befreier des Volkes Israel zu sein«. Wie einst Franz Rosenzweig die Aufgabe des Christentums als ein Weiterfçhren der Botschaft des Judentums betrachtete, so sah auch Baeck die Kette der Generationen, das zentrale Moment der Toledot im Judentum, durch die alte Ûberlieferung des Evangeliums beståtigt. Baeck kommentiert Mt 1,6-16: »Die Genealogie, welche Jesus als ben Dawid, als Nachkommen Davids, erweisen soll, ist von Matthåus bis Abraham zurçckgefçhrt, um Jesus als Erben der Verheiûung Abrahams darzutun«. Entsprechend schreibt Baeck nach seinem Leidensweg in Theresienstadt in Dieses Volk çber das Buch der Chronik: »Es will alle Geschichte als die Sukzession der Generationen und die Geschichte dieses Volkes als aus der Menschheitsgeschichte hervorkommend aufzeigen«. Die Toledot des Evangeliums, d. h. die Erinnerung an die Reihen21
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folge der Generationen, an die sich unmittelbar der Gedanke der Geschichte im Judentum anknçpft, fçgen sich in diesen Zusammenhang der jçdischen Glaubensgeschichte ein und sind ein Teil davon. Diese Auffassung Baecks wird auch deutlich an seiner Interpretation der Figur des Petrus. Im Simon Kefa betitelten Aufsatz in Aus Drei Jahrtausenden konnte Baeck das Wort aus Mt 16, 18 »Du bist Kepha, auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen« nur als Wort der spåteren Kirche interpretieren. Die innerjçdische Bedeutung des Kephaswortes konnte Baeck damals allerdings noch nicht voll erfassen. Sie wird erst mit Blick auf eine archåologische Entdeckung deutlich, die David Flusser kommentierte. Im Dezember 1990 fand man das Familiengrab des sadduzåischen Hochpriesters Kajaphas und sein Ossarium. Auf der Hinterwand, mit Rosetten verziert, stand der Name des Hochpriesters von Jerusalem in Aramåisch: Kepha. Flusser deutet darum das Jesuswort an Petrus als antisadduzåisch orientiert: »Du, Kepha ± nicht dieser in Jerusalem ± der Fels, auf diesen werde ich meine Gemeinde bauen.« Baecks Rekonstruktion des alten Evangeliums als Urkunde jçdischer Glaubensgeschichte ist der bleibend aufgegebene, historisch wie theologisch notwendige Versuch, das ursprçngliche Evangelium Jesu und von Jesus zunåchst vom pharisåischen Judentum her zu verstehen und zu wçrdigen. Denn Jesus und seine zwælf Schçler vertreten nicht eine Neben- und Randlinie des Judentums, sondern gehæren entscheidend in die zentrale Bewegung seiner pharisåischen Stræmung hinein, die damals in ihrer Mannigfaltigkeit selbst apokalyptische wie auch chassidische Traditionen historisch nicht ausschloû, sondern in sich trug und lebendig çberlieferte. Dabei war Baecks feste Verteidigung des Judentums letzten Endes auch die Verteidigung des authentischen Christentums mit seinen jçdischen Wurzeln. Als solche steht diese Schrift mitten in einer Entwicklung von Baecks Denken im Rahmen seiner Arbeit als Schriftgelehrter und Rabbiner, die vom Beginn seines æffentlichen Wirkens bis zum Ende seiner akademischen Arbeit reicht. So heiût es schon in der Rezension von Harnacks Das Wesen des Christentums: »Man muû die Juden kennen, wenn man das Evangelium verstehen will.« Und noch 1956 schreibt Baeck in Epochen der jçdischen Geschichte : »Gab es eine Geschichte des Judentums in der Kirche«, dann haben Christen »dadurch allein auch einen Weg zum Verståndnis des alten Evangeliums gefunden.« Baeck gelangte in seiner Begegnung mit dem Evangelium als Urkunde der jçdischen Glaubensgeschichte zu einer Offenheit auch 22
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Einleitung
den anderen religiæsen Traditionen gegençber, die Anerkennung und Wertschåtzung nicht nur innerhalb der akademischen Welt fand. Wenn Harnack und andere Theologen sich verschlossen und Baeck nicht hæren wollten, gab es doch viele, die in Baecks Lehre eine Ansprache des ålteren Bruders sehen konnten. In der dunklen Nacht in Theresienstadt fanden so auch die christlichen Gefangenen in Leo Baeck einen Seelsorger und Freund. Seine Zuwendung zu ihnen war mehr als bloûe Mitmenschlichkeit¬. Sein groûes Verståndnis fçr deren Neues Testament bewirkte eine besondere Annåherung. Es lohnt sich, diese intellektuelle Weite Leo Baecks am Beginn des neuen Jahrtausends fçr den Dialog zwischen Juden und Christen neu zur Geltung zu bringen. Dies um so mehr, als in der Stadt, in der Baeck lange wirkte, ein neues Zentrum jçdischen Lebens in Deutschland entsteht. Im Jahr 1999 erwachte das Gebåude der Hochschule fçr die Wissenschaft des Judentums in der Tucholskystraûe zu neuem Leben. Als Leo-Baeck-Haus umgebaut und neu eingeweiht, hat jetzt der Zentralrat der Juden in Deutschland dort sein Bçro. Der American Jewish Congress hat hier ebenfalls ein deutsches Bçro, und andere jçdische Institutionen werden folgen. In Berlin, der neuen Hauptstadt Deutschlands, in der es schon eine Leo Baeck Straûe gibt, entsteht somit unter Baecks Namen eine neue Adresse fçr das deutsche Judentum. Dies sollten auch die wieder aufblçhenden jçdischen Gemeinden in Deutschland zum Zeichen nehmen, da viele ihrer Mitglieder aus anderen Låndern eingewandert sind und wenig von der Geschichte der Juden in Deutschland wissen. Aber auch der Zentralrat kænnte sich daran erinnern, daû in diesem Gebåude die Liberalen und Reformrabbiner Europas von Baeck und anderen Lehrern in die Wissenschaft des Judentums eingefçhrt wurden. Nach drei Jahrtausenden stehen wir immer noch vor der Aufgabe, eine zerrissene, leidende Welt zu træsten. Aus Drei Jahrtausenden bietet uns Hilfe fçr diese Arbeit in einer schweren Zeit. Die Tatsache, daû ganz besonders hier ein ehrlicher, kritischer, aber dann auch heilender Dialog mit dem Christentum fortgesetzt werden kænnte und wird, ist auch ein Teil der Lehre, die uns Baeck in der schwierigsten Periode des Judentums gab. Er schrieb dieses Werk in der vierten Zeitepoche, der er den Namen Hoffnung gab. Sein Weg durch die Jahrtausende jçdischen Schicksals, jçdischer Lehre und jçdischer Belehrung zeigt uns, wie wichtig die Wissenschaft des Judentums war und ist. So kommt der vierte Band dieser Werkausgabe in eine Welt, die Belehrung und Trost braucht. Mæge dieses Buch als ein besonderer Wegweiser fçr die Zukunft erkannt werden. 23
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Literatur
Raummangel ermæglicht hier nur eine kurze Bibliographie; wir verweisen darçber hinaus auf die långeren Literaturlisten zum Werk Leo Baecks und dessen Erforschung, die in den ersten Bånden dieser Werkausgabe zu finden sind. Die hier erwåhnte Literatur bezieht sich weitgehend auf Baecks Kommentar zum åltesten Evangelium. L. Baeck, Harnacks Vorlesungen çber das Wesen des Christentums (1901), in: Werner Licharz (Hg.), Leo Baeck ± Lehrer und Helfer in schwerer Zeit, Arnoldshainer Texte Bd. 20, 1983, 11-34. Ders., Paulus, die Pharisåer und das Neue Testament, Frankfurt 1961, 39-98: Die Pharisåer; 99-196: Das Evangelium als Urkunde der jçdischen Glaubensgeschichte. Ders., Epochen der jçdischen Geschichte (1956), Stuttgart 1974. Ders., Judentum, Christentum und Islam, 1956, 3-19 (unveræffentlicht). K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Mçnchen 1938. H. Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915), in: Werke Bd. X, Hildesheim/Zçrich/New York 1996. R. Deines, Die Pharisåer: Ihr Verståndnis im Spiegel der christlichen und jçdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tçbingen 1997. E. L. Ehrlich, Die Evangelien in jçdischer Sicht, Freiburger Rundbrief Nr. XIV, 1962, 61-88. D. Einhorn, Das Prinzip des Mosaismus und dessen Verhåltnis zum Heidentum und rabbinischen Judentum, 1854, 11 ff. D. Flusser, Jesus, Hamburg 1968, erweiterte englische Fassung, Jerusalem 1997. Ders., Entdeckungen im Neuen Testament, Bd. I, Neukirchen 1987; Bd. II, Neukirchen 1999. Ders., Caiphas in the New Testament, in: Atiqot, Jerusalem 1992, 81-87. A. H. Friedlander, Leo Baeck. Leben und Lehre, Gçtersloh 1996. Ders., Das Ende der Nacht. Jçdische und christliche Denker nach dem Holocaust, Gçtersloh 1995. R. R.Geis, Gottes Minoritåt, Mçnchen 1971.
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Literatur
J. Guttmann, Kant und das Judentum, hg. von der Gesellschaft zur Færderung der Wissenschaft des Judentums, Leipzig 1908, 41-61. Ders., Religion und Wissenschaft im mittelalterlichen und modernen Denken, Berlin 1922 (mit einer Diskussion çber Schleiermachers Philosophie). Ders., Die Normierung des Glaubensgehaltes im Judentum, in : MGWJ, 71. Jg., 1927, 241-255 (mit einer Antwort an Leo Baeck). A. von Harnack, Das Wesen des Christentums (1900), Mçnchen/Hamburg 1964. S. Heschel, Theologen fçr Hitler: W. Grundmann und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jçdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«, in: L. Siegele-Wenschkewitz (Hg.'in), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus, Frankfurt 1994, 125-170. B. Klappert, Brçcken zwischen Judentum und Christentum, in: A. H. Friedlander, Leo Baeck, Leben und Lehre, 1996, 285-328. Ders., Der Midrasch aus Theresienstadt und das Testament Leo Baecks, in: Das Leben leise wieder lernen, FS fçr A. H. Friedlander, hg. von E. W. Stegemann /M. Marcus, Stuttgart 1997, 93-104. Ders., Dialog mit Israel und Mission unter den Vælkern. Dimensionen und Folgen der Israelvergessenheit in Mission und Úkumene, in: Wendung nach Jerusalem. Festschrift fçr Fr.-W. Marquardt, Gçtersloh 1998, 227-255. H. Kremers, Die Ethik der galilåischen Chassidim und die Ethik Jesu, in: Liebe und Gerechtigkeit, Neukirchen 1990, 135-144. N. P. Levinson, Leo Baeck ± Glaube in der Treue zur Wurzel, in: W. Licharz (Hg.), Leo Baeck ± Lehrer und Helfer in schwerer Zeit, Arnoldshainer Texte Bd. 20, 1983, 101-112. R. Mayer, Leo Baeck. Apologet des Judentums, in: Zeit ist's, Gerlingen 1996, 237-242. C. Safrai, Jesus und die Pharisåer, in: M. Stæhr (Hg.), Lernen in Jerusalem. Lernen mit Israel , Berlin 1993, 50-58. Sh. Safrai, The Pharisees and the Hasidim, in: sidic Vol X No 2, Jerusalem 1977, 12ff. P. Schåfer, Die Torah der messianischen Zeit, in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, 1978, 198-213. S. Schreiner, Leo Baeck und das Neue Testament. Anmerkungen zur Methodologie seiner Studien, in: Zwischen Geheimnis und Gebot, 1997, 192-221. E. E. Urbach, The Sages. Their Concepts and Beliefs, Bd. I und Bd. II, Jerusalem 1974. G. Vermes, Jesus der Jude, Neukirchen 1993.
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Vorwort
Der freundlichen, bereitwilligen Anregung des Verlages ist es geschuldet ± und jeder Dank wendet sich einem Menschen zu ±, wenn hier Arbeiten aus anderthalb Jahrzehnten nebst einigen aus frçheren Jahren, durchgesehen, gesammelt erscheinen. Ein Recht hierzu kann davon herkommen, daû sie in ihrer Gesamtheit von einer inneren Einheit zeugen wollen, welche Zeiten verbindet. Drei groûe Zeiten, die wieder ihre Råume umschlieûen, sind in der geistigen Geschichte des Judentums: die der Bibel, danach die der Durchdringung, des »Midrasch«, welcher immer wieder die Bibel ergreift und von ihr immer neu ausgeht, ein ganzes Mittelalter hindurch, und nun die, erst in ihrem Beginne gesehene, der Bahnen einer wiedererwachenden Glaubenskraft. In der Mannigfaltigkeit solcher Tage und Wege, in dem wechselnden Ausdruck, den sich ein nie rastender gedanklicher Kampf bereitet hat, wollen die hier zusammengestellten Abhandlungen das Eigene und damit die Einheit aufzeigen. Alles in dieser Geschichte hat diese strenge Bestimmtheit, Linien des Grundsåtzlichen trennen von anderen Bereichen. Schon die Form der Erkenntnis, die Art des Schauens und Aufzeigens, zumal die, welche sich dem Seienden, Bleibenden zukehrt, ist die besondere. Sie hat nicht das Bildhafte, im Bilde Darstellende von ersten Tagen der Kindheit her, sie hat auch nicht das Begriffliche, in den Begriff Einfçgende, wie dann die Philosophie es oft in die Religion hineingetragen hat. Ihr Eigentçmliches ist etwas, was oberhalb des Bildes und jenseits des Begriffes ist, etwas, was in seiner Richtung als das Hintrachten zum ewigen Sinne, in seiner Gestalt als das Gleichnis bezeichnet werden kann. Ein Bewegtes ist darum immer in ihm, ein Hinausreichen. Das Bild steht da, der Begriff stellt fest, der Sinn mit seinem Gleichnis will immer | wieder entstehen. Er fordert und gibt von seinem steten Werden her das Verståndnis. 27
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Vorwort
Es sind eigene Methoden in diesen Arbeiten versucht worden, mit der Hoffnung, Pfade zu æffnen. Das Einzelne soll hier seinen Platz und seine Bedeutung in dem Ganzen erhalten, das Ganze am Einzelnen begriffen werden. Das Philologische, mit seiner Andacht zum Kleinen, nimmt hier ein weites Gebiet ein, und es mag darin auch eine Rechtfertigung liegen. Frçhere Werke hatten »das Wesen des Judentums« und dann »Wege im Judentum« darzustellen unternommen. Eine Befugnis, vom Ganzen zu sprechen, ist aber nur dann gewåhrt, wenn sich dem Teile, wie gering er sei, eine Sorgsamkeit und Peinlichkeit gewidmet hat.
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GRUNDSØTZLICH ES
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Hat das çberlieferte Judentum Dogmen?
Die Frage ist des æfteren gestellt worden, ob das Judentum in seiner Glaubensform eine Religion ohne Dogmen ist. 1 Wenn sie so selten eine gençgende Antwort gefunden hat, so liegt es daran, daû zumeist das, was zunåchst håtte geschehen sollen, unterlassen worden ist, daû nåmlich verabsåumt wurde, vorerst einmal festzustellen, was unter einem Dogma zu verstehen ist. Wurde so das Wort Dogma fast immer nur in einer redensartlichen Bedeutung gebraucht, so kann es nicht wundernehmen, wenn dann auch die Antwort auf unsere Frage bloû im Unbestimmten oder im Rhetorischen blieb. Daû man dieser Forderung, den Begriff zunåchst einmal zu definieren, meist sich çberhoben geglaubt hat, ist wohl auf eine Art von Tradition zurçckzufçhren. Es ist seit långerem wie eine Ûberlieferung, daû Moses Mendelssohn den Satz aufgestellt hat, das Judentum sei eine Religion ohne Dogmen. Nur sehr bedingt ist dies jedoch richtig. Was Mendelssohn erklårt hat, ist ein anderes, ein viel Umfassenderes. Er spricht es dem Judentum çberhaupt ab, daû es geoffenbarte Religion, im eigentlichen Sinne, sei und erkennt ihm nur geoffenbarte Gesetze und geoffenbarte Geschichtswahrheiten zu. Judentum war ihm reine Vernunftreligion. »Die Religion meiner Våter weiû, was die Hauptgrundsåtze betrifft, nichts von solchen Geheimnissen, die wir glauben und nicht begreifen mçûten. Unsere Vernunft kann ganz gemåchlich von den ersten sichern Grundbegriffen der menschlichen Erkenntnis ausgehen, und versichert sein, am Ende die Religion auf eben dem | Wege anzutreffen«. 2 Ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Ver1.
1 Die Darlegungen des Autors çber das Dogma im Judentum in seinem Buche »Das Wesen des Judentums« 6, S. 5ff., sind in einer Reihe von Aufsåtzen, von Scheftelowitz, Goldmann und Julius Guttmann, in der MGWJ. 1926, S. 65 ff., 433 ff., 440 ff. und 1927, 241 ff., behandelt worden. Zu dem ersteren ist hier Stellung genommen worden.
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Grundsåtzliches
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nunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kråfte dargetan, und bewåhrt werden kænnen ¼ Ich halte dieses ¼ fçr einen wesentlichen Punkt der jçdischen Religion und glaube, daû diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem diese von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben gættliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glçckseligkeit zu gelangen; dergleichen Såtze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und çbernatçrliche Weise geoffenbart worden; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsåtze. Diese offenbart der Ewige uns wie allen çbrigen Menschen allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen ¼ Man hat auf diesen Unterschied immer wenig Acht gehabt; man hat çbernatçrliche Gesetzgebung fçr çbernatçrliche Religionsoffenbarung genommen«. 3 »Eine Geschichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volkes grçnden sollte, und Gesetze sollten hier ± am Sinai ± geoffenbart werden; Gebote, Verordnungen, keine ewigen Religionswahrheiten.« 4 »Die gættlichen Aussprçche hatten nur den Zweck, Israel zum Besitztum Gottes vor allen andern Vælkern zu bestimmen, daû es ihm ein heiliges Volk vor allen Vælkern der Erde sei. In Bezug auf die Vernunftlehren besitzt Israel keinen Vorzug vor den andern Vælkern.« 5 Wenn derart das Gebiet der Offenbarung auf Gesetz und Geschichte beschrånkt wurde, so war im Grunde die Idee der religiæsen Offenbarung beseitigt, das eigentlich Religiæse aus dem spezifisch Jçdischen ausgeschaltet. Das Judentum war zu einer bloûen Addition von Gesetz¬ und deistischer Naturreligion gewor | den. 6 3.
2 Mendelssohn, Jerusalem. Gesammelte Schriften III, 311 f. Die Sperrungen entstammen der ersten Ausgabe von 1783, II, 30 ff. 4.
3 Ebendort, S. 320. 5.
4 Biur zu Ex 20. lkm ªdl ufds jfc fjeju wjmpe lkm elfcol wdhjl wa jk ege tmame ab alf
6.
vfmfae tvjm latuj jnbl xftvjf ldbe xja fntkgu vfjnfjpe vflkufme lkbu ajef taba tuak Ztae jmp
1 Brief Mendelssohns an Elkan Herz vom 23. Juli 1771 in MGWJ. 1859, S. 173: »Wir tun nichts mehr hinzu zu der natçrlichen Religion, als Gebote, Satzungen und grade Vorschriften«. Vgl. Steinheim, Die Glaubenslehre der Synagoge, S. VIII: »Dieser reformierende Rationalismus, der seinen Ursprung bis auf M. Mendelssohn und seine Schule hinauf datiert, hatte, wåhrend die Orthodoxen von dem Mystiker und Mythologen genasfçhrt wurden, çberall seine Tempel aufgefçhrt, in welchen von allem Mæglichen, nur nicht von einer Offenbarung die Rede war.«
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Hat das çberlieferte Judentum Dogmen?
Nur hierdurch hatte Mendelssohn das vereinen zu kænnen gemeint, was er zusammen besitzen wollte: die Freiheit seiner Religions- und Erkenntnislehre und die Entschiedenheit seines Festhaltens am Gesetz und an der Verbindung mit der Gemeinde. Aber die besondere Frage, um die es sich hier handelt, ob es Dogmen im Judentum gebe, bleibt auûerhalb seiner Betrachtung, wenn auch sein Judentum, da es aller Glaubenssåtze entbehrt, selbstverståndlich auch dogmenlos ist. Es ist begreiflich, daû der Widerspruch gegen das Judentum, das er lehrte, sich frçher oder spåter regen muûte, und es ist kennzeichnend, daû er am bestimmtesten von der entschiedenen Reform erhoben worden ist. Da sie alte Bindungen aufgab, wurde es fçr sie erforderlich, um die religiæse Gemeinschaft zu verbçrgen, neue Bindung zu suchen, und ein formuliertes Bekenntnis schien ihr diese zu gewåhren. Es liegt zudem im Wesen der rein rationalen Auffassung von der Religion ± und die Reform ging von einer solchen aus ±, daû man ein System von Glaubenssåtzen, ein Glaubensgebåude zu errichten strebt. Im Gegensatz zu Mendelssohn war man hier daher mehr bereit, eine Verpflichtung zum Glauben als eine Verpflichtung zum Gesetze zuzugestehen. Charakteristisch ist die Schårfe, mit der sich z. B. David Einhorn gegen Mendelssohn wendet: »Behaupten zu wollen, das Judentum habe gar keine bestimmten Glaubenssåtze und verpflichte die Mitglieder seiner Gemeinschaft nicht einmal zur Anerkennung einer seiner Erkenntnislehren, heiût dieser Gemeinschaft allen Grund und Boden, jeden geistigen Mittelpunkt entziehen, und Mendelssohn håtte seiner Sache wahrlich keinen schlechtern Dienst leisten kænnen als durch die Berufung auf das Zeugnis der Geschichte. Das geschichtliche Judentum weiû so wenig von Dogmenfreiheit, daû der Talmud den Leugner der gættlichen Geoffenbartheit selbst eines einzigen Buchstaben der Torah zur | Klasse der bekanntlich nicht eben schonend zu behandelnden Minim zåhlt, und sogar den Noachiden trotz der strengsten Erfçllung der ihnen zukommenden Verpflichtungen das ewige Leben abspricht, wenn sie diese bloû fçr Ausflçsse der Vernunft, nicht aber einer çbernatçrlichen gættlichen Offenbarung halten ¼ Nach dem allen mçssen wir ¼ auf das entschiedenste gegen das Ansinnen protestieren, als ob das Judentum im Widerspruche mit zahllosen Stellen seiner gættlichen Urkunden der Eigenschaft einer geoffenbarten Religion entbehrte und ferner eine Dogmenfreiheit besåûe, in deren Folge keine, wie auch immer beschaffene, religiæse Meinung den innern Zusammenhang mit demselben aufzuheben oder die religiæsen Handlungen ihres Wertes 33
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Grundsåtzliches
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zu berauben vermæchte«. 7 Mit derselben Entschiedenheit kåmpft dann Samuel Holdheim gegen Mendelssohns Theorie. »Die Behauptung, das Judentum sei nur Gesetzgebung und keine Religion, es offenbare nur Gebote, Verordnungen und keine ewige Religionswahrheiten, ist eine solche, die des stårksten Widerspruches gewårtig sein muû ¼ Das Judentum hat nicht nur Gesetze, sondern auch Begrçndungen der Gesetze geoffenbart, und diese Begrçndungen, was sind sie anders als Ideen, Wahrheiten, Lehrsåtze, Dogmen, Religion im eigentlichen Sinne des Wortes! ¼ Das Gebot: Ihr sollt heilig sein! ist freilich nur ein Gesetz. Aber der Grund: »weil ich, der Ewige, euer Gott, heilig bin«, ist eine geoffenbarte Religionswahrheit, ohne welche der Mensch weder tugendhaft noch selig sein kann, und wenn das nicht Religion ist, wissen wir wahrlich nicht, was Mendelssohn unter Religion versteht«. 8 Neben Einhorn und Holdheim tritt dann, allerdings ohne den letzteren zu erwåhnen, Leopold Læw in einem Sendschreiben »Jçdische Dogmen«, 9 das die Frage vor allem auch nach der geschichtlichen | Seite hin behandelt und wichtiges Material hierfçr beibringt. Er fçhrt auch den Begriff der »liturgisch sanktionierten Dogmen« ein, d. i. »solcher Dogmen, welchen in der Liturgie ein Platz eingeråumt ist, und die solchergestalt dem religiæsen Glauben der Synagoge einen prågnanten Ausdruck verleihen«. 10 Angesichts der Tatsache eines reformierten Gebetbuches ist er dann auch so konsequent von einem zwiefachen jçdischen Dogma, einem orthodoxen und einem reformierten, zu sprechen, und er kommt zu dem Ergebnis: »Wie die orthodoxe Liturgie eine treue Dolmetscherin der orthodoxen Dogmen ist, so ist die reformierte Liturgie eine treue Dolmetscherin der Dogmen der Reformation. Beide Liturgien 7.
1 Einhorn, Das Prinzip des Mosaismus und dessen Verhåltnis zum Heidentum und rabbinischen Judentum (1854), S. 11 ff. Vgl. schon Creizenach in Geigers Zeitschrift fçr jçdische Theologie (1835) I, 39 ff. 8.
2 Holdheim, Moses Mendelssohn und die Denk- und Glaubensfreiheit im Judentume (1859), S. 30 f. Eine åhnliche Argumentation hat der Aufsatz von Creizenach a. a. O. Ûber die Notwendigkeit des Bekenntnisses in einer religiæsen Gemeinschaft s. Holdheim, S. 34, 39 und 42 f. Sein Satz von der geoffenbarten Wahrheit, ohne die der Mensch nicht tugendhaft noch selig werden kann, klingt fast augustinisch. 9.
3 »Jçdische Dogmen« (1871) in Leopold Læw, Gesammelte Schriften, I, 133176. Schon vorher (1858) hatte Læw in einem Aufsatz çber »die Grundlehren der Religion Israels« Ben Chananja I, 49 ff. = Gesammelte Schriften I, 31 ff., den gleichen Standpunkt vertreten. Vgl. auch Læw hvqme (1855), S. 330 f. 10.
1 a. a. O., S. 171 f.; der Ausdruck stammt allerdings von dem nicht genannten Theologen, gegen den Læw polemisiert. Vgl. auch schon M. Jol, Zur Orientierung in der Cultusfrage, S. 9ff.
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protestieren laut und feierlich gegen die Doktrin der Dogmenlosigkeit«. 11 In den Ausfçhrungen dieser drei Månner, besonders Læws, ist im wesentlichen alles bereits enthalten, was seitdem gegen die Dogmenlosigkeit des Judentums gesagt worden ist. 12 Fçr sie war der | Widerspruch gegen Mendelssohn ein Stçck des Kampfes fçr ihre Reform; sie wollten ihre Reform durch die Glaubensartikel verbçrgen. Der einzige aus diesem Kreise, der in der Frage der Dogmen eine andere Stellung einnahm, war Abraham Geiger. Er hatte, bevor Læw seinen Brief çber »Jçdische Dogmen« schrieb, ± Læw nimmt bezeichnenderweise darauf nicht Bezug ± seinen Standpunkt dargelegt. Zunåchst in einem kurzen Aufsatz çber »Jçdische Philosophie«; er geht hier als erster auch von einer Definition des Dogmas aus. Er erklårt: »Das Judentum hat nåmlich keine Dogmen, d. h. es hat keine Glaubenssåtze, die von einer die Gesamtheit mit rechtsverbindlicher Kraft vertretenden Versammlung feierlich als ewige, unverbrçchliche Wahrheit verkçndet worden, deren Verleugnung oder Anzweiflung den, welcher sie in Abrede stellt, auûer dem Schoûe der kirchlichen Gemeinschaft versetzt. Eine solche feierliche Ûbereinkunft hat im Judentum nicht Statt gefunden. Wohl sind zu allen Zeiten Såtze als so unzweifelhafte Fundamente des Judentums betrachtet worden, daû 11.
2 a. a. O., S. 174. ± Als besonders charakteristisch dafçr, wie an die Stelle der Bindung durch das Gesetz die Bindung durch Glaubensartikel treten soll, seien einige Såtze aus einem, allerdings mit Widerspruch aufgenommenen, Referat von L. Binstock auf einer Central Conference of American Rabbis angefçhrt: L. Binstock »Dogma and Judaism« in Centr. Conf. Am. Rabbis Yearbook XXXV (1925), p. 261: »And what the Pharisees did with Halachas in their day, we Reform Jews must do with dogmas in our day. If we would preserve Iudaism in all its nobility and purity, we must have Halachas or dogmas that shall be definite and clear so that not only all Israel but all people shall know what we think and believe ± dogmas that shall be issued by an authorized representative body and shall not bei subject to change except by that body ± dogmas that shall be mandatory upon all members of our progressive faith, upon rabbis as well as laymen, ¼ dogmas that shall regulate uniformly and universally the religious belief and practice of every rabbi and layman in Reform Iudaism.« 12.
3 Als besonders wertvoll und reich an historischem Material ist der Aufsatz von Schechter zu nennen: »The dogmas of Judaism« in seinen Studies in Judaism (1896) I, 179 ff. Er schlieût mit den Worten: »It is true that every great religion is a concentration of many ideas and ideals¬, which make this religion able to adapt itself to various modes of thinking and living. But there must always be a point round which all these ideas concentrate themselves. This centre is Dogma.« Vgl. auch Jakob Guttmann, Ûber Dogmenbildung im Judentum (1894), der auch die Frage im wesentlichen historisch behandelt, und Maybaum, Methodik des jçdischen Religionsunterrichts (1896), S. 41 ff.
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man einen jeden, der sie anzweifelte, als einen Kofer ba-ikkar, als einen »Leugner an Grund und Wurzel« bezeichnete, und der Bann, der gegen solche Månner ausgesprochen wurde, war eine Ausschluûerklårung. Allein das Judentum ging in der Feststellung der Såtze wie in der Verfolgung nicht weiter, und zwar nicht etwa, weil es Gedankenfreiheit gewåhrte¬, sondern weil es zu machtlos war«. 13 Zu demselben Schluû kommt er dann 14 in einer ausfçhrlichen Auseinandersetzung mit Jols Schrift »Zur Orientierung in der Cultusfrage«. Jol hatte mit Bezug auf die Frage, welche Stçcke des Gebetbuches »der Ausdruck dogmatischer Vorstellungen sind«, erklårt: »Cultusfragen sind immer nur sekundårer Art. Wo Cultusfragen vorliegen, da mçssen ihnen dogmatische Fragen vorangegangen sein, und nicht bloû dogmatische Fragen, sondern genau genommen schon dogmatische Læsungen«. 15 Demgemåû kam er fçr | das Judentum zu dem Grundsatz: »Jede positive Religion hat gewisse Dogmen, die ihr als feststehend gelten und mit deren Leugnung das Mitglied derselben aufhært, sich zu ihr zu bekennen. Der Satz, daû das Judentum keine Dogmen habe, ist, so unbestimmt gelassen, wie er meist gelassen wird, sicherlich ein unçberlegter. Ohne irgend ein Dogma kann doch wohl keine positive Religion zustande kommen. ¼ Hæchstens låût sich sagen, daû es ± allerdings zum Heile fçr das Judentum ± zu keiner Zeit zu einer von allen als endgçltig anerkannten dogmatischen Fixierung aller Glaubenssåtze gekommen ist.« 16 Geiger wendet sich besonders gegen diesen letzten Satz: »Also ± Dogmen ohne dogmatische Fixierung, Begriffe ohne begriffliche Bestimmtheit, das heiût eben ± Nichts.« 17 Punkt fçr Punkt sucht er dann Jols Ausfçhrungen zu widerlegen. Mendelssohns Lehre lehnt auch er allerdings auf das entschiedenste ab: »Es war freilich ein unglçcklicher Gedanke Mendelssohns, daû er den Satz aufstellte, das Judentum enthalte keine Lehrwahrheiten, sondern lediglich Gesetze, Satzungen. ¼ Das war ein Todesurteil fçr das Judentum, das er zu einem Knochengerçste ohne belebende Seele erklårte. Aber es war zugleich eine grundfalsche Auffassung; denn das Judentum ist gerade mit neuen, 13.
1 Jçdische Zeitschrift fçr Wissenschaft und Leben I (1862), S. 278 f. 14.
2 Ebendort VII (1869), S. 2ff. 15.
3 M. Jol, Zur Orientierung in der Cultusfrage (1869), S. 9 und 13. 16.
1 a. a. O., S. 10. Eine åhnliche Anschauung s. bei Steinthal, Die Idee der Weltschæpfung, Jahrbuch fçr jçdische Geschichte und Literatur II, 43 = Ûber Juden und Judentum, S. 128: »Man hat gefragt, ob die Religion Israels Dogmen habe. Wenn sie Lehrsåtze hat, wenn sie nicht inhaltlos ist, so muû sie wohl Dogmen haben, und die Schæpfungsidee ist ein solches Dogma. Was aber die Religion Israels nicht verlangt, ist die Fixierung des Dogmas in Buchstaben.« 17.
2 Jçdische Zeitschrift VII, 7.
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die ganze Gedanken- und Empfindungswelt umgestaltenden Ideen in die Geschichte eingetreten.« Jedoch an der Abweisung der Dogmen hålt er fest: »Es ist nicht zur dogmatischen Fixierung irgend eines Glaubenssatzes gekommen. ¼ Die Lehre ist als Idee vorhanden, aber eben nicht als Dogma«. 18 Es ist charakteristisch, daû er, der als einziger eine Begriffsbestimmung des Dogmas gegeben hatte, auch der einzige in dieser ganzen Reihe ist, der das Judentum als Religion ohne Dogma versteht. | Aber was ist nun das Dogma? In seinem ursprçnglichen Gebrauch im Griechischen und Lateinischen hat es die Bedeutung: Verordnung, Dekret. So wird es, im politischen Sinne, fçr behærdliche Verfçgungen angewendet ± in der griechischen Bibel ist es so die Ûbersetzung der mannigfachen Ausdrçcke fçr die Erlasse der Kænige von Babylon und Persien; 19 das Evangelium und die Apostelgeschichte sprechen von dem »Dogma« des Kaisers ± und ebenso dann auch, in der Sprache der Philosophie, fçr die Axiome, die Grundsåtze, die gewissermaûen die Dekrete der Erkenntnis sind; so spricht Cicero von »den Dekreten der Weisheit, welche die Philosophen Dogmen nennen«. 20 Als die antike Philosophie das Christentum aufnahm, zur Philosophie des Christentums wurde, nannte sie dessen Glaubenssåtze darum auch Dogmen, coelestis philosophiae dogmata 21 , und unterschied diese Dogmen von den ethischen Såtzen; Gregor von Nyssa z. B. stellt einander gegençber t ¦qikn mro@ und tn t¾n dogmtwn ¤krbeian. 22 Im Mittelalter tritt danach das Wort, wenn es auch gebraucht wird, in der wissenschaftlichen Verwendung zurçck. Erst die Theologie der letzten Jahrhunderte hat es wieder aufgenommen und ihm seine bestimmte, spezifische Bedeutung gegeben. 23 Eine abschlieûende Definition des Begriffes hat die katholische Kirche, die ja das eigentliche Gebiet des Dogmas ist, auf ihrem letz18.
3 a. a. O. 7f. und 9f. Zur Ablehnung der Dogmen im Judentum gelangen auch in wertvollen Darlegungen Schreiner, Die jçngsten Urteile çber das Judentum (1902), S. 68 f. und Felix Perles, Boussets Religion des Judentums (1903), S. 115 ff. 19.
1 So Dan 2, 13, 3, 10, 3, 12 und passim; vgl. Aquila zu Deut 33, 2 und Symmachus zu Hab 1, 7. 20.
2 Cicero, Acad. Quaest. 2,27: Sapientia neque de se ipsa disputare debet neque de suis decretis, quae philosophi vocant dogmata, quorum nullum sine scelere prodi potest. 21.
3 Vincentius von Lerinum, commonitorium 29. Cf. Diognetbrief 5,3: dgma ¤njr
pinon. 22.
4 ep. 24. 23.
5 Karl Hase, Hutterus redivivus 2, 18 f.; P. Lobstein, Einleitung in die evangelische Dogmatik, S. 7ff.
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ten Konzil festgestellt: »Mit gættlichem und katholischem Glauben ist alles das zu glauben« ± d. h. der von Gott gebotene und von der Kirche gelehrte Glaube fordert, alles das zu glauben ± »was im geschriebenen oder çberlieferten Worte Gottes enthalten ist und von der Kirche, sei es in feierlicher Entscheidung oder im gewæhnlichen und allgemeinen Lehramt, als gættlich geoffenbart vorgelegt wird«. 24 Dieser Satz gewåhrt in der Tat die deutliche und | genaue Bestimmung des Dogmas. Folgende Merkmale werden ihm als wesentliche zuerkannt: Zunåchst, daû es einen Offenbarungsinhalt darbietet, sei es, daû dieser einer inspirierten Schrift, oder einer inspirierten Tradition entnommen ist. Des weiteren, daû eine ordnungsmåûige Entschlieûung der Kirche, eine propositio ecclesiae, vorliegt, daû also die zur Entscheidung und Verpflichtung befugte Autoritåt dahintersteht; zu der revelatio muû die propositio hinzutreten. Und endlich, was die propositio ja in sich schlieût, daû der Satz seine pråzise begriffliche Form hat. Im groûen und ganzen die gleiche Definition gibt die protestantische Theologie. So H. H. Wendt in seinem »System der christlichen Lehre«: »Der Begriff Dogma¬ in seinem strengen Sinne bezeichnet einen zum christlichen Glauben gehærigen, begrifflich ausgeprågten, in der kirchlichen Gemeinschaft zu autoritativer Geltung erhobenen Lehrsatz«. 25 So Rade in seiner »Glaubenslehre«: »Ein Lehrsatz, hinter dem obrigkeitliche Gewalt steht. Gleichviel ob von staatlicher oder kirchlicher Obrigkeit. Dies allein ist der Vollbegriff des Dogmas«. 26 Øhnlich auch Troeltsch. Er nennt Dogma »die Lehrsatzungen, welche die Kirche in ihren groûen Lehrkundgebungen seit 24.
6 Vatikanisches Konzil, Sessio III. c. 3: Fide divina et catholica ea omnia credenda sunt, quae in verbo Dei scripto vel tradito continentur, et ab Ecclesia sive solemni judicio sive ordinario et universali magisterio tanquam divinitus revelata proponuntur. 25.
1 H. H. Wendt, System der christlichen Lehre (1907), S. 13. Øhnlich Matthew Arnold, Literature and Dogma (angefçhrt von L. Binstock, a. a. O., S. 250): »Dogma means not necessarily a true doctrine but merely a doctrine or system of doctrine determined; decreed; received.« 26.
2 Martin Rade, Glaubenslehre I (1924), S. 4. Vgl. ebenda, S. 9. Vgl. auch schon Baur, Geschichte der christlichen Kirche II 2 (1863), S. 217: »Hat der Streit diese Wendung genommen, so tritt die siegende Partei in der Form einer allgemeinen Synode zusammen und erhebt ihre Meinung zu einem Beschluû der katholischen Kirche. Die Kirche ist es also, welche die letzte und hæchste Entscheidung gibt; in ihr liegt daher auch das Prinzip der Wahrheit, was sie fçr wahr erklårt, muû allgemein als Wahrheit anerkannt werden; nicht dadurch aber wird es zur Wahrheit, daû sie es dafçr erklårt, sondern sie selbst kann nur aussprechen, was an sich schon objektiv als Wahrheit vorhanden war.«
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dem nizånischen Konzil offiziell formuliert hat, zugleich auch die nur in Ûberlieferungen und Gemeingeist enthaltenen allgemein anerkannten Lehrstçcke«. 27 Er fçgt demgemåû dann auch | hinzu: »Der alte Protestantismus hat in diesem Sinn kein Dogma, da er nicht auf Konzilien und auf Tradition zurçckgeht, auch keine unfehlbare Instanz zur Fixierung besitzt«. 28 Øhnlich, nur indem er vorerst auf die begriffliche Ausprågung den Nachdruck legt, definiert auch Harnack: »Die kirchlichen Dogmen sind die begrifflich formulierten und fçr eine wissenschaftlich-apologetische Behandlung ausgeprågten christlichen Glaubenslehren, welche die Erkenntnis Gottes, der Welt und der durch Christus geschehenen Erlæsung umfassen und den objektiven Inhalt der Religion darstellen. Sie gelten in den christlichen Kirchen als die in den heiligen Schriften (beziehungsweise auch in der Tradition) enthaltenen, das Depositum fidei umschreibenden Wahrheiten, deren Anerkennung die Vorbedingung der von der Religion in Aussicht gestellten Seligkeit ist. ¼ Die begriffliche Formulierung gehært zum Wesen des Dogmas.« 29 Aber auch er betont das Erfordernis einer dogmenbildenden Autoritåt; als Voraussetzungen des Dogmas bezeichnet er: »das unfehlbare Lehramt der Kirche, die unfehlbare apostolische Lehre und Verfassung und ¼ den unfehlbaren apostolischen Schriftenkanon«. 30 So besteht auch hier Ûbereinstimmung darçber, daû der Begriff Dogma wesentlich bestimmt sei durch die Endgçltigkeit der Formulierung, die kirchliche Autoritåt und den Offenbarungsinhalt sowie den darin gegrçndeten Besitz des rechten Glaubens und des Heiles. 31 27.
3 Diese letzteren bezeichnet Troeltsch in den »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« (1912), S. 209, genauer als »latente Dogmen«; er versteht darunter Lehrsåtze, bei denen alle Voraussetzungen ihrer offiziellen Formulierung und Proklamierung vorhanden waren, die aber noch nicht promulgiert sind. 28.
1 Troeltsch in »Religion in Geschichte und Gegenwart« II (1910), S. 105. Vgl. Soziallehren, S. 172: »Durch die Theokratie hat sie ± sc. die Kirche ± Einheit des Dogmas und Einheit des Kirchenrechts erst erlangt, die ohne Konstantin nie gekommen wåre und von der Gewalt des Staates, nicht von der immanenten Logik der dogmatischen Idee erzwungen worden ist.« 29.
2 Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I 4 (1909), S. 3. 30.
3 a. a. O., S. 9, Anm.; vgl. S. 16. Vgl. auch Wilhelm Herrmann, Christlich-protestantische Dogmatik in »Kultur der Gegenwart« I, 4 (1906), S. 583 f.; fçr ihn ist »der Gedanke einer geoffenbarten Lehre das Wichtigste im Dogma«, hierzu tritt dann »die von den kirchlichen Autoritåten getroffene Festsetzung«. Vgl. auch Horst Stephan, Glaubenslehre (1920), S. 10 f. 31.
4 Vgl. L. Baeck, Wesen des Judentums 6 S. 5: »Dieses ± das Dogma ± ist erst vorhanden, wenn in festen Begriffen die bestimmte Formel geprågt und diese dann von einer eingesetzten maûgebenden Autoritåt fçr verbindlich erklårt
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Daher erscheint die Definition, die kçrzlich ein Aufsatz von | Scheftelowitz gab: »Dogmen sind unumstæûliche Glaubenslehren, von deren Anerkennung die Rechtglåubigkeit abhångt« 32 als unzureichend. Denn es fehlt zunåchst die Feststellung dessen, wodurch ein Glaubenssatz, im Unterschied von anderen, 33 den Charakter der Unumstæûlichkeit erhålt, wer also das dogmenbildende Subjekt ist. Und es fehlt des weiteren das wesentliche Merkmal, das in der begrifflichen Formulierung besteht. Ungenau ist es wohl auch, hier von der »Anerkennung« der Glaubenslehren zu sprechen, von der »die Rechtglåubigkeit abhångt«. Die Anerkennung wird durch die spruchbefugte Autoritåt vollzogen; der Rechtglåubige vollzieht nur, auf Grund dieses Spruches der Autoritåt, die gehorsame glåubige Annahme, so daû die katholische Kirche sich zumeist mit der bloûen Unterwçrfigkeit, der fides implicita, begnçgt. Steht die Definition fest, so ist die Frage, ob das Judentum Dogmen habe, im eigentlichen schon beanwortet. Und nur um diese Frage handelt es sich ja. Denn daû das Judentum, im Gegensatz zu dem, was Mendelssohn behauptete, eine geoffenbarte Religion ist, daû es seine eigenen charakteristischen Glaubenslehren hat, fçr die, zumal in Zeiten geistiger Auseinandersetzung, der besondere Ausdruck immer wieder gesucht und die Grenzen immer neu abgesteckt wurden, wird wohl von niemandem mehr in Frage gestellt. Niemand bezweifelt, daû das Judentum sich eine Offenbarung und eine Heilige Schrift zuerkennt, daû es den einen einzigen Gott verkçndet und in der Erfçllung seines Gebotes den Sinn des Menschentums findet, daû es die bildlose Verehrung Gottes fordert, daû es die Reinheit der Seele und die Versæhnung predigt und ein Leben im Ewigen verheiût, daû es vor den Menschen den Nebenmenschen hinstellt, daû es die Auserwåhlung Israels lehrt und, als deren Verwirklichung auch, das messianische Ziel, die Zukunft, aufzeigt. Niemand bezweifelt, daû das dem Judentum, und keiner anderen Religion in gleicher Weise, eigentçmlich ist. Der Widerspruch richtet sich nur dagegen, daû das Judentum Dogmen besitzen soll. Und er grçndet sich auf das, was allein ein Dogma in seiner bestimmten Bedeutung ist. | Aus ihr ergibt es sich, daû das Judentum Dogmen schon deshalb nicht besitzt, weil ihm die Behærde gefehlt hat, die befugt gewesen wird, um den Heilsbesitz zu bezeichnen, in dessen Annahme die Rechtglåubigkeit und die Seligkeit bedingt sind.« 32.
1 MGWJ. 1926, S. 66. 33.
2 Vgl. auch die Unterscheidung, die z. B. Luther machte, De capt. Babyl. eccl. (ed. Clemen I 438): quod sine scripturis asseritur aut revelatione, opinari licet, credi non est necesse.
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wåre, Glaubenssåtze als Dogmen zu verkçnden, und imstande gewesen wåre, sie als solche durchzusetzen. Allerdings, und dieser Einwand wird erhoben, 34 bestand mehrere Jahrhunderte hindurch das Synhedrium, in welchem sich alle Autoritåt, im Namen der Gesamtheit zu sprechen, damals vereinigte. Daû aber das Synhedrium keine »unumstæûlichen Glaubenslehren« aufstellen konnte, ist eigentlich schon dadurch dargetan, daû seine Entscheidungen, prinzipiell, als umstæûlich, als abrogierbar galten, 35 wåhrend es im Wesen der Autoritåt, welche Dogmen schafft, doch liegt, daû deren Entscheidungen, prinzipiell, als endgçltig erachtet sind. 36 Dazu kommt, daû wir çber solche »vom Synhedrium festgelegten Bestimmungen« kaum unterrichtet sind, wåhrend es fçr das Dogma gerade unerlåûlich ist, daû es als solches promulgiert wird. Und einen Satz der Mischna schlechthin als eine »vom Synhedrium festgelegte Bestimmung« zu erklåren, geht wohl auch kaum an. In der Mischna allerdings steht der Satz, der den Anteil am ewigen Leben denen abspricht, welche leugnen, »daû die Lehre von der Auferstehung biblisch, und daû die Torah von Gott ist«. Kennzeichnend ist schon, daû er neben sie, wie sie des ewigen Lebens nicht teilhaft, alsbald so wenig umrissene Gestalten hinstellt, wie den Epikuråer und, nach dem Urteil Akiwas, dann auch noch den, welcher nichtbiblische Schriften liest, und den, welcher im Namen Gottes Wunden bespricht. 37 Vor allem aber ist dieser Satz mit åhnlichen zusammenzuhalten, wie mit dem in der Mischna, der in noch schårferer Form das ewige Leben denen aberkennt, die »çber das, was droben und was drunten ist, was vordem gewesen und was einst sein wird, spekulieren und so ohne Ehrfurcht sind gegençber der Glorie Gottes«. 38 Der Vergleich schon zeigt, daû es sich hier | nicht um »vom Synhedrium festgelegte Bestimmungen« und nicht um Dogmen handelt, sondern nur um den Ausdruck der Verdammung von Lehren, Richtungen und Bråuchen, die man damals fçr verwerflich hielt. Jedoch wohl noch charakteristischer ist ein anderer Satz, den die Gemara çberliefert. Er bietet in der Tat einen, von einer spruchbefugten Au34.
1 Scheftelowitz a. a. O., S. 66: »Meine Untersuchung baut sich nicht auf Ansichten einzelner Rabbiner auf, die gewæhnlich keine Gesetzeskraft erhielten, sondern vornehmlich auf den vom Synhedrion festgelegten Bestimmungen.« 35.
2 Edujot I, 5, cf. V, 7. 36.
3 Vgl. Harnacks Auseinandersetzung mit Seeberg in Dogmengeschichte I 4 S. 7, Anm. 37.
4 Ssanhedrin X, 1. 38.
5 Chagiga II, 1, Der Ausdruck fnfs dfbk lp oh al ist terminus technicus fçr diese verbotenen Spekulationen geworden. Vgl. Bereschit rabba I, 7 und Jer, Chagiga 77c. Vgl. dort auch den entsprechenden Terminus: onfq.
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toritåt durch besonderen Beschluû festgelegten Glaubensartikel; auf ihn håtten sich die Anhånger der Dogmenlehre vor allem berufen sollen, und es ist befremdlich, daû sie ihn immer mit Stillschweigen çbergehen. Es ist der Satz, der den Pessimismus zur Glaubenslehre machen will: »Man hat abgestimmt und beschlossen: Besser wåre, der Mensch wåre nicht geschaffen worden«. 39 Er erfçllt eine wesentliche Voraussetzung des Dogmas, aber gerade er zeigt freilich, daû im Judentum auch die »Mehrheit der Religionshåupter, die eine Autoritåt bilden«, 40 noch kein Dogma schafft. Aber auch abgesehen hiervon, wie weit das Synhedrium und wie weit die Mischna in bezug auf den Glauben Bestimmungen treffen wollten, fehlt in jener Zeit ein fçr die Gestaltung von Dogmen Unerlåûliches: die genaue Formulierung von Glaubensbegriffen. So eindringlich und bis ins Kleinste gehend sich eine Bildung von Begriffen auf dem Gebiete der Halacha auswirkte, so sehr fehlt sie auf dem der Haggada. Eine Ausprågung von Glaubenssatzungen in Begriffen hat sich in der vorderasiatisch-europåischen Welt immer nur in dem unmittelbaren Zusammenkommen der Religionen mit der griechischen Philosophie vollzogen. Daher finden wir bei Philo solche Formung von Begriffen, die gewissermaûen das Material fçr Dogmen bieten kænnten, 41 aber wir haben sie nicht im palåstinensischen Judentum, da hier die Beziehung zur griechischen Philosophie nur eine fernere und gelegentliche war. Darum finden wir sie dann wieder bei den mittelalterlichen jçdischen Denkern, und es ist so kein Zufall, daû hier die Aufstellung von Glaubensartikeln einsetzt. Aber um sie zu Dogmen werden zu lassen, dazu fehlte jetzt die Glaubensbehærde, ganz wie um | gekehrt in der Zeit des Synhedriums und des konstituierten Lehrhauses, wo vielleicht eine spruchbefugte Autoritåt dasein konnte, die geprågten Begriffe gefehlt hatten. Beide Voraussetzungen, das Bestehen einer Glaubensbehærde und die Begriffsbildung, die sich auf das depositum fidei hin richtet, zusammen waren in der alten vorderasiatisch-europåischen Welt nur in der Kirche 42 gegeben, und es trifft daher ein Entscheidendes, wenn Har39.
1 Eruwin 13b. 40.
2 MGWJ a. a. O., S. 67. 41.
3 Vgl. auch die fçnf Glaubenssåtze, welche Philo am Schluû seiner Schrift de opificio mundi (§ 170 f., I, 41 f. Mg.) aufstellt. Vgl. auch Mendelssohn, Betrachtungen çber Bonnet's Palingenesie, Ges. Werke III, 164, çber die drei Hauptgrundsåtze der israelitischen Religion. 42.
1 Ûber die dogmatische Eigenart des Islam, besonders das Prinzip des consensus, des idschm', s. Goldziher, Die Religion des Islam, in Kultur der Gegenwart I, 3, 1, S. 105 ff. und 109 ff.
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nack hervorhebt: »Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums« 43 ± nur sollte statt von dem Evangelium genauer von den neutestamentlich-paulinischen Gedanken gesprochen werden. So ist historisch das Dogma etwas spezifisch Christlich-Kirchliches. Aber nicht nur historisch, sondern wesentlich. Das Dogma gehært der Kirche als solcher zu, und so wird die Frage, ob das Judentum Dogmen besitze, zu der andern Frage, ob ihm der kirchliche Charakter zukomme. Es ist das Eigentçmliche der Kirche, als der gættlichen Institution der Heilsvermittlung, daû sie, aber nicht der einzelne in ihr, das eigentliche Subjekt des Glaubens ist. Die Kirche glaubt, und die einzelnen glauben diesen Glauben der Kirche; sie glauben, wie jener oben angefçhrte Satz sagt, fide catholica, sie glauben, weil es der Glaube der Kirche ist. 44 Weil so die Kirche allen, die in ihr sind, den Glauben bestimmt, muû sie das Dogma, diesen autoritativen, unverbrçchlichen Ausdruck des Glaubens aller, dieses quod ubique, quod semper, quod ab omnibus feststellen. Es gibt keine wahre Kirche ohne Dogmen. Und die Tradition, die von ihr verbçrgt ist und von der sie selber verbçrgt wird, ist darum Tradition der Dogmen, Tradition des rechten Glaubens; nur was Dogma ist oder, als latent, Dogma werden kann, ist wahre Ûberlieferung. 45 Das Judentum hat nie eine Kirche gebildet, es hat seinem Wesen nach die Gemeinde gestaltet. In der Kirche steht die glaubende | Kirche, begrifflich, am Anfang, in der Gemeinde der Glaube des einzelnen. Jeder einzelne ist hier, in dem Recht und mit der Pflicht, der Tråger des Glaubens. Und darum ist hier auch der einzelne, nicht eine Kirche, Tråger der Tradition, und diese ist darum hier auch nicht eine bloûe Ûberlieferung von Såtzen, sondern sie schlieût die Forderung des Forschens in sich; dem Besitzen geht hier das Suchen voran. Dieses Gebot des Forschens ist der Widerspruch gegen das Dogma. Dem tradierten Dogma gegençber wçrde das Forschen im jçdischen Sinne zur Sçnde gegen die Kirche. Wenn so die Kirche das Dogma hat, so liegt der Grund noch tiefer. Er liegt darin, daû die Kirche, als Hçterin des Sakraments, die Bewahrerin der Erlæsung ist. Wo die Erlæsung, die vom Sakrament bedingt ist, verheiûen wird, wo so durch den Besitz der Sakramente das 43.
2 Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I 4, 20. 44.
3 Vgl. L. Baeck, Romantische Religion, S. 75 ff. 45.
4 Vgl. Baur, Geschichte der christlichen Kirche, II 2, S. 217: »Tradition und Kirche sind somit, wenn man nach dem Prinzip der dogmatischen Wahrheit fragt, identische Begriffe; was von dem einen dieser Begriffe gilt, gilt auch von dem andern.«
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Heil gewåhrt sein soll, dort ist das Dogma ein Unentbehrliches; denn dort muû, was das Sakrament bedeutet, in bestimmter begrifflicher Darbietung vor den Glåubigen hingefçhrt werden. Ein kirchliches Sakrament kann nicht ohne ein Dogma dargestellt sein. Dieses Heil verlangt das Wissen vom Heil; jede Erlæsungsreligion verlangt die Gnosis, die Erkenntnis des Erlæsungsgeheimnisses; der Irrtum wåre hier der Tod. So muû dem Glåubigen das endgçltige, das unverbrçchliche Wissen, eben das Dogma dargereicht sein. Wie das Sakrament, so soll auch das Dogma empfangen sein. Und dort, wo dieses Empfangen des Dogmas, als des Wortes Gottes, wie im Protestantismus, seine besondere Bedeutung gewinnt und die Religion so ganz eigentlich zur Konfession wird, dort wird die Formulierung des Glaubensgutes vielleicht noch mehr ein Entscheidendes. Das Glaubensbekenntnis tritt in den Mittelpunkt der Religion. Hier ist es nicht etwa, wie in den dreizehn Artikeln des Maimonides, die volkstçmliche Zusammenfassung des Ergebnisses der Religionsphilosophie. Hier ist es vielmehr das, was real die Zugehærigkeit zur Kirche dartut, hier ist es das Mittel, in dem der Glåubige das Heil empfångt. Das Glaubensbekenntnis ist hier ein Unerlåûliches, in ihm wird die Konfession ihrer selbst gewiû. Hiermit ist auch wohl der innerste Grund aufgezeigt, weshalb so manche Vertreter gerade der Reform dafçr bemçht waren, dem Judentum Dogmen zuzuerkennen. Sie wollten ihr Judentum zu | einer jçdischen Konfession machen, daû es als solche den Platz neben den christlichen Konfessionen håtte. Und sie wollten darum ihre jçdischen Glaubensartikel formulieren, um dadurch, aber dadurch allein, ihre jçdische Konfession von den andern zu unterscheiden. Um dessentwillen haben sie ein ganz Wesentliches der Unterscheidung darangegeben, daû nåmlich das Judentum keine Kirche und keine bloûe Konfession ist und daher auch keine Dogmen hat. Aus seinem Sinn fçr das eigentçmlich Jçdische heraus, den er auch sonst bewåhrt, hat Geiger daher im Widerspruch zu manchen, mit denen er sonst zusammenging, die jçdischen Dogmen abgelehnt. Und wie sehr Mendelssohn durch seine Lehre, daû das Judentum keine geoffenbarte Religion sei, in die Irre gefçhrt worden ist und die, die ihm folgten, in die Irre fçhrte, darin ist er auf dem rechten Wege gewesen, daû er es ablehnte, im Judentum eine Kirche und ihr Bekenntnis zu suchen. An den Platz, den anderwårts die Dogmatik einnimmt, ist im Judentum die Haggada ± jene vermeintlich dogmatischen Såtze der Mischna sind in Wirklichkeit haggadische Såtze ± und dann die Religionsphilosophie getreten. Das Forschen erstreckte sich immer 44
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Hat das çberlieferte Judentum Dogmen?
auch auf die Lehre. Und es durfte so sein, denn die Prinzipien galten immer mehr als der Ausdruck. Man ertrug nicht nur nebeneinander den Rambam und den Rawed, sondern stellte sie unmittelbar zueinander; man machte ihrer beider Buch wie zu einem Buche. Vielleicht ist es der stårkste Erweis fçr die innere Kraft des Judentums, daû in allem Forschen und Suchen, in allem Wandel der Zeiten, obwohl die Glaubensbehærde fehlte, die Glaubensprinzipien doch immer aufgerichtet blieben, daû man an ihnen sich immer wiedergefunden hat. Ohne die åuûeren Stçtzen standen sie fest. Die Lehre trug in sich, ganz wie die Gemeinde des Judentums, um ein vielgenanntes Wort abzuwandeln, das starke Ferment der Komposition.
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Von denen, die einen Weg zu dem wesentlichen Gedankengehalt des Judentums suchen, wird oft das Verlangen und in ihm die Hoffnung ausgesprochen, durch eine Theologie des Judentums einen solchen Weg zu besitzen. So unbestimmt und auch unklar sich dieser Wunsch zumeist darbietet, so kommt in ihm doch unverkennbar eines zum Ausdruck, ein Begehren nåmlich, den Historismus, der das Jahrhundert beherrschte, zu çberwinden und aus dem Relativismus, den er brachte, einen Ausgang zu finden. Uns tritt hierin etwas entgegen, was sich heute nicht in jçdischem Denken allein oder auch nur in ihm mehr oder vornehmlich regt. Es kænnte im Gegenteil scheinen, als sei dies alles hier von andersher zum mindesten beeinfluût, vor allem von einem protestantischen Schrifttum unserer Tage. Im deutschen Protestantismus ist jenes Streben und Sehnen seit långerem lebendig, und es hat dort eine neue, die »dialektische« Theologie geschaffen. Von Mannigfachem her hat sie ihre Eigentçmlichkeit und Kraft gewonnen: so von der calvinistischen Einsicht in das Besondere des Alten Testaments und demgemåû der Erneuerung alttestamentlichen Denkens, 1 so von der Erfahrung des Undogmatischen in der Religion, von dem Erlebnis dieser letzten Unmæglichkeit, das Unaussprechbare aussprechbar zu machen, dieser Paradoxie und dieser »Dialektik« aller religiæsen Aussage, so von der Erschlossenheit sowohl fçr das, was jenseits aller Kausalitåt ist, fçr den religiæsen Gedanken der Schæpfung, wie fçr das, was jenseits aller Ethik ist, fçr den religiæsen Gedanken des Gerichts, so von dem deutlichen Verståndnis fçr die Spannung von Gegenwart und Zu | kunft, von Abhångigkeit und Freiheit, fçr die 1.
1 Vgl. Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, S. 18 ff., S. 70 ff.; Emil Brunner, Die Bedeutung des Alten Testaments fçr unseren Glauben, in »Zwischen den Zeiten« VIII, 30 ff.
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Geltung, die im Religiæsen der »Heiligkeit« Gottes und der »Heiligung« des Menschen zukommt. Und es ist nicht zu verkennen, wie vieles in dem allen vom Judentum her und zum Judentum spricht; es ist auch beachtenswert, daû sich in manchem hier einzelne Gedanken Hermann Cohens, auch seine Terminologie, 2 fortsetzen. Aber hinter allen diesen wichtigen Motiven steht bestimmend die Not des Historismus, das starke Bedçrfen, von ihm frei zu werden. Auch sonst hat sich dieses selbe im Protestantismus der Gegenwart aufgezeigt, wie in der »Theozentrischen Theologie« Erich Schåders 3 und der nun çblichen Gegençberstellung der »Theologie von oben her«, und der »Theologie von unten her«, der von Gott her und vom Menschen her, in Martin Dibelius' Versuch, Geschichtliches und Ûbergeschichtliches in der Religion zu scheiden, 4 in Tillichs Lehre vom »Kairos«, der Gotteszeit, dem epochemachenden Moment, die dem einzelnen geschichtlichen Ort absolute Bedeutung geben will. 5 Der ganze Gegensatz wird deutlich, wenn man gegençber allem diesem sich Harnacks »Wesen des Christentums« vergegenwårtigt, in dem die herrschende evangelische Theologie am Ende des Jahrhunderts die Summe ihrer Arbeit gezogen zu haben schien; hier war das Wesen des Christentums am letzten Ende doch nichts anderes gewesen als eine Darstellung des Werdens und Wandelns des Evangeliums. 6 Es ist begreiflich, und es war ein Notwendiges, wenn sich dieser Widerstand dagegen erhob, daû das Denken insgesamt ein historisches wçrde, daû derart vielfach an die Stelle der Wirklichkeit der Religion die Geschichte der Religion, an den Platz des Inhalts der Bibel eine Geschichte von der Entstehung der Bibel tråte. 7 Besonders von dem Bedçrfnis aus, maûgebende Werte festzuhalten, wurde dieser Widerspruch lebendig: denn alles das, was normative Geltung beanspruchen will, ist in Frage gestellt, | wird ein Bedingtes, wenn es in eine Entwicklung, in eine Reihe von Erscheinungen eigener Norm aufgelæst wird; Evolution bedeutet immer Relativitåt. Vor allem von der Religion her konnte und muûte es so empfunden wer2. 3. 4. 5. 6. 7.
Gerhard Krçger, ebendort V, 139 ff. Erich Schaeder, Theozentrische Theologie I, 1909, II 1914. Vgl. Elert, Der Kampf um das Christentum, S. 457 ff.
3 Martin Dibelius, Geschichtliche und çbergeschichtliche Religion im Christentum, 1925.
4 Paul Tillich, Kairos und Logos in »Kairos I«, 1926.
5 Wenn auch nur der II. Teil die Ûberschrift trågt »Das Evangelium in der Geschichte«, so ist doch auch der I. Teil wesentlich historisch gerichtet.
6 Vgl. Karl Barth, Der Ræmerbrief, Vorwort zur zweiten Auflage (1922), S. IX ff.
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den, um so mehr, als nun auch das eigentçmlich Irrationale innerhalb der Geschichte vom Religiæsen aus, vor allem durch Rudolf Otto, dem Verståndnis nahegebracht wurde und damit der Begriff der Entwicklung und der Geschichte auch eine Verånderung erfuhr. Die »Krisis des Historismus« kennzeichnet das Denken der letzten Generation bis ins Politische, vielleicht bis ins Wirtschaftliche hinein. Der Mann, der eindringlich von dieser Krisis gesprochen hat, Ernst Troeltsch, hatte auch den Versuch unternommen, den Historismus zu »çberwinden«. 8 Er wollte dies dadurch erreichen, daû er ihm vorerst zu seiner letzten Entschiedenheit hinleitete. Er wollte den Ausweg verbauen, den sich im Gefolge Hegels die idealistischevolutionistische Richtung der protestantischen Theologie bereitet hatte: die »Absolutheit« des Christentums geschichtlich zu erweisen, »auf rein historische Weise die Geltung und Bedeutung des Christentums in einem Sinne darzutun, der hinter der Selbstgewiûheit der altkirchlichen Lehre nicht zurçckbleibt«. 9 Im Namen der Geschichte wandte sich Troeltsch gegen diese »absolute Religion«, in der die andern Religionen ihre Erfçllung fånden, zu der sie als Vorstufen, als noch unvollkommene Formen der Wahrheit von Gott hinfçhrten; fçr ihn widerspricht der Begriff der absoluten Religion, dieser geschichtlichen Verwirklichung eines Allgemeinbegriffes dem Wesen der geschichtlichen Wirklichkeit, die nur begrenzte, individuelle Erscheinungen kenne ± ganz abgesehen davon, daû der »Regenbogen« jener historischen Konstruktionen »nur auf dem Nebel einer noch sehr unbestimmten historischen Erkenntnis leuchten konnte«. 10 Und auch das, was die Ritschl'sche Schule fçr diese absolute Religion ihrer Vorgånger einzusetzen suchte, der »individuell-historische« Anspruch auf absolute, normative Geltung, den das Christentum gegençber anderen Religionen vermæge seiner besonderen historischen Erscheinung erheben dçrfte, auch dieser abgeschwåchte Supra | naturalismus sei geschichtlich haltlos; denn er komme nur durch eine Zweideutigkeit zustande, dadurch nåmlich, daû von vornherein jede nichtchristliche religiæse Erscheinung als nur geschichtlich und damit relativ, das Christentum dagegen als nicht nur geschichtlich, als eine absolute Offenbarung erachtet wçrde. 11 Es ist Troeltschs groûes Verdienst, daû er gegençber solchen Halbheiten und Doppelsinnigkeiten des Geschichtsgedankens ihn in sei8.
1 Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus in »Neue Rundschau«, XXXIII, S. 573 ff.; derselbe: Der Historismus und seine Ûberwindung (1924). 9.
2 Derselbe, Die Absolutheit des Christentums, S. 23. 10.
3 Ebendort, S. 41. 11.
1 Troeltsch, Gesammelte Schriften II, 736 ff.
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ner ganzen Bestimmtheit und Allgemeingçltigkeit festgehalten wissen wollte. Eine Theologie in dem bisherigen Sinne erscheint ihm unmæglich; fçr »die Normen der Lebensgestaltung« sei nur diese Eindeutigkeit faûbar, »bleibe nur die Geschichte als Quelle und die Geschichtsphilosophie als Læsung«. 12 So durchaus bedeutet ihm die Geschichte alles, daû sie »einen an der Grenze aller Wissenschaft liegenden Gedanken« erfordert, der »erst den letzten Abschluû und Hintergrund aller Historie bildet« und »allein dafçr bçrgt, daû die Bewegung historisch-individueller Wirklichkeiten doch in einer letzten Einheit ruht«. 13 Seine umfassende Philosophie der Geschichte reicht an eine Geschichtsmystik hin; er steht nicht an, »mit allem Nachdruck zu betonen: die Historie geht derart an ihren Råndern in einen mystischen Hintergrund des Alllebens zurçck, und nicht einmal die Selbståndigkeit ihrer Logik und Methode wåre ohne das aufrechtzuerhalten«. 14 Von da aus hat Troeltsch ein Dreifaches formen wollen, das an gewisse Motive und Gestaltungen der jçdischen Mystik erinnert: den Begriff der »individuellen Totalitåt«, einer »wesenhaften und individuellen Identitåt der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste«, 15 kraft deren Historisches und Normatives, Faktisches und Seinsollendes ineinander sind; sodann die Lehre von der »Erkenntnis des Fremdseelischen«, die gegeben ist, »weil wir das Fremdseelische vermæge unserer Identitåt mit dem Allbewuûtsein anschaulich in uns selber tragen und es verstehen und empfinden kænnen wie unser eigenes Leben, indem wir es doch zugleich als ein fremdes, einer eigenen Monade angehæriges empfinden«; 16 und schlieûlich | die Idee vom »Aufbau«, welche besagt, daû wir »aus der universalgeschichtlichen Entwicklung die groûen elementaren Grundgewalten herausholen« kænnen, so daû »Geschichte durch Geschichte çberwunden wird«. 17 Sie ist in der Tat çberwunden, dadurch eben, daû sie sich selbst aufgehoben hat. Eine Epoche des Historismus und einer durch ihn bestimmten Theologie ist damit vollendet und beendet. Einer neuen Theologie war die Bahn gebrochen. Dies ist die allgemeine Gedankenrichtung und Gedankenstimmung, von welcher her auch der Wunsch kommt, eine Theologie 12.
2 Derselbe, Der Historismus und seine Ûberwindung, S. 110. 13.
3 Derselbe, Der Historismus und seine Probleme, Gesammelte Schriften III, S. 173. 14.
4 Ebendort, S. 87. 15.
5 Ebendort, S. 32, 120, 212, 677. 16.
6 Ebendort, S. 684. 17.
1 Ebendort, S. 772.
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und nicht bloû eine Geschichte des Judentums zu besitzen. Aber er hat hier noch seine besonderen Grçnde. Im Judentum des neunzehnten Jahrhunderts hatte eine Historisierung schon frçh und entscheidend, bisweilen recht verhångnisvoll, eingesetzt. Die alte Einheitskultur, die ein Jahrtausend hindurch lebendig und wirksam gewesen war, hatte sich aufgelæst, indem sich, in oft allzu raschem Gange, die Bildung, das Recht, der Lebensstil und, durch die Aufklårungsideen, in gewissem Maûe auch die Religion såkularisiert hatten. Die europåische Gesamtkultur, dieser »Europåismus«, in den der Jude eintreten wollte und eintreten muûte, forderte ein wesentliches Stçck seines geistigen und schlieûlich auch seines seelischen Wesens. Die alte Tradition, die bis dahin immer unmittelbar, in jedem Heute hatte erfahren werden kænnen, die immer neu ins Bewuûtsein eingetreten war, die mit ihrer Sukzession der Lehrer eine Einheit der Lehre, eine åuûere wie eine innere, gebracht und gewåhrleistet hatte, riû ab; sie war durch die Revolution, die das Judentum im Auszug aus der alten Kultur damals erlebte, unterbrochen. Als dann spåter eine geistige Beziehung zu ihr wieder gesucht und auch gefunden war, als in der Vergangenheit die Vergangenheit des eigenen Lebens, in dem man stand, entdeckt wurde, war diese Beziehung doch wesentlich die, daû man zur Tradition eine Stellung nahm, eine Stellung praktischer oder wissenschaftlicher Art, die Stellung also dessen, der çber sie hinausgelangt war. Man stand nicht mehr in ihr, sondern ihr gegençber. An den Platz der eigentlichen Tradition trat die gelehrte Rekonstruktion, an den Platz des geschichtlichen Zusammenhangs die Geschichtswissenschaft. Es ist wahr, daû hierdurch in dem Chaos der Zeit nach der begin- | nenden Revolution zunåchst einmal ein gewisser fester Boden geschaffen und damit eine gewisse Rettung gebracht wurde, aber der Preis war ein hoher; durch den Historismus muûten ihn die folgenden Generationen bezahlen. Die Geschichte begann mehr zu bedeuten als der Inhalt. Vor lauter Historie blieb oft wenig von der Religion, wenig von dem Geist, der seine Historie hatte, çbrig. Das Judentum wurde ein historisches, in einem anderen Sinne, als die Månner aus dem Kreise des jungen Zunz gemeint hatten, die zuerst dieses Wort vom historischen Judentum sprachen; die Wissenschaft von ihm war håufig nur eine Angelegenheit einer Forschung, aber nicht ein Anliegen, ein Problem des suchenden, denkenden Menschen. Sie war Geschichte um der Geschichte willen. Es ist bezeichnend, wie spåt erst die groûe geistige Auseinandersetzung, die unserer alten Haggada den wesentlichsten Charakter gibt, in ihrer gedanklichen, religiæsen Bedeutung, der zeitlichen wie der bleiben50
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den, ganz erfaût wurde; die sehr wichtige, philologisch-historische Arbeit, die sich dem Midrasch zuwandte, ging nur zu lange an diesem seinen Inhalt vorbei oder umging ihn, und neben ihr hat er ja immer nur als Gelegenheit zum Zitat fçr den Bildungsbeflissenen gedient oder als refugium pigritiae fçr den Prediger. Es entspricht dem, wenn ebenso der groûen jçdischen Religionsphilosophie des Mittelalters erst sehr nachtråglich, vornehmlich erst durch Hermann Cohen, ihre geistige Verbindung mit den Gedankenkåmpfen der Gegenwart gegeben wurde; lange Zeit war die, sehr wertvolle, Forschung und Geschichtschreibung, die ihr galt, an dem Problem des Wesentlichen und Bleibenden vorçbergeschritten und hatte ihr eine Beziehung nur rçckwårts und seitwårts, in den Einflçssen nur, die sie in ihrer Zeit erfuhr und ausçbte, zuweisen wollen. Versuche wie der Steinheims, das Judentum nicht nur historisch und auch nicht nur unhistorisch und nicht bloû tendenzhaft darzustellen, erfuhren das Schicksal frçher Vergessenheit. 18 Auch der Gedanke der Entwicklung, der jetzt die alte Traditionsgewiûheit ersetzen wollte, gab keine Lebendigkeit, die der ihren gleich war, und keine Einheit, die der ihren entsprach. Schon des- | halb war es versagt, weil man das, was von einem als Entwicklung bezeichnet wurde, zumeist doch selbst erst hergestellt hatte oder herstellen wollte. Man nahm zu praktischen Zwecken, fçr die Bedçrfnisse des Jahrzehnts eine Auslese aus der Tradition vor und nannte dies dann Entwicklung. Sie wurde zur Aufschrift auf das, was man bereitet hatte oder zu haben wçnschte, und die historische Rechtfertigung suchte man zu geben, indem man åhnlich, wie es einst das Karåertum unternommen hatte, çber vergangene Jahrhunderte hinweg an eine wirkliche oder vermeintliche frçhere Epoche damit anzuknçpfen erklårte. Eine Tradition sollte kçnstlich geschaffen werden. In diesen Geschichtsgedanken sprach so weniger ein Erleben der Geschichte als vielmehr ein, allerdings oft bedeutungsvolles, Erfahren des Tages und seines oft dringenden Erfordernisses. Zudem wurde die Geschichte selbst jetzt durch den unabweisbaren Kampf fçr das Recht des Juden in den Tag hineingestellt. Låût es sich auch nicht verkennen, daû darin wie in jedem Kampf ums Recht und seiner geschichtlichen Rechtfertigung ein Religiæses mitschwang, so war die Geschichte doch damit politisiert, und das bedeutete, daû ihr Horizont verengt wurde. Wohl entsprach dies, vor allem in Deutsch18.
1 Ûber Steinheim vgl. Andorn, Das Steinheimsche System der Offenbarungskritik, und MGMJ 1930, S. 437 ff., sowie H. J. Schoeps, Jçdischer Glaube in dieser Zeit. Vgl. auch Maybaum, Samuel Formstecher, MGWJ 1927, S. 88 f.
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land, ganz wie der Historismus, einer allgemeinen Richtung; ein Geschlecht der Jçnger Rankes hatte sich der politischen Geschichtschreibung, dieser Geschichtschreibung mit politischer Absicht zugewandt. Aber dort war doch immer etwas von dem Universalen mit seinem weiten Raum und seiner weiten Richtung geblieben, das Ranke gegeben hatte. Hier fehlte es meist; der, bewuût oder unbewuût, politisch-advokatorische Zweck lenkte den Blick auf ein nahes Programm und schrånkte den Gesichtskreis ein. Dazu mangelte es sehr oft ± einer, freilich der Voranstehende, Graetz, ist wohl eine Ausnahme ± an dem, was Schmoller dem wahren Historiker als Kennzeichen zuschrieb, daû er »çber das Verhåltnis der Gottheit zur Menschengeschichte, çber Ursprung und Ziel der historischen Entwicklung, ¼ çber die letzten sittlichen und politischen Fragen eine feste Ûberzeugung hat«. 19 Es schien, als verzichtete die Geschichtschreibung, eine Antwort darauf zu geben, was der letzte Sinn, was die eigentliche Bedeutung dieser Ge | schichte des Judentums, dieser Geschichte des jçdischen Volkes sei, was es denn eigentlich wert mache, sich in sie zu vertiefen, sie zu schreiben. Gegen diese Geschichtsauffassung, gegen die Ratlosigkeit, die schlieûlich aus ihr sprach, gegen den Pessimismus, der daraus folgen wollte, muûte sich der Widerspruch erheben. Er ist unverkennbar schon in der zionistischen Geistesbewegung wirksam; neben politisch-såkularen Gedanken sind in ihr von Anfang an ebenso sehr geschichtsphilosophische, theologische lebendig. Er konnte sich im Judentum unserer Tage dann mit der Gesamtstimmung vereinen, die sich gegen den Historismus und auch den Europåismus, den dieser lehrte, aufzulehnen begann. Aus alledem ist auch jenes, etwas unklare, Verlangen nach einer Theologie des Judentums hervorgekommen. Worin kann nun jener Wunsch seine Bestimmtheit gewinnen, worin ist der Inhalt und sind die Grenzen eines Begriffes »Theologie des Judentums« zu finden? Das Wort, wenn auch in etwas anderer Fassung, ist im vergangenen Jahrhundert schon alt. Geiger nannte seine erste Zeitschrift, die von 1835 an in sechs Bånden erschien, »Wissenschaftliche Zeitschrift fçr jçdische Theologie«. In einem Aufsatz çber das Bedçrfnis nach einer »jçdisch-theologischen Fakultåt«, der den zweiten Band einleitete, sprach er in ganz allgemeinen Såtzen von der jçdischen Theologie als einer Wissenschaft, die
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1 Schmoller in Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1886, S. 6.
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sich den Ideen und den Lebensfragen des Judentums zuwendet, und er gab einige Beispiele fçr das, was sie enthalten sollte. Im vierten Bande wollte dann Joseph Dernburg mit unverkennbarer Anlehnung an Schleiermacher in einer Abhandlung çber »das Wesen des Judentums nach seinen allgemeinsten Grundzçgen« unter einem gewissen Vorbehalt »Bausteine fçr ein Gebåude jçdischer Theologie« bieten. 20 Aber eine eigentliche Definition dessen, was diese jçdische Theologie sein soll, ist hier nirgends versucht. Sie findet sich erst, allerdings immer noch recht unbestimmt, in den Vorlesungen der »Einleitung in das Studium der jçdischen Theologie«, die Geiger 1849 in Breslau hielt; hier definiert er die Theologie, die er in eine theoretische, eine historische und eine praktische sondert, als »die Erkenntnis der religiæsen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Le | bens«. 21 Es scheint, daû er sie von der »Wissenschaft des Judentums«, die er in seinen Vorlesungen von 1872, trotz einer von ihm ausgesprochenen Abneigung gegen »strenge Definitionen«, begrifflich zu umgrenzen sucht, 22 durch das praktische Endziel, jene Beziehung zum Leben unterscheidet. Øhnlich ist offenbar das Eigenschaftswort »theologisch« verstanden, wenn Frankel, in seinem bekannten Werke, die Eidesleistung der Juden »in theologischer und historischer Beziehung« (1840) darstellen wollte, oder wenn das Seminar in Breslau die Bezeichnung »jçdisch-theologisch« erhielt. Es kænnte sein, daû diese Auffassung durch Neander 23 bestimmt ist, der die praktische Richtung der Theologie hervorzuheben pflegte, ganz abgesehen davon, daû die praktische Theologie ja immer einen Bestandteil der Gesamttheologie hatte bilden sollen. Die Frage, was Theologie des Judentums und welches danach ihr Verhåltnis zur Geschichte ist, blieb hier jedenfalls unbeachtet. Sie håtte sich um so eher einstellen sollen, da das Wort »Theologie«, wenn es auch seinen Platz in der griechischen Philosophie besitzt, 24
20.
1 Bd. IV, S. 12 ff. 21.
1 Abraham Geiger, Nachgelassene Schriften II, S. 4. 22.
2 Ebendort, S. 35 und 39; vgl. auch Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, S. 26 ff. 23.
3 Der Titel von Geigers zweiter Zeitschrift »Jçdische Zeitschrift fçr Wissenschaft und Leben« (1862 ff.) scheint durch den Titel bestimmt zu sein, den Neanders Zeitschrift hatte, die er zusammen mit Nitzsch und Julius Mçller herausgab: »Deutsche Zeitschrift fçr christliche Wissenschaft und christliches Leben« (1850 ff.). 24.
4 Vgl. Natorp in »Philosophische Monatshefte« 1887, S. 55 ff.
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seine groûe Bedeutung erst in der christlichen Kirche erlangt hat. Hier schienen sich in ihm die beiden hæchsten Ideen »theos« und »logos« zusammenzufçgen, und die alte klassische Auffassung ist es deshalb hier, daû die Theologie im eigentlichen, die theologia archetypos, die theologia prototypos nur Gottes sei und sich als theologia comprehensorum allein den Engeln und Seligen erschlieûe; den irdischen Menschen sei ihr Abbild, eine theologia ektypos, diese theologia viatorum gewåhrt. 25 Sie gehært so zu der in die Kirche herniedersteigenden Logos-Offenbarung. Hieran hat die neue, gegen den Historismus ankåmpfende Theologie wieder die Anknçpfung gesucht. Auch sie will diese theologia viatorum sein: »die kritische, methodische Besinnung des Theologen auf das, was er tut, wenn er auf Grund der Offenbarung von Gott | redet« (Gogarten), »die begriffliche Darstellung der Existenz des Menschen als einer durch Gott bestimmten« (Bultmann), »der in einem bestimmten Jetzt und Hier in den Formen begrifflichen Denkens sich vollziehende Dienst bestimmter Menschen an Gottes Offenbarung«, »die kritische Besinnung auf das die Kirche begrçndende Wort«, »die kritische Selbstbesinnung der Kirche« und infolgedessen eine »Funktion der Kirche« (Karl Barth). 26 Beides sollte hier, im Gegensatz zum Historismus, festgehalten bleiben, die bestimmte Situation und die maûgebende Norm; die Geschichte wird ein Prådikat der Offenbarung, wåhrend jenem die Offenbarung zum Prådikat der Geschichte geworden war. Der Weg zu der Frage, die sich gegençber dem »geschichtlichen« Judentum des vorigen Jahrhunderts erheben muûte, ist von hier aus allerdings noch nicht gewiesen. Den beiden Begriffen, wie sie hier dem Historismus entgegengestellt werden, Offenbarung und Kirche, kommt hier eine Bedeutung zu, die dem Judentum fremd ist. Wenn auch der Vergleich mit ihnen und anderem wichtig und bisweilen unerlåûlich ist, so kann eine Læsung, eine Antwort immer nur aus dem Eigenen und Eigentçmlichen des Judentums hervor erlangt werden. Es ist nicht zulåssig und nicht mæglich, auf das Judentum Kategorien anzuwenden, die von ganz anders gefçgten Gebilden hergenommen sind; so manches Miûverståndnis, die Ergebnislosigkeit mancher gedanklichen Auseinandersetzung geht darauf zurçck. Nur von dem Besonderen des Judentums aus darf gesagt werden, was in ihm Theologie bedeuten soll und worin sie ihre Beziehung zur Geschichte haben kann. 25.
5 Vgl. Hase, Hutterus redivivus, § 10. 26.
1 »Zwischen den Zeiten«, Bd. I/II, Heft 7, S. 18; Bd. III, S. 353; Bd. IV, S. 21; Bd. VIII, S. 375 und 378.
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Das Judentum besitzt sein Eigentçmliches, diesen Grund seiner Entstehung und seiner inneren Bewegung darin, daû in ihm ein ganz charakteristisches wesentliches Problem hervorgetreten ist, das seitdem im Denken der Menschheit seinen Platz hat. Darin ist auch das Weltgeschichtliche, das Universelle des Judentums gegeben. Ein Universalismus besteht nicht in jener Absolutheit, von der die protestantische Theologie gern sprach, sondern in einem durchaus individuell Bestimmten. Er ist dort verwirklicht, wo von einer Einzeloder Gesamtindividualitåt eine Idee, eine lebendige geistige Kraft ausgeht, die nunmehr aus dem mensch | lichen Gesamtdenken und Gesamtleben nicht mehr fortgenommen und fortgedacht werden kann. Nicht die Geltung oder Erstreckung, nicht das Vorhandene, das Statische ist hier entscheidend, sondern die Bedeutung, das Dynamische, das Bewegende. Dieses Problem, durch das so das Judentum in all seiner Besonderheit und kraft ihrer universell geworden ist, dieses spezifischjçdische weltgeschichtliche Problem ist das vom Eintreten des Unendlichen, Ewigen, Einen, Unbedingten in das Endliche, Zeitliche, Vielfåltige, Begrenzte und von der geistigen, sittlichen Spannung des Menschlichen, die darin gegeben ist. Alles, was das Judentum an Gedanken und Hoffnungen geschaffen hat, innerhalb seines eigentlichen Bereiches und çber ihn hinaus, kommt davon her. Aller Gegensatz gegen die Antike hat darin seinen Ausdruck. Diese hatte in all der Mannigfaltigkeit der Formen, die sie geschaffen hat, ihr Kennzeichnendes und Eigentçmliches in dem Begriff des »Eidos«, des Vollkommenen, des Abgeschlossenen, des Fertigen, des Idealen, zu dessen Jenseits der Mensch schauend, erkennend, anbetend, beseligt aufblickt. Auch der Mysterienglauben, in den die Antike mehr und mehr einmçndet, wollte dieses Endgçltige bedeuten, und nur deshalb konnten sie beide ja eins werden und konnte dann auch die Kirche sich durch die Verbindung von beiden, von Logos und Mysterium, von »Eidos« und Sakrament gestalten. Jener universellen Idee vom Vollendeten, Fertigen steht die des Judentums gegençber, und in der Gegençberstellung zumal zeigt sie ihre ganze Bestimmtheit und ihr Weltgeschichtliches, diese Idee vom Eintreten des Unendlichen, des Transzendenten in das Endliche, in das Menschliche, von der Spannung, der Auseinandersetzung, die darin gegrçndet ist, von dem nie endenden Kampfe mit der Aufgabe, mit dem Wege, mit der Zukunft, von dieser Spannung, in der darum beides bleibt: der Abstand und die Zugehærigkeit, die Distanz und der Bund, das Anderssein und das Einssein, die Kreatçrlichkeit und die Freiheit, die Gnade und das Gesetz, die Offenbarung und die Prophetie, die Im55
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manenz und die Transzendenz, die Mystik und die Ethik, die Verborgenheit und die Forderung. 27 Diese Idee mit ihrem Problem ist durch das ganze Judentum, in | seinem gesamten Inhalt wie in seiner Erstreckung, zu verfolgen. Sie hat ihre Mannigfaltigkeit und ihre Bewegung; sie hat hier immer wieder den suchenden Menschen ergriffen, so daû sie selbst immer wieder verlebendigt, immer neu geformt wurde und ihre Renaissance erfuhr. Darin hat das Judentum seine Entwicklung, seine Geschichte, seine Tradition, seine historische Einheit. Darin hat es darum auch sein Prinzip, seine Norm, den Maûstab fçr das, was sein Eigenes und Eigentçmliches ist, fçr das, was wesentlich ihm zugehært. Die methodische Besinnung auf dieses Problem, in der sich eine Zeit so çber ihr Judentum Rechenschaft gibt, in der sie fçr ihre Verbindung mit dem Grundproblem und seinen Gestaltungen ihren eigenen Ausdruck sucht, das ist daher die Theologie im Judentum. Und damit ist diese Theologie zugleich die jeweilige Besinnung auf die Geschichte und die Tradition des Judentums. Denn das Ganze der Lehre ist hier erst in jener Bewegung der Lehre und damit in der Gesamtheit der Lehrer, in ihrer Reihe bis zum Letzten, in dieser Tradition bis zur Gegenwart immer gegeben. Und nicht um eine bloûe Linie des Auf und Ab, um ein Kommen und Gehen oder um ein Jeweils der Verengung und Erweiterung, des Fortschritts und Rçckschritts, sondern um die Frage dieser immer neuen Verlebendigung des Grundgedankens, um diese innere geschichtliche Einheit handelt es sich dabei. In diesem Sinne dçrfte gesagt werden, daû die inhaltliche Erstreckung des Judentums zugleich seine zeitliche bedeutet, daû die Lehre des Judentums zugleich seine Geschichte und seine Geschichte zugleich seine Lehre sei. Allein durch das Bewuûtsein hiervon kann ein Historismus und ebenso eine Geschichtslosigkeit im Judentum çberwunden werden. Fçr die christliche Theologie ist es charakteristisch, daû sie zu einem Dogma hinfçhrt oder hinzielt; denn sie ist, in der Tatsache oder in der Absicht, Theologie der Kirche. Fçr die jçdische Theologie ist es demgegençber kennzeichnend, daû sie Theologie der Lehrer ist. Jedem Lehrer kommt an sich die Lehrbefugnis, das Recht, die Tradition zu repråsentieren, dieses Recht auf Theologie, zu. Aber erst an der sicheren Verbindung mit dem Grundproblem des Judentums wird der Lehrer legitimiert, erst die Verpersænlichung oder wenigstens Nuancierung desselben, erst dieses damit aufgewiesene 27.
1 Vgl. Leo Baeck, Die Spannung im Menschen und der fertige Mensch in »Wege im Judentum«, S. 7ff. Ûber das Universale vgl. ebendort S. 195 ff.
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Theologie und Geschichte
Faktum der religiæsen, jçdischen Individuali | tåt gibt den Platz in der Tradition, gewåhrt gewissermaûen das Erbfolgerecht in der Sukzession der Lehrer. Darin gewinnt der Begriff der Tradition im Judentum seine ganze Bedeutung. Das vorige Jahrhundert war geneigt, unter ihr, bejahend oder ablehnend, nur die Kontinuitåt der Verfassungsform zu verstehen, die sich die Gemeinde des Judentums und in gewissem Sinne das Leben des Juden seit dem Ausgange des Altertums bereitet hatten. Ein sehr wesentlicher Teil des »Gesetzes«, der Satzungen, der Regeln und Ûbungen, die durch Halacha und Minhag ausgestaltet worden waren, darf in diesen Begriff der Verfassung hineingestellt werden. Wenn die jçdische Gesamtheit des Mittelalters, diese weithin erstreckte Diaspora, nicht nur die Einheit und Kontinuitåt des Rechts, sondern auch die Einheit und Kontinuitåt der wesentlichen Lebensrichtung besaû, so ist es auf diese Verfassung zurçckzufçhren. In ihr war die Stetigkeit und Lebendigkeit einer Tradition daher immer und fast greifbar erfahren worden, so sehr, daû sich bisweilen in ihr allein die Tradition darstellte und hinter ihr die eigentlichste Tradition, die des religiæsen Grundproblems zurçcktrat oder verschwand. 28 Als dann durch den Auszug aus dem alten Gemeindegebiet, der zugleich ein Auszug aus der alten Lebensform war, auch sie weithin ins Wanken geriet ± sie hatte den alten Lebensstil geschaffen, und nun erschçtterte sein Wanken sie ±, muûte die alte Tradition zerrissen scheinen. Allerdings war damals auch die eigentliche, tiefe Tradition, die des Religiæsen, aus der jene andere immer erst ihre lebendigste Kraft erhalten hatte, von dem groûen Wandel der Zeit bis ins Innere hinein erfaût worden. Die alte Fræmmigkeit war Gemeindefræmmigkeit mit ihrer Gemeindemoral gewesen, aber sie besaû fast immer ihre innige starke Verbindung zum Unendlichen und Ewigen hin und damit zu jenem Grundproblem des Judentums. In ihr verband sich beides, Gemeinde und Jenseits; die enge Judengasse wuûte sich von der Welt der Gottessphåren umfangen, ihre nahe, kçmmerliche Sichtbarkeit war in das unsicht | bare All des Geheimnisses hineingefçgt. Das Jenseits trat in das Diesseits ein mit aller seiner Spannung. Jetzt, wo der Jude in ein neues weites Gebiet des Diesseits mit seinen groûen diesseitigen Aufgaben hineingezogen war und in ihm sich die 28.
1 Es ist charakteristisch, wie fçr Mendelssohn die Tradition nur im »Gesetz« lag, wåhrend das eigentlich Religiæse ihm, traditionslos, in der natçrlichen Religion enthalten war. Der erste, der wieder das Eigentçmliche des Grundproblems zu erfassen suchte, war Isaac Bernays.
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Grundsåtzliches
Lebensform bereiten muûte, jetzt sank hinter diesem neuen Diesseits der Jenseitsbereich mehr und mehr zurçck, um oft zu entschwinden. Die Religiositåt drohte sowohl in dem Versuche, sich die alte Form zu erhalten, wie in dem, sich eine neue zu bilden, reine Diesseitsreligiositåt zu werden. An die Stelle jener Spannung drångte sich eine Befriedigung des Fertigen, des Arrivierten, ein dogmatischer Rationalismus im Konservativen wie in der Reform. 29 Hierin hat die Tradition ihre eigentliche Unterbrechung, ihren verhångnisvollsten Schaden erlitten, und hierin hat der Historismus seinen wesentlichsten Grund. Die kritische Besinnung hierauf, die sich von dem, was Grund und Recht aller Tradition im Judentum ist, Rechenschaft ablegt, ist darum, heute zumal, der Anfang aller Theologie im Judentum. Die erneute Verlebendigung des alten Problems und damit die Erneuerung der eigentlichsten, der religiæsen Tradition ist ihre bestimmte Aufgabe. Sie wird darin die Erkenntnisse von anders her dankbar empfangen, nicht zum wenigsten die, welche das Problem und die Krisis des Historismus aufzeigen. Aber sie wird Theologie des Judentums, jçdische Theologie sein nur, wenn sie aus dem Eigenen und dem historischen Ganzen des Judentums methodisch, das ist mit dem Wissen und nicht mit dem Meinen oder platonisch gesprochen: mit der »episteme« und nicht mit der »doxa«, das zu erfassen und zu vergegenwårtigen sucht, was universelle Idee und besondere Tradition des Judentums, was seine weltgeschichtliche Individualitåt ist.
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1 Vgl. L. Baeck, Wege im Judentum, S. 155 ff.
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Die Romantik Wenn wir die Typen der Fræmmigkeit, wie sie geschichtlich zu Typen der Religion geworden sind, scheiden, so sind es vor allem zwei Formen, die sich sondern: die klassische und die romantische Religiositåt, die klassische und die romantische Religion. In dem Unterschied und Gegensatz zwischen diesen beiden treten vornehmlich zwei weltgeschichtliche Erscheinungen auseinander, deren eine durch ihren Ursprung zwar zu der anderen hingefçhrt wird und in gewissen Grenzen durch sie bestimmt bleibt, zwischen denen aber doch die bedeutsame, trennende Linie hindurchgeht: das Judentum und das Christentum. Als die klassische und die romantische Religion stehen sie in Wesentlichem einander gegençber. Was ist romantisch? Friedrich Schlegel hat das romantische Buch dahin erlåutert: »Es ist ein solches, das einen sentimentalen Stoff in phantastischer Form behandelt.« Fast ebenso kænnte man die romantische Religion umschreiben. Die gespannten Gefçhle geben ihr den Inhalt, und ihre Ziele sucht sie in den bald mythischen, bald mystischen Gesichten der Einbildungskraft; ihre Welt ist das Regellose, das Auûergewæhnliche und Wunderbare, das çber alle Wirklichkeit Hinausliegende, das ferne Jenseits der Dinge. Wir kænnen diese seelische Art in geschichtlicher Nåhe sehen, wenn wir den deutschen Romantiker des vorigen Jahrhunderts betrachten. Alles læst sich fçr ihn in Empfindung auf, alles wird zur Stimmung, alles wird subjektiv; »Denken ist nur ein Traum des Fçhlens.« Das Gefçhl gilt an sich, es ist der Lebenswert, den das schwårmerische Gemçt sich zu bereiten wçnscht. Der Romantiker entzçckt und begeistert sich um der Begeisterung, der Ent | zçckung willen; sie ist Selbstzweck, sie hat in sich ihren Sinn. Sein ganzes Dasein wird zur Sehnsucht, nicht zu der Sehnsucht nach Gott, in 59
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der der Mensch, sich çber die Erde erhebend, die Erdeneinsamkeit çberwindet, auch nicht zu der kraftvollen Sehnsucht des Willens, die nach Taten drångt, sondern zu jenem sçûen, wallenden Sehnen, das sich in Gefçhlen ergieût, an sich selber sich berauscht. Auch Schmerz und Leid werden ihm ein Gut, wenn nur die Seele sich in sie hineinsenkt. Er schwelgt in seinen Wehen so wie in seinen Wonnen. In die Empfindung kommt damit leicht etwas Angestacheltes und Erregtes, etwas Ûberhitztes und Trunkenes, und wie in die Empfindung, so in die Sprache. Jeder Ausdruck sucht dahin sich zu steigern; Wollust wird ein begehrtes Wort. Das Gefçhl redet mit seinen Superlativen, alles soll zur Verzçckung werden. Inbrçnstig genieût der Romantiker die Hæhe der Freude und die Tiefe des Leides fast Tag um Tag, er genieût das Beseligendste und das Erhabenste, er genieût seine Wunde und das flieûende Blut seines Herzens. Alles wird ihm zum wonnigen Schauer, auch sein Glaube, seine Andacht wird ihm dazu. Von seinem Christentum rçhmt Novalis, daû es »die eigentliche Religion der Wollust ist«. Diese Seelen kænnen immer so gefçhlvoll sein, weil der Schmerzen Fçlle doch meist nur gesonnen und getråumt, alles fast nur sentimentaler Schmerz ist. Sie tråumen so gern; die dåmmernden Fernen, Zwielicht und Mondnacht, die stillen verglimmenden Stunden, in denen die Zauberblume das Blçtenhaupt senkt, sind ihre Zeit, deren sie mçde harren. Sie lieben das Weiche, die sçûe Tåuschung, den schænen Schein, und wenn Lessing zu Gott gesprochen hatte: Gib mir das Ringen um die Wahrheit, so flehen die Romantiker: Schenke mir den holden Wahn. Sie wollen tråumen, nicht sehen; sie scheuen die Deutlichkeit der hellen Gesichte bis zum Widerwillen gegen das Tatsåchliche. Sie stehen verstimmt vor der Wirklichkeit, und sie suchen dafçr den unklaren Reiz der verschwimmenden Empfindung bis zur Freude an der Verworrenheit. Was drinnen und drauûen ist, wird ihnen zu einem Scheinen und Flimmern, zu einem Tænen und Klingen, zu einem bloûen mythischen Spiel, die Welt zu einem traurig schænen Roman, zu einem Erlebnis des Gefçhls. Wie Hegel es einmal ausdrçckt: »Der Sinn fçr Gehalt und Inhalt zieht sich zusammen in | ein gestaltloses Weben des Geistes in sich.« Der Wunsch, sich der Tåuschung hinzugeben, den wohl die Kunst rechtfertigt, erfçllt hier das gesamte Verhåltnis zur Welt. In dem gesuchten Halbdunkel von Sehnsucht und Traum verwischen sich die Grenzen von Poesie und Leben. Die Wirklichkeit wird bloûe Stimmung und die Stimmung schlieûlich zur einzigen Wirklichkeit. Alles, das Denken und das Dichten, das Wissen und das Wåhnen, alles 60
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Romantische Religion
hienieden und droben, flieût zusammen zu einer rauschenden Dichtung, zu einer heiligen Musik, zu einer groûen Verklårung, einer Apotheose. Die Fluten sollen zuletzt çber der Seele zusammenschlagen, so daû Alles und Nichts zu einem werden, wie der Enkel der Romantiker es besingt: »In des Wonnemeeres wogendem Schwall, in der Duftwellen tænendem Schall, in des Welt-Atems wehendem All ± ertrinken ± versinken ± unbewuût ± hæchste Lust.« In dieser verzçckten Hingabe, die so gern umfaût und umschlungen sein mag, die in dem klingenden Weltenozean vergehen mæchte, offenbart sich das Besondere der romantischen Religion, der weibliche Zug, der ihr eignet. Ihre Fræmmigkeit hat etwas Passives, sie fçhlt sich so rçhrend hilflos und mçde, sie will von oben her ergriffen, eingehaucht und eingeatmet werden, von einem Gnadenstrom umfaût sein, der mit seinen Weihen auf sie herniederkomme und von ihr Besitz nehme ± ein willenloses Werkzeug gættlichen Wunderwaltens. Das Wort Schleiermachers, daû die Religion »das Gefçhl schlechthinniger Abhångigkeit« sei, hat dann nur den Begriff hierfçr geprågt. Darum fehlt der Romantik der starke ethische Drang, der Wille, das Leben sittlich zu bezwingen. Sie hat eine Abneigung gegen jede, das Dasein beherrschende, praktische Idee, die fçr ihre Gebote den freien, schaffenden Gehorsam fordert und den bestimmten Weg zu den Zielen des Handelns zeigt; sie mæchte »vom Zweck genesen«. Alle Satzung, alles Gesetzgebende, alle Moral mit ihrem Gebot widerstrebt ihr; sie will abseits von gut und bæse bleiben; das hæchste Ideal soll was immer sein, nur nicht die deutliche Forderung sittlichen Handelns. Von allem Treibenden und Mahnenden wendet sich der Romantiker ab. Er will tråumen, genieûen und sich versenken, aber nicht strebend und ringend sich den Weg bahnen. Das, was gewesen ist und aus Vergangenem auf | steigt, beschåftigt ihn mehr als das, was werden soll, und mehr auch als das, was kommen will; denn das Zukunftswort will stets gebieten. Die Erlebnisse mit ihren Klången und ihren Wogen stehen ihm hæher als das Leben mit seinen Aufgaben; denn die Aufgaben verketten immer wieder mit der harten Wirklichkeit. Und vor dieser flieht er. Er will nicht mit dem Schicksal kåmpfen, sondern es in inbrçnstigem Gemçte empfangen, um das Heil nicht ringen, sondern es erfahren, dem Erlæsenden, Beglçckenden willenlos hingegeben. Er mæchte des eigenen Weges ledig sein. Vor die Lebenstat tritt fçr ihn die Gnade, deren Gefåû er sein will, vor das Gesetz des Daseins der bloûe Glaube, vor die Wirklichkeit das Wunder des Heils. Er will dasein, aber nicht durch sich sein; er will weniger leben als vielmehr erleben. 61
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Daher ist ja die romantische »Persænlichkeit« auch etwas so ganz anderes als etwa die Kantische Persænlichkeit, die als Tråger des Sittengesetzes dasteht und in der Treue gegen das Gebot sich selbst und damit die Freiheit findet. Auch der Romantiker liebt den Eigenbesitz seines Wesens; aber er sucht diese seine Individualitåt in der zerflieûenden Gefçhlswelt, die, des Wunderbaren fåhig, in alles eingehen, alles bedeuten kænne. Nur aus dieser Empfindungserfahrung, als dem Maûe aller Dinge, entnimmt er, was fçr ihn gut und bæse ist. Nicht durch sittliches Tun und nicht durch klare Erkenntnis meint er zu sich zu gelangen. Er glaubt seines Ichs gewiû zu werden erst in der Empfindung, die in sich webt, in der gefçhlsreichen Selbstbetrachtung, die dem Gefçhl nicht Ausdruck gibt, sondern es ausmalt, und die nur zu leicht zum Virtuosentum der Empfindung, zur Selbstbespiegelung wird, welche mit der eigenen schænen Seele schæn tut. Es gibt darum kein unromantischeres Wort als das Goethesche von dem Menschen, der sich selbst erkennt, indem er seine Pflicht tut und der Forderung des Tages gerecht wird. Der Romantiker sagt dafçr: Erlebe dich und schwelge in dir. So kommt es auch, daû die Romantik meist rçckwårts gewandt ist; sie hat ihr Ideal in den entschwundenen Zeiten, im Paradies der Vergangenheit. Sie will nicht schaffen, sondern wiederfinden, restaurieren. Wer fçhlen und tråumen mag, sieht sich ja von den alten Bildern alsbald umgeben; nur wer auf feste Aufgaben den Willen richtet, weiû sich mit dem Zukçnftigen verbunden. Dar | um ist es der Romantik auch gegeben, den Stimmen aus frçheren Tagen zu lauschen. Sie vermag es um so mehr, da sie mit ihrer Empfindungsfçlle allem Menschengemçt in seinen Falten und Geheimnissen nachzusinnen, sich in die Individualitåten hineinzufçhlen vermag. Sie hat die Poesie der Ûbergånge, die Poesie auch der seelischen Zwiespalte und Klçfte entdeckt, sie hat die Strahlen, die von der Einzelerscheinung ausgehen, zu erfassen verstanden, die Andacht fçr das Kleine gehegt. Der Mensch mit seinem Widerspruch ist ihr Vorwurf. Daher hat sie die Kçnstler der Biographie hervorgebracht, diejenige Geschichte gepflegt, die die Anempfindung verlangt. Allerdings nur diese; den Blick fçr die groûen Zusammenhånge, fçr die Ideen der Jahrhunderte hat sie wenig besessen. Sie bleibt lyrisch, auch wenn sie den Ernst der Begebnisse betrachtet, und die Geschichte wird zu einem Spiel, in das sie sich versenkt. Die groûe Predigt der Vergangenheit wird man vergebens bei ihr suchen. Das Empfinden in seiner Kraft und in seiner Schwåche ist auch hier ihre Macht und ihre Ohnmacht. Hier und ebenso in allem. Immer ist es das Gefçhl, das alles be62
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deuten soll. In dem Platze, der ihm gegeben ist, liegen daher Raum und Grenze der Romantik. Wir sehen es nahe vor uns in ihren Månnern aus dem letzten Jahrhundert mit ihren Vorzçgen und ihren Schwåchen. Gegençber einer Alleinherrschaft des nçchternen Verstandes hatte die Romantik ein anderes Recht und einen anderen Wert fordern dçrfen. Aber dem Grundfehler, gegen den sie sich erhoben hatte, verfiel sie selbst; denn auch sie hatte nur zu bald gefordert, allein zu gelten. Sie hat das reine Gefçhl vor alles gestellt, vor alle begriffliche und alle verpflichtende Wahrheit, und zuletzt nicht nur vor alles, sondern an den Platz von allem. Sie hat die Wirklichkeit mit ihrem Gebot mehr und mehr in den schænen Schein versenken wollen, den tiefen Ernst der Lebensaufgabe verklingen lassen in die bloûe Stimmungsmusik, in die schwebenden Kreise des Daseins. Einem ganzen Geschlecht hat sie damals den Namen gegeben, aber deshalb ist sie doch keine einzelne Epoche nur, kein bloûer Abschnitt der Geschichte. Die Romantik bedeutet viel mehr, sie bezeichnet eine der charakteristischen Formen, die in der geistigen Entwicklung der Menschheit immer wieder herausgetreten | sind, einen bestimmten Typus, in dem sich, seit altem, zumal das Leben der Religion ausgestaltet hat. Allerdings, geschichtliche wie menschliche Typen kommen nie rein vor. Alles, was existiert, ist eine Mischung; das Leben hat nirgends seine scharfen Abgrenzungen und Scheidungen, es ist nie eine Gleichung ohne Rest. In jeder Religion gibt es gewisse romantische Elemente, wie sie sich in jedem Menschengemçte regen. Eine jede hat ihren Glaubenstraum, in dem Schein und Sein sich verweben wollen, eine jede ihr Tal der Dåmmerung; eine jede weiû um Weltmçdigkeit und Verachtung des Wirklichen. Aber in der einen Religion ist es ein stiller Pfad neben dem Wege, ist es ein begleitender Klang, ein Ton, welcher mitschwingt, in der anderen Religion ist es die Richtung, ist es der beherrschende Grundakkord, der die religiæse Melodie leitet und ihr den Charakter gibt. So scheidet sich, indem dieses oder ein ganz anderes Motiv das bestimmende ist, die romantische Religion deutlich von der klassischen. Und in diesem Sinne darf es gesagt werden: Das Judentum ist die klassische Religion und das Christentum ihm gegençber die romantische. Paulus Das Christentum hatte das Erbe der alten Romantik, der griechischen und orientalischen, çbernommen. In den hellenischen Lan63
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den war schon frçh, wahrscheinlich von Norden her siegreich eindringend, neben der çberlieferten nationalen Religion eine andere, dunklere einhergegangen, phantastisch und sentimental: die dionysische oder orphische, von der vieles gilt, nur nicht das Wort: »Griechheit, was war sie? Verstand und Maû und Klarheit!« Sie hatte alle romantischen Zçge an sich, den Gefçhlsçberschwang, die schwårmerische Abkehr von der Wirklichkeit, die Sehnsucht nach dem Erlebnis. Heilige Weihen und Sçhnungen wurden hier gelehrt und in verzçcktem, taumelndem Sinne durchkostet. Sie sollten den Menschen mit dem Jenseits verbinden, mit dem Gotte ihn eins werden lassen und ihm damit aus Ursçnde und Erbschuld die Erlæsung schenken. Denn sie kænnte nicht in eigener Kraft der Sterbliche finden, sondern nur durch die Gnade, die aus dem Verborgenen kåme, und zu der einst ein Mittler und Heiland, ein Gott, der çber die Erde dahingegangen sei, den Weg | gewiesen håtte. Wundersame Kunde erzåhlte hiervon und çberlieferte die Heilsereignisse und ihre Mysterien, damit sie sich in den Glåubigen immer wieder erneuten. Mystische Musikdramen, pomphafte, phantastische Auffçhrungen, die ein Halbdunkel wie in geheimnisvolle Fernen entrçckte, schickten der mçden, der eingeschlåferten Seele den schænen Traum, der sentimentalen Sehnsucht ihre Erfçllung, den Glauben, zu den Auserkorenen zu gehæren. In der staatlichen Religion hatte dieser Wunsch des einzelnen, erwåhlt zu sein und vor dem Gotte zu stehen, dieses sein individuelles Verlangen nach Bedeutung, nach ewigem Leben und Seligkeit kein Gençge gefunden; jetzt bot es sich ihm in dieser schwårmerischen Stimmungsreligion. So fand sie, je långer, desto mehr, den Weg in die Gemçter; sie wurde die neue Religion, die den alten naiven Glauben und den klassischen Geist des Griechentums nach und nach zersetzt und schlieûlich vernichtet hat. Weitere Kraft war ihr zudem noch herzugekommen von allerwårts her, wo es religiæse Romantik gab, von den orientalischen und ågyptischen Mysterien, von den Kulten des Mithra und des Adonis, des Attis und des Serapis. Sie alle waren gleich im Wesentlichen, in der sentimentalen Art, die aus dem Leben zum Erlebnis flçchten lieû, den Blick nach dem Jenseits des Phantastischen und Wunderbaren hinwandte. Auch was sie verkçndeten, war im Grunde immer dasselbe. Es war der Glauben an ein himmlisches Wesen, das Mensch geworden, gestorben und auferstanden sei, und in dessen gættliches Leben der Sterbliche durch geheimnisvolle Riten hineingewoben werde, der Glaube an eine Gnadenkraft von oben, die in den Glåubigen durch ein Sakrament eintrete, um ihn auf den Banden der Erdenschuld und des Erdentodes zu læsen und ihn zum ewi64
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gen Dasein und zur Seligkeit aufleben zu lassen. Sich in diese Vorstellungen von der Auferstehung und Apotheose, von den Gnadenmitteln und Weihen zu versenken, dazu war die schweifende Sehnsucht einer mçden Zeit nur allzu bereit, und sie suchte allenthalben nach ihnen. Von çberall her konnten die Mysterien in starken Wogen zusammenflieûen. Der Strom hatte seine freie weite Bahn. Das Gebiet vom Euphrat bis zum atlantischen Ozean war unter der ræmischen Herrschaft in einer Vælkermischung ohnegleichen zu einer kulturellen Ein | heit geworden. Wie die alten Staaten hatten auch die alten heidnischen Religionen mehr und mehr ihre Grenzen, ihre einstige Bestimmtheit verloren. Ein kosmopolitisches Sehnen und Hoffen erfaûte und verband alle. Der Weg war offen fçr den neuen grenz- und schrankenlosen Glauben. Er konnte im Weltreich die Weltreligion und die Weltphilosophie sein. Was immer die Menschen suchen mochten, er verhieû jedem, jedes zu geben, das Geheimnis und das Wissen, die Verzçckung und das Schauen, das Erlebnis und die Ewigkeit. Er war alles und ersetzte alles und hat darum alles schlieûlich çberwunden. Die groûe romantische Flut ging so çber das Ræmerreich hin, und in ihr ist die antike Welt versunken. Wie die alte naive Gætterpoesie unterging in dem sentimentalen Mythos vom erlæsenden Heiland, so verschwand die Klassik mit ihrem sicheren Sinn fçr Gesetz und Bestimmtheit unter dem bloûen Empfinden des Glaubens, welcher sich selbst genug war. Das, was der Sieg des Christentums genannt wird, ist im Grunde dieser Sieg der Romantik gewesen. Ehe jenes seinen Weg begann, war das, wodurch es schlieûlich Christentum geworden ist, oder, noch anders ausgedrçckt, das, was an ihm nichtjçdisch ist, bereits zu einem Weltglauben, zu einer neuen vælkerverbindenden Fræmmigkeit erstarkt. Der Mann, an dessen Namen jener Sieg anknçpft, Paulus, war, wie alle Romantiker, nicht sowohl ein Gedankenschæpfer, als vielmehr ein Gedankenverknçpfer; das Genie dieser Verknçpfung war sein eigen. Er hat das eine ± und dieses eine ist ein Weltgeschichtliches, ein wahrhaft Groûes ± vollbracht, daû er in das Mysterium, dem eine Welt bereits diente, lebendige jçdische Gedanken hineintrug. Er hat mit dem Zauber des universellen Mysteriums die Offenbarungskunde der geheimnisumklungenen jçdischen Weisheit zu einen verstanden. Er hat so der alten Romantik neue, çberlegene Kraft, Kraft aus dem Judentum gegeben. Diese Verbindung, die er fçgte, hat die Welt des untergehenden ræmischen Reiches, Orient und Occident, die eine Welt geworden waren, in sich aufgenommen. 65
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In Paulus selbst hatte sich dieser Bund, in dem das Romantische sich mit dem Jçdischen einen wollte, nach so manchem Tage durchgesetzt; er bedeutet die Geschichte seines Kåmpfens, die die Geschichte seines Lebens wurde. Die Bilder seiner Heimat Klein | asien hatten ihm schon frçh das eine, das Romantische, gezeigt; das Elternhaus und die Jahre des Lernens hatten ihm das andere, das Jçdische, gegeben. Er war dann im Lande seines Volkes zu denen gekommen, die dort sehnsuchtsvoll des Helfers und Befreiers, den die Propheten verkçndet hatten, harrten, die einen hoffend, daû er komme, die anderen wartend, daû er wiederkomme. Unter diesen Wartenden, vor denen das Bild ihres Messias, ihres Christus stand, der jung gestorben war und an seinem Tage wiederkehren wçrde, ein Bild, in so manchen Zçgen dem åhnlich, welches die heidnische Heimat in ihren Mysterien zeigte, hatte er sich zuletzt gefunden. Heiden blickten damals auf das Judentum und auch Juden auf das Denken und Suchen des Heidentums. Verheiûung und Weisheit traten so von dort und von hier, vom Heidentum und vom Judentum, zu ihm hin in all die Unrast und den Zweifel hinein, die den Hinausschauenden und Hinaushorchenden hierhin und dorthin zogen in seinem Begehren nach der Wahrheitsgewiûheit, in seinem Verlangen, nicht nur warten und hoffen zu sollen, sondern haben und glauben zu dçrfen. Und in diesem Hier und Dort hatte er schlieûlich seine Antwort vernommen. Sie wurde ihm die siegreiche, befreiende, weil sie nicht nur einen kommenden verheiûenen Tag, ein Einst, sondern die erfçllte Erlæsung, das Jetzt gewåhrte. Sie wurde ihm der Schluû, der alles besagte, weil sie alles enthielt, das sowohl, wovon ihm die Mysterien der Vælker erzåhlt, wie das, was die Verkçndigung seines jçdischen Volkes zu ihm gesprochen hatte; sie stellte zu dem einen Gott, vor dem die Gætter der Heiden schwinden sollten, nun den einen Erlæsenden, den einen Heiland, vor dem die Heilande der Vælker versinken durften, die Einheit des Heilands zu der Einheit Gottes. So erlebte er es: das Heidentum war in seinem tiefsten Trachten und Sinnen zum Judentum gefçhrt und das Judentum in seiner Offenbarung, seiner Wahrheit den Heiden auch geschenkt. Alles trat ihm jetzt entgegen. Was ihn sein Judentum im Kreise der Harrenden, in der Verkçndigung des messianischen Glaubens als Fçlle und Ziel aller Prophezeiung hatte finden lassen, diesen Glauben an die letzte Antwort, an die letzte Gewiûheit, an den, der gekommen war und kommen wçrde, dieses selbe entdeckte er in | dem Suchen der Heiden, vernahm er aus dem Mythos, der von çberall her in wundersamen Mysterien sich der Welt darbot. Und was 66
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ihm aus der Heidenwelt verworren entgegengeklungen war als Geheimnis der Gnadenkunde, in der eine Welt sich die Såttigung fçr ihre Sehnsucht bereitet hatte, fçr all das, fçr all dieses Dunkle, lieû ihn nun der Messiasglaube seines Volkes die Klarheit erfassen. Nun begriff er es: nicht Attis oder Adonis, nicht Mithra oder Serapis heiût der Auferstandene, der Heiland, der Mensch geworden und Gott gewesen ist, sondern er heiût Jesus Christus. Und Jesu, der der Christus seines Volkes geworden war, Bedeutung kann nicht sein, daû er der Kænig der Juden, ihr Kænig von Gottes Gnaden, ihr Mahner und Træster und Helfer gewesen, sondern sein Leben und seine Kraft besagen das eine und græûte, daû er der auferstandene, wunderwirkende, erlæsende Gott ist, der, der von Ewigkeit ist. Wer ihn hat, in Sakrament und Mysterium ihn glåubig besitzt, dem ist der Tag, der verheiûen worden, zum Heute, zur Erfçllung geworden; in ihm sind Jude und Heide der neue Mensch, das wahre Israel, die wahre Gegenwart. Der letzte Schleier schien Paulus jetzt von den Augen genommen, und die getrennte Welt sah er nun geeint. In des Judentums messianischer Gewiûheit erkannte er nun das Ziel, dem in den Tiefen der Wahrheit das Suchen und Irren der Heiden immer zugestrebt, und in dem, was die Heiden gewollt, aber nicht gewuût, erfaûte er nun den Inhalt und die Antwort dessen, was zum Judentum gesprochen, was ihm zugesagt war. Judentum und Heidentum waren ihm jetzt eines geworden; die eine Welt war da, die alles umschloû, der eine Leib und der eine Geist alles Lebens. Daû jçdische und griechische Weisheit im Grunde dasselbe meinten, war einer der Gedanken der Zeit. Er schien jetzt zur Wahrheit geworden. Nun brauchten die Juden nicht mehr als die Gemeinde der Harrenden bloû auf das Kommen oder Wiederkommen des Messias zum jçngsten Tage, der dann der erste Tag wieder sein wçrde, zu warten; im geheimnisvollen Sakrament war ihnen auch jetzt schon, war ihnen in jeder Stunde die erfçllte Zeit, in der alles geschehen ist, das Ziel der ersehnten Erlæsung geschenkt. Und die Heiden, sie lernten den nun wahrhaft kennen, den sie schon immer gesucht hatten, den Genannten und Ungekannten, und sie konnten nun das Geheim | nis begreifen, das seit altem als ihr Reichtum unter ihnen gewesen war. Judentum und Heidentum waren jetzt versæhnt, zusammengefçhrt im Romantischen, in der Welt des Mysteriums, des Mythos und des Sakraments. Wie sich im Geiste des Paulus das Gedankengewebe zusammengefçgt hat, wie sich die Fåden fanden und kreuzten, welcher Gedanke zuerst gekommen ist und den anderen herangezogen hat, danach fragen zu wollen, wåre vergebliches und auch unnçtzes Grçbeln. 67
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Paulus hatte von Jugend auf beides, den Besitz des Judentums seines Elternhauses und den Blick auf den Mysterienkult seiner Heimatlandschaft. In seinem Bewuûtsein hatte beides seinen Platz, und es hat sich zusammengeflochten, in eins gewirkt. Diese Verbindung, die sich in ihm schuf, ist von ihm in die Welt hinausgetreten. Und sie hat den Sieg in einer Welt, die mçde und sentimental geworden war, gewonnen; sie hat die Religion allen denen gegeben, deren matter, bangender Sinn hier und dort umhergeirrt war, um zu genesen. In ihr hat sich eine lange Entwicklung vollendet. Denn das Wesentlichste des alten Mysteriums ist in dieser paulinischen Religion geblieben. Auch sie glaubt an ein romantisches Gottesschicksal, das zum unabånderlichen Lose des Menschen wird und das der Inhalt alles Lebens ist. Nicht eine Schæpfung Gottes und nicht eine ewige sittliche Ordnung, sondern ein Heilsvorgang bedeutet alles; in einem himmlisch-irdischen Drama, einem Mysterienwunder zwischen hienieden und droben, offenbart sich der Sinn der Weltgeschichte wie des einzelnen Menschenlebens. Es ist kein anderes Wort als das bestimmte Wort Mythos, romantischer Mythos, das diese Form des Glaubens bezeichnen kann. Paulus ist damit aus dem Judentum hinausgetreten ± denn fçr den Mythos, der mehr als ein Gleichnis sein will, war in diesem kein Platz, fçr den neuen sentimentalen so wenig wie einst fçr den alten naiven ±; auf dem Wege dieses Mythos ist er zur Romantik çbergegangen. Wohl war dieser Mann tief innerlich im Judentum gewesen, und er ist seelisch von ihm nie ganz losgekommen. Auch nach seiner Bekehrung zu Mysterium und Sakrament hat er sich nur zu oft, wie unbewuût und unwillkçrlich, auf den alten jçdischen Gedankenwegen wiedergefunden; die mannigfachen Widersprçche zwischen seinen Såtzen kommen hiervon vornehm | lich her. Der Jude, der er trotz allem im Grunde seines Gemçtes blieb, hat mit dem Romantiker in ihm, dessen Stimmungen und Gedanken ihn umwoben, immer wieder gekåmpft. Aber trotzdem, wenn er so, wie er als der Apostel der neuen Ûberzeugung vor uns steht, seinen Namen erhalten soll, er kann nur der Romantiker heiûen. Zug fçr Zug tritt in seiner seelischen Art das hervor, was den Romantiker kennzeichnet. Das Glaubenserlebnis Auch Paulus sieht alles, um Schlegels Ausdruck zu gebrauchen, in der »phantastischen Form«, wo die Grenzen von Schein und Wirklichkeit, von Dåmmerung und Geschehnis sich verlieren, wo er die 68
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Bilder schaut, die das Auge nicht erblickte, und die Worte vernimmt, die das Ohr nicht hærte, wo er sich von dieser Welt und ihrer Hårte, von seinem Irdischen, das auf dem Boden dieser Erde festhalten will, erlæst fçhlen kann. Er lebt dann im Jenseits der Dinge, jenseits vom Streite des Auftriebs und des Schwergewichts, jenseits von Werden und Vergehen, dort, wo nur der Glaube hindringt und nur das Wunder wirkt. Darum ist ihm der Glaube alles. Glaube ist Gnade, Glaube ist Heil, Glaube ist Leben, Glaube ist Wahrheit; Glaube ist das Sein, der Grund und das Ziel, der Anfang und das Ende; Beginn und Bestimmung finden sich in ihm. Glaube gilt um des Glaubens willen. Man mæchte an das Wort neuerer Tage denken: »l'art pour l'art«; die paulinische Romantik kænnte entsprechend »la foi pour la foi« heiûen. Dieser Glaube ist so vællig alles, daû hienieden nichts dazu getan werden kann und nichts dazu getan werden darf; jedes »Wollen oder Laufen« ist unsinnig und unnçtz. Das Heil, das in ihm liegt, wird in nichts erworben, sondern ganz empfangen, und nur dem wird es zu eigen, dem es von Anbeginn an bestimmt war. Gott wirkt es, wie spåter Luther das Wort des Paulus erklårte, »in uns und ohne uns«. 1 Der Mensch ist nichts als das bloûe Objekt des gættlichen Wirkens, der Gnade oder der Verdammung; er erkennt nicht Gott, sondern es ist nur so, daû Gott ihn erkennt; er wird ein Kind der Erlæsung oder des Verderbens, »hineingezwungen in den Ungehorsam« oder hinaufgehoben zum Heile. Er ist das | Objekt der Tugend und der Sçnde, nicht ihr Erzeuger, ihr Subjekt. Man mæchte sagen: Der Mensch lebt nicht, sondern er wird gelebt, und was ihm bleibt, ist bloû, um mit Schleiermacher zu sprechen, »der Geschmack der Unendlichkeit«, das ist: das Erlebnis, das Stimmungs- und Empfindungsverhåltnis dessen, der sich ganz Objekt weiû, das Gefçhl des Glaubens, in dem die Gnade waltet, oder das des Unglaubens, in dem die Sçnde herrscht. Die Theorie von der Erbsçnde und Erwåhlung, die Paulus nach der Art der alten Mysterienlehre ausgestaltet und dann in das biblisch-talmudische Gewand gehçllt hat, ist nur dazu da, um die Vælligkeit der Macht zu erweisen, kraft deren die Passivitåt, oder um es wieder mit einem Worte der deutschen Romantik zu sagen, die reine »Hilflosigkeit«, die »schlechthinnige Abhångigkeit« das Menschengeschick ist. Eine çberirdische Bestimmung, die, mag sie nun Gnade oder Verdammnis heiûen, doch immer das Fatum ist, bewirkt nach unwandelbarem Gesetz, daû der Mensch nur so oder nur so ist. Er ist das reine Objekt, Subjekt ist immer das Fatum. Die Reli1.
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in nobis et sine nobis, Ausg. Weimar VI, 530 (de capt. Babyl.).
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gion wird damit zur Erlæsung vom Willen, zur Befreiung von der Tat. Spåter hat dann der Katholizismus des Mittelalters die Anschauung gemildert und ein gewisses Mitwirken des Menschen zugegeben. Aber Luther ist darauf zur reineren paulinischen Romantik wieder zurçckgekehrt, zu ihrem Losungsworte »sola fide«, »allein durch den Glauben«; »es muû vom Himmel und allein aus Gnaden kommen«. 2 Das Bild, das er dazu zeichnet, ist echt lutherisch hart im Ton, aber ganz paulinisch im Sinne: »Velut paralyticum«, »wie ein Gelåhmter« 3 mçsse der Mensch des Heiles und des Glaubens harren. Die Heteronomie des Lebens ist damit statuiert; das Leben des Menschen hat sein Gesetz und seinen Gehalt nur auûer sich. Dieser Glaube ist darum nichts weniger als etwa der Ausdruck einer errungenen Ûberzeugung, eine Gewiûheit, die aus dem Suchen und Forschen herauswåchst. Suchen und Forschen ist nur »fleischliche Weisheit«, die Art von »Philosophen und Rabbinern«. Die wahre Erkenntnis bewirkt nicht der Mensch, sie wird in ihm | gewirkt; er kann keinen Weg zu ihr bahnen, nur der Strom der Gnade fçhrt sie ihm zu und gibt ihm den Inbegriff des Wissens, das Ganze der Einsicht. Erkenntnis ist hier nicht das, was belehrt, sondern das, was erlæst, sie kommt nicht im Denken, sondern im Glauben; sie ist im Bewuûtsein der schlechthinnigen Abhångigkeit. »Nicht suchen, denn dem Glåubigen wird alles geschenkt!« ist der neue Grundsatz, das Axiom der romantischen Wahrheit, und jedes Ringen und Drången nach der Erkenntnis hin hat damit den Wert verloren und, was noch mehr bedeutet, auch den Sinn eingebçût. Dem Schritt um Schritt zur Wahrheit ist kein Raum mehr gelassen; unmittelbar stehen sie einander gegençber, die alles Schauenden und die nichts Sehenden. Die Gnade gibt jetzt das volle Licht, nachdem vorher nur Dunkel den Geist umfangen hatte; sie stellt den Menschen ans Ziel, und er ist der vollendete, der fertige Mensch. Der Begriff des fertigen Menschen, wie er hier hervortritt ± ein rechtes Kind der Romantik, der die Wahrheit nur ein Erlebnis ist ±, ist einer der wirksamsten aus der paulinischen Lehre geworden. Er hat die Gemçter, die an ihren Besitz so gern glauben mæchten und nach der Ruhe des Habens sich sehnen, immer wieder gelockt und dauernd festgehalten, und seit dem Untergange der alten Welt wird 2. 3.
Ausgabe Weimar XXIV, 244. Ebendort II 420: oportet ergo hominem de suis operibus diffidere et velut paralyticum remissis manibus et pedibus gratiam operum artificem implorare.
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das Geistesleben des Abendlandes durch ihn vielfach bestimmt. Er hat jene Richtung gewiesen, in der die Antwort jeder Frage vorangeht und jedes Ergebnis vor der Aufgabe steht, und die Habenden auftreten, die nie Werdende sein mæchten. Seine Philosophie ist die Lehre vom schon vorher Gegebenen, jene Scholastik des Besitzes, die die ganze Wahrheit bis in ihre letzten Enden von vornherein ihr eigen weiû und sie darum nur noch zu verkçnden oder nachtråglich zu beweisen hat. Das meiste von dem, was das katholische Mittelalter an Denkarbeit gezeitigt hat, ist unter seinem Einfluû. Unter seiner Herrschaft bleibt dann ganz die Lutherische Gedankenwelt; sie hålt am starren Besitzesglauben und damit am Mittelalterlichen fest. Erst die Zeit der Aufklårung hat dann begonnen, diesen Begriff zurçckzudrången, aber eben nur begonnen. Denn als im letzten Jahrhundert die Romantik wieder erwachte, ist auch er wieder erstanden. Mit ihr lebt er in spåteren Tagen fort. Er hat auch die RasseScholastik geschaffen, mit ihrer Heilslehre, mit ihrem | System von der Gnade, die in den dunklen Grçnden des Blutes, des modernisierten Pneuma, wirkt und die dem Erwåhlten alles schenkt, so daû er der fertige Mensch, das Ziel der Schæpfung ist. Wo immer Romantik wohnt, stellt sich dieser Begriff ein. Das vielberufene credo, quia absurdum »ich glaube, weil es widersinnig ist«, ist nichts anderes als der letzte Ausdruck, der sich daraus fast selbstverståndlich ergibt. Was vor dem forschenden Geiste und seinem Denken widervernçnftig und unvollziehbar dasteht, das darf dem vollendeten Menschen, ob er nun durch die Gnade oder von anderem her es geworden ist, in seinem fertigen Inneren die Wahrheit sein. Diesem Glauben muû sich das Wissen unterwerfen. Frçher oder spåter fordert jede Romantik das sacrificium intellectus. Auch hier ist Paulus' bester Kommentar das Wort Luthers: »In allen Christglåubigen,« so heiût es bei ihm, »soll die Vernunft getætet werden, sonst hat der Glaube keine Statt bei ihnen; denn die Vernunft ficht wider den Glauben.« 4 Unstreitig geht diese romantische Gewiûheit, wie Paulus sie verkçndet, von einer ursprçnglichen seelischen Erfahrung aus. Wenn ein starker Gedanke aus dem verborgenen Dunkel des Unbewuûten, wo er sich langsam und still vorbereitet hatte, dann mit einem in das Bewuûtsein emportritt, so wirkt er immer zuerst mit der Plætzlichkeit des Ungeahnten, mit der Kraft der Offenbarung. Wie im Wunder geworden, ohne daû der Weg des Denkens Schritt um Schritt zurçckgelegt wurde, fertig und vollendet, scheint dann 4.
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Ausgabe Erlangen 44, 156 f.
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die Wahrheit vor dem Geiste zu stehen und ihm zuzurufen, so daû er sie nur zu vernehmen brauche, und der Mensch, der das erfåhrt, wird es fçhlen, daû die Gnade çber ihn gekommen sei und ihn auserwåhlt habe. Das ist ja eine der Formen auch, in denen das suchende Genie findet, die romantische Art der Erfindung, wie ein moderner Denker sie genannt hat. Es ist dasselbe, was in Goethes Wort uns entgegentritt: »In ganz geringen Dingen hångt viel von Wahl und Wollen ab; das Hæchste, was uns begegnet, kommt, wer weiû woher.« Ein allgemein Menschliches spricht sich darin aus. Die Romantik hat das stark erfahren, so stark, daû ihr das eine zu allem geworden ist. Sie erblickt in diesem Erlebnis, in welchem sich der Mensch wie ein bloûes Werkzeug einer hæheren Macht fçhlt, nicht das nur, was es eben ist, nicht das groûe Erlebnis bloû, | sondern sie findet darin das Wesen, den ganzen und eigentlichsten Inhalt unseres Daseins. Sie nimmt zumal den ersten Empfångniszustand, diese Gewalt des Moments, fçr den Inbegriff und die Erfçllung alles Menschentums. Der romantische Zauber wird zur romantischen Wahrheit. Der erste ergreifende Eindruck mit seiner machtvollen Wirkung, mit seiner ahnungsreichen Vieldeutigkeit ist hier alles, und fçr irgendein weiteres, fçr die persænliche Lebensarbeit zumal, kann darum oft an Bedeutung nichts und an Urteil nur der absprechende Weltschmerz çbrig sein, der mit dem Leben hadert, weil es nicht immer die angespannten Erlebnisse schenken mag. Es ist ein gegebener Zusammenhang. Nachdem der Rausch der Erregung zum Sinn des Lebens geworden ist, bleibt gegençber dem nçchternen, harten Dasein bloû der Pessimismus, dem alle Wirklichkeit fremd und feindlich wird; Welttrunkenheit und Weltschmerz gehæren zusammen. Diese Art der Erfaûtheit herrscht in jeder Romantik. Daher das Sprunghafte und Unverbundene in ihrem Denken, diese aphoristische und abgebrochene Art, die der paulinischen Darstellung darum auch eigen ist. Und diese Impression, die alles bestimmt, ± das ist das weitere Verhångnisvolle an ihr ± kann leider so vieles sein, das Hæchste und das Flachste, das Gewaltigste und das Hohle. Sie kann der starke Eindruck der Stunde sein, aber auch, weit håufiger noch, der momentane leere Einfall des reizbedçrftigen und reizbegierigen Sinnes; sie kann echt und kann unecht sein, das seelische Erlebnis, das çber den Menschen kommt, aber auch der Wunsch der kçnstlichen Erregung, mit der der Empfindungssçchtige das Fçhlen und Sinnen anstachelt. Und hier wie dort will sie fçr alles gelten und will glåubig empfangen werden, unangreifbar fçr Zweifel und Prçfung. Es ist das Recht der Kunst, daû ihr der Eindruck um des Eindrucks 72
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willen gilt, daû er an sich, ohne daû ein weiterer Maûstab angelegt wird, als ein Ganzes und Vollendetes schon dasteht. Die Kunst ist nach dem Worte Schopenhauers »çberall am Ziel«. Aber fçr das Leben, und darum doch wohl auch fçr die Religion, ist es eine Gefahr, die romantische Gefahr, wenn die Impression des Erlebnisses alles bedeuten will. Denn damit verflçchtigt sich nur zu bald der Sinn fçr Lebensgehalt und Lebensgebot, der Sinn fçr die Wirklichkeit und ihre bestimmten Aufgaben, und an die Stelle | alles Strebens und Mçhens tritt die allein herrschende Glaubensstimmung, die sich selber fçhlt und es darin leicht hat, sich fertig zu dçnken. Es ist das Glauben um des Glaubens willen. Fçr den Romantiker ist der Eindruck, ist die Stimmung, das also, was çber den Menschen kommt, alles. Darin liegt auch sein Kçnstlerisches. In der paulinischen wie in jeder romantischen Religion kænnen wir diese Art deutlich beobachten. Sie nimmt das Glaubensund Offenbarungsmoment, die Entrçckung und Verzçckung, das also, was eine seelische Empfångnis der Religion, eine religiæse Weihe und Ergriffenheit ist, fçr die Religion selbst, fçr die Erfçllung der Religion, fçr die letzte Wahrheit und Vollendung. Der Erschlossenheit fçr das Tiefe, Verborgene, fçr das Geheimnis, des Offenbarungswunders, des Glaubenserlebnisses wird keine Religion entraten dçrfen; es ist das Mysterium, das Gebårende in ihr. Aber bei all dem Ahnungsreichen, Kçndenden, Schenkenden, das in ihm, oft nur in ihm gegeben sein kann, ist es doch noch nicht die Religion, die Religiositåt, ebensowenig wie das Gebet es schon ist, oder die Stimmung schon einen Inhalt gibt, ebensowenig wie die Geburt schon das Leben ist. Der romantische Fromme hat daran aber genug und alles. Er ist der hochgestimmte Mensch, der wohl zu fçhlen vermag und zu beten weiû, aber so oft çber das Gefçhl und das Gebet nicht hinauskommt, der Mensch, der so leicht immer auf der Schwelle bleibt, um dort alles zu empfangen. Seine ganze Religion ist ein Empfangen, und daher hat er es ja auch immer so leicht, zu meinen, daû er fertig sei. Sein Glaube bleibt rein passiv, ein Glaube nicht an das aufrufende, gebietende Gottesgesetz auch, sondern nur an die geschenkte gættliche Gnade. Die Aktivitåt kåmpft um alles, die Passivitåt hat alles. Dort wird gefordert, hier ist alles gegeben; selbst die Menschenliebe, die hier verherrlicht wird, ist nur die Gnadengabe, die des Glåubigen Anteil ist. Die einzige Aktivitåt des echten Romantikers ist, daû er sich zu seinem Gnadenstande beglçckwçnscht. Man kann in scharfer Gegençberstellung die paulinische Religion als die der schlechthinnigen Abhångigkeit bezeichnen gegençber der der gebotenen, aufgegebenen Freiheit, als die der Hingelehntheit 73
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gegençber der der Selbstbehauptung und Selbstentfaltung, als die der Quietive gegençber der der Motive; dort ist Mensch Subjekt, hier, in der romantischen Religion, ist er Objekt. Die Frei | heit, von der sie so gern spricht, ist nur die geschenkte Freiheit, die verliehene Heilstatsache, aber nicht ein zu erringendes Ziel; sie ist der Glaube, der bei sich selber stehenbleibt, aber nicht die Aufgabe des Lebens, nur ein »Du hast«, aber nicht auch ein »Du sollst«. In der klassischen Religion soll der Mensch durch das Gebot frei werden, in der romantischen ist er durch die Gnade frei geworden. Die Kultur und die Geschichte
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Es ist darum kein Zufall, daû Vælker mit lebendigem Unabhångigkeitssinn, je mehr dieser erstarkte, sich desto mehr, bewuût und unbewuût, dem Wege der klassischen Religion zuwandten. Die Geschichte der calvinistischen, tåuferischen Fræmmigkeit mit ihrem alttestamentlichen, »gesetzlichen« Zuge, mit ihrer Bewåhrungsethik låût es deutlich sehen. Ebenso ist es çberall gewesen, wo sich der soziale Drang geregt hat; auch er muûte diese Umkehr bringen. Denn auch ihm widerspricht die romantische Religion. Sie widerstrebt ihm, weil sie im Grunde ein religiæser Egoismus ist; alle Passivitåt ist eine Selbstsucht, eine Genuûsucht; in ihr kennt der einzelne nur sich und nur das, was ihm Gott oder das Leben bringen soll, aber nicht das Gesetz, nicht die gegenseitige Forderung der Menschen. Im religiæsen Schaffen, wie die klassische Religion es verlangt, findet sich der Mensch zu dem anderen hingewiesen; im bloûen religiæsen Erlebnis, in der des Gebotes ledigen Hingebung sucht er alles an sich und in sich selber. Er ist nur mit sich befaût, in sich befriedigt, auf sich bezogen bis zur religiæsen Gefallsucht, zur Glaubenskoketterie. Wie Nietzsche in seinem superlativischen Wort diesen Glåubigen einmal geschildert hat: »Er ist ungeheuer mit sich beschåftigt, er hat keine Zeit, an andere zu denken«. Dem sozialen Streben kann nichts mehr entgegen sein als diese romantische Fræmmigkeit, die immer nur sich und ihr Heil sucht. Sie steht çberhaupt dem ganzen Daseinskreis entgegen, in dem der soziale Zug wirken will. Jede Romantik entwertet das Arbeitsund Kulturleben, diesen Lebenszusammenhang, wie ihn sich der tåtige Mensch schafft und in dem er sich mit anderen verbunden weiû. Wo das Leben, wie in ihr, in die Stimmungsmomente | auseinanderfållt, wo also nur das Erlebnis, das heiût der Augenblick, als das Wesentliche dasteht, und alles Sonstige nur als »die Leere zwischen den 74
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Augenblicken« erscheint, dort wird die Arbeit immer nur als ein Niedrigeres oder wenigstens als ein Nebensåchliches bloû gelten kænnen. Das bloûe Erlebnis, der Moment, ist der Widerspruch zur Arbeit. Die Romantik kann darum ein deutliches positives Verhåltnis zu ihr nicht gewinnen. Es ist keine bloûe dichterische Laune, sondern Wesen vom Wesen der Romantik, wenn Friedrich Schlegel das Lob des Mçûigganges, der romantischen Faulheit anstimmt, wenn ihm »Schlafen die hæchste Genialitåt ist«; es ist nichts anderes als jene Passivitåt der Romantik, die lieber tråumen als wirken mag. Am verhångnisvollsten ist dieser Mangel fçr die romantische Religion geworden. Sowie sie in ein Gebiet kulturellen Wirkens eintrat und in ihm, nicht bloû neben ihm sein sollte, muûte sie alsbald in einem Zwiespalt stehen, in dem Zwiespalt, daû die Arbeit degradiert wurde und doch zugleich gefordert werden muûte. Die Geschichte der mittelalterlichen katholischen Sittenlehre mit all ihrem Dualismus, mit ihrer Scheidung von irdischem und himmlischem Beruf, mit den »Geboten« und »Råten«, die sie gab, zeigt diesen Widerspruch. Auch Luther hat ihn nicht zu çberwinden vermocht. Er hat die Bedeutung weltlicher Arbeit wohl gehoben. Aber er ist zunåchst nur auf dem Wege der Verneinung, durch seine Bestreitung eines mçûigen Mænchtums, hierzu gelangt. Und wo er dann das positive Verståndnis hierfçr sucht, kommt er, auch hier wiederum, çber die paulinische schlechthinnige Abhångigkeit schlieûlich nicht hinaus. Fçr ihn ist der irdische Daseins- und Arbeitskreis, in den einer einmal hineingesetzt ist, die Schickung von oben, der sich der Mensch demçtig und gehorsam zu ergeben hat; Kaste und Zunft sind die feste Schranke, an der nicht gerçttelt werden darf, weil Gott sie aufgerichtet hat. Fçr den sozialen Auftrieb fehlt ihm schlechthin jeder Sinn wie jede Teilnahme; der Begriff der gottgewollten Abhångigkeit, der von Gott bestimmten çber- und untergeordneten Stånde, ist ein echt Lutherischer. Erst der Calvinismus, der auch darin dem Judentum wieder nåhertritt, hat die freie, sittliche Kraft der weltlichen Arbeit, das aufwårtsweisende Recht und Ziel des bçrgerlichen Berufes klarer zu erkennen begonnen. | Der romantischen Religion fehlt darum auch jede innere Notwendigkeit, an das Staats- und Wirtschaftsleben heranzutreten, um es zu versittlichen und vorwårtszudrången. Die Gleichgçltigkeit gegen das irdische Aufwårts hat es ihr immer leicht gemacht, die Beugung unter jedes irdische Joch zu verteidigen oder auch zu predigen. Von dem paulinischen Wort »Jedermann sei untertan der Obrigkeit«, ist hier immer nur ein Schritt dazu gewesen, daû jeder Despotismus zuerst geduldet und dann recht bald geheiligt worden ist. Nicht zum 75
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mindesten Luther und die ihm folgten, haben auch mit diesem Paulinismus Ernst gemacht. Mit welch stummer Kålte hat nicht die protestantische Kirche Deutschlands beispielsweise der Leibeigenschaft und einem Menschenhandel zugesehen. Soviel man kirchlich den Staat beanspruchte, sowenig hat man moralisch ihm abverlangt. Man brauchte es nicht zu tun. Das romantische Prinzip des Fertigen stand ohnehin gegen jeden Aufstieg, und die romantische Stimmung vertrug sich mit allem Niedrigen. Man kann einen starken Glauben und fromme Erlebnisse haben, ohne durch Sklaverei, Tortur und æffentliche Greuel gestært zu werden. Das Gefçhl schlechthinniger Abhångigkeit, das die heilige Musik vernimmt, wird durch das alles nicht beeintråchtigt. Schon die antike Mysterienreligion hat sich mit den Tyrannen sehr wohl verstanden, und diese haben sich zu ihr sehr wohl zu stellen gewuût in dem feinen Gefçhl dafçr, daû der Jçnger des çberweltlichen Geschehens auf dieser Erde ein gehorsamer Untertan ist. So ist es immer gewesen ± zwischen den Gebietern und den Glåubigen wurde leicht geschlossen, wo die romantische Religion waltete, und jeder Rçckgang war geheiligt, und jedes Vorwårtsdrången wurde verdammt. Das Kulturproblem kann in einer romantischen Religion nicht gelæst werden. Sie kann nur entweder gegen die Kultur sein, in dem Bedçrfnis, nichts auûer sich zu kennen ± an der Geschichte des Katholizismus und auch der des protestantischen Mittelalters, das in das achtzehnte Jahrhundert hineinreicht, beobachten wir es ± oder neben der Kultur stehen mit einem Gefçhle der Ratlosigkeit und des Zwiespalts ± der moderne Protestantismus, der immer aufhæren muû, paulinisch und lutherisch zu sein, sobald er wahrhaft im Sozialen sein mæchte, låût es uns, am deutlichsten vielleicht | in Naumanns »Briefen çber Religion«, erkennen. Immer bleibt die lebendige Kultur ein Drauûen, ob nun deshalb, weil sie, wie dort, bestritten wird, oder, wie hier, weil kein gerader gewiesener Weg zu ihr hinfçhrt. Manche Erscheinungen, die das zu widerlegen scheinen, sind nur die Ausnahmen, die die Regel beståtigen; denn sie sind auf alttestamentlich-calvinistischem und -tåuferischem Boden erwachsen. Von daher ist auch die evangelisch-soziale Bewegung hergekommen. Der eigentliche romantische, paulinische Glaube mit seiner Heteronomie des Lebens, mit der Passivitåt, auf die er sich grçndet, kann einer Kultur, zumal der sozialen, die ihre Daseinskraft in dem Gebote der Verwirklichung hat, das an den Menschen ergeht, nur fremd gegençberstehen. Er kann nicht prinzipiell, sondern nur nachtråglich den Aufgaben gerecht sein, die die soziale Aufgabe dem Menschen stellt. 76
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Dem widerspricht auch nicht der Begriff der christlichen Kultur, der die Jahrhunderte beherrscht hat. Er hat sich notwendig ergeben. Denn zur Romantik gehært der Synkretismus, das Bedçrfnis, alles zu verweben. Die Romantik will alles bedeuten und sucht darum alle Gebiete menschlichen und çbermenschlichen Daseins zu mischen, sie zu einem Allkreis, einem Allstaat, einer Allkunst, einem Allglauben zusammenzuziehen; sie wollte und muûte daher auch stets, da sie nicht vermochte, der Kultur religiæse Aufgaben und Ziele zu stellen, Glauben und Kultur verquicken oder verwechseln. Aber dabei hat, ganz abgesehen von dem Schaden, den das Religiæse erlitt, die Kultur immer einen Weg und Platz ihres Besonderen verloren. Des Gebotes der Freiheit, des eigenen fordernden Wertes entledigt, in einen Glauben hineingestellt, der alles gelten und bestimmen sollte, konnte sie oft wenig von sich behalten. Wie es die romantische Beziehung zur Wissenschaft wurde, daû diese das Opfer des Intellekts bringen muûte, so hat der romantische Bund mit der Kultur dahin gefçhrt, daû ihr das, was ihre Aufgabe ist, das Recht der Entwicklung, das Recht auf neue Mæglichkeiten abverlangt wurde. In der christlichen Kultur hat die Kultur von ihrem Eigentum manches eingebçût, und was, mit jenem Namen benannt, wåhrend des Mittelalters geherrscht hat, das ist, bei all seinem Groûen und Wundersamen, wesentlich eine, allerdings imposante, kirchliche Gleichheit und Einheit, eine unbegrenzte Ausdehnung des inneren und åuûeren | kirchlichen Machtbereichs gewesen. Alles Leben war innerhalb der Kirche und ihres leuchtenden Glanzes, und nur das, was dort bestehen konnte, lebte darum. Erst die neue Zeit, die Zeit, die in der Renaissance zunåchst begann und wieder schwand und dann mit dem Aufklårungsjahrhundert von neuem erwachte, hat der Kultur in vielen Låndern ein Eigenrecht wiedergegeben. Es ist zwar eine håufige Darstellung, die sich auf einen Ranke selbst berufen kann, daû die Reformation diese Freiheit heraufgefçhrt habe. Aber die spåtere, genauere Forschung hat das als irrig nachgewiesen. So bedeutend Luthers Werk dasteht, daû er Europa aus der Alleinherrschaft der einen Weltkirche gelæst hat, er gehært in seinem Denken doch durchaus in das Mittelalter noch hinein. Er gehært in diese Zeit noch hinein nicht nur durch seine scholastische Theologie, sondern eben vor allem durch sein Bestreben, die Kultur gleichfalls kirchlich zu beherrschen und zu gestalten. Auch die Reformationskultur ist nichts anderes als die mittelalterliche christliche, die extensive Zwangskultur, sie hat den engeren Kreis, dem Raume wie dem Inhalt nach, aber sie hat das gleiche Trachten. Die spåtere Kultur, die eine offene Bahn hat, ist 77
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eine weltliche und darum eine unprotestantische auch, sie ist es in ihrem Wesen und auch in ihrer Entstehung; sie hat sich durchsetzen kænnen nur durch den Kampf gegen die Kirche, gegen die protestantische ganz ebenso wie gegen die katholische. Sie geht zurçck nicht auf Luther und sein Werk, sondern weit eher noch auf die Månner und die Bestrebungen, die am heftigsten von Luther bekåmpft worden sind. Erst als die Kultur, die er gelehrt hat, zu einer Vergangenheit zu werden begann, konnte diese andere Zeit anheben. Erst damit konnte dann auch die klassische, sittliche Idee der Geschichte wiedergewonnen werden, diese Idee des Werdens, des Nie-Fertigen, des gewiesenen Anstieges. Auch sie hatte in dem mittelalterlichen, romantischen Gedankenkreis keinen Platz haben kænnen; denn auch sie grçndet sich auf das Verståndnis fçr das Zusammenwirken und Ineinandergreifen strebender, suchender Wesen, auf die Anerkennung menschlicher Arbeit und Aktivitåt, auch des menschlichen Irrens und Fehlens als eines Pfades zu dem Wege, der geboten ist. Fçr sie liegt das Ziel immer neu in der Ferne am Ende einer Bahn. Fçr die Romantik, die das Schritt um Schritt | ablehnt, steht es schon gegeben und endgçltig da. Es ist ihr nur ein Geschenk gættlicher Gnade, aber nicht auch Aufgabe menschlichen Schaffens; dem fertigen Menschen entspricht die erfçllte Zeit. Sosehr die Romantik im Vergangenen lebt und es nachempfindet, kann sie darum doch die Idee der Geschichte als einer fordernden Kraft im Menschheitsleben nicht gewinnen noch ihr gerecht werden. Man kænnte mit einem Gegensatz der Worte sagen: sie hat nicht die Geschichte, sondern nur die Historie, das heiût: sie hat es mit der Vergangenheit nicht als einem Werdenden zu tun, sondern als einem Abgeschlossenen, in das sie sich nur noch hineinzuleben sucht. Sie weiû nichts von der groûen Predigt des Weiterringens zu den kommenden Tagen hin; fçr sie gibt es nur ein Geschicktes, in dem alles beendet worden ist, sie fçhlt sich immer nachgeboren. Auch darum schon hat ja die Kultur hier nicht ihren Platz; sie kænnte hier nur die abgeschlossene Kultur sein, und eine solche ist ein Widerspruch in sich, denn die wahre Kultur muû die immer neuen Mæglichkeiten verlangen. Es liegt so in der romantischen Art, wenn die christliche Kirche mit einem bestimmten Ereignis, dem Leben und Sterben Jesu, das Wesentlichste alles Geschehens beendet sein heiût, das gesamte religiæse Ideal in einem auûerordentlichen Dasein endgçltig erfçllt werden låût. Dieses eine ist das Absolute, Unçberbietbare in der Geschichte, und alles Weitere kann bloû danach noch beurteilt werden, wie es sich zu diesem Einen stellt, alle Religion nur darin bestehen, 78
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sich in dieses eine Unvergleichliche, das einmal gewesen ist, zu versenken und es dadurch neu zu erleben. Die Vergangenheit wird zum Dogma. Ganz besonders tritt dieses bloû historische, nicht-geschichtliche Wesen in dem modernen Protestantismus hervor, in ihm ganz besonders, weil er fast nur noch historisch ist. Nachdem er vom Dogma das allermeiste aufgegeben hat, bleibt die Historie fast sein einziger Glaubenssatz. Die Frage der »einzigartigen« Persænlichkeit Jesu wird fçr ihn die Existenzfrage der Religion. All sein Mçhen und Streben muû darauf gehen, fçr dieses eine bestimmte Leben gegen die andrångenden Einwånde immer wieder einen historischen Nachweis zu erbringen. All sein Dichten und Trachten ist so ein stetes Restaurieren, ein immer erneuter Versuch, das eine Ereignis der Vergangenheit wieder stilgerecht darzustellen; | restaurieren ist ja romantische Art. Die Beziehung zur Religion wird eine Beziehung zur Historie. Damit wird ein bewiesener oder bestrittener Tatsachenkreis, im Lessingschen Sinne ein Zufålliges, fçr die Erfçllung der Religion entscheidend, der Glaube wird von einer historischen Beglaubigung abhångig gemacht. Zwar ist es der geschichtlichen Offenbarungsreligion eigentçmlich, daû sie um das Geheimnis des Beginnes weiû und ein Geschehnis aus der Vergangenheit heraushebt, um den Gang der Wahrheit zu bestimmen. Aber es ist doch ein wesentlicher Unterschied, ob, wie dort, ein Anfang gesetzt wird oder, wie hier in der paulinischen Religion, das absolute Ziel und die letzte Erfçllung. Dort ist der Gedanke der Weitergestaltung gegeben oder mindestens zugelassen; hier ist er von vornherein abgelehnt. In der einen wie in der anderen Religion wird gesagt, wie es gekommen ist, aber in dieser wird damit der Beginn gegeben, der çber sich in die Zukunft hinausweist, in jener das Ende, das alles bedeutet hat und alles entscheidet. Die eine ist geschichtlich; die andere nur historisch. Das Græûte im Leben wird so fçr die paulinische Religion ein Ausruhen in der »erfçllten Zeit«. Gehen und Werden erscheint als eine Entfremdung von der Religion, eine Entfremdung von dem Glauben, der alles ist. Das Gute hat hier nur eine Ruhe, und was eine Geschichte hat, das ist das Ungættliche und Widergættliche. Das Gottesreich, das immer gleich bleibt, kann hier wohl eine Zeitfolge, eine Chronologie haben, aber keine Geschichte; diese tritt nur als ein Andrången des Dåmonischen hin, welches die Herrschaft çber Welt und Menschen erringen will. Das entspricht ja auch dem Ereignis, das am Anfang dieser Religion steht. Wo ein Gottesschicksal Grund und Antwort fçr alles ist, dort wird das Wesen der Geschichte zu 79
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einem Schauspiel zwischen drunten und droben, das sich jenseits alles Menschlichen vollzieht und nur im Gnadenwunder oder im Dåmonensieg in dieses eintritt. Der Mensch hært auf, das wollende Wesen der Geschichte zu sein, er wird das Objekt des çberirdischen Kampfes, und wer das Wirkliche schauen will, darf nur das Ûbernatçrliche erfahren. Die Heteronomie bemåchtigt sich damit auch der Geschichte, und der Sinn des Geschehens zerflieût in das Erlebnis. Wiederum zeigt es sich, wie alles in der Romantik auf dieses zurçckfçhrt. | Das Sakrament Aber nicht nur in der Stellung, die das Erlebnis hier einnimmt, schon in diesem selber droht der Romantik eine gefåhrliche Klippe. Das Erlebnis, wie es »aus dem Glauben kommt und zu Glauben wird«, soll alles bedeuten, es trågt die Religion. Aber es steht doch nur in seltenen Feierstunden in der Seele. Der Mensch lebt nicht von der Stimmung allein. Und hier ist der kritische Punkt fçr die paulinische wie fçr jede romantische Religion: sie kann des Erlebnisses nie entraten, und dieses mag und kann doch nicht immer eintreten, noch kann es zu jedem hingefçhrt werden; es »weht, wo es will«. Es soll Ein und Alles in der Religion sein, die Kraft, ohne die sie nicht zu sein vermag; aber die Tore zu ihm tun sich nicht jedes Tages und nicht fçr jeden auf. Eines nur kann die Læsung bringen: ein Weg muû gefunden werden, auf dem das Auûergewæhnliche zum Stetigen wird, das Geschenk der Feierstunde auch zur Gabe des Alltags. Das Erlebnis muû auf den Boden dieser Erde gefçhrt werden. Die Geschichte der religiæsen Romantik weiû mancherlei, und nicht nur religiæses, von diesem Suchen zu berichten; das Erhabene und das Gemeine stehen hier beieinander. Der indische Romantiker kasteit und hypnotisiert seine Sinne, um dazu zu gelangen, er çbt die Yoga, die schwere Kunst des Versinkens. Sein sinnenfroherer Bruder, der persische Sufi, nimmt den Becher zur Hand, daû »das Feuer des Weinhauses das Haus des Verstandes verzehre«; im irdischen Rausch will er sich die heilige Trunkenheit bereiten. Und auch in der deutschen Romantik begegnet uns ja dieses Wort. Die Romantik, aus der Paulus geschæpft hat, war hæhere Wege gegangen. Sie hat die Sakramente gelehrt, das heiût die Gnaden- und Seligkeitsmittel, die heiligen Dinge und Handlungen, die Taufen, Salbungen, Mahlzeiten, die die Gottheit mit dem Menschen stets verbinden, vermittels deren also das Wunder des Erlebnisses Tag um Tag objektiv wirksam ge80
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macht zu werden vermag. In ihnen wird die phantastische Form der Religion greifbar und faûlich, sie geben das stets bereite Wunder, das miraculum ex machina, sie tun die Tçr auf, durch die das Wunder immer wieder eintritt, der Geist immer wieder weht; das Erlebnis soll zum garantierten Besitze werden. Fast unveråndert hat Paulus diese | Gnadenmittel aus der antiken Romantik çbernommen, und durch nichts hångt seine Religion so sichtbar mit dem alten Mysterienkult zusammen wie durch diese seine Lehre von den Sakramenten. Auch fçr ihn sind sie ein Unentbehrliches, der feste Boden des Glaubensdaseins, die notwendige Verdichtung des Erlebnisses; ohne sie schwebte seine Religion in der Luft. Das Bild aus dem Kærperlichen und Naturhaften ist hier kein bloûes Gleichnis. Denn ganz ebenso wie in den Mysterienkulten sind bei Paulus die Sakramente etwas durchaus Materielles und Sachliches; bloûe Symbole in ihnen zu erblicken, das wçrde er als eine Entwçrdigung und Verflachung weit abgewiesen haben. Sie sind etwas vollauf Reales, ein Dingliches, dem die gættliche Wunderenergie innewohnt und das darum durch sich selbst gilt und schafft als eine magische, heilige Sache, durch welche die Lebenskraft Gottes dem Menschen zugeeignet wird. Der Mensch selbst ist auch hier wie im Gesamten der paulinischen Lehre nur Objekt; er heiligt nicht die Handlung und wirkt sie nicht, sondern sie flæût sich ihm ein und wirkt in ihm als ein Wunder, wie eine alte christliche Schrift es benennt: als »die Arznei des ewigen Lebens, als das Gegengift gegen den Tod«. 5 Das menschliche Gewissen gibt dieser Handlung nichts und nimmt ihr nichts, wenigstens nichts Wesentliches; sie hat an sich ihre volle und unzerstærbare Kraft. Ihre Bedeutung ist die eines objektiven Geschehnisses, eines sachlichen Vorganges am Menschen. Daher ist es nur folgerichtig, daû das Sakrament auch ganz abseits von dem Willen und dem persænlichen Zutun durch das bloûe Geschehen, ex opere operato, wirkt; es kann in ungemindertem Wunder, unbeeintråchtigt, von anderen am Menschen und fçr den Menschen ± selbst fçr einen Verstorbenen ganz wie an dem in das denkende Leben noch nicht Eingetretenen, an dem eben geborenen Kind ± erworben und vollzogen werden, er braucht weder im Handeln noch im Wissen daran teilzunehmen. Jene vællige Passivitåt, jene schlechthinnige Abhångigkeit, durch die Paulus die menschliche Natur bestimmt sein låût, die Heteronomie des Daseins, die er lehrt, findet hier ihren entschiedenen Ausdruck. Aber nicht nur sie, sondern auch ein anderes Wesentliches: die 5.
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Ignatius, Ephes. 20, 2.
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Religion, die so spirituell angehoben hatte, verdichtet und mate | rialisiert sich. Die Sakramente vollziehen das Wunder und schaffen den Heilsstand, sie verbinden mit Gott, ganz ebenso wie das Glaubenserlebnis es tat. Aber das Heil, das in ihnen gebracht wird, ist nicht ein rein Seelisches mehr, nichts mehr, was im Psychischen wirkt und psychologisch zu verstehen ist, sondern es ist ein çbernatçrlich Materielles, etwas, was in magischer Weise schafft. Das Heil ist hier eine Substanz, die in den Menschen eingeht, eine Substanz allerdings çbersinnlicher Art, aber doch eine Substanz. Es ist himmlisches Wasser der Taufe und himmlisches Brot des Abendmahls, die aus dem Tode zum Leben retten. In dieser realen dinglichen Bedeutung ist das Sakrament herrschend geblieben; die katholische Kirche, die ræmische wie die griechische, hålt an ihr fest, und auch Luther steht grundsåtzlich bei ihr. Mehr und mehr hat es dann den ursprçnglichen Glaubensstand zurçckgedrångt. Begreiflicherweise, denn es bot dasselbe wie er, es brachte alles und leistete alles, es rettete und erlæste, und es war dabei die bereite Gabe jedes Tages. So muûte es nach und nach ein weites Gebiet in der Religion besetzen. Wohl hat die katholische Kirche, um dem romantischen Grundbegriff und Ursprung treu zu bleiben, das Erlebnis auch in seiner auûerordentlichen, unvermittelten, seelischen Kraft zu bewahren gesucht. Sie hat den hohen Platz dem Stande derer gegeben, die aus dem Leben fortgehen, um das ganze und unmittelbare Erlebnis zu haben, und sie hat dafçr die anderen hiervon freigelassen; in den Mænchen und Einsiedlern hat sie diese stellvertretenden Månner der ganzen Romantik geschaffen. Denn das ist doch der Sinn und Gedanke des Mænchtums gewesen, daû Menschen da seien, denen nicht nur ein Bestimmtes den Gang des Daseins religiæs unterbricht, nicht nur das Sakrament den Augenblick, in dem das Gættliche eintritt, bringt, sondern mit einem Flusse von Stunden das ganze Erlebnis immer wieder zukommt, um das Dasein in gespannter Stimmung zu beherrschen; ihnen ist die Religion in der romantischen Fçlle, die vita religiosa, geschenkt. Und auch manche spåteren Bewegungen in der Kirche sind am ehesten daraus zu verstehen, daû die Gottesimpression ihre alles bedeutende Stelle wieder einnehmen solle; auch Luthers erstes Drången und Streben, die Zeit seiner »methodistischen« Fræmmigkeit zielt dahin, nicht minder das enthusiastische Tåufertum und der Pietis | mus. In gleicher Weise ist ja auch das ursprçngliche auûerordentliche Wunder grundsåtzlich von der katholischen Kirche weiter festgehalten worden, sie hat die eigentlichste »Heiligkeit« nur in denen erblickt, die dieses Wunder tun oder 82
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an denen es geschieht, und sie hat diese Heiligen auch immer wieder zu finden gewuût. Aber so hoch die einsamen Mænche als die wahren Christen dastanden, und so hoch die Wunder der »Heiligen« gepriesen wurden, das Sakrament, das jedem Glåubigen zur Stunde ein Wunder und ein Erlebnis çbermittelte, verlor von seiner Herrschaft nichts. Es muûte um so græûere Bedeutung gewinnen, je mehr im Laufe der Zeiten das, zuerst so herabgesetzte, weltliche Schaffen und Wissen allenthalben seine unabweisbaren Anforderungen erhob und seine eigene Regelung verlangte, je mehr darum der Anspruch an »christliches Leben« sich begrenzen muûte und der Glaube der Kirche weithin aufhærte, ein Erlebnis zu sein, um dafçr vielfach bald politisch, bald philosophisch zu werden. Das Sakrament blieb nun das gegenwårtige Wunder, das Erlebnis schlechthin, die stetige sichere Gabe aus der hæheren Welt und damit der bestimmte Gehalt der romantischen Religion. Das ist es, wie schon gesagt, uneingeschrånkt auch noch fçr Luther. Auch fçr ihn trågt es die Religion, schafft es den Gnadenstand. Zwar hat er es in der Zahl herabgesetzt, aber er hat dafçr das »Wort« danebengestellt, das fçr ihn das groûe Gnadenmittel ist, dem die Heilskraft innewohnt, in dessen Darbietung das Wunder des Glaubens geschieht. Es bedeutet nicht bloû etwas, sondern es ist etwas, und es wirkt daher allein dadurch, daû es gepredigt wird, ex opere operato; sein Einfluû ist kein psychologischer, sondern ein çbernatçrlicher, magischer. Der Mensch steht davor schlechthin abhångig, rein passiv und empfangend. Die Bejahung des Wortes im Glauben kommt çber ihn ohne sein Tun oder Mithelfen, eben als ein Wunder; der Glaube kann nicht gewonnen, sondern nur durch die Gnade gegeben werden. »Daû du das Wort hærest und aufnimmst, ist auch deiner Kraft nicht, sondern Gottes Gnade, die das Evangelium in dir fruchtbar macht, daû du ihm glaubest«. 6 Ganz ebenso faût Luther das Wesen der beiden alten Sakramente, der Taufe und des Abendmahls; in ihnen vollzieht sich das Wunder, das den Menschen ergreift. | »In, mit und unter dem Brot und Wein« ist die wunderbare Substanz, und das Wasser der Taufe ist »ein gættlich, himmlisch, heilig und selig Wasser«, 7 durch das »der Glaube eingegossen und so der Mensch umgeschaffen, gelåutert und erneuert wird«. 8 Immer ist 6. 7. 8.
Ausgabe Erlangen 102 , 12. Groûer Katechismus IV.
2 Ausg. Weimar VI, 539 (De captiv. babyl.): fide infusa mutatur, mundatur et renovatur.
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er das bloûe Objekt, und in der Bestimmtheit, mit der Luther diese Passivitåt des Glåubigen hierbei betont, geht er wiederum noch çber die katholische Auffassung hinaus. In seiner ersten Zeit hatte er, aus der Opposition gegen die katholische Kirche hervor, dem Glaubenserlebnis eine entscheidende Kraft beigemessen, aber je långer, desto mehr hat er den Sakramenten den eigentlichen Wert gegeben und geben mçssen, so daû sie nun unentbehrlich fçr die Religion werden, und es also keine Religion gibt ohne sie. Wie der schlesische Reformator Kaspar Schwenckfeld es seinem Meister vorhålt, er »will ohne sein åuûerlich Ding niemand lassen selig werden«. Es ist keine bloûe eigensinnige Laune gewesen, wenn Luther schlieûlich wie um Sein und Nichtsein hierfçr gestritten hat gegen die tåuferische und Zwinglische, darin mehr alttestamentliche, Auffassung, die im Sakrament ein Symbol sehen wollte. Sie muûte fçr ihn eine Entwertung des Heiligsten bedeuten, und håtte er ihr recht geben sollen, so håtte er von seinem Fçhrer zur Wahrheit, von Paulus fortgehen mçssen. Sein paulinischer Grundsatz »sola fide«, »durch den Glauben allein« stand und fiel damit, daû der Mensch schlechthin abhångig ist, und daû nur im Wunder das Heil çber ihn kommen kann. Diese vællige Passivitåt verlangte ein Sakrament, das nicht als ein Zeichen nur gilt, dem der Mensch etwas geben soll, sondern çbernatçrliche Wirklichkeit ist, die dem Menschen alles schenkt. Der romantische Glaube kann in dieser Welt nicht des bestimmten Gnadenmittels entraten. Luther hat es so wenig entbehren kænnen, wie einst Johannes, der Evangelist, oder Origenes es vermocht hat. Wie sie hat er Gott an ein »åuûerlich Ding« geknçpft. Weil sie romantisch ist, hat die Religion, zu der Paulus den Grund gelegt hat, Sakramentsreligion werden mçssen, und sie ist damit, man kænnte es fast so bezeichnen, eine Zeremonialreligion geworden. Ein Zeremonielles, denn ein solches ist doch die Sakraments- | çbung, ist in den Mittelpunkt des Glaubensdaseins gerçckt, als unentbehrlich fçr das Eintreten des Heils. Auch das Judentum hatte seine Zeremonien geschaffen, vielleicht ein allzu reiches Maû davon, aber in ihm wurden sie nur als die Auûenwerke der Religion aufgerichtet, als ein »Zaun um die Lehre«, wie das alte Wort sagt; sie sind die Symbole und Zeichen, die auf ein Religiæses hinweisen, in deren Beobachtung man aber noch keine wahre Fræmmigkeit, noch kein gutes Werk erblickte. Durch Paulus ist das doppelte Bedeutungsvolle zum Siege gebracht worden; eine Zeremonie erhålt die zentrale Stelle, und diese Zeremonie umschlieût etwas Reales, in ihr ist ein magisches Werk, ein Geschehen des Wunders. Der Weg des Judentums war es gewesen, eine Fçlle der Wundervorstel84
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lung aus den Kindheitstagen mehr und mehr zu çberwinden. Jetzt tritt sie im Christentum als Stetes hervor ± jedes Aufleben der Romantik ist auch ein Aufblçhen des Wunderglaubens gewesen ±, und sie wird hier ein Prinzip, ein Dogma, ein tragender Begriff der Religion. Religion ist jetzt nur dort, wo das Wunder ist, und nur dort, wo es sich vollzieht, ist Gottesdienst. Die Sakramentsreligion hat ihren Platz in der Kirche des Wunders, ihr Kultus, mit seiner Zeremonie, ist das Wunderdrama. Die romantische Kirche In der Stellung, die das Sakrament gewann, muûte sich zugleich der Kirchenbegriff emporsteigern. Wenn das Wunder das Wesentliche ist und auf ihm alles beruht, so muû es ununterbrochen fortdauern, sich zur bleibenden, beståndigen Wunderexistenz erweitern, und diese kann nur verbçrgt sein durch eine im Wunder gestiftete, kraft gættlichen Rechts unfehlbar wirkende Kirche, die selber ein Wunder ist, das Wunder, das nicht aufhært. So entsteht die romantische Kirche ± und eine solche ist auch die lutherische ±, die Kirche, die kraft çberirdischen Rechtes als Gottesreich dasteht, in deren Dasein und durch deren Dasein allein das Wunder immer da ist. Auûer ihr gibt es jetzt keinen Glauben und kein Heil; denn nur in ihr gibt es die Erlebnisse, nur sie spendet das Wunder und bereitet dadurch die Erlæsung. Sie ist die alleinglåubige und alleinseligmachende, sie steht auf Erden an Gottes Statt, und bei ihm ist nur noch, wer zu ihr gehært; sie schlieût und æffnet | die Tore zum Himmelreich. Sie ist alles, und der einzelne in seinem Streben und Suchen ist nichts, er ist schlechthin abhångig von ihr und kann bloû teilhaben an ihrem Glauben. Was anders und selbståndig sein will, ist vom Heil abgeschieden und dem Abgrund çbergeben. Die Religion wird zum Kirchenglauben, zur Konfession, deren Bekenntnissåtze endgçltig die Fræmmigkeit umschreiben. Was das Kirchliche gewinnt, verliert das Religiæse. Mit ihm verengt sich die Humanitåt in dieser Konfessionalisierung. Die Herrlichkeit Gottes erfçllt nicht mehr die Welt, sondern nur noch die Kirche; alles auûer ihr ist Bereich des Teufels, seiner Herrschaft untertan. Die Menschheit wird entzweigeschnitten, der tiefe Abgrund geht durch sie hindurch und scheidet unçberbrçckbar die Begnadeten und die Verworfenen; in Himmel und Hælle fållt alles, wohin die Welt reicht, auseinander. Der Begriff der einen Menschheit wird damit zerschlagen. Vor den Menschen tritt der 85
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Glåubige, und vor die Liebe tritt das Bekenntnis. Auf dem Satze des vierten Evangeliums: »Niemand kommt zum Vater, denn durch mich«, dem hårtesten und konfessionellsten Satze, der je gesprochen worden ist, konnte vieles sich aufbauen. Er gab den Grund ab auch fçr manche Erbarmungslosigkeit, die ihr Ketzerrichtertum in die Gottesvorstellung hineintrug, fçr manch fromme Grausamkeit, die der hæheren Ehre Gottes die irdischen und die ewigen Opfer zufçhrte. Dieser eine Weg der Gottesliebe hat fçr die Menschenliebe oft wenig Platz mehr gelassen. Dafçr konnte sich in dieser partikularistischen Enge die ganze Selbstgewiûheit entfalten, mit der sich die Kirche als die ecclesia possidentium, die Besitzerin des Heils pries, als die gekommene Zukunft, in der alles erfçllt ist. Zum fertigen Menschen der Romantik gehærte die fertige Menschheit, die Kirche. Als solche wird sie zum Gegenstand des Glaubens, sie ist das Heilige, der Kirchenglaube wird zum Glauben an die Kirche. Diese Entwicklung hat sich notwendig fortgesetzt. Wenn das Wunder im Sakrament erscheinen soll, so braucht es jedesmalig seinen persænlichen Mittler; daher muû die Kirche aus ihrer stetigen Wunderkraft in einzelne hineintun und sie zur Wunderkraft weihen. Vermittels der dauernden Sakramentsmacht, die in ihr wohnt, muû sie die zur Darreichung des Sakraments Befåhigten, die Sakramentsdiener, schaffen. Die romantische Kirche wird so | zur Priesterkirche. Es war die gegebene Entfaltung des ursprçnglichen Gedankens. Die Religion, die, um des Grundwunders willen, sich auf dem Mittlergedanken vom Heiland aufbaute, und, um der Beståndigkeit des Wunders willen, sich in der Kirche die allgemeine Mittlerin gab, muûte nun, damit jeder Tag dieses Wunder auch darlegte, in den geweihten Priestern die besonderen Mittler hinstellen. An ihnen wird das Erlebnis, das vom Heiland ausgegangen, das im Sakrament faûbar und in der Kirche verbçrgt geworden war, nun auch persænlich dargeboten. Neben die Månner der ganzen Romantik treten die Månner des stets bereiteten Sakraments, neben die Heiligen und Mænche die Priester. Der Beruf des Erlebnisses wird geschaffen; dieses wird zu einem Amte und damit zu einem Privileg. Der Priester gewåhrt, und die Laien empfangen, schlechthin abhångig auch von den Priestern, nicht nur von Gott. Nur wo es den Priester gibt, gibt es jetzt Religion; das Amt ist zum wesentlichen Bestandteil des Glaubens geworden. Der Glaube, der sich zuerst auf das eigenste Erlebnis hatte grçnden wollen, begnçgt sich nun damit, der Glaube an das Erlebnis anderer zu sein. Er låût sich vertreten und glaubt, weil und was die Kirche glaubt. An die Stelle der fides, qua creditur, des Glaubens, 86
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kraft dessen man glaubt, tritt die fides, quae creditur, der Glaube, an den man glaubt, also an den Platz des eigenen Glaubens der Glaubensgehorsam. Er ist der Ersatz des Erlebnisses, allerdings ein unentbehrlicher in der romantischen Religion. Der Mensch braucht jetzt nur noch anzunehmen, was ihm dargeboten wird, auch hier wiederum doch passiv; er glaubt an den Glauben des anderen. Es ist die gegebene Entwicklung des Paulinismus; das Wort »Glaubensgehorsam« ist ja von dem Apostel bereits geprågt worden, es beginnt und schlieût seinen wichtigsten Brief. Die Heteronomie des Lebens, die er gelehrt hatte, muûte zu dieser Heteronomie des Erlebnisses schlieûlich auch werden. Und mit ihr kommt wieder der Dualismus, dieses stetige Zubehær der çberschwenglichen und exklusiven romantischen Erfahrung. Die Fræmmigkeit wird zwiespåltig, eine unmittelbare und eine mittelbare. Rings um die Innenstehenden, welche glauben, sind die Auûenstehenden, welche ihnen glauben; sie erhalten beide ihr besonderes Ideal. Es gibt nicht die Einheit des Glaubens und der Glåubigen mehr, sie fållt auseinander in eine Religion des ersten | und eine des zweiten Grades; zwischen ihnen geht die bestimmte Grenzlinie, die das Priestertum und das Laientum scheidet. Es ist die bedeutungsvolle Wendung, die Luther in der Geschichte des Christentums angebahnt hat, daû er wieder eine priesterlose Kirche zu schaffen suchte; neben dem anderen, daû er die Alleinherrschaft der einen Kirche in Mittel- und Westeuropa gebrochen hat, ist es sein wesentlichstes Vollbringen. Er hat darin den alttestamentlichen Gedanken des allgemeinen Priestertums wieder aufgenommen, allerdings nicht aus alttestamentlichem Motive. Er hat es der ursprçnglichen Romantik wegen getan; weil er dem Grundmittler, dem Heiland, und der vælligen Abhångigkeit von ihm den ganzen Raum geben wollte, hat er die Gemeinde von den anderen Mittlern, den Priestern, ledig gemacht. Aber so entschieden er in seiner ersten, revolutionåren Zeit diese Gleichheit aller Glåubigen gefordert hat, er ist ihr nicht ganz treu geblieben. Er konnte es nicht, da das Gnadenmittel, an dem er festhielt, doch wieder seinen legitimen, geweihten Hçter verlangte, das Wort seinen berufenen Verkçnder brauchte. Wo die bestehende Kirche beansprucht, daû, wie die Augsburger Konfession es sagt, »in ihr das Evangelium richtig gelehrt und die Sakramente richtig verwaltet werden«, 9 dort wird der Geistliche, dem diese Gçter anvertraut sind, schlieûlich wieder zu irgendeinem 9.
1 Art. VII: Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium recte docetur et recte adminstrantur sacramenta.
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Mittler des Heils, das kirchliche Amt zu einem Wege zwischen Gott und dem Menschen. Und auch hier tritt so wieder der Dualismus in die Gemeinde hinein; die Fræmmigkeit wird zwiefach und zwiespåltig; sie ist die ganze der Geweihten und die zureichende der Laien. Diese Verkirchlichung hat sich um so entschiedener erneut, als in Luther je långer, desto mehr hierarchische Bedçrfnisse und auch hierarchische Wçnsche wach wurden; es ist ja çberhaupt die Entwicklung seiner Seele und seines Lebens gewesen, daû die Glaubensfragen ihm zu Machtfragen geworden sind. Die Landeskirche, die er schuf, brauchte ihre beglaubigten Geistlichen von priesterlicher Art, und das allgemeine Priestertum, das er einst gelehrt hatte, hatte nur bei den Ausgestoûenen der Reformation, den Tåufern, noch ein Obdach; ihm, dem Hçter der Staatsreligion, erschien es nun als Schwarmgeisterei. | Das Bçndnis zwischen Romantik und åuûerer Autoritåt war so auch in seiner Kirche geschlossen, und der Bund zwischen den beiden ist ein natçrlicher, wie ihn nur die Wahlverwandtschaft zusammenfçgt. Welche auch immer zuerst kommt, sie mçssen sich schlieûlich finden. Jede starke Glaubensautoritåt, die alles besitzen und verwalten und selber alles geben will, kann nur den Glauben verstatten und verkçnden, der ein rein empfangener, ein passiver ist. Die einzige Freiheit, der sie den Raum gewåhrt, ist die der Stimmung und des Erlebnisses, diese romantische Freiheit, die das eigene Streben und Denken hintangesetzt hat, um sich dafçr mit dem Bewuûtsein des fertigen Menschen zu entschådigen. Und umgekehrt, je romantischer der Glaube ist, je passiver er sich also fçhlt, um so mehr muû in ihm das Bedçrfnis rege werden, sich an ein Aufgerichtetes und Festgestelltes zu lehnen, um darin die greifbare Gewiûheit, die einzige Sicherheit dessen, der fçr sie in sich selber nichts entdeckt, zu gewinnen. Zum romantischen Glauben gehært, als seine notwendige Ergånzung in dieser Welt, die eingesetzte Autoritåt. Es ist wie ein innerer Ausgleich, aber auch wie eine seelische Vergeltung, daû er, der damit angehoben hat, jedes bestimmende Gesetz abzulehnen, um dafçr dem schrankenlosen Gefçhle folgen zu kænnen, schlieûlich dazu kommen muû, sich die Glaubensobrigkeit zu suchen. In seiner glånzenden Charakteristik Augustins, des Begrçnders der Philosophie der Autoritåt, deutet Harnack darauf hin, daû es »noch in der Welt keinen starken religiæsen Glauben gegeben hat, der nicht an irgendeinem entscheidenden Punkt sich auf eine åuûere Autoritåt berufen håtte«. In seiner Allgemeinheit wird dieses Wort schon durch den Glauben der Propheten, der nicht, wie 88
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die Romantik, verknçpfen, sondern umgestalten, den Neubruch schaffen will, widerlegt; er zeigt, daû es fçr die klassische Religion sicher nicht gilt. Auf den romantischen Glauben bezogen, ist es jedoch durchaus richtig; dieser erfordert, seinem Wesen nach, die eingesetzte Obrigkeit, die Ordnung der Autoritåten. Er ist immer påpstlich gewesen oder geworden, das heiût, zur Wahrheit hat ihm etwas werden kænnen immer nur dadurch, daû es die geltende Wahrheit war, daû eine feste Autoritåt es verbçrgt hat; zum Wesen des Glaubens gehært es hier, daû er garantiert wird. Uneingeschrånkt hat ein Denker wie Augustin es so empfunden, mit dem starken | und stolzen Gefçhl dessen, der seine Religion versichert weiû; es ist ein fundamentales Wort seines Lebens gewesen: »Ich wçrde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autoritåt der katholischen Kirche dazu bråchte.« 10 Es war der Wunsch nach Ruhe, der ihn dahin fçhrte. Beschwichtigenderes als eine starke Autoritåt kann dem hin- und hergeworfenen Geiste nicht winken. Sie ist der sichere Hafen fçr den, der vor den Winden flçchten will. Die romantische Wahrheit In der Kirche sind die Autoritåten schon frçh geschaffen worden, die persænlichen in der Rangordnung des wunderwirkenden Priestertums und sodann die objektiven in den Såtzen des Dogmas, des Wunderbekenntnisses. Sie gehæren zusammen und ergånzen einander. Das Dogma befaût und gewåhrt das Glaubenswissen, ganz wie das Sakramentspriestertum die Glaubenserlebnisse innehat und spendet. Beide verkærperlichen sie ein ursprçnglich Geistiges des Glaubens. Hatte die Romantik damit begonnen, daû sie das Erkennen in der Ergriffenheit und der Entrçcktheit fand, die in der Versenkung und Verzçckung çber den Menschen kommen, deren Wellen çber ihm zusammenschlagen, so verdichtet sich jetzt dieses Webende und Wallende. Dogma ist gefrorenes Gefçhl, erstarrte, geronnene Stimmung. Das wogende Erkennen wird zu dem festen, greifbaren Bekennen. Ganz wie im Sakrament offenbart sich auch im Dogma der Prozeû der Materialisierung, der sich in aller Romantik frçher oder spåter vollzieht. Ein Bedçrfnis nach dem Dogma ist schon frçhzeitig erwacht. Das Mysterienwunder, in dem der Glaube die Erkenntnis sucht, ist sei10.
1 C. epist. Manichaei cp. 5: ego vero evangelio non crederem, nisi ecclesiae catholicae me commoveret auctoritas.
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ner Natur nach etwas Flieûendes und Schwankendes, und es verlangt darum seine maûgebende Bestimmung, die immer aufgewiesen und çberliefert werden kann, sein Symbolum, sein »Erkennungszeichen«, das die echte Bedeutung und Wirkung erschlieût. Schon das griechische Mysterium hatte seine Såtze, die die errettende Wahrheit zureichen sollten, seine Losungsworte, die das Tor der Erlæsung æffnen. Sie geben es dem Glauben, daû er nicht mehr verzçckt zu sein noch Verklårung zu suchen braucht. | Er, der im Unendlichen, Wesenlosen ertrinken, versinken wollte, hat jetzt seinen, ein fçr allemal bestimmten, festen Gedankenkomplex, der ohne weiteres empfangen werden kann. Der Glåubige hat es nun noch leichter, vor sich als der fertige Mensch dazustehen und der Erfçllung seines Wissens sicher zu bleiben. Dieses beruhigte Gefçhl wird in ihm um so stårker sein, da es ein Gemeingefçhl ist. Es kann als ein katholisches, ein allumfassendes gehegt werden mit dem machtvollen Bewuûtsein, das zu besitzen, was in gleicher Weise »immer, çberall und bei allen« in Kraft ist. Wie die dogmatische Gewiûheit durch die Kirche geschaffen wird, so befestigt sie wiederum den Kirchengedanken. Aber diese Kraft der Gewiûheit ist am letzten Ende doch teuer erworben, denn in diesem allgemeinen Glauben, den der einzelne nur teilt, geht leicht, wie schon gezeigt, der individuelle, persænliche unter. Der Glaube ist nicht mehr der offenbarte und erlebte, sondern der abgefaûte und veræffentlichte. Er wird zur Glåubigkeit, das Erlebte wird zum Gelernten und Gesprochenen, zur Glaubenslehre, deren Såtze hinzunehmen sind. Da nicht mehr der einzelne als solcher glaubt, sondern die Kirche glaubt, so steht der einzelne bloû in diesem Glauben der Kirche. Und sie tritt darum mit Miûtrauen allem Persænlichen gegençber, sie muû es ablehnen, es als Schwårmerei und Neuerungssucht abtun. In seinem Grundgedanken ist das alles durchaus logisch. Wenn das menschliche Erkennen schlechthin abhångig von der gættlichen Gnade ist, so ist es auch unbedingt abhångig von der Kirche, denn nur in ihr, in den Sakramenten und der Sakramentstheologie, die sie verwaltet, wird die gættliche Gnade, die das Wissen schenkt, verbçrgt. So konnte und muûte der Mystiker sehr wohl ein dogmenglåubiger, gehorsamer Sohn der Kirche sein, und der doctor der Kirche, der Lehrer ihres Dogmas, konnte des innigen Gefçhls teilhaft sein, daû er Gott schaute. Mystik und Scholastik bedeuten keine Spannung und keinen Gegensatz in der Kirche. Meister Eckehart gehært in ihr neben Thomas von Aquino hin. Mit dem Dogma kam dann sein Wechselbegriff, die Orthodoxie, 90
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die Geistesart, die den Respekt vor der Antwort hegen will und darçber den Respekt vor dem Problem oft verliert. Auch die Geschichte der klassischen Religion weiû von ihr zu erzåhlen, aber hier er | scheint sie nur im Anspruch der Partei, nicht aber aus Ursprçnglichem, Bodenståndigem hervor. Im romantischen Glauben ist sie dagegen Wesenseigenschaft, das, was in ihm von vornherein begrçndet ist. Es gibt darum kein Christentum ohne sie. Mag in ihm eine Bewegung noch so protestierend beginnen, sie kommt schlieûlich, wofern sie christlich bleiben will, doch zur Form der Rechtglåubigkeit. Gerade im Luthertum, der Religion des zu verkçndenden Wortes, steht die Orthodoxie als ein beherrschender Begriff da, als die Bedingung aller Fræmmigkeit; das Bekenntnis nimmt hier den Platz auch ein, den im Katholizismus der Kultus hat. Die Orthodoxie gewinnt hier, was das Sakrament zwar nicht an Wunderbedeutung, aber an Breite verloren hat, sie gewinnt vor allem an Stimme und Pathos. Sie muûte hier um so betonter sein, da sie sich nicht auf das populåre Unfehlbarkeitsgefçhl, auf jenes katholische Bewuûtsein von dem, »was immer, çberall und bei allen« gilt, grçnden konnte; sie ist hier die bekennende Rechtglåubigkeit, die fides explicita. Aber ob es nun diese Orthodoxie ist oder die stillere des Katholizismus, die fides implicita, sie ist doch fast wie eine Entmçndigung des einzelnen Glåubigen; er erscheint nur noch als der empfangende Untertan, dessen erste Tugend der Gehorsam ist, und der sich genug getan hat, wenn er der Autoritåt glaubt und sich in die fertigen Såtze des Dogmas schickt. Er ist schlechthin abhångig. Die Heteronomie der Religion tut sich auch darin kund. Immer, wenn die Romantik den Gang des Denkens bestimmt, kommt eine Erstarrung in den Sinn der Wahrheit. Wir sehen es, im romantischen Altertum, an der Richtung selbst, in der man einen åuûersten Gegensatz zur paulinischen Religion erblicken mæchte, an der Philosophie, oder wie ebenso gut gesagt werden kænnte, der Religion Epikurs. Sie hat in ihrem Grunde etwas Romantisches, und auch sie hat darum ihre abgeschlossenen Såtze, welche trotz der wissenschaftlichen Hçlle doch nur Dogmen sind; sie lebt in ihrer Besitzesgewiûheit, im sicheren Gefçhl der rechtglåubigen Ruhe. Die Skepsis, die damals daneben herging, war nur der scharfe Schatten, den das Starre wirft; sie war die romantische Ironie jener Zeit. Romantische Dogmatik lebte auch im Garten Epikurs. Dort hatte sie ihr weltabgewandtes Dasein gefçhrt, in der paulinischen Kirche ist sie eine beherrschende Macht geworden.| Hier hat das Dogma seine ganze, alles umfassende Bedeutung erhalten, weil hier die Erkenntnis, »die Gnosis« nicht nur das ist, was 91
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belehrt, sondern das, was erlæst; das Heil des Menschen, seine Seligkeit, liegt in ihr. Das Dogma wird damit zu dem einen und allen, woran »festgehalten werden soll«, zu dem, worin man das Wesen der Religion hat. In der dogmatischen Bestimmtheit ist die Bçrgschaft fçr den Besitz des ewigen Gutes gegeben. Abweichung vom Bekenntnis ist der Weg zur Verdammnis, der Irrtum wird zum Abgrund. Damit ist der Begriff der Wahrheit in seinem alten Werte aufgehoben, und wie er, so auch der der Bewåhrung der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit; auch sie wird auf das Bekenntnis bezogen, und sie gewinnt hier ihren eigentlichen Platz. Es ist ein psychologisches Gesetz, daû ein Begriff eindeutig zu sein sucht, und daû daher eine neue starke Bedeutung, die in ihn gelegt wird, nur zu bald die alte verdrångt, um zum alleinigen Begriffsinhalt zu werden. Der neue dogmatische Gehalt beeintråchtigte so mehr und mehr dem alten ethischen die Kraft. Wahrheit und Lçge erhalten ihren vornehmlichen Sinn nunmehr von der fertigen kirchlichen Lehre und nicht von der unendlichen sittlichen Pflicht, sie sind nicht sowohl Sache des Gewissens, als vielmehr der dogmatischen Bestimmung; sie sind nicht das, was der Mensch çben soll, sondern was er ein fçr allemal als Lebensgeschick zu eigen erhålt. Wahrheitsliebe wird jetzt Liebe zur kirchlichen Wahrheit, und Lçge ist nun die Abweichung vom Dogma. »Wer ist der Lçgner, wenn nicht der, der leugnet, daû Jesus sei der Christus«. 11 Die Neigung, die in jedem Bekenntniseifer liegt, den fremden Glauben als Unwahrheit abzutun, kann hier zum Grundsatz werden, dem es schlieûlich nichts mehr ausmacht, ob der Irrglåubige in der edelsten Lauterkeit wandelt oder der Orthodoxe sein Leben auf dem krummen Wege dahinfçhrt; dieser ist doch der Mann der Wahrheit und jener der Knecht der Lçge. Das sittliche Ja und Nein tritt hinter das Ja und Nein des Bekenntnisses zurçck. Es ist kein bloûer Zufall, daû in der paulinischen und in der folgenden christlichen Literatur das Gebot der Wahrhaftigkeit so seltenen Ausdruck findet. Die Satzungen des Glaubens und der Demut, des Duldens und Hoffens, des Mitleids und Wohltuns haben hier ihren weiten | Raum, aber unsere Tugend verschwindet meist dahinter. Und sie fehlt nicht nur im Schrifttum. Eine Abkehr von ihr kennzeichnet wie weniges andere das ganze romantische Mittelalter. Denn der tiefere Grund ruht auch hier in der Romantik. Schon in der Bedeutung, die sie dem Scheinen und Tråumen gewåhrt, in der Gleichgçltigkeit, ja der Abneigung, die sie gegen das Wirkliche hegt, 11.
1 I Joh 2, 22.
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liegt, rein sachlich, ein Mangel an Wahrhaftigkeit. Dazu kommt, daû ein wesentlicher Teil der Aufrichtigkeit, die der Mensch sich schuldet, die prçfende Kritik, die ihre Maûståbe anlegen will, von der Romantik verwehrt und verworfen wird. Wenn Novalis in »allem Zweifel, allem Bedçrfnis nach Wahrheit« nur eine Auflæsung sah, im Streben nach Wissen eine »Rohheit« erblickte, so war das zwar etwas superlativisch, aber echt romantisch. Luther hatte in der Sprache seiner Zeit ganz ebenso gesprochen. Die Romantik muû den objektiven Stoff und die bestimmende Richtlinie des Denkens, die das Ich begrenzen und zurçckhalten, oder wie sie lieber meint, vergewaltigen wollen, durchaus ablehnen; ehe sie diese zulåût, flçchtet sie lieber unter die åuûere Autoritåt, oder sie çbt die Ironie, die nichts bejaht und alles verstellt. Der suchende, forschende Zweifel bleibt ihr fern. Hierin ist die Kirche zumeist ganz romantisch geblieben. Kritik und Prçfung, Schwanken und Bedenklichkeit im Glauben waren ihr der Weg, auf dem der bæse Geist kommt, der Weg, der zur Lçge fçhrt. Die Unterordnung unter die Autoritåten, welche nicht fragt noch forscht, sondern rein passiv unter den Glaubenssåtzen bleibt, bedeutete dafçr den Verstand, dem sich die Tiefe æffnet, die Erkenntnis, welche erlæst, das fertige Leben. Die Logik konnte dazu leicht geschaffen werden. Man bereitete die Syllogistik, die nur den ersten Satz zu fordern brauchte und aus ihm dann alles beweisen und folgern konnte, die Logik des Gehorsams, die zunåchst fesselt und dem Gefesselten darauf zeigt, wie gut die Glieder der Kette ineinander greifen; sie hat in ihrem Sinne den Satz wahrgemacht: et cetera adjicientur vobis. In dieser Weise ist ein geschlossenes Denksystem geschaffen worden, und eine imponierende geistige Arbeit hat ihm jedwedes einzufçgen und alles ineinanderzusetzen gewuût. Wer in die Kreise des Thomas oder auch des Melanchthon eintritt, braucht nur die Såtze des Eingangs zuzugestehen, und alles Weitere folgt dann bçndig und schlçssig, oft | in eindrucksvoller Konsequenz. Und fçr die, die danach durchaus begehrten, ist dann auch der romantischen Ironie ein Platz gelassen worden durch die Lehre von der zweifachen Wahrheit; sie erlaubte, wenn nur der Glaubensgehorsam unangetastet dastand, dafçr nicht ungern alles çbrige. Die Wahrheit blieb festgelegt und fertig.
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Was so die Wahrheit erfuhr, ist nur die einzelne Erscheinung in einer allgemeineren. Der romantisch Glåubige ist çberall im Jenseits der Dinge und Wesen. Da er im Bereiche der Passivitåt bleiben will, so ist er jenseits alles dessen, worin die Vernunft leitet und fordert, jenseits ihrer Logik und so auch jenseits der Ethik. Auch die alte Gerechtigkeit bleibt hier nur als das alte Wort, sie bekommt den vællig anderen Inhalt. Wahrheit und Gerechtigkeit als aktive Tugenden verlieren in der Romantik ihren Platz. Fçr den Glåubigen gibt es kein Gebot des Tuns. »Christus ist des Gesetzes Ende«, die neue Gerechtigkeit ist die Aufhebung der alten, so hat Paulus es ausgedrçckt. Aber der Gedanke ist nicht paulinisch erst; er ist der romantische, der den Menschen nur als Objekt anerkennt und nur das gelten låût, was der Mensch erfåhrt, was çber ihn kommt. Paulus hat dem nur die letzte Zuspitzung gegeben, indem er die Gerechtigkeit durchaus im Nichtwollen, in der Passivitåt gefunden hat; er hat die Bewertung des Tuns nicht nur unter die romantische Zwecklosigkeit gestellt, sondern unter den Unglauben, unter die Gottlosigkeit. Gerechtigkeit ist fçr ihn ausschlieûlich etwas, was mit dem Menschen geschieht, was dieser also nicht zu çben, sondern woran er nur zu glauben hat; sie setzt also als bedingend voraus, daû der Wille zu ihr, jeder eigene strebende Wille verneint wird. Die ganze Theologie des Paulus bewegt sich um diese Negation. Wenn seine Romantik hier den Angelpunkt gewann, so hångt dies mit der Gedankenwelt, in der er lebte, zusammen. Es war ein altes jçdisches Wort, daû in den idealen Tagen der Zukunft, in denen Gottes Geist in den Herzen der Menschen wohnen wird, jedes Gebot, jedes Sollen aufhæren werde. Man empfand es: jeder Pflichterfçllung liegt eine Spannung zu Grunde, die Spannung zwischen dem Wollen und dem Sollen, zwischen der Neigung und | der Pflicht. Das Ideal ist, daû dieser Widerstreit sich in einer hæheren Einheit aufhebe, indem die Pflicht zu unserer innersten Natur werde, das, was wir sollen, zu dem, was wir sind, oder wie ein Satz jener Tage es besagte, Gottes Willen zu dem unseren werde und damit unser Willen zu dem gættlichen. Das gleiche ist hier gesagt wie in Schillers Wort: »Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron.« Die Sprache der Zeit hatte dem Gedanken die Fassung auch gegeben, daû in den messianischen Tagen nicht Schuld noch Verdienst, kein Gebot oder Gesetz sein werde. Schon in der Gemeinde, die Johannes gegrçndet hatte, die in Jesus den Messias gesehen und seiner Wiederkunft harrte, konnte es daher gesprochen worden sein, daû 94
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wenn er wiedererscheine und mit ihm die erwartete Zeit, in der »alles geschehen ist«, dann das Ende des Gesetzes da sei. Fçr Paulus war die Zeit bereits erfçllt. Im Sakrament war »alles geschehen«, war das Heil, das Leben der Ewigkeit schon gegeben. So muûte denn das Gesetz beschlossen und behoben sein. Galt es weiter, so konnte das erlæsende Mysterium nicht das sein, was es sein sollte. Daû das Gesetz fçr den Getauften aufgehært habe, war darum fçr Paulus, auch von seinem jçdisch-messianischen Standorte aus, die Existenzfrage seiner Religion. Jede Anerkennung des Gesetzes bedeutete die Leugnung dessen, daû das Heil erschienen, daû die Erlæsung geschehen sei. Sakrament oder Gesetz ± die Entscheidung zwischen diesen beiden muûte getroffen werden. Hiervon durfte Paulus nicht abgehen. Das alte Ideal wurde so romantisiert, aus dem Wunsche, den die Sehnsucht gefaût hatte, wurde der sichere Besitz, den die Gnade gab. Fçr den fertigen Menschen ist das Gesetz aufgehoben. Die Gerechtigkeit war damit aus ihrem alten Sinn herausgenommen. Sie hatte nichts mehr mit dem Schaffen und Vollbringen, nichts mehr mit dem Gedanken der Pflicht und dem Ringen um das Gute zu tun, sondern »wer an diesen glaubt, der ist gerecht«. Gerechtigkeit ist jetzt nur ein Akt, der am Menschen vollzogen ist, ein Werk des Gnadenwunders, ein Geschenk, ein Fertiges, aber keine Aufgabe mit ihrer endlosen Forderung. Sie schlieût jedes Eigene und Persænliche, jede Selbståndigkeit und Selbsttåtigkeit, jedes Selbstwollen von vornherein aus. Wer durch sich gerecht werden will, der ist auf dem Wege, der von der Gerech | tigkeit abfçhrt, oder wie Luther es ausdrçckte, er »besudelt sich am Gesetz«. 12 Der Mensch kann nur gerecht gemacht werden; er kann wie in allem der romantischen Religion, so auch hierin nur Objekt sein. Das ist der Sinn des vielgenannten Wortes; »allein aus Glauben«, sola fide vermæge er gerecht zu werden. Dieser Satz will nicht etwa, wie man ihm bisweilen unterzulegen gewçnscht hat, von einer Gesinnung oder Stimmung sprechen, die der Tat erst den Wert gebe. Nichts liegt ihm ferner; er kåmpft, um Luther wieder sprechen zu lassen, gegen das Gesetz als solches und »ganzes«, 13 mit ethischen Motiven hat er nichts zu tun. Er besagt vællig und nur das eine: du bist schlechthin abhångig, du bist nichts durch dein Tun und Leisten; was du bist oder wirst, bist
12.
1 Ausg. Erl. 51, 284. 13.
2 Ep. ad Gal. ed. Irmischer II, 266: Credentibus in Christum tota lex abrogata est. Ebendort ist hervorgehoben, daû diese Aufhebung besonders das moralische Gesetz meint.
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du nur durch das Glaubensschicksal und wirst du nur durch das Wunder. Die Strenge dieser Romantik war allerdings sehr bald gemildert worden; das menschliche Tatverlangen erhob seine Forderung. Schon im neutestamentlichen Schrifttum steht das Wort des Jakobus von »dem Glauben und den Werken«, und die katholische Kirche ist ihm gern gefolgt; sie gewåhrte wie sonst, so auch hier dem menschlichen Wollen einen Bereich des Rechts. Sie hat ihm durch das Buûsakrament einen Platz bereitet, und sie nahm um seinetwillen eine gewisse Zwiespåltigkeit und die Gefahr einer Zweideutigkeit, die ihr dann oft zum Vorwurf gemacht worden ist, in sich auf. Aber Luther ist danach zur entschiedenen Romantik, die nicht paktierte, zurçckgekehrt, und das »allein aus Glauben« wird fçr ihn, was es fçr Paulus gewesen ist, der alleinige Sinn der Gerechtigkeit. Sie wird wieder ausschlieûlich Bewuûtsein der schlechthinnigen Abhångigkeit von der Gnade Gottes in Christo; jedes Wollen aus sich heraus wird wieder fçr die Sçnde erklårt. Luther spricht es klar aus: »Das Evangelium ist eine Lehre, welche kein Gesetz zulåût.« 14 »Das Gesetz ist erfçllt worden, durch Christus nåmlich; man braucht es nicht zu erfçllen, sondern nur dem, der es erfçllt hat, durch den Glauben anzuhangen und gleichge | formt zu werden.« 15 »Nicht, wenn wir Gerechtes çben, werden wir gerecht genannt, sondern, wenn wir an Gott glauben und auf ihn hoffen.« 16 »Christliche Gerechtigkeit ist Glaube an den Sohn Gottes.« 17 »Alles, was du anfangst, ist Sçnde und bleibt Sçnde, es gleiûe, wie hçbsch es wolle. Du kannst nichts als sçndigen ¼ Alles ist Sçnde, was du allein wirkst aus freiem Willen.« 18 »Du kannst nichts als sçndigen,« das ist in der Tat die notwendige Ergånzung zu dieser neuen Gerechtigkeit. Wenn der Mensch nicht das freie Subjekt ist, das sich fçr das Gute entscheidet, so steht er auch nicht als beginnende Person und Urheber der Sçnde da; die Sçnde kann nur etwas sein, was çber ihn gekommen ist und ihn zwingt, sie ist die Ur- und Erbsçnde. Schon die orphische Geheim14.
3 Ebendort I, 113: Est ergo Evangelium doctrina talis, quae nullam legem admittit. 15.
1 Ausg. Weimar I, 105: quod lex est impleta, scil, per Christum, quod non sit necesse eam implere, sed tantummudo implenti per fidem adhaerere et conformari. 16.
2 Ebendort I, 84: Non enim qui justa operatur, justus est, ut Aristoteles ait, neque operando justi et dicimur justi, sed credendo et sperando in Deum. 17.
3 Ep. ad Gal., ed. Irmischer I, 334 Justitia christiana est fiducia in Filium Dei. 18.
4 Ausgabe Erlangen, 10, 2, 11.
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kunde hatte diesen Gedanken, Paulus hat ihn in die biblische Sprache und Erzåhlung hineingestellt, er ist dann von Augustin philosophisch gestaltet und von den Reformatoren in seiner ganzen Entschiedenheit wieder aufgenommen worden. Die Erbsçnde ist die Sçnde, die çber dem Kænnen des einzelnen, geborenen Menschen steht; sie ist die Sçnde, die zu dem himmlisch-irdischen Schicksalsdrama gehært. Ganz wie die Gerechtigkeit, die im Ûberirdischen, im Gnadenwunder kommt, ist sie in ihrem Grunde ein Supranaturales, dem der Sterbliche ohnmåchtig hingegeben bleibt. Die prophetische Lehre von der individuellen Sçnde ist damit vernichtet, und der alte griechische Mythos von der blind wirkenden Schuld lebt dafçr weiter fort. An den Platz des Persænlichen ist wieder das Fatum getreten, an die Stelle der Sçnde, die der Mensch geçbt hat und die er darum besiegen soll, das Sçndenschicksal, das fçr ihn selbst unçberwindbar ist. Man wçrde dieser paulinischen Lehre ihr Eigentlichstes nehmen, wenn man in ihr bloû den Ausdruck dessen erblickte, daû es einen groûen Zusammenhang der Schuld in der Reihe der Generationen gibt, und daû die Sçnde des einzelnen nur aus dieser groûen Verkettung, in der sie ein Glied ist, erklårt werden dçrfe. Von diesem | Psychologischen, Sozialen, Ethischen liegt in der paulinischen, der augustinischen und der reformatorischen Lehre nichts; fçr sie ist die Sçnde nicht ein Werdendes, dessen einzelne Wurzeln gesucht werden und dessen nachwachsendes Verhångnis dargelegt wird, sondern Sçnde ist die bestimmte, starre Definition der menschlichen Gattung, des Lebens, aus dem und in das der Mensch als Mensch geboren ist. Sie ist nicht in ihm, sondern er ist in ihr; sie ist sein Wesen, und all sein Wissen um sich kann von vornherein nichts anderes sein als Sçndenbewuûtsein. Der paulinische Schuldgedanke ist ebensowenig sozial wie er persænlich ist; weder dem einzelnen noch der Gesamtheit wird es beigelegt oder zugestanden, durch eigenes Streben die Sçnde bewirkt zu haben und sie aufheben zu kænnen. Derartige Annahmen sind als Pelagianismus stets von der Kirche ± der katholischen wie der protestantischen ± verdammt worden. Von Natur ist die Sçnde in der Menschheit, und nur durch Aufhebung der Natur, das heiût durch ein Wunder, durch die Gnade, die im Menschen schafft, kann sie zunichte gemacht werden. Wie sie radikal vorhanden ist, so wird sie nur radikal fortgenommen; um mit Augustins Worten es zu sagen: »alle Sçnden sind im Sakrament der Taufe ausgetilgt worden, alle von Grund auf«, cuncta prorsus. Sçnde und Gerechtigkeit stehen so im schroffen Dualismus ein97
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ander gegençber, unvermittelt, ohne Zwischenstufe oder Ûbergang, als Manifestationen zweier Schicksalswelten, der der Gnade und der der Schuld; nicht im Kænnen, sondern nur im Erleiden gehært der Mensch zu ihnen. Sie sind die beiden Bestimmungen, und er wird fçr das eine oder das andere, wie der Epheserbrief bezeichnend sagt, »erlost«. Der Wçrfel des Fatums wird çber ihn geworfen, und er ist der fertige, oder was dasselbe ist, der mythische Mensch. Dieser Dualismus ist von Anfang an dramatisch gefaût worden als ein Kampf der Schicksalsmåchte. Der groûe Widersacher Gottes, der Teufel, erscheint, er ist der Urheber der Sçnde, und die sçndigenden Menschen werden sein Werkzeug. Die Lehre von ihm hat ihren wichtigen Platz im paulinischen Schrifttum; und dieses kænnte kaum prågnanter çberschrieben werden als: das Buch vom Teufel und vom Erlæser. Dieser Glaube muû hier seinen Platz haben. Da die Sçnde vorhanden ist und doch nicht menschlichen Ursprungs sein soll, da sie | also aus dem Jenseits hergeleitet werden muû, so muû auch sie das çberirdische Subjekt erhalten, ganz wie das Gute es im Erlæser gewonnen hat. Sie beide bedingen einander. Ist der Mensch der Vater seiner Sçnde, so kann er auch selbst sich von ihr befreien. Nur wenn sie als Tat einer çbernatçrlichen Macht dasteht, wenn ein Gegenkåmpfer Gottes sie wirkt, dann wird es notwendig, daû ein gættlicher Heiland erscheint, um sie zu besiegen. Mit gutem Grund hat die Kirche gelehrt, daû, wenn es keinen Teufel gåbe, es auch keinen Erlæser zu geben brauchte. Die Lehre von ihm ist kein bloûes Kuriosum in der christlichen Religion, er entstammt einer nåmlichen Wurzel wie der Heiland. Darum hat Luther mit aller Kraft und allem Recht seiner Seele wie an den einen, so an den anderen geglaubt. Und wenn in neuerer Zeit ein Vilmar, ein Martensen das gleiche bekannt hat, so ist das nicht eine romantische Schrulle nur gewesen, sondern es war echter Glaube, wie er in Paulus und in denen, die ihm folgten, gelebt hat. Nullus diabolus, nullus redemptor. In der Teufelslehre findet die Entsetzung des Menschen aus seinem Rechte als Subjekt ihre letzte Prågnanz. Nicht der Mensch sucht und strebt, siegt oder unterliegt, sondern in ihm und um ihn wird gestritten. Die Seelenkåmpfe, die sich in ihm abspielen, sind Kåmpfe, in denen çberirdische Måchte miteinander ringen. Die Geschichte der Seele ist das Drama zwischen Himmel und Hælle. Die Lehre vom Menschen wird in das Supranaturale hineinversetzt, und sie hært damit eigentlich auf, Psychologie, Lehre vom Menschlichen zu sein; das Dogma gibt ihr die festen Linien und bestimmt die Stufen der Sçnde und der Gnade. Wohl ist in der Kirche auch die Seelen98
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kunde geçbt worden, die die Nuancen von Schatten und Licht sucht, sie hat einen Meister wie Augustin gehabt. Aber auch sie wurde leicht zur bloûen Sçndigkeitsgrçbelei, und vor allem, der Dualismus von Schuld und Gnade, von dem Werke des Teufels und dem Werke des Erlæsers, blieb durch die menschliche Seele hindurchgelegt. Das Gute wie das Wahre stand als das Unvermittelte da. Die Versuche, wie sie zum Beispiel Duns Scotus und seine Schule unternahmen, die dem Individuellen und Besonderen des Charakters ein Recht geben wollten, hat die Kirche, auch die protestantische, zuletzt voller Miûtrauen abgewiesen. Sie wollte nichts von der Geschlossenheit ihres Sy | stems aufgeben, und diese konnte in ihrer eindrucksvollen Kraft verbçrgt sein, nur wenn der Mensch als dogmatischer Begriff genommen war, nicht aber, wenn er in seinem Widerspruche, in dem vollen Rechte und Gebote des Individuellen, in dem Suchen seiner Aufgabe betrachtet wurde. Die Ethik Dem Rechte des menschlichen Subjekts, der sittlichen Individualitåt ist mit dem paulinischen Dogma der Boden fortgezogen. Das, was sich zur Persænlichkeit entfalten kann und soll, das Eigene und Individuelle muû dem Gattungsbegriffe den Platz lassen. Der Mensch tritt nur als eine Erscheinungsform der Sçnde oder der Gnade auf; man kænnte es spinozistisch ausdrçcken: er ist nur ein modus der einen oder der anderen. Man begreift, weshalb Schleiermacher sich mit Spinoza verwandt meinen konnte. Die sittliche Freiheit, diese Freiheit, die sich darin aufzeigt, daû das Gute dem Menschen mæglich ist und durch ihn wirklich werden soll, ist abgewiesen; es gibt nur die geschenkte, die prådestinierte Freiheit, die »erlost« worden ist, die Freiheit, die ein Freisein von dem Teufel und den Dåmonen ist. Aber es muû noch umfassender ausgedrçckt werden. Der Ethik wird durch den paulinischen Glauben der eigene Grund genommen. Sie war durch das Sakrament schon beinahe çberflçssig gemacht worden; nur das Mysterium bedeutete etwas, und das Sittliche blieb dahinter. Zudem ist mit der Taufe das Entscheidende geworden, das groûe Werk der Gnade ist beendet ± was soll ein menschliches Leisten danach noch bedeuten? Fçr die Kirche, zumal fçr die alte, ist es immer eine Schwierigkeit gewesen, was nach dem Sakrament am Menschen und durch ihn dann noch geschehen kænnte. So wurde von hier aus die Ethik schon etwas Nebensåchliches, fast Ûberflçssi99
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ges. Durch die neue Gerechtigkeit scheint sie nun çberhaupt aufgehoben. Wenn der bestimmende Wille als der Weg des Verderbens gilt, so ist ihr jeder Raum genommen, ja sie ist ausdrçcklich verworfen. Die Religion bildet jetzt den kontradiktorischen Gegensatz zur Ethik; die eine schlieût im Prinzip die andere aus. Entweder Glaube oder Ethik! So ist es der eigentlichste Sinn des Kampfes, den Paulus und den Luther | gegen das »Gesetz« gefçhrt hat. Sie haben nicht etwa gegen ein Zeremonielles bloû gestritten, sondern »Gesetz« ist fçr sie jegliche Bewertung des Tuns, auch des sittlichsten. Gut werde der Mensch nur durch das Wunder, das geschehen ist; wer von der Erfçllung der Gebote und Pflichten das Gute erwarte, der lebe unter dem Joch des Gesetzes. Gesetz und Wunder kænnten miteinander nicht vereint werden. Entweder das eine oder das andere, entweder Wille oder Gnade, Tat oder Mysterium, Ethik oder Religion! Wie immer man es ausdrçcken mag, es ist immer derselbe Gegensatz, aus dem fçr den Apostel und ebenso dann fçr den Reformator die Eigenart der Religion erst hervortritt. Es ist hier eine Eigenart, die ihre geschichtliche Bedeutung und auch ihr psychologisches Recht hat: ein Recht des Eigentçmlichen, das nicht verwischt werden sollte. Das romantische Erlebnis, in welchem der Mensch rein empfangend bleibt, ist durchaus der Widerspruch zur Tat; sie steht ihm als ein Fremdes gegençber, fast als ein Stærendes und Hemmendes, das hinwegzuråumen ist. Soll das Religiæse, wie fçr Paulus, ganz in diesem wundersamen Erlebnis bestehen, dann kann jenem Fremden kein Platz gewåhrt werden. Jenes Handeln und dieses Empfangen schlieûen sich aus. Wenn die paulinische Lehre, wie es heute bisweilen einer Modernitåt zuliebe geschieht, ethisiert wird, so wird ihr gerade ihr Besonderes genommen, sie verliert ihren Charakter und hært auf, ihren eigenen Weg zu haben. Was die Ethik fordert, kann nur auûerhalb dieses Glaubenskreises stehen, bestenfalls neben ihm; ihre Gebote sind hier hæchstens eine Anfçgung an die Heilslehre, ein Anhang zum eigentlichen Lebensgehalt. Ethische Religion ist hier ein Widerspruch in sich, eine contradictio in adjecto. Es kann hier nur heiûen: Nicht mehr die Ethik, sondern die Religion. Der gnostische anarchische Grundsatz »alles ist erlaubt« ist darum nur die Konsequenz dieser neuen Gerechtigkeit. Es ist fçr die paulinische Lehre ± selbstverståndlich nur prinzipiell und theoretisch genommen ± gleichgçltig, wie sich der Mensch handelnd verhålt, ob er Gutes tut oder Bæses. Denn Tun bleibt Tun und hat mit dem Religiæsen nichts zu schaffen, es ist immer eine Bewertung des Subjekts, eine Leugnung dessen, daû nur der Glaube an die Gnade 100
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bleibt. Schon der Barnabasbrief hat es verkçndet: die Tafeln Mosis sind zerbrochen. | Paulus selbst hatte seine Wurzel noch zu sehr im Judentum, er selbst hat immer wieder seine moralischen Forderungen erhoben. Sie sind echt, da sie aus seinem ehrlichen, tief sittlichen Wesen und aus seiner lebendigen Vergangenheit, aus der er nicht ganz hinausgelangen konnte, hervorkamen. Aber sie sind nicht echt, insofern sie nicht aus seiner romantischen Religion, die er als sein Eigenstes verkçndete, gewachsen, sondern ihr nur als ein Øuûerliches und Anderes aufgepflanzt sind. Sie stammen aus seiner Persænlichkeit, aber nicht aus seinem Glauben, und sie machen den Widerspruch seines Wesens aus; der Mensch war stårker als die Glaubensform. Die Gnostiker, die im jçdischen Boden nicht mehr wurzelten, die kein »unnçtzes Erinnern«, kein »vergeblicher Streit« mehr stærte, haben dann mit der romantischen Anarchie ernst gemacht. Wenn es Paulus oder manchem unter den Seinen sehr bald vor ihnen graute, so war es nur das Grauen vor der Konsequenz der eigenen Gedanken. Gnostik ist Christentum ohne Judentum und insofern das reine Christentum. Immer wenn das Christentum in dieser Weise rein werden wollte, ist es gnostisch geworden. Als die Kirche in den Staat eintrat und die Moral brauchte, hat sie den gnostischen Weg immer entschiedener verwehren mçssen. Aber das eindeutige, klare Verhåltnis zu den ethischen Geboten hat sie auch jetzt nicht finden kænnen, weil es ihrem Wesen widersprach. Sie vermochte nicht ihnen das eigene Ziel zu geben; sie wurden gefordert, aber sie blieben doch immer in geringerem Stand, das bloû Natçrliche gegençber dem eigentlich Religiæsen. Wie sehr der Katholizismus sie mit seinem Grundsatz vom »Glauben und den Werken« unter das »Gesetz Christi« gestellt hat, sie blieben auch hier doch nur der Appendix der Religion, etwas, was nur bei ihr steht. Die Hæhe, die ihnen zukommt, ist einzig die, daû sie in die gleiche Reihe und unter die gleiche Benennung treten wie der Dienst des Sakramentskultus, die zeremoniellen Ûbungen; sie sind nicht weniger, aber auch nicht mehr als diese, wie sie »die guten Werke«. Im Protestantismus wird es dann wieder ein ausschlieûliches Nebeneinander. Die Sittengebote werden in das Gebiet des Bçrgerlichen gewiesen, und nur zu bald erhålt die Obrigkeit das Sittenmandat. Der Landesherr wird, wie Melanchthon es biblisch formuliert: »der Wåchter der beiden Gesetzestafeln« »custos utrius | que tabulae«; er hat fçr die Legalitåt, fçr die åuûerliche Erfçllung der Moral zu sorgen, sie wird ihm unterstellt und wird zu einem Elemente der bçrgerlichen Polizei. Was der Ethik gewåhrt werden sollte, gewann 101
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nun in Wirklichkeit die landesherrliche unumschrånkte Eigenmacht; diese hat auch darum unter den protestantischen Lehrern weit mehr Verteidiger gefunden als unter den katholischen. Wieder zeigt es sich, wie die Romantik auf allen Wegen zum Autoritåtszwang hinfçhrt. Das Sittliche selbst blieb prinzipiell ohne die religiæse Bedeutung. Daû sie ihm versagt ist, gehært zum Wesen des Paulinismus. Besonders Luther hat das deutlich begriffen; seine Worte sind auch hier die beste Erlåuterung fçr die Lehre des Apostels, fçr die Bestimmtheit, mit der sich der Gegensatz gegen das Ethische aus ihr ergibt. »Das Leben laû die Erde sein und die Lehre den Himmel«, »vitam sinas esse terram, doctrinam coelum,« 19 das war der Grundsatz, von dem Luther ausging. Aus ihm folgte dann ohne weiteres das andere: »Ich lebe, wie ich lebe, so wird darum die Lehre nicht falsch. Darum mçssen wir nicht nach dem Leben, sondern nach der Lehre sehen und urteilen.« 20 »Wenn schon das Leben nicht so rein ist, kann dennoch die Lehre wohl rein bleiben und mit dem Leben Geduld getragen werden.« 21 »Du bist Gott nichts schuldig zu tun, als glauben und bekennen. In allen andern Sachen gibt er dich los und frei, daû du es machest, wie du willst, ohne alle Gefahr des Gewissens.« 22 »Daû ein Christ wisse, daû ihm nicht schadet, ob er das Gesetz halte oder nicht, ja er auch tue, was sonst verboten ist, oder låsset, was sonst geboten ist: so ist ihm keine Sçnde; denn er kann keine tun, weil das Herz rein ist.« 23 Was sich in diesen und åhnlichen Såtzen Luthers mannigfaltig ausspricht, es ist, so gesteigert es klingt, nichts anderes als die genaue Behauptung der paulinischen Lehre. Auch sein viel berufenes Wort, das er 1521 an Melanchthon schrieb: »fortiter pecca« »sçndige tapfer«, steht nicht bloû vereinzelt da und nicht bloû als ein Ausdruck gelegentlicher Ironie; es ist vielmehr in seinem Eigentlichen rein paulinisch, und es ist echt romantisch; die Romantik der neuen Zeit hat ganz ebenso gedacht. Je mehr Sçnde, so meinte Luther zudem, desto mehr kann die gættliche Gnade | ihre Kraft beweisen. Er hærte in der Forderung, welche die guten Taten als ein Entscheidendes verlangte, die versuchende teuflische Stimme, die das Tun gegen die Gnade setzen will, und der Widerspruch und selbst die Zuwiderhandlung gegen das gerechte Werk muûte ihm daher als der stolze 19.
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Ausg. Weimnar XIV, 464. Ausg. Weimar XXIV, 606. Ebendort. Ausg. Weimar XII, 131. Ausg. Erlangen 51, 284.
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Trotz gegen den Satan erscheinen. Hie sittliche Forderung, hie Gnade! »Man muû zuweilen ¼,« so riet er darum, »irgendeine Sçnde tun aus Haû und Verachtung des Teufels, damit wir ihm keinen Raum lassen, uns çber die geringsten Dinge ein Gewissen zu machen, sonst werden wir besiegt, wenn wir zu ångstlich uns vorsehen wollen, nicht zu sçndigen ¼ Der ganze Dekalog ist von uns, die der Teufel so bedroht und vexiert, gånzlich aus den Augen und aus dem Sinn zu schlagen.« 24 Gegner Luthers haben solche Såtze als eine jener Philosophien hinzustellen gesucht, durch die eine praktische Lebensrichtung nachtråglich ihre Theorie und Rechtfertigung erhalten soll. Man wçrde damit gegen ihn sicherlich einen Unglimpf çben. Jene Såtze sind nur die logischen oder, wenn man die Schroffheit des Menschen Luther in ihre Bedeutung setzen will, die eigensinnigen Ergebnisse seines Grundgedankens, den Paulus ihn gelehrt hat: »sola fide«, »aus Glauben allein.« Er muûte zu ihnen kommen, wenn er bei dieser Ûberzeugung bleiben wollte. Aus Glauben allein, das konnte fçr ihn nur besagen, ohne das Tun und auch gegen das Tun. Man wçrde den Reformator aber ebenso miûverstehen, wollte man ihn modernisieren und etwa das bei ihm suchen, was ein religiæser Denker spåterer Zeit einmal gemeint hat, daû es »manchmal scheinen will, als bedçrfe der Mensch vulkanartig zuweilen der rçcksichtslosen Ûbertretung des Hergebrachten wie zur innern Klårung, Befreiung, Beruhigung.« In Luthers Såtzen von der Gleichgçltigkeit der Sçnde wird nicht die Explosion der Seele vernehmbar, auch nicht das Brechen alter Fesseln ± es hat auch das alles in seinem Leben gegeben ±, sondern nur die harte Stetigkeit seines bestimmten Grundgedankens vom Glauben. Sie allein findet in jenen Såtzen ihren lauten Ton. Aus seinem Wesen ist dagegen weit mehr das Umgekehrte, die strenge sittliche Forderung hervorgetreten. Aus seinem Gewissen und seinem Leben | hervor hat er trotz allem das Sçndigen verdammt und des Menschen Pflicht zur Tugend und Sittlichkeit hochgestellt; nur sein Glaube war rçcksichtslos und amoralisch. Darin lag, ganz wie bei Paulus, der Widerspruch seiner Persænlichkeit. Wie sehr auch sein Gemçt ein anderes forderte und auch bewåhrte, sein Glaube blieb es, daû wir Menschen Gott gegençber bloû Objekt sind und unser Tun darum nebensåchlich ist. Wenn es ihm dann bisweilen vor manchen, die von ihm ausgegangen waren, vor den sogenannten Antinomisten, vor »Jåckel und Grickel« bange wurde, so war das nur die nåmliche Furcht, wie sie 24.
1 Dr. Martin Luthers Briefwechsel, herausg. von Enders VIII, 159 f.
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einst Paulus und die Seinen vor den Gnostikern ergriffen hatte, diese Bangnis vor dem Schluû der eigenen Gedanken. In Wirklichkeit sind diese Månner seine konsequenten und insofern seine treuesten Jçnger gewesen. Es zeigt sich hier, wie unmæglich das ist, was eine gewisse Geschichtskonstruktion bisweilen unternimmt, Kant auf Luther zurçckzufçhren: Kant, fçr den die befreiende, erlæsende Kraft vom Gesetze herkommt, fçr den nichts gut ist, »als allein ein guter Wille«, fçr den es als Prinzip dasteht: du kannst, weil du sollst ± auf Luther, fçr den das Gesetz den Menschen knechtet und »besudelt«, fçr den der Wille nur der Wille zur Sçnde sein kann, und die Bewertung des Willens die Gottlosigkeit ist, fçr den es Anfang und Ende ist: du sollst wohl, aber du kannst nicht. Einen stårkeren Gegensatz als Kant und Luther kann es kaum geben, und wer die beiden zusammenstellt, kennt entweder den einen nicht genug oder nicht genug den andern. Kants Ethik, sie fast noch mehr als seine Erkenntniskritik, ist der åuûerste Widerspruch gegen das, was die Gewiûheit Luthers gewesen ist. Auch das ist nicht angångig, eine Verwandtschaft des Reformators und des Philosophen darauf grçnden zu wollen, daû Luther jeden Eudåmonismus, jeden Gedanken eines Lohnes fçr das menschliche Tun ablehne und damit als Kants Ahne anzusprechen sei. Denn die Lohnidee, die im çbrigen ihm nicht so ganz unbekannt ist, bleibt ihm nur insofern unwesentlich, als die Ethik fçr ihn unwesentlich ist. Weil der Mensch fçr seine Gerechtigkeit und sein Heil nichts Entscheidendes tun kann, so darf er fçr sein Tun selbstverståndlich auch nichts Bedeutungsvolles empfangen. Der Eudåmonismus wird hier also um den Preis der Ethik hingegeben. Es ist, je nachdem man will, ein schwerer oder ein leichter Kauf, | aber Kants Purismus hat er jedenfalls nicht eingebracht. Wenn Luther von der Gesinnung spricht, so hat er allein das Wort mit Kant gemein. Gesinnung ist bei ihm nur die geschenkte Gesinnung, dieser Gesinnungsstand, den die Gnade verleiht, und dem es gegeben ist, seiner sich zu rçhmen. Zu dem Kant'schen reinen Pflichtbewuûtsein steht er im weitesten Gegensatz. Kants Philosophie des Gesetzes bildet den Gegenpol gegen alle Romantik mit ihrem Widerspruch gegen das Begrenzende und Verpflichtende. Vielleicht erscheint es auf den ersten Blick ein wenig zusammengeholt, aber es gehært in Wirklichkeit innerlich zusammen: Wenn die deutschen Romantiker des letzten Jahrhunderts scheltend eifern gegen die »Tugendpedanten und Maximendrechsler«, gegen Kant, diesen »genialischen Pedanten« mit »seinem verwickelten 104
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krummen Gang« oder gegen den »bleiernen moralischen Schiller«, es ist im Grunde ganz eben dasselbe, wie wenn Paulus oder wenn Luther gegen das Gesetz zçrnt, welches fesselt und knechtet und tætet. Es ist immer dieselbe romantische Stimmung, mit ihrem Widerwillen gegen das Gebot, das die Grenzen bestimmt. Das Sentimentale Die Ethik ist in der Kirche im Grunde auch immer ein Gegenstand der Verlegenheit gewesen. Sie war wohl da, hingestellt durch das Alte Testament, das man in die Bibel aufgenommen hatte, aber der Glaube besaû kein innerliches Verhåltnis zu ihr. Fçr die geschichtliche Betrachtung hatte man sich damit geholfen, daû man mit dem Galaterbrief das »Gesetz« als »den Erzieher der Unmçndigen bis zu Christus hin« bezeichnete. Aber damit war die Ethik eben als das bezeichnet, was zu dem Glåubigen nicht mehr spricht; sie stand als etwas Antiquiertes und Ûberholtes, als die Wahrheit, die nicht mehr gilt, da, als etwas, in das nur ein Rçckfall zum Niedrigeren wieder hinfçhren kænnte. Trotz alledem ist, selbstverståndlich, auch in der Kirche, das religiæse Verlangen nach ihr nicht geschwunden; die Sehnsucht nach dem Werte des Sittlichen ist immer wach geblieben. Doch es war, wenn der Glaube an sich festhielt, ein zielloses Suchen, und das Los der Ethik ist hier immer ein zwiefaches gewesen: entweder ist der Weg zu ihr ± nicht zu der Fræmmigkeit ± in der bloûen Schwår | merei verlaufen, die in den einen nur ein frommes Gebet war und in vielen anderen ein hohles, sentimentales Pathos, oder aber er hat zur sammelnden und schachtelnden Kasuistik gefçhrt. Die Ethik ± nicht die Fræmmigkeit ± verflçchtigte sich in das leere Gefçhl oder in die Spaltungen des Begriffsspiels. Wir sehen es an den vielen Meistern der katholischen und der lutherischen Kirche, die in ihrer religiæsen Sittenlehre Entzçckte, die sich in der Begeisterung ergingen, oder scharfsinnige, klçgelnde Beichtvåter oder auch beides zusammen waren. Wir sehen es am nåchsten und deutlichsten und in einer Person verbunden an Schleiermacher, an der falschen Gerçhrtheit seiner »Monologe« und an der advokatorischen Kunst in seiner »Christlichen Lehre«; Dinge, die man in des Jesuiten Busembaum medulla theologiae moralis zu entdecken weiû, kann man hier ebenso gut und offen finden. Schwårmerei und ethische Kasuistik kommen aus einem Boden hervor, sie sind, die eine wie die andere, die Form der rein åuûerlichen Aufnahme der Ethik. Sie stehen ganz ebenso eintråchtig zu105
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sammen, wie sich Mysterienwonne und Klçgelei wohl vertragen, oder wie gottselige Inbrunst und Frivolitåt beieinander wohnen kænnen; manch frommes Kirchenlied und manch schlçpfriger Schåfergesang haben den gleichen Verfasser. Die Romantik fçhrt beides sehr leicht zusammen. In der Schwårmerei ist das Gute gesteigert, in die Ferne des Unvergleichlichen und Unerreichbaren hinausgerçckt und doch wieder in Menschenantlitz dargestellt, so daû es uns anschaut, und wir bewundernd und verzçckt, Auge in Auge, zu ihm hinblicken kænnen, die Arme nach ihm ausstrecken dçrfen. So ist das Sittliche menschlich und zugleich çbermenschlich dargestellt, es ist unserer Art und doch çber unsere Art, vor uns stehend, aber nicht fordernd; der bestimmende Wert und die Geboteskraft brauchen ihm nicht zuerkannt zu werden. Man hat beides, das Ethische, das man lieben mæchte, und das Passive, Romantische, in dem man leben will. Die beståndige Tat, wie das ethische Gebot sie verlangt, wird durch die Anbetung ersetzt, in der sich die romantische Impression des Augenblicks entlådt, durch die Sehnsucht, die nur zu bewundern und zu genieûen, aber nicht zu leisten braucht. Die Schwårmerei hat sich immer genug getan, wenn sie den Gegenstand des Entzçckens vor sich sieht und ihr begeistertes | ecce homo¬ ausruft. Es war ein feines Verståndnis fçr die romantische Art, daû Luther dieses Wort »Hier ist der Mensch«, das im Johannes-Evangelium Pontius Pilatus, der dort fast wie ein Romantiker dargestellt ist, spricht, indem er den eigentlichen, wærtlichen Sinn ins Bewundernde umdichtete, so çbersetzt hat: »Sehet, welch ein Mensch!« Die Abtænungen sind dann mannigfach von der sanften Sehnsucht bis hin zur Sentimentalitåt, dieser schmerzlich-sçûen Freude, selbst so gering und schwach zu sein und doch ein so Ideales und Vollkommenes so inniglich zu verehren. Um so weher und wonniger wird diese Freude sein, je weiter hinauf die Entzçckung emporzudringen sucht zu immer hæheren und wundersameren Zçgen, die an dem Ideale gesucht und gesehen werden. Von der Grenzenlosigkeit des Empfindens wird es çber diese wirkliche Welt mit ihrer Mangelhaftigkeit hinausgehoben, und jede jenseitige Eigenschaft kann ihm zuerkannt werden; der Strahlenkranz ist ihm ums Haupt gelegt. Der absolute Mensch wird geschaffen, der Mensch, der zum Dogma geworden ist; die Ethik verflçchtigt sich in das Hochgefçhl. An die Stelle des bestimmten sittlichen Gebotes tritt das von der Gloriole umgebene Bild, welches zur Anbetung hingestellt ist: das »Ûberwirkliche«, wie Fichte es nannte, oder, wie Schlegel sagte, das »Ûberheilige«; die moderne protestantische Theologie hatte dafçr ihr Lieblingswort, 106
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das alles besagen soll: »unerhært«. Das Ideal ist nicht mehr die sittliche Persænlichkeit, die der Mensch ringend und strebend in sich darstellen soll, sondern die çbermenschliche, das heiût doch die mythische Persænlichkeit, der Heilige, der Heros, der Gottmensch, von dem man schwårmend sich ergriffen fçhlt, um damit sich und ihm genug getan zu haben. Und ob dieser »Ûberheiligkeit« und »Unerhærtheit« des Ideals wird das alles dann gern als die heroische Ethik gepriesen. Es ist in Wirklichkeit nur die heroische Landschaft mit ihrem in die rosigen Wolken gebauten Schloû, in das die Phantasie, die zu nichts verpflichtet, von Zeit zu Zeit einkehrt. Fçr diesen romantischen Idealismus trifft Feuerbachs bekannte Erklårung der Religion zu, hier zeigt in der Tat die Religion, wenigstens soweit sie ethisch sein will, die groûe Spiegelung des Menschen; er schaut sein Gefçhlsgebilde an, das aus dem Bunde geboren ist, welchen die Phantasie mit dem Gemçte geschlossen | hat. Es ist so der gegebene Weg. Wenn das fromme Ich hinausstrebt und das schaffende Emporgelangen ihm abgesprochen bleibt, so kann dieses sein Trachten nur in die Fernen der Verklårung fçhren. Aus der schlechthinnigen Abhångigkeit folgt die Schwårmerei. Es ist ein gleicher seelischer Grund wie der, welcher der Autoritåt hier die Bedeutung verlieh, Beistand und Ergånzung der Passivitåt zu sein, in der der Mensch sein Wesen finden soll. Die Autoritåt schenkt dem Abhångigen die Stçtze, derer er bedarf, und die Schwårmerei gibt ihm die Weite, nach der er sich sehnt. Diese schwårmerische Verehrung des strahlenden Menschenbildes ist ein echt romantischer Zug, und sie gehært daher nicht nur der Kirche an. Sie ist ganz ebenso dem gesamten niedergehenden Altertum, vor allem der spåteren Stoa eigentçmlich, und nicht minder dann åhnlichen Zeiten, der Persænlichkeitskultus hat hier seine Geschichte. Der Romantiker braucht immer seinen Menschen der Anbetung, mag diese nun religiæse Inbrunst sein oder bloûes åsthetisches Anempfinden. In der Kirche hat dieser Zug nur die græûere Bedeutung gewonnen, dadurch, daû der absolute Mensch hier der geschichtliche Einigungspunkt der Religion geworden ist. Paulus' Werk war es gewesen, daû er fçr den Glauben Jesu den Glauben an Jesus hinstellte. In die Person des jçdischen Messias hatte er den erlæsenden Gnadenheiland des Mysteriums hineingetragen; jener hatte Namen und Gestalt, dieser den Inhalt gegeben. Das Evangelium, die Botschaft vom Messias, von seinem Leben, seiner Predigt und seinem Tod wurde nun romantisiert und zur Botschaft vom Gottmenschen umgebildet. In dieser Form konnte es sich an das paulinische Schrifttum, dieses Buch vom Siege des Erlæsers çber 107
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die Urschuld fçgen; es war eine gewisse, trotz allem freilich kçnstliche Einheit hergestellt. Eines erleichterte diesen Zusammenschluû, die sentimentale Stimmung, die im Evangelium wohnt. Sie ist ihm nicht sondertçmlich; ein groûer Teil der jçdischen Literatur der Zeit hat diesen Ton der Weltmçdigkeit und des Weltschmerzes. Aber am innigsten dringt er doch aus dem Evangelium hervor. Wir vernehmen ihn hier vornehmlich auch in den Worten, die von der Natur reden. Darin ist nichts mehr von der alten biblischen Naivitåt, die einfach auf das Singen und Klingen drauûen gehorcht und in | das Grçnen und Blçhen, froh oder sorgenvoll, hinausgeschaut hatte. Aus dieser Schlichtheit, welche unbefangen sah und hærte, ist hier eine Empfindsamkeit geworden, die in allem drauûen sich selbst sucht und sich begehrt, jene wehmutsreiche Poesie des Stådters, der die Natur nur mit der hinausziehenden Sehnsucht zum Fernen und Anderen erfassen kann. Nur ein sentimentales Sinnen und Meinen spricht das gefçhlvolle Wort wie das von den Vægeln unter dem Himmel, die nicht såen und nicht ernten und nicht einsammeln in die Scheuern, von den Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen und nicht arbeiten und nicht spinnen. Dem harmlos empfindenden Landmann wåre das nicht sein Lied. Aber trotz all diesem Sentimentalen, trotz aller Berçhrung mit dem Romantischen, die darin gegeben ist, bleiben die Evangelien in ihrem ursprçnglichen Gehalt doch ein durchaus unromantisches oder, wie hier ebensogut gesagt werden kann, ein durchaus alttestamentliches, ein jçdisches Buch. Sie sind es durch die Bestimmtheit des Gebotes, die in ihnen den Platz hat, durch die prophetische Entschiedenheit ihrer Forderung, durch das unbedingte Gesetz, das sie aufstellen. Das ist ihr Wesentliches und Echtestes, und mit ihm stehen sie, genaugenommen, auûerhalb des Christlichen, sofern dieses Wort in dem Sinne allein genommen wird, welchen seine ganze Geschichte geprågt hat. Christentum ist, seit Paulus ein solches geschaffen hat, Heilslehre, Lehre von der erlæsenden Gnade durch Christus, und von ihr, von diesem eigentlich Christlichen, hat das alte, wirkliche Evangelium nichts. Was davon in ihm dann in der Gestalt, die es schlieûlich gewonnen hat, zu finden ist, ist ihm bloû als sein Neutestamentliches beigefçgt, ihm selbst bleibt es ein nur Dazugekommenes, ein Fremdes und Widersprechendes. Die Geschichte bietet den Erfahrungsbeweis. Das eigentliche Evangelium ist innerhalb der Kirche, sobald es nicht bloû der Schwårmerei das Bild geben sollte, wie ein Vorwurf voller Peinlichkeit gewesen. Man besaû es, im literarischen Sinne, und pries es laut, 108
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aber man nahm es im çbrigen, das heiût in der Anwendung, gar nicht ernst. Das Verhåltnis zu ihm war nichts als ein stetes Bemçhen, es mit seinem Wesentlichen, mit seiner gebietenden Kraft bei Seite zu stellen oder fortzuinterpretieren. Man sprach und schrieb oft von der Nachfolge Christi, aber man hçtete sich, sie | in ihrem alten Werte als die Forderung hinzustellen, die an jeden Menschen ergeht. Die katholische Kirche hat sich allerdings wie sonst, so auch hier einen Ausweg bereitet. Sie hat das Evangelium, åhnlich wie sie es mit der reinen Romantik tat, der Gemeinde der Glåubigen abgenommen und es einigen Auserwåhlten çbertragen. Es wurde aus dem Kreise der Pflicht herausgestellt und die Treue zu ihm als çberverdienstliches Werk, als opus supererogationis erklårt. So war es umgangen und stand doch da. An den Månnern und den Frauen dieser evangelischen Fræmmigkeit hat es dem Katholizismus nie gefehlt. Er hat seinen Franz von Assissi gehabt, diese rçhrendste Erscheinung des Mittelalters, rçhrend in ihrer heiteren Reinheit und ihrer unendlichen Sehnsucht, und wenn auch nicht seinesgleichen, so doch seiner Art hat es manch anderen gegeben. Aber auch Franciscus hat in der Welt seiner Kirche bestimmend fortgewirkt eigentlich weniger in seiner Erfçllung des Ideals als vielmehr in seinem bereiten Gehorsam gegen ihre Autoritåt. Er selbst gehært mit seinem Wesen zu der Gemeinde, die dem Tåufer Johannes nachgezogen war und in Jesus ihren Messias gefunden hatte; aber die ihm folgten und nach ihm sich nannten, sind Månner der Kirche gewesen, zu der Paulus den Grund gelegt hat. Aber trotz allem war hier, im katholischen Gebiet, dem Evangelium ein Platz gelassen, wenn auch um den Preis der Scheidung in ordentliche und auûerordentliche Religion. Der Protestantismus hat dann aber in der vollen Ratlosigkeit gestanden; in ihm fehlte, von gelegentlichen Mæglichkeiten im Pietismus abgesehen, jeder Raum fçr das wirkliche Evangelium. Es ist hier reine Literatur immer gewesen. Es bot den schænen Predigttext; aber die Predigt, die dann kam, besagte meist ganz anderes. In ihr vernahm man nichts davon, daû einer, um Jesu Jçnger und ein Christ zu sein, die Gebote Jesu çben mçûte; nur das hærte man in der Regel deutlich und laut, daû der Christ sie nicht oder nicht immer oder nicht ganz zu befolgen brauchte und wåre doch ein guter Christ. Dem galt die Fçlle der Beredsamkeit. Die bestimmte Forderung wird hinwegkommentiert, die gebietende Kraft fortbewiesen, und als die letzte Antwort, als die dauernde Bedeutung des Evangeliums hat man immer wieder verkçndet: sein Wert bleibt erhaben und groû, aber so genau und so ernst, | daû es auch erfçllt werden 109
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sollte, ist es nicht gemeint. Man nannte dies die Erklårung des Evangeliums. Durch den modernen liberalen Protestantismus ist diese romantische Ironie dann schlieûlich zum romantischen Spiel, fast mæchte man sagen, zur romantischen Komædie geworden. Er hat den evangelischen Idealen wieder den Raum schaffen wollen. Aber diesen Platz, den ihnen die alte Kirche in dem Opfer des reinen Mænchtums zu bereiten gesucht hat, gewåhrt er ihnen ± es ist so bequemer und eloquenter ± in den weiten und breiten Ausfçhrungen des neutestamentlichen Handbuches. Hier allein hat diese evangelische Fræmmigkeit ihr Feld; hier sået und erntet sie. Sie bringt die vollen Garben des Wortes ein und hat sich damit genug getan. Wenn derart in den Kommentaren zum Neuen Testament etwa die Armut, die Entsagung, die Abwendung von irdischem Streben und Sorgen in ihrer Erhabenheit hoch hingestellt und sehr bald danach in der Theorie und der Praxis des christlichen Lebens das bestimmte Gegenteil von dem allen gelehrt und gefordert wird, wenn dort jedes Anrufen Gottes zum Schwure als eine niedere Art verworfen und hier der Eid verteidigt und verlangt wird, wenn es dort als fromm und edel gilt, dem Bæsen nicht Widerstand zu leisten, und hier die Pflicht feststeht, gegen alles Unrecht zu kåmpfen, wenn dort im spættischen Ton des darçber Emporgetragenen von Moralismus gesprochen und hier der Segen dieser nçchternen bçrgerlichen Moral gepriesen und eingeschårft wird ± diesen Kommentaridealismus, diese Lehrbuchheiligkeit kann man kaum anders nennen als die romantische Komædie. Daû sie als das, was sie ist, von denen, die sie auffçhren, so gar nicht empfunden wird, ist vielleicht nur daraus zu erklåren, daû im Protestantismus das wirkliche Evangelium niemals ernst genommen werden konnte. Aber im Grunde gilt das doch von der Kirche çberhaupt, und sie ist um diese Not kaum herumgekommen. Es war kein Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit ± dieser liegt im Menschlichen ±, sondern der romantische Zwiespalt zwischen Text und Predigt, zwischen Wort und Wille, die romantische Ironisierung des Ideals. Gegen sie haben sich, von Joachim da Fiore und Savonarola bis zu Kierkegaard und Tolstoi, der Schmerz und der Spott oft, aber immer vergeblich, erhoben, vergeblich, weil das alles im Wesen der | Romantik, die das Wesen der christlichen Kirche ist, liegt und darum auch von dieser, trotz allem, so leicht ertragen werden konnte. Die Romantik kennt nicht die Nachfolge, sondern nur die Bewunderung. Das Leben der Heroen ist fçr sie ein Schauspiel vor Gott und den Menschen. Es ist charakteristisch, daû diese Bezeichnung, die uns 110
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zuerst in der romantisch gewordenen Stoa begegnet, uns ganz ebenso bei Paulus und oft nach ihm in der Kirche entgegentritt und daû sie nicht minder in der neuen Romantik håufig ist. Der Ausdruck will nicht bloû einen Vergleich geben; dem schwårmenden Romantiker ist das Sittliche in der Tat ein Dargestelltes, das geschaut oder gehært und so erlebt und genossen werden kann. Es ist eine erbauliche Verkçndigung bloû, eine rçhrende Erzåhlung, ein Wort von der Bçhne herab ± Gedicht, aber keine Forderung, die an den Menschen ergeht, Erlebnis, aber keine Bestimmung des Lebens. An den Platz des Gebotes tritt die Heilands- und Heiligengeschichte. Es ist in den mannigfachen Formen immer dieselbe Romantik, die das Gute besingt, aber es nicht çbt, noch geçbt wissen will. Sie hat Gençge daran, daû es einmal einen gegeben hat, von dem das alles einmal erfçllt worden ist. Im modernen Protestantismus heiût diese Gençgsamkeit die »Ethik des Evangeliums« oder auch die »neue Ethik«, die »hæhere Sittlichkeit«. Es ist so das romantische Verhåltnis zur Ethik ± die Ethik als Erlebnis. Die Kasuistik An jener satzreichen Fræmmigkeit, die von der Interpretation lebt, zeigt es sich, wie eng mit der Schwårmerei die Kasuistik zusammenhångt. Der Zwiespalt zwischen Reden und Tun, jenes Alleslehren und Nichterfçllen, bringt es leicht mit sich, daû das Sittliche zweideutig und vieldeutig dasteht, und die Ethik so eine bloûe Wortsache, Sache der Auslegung wird. Schon in dem emporgesteigerten Gefçhl selbst, da ihm der feste Grund fehlt, kann etwas aus dem Leeren Herangeholtes, etwas spitzfindig Gesuchtes liegen, ein gewisses Spielen mit sich selbst. Wir sehen es schon bei einem, Augustin, der in all seiner Inbrunst das Wortspiel nicht vergiût; wir sehen die gleiche geistreiche Verzçckung bei Novalis und denen, die um ihn stehen. Wo die Religion vor die Seele tritt wie | ein Traum, der gekommen ist, wie ein Gesicht, das genossen wird, dort ist darin auch die Wirklichkeit mit ihren Geboten nur ein erschautes Bild, eine von Ferne vernommene Kunde, die alles bedeuten kann und nichts zu fordern braucht, mit der man spielen und klçgeln kann. Noch ein Weiteres gehært hierher. Jenes schwårmende Empfinden, das in sich selber webt, åuûert sich oft in einer sentimentalen Weichheit, einer Rçhrung, die alles Menschliche in eines zusammenflieûen låût. Diese milde Wehmut kann ihr Reines und Vornehmes haben; sie ist in so mancher Seele die alles begreifende, alles 111
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verzeihende Gçte. Aber sie hat noch håufiger den anderen Charakter. Sie dient nicht selten, vergebend und verklårend, der Nachsicht gegen jeden eigenen Fehler, der Stille gegen die eigene Schuld; sie wird zum beruhigten und fast frohen Sçndenbewuûtsein, zur lieblichen Melancholie der Religion. Auch darin wieder steht bei ihr die Gefahr der Ironie, die kasuistische Gefahr. Wohin sie fçhrt, zeigt der Weg der deutschen Romantik, die so sentimental anhob und so oft ausging in den gezierten Spott, der çber dem Gebote sein will, in jene Frivolitåt, welche die ganze Ethik als Wortspiel, als kunstvolle Fertigkeit der Begriffe nimmt. Es gilt als das Recht der romantischen Individualitåt, fçr jeden besonderen Fall das eigene Gefçhl und den eigenen Ausdruck und schlieûlich die eigene Moral zu haben. Die moralische Frage wird ein Casus des Witzes. Das Sentimentale und das Frivole stammen oft aus dem gleichen Grunde her. Es gibt eine Kasuistik so auch im Dichten und Tråumen, und auch von hier aus kommt sie in den romantischen Sinn. Vor allem aber tritt sie hervor, sobald er an der Prosa des Lebens ernçchtert worden ist. Je hæher die Schwårmerei sich ins »Ûberwirkliche« und »Ûberheilige« emporgesteigert hat, desto weniger kann ihr erhabener Ausdruck dann fçr die Wirklichkeit dieser Erde bedeuten; so viel er zu besagen schien, so wenig sagt er jetzt. Er muû dieser niederen Welt immer wieder angepaût und an ihr ausgelegt werden, und die Aufgabe des Sittlichen wird auf diesem Wege leicht eine Berechnung, ein Exempel der Mæglichkeit, wird ein Paktieren mehr als ein Gebieten. Die Kasuistik ist meist nichts anderes als der Niederschlag des Ûberschwånglichen, das auf die kalten, harten Dinge gestoûen ist, wie ja auch Sakrament und | Dogma sich aus einer solchen Verdichtung ergeben. Es ist der gleiche Vorgang hier wie dort. Das Gefçhl schwindet, und das Wort bleibt, und an ihm kænnen dann Lebensklugheit und Lebensfremdheit weithin ihre Geschicklichkeit çben. Fçr die Romantik ist eine solche Technik des Sittlichen auch fast unentbehrlich. Das Ethische kann hier kaum in anderer Weise bestimmt werden. Die Sittenlehre, wie sie hier zugångig ist, mit ihrem Charakter des bloûen modus vivendi, des Einstweiligen und Geringeren, des bloû Angefçgten, dieses åuûerlich Befohlene verlangt auch die åuûerliche Konstruktion. Es fehlt hier der innere Zusammenhang des Gebotenen, wie ihn die Einheit der selbståndigen sittlichen Persænlichkeit mit ihrer Verpflichtung zur freien handelnden Gerechtigkeit und Vervollkommnung gewåhrt. Alles Selbstwollen und Selbsttun ist verworfen, dem Sittengesetz und dem Gewissen ist die entscheidende Geltung, der eigene Wert und das eigene Recht abgesprochen; nur von auûen, rein technisch, kann also jedesmal 112
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geurteilt und entschieden werden, was recht und was gut ist. Die sittlichen Forderungen sind keine Gebote mehr, keine kategorischen Imperative, sondern bloûe Anweisungen, entweder Anordnungen der eingesetzten Obrigkeit oder »Gewissensratschlåge« der Berufenen. Je weniger ein heiliges Sollen, das sich im Menschen kundtut, bestimmend ist, desto mehr beginnen åuûere Momente, die Umstånde und die Erwågungen, zu sprechen oder mitzusprechen. Die Sittenlehre wird eine Lehre von Fall zu Fall und die Wissenschaft von ihr darum mehr oder minder eine Jurisprudenz, die ihre Auslegung çbt und auf die Legalitåt achtet. Sie war schon von anderer Seite her der Religion hier vertraut. Seit altem hatten sich im abendlåndischen Christentum Dogma und Recht innig verquickt, und die Lehrordnung stand so in der Wçrde der staatlichen Rechtsordnung da. Das einzige, was schlechthin gefordert wird, ist daher wieder die Unterwerfung unter die åuûere, beglaubigende Autoritåt. Nur sie kann hier die Bestimmtheit und die Bçrgschaft und damit die Sicherheit und die Ruhe gewåhren, sie kann alles andere ersetzen; daher auch die Leichtigkeit der Absolution. Sie deckt dafçr auch alles, wie vorher die doppelte Wahrheit, so jetzt die mannigfåltige Moral. Øuûerlich gegeben, kann das Verlangte auch åuûerlich er | lassen werden, dieselbe Autoritåt, die das eine vermag, verschafft auch das andere. Es konnte dessen auch schwer entraten sein. Wo eine çber alles gebietende Autoritåt dasteht, muû ihr die Befugnis und die Macht der lossprechenden Gnade gegeben sein. In den verschiedenen Zeiten und Gebieten sind die Formen und Wirkungen, in denen die Kasuistik heraustrat, verschieden gewesen. Aber ob sie nun mehr oder weniger weit ging, sie gehært immer zum romantischen Glauben, sie ist die nicht immer begehrte, aber stets bereite Wegweiserin seiner Ethik, dieser Ethik der schlechthin Abhångigen, die Geleiterin des Sittengesetzes, das keinen in sich selbst liegenden Wert hat. Es wåre deshalb ein Irrtum, sie erst bei den Patres des Jesuitenordens oder selbst vorher bei den Scholastikern zu suchen; sie ist in der alten Kirche schon zu finden, ganz wie sie ja auch vorher in der romantisch gewordenen griechischen Philosophie, bei einem Chrysipp und seinen Jçngern, bereits ihren Platz hatte. Und es ist ebenso verkehrt, sie nur dem Katholizismus beizumessen, sie hat ganz ebenso im Protestantismus ihre Ståtte. Zwar hat er ihr åuûeres Gebiet eingeschrånkt durch seinen Kampf gegen das Buû-Sakrament und gegen die Absolutionsgewalt. Aber ganz abgesehen davon, daû ein Eigentlichstes des Ablasses und der Absolution schon in der Taufe liegt, die auch von den protestantischen Kirchen als befreiendes und verbçrgendes Sakrament, als 113
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Sçndigkeitstilgung gespendet wird, das Entscheidende ist, daû auch hier das Sittengebot bloû åuûerlich an den Menschen herangetragen wird. Auch hier, und hier noch bestimmter als im Katholizismus, gehært die Ethik nicht in das Wesen der Religion hinein, sondern kann nur daran angefçgt werden; es fehlt die positive Wçrdigung der sittlichen Idee und des sittlichen Willens. Auch im Protestantismus wohnt darum die Kasuistik mit ihren Gefahren, und gerade seine Geschichte berichtet çber die Moral von Fall zu Fall. Der Ausdruck der Ûberlegenheit, womit seine modernen Vertreter çber den »Moralismus« des Alten Testaments abzusprechen lieben, kennzeichnet in Wirklichkeit nur die Verlegenheit, mit der sie von der Kantischen Philosophie aus die Ethik suchen und von ihrem paulinischen Glauben aus sie nicht finden dçrfen. Jede romantische Religion hat, wenn sie ethisch werden will, nur diese beiden Wege offen: Schwårmerei und Kasu | istik. Auf dem einen sucht sie vor der Bestimmtheit des Gesetzes zur Weite des Himmels emporzufliehen, und nur auf dem anderen kann sie dann zur Enge der Erde wieder zurçckkehren. Gegen die Idee des sittlichen Gesetzes vereint sich alles, was der romantischen Religion eigentçmlich ist. Von allen ihren Richtungen strebt es gegen dieses eine zusammen. Weder der Sinn der Gerechtigkeit, die sich hier im Erfahren und Erleben erschæpfen will, noch der Ursprung der guten Tat, die nicht durch das menschliche Wollen und Handeln, sondern durch die gættliche Gnade bewirkt wird, noch die Bedeutung des Menschen, der als Objekt und nicht als Persænlichkeit dasteht, noch endlich der hier alles beherrschende Begriff des Fertigen låût die wesentliche ethische Wçrde und Wertung zu. Das Wollen wird supranatural, und dem Menschen bleibt nur die concupiscentia, die Begierde. Der Ethik fehlen hier in gleichem Maûe der Grund und der Tråger wie das Ideal und das Ziel. Einen bestimmteren Gegensatz zu ihr als die Romantik gibt es kaum. Das Menschentum Es ist wie die Probe darauf, daû das allgemein Menschliche, das Humane, hier ebenso wenig frei gewçrdigt werden kann. Von allen Seiten her wird es hier beeintråchtigt. Der Wert der rechten Tat, die der menschliche Wille schafft und die darum jedem zugånglich ist, verschwindet oder verkçmmert hinter der Bedeutung der çberirdischen Ausersehung, die den einen erwåhlt und den anderen verwirft. Das Sakramentsideal vom Getauften und Glåubigen beengt 114
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dem sittlichen Ideal vom guten Menschen das Wachstum. Dazu tritt die Befriedigung und Selbstgerechtigkeit. Mit dieser Stimmung dessen, der sich ohne sein Zutun erlæst weiû, vertrågt sich selten das Verståndnis fçr die, die nur Menschen sind, die ohne das Heil und darum nicht in der gleichen Welt leben; sie sind hier die Geschiedenen, kein Verbindendes bildet die Brçcke zu ihnen. Was der Humanitåt entzogen ist, verliert zugleich der Universalismus. Ihm hatte schon der Kirchenbegriff, in dem die eine Menschenwelt aufgehoben, der Gott aller fast zum Kirchengott geworden war, viel von seinem Bereich genommen. Allerdings, | innerhalb der Kirche war dafçr, im Grundsatz wenigstens, eine Gleichheit aller Glåubigen behauptet. Aber sie ist eben damit erworben, daû alle, die auûerhalb des erkorenen Kreises stehen, von vornherein und schlechthin in das Gebiet des Verworfenen gestellt bleiben, zur massa perditionis werden, zu der Menge derer, die bestimmt sind, zu Grunde zu gehen. Wenn der Brief an die Galater, und åhnlich der an die Ræmer, es rçhmt: »hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier«, so liegt ± Luthers Ûbersetzung låût es auch richtig hervortreten ± der ganze Nachdruck auf dem Worte »hier«. Und zwischen hier und dort geht die tiefe Kluft, so daû die Menschheit nicht mehr die eine ist. Was die romantische Religion dem freien Menschenwert nimmt, ist ihm dadurch nicht wieder eingebracht, daû er mit seinem Ideal und seinem Gebot in der alten Evangeliumspredigt den Platz hat. Fçr die Entwicklung der kirchlichen Lehre ist auch hier wieder das Evangelium mit seinem Wesentlichen ohne dauernde Bedeutung gewesen. Begreiflicherweise, denn es ist auch hierin durchaus alttestamentlich; wovon ja schon die Tatsache zeugen kann, daû in ihm der Satz von der Nåchstenliebe als das Zitat aus dem alten Bunde erscheint. Das humane Wort hat denn auch in der Kirche meist interpretiert werden mçssen; theoretische und praktische Unduldsamkeit konnten ihre Kunst daran çben. Aber wie stark sich dieser Partikularismus in der Kirche auswirken mochte, so stammt er doch nicht erst aus ihr; er wurzelt in jeder Romantik. Schon Diogenes, der Zyniker, hatte darçber spotten dçrfen, daû »ein Agesilaos und ein Epaminondas, weil sie nicht in die Mysterien aufgenommen waren, in der Unterwelt unter den Verworfenen sein sollen, und der geringste Wicht seine Wohnung auf der Insel der Seligen bekommt, nur weil er ein Myste war«. Es ist nur die Fortsetzung dieser Enge, wenn fçr einen Augustin alles, was einem Heiden oder Unglåubigen als ein Vorzug zugehæren soll, sich nur den Schein des Guten erborgt hat, in Wirklichkeit aber 115
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»eher ein Fehler ist«, 25 wenn im kirchlichen Schrifttum durch Jahrhunderte auf die Frage nach der mensch | lichen Tugend geantwortet wird, daû es sie nicht gibt, wo der rechte Glaube nicht ist. Es ist so durchaus logisch; da die Kraft zum sittlichen Handeln nur aus dem Gnadenwunder kommt und da der Nichtchrist vællig auûerhalb dieses Geschenkes steht, so bleibt er auch ohne die wahre moralische Fåhigkeit. Eine Eignung zum Guten am Heiden oder Ketzer ist hier fast ein Widerspruch in sich. Die katholische Kirche hat in dem selbstsicheren Bewuûtsein ihrer Stårke gern die Tugend der Inkonsequenz geçbt und die Brçcken gebaut. Wie sie stets geneigt war, dem Menschlichen, seinem Tun und seinem Werte, gewisse Zugeståndnisse zu machen, so hat sie auch bisweilen sich nicht bedacht, so besonders in der Zeit der Renaissance, jenen beengenden Grundsatz zu umgehen. Sie hat ihn spåter sogar ausdrçcklich verworfen, als ein Tag es verlangen wollte, als sie ihren Kampf fçhren muûte gegen den Jansenismus, der sich im Zeichen Augustins gegen sie zu erheben schien und in seinem Namen auch jenen Partikularismus des sittlichen Gutes verkçndete. Sie wollte sich damit zugleich gegen die protestantische Lehre abgrenzen. Auch in dieser war jener ausschlieûende Begriff wieder entschiedener hervorgetreten, und er ist hier nicht ein zufålliger und gelegentlicher bloû, sondern er ist die klare Folgerung aus dem alles bestimmenden Worte vom »Glauben allein«. Es gehært zur neuen Romantik, daû auch die Sittlichkeit nur aus dem geschenkten Glauben kommen kann. Melanchthon hat dieser Lehre dann den Stempel seiner trockenen, kalten Weise aufgedrçckt. In den Loci communes steht es im Kapitel von »der Macht und Frucht der Sçnde« als ein nçchterner, starrer Satz: Die Vorzçge eines Sokrates, eines Zeno sind als Eigenschaften heidnischer, also »unreiner« Seelen nur »Tugendschemen«; sie »dçrfen nicht fçr wahre Tugenden, sondern mçssen fçr Fehler erachtet werden«. 26 Das harte Wort geht vor allem gegen den Humanismus, der die Fræmmigkeit auch auûerhalb der Kirche gesucht hatte. Er ist nicht nur hierin von dem Luthertum, dem er einen Weg geebnet hatte, verstoûen und verdrångt worden. 25.
1 De civit. Dei XIX, 25: Proinde virtutes, quas sibi habere videtur ± sc. mens veri Dei nescia ±, nisi ad Deum retulerit, etiam ipsae vitia sunt potius quam virtutes. 26.
1 Loci communes, ed. Plitt-Kolde p. 86: Esto, fuerit quaedam in Socrate constantia, in Xenocrate castitas, in Zenone temperantia, tamen quia in animis impuris fuerunt, immo quod amore sui ex philautia oriebantur istae virtutum umbrae, non debent pro veris virtutibus, sed pro vitiis haberi.
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| Von den Voraussetzungen des Paulinismus aus war die Verwerfung des bloû Menschlichen, wie gesagt, durchaus folgerichtig. Augustin und Luther sind nur die treuen Schçler des Apostels, sie haben mit dem Worte seines Ræmerbriefes ernst gemacht: »Was nicht aus dem Glauben gehet, das ist Sçnde«. Oder wie wieder Melanchthon es ausgedrçckt hat: »Alle Menschen sind durch die Kråfte der Natur wahrhaft und immer Sçnder.« 27 Der Mission hat dieser Grundsatz manches geben dçrfen. Ihr brachte es einen Erfolg, daû dem Unglåubigen alles abgesprochen wurde und damit dem Bekehrten alles verheiûen werden konnte. Es war eine Stårke ihrer Verkçndigung, daû alle die, an welche sie sich wandte, als die dastehen muûten, welche bisher nichts hatten. Die Bejahung der Wçrde des Menschen fçhrt wohl zusammen, sie lehrt verstehen und achten, aber ebendarum hat ihre Mission nicht die gleiche zwingende Wirkung, die jenes drohende, verdammende Urteil haben kann. Ihrem Himmel fehlt der schreckende Vordergrund der Hælle. Wo das Wort vom »Alleinseligmachenden«, das alles Fremde vællig ausschlieût, gesprochen wird, scheint dem, der eintreten soll, mehr gewåhrt zu sein. Der Weg zur angewandten Unduldsamkeit ist dann oft nur kurz. Es liegt nahe, daû die Kirche, auûerhalb derer alles verweigert und in der alles gegeben ist, in ihren Augen sehr bald das Recht gewinnt, das Andere, da es wertlos ist, fortzuweisen. Sie wird vor sich befugt und schlieûlich verpflichtet, das, was sie nicht anerkennen darf, nun auch aus der Welt zu schaffen. Was ohne sie ist, ist nichts und soll darum zunichte werden. Ihr ist in ihrem Heilbesitz ein vælliges Gerechtsein verliehen, und zu ihm, damit es vollståndig sei, will oft dies verurteilende Amt gehæren, kraft dessen sie alles beseitigt, was ihr widerspricht. In diesem Verlangen nach dieser ganzen Gerechtigkeit haben Papsttum und Luthertum sich kaum unterschieden. Aber nicht minder verhångnisvoll und nicht seltener ist ein Weiteres gewesen. Diese fertige Gerechtigkeit, diese Sicherheit der Habenden hat sich oft auch in einer beruhigten, bequemen und fast satten Gleichgçltigkeit bekundet. Wie sie in sich selbst befriedigt war, so vermochte sie auch, sehr vieles, ohne beunruhigt | zu sein, mit anzusehen. Sie wuûte sich als eine ganz andere Welt, und sie konnte dafçr in dieser Welt so manches sich çberlassen. Aus der gættlichen Gnade war der fromme Glaube gekommen; er war çber allem Gewordenen und Menschlichen und durfte daher die irdische Tat, wel27.
1 Ebendort p. 87: Et ut rem omnem velut in compendium cogam, omnes homines per vires naturae vere semperque peccatores sunt et peccant.
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che immer sie war, als ein Geringeres und Gleichgçltigeres unter sich meinen. So war jedes Ûbersehen und Ûberhæren, ja jede Nachsicht bereit, das rechte Bekenntnis begnçgte sich leicht mit sich selbst; denn »wer an diesen glaubet, der ist gerecht«. Ein groûer Teil der Kirchengeschichte ist eine Geschichte davon, durch was alles diese Fræmmigkeit nicht verletzt und nicht beeintråchtigt worden ist, was sie an menschlichem Frevel, an menschlicher Niedrigkeit mit vergewisserter, ungestærter Seele und unvermindertem Glauben hat ertragen kænnen. Und çber eine geistige Art entscheidet nicht nur, was sie tut, sondern ebenso was sie verstattet, was sie verzeiht und wozu sie schweigt. Die christliche Religion, und in ihr ganz besonders auch der Protestantismus, hat zu so vielem stille zu sein vermocht, und es ist schwer zu sagen, was im Gange der Zeiten immer verderblicher gewesen ist, die Intoleranz, die das Unrecht tat, oder die Indifferenz, die es ungestært mit anblickte. Vielleicht ist diese Gleichgçltigkeit noch mehr romantisch als jene Unduldsamkeit; denn sie ist die passivere Art. Sie ist diesem Glauben ganz gemåû, der nicht ringen und handeln will, sondern genug hat, zu warten und zu erfahren; sie ganz eigentlich entspricht der Ablehnung des Gesetzes. Die sittliche Pflicht des Rechts und der Kampf um dasselbe liegen hinter ihr, sie gelten als çberwunden. Die Erlæsung
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Das Ideal des Romantikers ist ein ganz anderes. Fçr ihn ist das hæchste Ziel die beendete Erlæsung, dieser letzte Gedanke des Jenseits vom Gesetze, des reinen Hingegebenseins. In ihr beschlieût sich seine Religion. Aller romantische Glaube ist Glaube an solche Erlæsung. Sie erfçllt das Sehnen der Passivitåt, dieses Verlangen, des gebietenden Willens ledig zu sein, dieses Begehren, ergriffen zu werden und die schlechthinnige Abhångigkeit zu erleben. | So hat Paulus es deutlich gelehrt. Erlæsung ist die Heilstatsache, die am Menschen vollzogen ist; er bewirkt sie nicht, noch auch wirkt er dazu mit, sondern er erfåhrt sie nur. Auf menschlichem Wege und innerhalb menschlicher Pflicht gibt es keine Sçhne und keine Versæhnung. Wie der Mensch die Sçnde nicht schafft, vielmehr in der Sçndhaftigkeit als seinem Lose geboren wird, so kann er selbst sie auch nicht aufheben und kaum gegen sie ankåmpfen. Er tritt nicht gegen seine Schuld, sondern eine hæhere Macht, die etliche auserwåhlt, nimmt ihn aus der Schuld vællig heraus. Er wird herausgeholt ohne sein Zutun, ohne seine Leistung; ein anderer hat es ge118
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leistet und vertritt ihn dabei. »Christi Gerechtigkeit ist unsere Gerechtigkeit, Christi Genugtuung ist unsere Sçhne.« Kein Weg fçhrt zum Ziele und keine menschliche Kraft wird hier bewåhrt, sondern ein Ûbernatçrliches und Fertiges ereignet sich, die Erlæsung ist ein Geschehnis und der Mensch ist dabei nur das Objekt. Mit den Mçhen und Aufgaben des inneren Lebens hat diese Erlæsung also nichts zu tun, nichts mit Gewissenskåmpfen und Gewissensantwort, nichts mit seelischem Ringen und seelischer Befriedung, nichts mit sittlichem Suchen und sittlicher Freiheit. Sie bedeutet keine Entfaltung der Menschennatur, kein Empordringen, kein Ûberwinden der Sçnde, çberhaupt nichts, was geboten werden kann, sondern sie ist ein çberirdischer Vorgang, den das Los des Fatums bestimmt und den das Wunder vollzieht. Sie besagt eine Verwandlung, in der die Substanz des Menschen geåndert, er von seinem »Todesleibe«, der Vergånglichkeit und Sçndhaftigkeit, befreit und zu einem vergotteten, ewigen Wesen gemacht wird. Als ein reines Gnadengeschenk wird sie von jenseits her gegeben, sie bleibt mit ihrem Bestimmenden auûerhalb alles Sittengesetzes, jenseits aller Entscheidung zum Guten und Bæsen. Ihr Grund wurzelt in einer ganz anderen Welt, in ganz anderem Gebiete als dem der sittlichen Erneuerung. Was den Christen çber den Nichtchristen wesentlich erhebt, ist daher an sich nicht eine hæhere Stufe der Moral als solche. Den bestimmenden Unterschied gibt die Taufe, in der das Wunder wirkt. Das Sakrament gibt alles und fçhrt zu allem. Die Predigt des Paulus verkçndigt nicht eine neue Sittlichkeit, sondern ein neues Heil, das Wunder, das unsterbliche Menschen schafft. Und | ebenso die der Månner des Glaubens und des Wortes, die nach Paulus kamen. Sie lehren als das Entscheidende nicht ein besseres und anderes Gebot, sondern »Wasser, Brot und Wein«; darin kommt die Gnade, welche die Erlæsung verbçrgt. Wie Luther es sagt: »Die Speise Christi richtet's aus.« 28 Die paulinische Religion ist demnach sakramentale Erlæsungsreligion. Sie als ethische Erlæsungsreligion zu bezeichnen, wie es bisweilen geschah, ist ein Verkehren des Tatsåchlichen und ein Verleugnen des Wesentlichen. In ihr hångt alles vom befreienden Wunder ab; eine sittliche Leistung gibt nichts hierzu. An deren lebendige Geltung zu glauben, wåre der Unglaube, wåre die Beugung unter das alte Joch des Gesetzes. Die Frage »Was ist meine Aufgabe? 28.
1 Ausg. Erlangen 48, 63: »Was sollen mir die Zehn Gebote? Was bedarf ich des Gesetzes oder der Guten Werke zur Seligkeit? Wenn's die Speise Christi ausrichtet, so darf ich keine guten Werke tun, das ewige Leben zu erlangen.«
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Was fordert Gott von mir?« steht hier auûerhalb des bestimmenden Kreises. Das Wunder erlæst und nichts anderes. Der romantische Glaube ist insofern und an sich durchaus amoralisch; gerade darin liegt seine Eigenart. So sittlich hoch Menschen, die ihn hegten, stehen mochten, es war nicht seinetwegen, sondern fast eher trotz seiner. Von ihm selbst gilt Tolstoi's Wort, welches vielleicht çbertreibend klingt, aber das Wirkliche erfaût: »Man tut, was man will, und låût sich erlæsen.« Alles religiæse Hoffen und Meinen ist somit auf die eine Frage hingewiesen: Bin ich erlæst? wann und wie werde ich erlæst? Die Lehre vom Heile des Ich, vom Aufblick des Empfangens wird gepredigt. Alles bewegt sich um die eine Sehnsucht, selbst gerettet zu werden; das Ich steht im Mittelpunkte des Sinnes der Religion. Die Hoffnung, verewigt zu werden, beherrscht und bestimmt alles. Die Religion wird zur verbçrgenden Lebensgarantie, zur Gewåhrleistung der Ewigkeit; der Getaufte ist der, dem es so gegeben ist, und die Kirche die Anstalt, die ihm diese Sicherung gibt. Romantischer Erlæsungsglaube ist der fromme Glaube des Selbstsinns, im Religiæsen auch tritt hier das Ich mit seinem Verlangen vornhin. Augustin hat es richtig gefaût: »Gott und die Seele und nichts weiter« ist hier in dem Menschenbereich der Inhalt der Religion, der Mitmensch gehært nicht unbedingt dazu; er ist entbehrlich. Die romantische Passivitåt braucht im Mensch | lichen nur sich selber. Der Fromme freut sich seines eigenen ewigen Glçckes; er bleibt im Kreise des Ich. Selbst der Gedanke des Opfers kann hier einen egoistischen Inhalt bekommen. Der romantische Glaube besitzt nåmlich in seiner eigentçmlichen Askese sein ihm besonderes Opfer, sie ist hier das Opfer, das der Mensch sich selber bringt. An sich ist die Askese nicht romantisch, sie hat çberall ihre mannigfachen Formen von der Hæhe des Ergreifenden bis zum Abgrund des Absonderlichen; sie hat auch ihre starke religiæse Bedeutung, ihre Echtheit, es kann keinen religiæsen Ernst ganz ohne sie geben, sie çbt die Widerstandskraft und die Stetigkeit des Willens. Aber in der Romantik ist sie eine ganz andere geworden, sie gehært hier oft nicht in das Gebiet der Erziehung, sondern weit mehr in das der Ichsucht. Sie ist auch darin vielgestaltig. Aber wie immer sie ist, ob sie zu der phantastischen Selbstpeinigung hinneigt, wie sie innerhalb des Katholizismus sich bisweilen ausgebildet hat, oder zu der gefçhlsseligen Sçndigkeitsgrçbelei, wie der Protestantismus sie nicht selten pflegte, immer wirkt darin der Grund des in sich schwelgenden Selbstsinns, jenes »Wollçstige«, das der Romantik eigen ist. Das Ich dient nur dem Ich. Darum darf hier jener Einsiedler auch, der nur im Gebiete seines 120
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Selbst lebt, der im Menschenbezirk bloû um die Leistung gegen sich selber weiû, als der Mann des groûen Opfers dastehen und damit als der Heilige gelten. Er ist der eigentliche Egoist der Fræmmigkeit; er ist ganz fçr sich, ohne die Arbeit fçr die anderen, aber eben darum kann er ja vællig Objekt sein, er ist imstande, sich ganz dem Empfinden der schlechthinnigen Abhångigkeit, ganz dem Erleben der Erlæsungsseligkeit hinzugeben. Nur sich selbst und seinen Gott kennt er, und er besitzt daher die reinste Fræmmigkeit in ihrem romantischen Sinne. Jede derartige Erlæsungsreligion, da sie den Menschen so zu sich hinfçhrt, schafft ihre Einsiedler. Die neuplatonische Religion hat sie gehabt, und der Buddhismus zeigt sie ganz ebenso wie das Christentum. Hier ist ein Punkt, wo Luther, der sonst die ganze, reine Glaubensromantik wiederzuwecken gesucht hat, von ihr abgegangen ist. Er hat das Mænchtum aus seiner Kirche gewiesen, und er hat den Zælibat, der auch ein gewisses Einsiedlertum geschaffen hatte und hatte schaffen sollen, streng abgelehnt, wie er auch andrerseits, | und das ist ein entscheidender Mangel des Protestantismus, die echte, die sittliche Askese nicht gençgend kennt, auf viel von der Kraft echten Verbietens verzichtet hat. Aber das fortgeschickte Kind der Romantik hat eine andere Pforte des Eingangs bald gefunden. Indem Luther das Gefçhl der Sçndigkeit zu einem herrschenden seines Glaubens machte, hat er der romantischen Askese doch wieder den Zutritt gegeben. Auch im Protestantismus ist der Fromme, da er sich immer wieder in das Bewuûtsein seiner Sçndhaftigkeit vertiefen will, vor allem mit sich selbst befaût. Gerade diese Beschåftigung des sçndigen Ich mit sich selber ist fçr das Luthertum kennzeichnend, und auch eine Erneuerung in ihm ist stets durch diesen Zug charakterisiert gewesen, in den ersten Tagen des Pietismus wie im vorigen Jahrhundert. Aber vor allem bleibt das Eigentliche jener glåubigen Selbstsucht im Protestantismus; in dessen Grundsatz vom Glauben allein hat es seinen steten Boden. Denn zu diesem Glauben, der alles ist, gehært wesentlich nur das Ich, das von Gott empfangen und haben will, und im Innersten der Religion wohnt damit ein Egoismus. So ist es dem romantischen Glauben, wenn er in seiner Art lebte, immer eigen gewesen. Es ist nur eine letzte und logische Konsequenz, wenn er schlieûlich in die Gottheit selber diesen Ichgedanken hineingetragen und ihr Wesen darin gefunden hat, daû sie sich selbst erlæsen will. So hat es eine romantische Philosophie gelehrt. Aber liegt dasselbe nicht auch in allen den alten Mysterienreligionen schon und im Grunde auch im paulinischen Glauben? Die Auferstehung, die im Mittelpunkte jener alten Geheimkulte stand, ist im ei121
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gentlichen nichts anderes als die Selbsterlæsung des Gottes. Paulus hatte den alten jçdischen Opfer- und Sçhnegedanken, diese Idee von der Hingebung, dazu gefçgt, aber jene andere Vorstellung bleibt darunter immer noch deutlich sichtbar. Aus der egoistischen Erlæsungslehre, wie die Romantik sie predigte, geht der Gedanke, daû das gættliche Ich um sich kreist, ganz folgerichtig hervor. In der Kirche war dieser Zug nicht der allein bestimmende. Im paulinischen Glauben sind, von seinem Beginne her, es ist darauf schon mehrfach hingewiesen worden, unçberwunden, so manche alttestamentlichen, gesetzlichen Elemente enthalten. Sie sind im Gange der Geschichte, zu der er wurde, immer wieder | hervorgetreten, und sie haben den anderen Weg geleitet, den, der gegen jenes Egoistische ist. Am deutlichsten zeigt es die Entwicklung des Mænchtums, die von den einsamen und eigensçchtigen Anachoreten der Wçste, die nur erlæst sein wollen, zu den Brçdern und Schwestern der dienenden barmherzigen Liebe hinfçhrt, die fçr den Mitmenschen sich aufzuopfern wuûten. Sie sind ein Stolz und ein Ruhm vor allem der katholischen Kirche geworden, aber auch manch anderer neben ihr. Die Kirche besaû nicht umsonst das Alte Testament und das zu ihm gehærige alte Evangelium. Aber sooft sich der romantische Glaube auf sich selber besann und seines Eigenen und Besonderen wieder bewuût zu werden suchte, hat er sich als reine Ichreligion wieder zu fçhlen und kundzutun begonnen. Je hæher er hinaufsteigen mochte, je zarter und entzçckter er sein konnte, desto egoistischer ist er dann immer geworden. Sein eigentçmliches Wesen hat sich nur so immer entfaltet. Noch ein anderes kennzeichnet eine solche Erlæsungslehre. In ihr gewinnt der Eudåmonismus seine Erstreckung; die Verbindung, die dieser mit dem Sittlichen hat, worin er wie sein ursprçngliches Recht so seine Schranke besitzt, ist hier vællig gelæst. Es war wie eine »List der Idee«. Die reine Romantik hatte zugleich mit dem ethischen Gesetze ihn abweisen kænnen; jetzt erhålt er dafçr durch ihre Erlæsungsidee den neuen und weiten Raum. Die Glçckseligkeit wird der ganze Sinn und der Zweck des Daseins, der Inbegriff eines erfçllten Lebens. Sie erscheint nicht mehr als Begleitung und Folge sittlichen Handelns, als eine Wårme frommen Sinnes, sondern nur als die Gnadengabe, in der alles kommt und die alles bedeutet, und von der ein Mensch selber sich nichts bereiten kann. Inhalt und Wçrde des Daseins bestehen auch hier wieder in dem, was ohne eigenes Zutun zu ihm gelangt; der rechte Mensch ist der Empfangende. Das geschenkte Glçck ist alles. Eine andere Auffassung ist diesem Glauben auch kaum mæglich. 122
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Da das Leben weder eine von Gott gesetzte Aufgabe sein soll, wie in der klassischen Religion, noch auch schlechthin verneint wird, wie im Buddhismus, so bleibt als einziger Wert die verliehene Seligkeit. Sie ist bald sinnlicher, bald seelischer gefaût worden. Aber ob nun die Sehnsucht, die zu ihr hinzieht, ins Empfindsame und auch ins Østhetische steigt oder in den Wonnen einer | Verzçckung versinkt, ob sie sich einer Inbrunst des Sakramentsgenusses oder einer Wollust der Sçndigkeitsgrçbelei hingibt, ob sie zu Bildern ausschweift von eigener Paradiesesfreude oder von Hællenpein des anderen, immer bewegt sich alles um das Ich, um sein Haben und Genieûen. Der Glaube ist zu einem Begehren, zum Glçckesverlangen geworden. Mit diesem Egoismus der Glçckseligkeit kommt dann als seine Ergånzung die Angst, das Zagen, ob denn die Erlæsung auch gesichert ist, dieser Druck auf der Stimmung des Lebens, dem ein Ûberirdisches alles geben soll. Alles und nichts scheinen einander gegençberzustehen, und am Menschen selber ist nur die Ohnmacht, die ihre quålende Frage stellt. Die Verzweiflung ist oft der erste und eigentliche seelische Ausdruck schlechthinniger Abhångigkeit; hier hat Tertullians Wort recht: Timor fundamentum salutis »sich fçrchten, ist die Grundlage fçr das Heil«. Von hier aus hat auch der junge Luther nach dem alles bedeutenden Glauben gefaût, der ihm die Rettung wurde. Geschreckt und gepeinigt, daû ihm mit dem, was die Kirche verhieû, nur die Hoffnung gegeben schien und nicht mehr, klammerte er sich an ein Verlangen, in der ganzen Sicherheit des Glaubens zu leben. In seinem katholischen Glauben hatte er sich im Ungewissen gefunden, wie in einer Schwebe, im Hangen, im Bangen. Zu- und ineinander waren die beiden Bereiche gestellt, das der geforderten Werke und das der verkçndeten Gnade, das zu Bewåhrende und das Geschenkte. Das eine vermag nicht alles, und das andere gewåhrt nicht nur, und niemals durfte er wissen, daû das Heil ihm verbçrgt war. Nur wenn er ganz und bloû nach dem Ziele griff, aus der Verzweiflung heraus nach der Erlæsung, und nicht erst einen Weg dahin wollte, dann war er im Frieden des Heiles. So ist aus dem Fçrchten der Seele hervor Luther sein Glauben zu eigen geworden. Mit der alten biblischen Gottesfurcht, der verehrungsvollen Scheu vor dem Erhabenen hat dieses Bangen bloû das Wort gemein. Nur die Religion des sittlichen Wollens schafft die Ehrfurcht vor Gott, die die seelische Haltung des Menschen ist, der das Gebot vernimmt, das religiæse Bewuûtsein dessen ist, der sich geschaffen und doch Subjekt weiû, weil zu ihm der gebietende Gott spricht. In der romantischen Religion wohnt die Gottesangst, die za | gende Empfindung 123
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desjenigen, der nur Objekt sein mag. Wo alles von dem Gnadenschicksal abhångt, kann im Gemçte neben dem glåubigen Warten und Sehnen nur jenes quålende Bangen und Zittern leben. Das Schwanken zwischen beiden kennzeichnet jene egoistische Fræmmigkeit. Weniges ist dem Romantiker so eigentçmlich wie solches Auf- und Niedersteigen, solcher Wechsel von Hochgestimmtheit und Verstimmung; sie sind hier die eigentlichen Ichgefçhle. Sie sind mit ihrem Auf und Nieder wieder etwas ganz anderes als das zagende Empfinden, das den Abstand von dem Ideale erfåhrt, das Sorgen ob der Weite des Weges, welches den Menschen der klassischen Religion erfaût. Wie das Fliehen und das Suchen stehen sie einander gegençber. Das Messianische
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Der alte messianische Gedanke, in dem auch Jesus gelebt hatte, der Gedanke von den kommenden Tagen, von dem verheiûenen Reiche, findet denn auch im romantischen Erlæsungsglauben seinen deutlichen Gegensatz. Zuversicht auf den Sinn der Mçhen ist der eine, Verlangen nach der geschenkten Habe ist der andere. In Paulus hatten die beiden Ideen, die alttestamentliche und die romantische, miteinander gekåmpft; er lebte in dem Neuen seines Glaubens und war doch von seinem jçdischen Erbe noch innig erfçllt, und dieser innere Streit hatte wiederum den Zwiespalt in seine Gedankenwelt gebracht. Es ist der gleiche Widerspruch, wie ihn die Frage des Gesetzes in ihn hineingetragen hatte. Die, welche von ihm aus weitergingen, die Gnostiker, hatten auch hier nichts von dem mehr erfahren, was ihn gehemmt und ihn bestimmt hatte; sie haben die reine romantische Antwort geben kænnen, welche von der Spannung der »kommenden Zeit« nichts mehr enthielt. Ganz stille ist es aber auch danach nicht um diesen drångenden Zukunftsgedanken geworden. Nachdem einmal das, was vor Paulus lag und sein jçdischer Besitz gewesen war, die alte Bibel, in das heilige Schrifttum des neuen Glaubens mitaufgenommen war, konnte die messianische Erbschaft nicht vællig verschwinden. Immer wieder, oft plætzlich ist sie, besonders als die Lehre vom »ewigen Evangelium«, von dem der Apokalyptiker Johannes ge | sprochen hatte, hervorgetreten. Allein sie blieb zuletzt doch immer bloûe heroische Episode. Der kirchliche Geist in seinem ganzen Wesen widersprach ihr viel zu tief; er hat sie immer sehr bald zurçckweisen mçssen, er hat sie als die Stimme der Schwarmgeisterei abgetan. Zumal Luther, 124
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als der entschiedene Romantiker, hat sie schweigen heiûen; in der »Augsburgischen Konfession« ist sie als »jçdische Lehre« mitverurteilt. 29 Eine gewisse wirksame Geltung hat sie nur auf kalvinistisch-tåuferischem Boden, in diesem Abseits von der strengen Romantik zu gewinnen vermocht. Ûberall sonst in den Kirchen blieb jener reine Erlæsungsgedanke herrschend. Unter den geistigen Folgen des kirchlichen Sieges der Romantik ist es eine der bedeutungsvollsten oder, wenn man will, der verhångnisvollsten, daû die messianische Idee, von der das Christentum hergekommen war und die ihm die Benennung gegeben hatte, nunmehr in ihm zurçckgedrångt und geschichtlich aufgehoben worden ist. An die Stelle des Reiches Gottes auf Erden, dieses alten, biblischen Ideals, ist hier das Reich der Kirche getreten, diese romantische civitas Dei. Dem scheint die Tatsache der gewaltigen Missionskraft, die die Kirche entfaltet hat, zu widersprechen. Denn die Mission besagt doch, daû man um des Menschenbruders willen auszieht, um ihn zu bekehren und zu retten und ihm den Weg des Heiles zu weisen, damit einst alle eins in einem Reiche des Heiles seien ± ut omnes unum. Aber dieser Bekehrungswille kommt zunåchst, åhnlich wie alles messianische Hoffen, aus den starken alttestamentlichen Wurzeln hervor, die in der neuen, der christlichen Gemeinde blieben. Er hat hier, in der vom Judentum çberkommenen, fast selbstverståndlichen Art weitergewirkt, verstårkt durch das Bewuûtsein, eine neue Wahrheit zu verkçnden. Auch die Form seiner Predigt, besonders der an die Gebildeten, ist hier vorerst keine wesentlich andere gewesen als die der Rede der alten jçdischen Sendboten, welche den einen Gott, sein Gebot und sein Gericht verkçndet | hatten. Erst als in der Schicksalszeit der Kirche, vom zweiten zum dritten Jahrhundert, das Dogma und die Autoritåt sich durchgesetzt hatten, gewann das Besondere und Eigentçmliche der Kirche, das, was sie vom Judentum schied, in der Propaganda das hervortretende Recht. Es ist ja çberhaupt so gewesen, worauf nur hingedeutet sein mag, daû die werdende Kirche ihre wechselvolle Glaubensgeschichte vielfach darin gehabt hat, daû, bewuût oder unbewuût, um den Raum gestritten und gerungen wurde, den alttestamentliche Gedanken auch jetzt noch haben sollten. Nicht wenige der Gegensåtze, die hin- und her29.
1 XVII, 5 ed. Tschackert p. 14: »Damnant et alios, qui nunc spargunt judaicas opiniones, quod ante resurrectionem mortuorum pii regnum mundi occupaturi sint, ubique oppressis impiis«. Der deutsche Text ist: »Item, hie werden verworfen auch etliche jçdische Lehren, die sich jetzt auch eråugen, daû vor der Auferstehung der Toten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden.«
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wogten und schlieûlich ihre åuûere Entscheidung im nicåanischen Konzil fanden, waren in ihrem Tiefsten und Eigentlichen Kåmpfe nicht, wie man einst einmal gemeint hatte, fçr oder wider das Judenchristentum ± denn dieses hatte nur seine kurze Geschichte, kaum çber die Zerstærung des Tempels hinaus ±, wohl aber fçr und gegen Jçdische, das im Paulinismus von seinem alten Heimatserbe her lebte und fortwirken wollte. In den spåteren Jahrhunderten hat sich diese Auseinandersetzung nicht selten wiederholt. 30 Von der erbauten Kirche aus hat die Mission dann ihre weiteren Wege gesucht. Aber nicht nur ihre Predigt, sondern vor allem sie selbst, in ihrem ganzen Charakter, in ihrem Antrieb und in der Weise ihrer Erfolge wird jetzt eine ganz andere. Die Kirche stand nun da als ein machtvolles Reich dieser Welt, und sie begann, dem Drange und den Gesetzen ihrer Macht zu folgen. Wohl hat es in ihr zu keiner Zeit an den Månnern gefehlt, welche aus einer Tiefe der Liebe hervor bekehren wollten, aber hinter dem gebietenden Streben nach der Ausdehnung des Herrschaftsbereiches trat viel von diesem innigen Wunsche zurçck, Seelen zu retten. Die Gewalt des Schwertes und die Kunst der Politik haben æfter und eindringlicher geredet als das Herz und sein Wort. Eroberungskåmpfe wurden gefçhrt, und sie haben die groûen Triumphe feiern lassen. Es war die entscheidende Zeit der egoistischen, der nachdrçcklichen Mission; erst sie hat die Weltkirche geschaffen. Mitwirkend und mitgestaltend war allerdings das »katholische« Motiv, das bald deutliche bald unbewuûte Verlangen, den eigenen Glauben durch die Zustimmung oder die Unterwerfung anderer | beståtigt zu wissen, weithin den Grundsatz des »çberall und von allen« dargetan zu sehen. Dieser starke katholische Zug und das gottesfçrchtige Begehren, Menschen zum Lichte zu fçhren, gehen hier im Gemçte des Glåubigen leicht ineinander çber. Ihnen schwebt beiden das Bild von der einen Herde unter dem einen Hirten vor, und daraus wird nur zu bald die bezwingende Vorstellung des von Gott gewollten Weltreiches, des »Gottesstaates«, dem jeder zugehæren mçsse, der auf Erden Existenzrecht haben wolle. Coge intrare! So mçndet alles denn doch wieder in das Streben nach der kirchlichen Machterfçllung ein. Die Romantik kommt, wenn sie sich zur Welt hinwendet, am Ende immer bei dem Gedanken der Herrschaft und der Autoritåt an, welche çberall ihre Untertanen begehren. Auch die Mission wird so zur Forderung des allgemeinen Gehorsams; auch 30.
1 Vgl. S. 125 ff.
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hier kann der Begriff des Menschen durch den Begriff des Untertans verdrångt werden. Daû das fromme Verlangen, Menschen zu bekehren, durchaus von dem alttestamentlichen Gebiete her stammt, das tut die Geschichte vielfach dar; sie låût in dem Fortgange, in den Linien der weiteren Entwickelung die Herkunft klar erkennen. Sie zeigt es, wie die rein religiæse Mission sich dort fortgesetzt hat, wo das jçdische Erbe, wenn auch begrenzt, fortleben durfte. Sein Schicksal ist immer das ihre gewesen. Daher schwindet sie in der griechischen Kirche, die meist sehr wenig von jenem alttestamentlichen Besitze und am meisten von dem Selbstsinn des Erlæsungs- und Vergottungswunsches hat. Ganz anders wiederum im ræmischen Katholizismus. Er neigte immer dazu, der alten jçdischen Forderung vom Werte der menschlichen Aufgabe und des menschlichen Werkes zuzustimmen. Hier hat, trotz allem rein kirchlichen Streben, der innerliche, selbstlose Bekehrungswunsch nie ganz seinen Daseinsraum und auch seinen Martyriumsweg verloren. Und vielleicht noch freier ist er dann in den tåuferischen Sekten hervorgetreten, in diesen Kirchen, die dem Gesetzlichen, dem Alttestamentlichen den weiten Zutritt boten. In ihnen ist oft der Ruf gehært worden, um Gottes willen Seelen zu suchen und zu retten. Hingegen weiû wiederum das Luthertum aus Eigenem von der religiæsen Mission wenig oder nichts; sie ist ihm nur nachtråglich aufgepflanzt worden. Sein eigentçmlicher und ursprçnglicher | Eifer erschæpft sich im Innerkirchlichen, in der Sorge fçr die Autoritåt des Wortes, fçr die reine Lehre in Predigt und Unterricht. Das wird auch nicht durch den Pietismus widerlegt, der doch, aus innerem Drange heraus, seine Glaubensboten ausgesandt hat. Denn er gehært wohl zum protestantischen Gebiete, aber das Motiv der Mission mit ihrem Willen und ihrem Empfinden hat er nicht aus dem Luthertum erhalten, sondern ganz von den kalvinistisch-tåuferischen Kirchen her. So mannigfaltig alle diese Formen sind, in denen sich ein Bekehrungsdrang bewiesen hat, sie deuten çberall auf einen inneren Zusammenhang hin, der zwischen ihm und dem Fortleben des jçdischen Elementes besteht. Aus der romantischen Erlæsungsidee hat nur die Forderung der unbegrenzten kirchlichen Macht, der Mission des Zwanges hervorgehen kænnen. Øuûere Autoritåt, eingesetzte Macht und Untertanenschaft stehen wieder am Ende mit ihrer schillernden Poesie und ihrer trçben Prosa. So schlieût sich der Kreis. Daû das Empfinden alles bedeuten soll, darin liegt das Eigentçmliche, das Wesentliche der Romantik. Es kann ihre Kraft sein, daû sie sich versenkt, daû sie aus starken 127
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Gefçhlen schæpft, und es ist ihre Zartheit, daû sie das Schwebende, Webende erfåhrt. Dem Menschen in ihr kann es zuteil werden, wie Schleiermacher dem heimgegangenen Novalis das Wort sprach, daû ihm »alles Kunst wird, was sein Geist berçhrte, seine ganze Weltbetrachtung unmittelbar zu einem groûen Gedicht«. Sie ist der oft so notwendige Widerspruch und Gegensatz gegen eine alles abfertigende platte Verståndigkeit, gegen eine alles erkennende, alles beantwortende Aufklårung, gegen einen alles abtuenden, alles erledigenden Aktivismus. Ihre Gefahr, der sie nicht entgeht, ist, daû dieses alles besagende Gefçhl sich schlieûlich entweder im Wesenlosen oder im Surrogat oder in der Erstarrung befindet. Und vorher ist sie auf die Bahn immer gefçhrt worden, daû sie ins Sentimentalisieren bald und bald in die Phantastik gelangte, daû sie aller Wirklichkeit, zumal der des Gebotes auswich, zur Passivitåt wurde gegençber der sittlichen Aufgabe des Tages, die Einfçhlung sollte vieles ersetzen und hat die Freiheit gegeben, welche frei war von der Entscheidung, unabhångig war von jeder inneren Verpflichtung. All | das Østhetische und all die Ironie, die ihr den verlockenden Schein schenkten, haben einigen Gehobenen die Ûberheblichkeit gesichert, in der die Religion zur Religion der Schængeister oder zu der der Skeptiker wurde. Und fçr die vielen, die das nicht waren oder nicht sein sollten, war die starke und strenge Autoritåt, die Zwangssatzung aufgerichtet worden, die Grenzmauer zugleich fçr das Anarchische, in dem jene anderen sich ergingen. Alles wird von dieser Entwicklung hier erfaût, beieinander und nacheinander, der Glaube und das Symbol, die Geschichte und die Kultur, die Wahrheit und die Gerechtigkeit, das Gebot und das Ideal. Es ist nicht so, daû ein ahnendes Wissen um das Irrationale fçr die Romantik kennzeichnend wåre. Das ist, im Gegenteil, auch der Klassik, vor allem der klassischen Religion eigentçmlich, in der ja etwas ganz anderes ist als etwa Rationalismus oder »Aufklårung«. Aber fçr die klassische Religion ist das Irrationale nicht ein Ozean, in welchem das des Gefçhles volle Ich ertrinkt. Fçr sie offenbart sich aus dem Irrationalen hervor, dem Ich zurufend, das Seiende, dieses Wirkliche und Gebietende, das, worin alles, was ist und sein soll, verwurzelt ist, das, worin Geschæpf und Schæpfer sich treffen. In ihr ist das Irrationale die tiefe Wahrheit des Lebens, der tiefe Grund darum auch des Gesetzes, die tiefe Bçrgschaft der Gewiûheit, der »Arm der Ewigkeit«, der alles umfaût. In ihr bedeutet es das Heilige, diesen Bund zwischen dem Ewigen und dem Menschen. Auch die Sehnsucht, die çber alle bloûe Vernunft ist, lebt wohl in 128
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der Romantik und ihrer Religion; einer der Ihren, Augustin, hat das ergreifende Wort gesprochen von dem Herzen, das unruhig ist, bis daû es in Gott ruht. Aber der bestimmende Unterschied ist, daû hier die Sehnsucht zuletzt immer zum Ich zurçckkehrt und in der Stimmung bleibt. In der klassischen Religion drångt sie immer wieder zu dem Ziele hin, das alle einen soll, zieht sie dem Gebote von Gott nach, und dies beides meint ja das gleiche; denn alle Zukunft ist hier Zukunft des Gebotes, Zukunft seiner Verwirklichung und Erfçllung. Hier scheiden sich vielleicht am deutlichsten romantische und klassische Religion.
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In einem doppelten Sinne kann von einer Geschichte der jçdischen Gedanken gesprochen werden. Diese Gedanken haben im Judentum selbst ihr Leben und ihre Entwicklung und darin ihre Zeiten der Fruchtbarkeit wie ihre Tage der Trockenheit und Dçrre. Und in einer ganz åhnlichen Weise haben sie auch auûerhalb des Bereichs des Judentums, in der groûen Welt der Ideen ihr Dasein. Hier auch, und in einem nicht geringeren Maûe, wirken sie als eine lebendige Kraft, wie ein Sauerteig, hier auch schaffen und bestimmen sie wechselnde Epochen. Insofern gibt es sowohl eine jçdische als auch eine allgemeine Geschichte des Judentums. Wir kænnen diese Tatsache, um ein Beispiel zu geben, das durch die Gegenwart nahegebracht wird, in der Geschichte der sozialen Bewegung erkennen. Diese Bewegung hat einen zwiefachen Ursprung. Auf der einen Seite kommt sie von Plato her, von seiner Idee des mathematischen Staates. Der Staat mit seinem vollkommenen Gesetz, an dessen unfehlbare Macht und Wirkung Plato fest glaubt, ist dazu berufen, den rechten Menschen zu gestalten und ihn zu seiner Tugend und seinem Glçcke zu fçhren. Der Staat allein vermag dies, und daher muû er der absolute Staat sein, der Staat, welcher alles bestimmt und alles entscheidet, der Staat der Diktatur. Dieses Recht der unumschrånkten Gewalt muû ihm gegeben werden; ihm gegençber darf dem Individuellen keinerlei Recht aus Eigenem gegeben sein, keinerlei Recht eigener Entscheidung und eigenen Begehrens. Plato ist der Stifter fçr jegliches System staatlicher Allmacht, fçr jegliche Hierarchie geworden. Alle weltliche, alle geistliche wie auch alle begriffliche Diktatur, bis zu dem Bolschewismus unserer Tage hin, leitet sich von Platos Staats | philosophie und Gesellschaftslehre her, an ihnen hat sie sich immer genåhrt. 1 1.
1 Ed. Zeller, Vortråge und Abhandlungen I, 62 ff. Vgl. Hatch, The influence of Greek ideas and usages upon the Christian Church.
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Eine andere, hiervon vællig verschiedene Richtung, welche mit dieser ersteren bloû den Namen eines Sozialismus gemein hat, besitzt ihren Ursprung in der Bibel, im Judentum. Sie geht nicht vom Staate aus, sondern vom Menschen, von der Idee des Menschenbruders, des Nåchsten. Das Judentum, im Gegensatz zu Plato, der in seiner Haltung dem Menschen gegençber pessimistisch ist, glaubt zwar nicht an den Staat, aber es glaubt, optimistisch, an den Menschen. Fçr das Judentum ist der Mensch die stårkste Realitåt auf Erden, und der Staat und sein Gesetz werden gut erst durch das Tun des guten Menschen. Wenn Menschen dazu erzogen werden, Gerechtigkeit und Liebe gegeneinander zu çben, wenn jeder von ihnen den Menschen, der zu ihm hingestellt ist, als seinen Bruder begreift, als einen, der zu ihm gehært und mit ihm verbunden ist, wenn ein jeder das Recht anerkennt, das sein Mitmensch besitzt, dann wird durch Menschen das wahre, das soziale Gesetz verwirklicht, dann wird durch sie der wahre, der soziale Staat geschaffen. »Dein Bruder soll mit dir leben«, in diesem Grundsatz ist hier die soziale Idee befaût. 2 In den sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts kænnen diese beiden Richtungen, die platonische und die jçdische, verfolgt werden, und es ist interessant, daû z. B. der von Juden stammende Karl Marx in seinem Sozialismus auf Plato zurçckgeht, wåhrend Christen wie Saint-Simon oder Kingsley hier von dem Boden des jçdischen Denkens herkommen. So lebt jçdisches Dasein im allgemeinen Sozialismus. Aber ihre eigentliche Geschichte auûerhalb des Judentums haben die jçdischen Ideen in der Kirche. Der Mann, der die christliche Kirche schuf, Paulus hat auf das Judentum und seine Bibel mit widerstreitenden Empfindungen geblickt. Auf der einen Seite sah er die Zeit des Judentums und infolgedessen und gleicherweise die Zeit der Bibel als beendet an. Es war damals im jçdischen Volke die Ansicht verbreitet, daû es drei Epochen der Weltgeschichte gåbe: die des Chaos, des Tohu wabohu einst, sodann die | der Torah, die mit der Offenbarung am Sinai angehoben habe, und schlieûlich die erwartete des Messias. 3 Wenn einmal diese letzte Epoche anfing, so ergab sich damit, daû nun notwendig die des Judentums und seiner Bibel zum Abschluû gekommen wåre. Im Evangelium steht dem entsprechend das Wort, daû »bis alles erfçllt sei«, nicht ein Jota oder Tçpfelchen vom Gesetze vergehen solle. 4 Aber eben nur bis dahin; 2. 3. 4.
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L. Baeck, Wesen des Judentums 6, S. 231 ff., Wege im Judentum S. 236 ff. Ssanhedrin 97a, cf. Jer. Meg. 70d. Matth. 5, 18. Vgl. L. Baeck, Das Evangelium S. 92 f.
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war alles erfçllt, war der Messias gekommen, dann war damit die Zeit des Gesetzes zu ihrem Ende gelangt. 5 Das Gesetz ist so fçr Paulus ± und fçr ihn bezeichnet das Wort »Gesetz«, ganz wie håufig im talmudischen Schrifttum das Wort »Torah«, die ganze Bibel ± bloû der Lehrer der Unmçndigen, »der Schulmeister zu Christus hin«. 6 Mit dem Christus muûte die Zeit derer begonnen haben, die mçndig geworden sind. War der Erlæser erschienen, dann hatten also Bibel und Judentum keine weitere Bedeutung oder wenigstens keinen anderen Sinn als den eines beendeten Abschnittes, einer vergangenen Zeit. Sollten sie aber noch in Geltung stehen, dann konnte eben der Messias noch nicht in die Welt getreten sein. Hierdurch wird es begreiflich, weshalb Paulus gegen das Gesetz mit aller Entschiedenheit seines Glaubens kåmpft, so als mçûte er um Sein und Nichtsein seiner religiæsen Existenz ringen. Und, um es zu wiederholen, fçr ihn meint das Gesetz die ganze Bibel, also alle Gebote in der Bibel und nicht etwa nur das sogenannte Zeremonialgesetz. Fçr ihn muûte die Frage des Gesetzes zu der werden, um die sich alles bewegte, zu dem Problem, von dem sein religiæser Bestand, die Gewiûheit seines Glaubens abhing. Wenn die Erlæsung geschehen war, wenn sie gegenwårtig war durch Glaube und Taufe, dann muûte das Gesetz aufgehært haben; wenn das Gesetz noch in Kraft blieb, dann war bewiesen, daû die erhoffte Zeit, die Zeit der Erfçllung, noch nicht da war. Entweder Gesetz oder Erlæsung! Entweder war jenes zum Ende seiner Zeit gelangt, oder diese war noch nicht vollbracht. Behauptete einer, daû das Gesetz noch bindend wåre, so stand er deshalb im Unglauben, denn er leugnete die Erlæsung. Daher muûte fçr Paulus das Judentum aufgehært haben, Religion zu sein, gegenwårtige | oder gar zukçnftige, und die Bibel muûte aufhæren, Bibel, das heiût, das Buch der Gegenwart und der Zukunft zu sein. 7 Anderseits beruhte doch aber alles, was Paulus lehrte und verkçndete, alles, was der Beweis fçr seinen Glauben war, auf eben dieser Bibel. Sie war fçr ihn die gættliche Offenbarung aus alter Zeit, in ihr war die Verheiûung des Christus, sie ward daher auch in seinen Augen »heilig« und »gerecht und gut«. 8 Sie gewåhrte alle seine Argumente. Diesem selben Buche, dessen weitere verpflichtende Kraft er aufs ernsteste bestritt, entnahm er alles, was seine Predigt unterbau5. 6. 7. 8.
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Nidda 61b; Pes. 50a; Sabb. 151b; Jalkut zu Jes 26, 2. Gal 3, 24. Kol 2, 14 f.; Eph. 2, 15. Ræmer 7, 12 u. 14.
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te, alles, was er als die Bedeutung des Todes des Messias hinstellte. Nur mit der Hilfe dieses Buches konnte er den Grundsatz seiner Lehre dartun. Fçr ihn blieb es der Schluûsatz, welcher alles entschied: »Es steht geschrieben« ± geschrieben in diesem Buche. 9 Seine ganze Denkweise lebte von der Bibel. Es war hier der selbige Widerspruch, der in seinem ganzen Wesen, in seiner eigentçmlichen Persænlichkeit wohnte. Auch seine Persænlichkeit weist diesen Widerspruch auf, diese Gegensåtzlichkeit, daû er auf der einen Seite seine Freiheit und Unabhångigkeit vom Judentum verkçndet und auf der andern Seite festhålt am Forschen in diesem Judentum und an der jçdischen Denkweise und der jçdischen Lehrart. Er hat so tief im Judentum gelebt, daû er seelisch und geistig niemals von ihm freigekommen ist. Ob er es wollte oder nicht, er hat sich immer wieder auf den jçdischen Pfaden des Suchens zurçckgefunden. Der Jude, der er in der Tiefe seines Wesens durch sein ganzes Leben blieb, hat in seiner Seele stets mit dem Menschen des neuen Glaubens, der er geworden ist, gekåmpft. Der Zwiespalt, der sich in seiner Predigt wie in seiner Persænlichkeit findet, erklårt sich hieraus. Unter denen, welche nach Paulus kamen und die Jçnger seiner Lehre wurden, gab es viele, die, darin von ihm unterschieden, die Mæglichkeit reiner Konsequenz, einer nicht durch Frçheres begrenzten Gegnerschaft gegen das Judentum besaûen. Sie hatten keinerlei Verbindung mit dem Judentum, weder im Blute noch in der Seele, und sie konnten es als ihre Aufgabe empfinden, die | neue Religion von allem Jçdischen zu befreien und so den reinen Paulinismus hinzustellen. Es gab verschiedene Wege, auf denen das geschehen konnte. Eine erste Methode ist durch den Verfasser der Barnabasepistel angewandt worden, der ungefåhr 100 n. Chr. lebte und vermutlich aus Øgypten stammte. 10 Er wollte das Alte Testament, als die Grundlage der Theologie des Paulus, fçr das Christentum retten, indem er es vællig dem Judentum absprach und es ganz und gar fçr das Christentum in Anspruch nahm. Das Mittel, um dies durchzufçhren, bot ihm die allegorische Erklårung. Er wendet sie stetig auf das ganze Alte Testament an. Mit ihrer Hilfe wird alles, was ihm am Alten Testament anstæûig war, das heiût alles, was durchaus jçdisch ist, entfernt und damit alle gegenwårtige, tatsåchliche Beziehung zum Ju9.
3 Eine nåmliche »Dialektik« lebt in der dialektischen Theologie unserer Tage, die ja auch psychologisch von Paulus herkommt. 10.
1 G. Hoennicke, Das Judenchristentum S. 284 ff.; M. Gçdemann, Religionsgeschichtliche Studien S. 99 ff.; Geffcken, Christliche Apokryphen S. 52 f.
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dentum beseitigt. Jedes Wort im Alten Testament wird zu einer christlichen Bedeutung hingefçhrt, mit dem Ergebnis, daû das Buch in seinem wahren Sinn nur noch dem Christentum zugehæren kann, ganz so, wie ja çberhaupt die Kirche das wahre Israel, der wahre Same Abrahams sein sollte. 11 Ein buchståbliches und wærtliches Verståndnis des Alten Testaments ist in seinen Augen ein verdammenswerter jçdischer Irrtum, das Werk des Satans. So wurde das ganze Alte Testament ein ausschlieûlich Paulinisches Buch; das allein, was rein christlich ist, ist biblisch. Im Ergebnis hatte diese Methode noch den weiteren Vorteil, daû das Christentum seine eigene frçhe Geschichte erhielt und seine Anfånge bis zu den Tagen der Schæpfung der Welt zurçckgefçhrt waren. Das jçdische Volk samt seiner Historie war demgegençber als ein Menschengebilde hingestellt, das durch den Teufel irregefçhrt war, das in Wahrheit niemals einen Bund mit Gott, niemals irgendeine Erkenntnis, eine gættliche Offenbarung besessen hatte. Allein diese Methode hatte ebenso sehr wie ihre Vorteile doch auch ihre Gefahren. War das Recht solcher Deutung einmal zugestanden, dann war damit zugleich jedwede Mæglichkeit der Deutung gewåhrt. Sollte das Buch richtig erst in dieser einen allegorischen Form verstanden sein, dann konnte ebenso gut der Anspruch | erhoben werden, daû es in irgendeiner anderen allegorischen Form, auch nach dem jçdischen Sinne hin, aufzufassen wåre. Freiheit von diesem Buche konnte wahrhaft gesichert sein, nur wenn es vællig, ohne jede Beschrånkung verworfen wurde. Diese Folgerung ist durch den Gnostizismus und vornehmlich durch Marcion gezogen worden. 12 Sie waren wirklich und durchaus die Eindeutigen und Konsequenten unter den Jçngern des Paulus. Sie haben das Judentum und seine Bibel nunmehr ganz fortgewiesen. Marcion geht so weit, daû er um der unbedingten Entschiedenheit dieser Verdammung willen auch alles in den Paulinischen Briefen, was ihm dort jçdisch zu sein scheint, alles, woraus sich dort eine Verbindung von Jesus oder Paulus mit dem Judentum ergibt, als eine Fålschung, als ein jçdisches Einschiebsel erklårt und beseitigt. Fçr ihn ist nur das wahr und echt, was uneingeschrånkt gegen das Judentum feindlich ist. Um den reinen Paulinismus festzusetzen, revidiert und verbessert er den Text der Evangelien und der Episteln. Und um gegen 11.
2 Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums S. 41 ff. u. 289 f. 12.
1 Bousset, Hauptprobleme der Gnosis S. 109 ff.; Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I 4 S. 243 ff.; De Faye, Introduction l'tude du gnosticisme; Harnack, Marcion.
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die Mæglichkeit zu schçtzen, daû irgendein Jçdisches etwa durch allegorische Auffassung den Weg in seine Religion fånde, verlangt er die wærtlichste Erklårung des Alten Testaments ± ganz so, wie dies ein Mann getan hat, der sein Zeitgenosse war und nach einem alten Bericht aus derselben Stadt wie er, aus Sinope, stammte, der sein schårfster Widerpart war, der Proselyt Akylas, der Schçler des R. Akiwa, der griechische Ûbersetzer der Bibel. 13 In der Verwerfung des Judentums besteht die wesentliche Grundlage der Theologie dieser Richtung. Um das Judentum schon ursprçnglich und jenseitig von ihrem Christentum geschieden zu wissen, um ein unzweideutiges Christentum und einen Gott, der ausschlieûlich ihm zugehært, zu haben, verkçndet sie einen åuûersten Dualismus. Es sollte hier zwischen dem einen und dem anderen keinerlei Verknçpfungen und Verwebungen geben, sondern nur die vællige Trennung. Man lehrte den zweifachen Gott, den bæsen, dunklen, grausamen, der mit der Welt verbunden ist, den Gott des Judentums, und den guten, reinen, geistigen, liebe | vollen, der çber alles erhaben und oberhalb aller Welt ist, den Gott des Christentums, der sich zum ersten Mal in Christus offenbart und vorher niemals einem andern kundgetan hat. Wenn das Evangelium von den beiden Båumen spricht, dem schlechten Baume, der nur schlechte Frçchte trågt, und dem guten, der nur gute Frçchte trågt, 14 so soll das nichts anderes meinen als diese zwei entgegengesetzten Gottheiten, den niederen Gott des Alten Testaments, der ausschlieûlich das Bæse schafft, der keinen besseren Wert hat als die Welt selber, deren Schæpfer und Lenker er ist, der zugleich mit seinem Himmel und seiner Erde schwinden wird, und den hehren christlichen Gott, von dem nur Gutes kommt, der ohne jedwede Beziehung zu der Welt bleibt. Es kænne keinen tieferen Widerspruch geben als den, der zwischen diesen beiden da ist. Fçr Paulus war der Gott des Alten Testaments auch der Gott des Christus und sein eigener Gott gewesen. Hier, in dieser Lehre der Gnostiker, stehen der eine und der andere in unçberbrçckbarem Gegensatz zueinander. Der Gott der Juden und mit ihm sein Buch stellten den eigentlichen Widersacher dar; sie seien das bæse Prinzip, und alle Erlæsung bezeichne Erlæsung von dieser Welt des Judentums. Und aus diesem Grunde seien die Juden als solche die eigentlichen Feinde des Christus und des wahren Gottes. Sie sind hier die einzigen, die allesamt, samt ihren
13.
2 Schçrer, Gesch. des jçdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi III 3 S. 313 f. 14.
1 Matth. 12, 33.
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Stammvåtern, ihren Propheten und ihren Lehrern, nie errettet werden sollen. Aber aus solchem Glauben muûte eine unabwendbare Schwierigkeit hervorkommen. Wenn das Alte Testament aufgegeben und alles, was alttestamentlichen Charakter hatte, aus den Evangelien und den Episteln entfernt war, dann blieb nichts als die Lehre von der Erlæsung und den Sakramenten çbrig; alles, was ethisch war, alles, was ein Gebot und eine Verpflichtung darstellte, war damit zugleich fortgeråumt. Es gab jetzt nur die eine Wahl: entweder ein vælliger Libertinismus oder eine vollendete Askese. 15 Es hat so sich in der Tat sehr bald dargetan. Zuerst war es eine praktische Verleugnung aller Gebote, die nun hervortrat. Der Grundsatz wurde hier und dort laut, daû dem Erlæsten, dem Manne des reinen Paulinismus »alles erlaubt ist«; 16 | Man war çberzeugt, pneumatisch, der freie Mensch des Geistes, zu sein, und als solcher glaubte mancher, jenseits von Gut und Bæse zu bleiben, erhaben çber Sittlichkeit und Keuschheit, frei, an kein Gesetz, an kein Gebot gebunden. Wer so çber das Gesetz erhoben wåre, dem wåre anheimgegeben, nicht nur Gott zu erkennen, sondern in gleicher Weise die »Tiefen des Satans«. 17 Fçr den Menschen des Geistes wåre ja alles, was sein Kærper tåte, unwirklich. 18 War dies die erste Methode, vom Gesetze frei zu werden, so zeigte dann Marcion die zweite auf. Fçr ihn war die gesamte irdische Existenz etwas, was zugleich mit dem Gesetze zu beseitigen ist. Das kærperliche Dasein war fçr ihn »caro stercoribus infersa«. 19 Es gab so nur eine Art von Fræmmigkeit auf Erden, die Askese und schlieûlich die Selbstvernichtung. Er untersagte jede fleischliche Freude und verlangte strengstes Fasten; er verbot jeden geschlechtlichen Verkehr auch in der Ehe. Zu der Feierlichkeit der Taufe und des Abendmahls lieû er nur die zu, die bereit waren, das Gelçbde des Zælibats abzulegen oder, falls sie verheiratet waren, die vællige geschlechtliche Trennung zu geloben. Nach seinem Urteil war Ehe gleichbedeutend mit Tod; wahres Leben ist die Vernichtung von allem Kærperlichen. Der Kampf gegen das Kærperliche war ihm der Kampf gegen den jçdischen Schæpfergott, der Kampf »ad destruenda 15.
2 Vgl. Baur, Das Christentum u. die christl. Kirche der ersten drei Jahrh. I 2 S. 487 ff. 16.
3 I Kor 6, 12. 17.
1 Apokal. 2, 24. 18.
2 Koehler, Gnosis S. 28. 19.
3 Tertullian, Adversus Marcionem I 29.
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et contemnenda et abominanda opera creatoris«. 20 Wer sein Kærperliches besiegt hat, der hat çber den Gott der Juden einen Sieg davongetragen. Das letzte Ziel, fçr das die Religion besteht, ist darum, das Geschlecht der Menschen auf Erden zum Aussterben zu bringen; wird das einmal vollendet sein, dann ist der Triumph çber den jçdischen Gott, den bæsen Schæpfergott errungen. Das war die letzte Konsequenz dessen, daû das Christentum vom Judentum gereinigt sein sollte. Es ist selbstverståndlich, daû fçr ein Christentum, das derart sich vom Judentum frei machen wollte, alles Leben in dieser Welt und alle Verbindung mit der Kultur unmæglich war. Wenn die Kirche hier ihren Bereich zu haben wçnschte, dann muûte sie daher fçr dieses Feld den Angriff gegen den Gnostizismus fçhren. Und dieser Kampf um ihr Dasein wurde fçr die Kirche, ob sie es | wollte oder nicht, ein Kampf um den Platz des Alten Testaments im Christentum. Zu den ursprçnglichen geschichtlichen Grçnden, derentwegen die Kirche am Alten Testament festhielt, trat nun dieser andere bestimmende hinzu. In ihrem Streite gegen den Gnostizismus und fçr das Alte Testament hat die katholische Kirche sich gestaltet und gefestigt. Sie hat sich schlieûlich durchgesetzt, indem sie ihre Bibel, die Einheit des Alten und des Neuen Testaments und damit die Einheit des jçdischen und des christlichen Gottes feststellte. 21 Es war das auch die Zeit, in der die Kirche zu dem Staat in Beziehung zu treten begann, vorerst, um neben und in ihm zu leben, und alsdann, um çber ihm, als ein Gebieter, zu stehen. Durch ein Zwiefaches war die Kirche imstande, dahin zu gelangen: zunåchst durch ihre Kanonisierung des Alten Testaments und sodann, in Verbindung hiermit, durch ihre Annahme des stoischen Begriffs des Naturrechts. Diese beiden, Naturrecht und alttestamentliches Gesetz, hat die katholische Kirche in eins gesetzt, ein Vorgang, der an sich wichtig ist und zugleich fçr die Geschichte der Kirche bestimmend wurde. Das ganze Mittelalter ist durch diese Gleichstellung der Zehngebote und des Naturrechts, durch diese Einheit von natçrlichem und gættlichem Gesetz sehr wesentlich gekennzeichnet. 22 Das Ergebnis dessen ist es gewesen, daû die Kirche nun bald in der Lage war, zu dem reinen Individualismus ihrer Lehre von dem Heil und der Erlæsung die sozialen Zçge hin zuzufçgen, eine Staats- und Ge20.
4 Tertullian, Adv. Marcionem I 14. 21.
1 Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I 4, 550 ff. 22.
2 Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen S. 52 f., 156 ff., 171 ff.
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sellschaftslehre zu entwickeln. Dadurch erst ist ein Zusammensein von Kirche und Staat, eine kirchliche Anerkennung und Nutzbarmachung des Staates mæglich geworden. 23 Ein weiteres Ergebnis dieser Vereinigung von Altem und Neuem Testament, dieses Zugeståndnisses an das Judentum, war es, daû der Katholizismus jetzt auch imstande war, sein System der Ethik zu gewinnen. Der Gnostizismus, und in ihm besonders der Glaube des Marcion, war, wie bereits gezeigt, eine Religion ganz ohne Ethik gewesen, und es war so in der Tat der logische christ | liche Standpunkt. Denn im Prinzip war fçr die Ethik im System des Paulus kein Platz: die Ethik hatte hier hingegeben werden mçssen, weil sie zu dem Gesetz gehærte, das durch die neue Glaubensgerechtigkeit aufgehoben war; alles geschah hier durch das Wunder der Taufe, durch das Mysterium, alles wurde durch den Glauben allein erfçllt, und verglichen damit konnte, was immer der Mensch im Guten leistete, keine wesentliche Bedeutung haben. Der Glaube bildet hier einen Gegensatz zur Ethik; jede Schåtzung des Handelns, selbst des moralischsten, jede Schåtzung der zehn Gebote so auch, fçhrte wieder zum Gesetz zurçck, das durch den Christus çberholt worden ist. Man hatte nur die Wahl: entweder Glaube oder Ethik, entweder der Heiland oder das Gesetz. Dies ist die grundlegende Alternative, vor die Paulus den, der glauben will, stellte. Was ihn selbst angeht, so war auch hier sein Jçdisches dafçr zu stark, er hatte seine Ethik, und sie war, so wie çberhaupt seine Haltung gegençber dem Alten Testament, das Ergebnis seiner tief innerlichen Inkonsequenz, daû er mit seinen Glaubensgedanken zwar aus dem Judentum hinausgegangen war, daû er mit seinem Menschlichen aber, mit seinen sittlichen Empfindungen, mit seinem Sinn fçr das Gebot nach wie vor der Jude blieb, im Judentum lebte. Auch in dieser Hinsicht stand er, in dem der Jude stårker war als die Lehre, anders da als das Geschlecht seiner Jçnger, die vom Heidentum herkamen. Sie hatten keinerlei Bindung an das Judentum. Der Brief des Barnabas konnte daher den Satz verkçndigen, die alten Tafeln des Moses seien in Stçcke gebrochen. 24 Unter den Nikolaiten in Ephesus und Pergamon und unter den Bileamiten scheint der Glaube, daû sie schon erlæst seien, vielfach eine Zçgellosigkeit, jene schon erwåhnte Freiheitssucht, bewirkt zu haben; 25 23.
3 Vgl. Harnack, Kirche und Staat bis zur Grçndung der Staatskirche, in Kultur der Gegenwart I, Abt. IV, S. 132. 24.
1 Barnabasbrief: IV 8. 25.
2 Apokal, 2, 6 u. 14 f.; vgl. I Kor 6, 12 f. u. 8, 7ff., I Petr 2, 16; Clemens, Stromat, II, 20 u. III, 5.
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unter den Kainiten galten die biblischen Ûbeltåter als Beispiele des Menschen, der erlæst worden ist. 26 Das Zeremonielle und das Ethische waren durch Paulus auf denselben Platz gestellt worden. Beide waren das Gesetz; wer so çber das erstere sich hinausgefçhrt meinte, konnte sich çber das andere auch erhaben glauben. Um dieser Richtung entgegentreten zu kænnen, bedurfte die Kir |che des Alten Testaments und seines Sittengesetzes. Sie hat dementsprechend das Prinzip vom Glauben und den Werken aufgestellt und damit sowohl dem Alten wie dem Neuen Testament sein Recht zuerkannt. Wie dringend die Notwendigkeit des Kompromisses gewesen sein muûte, wird z. B. darin ersichtlich, daû der Brief des Jakobus in das Neue Testament aufgenommen und an die Spitze der katholischen Briefe gestellt worden ist, diese Epistel, die nichts anderes ist als eine unnachgiebige Streitschrift gegen Paulus, die in dem Widerspruch zu dessen Satz, daû der Mensch durch den Glauben ohne die Werke des Gesetzes gerechtfertigt werde, ausdrçcklich erklårt, daû der Mensch gerechtfertigt wird aus den Werken und nicht aus dem Glauben allein. 27 Die groûe katholische Lehre wurde auf dem Fundament dieses geschichtlichen Kompromisses mit dem Jçdischen entwickelt. Es war ein Kompromiû, und der jçdische Bestandteil hat darin begreiflicherweise viel von seinem Eigentum verloren. Der eine Gott, den die Propheten gepredigt hatten, wurde zu der trinitarischen Auffassung hin gedeutet, die die Kirchenlehrer durchgebildet hatten. Der Sinn des Alten Testaments wurde christologisch dargestellt. Das biblische Gesetz wurde teils mit dem Naturrecht in eins gesetzt und demgemåû auf den Platz von dem gewiesen, was rein natçrlich ist, und so von dem unterschieden, was innerlich religiæs ist, teils wurde seine Ausçbung neben den kultischen Dienst gefçhrt, in eine Linie also mit den zeremoniellen Handlungen der Kirche, so daû das eine wie das andere als gutes Werk betrachtet wurde, beide den gleichen Namen und den gleichen Wert erhielten. Aber ganz ebenso hat der Paulinismus mit seinem Besonderen zu diesem Kompromiû beitragen mçssen, sein Prinzip vom Glauben allein hat hier manches eingebçût, hat Einschrånkung und Begrenzung erfahren. Aber begreiflicherweise trug dieser Ausgleich auf die Dauer den Widerstreit in sich. Zwiespåltigkeiten muûten sich immer wieder in der Kirche regen, indem sich bald der reine Paulinismus die græûere Geltung zu sichern, bald der jçdische Bestandteil einen weiteren 26.
3 Epiphanius, haer. 39. 27.
1 Jak 2, 14-26.
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Raum zu verschaffen suchte. Hierdurch ist von nun an die innere Entwicklung der Kirche, das geistige Ringen in ihr bestimmt. | Eines allerdings blieb feststehend: die kirchliche Lehre von der Dreieinigkeit; in bezug auf sie gab es kaum einen Widerstreit. Sie war der ruhende Pol, auch wenn der sogenannte Tritheismus, der die drei Personen der Gottheit voneinander trennen wollte, 28 sich noch långere Zeit neben dem offiziellen kirchlichen Begriffe behauptete. Aber anders war es in dem Satze von dem Glauben und den Werken; hier setzten sehr bald die Erlåuterungen und Gegenerlåuterungen ein, an diesem Problem schieden sich die Lehrer und die Bestrebungen in der Kirche, so sehr, daû man sagen kænnte, daû die Geschichte des Dogmas hier jetzt in Wirklichkeit eine Geschichte dieses jçdischen Gedankens wird. Die Kirche erlebt ihre geistigen Zeiten, ihre inneren Wandlungen in dem Wechsel davon, wie bald das aktive, ethisch-psychologische Element des Judentums mit seiner Betonung des Persænlichen, bald das passive, magisch-sakramentale Glaubenselement des Paulinismus mit seiner Auflæsung des Individuellen in ein Metaphysisches sich mehr oder stårker in den Vordergrund rçckt. Es ist die geschichtliche Leistung, die das Papsttum vollbracht hat, die Aufgabe, die es wieder und wieder mit groûer diplomatischer Kunst und vor allem mit groûer geistiger Kraft, durch alle Gegensåtzlichkeiten und Kåmpfe hindurch, vollbracht hat, daû es jenen Kompromiû aufrechtzuerhalten vermochte. Daû es sich um einen Kompromiû handelte, war sehr bald vor den Blick getreten, da sowohl der Grundsatz von den Werken wie der von dem Glauben schon frçh seinen Vorkåmpfer in einer geprågten, starken Persænlichkeit gefunden hatte, der eine in Pelagius, der andere in Augustinus. Nach der Auffassung des Pelagius hat der Begriff der Gnade durchaus einen ethischen Charakter, und aus diesem Grunde stellt er auch das Gesetz in ihr Gebiet hinein, wie er çberhaupt keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament annimmt. Er lehrt so auch den freien Willen des Menschen, vor den Gott das Gute und das Bæse gestellt hat; er lehrt, daû jeder Mensch, auch der Nicht-Christ, das Gute tun kann, und daû es daher fçr den auch eine Erlæsung gibt, der nicht getauft ist ± in dem allem dem Wege des Judentums folgend. 29 Mit | derselben Bestimmtheit, mit der Pelagius diesen Satz vom liberum abitrium und von der possibili28.
1 Harnack, Lehrb. d. Dogmengeschichte II 4, 300 ff. 29.
2 Baur, Geschichte d. christl. Kirche II 2, 132 ff. u. 143 ff.; Bruckner, Quellen zur Gesch. des pelagian. Streites.
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tas boni et mali vertritt, verwirft ihn Augustin. Er betont mit aller Entschiedenheit, daû seit Adams Fall der freie Wille aufgehært habe, daû der Mensch seitdem von Natur bæse sei, unter dem Banne der Ursçnde stehe. Fçr Augustin hat die Gnade eine durchaus çbernatçrliche Bedeutung, und sie gewåhrt von sich aus alles, der Mensch trågt nichts bei. Sie wåhlt einige wenige ohne jeden eigentlichen Grund aus, und ohne Grund låût sie die groûe Zahl der andern zu der massa perditionis werden, zu der Menge derer, die der Verdammnis hingegeben sind. Und diese çbernatçrliche Gnade hat ihren Bereich ausschlieûlich in der Kirche. Nur die kirchliche Taufe bringt die Erlæsung herbei, selbst ein Kind; das ungetauft stirbt, ist verurteilt. Wåhrend Pelagius, seinem Prinzip entsprechend und in Ûbereinstimmung mit alten jçdischen Lehrern, an Andersglåubigen oder Unglåubigen wahrhaft Gutes anerkennt, weil menschliche Tugend selbst eine entscheidende Kraft ist und Glauben auch einen Glauben an das Gute in sich schlieût, besteht fçr Augustin keine Tugend der Heiden, alle diese Tugend ist ohne Geltung gegençber dem Sakrament. Alle Erlæsung hångt von ihm, von dem Glauben, der es begrçndet, ab. 30 Zwischen diesen beiden Polen stræmte wåhrend des katholischen Mittelalters das Denken und Forschen hin und her. Sie bezeichnen z. B. auch den Gegensatz zwischen Thomas und Duns ± wobei es interessant ist anzumerken, daû sowohl Pelagius wie Duns Brite war. Kompromisse sind ståndig in der Mitte zwischen diesen beiden Endpunkten hergestellt worden. Begreiflicherweise verurteilte und verwarf die Kirche den Pelagius, aber sie kam doch immer wieder zu einem duldenden Einvernehmen mit einer Art von Semi-Pelagianismus. Andrerseits hat sie Augustin als Heiligen erklårt, aber sie hat nichtsdestoweniger stets und bestimmt den reinen Augustinismus abgelehnt, selbst damals, als er durch so bedeutende katholische Persænlichkeiten wie Jansen und den Kreis von Port-Royal wiedererweckt wurde. Es blieb bei dem alten kirchlichen Kompromiû, bei dieser Verbindung von | Paulinismus und jçdischem Element, wenn auch das erstere immer çberwiegen muûte. Luthers Reformation ist dann aber von dem Kompromiû zur Kampfansage geschritten; dem, was nicht paulinisch und augustinisch war, wurde der Streit gekçndet. Mit einem freilich war er zum Judentum zurçckgekehrt, mit dem Gedanken von dem Priestertum aller. Auch hier hatte die katholische Kirche ihre eigene ver30.
1 Harnack, Lehrb. d. Dogmengesch. III 4, 68 ff., 90 ff. u. 166 ff.; Troeltsch, Augustin S. 98 ff.; Sell, Christentum u. Weltgeschichte I 70 ff.
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mittelnde Lehre geschaffen; sie hatte einen Unterschied gemacht zwischen dem inneren Priestertum, das sich auf alle erstrecken sollte, die getauft waren, und dem åuûeren Priestertum, welches bloû dem Kreise der Geweihten zukam. 31 Hier hat sich Luther nun der jçdischen Idee zugewandt ± sie war auch schon im mittelalterlichen Katholizismus bisweilen wirksam gewesen ±, er hat es wenigstens wåhrend seiner frçheren, revolutionåren Jahre so getan, und auch hier beginnt so fortwirkend ein Abschnitt in der Geschichte jçdischen Glaubens im Christentum. Aber um so entschiedener hat sich der Reformator dafçr in seinem Dogma zu dem Gegensatz gegen das Judentum, zu dem reinen Paulinismus hin begeben. 32 Er lehrt die uneingeschrånkte Erbsçnde, die vællige Wirksamkeit der Gnade, vor der dem Glåubigen nur eine bewegungslose, eine rein passive Haltung zustehen kænne. Er ist hierzu durch sein Verlangen nach der ganzen Gewiûheit der Erlæsung gefçhrt worden. Da der Katholizismus vom Menschen auch die Werke verlangt hatte und der Mensch niemals imstande war, sie alle zu erfçllen, so konnte der Glåubige, zumal er ja nie wuûte, in welchem Maûe ihm Gnade gewåhrt war, immer bloû eine Hoffnung auf Erlæsung, aber niemals die Sicherheit derselben besitzen. Um sie zu gewinnen, hat Luther, ganz so wie einst Paulus und Augustin, den Wert der Werke, der menschlichen Handlung verneint und alles ausschlieûlich von der Gnade, vom alleinigen Glauben an sie abhångig gemacht ± sola gratia, sola fide. Um unerschçttert in seinem Glauben zu stehen, muûte er das Gebot in die Bedeutungslosigkeit hinstellen, muûte er die Annahme von einem entscheidenden Werte des Tuns als Unglauben, als Sçnde gegen den Hei | ligen Geist erklåren. An Stelle des katholischen Grundsatzes von dem Glauben und den Werken erscheint hier wieder der alte Gegensatz: entweder Glaube oder Werke oder, wie dafçr auch gesagt werden kænnte, entweder Glaube oder Ethik, entweder Gnade oder Gesinnung. Dem entsprechend erscheint alles Wollen, mag es das beste und edelste sein, alles Streben, von sich aus gut und gerecht zu werden, als nichts anderes denn ein Weg des Verderbens. Erlæsung kann allein von dem Glauben kommen, und er meint fçr Luther Glaube ohne das Tun. Dadurch ist aus seiner Glaubenslehre alles eigentlich Jçdische entfernt. Aber es ist Luther ebenso ergangen wie einst der Generation des Paulus. Gleiche Ergebnisse stellten sich ein. Ganz wie sich damals 31.
1 Catechismus Romanus VII, 23. 32.
2 Troeltsch in Kultur der Gegenwart I, 4 S. 276 ff.; Dilthey in Archiv f. Gesch. der Philosophie V, 330 ff.; W. Wundt, Ethik I, 3 S. 363 ff.
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Asketismus und Libertinismus aus dem Prinzip hervor ergaben, daû alles vom Glauben allein abhånge, so trat auch jetzt unter Luthers Anhångern beides hervor: sowohl die Neigung zu einer Askese 33 wie auch eine »antinomistische« Richtung, die unternahm, alles Gesetz zu beseitigen. 34 Und ganz wie damals die Kirche genætigt gewesen war, den Werken ihren Platz zu bereiten, um im Staate leben und bestehen zu kænnen, ganz so sah sich Luther hierzu sehr bald hingefçhrt, als er seine Kirche unter dem Beistand des Staates zu grçnden begann. Er hat sich den Ausweg durch ein sehr einfaches, aber sehr bedenkliches Hilfsmittel verschafft, dadurch nåmlich, daû er die moralischen Gebote, die er aus dem Gebiete der eigentlichen Religion herausgenommen hatte, in das Gebiet des rein Bçrgerlichen verwies, sie der Ordnungs- und Zuchtgewalt der staatlichen Behærden çbereignete und unterordnete. Moralitåt ist hier wesentlich das, was die verordneten Behærden verlangen. Es hat nichts mit der eigentlichen Religion zu tun, bestenfalls ist es ein Anhang zur Religion. Derart ist der Mensch innerlich gewissermaûen in zwei unterschiedene, gesonderte Bereiche zerlegt, in den des geistlichen Menschen, der den Glauben hat, und in den des bçrgerlichen Menschen, der die Gebote hålt. Dies ist die unjçdische Art der Religion Luthers, und hierin besteht auch ihre innere, ihre religiæse wie ethische Schwåche. Das Luthertum war niemals imstande, ein wirkliches | System der Ethik auf dem Boden der Religion und von der Religion aus zu schaffen. Dafçr hat es den Staat hingestellt, der mehr und mehr als der oberste Herr der Kirche und ebenso als der Gebieter und Meister çber die Sittlichkeit angesehen worden ist. Es hat dem Staate damit die unumschrånkte Vollmacht zuerkannt. Die groûe geschichtliche Leistung des Calvinismus 35 im Gegensatz zur Religion Luthers besteht darin, daû er dem Tun des Menschen wieder den weiten Raum gegeben hat, so wie er im Judentum gefordert ist. Der Calvinismus hat sich ± von der Trinitåt abgesehen ± vom Judentum fortgewandt durch sein hartes Dogma von der Vorherbestimmung, aber er ist in bestimmter Weise zu ihm zurçckgekommen durch seine Lehre von der Bedeutung des menschlichen Handelns, durch seine Betonung des Sittengebots und des gættlichen Willens. Und selbst die Lehre von der Vorherbestimmung ist im Calvinismus schlieûlich mehr und mehr versittlicht worden. Denn das 33.
1 Troeltsch, ebendort S. 470 ff. 34.
2 Hunzinger, Lutherstudien. Vgl. das Wort von Amsdorf, Luthers Genossen und Helfer, bei Hase, Hutterus redivivus 2 p. 308: »bona opera ad salutem esse perniciosa«. 35.
1 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.
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Verhalten des Menschen ist hier das Zeugnis davon, daû Gott ihn erwåhlt hat. Der Mensch ist als erwåhlt dargetan, wenn er es als seine Aufgabe erfaût, den Willen Gottes in seinen Willen aufzunehmen, die Welt zu vervollkommnen, sein Leben und seine Arbeit und die seiner Nåchsten dem Dienste des Sittlichen zu weihen, fçr das Gute, fçr Gottes Lob und Ehre auf Erden zu arbeiten. Im Calvinismus hat, ganz anders als in Luthers Religion, der Glaube seinen Sinn und Zweck nicht in sich, sondern sein Ziel ist die Entscheidung zu sittlichem Wirken und Schaffen. Die alte jçdische Idee vom Bunde, den Gott mit den Menschen schlieût, und in Verbindung hiermit die vom Judentum gelehrte Idee des Gebotes und seiner sozialen Satzung, alles das also, was der gesetzliche Zug des Judentums genannt zu werden pflegt, dringt innerhalb des Calvinismus mehr und mehr durch. Religion soll hier jedes Tages im Leben bewiesen werden, der ernste, der wichtige Platz soll ihr in der Erfçllung des Daseins gegeben sein. Im Unterschiede von der Lutherschen Religion der Passivitåt steht der Calvinismus als eine Religion der Aktivitåt, der geforderten Bewåhrung da. Das Alte Testament gewinnt demgemåû an Gewicht und Bedeutung in seiner Bibel. Mit diesem gesetzlichen Zuge ist hier dann auch, ganz wie im Judentum, die messianische Idee verknçpft. Wo immer das Ge | bot hervortritt, wo immer gefordert ist, daû der Platz fçr das Gute auf Erden bereitet sei, das Kænigtum Gottes durch das Leben des Menschen gegrçndet werde, dort ist die messianische Idee aufgerufen, dieser Glaube an die schlieûliche Erfçllung des Guten, an die zukçnftige wahre Herrschaft Gottes auf Erden. Von diesem jçdischen Gedanken waren die englischen Puritaner erfaût, als sie gegen Gottlosigkeit und Despotentum kåmpften; von ihm waren die Presbyterianer geleitet, als sie westwårts zogen und die Staaten des neuen England schufen. Hier, ganz wie im Judentum, hat es sich erwiesen, wie sehr die gesetzliche Fræmmigkeit immer messianisch wird und wie sehr messianische Fræmmigkeit in der gesetzlichen wurzelt. Bei Paulus hatte die messianische Sehnsucht ihre wesentlichen Zçge eingebçût. Da fçr ihn das Kommen des Messias und die Erlæsung schon zuteil geworden, schon ein wirklicher Besitz der Gegenwart waren, so hatte damit die Idee der groûen Zukunftshoffnung viel von ihrem Sinn verloren. Hin und wieder ist dann aber der alte messianische Gedanke wieder wach geworden nicht nur in der alten Kirche, sondern ebenso im Mittelalter. In Tagen der groûen Bedrçcktheit zumal ist diese jçdische Erwartung einer nahenden Zeit der Gottesherrschaft und des ewigen Friedens lebendig gewor144
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den, besonders durch die Verkçndigung vom »evangelium aeternum« und vom tausendjåhrigen Reich. Die Kirche hat darin immer etwas Revolutionåres gesehen und ist dagegen mit allen Mitteln, çber die sie verfçgte, vorgegangen. Ein geschichtliches religiæses Vermægen innerhalb der Kirche ist diese Idee erst durch das sogenannte Tåufertum 36 geworden, durch diese religiæse Stræmung, aus der, zusammen mit dem Calvinismus, jene starke treibende Kraft herkam, durch die damals Religion und religiæses Denken in England und in den Vereinigten Staaten gestaltet und neu geformt worden sind. Diese Bewegung hatte sich frei entwickeln dçrfen, weil sie wesentlich und grundsåtzlich jedwede Verbindung mit dem Staate und jedweden Einbau in ihn, wie Katholizismus und Protestantismus sie eingegangen waren, abwies. Sie hat dafçr die freie Gemeinde, in der das religiæse Ideal verwirklicht werden soll, errichtet. Und diese neue Freiheit hat nicht zu Libertinismus und Antinomis | mus hingeleitet, weil sie eben nicht von dem Widerspruch und Widerstreit gegen das Gesetz ausging. Sie fçhrte, im Gegenteil, zu der Wiedererweckung eines biblischen Sozialismus, eines biblischen Ideals der Heiligkeit, da sie ganz zu dem jçdischen Gedanken des Gebotes hin gerichtet war. Die Tåufer konnten Independente und Kongregationalisten sein, weil sie die Ethik vor die Vergebung der Sçnden, das Gebot vor die Rechtfertigung stellten. Mit diesem Nachdruck, der auf das Ethische gelegt war, einte sich hier eine Abneigung gegen das Sakramentale, ein Bestreben, ihm von seiner Bedeutung manches zu nehmen; auch darin ist eine Abkehr vom Paulinismus zum Judentum klar zu erkennen. Die tåuferische Bewegung stellt eine weittragende Revolution dessen dar, was innerhalb der Kirche jçdisch ist. Sie ist auf ihre weltgeschichtlichen Bahnen in dem England Cromwells und in den Staaten der Pilgrimvåter gelangt. Obwohl oder vielleicht weil sie nicht in eine Kirche mçndete, ist sie eine der lebendigsten und ergebnisreichsten religiæsen Bewegungen der neuen Zeit geworden. Alle diese reformatorischen Bestrebungen haben einen Zug gemeinsam. Fçr sie ist die Frage von Gnade und Gesetz, von Glaube und Werk die bestimmende; die andern Fragen treten dahinter zurçck. Doch schon im Tåufertum zeigte sich gelegentlich eine Einrede auch gegen das Dogma von der Trinitåt; Ludwig Hatzer 37 widersprach der Gottheit Christi. Im Vordergrund steht das Problem dieser Lehre, durch die Judentum und Christentum so tief geschie36.
1 Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Sekten S. 797 ff. 37.
1 Vgl. Hege, Die Tåufer in der Kurpfalz.
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den sind, hier zum ersten Mal im Socinianismus. 38 Er ist im Christentum die erste unitarische Richtung und so, was die Gottesidee angeht, die erste Hinwendung zum Judentum. Auch er hat sich von den pelagianischen Ideen her gebildet. Sie waren im Zeitalter des Humanismus wieder erweckt worden. Auf das Recht des Menschen, auf den Weg menschlicher Freiheit und Tat, auf dieses Ethische und das Messianische war hier ein Nachdruck gelegt worden. Um jedem einzelnen dieses sein Gebiet zuzuerkennen, hatte man sich dem Satze von der Ursçnde und der Rechtfertigung durch Christus widersetzt. Im Verfolge solchen Suchens und Strebens hatte man notwendig alles rein Dogmatische mehr | und mehr beiseite gestellt, war man zu einer schlichten Erklårung des Bibelwortes, zu einer Ablehnung der Christologie und der Dreieinigkeit, zu einem strengen Begriffe der Einheit Gottes gekommen; es war eine Umkehr zum Judentum. Socinianismus ist der Versuch, eine humanistische Renaissance des Christentums an Stelle der dogmatischen Reformation zu schaffen. Was seine åuûere Geschichte anlangt, so hat er nur eine kurze Frist des Lebens gehabt. Er hat zwar seine eigene Kirche in Polen gegrçndet, aber sie ist dort nur zu bald dem Gegendruck erlegen, so durchaus, daû sie keinerlei Spur dort zurçckgelassen hat. Nur in Transsylvanien vermochte eine Gruppe von Gemeinden, Jahrhunderte durch alle die Verfolgungen hindurch, welche sie zu bestehen hatte, sich zu erhalten, auch nachdem einige ihrer Glåubigen sich als Sabbatarier zum Judentum bekehrt hatten. Wenn so auch hier und fast çberall in Europa sich der Widerstand des alten Dogmas und seiner Måchte durchsetzte, so sind nichtsdestoweniger die Gedanken des Socinianismus weithin ausgesåt worden. Sie sind, zusammen mit den Lehren des Tåufertums, Samenkærner gewesen, aus denen in spåterer Zeit eine Ernte erstand. So war es in den Niederlanden und vor allem in England, wo ein Mann wie Milton sich dem eræffnete, und sodann in Amerika. Hier sind diese Gedanken ein starker und wichtiger Antrieb theologischen Ringens und menschlicher, undogmatischer Fræmmigkeit geworden. Es waren fruchtbare jçdische Kråfte, die so in das Leben der Kirche hineingefçhrt wurden. Der Unitarismus eines Priestley, eines Channing, eines Parker, eines Longfellow, eines Martineau geht auf diese socinianischen Keime zurçck, die weiter gesproût waren und aus denen jçngere Tage hervorwuchsen. Ûberall im Protestantismus wird im Gange der Generationen ein solcher Zug zum Judentum hin irgendwie erkennbar. Was ist im 38.
2 Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte III 4, 765 ff.
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neuen Protestantismus von dem alten kirchlichen Dogma geblieben? Die Dreieinigkeit ist vielfach mehr und mehr ein bloûes Wort geworden. Der Heilige Geist ist kaum noch die wirkliche gættliche Person, der Paraklet, sondern stellt etwas wie einen Begriff seelischen Vorgangs dar; er hat ein jçdisches Gepråge angenommen. Die kirchliche Lehre von der Gottheit Jesu allerdings wird weithin auch im modernen Protestantismus als Glaubens | artikel festgehalten. Aber gerade, weil dem so ist, bezeichnet sie zumeist hier nur einen theologischen Begriff, den man dialektisch hin- und herschiebt, um dabei ihn mehr oder weniger seines Inhaltes ledig werden zu lassen und schlieûlich bei dem jçdischen Monotheismus anzugelangen. In åhnlicher Weise ist hier der alte kirchliche Dualismus verschwunden, der die Welt in die zwei groûen Gebiete schied, das des Gottessohnes und der Gnade und das des Teufels und der Urschuld. Wann spricht man noch von diesem Dogma? Um wie viel mehr redet man dafçr von der Religion des ganzen Volkes, von dem Erleben der Nationen, oft fast in Worten der jçdischen prophetischen Predigt. Und endlich die Lehre vom Glauben, von diesem Glauben, der alles bedeuten und alles gelten soll. Auch sie gewinnt nach und nach ihren Platz in der Nåhe der jçdischen Verkçndigung von der Tat und dem Willen des Menschen, die ihn zu Gott hinfçhren. Glaube soll nun ein sittlicher Glaube sein, und das meint doch schlieûlich jçdischen Glauben. Die meisten Gestaltungen im modernen Protestantismus weisen einen Weg auf, der von dem alten kirchlichen Gebiete fort und zu dem geistigen, religiæsen Bereiche des Judentums hingeht. Allerdings sind im deutschen Protestantismus, meist auch von einem judenfeindlichen Empfinden her, Gedanken rege geworden, åhnlich denen des Marcion, die alles Jçdische aus dem Christentum entfernt haben wollen. Die Geschichte der Kirche hat gezeigt, was vom Christentum çbrig bleibt, wenn es von allem Jçdischen gesåubert und gereinigt werden soll. Auch in der Kirche sehen wir so, wenn auf die Jahrhunderte zurçckgeblickt wird, eine Geschichte der jçdischen Ideen. Jede Wandlung, die sich im geistigen und religiæsen Leben der Kirche vollzog, war im Grunde eine Auseinandersetzung mit diesen Gedanken, entweder eine Abwendung von ihnen oder eine erneute Hinneigung zu der Richtung, zu der sie fçhren. Es gibt eine Geschichte des Judentums auch in der Kirche. Das Judentum hat sein bleibendes Leben drinnen und drauûen. Es kann bekåmpft werden, und es kann zurçckgedrångt werden, aber es wird doch hier wie dort immer wieder zu neuem Leben. »Et inclinata resurget« ± »und mag es niedergedrçckt sein, es steigt doch wieder empor«. 147
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Griechische und jçdische Predigt
Es ist eine der eigentçmlichsten Erscheinungen der Geistesgeschichte, daû bisweilen verwandte Gedanken zur selben Zeit an verschiedenen Stellen der Menschheit unabhångig voneinander hervorkommen. Friedrich Albert Lange hat in einer der Anmerkungen zu seiner »Geschichte des Materialismus«, in denen er seine intimeren Ansichten ausspricht, das Bild gebraucht, daû »Ideen, wie organische Keime, weit fliegen«, und jeder »rechte Boden sie zur Entwicklung bringt.« 1 Es ist in der Tat, wie wenn die Schæpferhand dann und wann die Ideen çber die Erde hin ausstreute. Vielleicht das bezeichnendste Beispiel bietet die Fçlle des Wachstums an prophetischen Gestaltungen, wie sie das Vierteljahrtausend aufweist, das, in der Geschichte Israels, etwa mit der Wirksamkeit des Elija beginnt und mit der Heimkehr aus dem Exil endet. Das ganze groûe Kulturgebiet Asiens und Europas war von religiæser Fruchtbarkeit damals erfçllt. In Indien erstehen die Meister der Upanishads und an sie sich anschlieûend Gotama Buddha, in Persien die Månner der Gathas, Zarathustra und seine Jçnger, in China Lao-tse und Kung-tse. Und vor allem ist es auch in Griechenland die Epoche religiæsen Wachsens und Drångens, die Zeit der Denker und Dichter, die zu der neuen Gottheit emporsteigen wollen. Viele von ihnen sind in der Form der Darlegung Philosophen gewesen, aber in ihrem Streben, in dem, um dessentwillen sie philosophierten, waren sie die Suchenden einer neuen Religion. 2 Die Wege der Entwicklung gehen auch weiterhin beieinander. Die Worte fast aller dieser Månner sind aufgeschrieben worden, und an die klassische religiæse Literatur, die so entstand, haben sich sehr bald Erlåuterungen anfçgen mçssen, Mahnungen und | erbauliche 1. 2.
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Lange, Geschichte des Materialismus I 2, 127. Vgl. Erwin Rohde, Psyche II 102 ff., 261 ff.
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Der Midrasch
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Vortråge anschlieûen kænnen. Eine besondere Art der Lehre und Rede bildet sich aus, die, welche nicht mehr eine neue Wahrheit verkçnden, sondern die verkçndete Wahrheit darstellen und verbreiten will. Auf die Suchenden, welche gættliche Gesichte schauten und Stimmen aus der Hæhe vernahmen, folgen jetzt die Sprechenden, die ihr Buch besitzen, auf die Seher und Sehergenossen folgen die Prediger ± denn der Begriff der Predigt in seinem eigentlichen Sinne darf nicht auf das prophetische Wort, sondern nur auf diese nachschaffende Beredsamkeit angewandt werden. Diese Predigt ist so vielgestaltig, wie jene verschiedenen Glaubensgedanken es gewesen sind. Wir finden sie bei dem Volke der Zarathustra-Religion in den homiletischen Erklårungen der alten geheimnisreichen Glaubenssprçche, der Gathas, und in dem Vortrage des Vendidad, des Gesetzes. 3 Wir finden sie ebenso im indischen Buddhismus; der Suttanipata rçhmt unter den besten »Mangalas«, den Geschenken des Lebens, neben Ehrfurcht und Bescheidenheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit auch »das rechtzeitige Anhæren von Lehrvortrågen«. 4 Wir finden sie dann in China, wo sie zur regelmåûigen Einrichtung geworden ist. 5 Aber vor allem tritt sie uns auch in dem groûen griechischen Kulturgebiete entgegen. Einer der besten Kenner des Hellenismus, Freudenthal, hatte zwar geglaubt, sie der griechischen Welt absprechen zu sollen, und hatte in ihr etwas dem Judentum ganz Eigentçmliches erblickt. 6 Diese Ansicht ergab sich ihm, weil er den Begriff der griechischen Religion wie auch den der Predigt zu eng gefaût hatte. Die griechische Religion, und noch ausgeprågter die ræmische, war, offiziell genommen, in antiker Art Staatsreligion; sie wendete sich an den einzelnen nur in seiner Eigenschaft als Bçrger. Als Individuum, als Persænlichkeit erhielt er von ihr nichts. Die Teilnahme an der kulturellen Handlung wurde von ihm als Staats | angehærigem gefordert; und wenn sie erfolgte, war man gegen alles andere meist duldsam. Der religiæse Gedanke und die theologische Auffassung 3.
1 Geldner, Die altpersische Literatur (»Oriental. Literaturen«, Kultur der Gegenwart I, 7) S. 223 und 225. 4.
2 K. E. Neumann, die Reden Gotamo Buddho's aus der Sammlung der Bruchstçcke Suttanipato S. 90. Vgl. Winternitz in Bertholet's Religionsgeschichtlichem Lesebuch S. 298 f. 5.
3 De Groot, Die Religionen der Chinesen (Orientalische Religionen, »Kultur der Gegenwart« I, 3, A) S. 187 f. 6.
4 Freudenthal, Die Flavius Josephus beigelegte Schrift çber die Herrschaft der Vernunft, S. 4ff.
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Griechische und jçdische Predigt
blieben ein vællig Gleichgçltiges. Darum haben Epikuråer und Skeptiker es so leicht gehabt, in Frieden mit dem Staate und der Staatsreligion zu leben. 7 Darum hat man auch dem Fremden manches konzediert, was man dem Bçrger nicht zugestand; charakteristisch ist eine Stelle aus der, dem Lysias zugeschriebenen, Rede gegen Andokides, wo das Vergehen gegen die staatlichen Heiligtçmer als eigentliches Verbrechen hingestellt wird, wenn ein Einheimischer es begeht. 8 Die Staatsreligion, t ptrion, wie die Griechen sie nannten, die civilis religio, wie Varro sie nennt, 9 sorgt nur um die Nation, sie gibt und verlangt bloû den nationalen Kultus. Was das Individuum, abgesehen von den håuslichen Bråuchen, an persænlichem religiæsen Bedçrfnis hatte, konnte es nur entweder in den Mysterien befriedigen, die ihm das Geheimnis der Erlæsung und Vergottung verhieûen, oder aber in der philosophischen Religion, die die Antwort auf die Zweifel und den Weg fçr den Willen aufweisen wollte. Je mehr in dem Niedergange der Antike der Mensch mit seinem innersten Empfinden aus dem Staate ausschied und sich als Angehæriger der Welt zu fçhlen lernte ± das Wort des Philo, daû der nmimo@ ¤nr ein kosmopolth@ ist, gibt die Stimmung der Zeit wieder 10 ±, desto mehr muûte einerseits das Mysterium mit seinem Wunder, anderseits die Philosophie mit ihrer Welt- und Lebensanschauung die Menschen gewinnen. Denn der Versuch, durch die Lehre von der doppelten Wahrheit das schon schwankende Alte zu stçtzen, wie er zu Ende des Altertums vor allem durch die Skeptiker, und ebenso im Mittelalter durch die Nominalisten, 11 unternommen wurde, die | ser Versuch konnte doch immer nur die augenblickliche Verlegenheitsantwort sein. Es blieb dabei, daû die individuelle Religion nur entweder die philosophische oder die der Mysterien war. Hier allein dçrfen wir daher die Predigt suchen; denn sie spricht nicht zum Bçrger, sondern zum Menschen, zum Glåubigen. Allerdings, dem mystischen Kulte bleibt sie ebenfalls fern; denn er will 7.
1 Ed. Schwartz, Charakterkæpfe II 2, S. 30 ff. Wendland, Hellenistisch-ræmische Kultur 2 S. 247. Lecky, Sittengeschichte Europas, çbersetzt von JolowiczLæwe I 2, 150 f. Vgl. Bernays, Lukian und die Kyniker S. 30 ff. 8.
2 Lysias, kat3 3Andokdou ¤sebea@ p. 104 (orat. Attici, rec. Baiter et Sauppe I, 76b) ¨rgzesjai oãn cr ¼ to¼@ ¤sto¼@ mºllon Ï to¼@ xnoi@ per ta½ta t er. Vgl. auch Platon, Gesetze X, 909D. 9.
3 Siehe P. Wendland a. a. O. 140 f.; çber das ptrion siehe ebendort S. 107. 10.
4 Vgl. Chrysipp's Definition des Menschen als z¾on koinwnikn, die an die Stelle der aristotelischen tritt, die den Menschen als z¾on politikn bezeichnet hatte. 11.
5 Vgl. Rohde, Griech. Roman 2, 229, 1; Harnack, Lehrbuch der Dogmengschichte III 4, 503, 1 und 507, 1.
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dem Verstande und dem Willen nichts und alles der Phantasie und dem Empfinden geben; in ihm nimmt das Festspiel, das das Schicksal des Gottes und das sakramentale Opfer schauen und erleben låût, den wesentlichen Platz ein. Sie konnte so nur in der philosophischen Religion ihren Raum haben, und hier hat sie in der Tat ihre Wege gefunden. Ganz besonders gilt dies von der kynisch-stoischen Religion, dieser erfolgreichsten und auch segensreichsten im griechischen Kulturgebiete; sie hat ihre vielen Predigten und auch ihre mannigfaltigen, oft geschilderten Prediger: neben dem berufenen den verrufenen, neben dem lauteren, den sein sittlicher Ernst treibt, den gewæhnlichen, der seine Fertigkeit oder seine Beifallsberechnung bereit hat, neben dem Kanzelredner, zu dem die Gemeinde kommt, den wandernden Prediger, der seine Gemeinde sucht und mit den Mitteln des Witzes und der Drastik sie zu fesseln bemçht ist. 12 In diesen Kreisen ist die Kunstrede mit ihren Regeln schon sehr bald ausgebildet worden, die Diatribe oder, wie sie auch genannt wird, die Dialexis, die Homilia. Diese Ausdrçcke bezeichnen, im wærtlichen Sinne, die Rede und Gegenrede, die Diskussion; die gegnerischen Ansichten sollten mit ihren Grçnden und Beweisen zu Worte kommen, um dann ebenso grçndlich widerlegt zu werden. Man ging von der Fiktion aus, daû dem Prediger, dem keiner widerspricht, doch der Widerspruch entgegengetreten wåre. Ein Bedçrfnis nach der Predigt war damals weithin vorhanden. Man besaû in den verschiedenen Schulen eine Wahrheit, an die man religiæs glaubte; die Philosophie hatte hie und da fast den dogmatischen Charakter erhalten. Sie verlangte nach der Erlåuterung und der Verbreitung. Bestimmend war hierfçr auch der demokratische Zug, den Sokrates ihr gegeben hatte. Er hatte erklårt, daû Tugend und Fræmmigkeit lernbar, also jedem Men | schen zugånglich seien, daû sie daher gepredigt werden kænnten und sollten. Diese Richtung seiner Philosophie, in der ihm nicht sowohl Plato und Aristoteles als vielmehr die Kyniker gefolgt sind, ist vielleicht das Eigenste, das er dem griechischen Denken gebracht hat. Es war der Gegensatz zu der exklusiven Lehre, wie sie ein Heraklit, ein Pythagoras verkçndet, ein Pindar dichterisch gestaltet hatte, daû die Tçchtigkeit nicht jedem erreichbar wåre, daû die Gætter sie als ihr Geschenk den Auserwåhlten gåben. 13 12.
1 Ûber die griechische Predigt vgl. Wendland a. a. O. S. 48, 72, 80 ff. und 179 f.; Norden, Agnostos Theos 99 ff. und 129 ff. 13.
1 Siehe Ed. Schwartz, Charakterkæpfe I 3, 14.
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Derselbe demokratische Charakter, fast mæchte man sagen: diese sokratische Art, kennzeichnet das Judentum. Auch hier ist es der Grundsatz, daû die Religion lernbar ist. Sie ist die Torah, die Lehre. Mit diesem Worte ist es schon gesagt, daû sie jedem offen und fçr jeden bestimmt ist, daû sie allen Menschen gepredigt werden soll. Ein universelleres Wort kann es kaum geben. Die Torah steht damit der Gnosis gegençber, der sakramentalen Erkenntnis, die nicht der Mensch erwirbt, sondern der Geweihte und Erlæste empfångt, die nicht gelehrt, sondern nur bezeugt werden kann, die weniger den Prediger als den Herold finden soll. 14 Judentum und Griechentum konnten in dieser lehrhaften Richtung so çbereinkommen. Eines hatte dabei der Grieche allerdings voraus: die Technik der glånzenden Form, die Eleganz des Stils, wie sie durch die jahrhundertelange Schulung in allen rednerischen Kçnsten gebracht worden war. Das war ein Vorzug, aber es wurde auch die Gefahr. Die Rhetorik hat nur zu bald die Herrschaft der konventionellen Phrase mit ihrer Hohlheit und Anmaûung zuerst verstattet und endlich gefordert, und darunter sind dann Gehalt und Ernst oft verschwunden. Man hat die Rede um der Rede willen gepflegt. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daû das Griechentum im Kultus der schænen Form untergegangen ist. 15 Im jçdischen Volk standen diesem Virtuosentum geistige und | sprachliche Art entgegen, und besonders die uns çberlieferten alten Predigten aus dem hebråischen Sprachgebiete oder, genauer gesagt, die Inhaltsangaben und Bruchstçcke von Predigten ± denn nur diese besitzen wir in unseren Midraschim 16 ± zeigen fast eine beabsichtigte Gleichgçltigkeit gegen die kçnstlerische Form. Nur die eingestreuten Sentenzen haben ihre sprachliche Ausprågung. Aber dafçr hatten die Juden ein anderes zu eigen, was der gesamten Predigt erst ihre Geschlossenheit gewåhrte. Sie besaûen die Einheit der Religion und des religiæsen Grundbuches, wåhrend es bei den Griechen nur eine Einheit der Schule und der Schulschriften gab. Und dazu ein Weiteres: die umfassende Bedeutung des lebendigen Mçndlichen gegençber dem starren Schriftlichen, das, was das Wort Midrasch benennen will, dieses Undogmatische, dieses Recht und dieses Ge14.
2 Vgl. den Gebrauch von khrssein beziehungsweise krux und krugma einerseits in der Mysterienliturgik (siehe Lobeck, Aglaophamus 15 und Reitzenstein, Poimandres 55), andererseits im Neuen Testament (siehe hierçber Norden, Agnostos Theos S. 140). Besonders charakteristisch ist die Verbindung syrag@ to½ khrgmato@ im Pastor Hermae, similitudines, 9, 16, 5. 15.
3 Vgl. Wendland a. a. O. 63 ff. und 68 ff. 16.
1 Vgl. Zunz, Gottesdienstliche Vortråge, S. 308, 313a, 341.
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bot, in der Bibel zu suchen, im Anschluû an sie auch die religiæsen Gedanken zu gestalten und fortzubilden. Dieses Erfordernis der ideellen Selbstbehauptung hat sich immer wieder im Laufe der Geschichte und so auch damals geltend gemacht. Man muûte sich mit den Gedanken auseinandersetzen, in denen die Ansprçche der Gegnerschaft und die oft noch schwereren einer Verwandtschaft an das Judentum herantraten. Sie kamen nicht zum mindesten auch von der griechischen Umwelt her, und sie drangen auch an das palåstinische Judentum stark heran, nicht bloû, wie man oft meint, an das alexandrinische. Die Grenze zwischen den heimatlichen und den ågyptischen Gemeinden bedeutet çberhaupt mehr eine Rubrik der Einteilung, als eine Marke des wesentlichen Unterschieds. 17 Auch auf dem alten jçdischen Boden hat sich jene eigentçmliche Wechselwirkung vollzogen, in der sich Abendland und Morgenland, besonders seit den Tagen | Zenons, des Sohnes Manasses, des Grçnders der Stoa, allenthalben neu zu verbinden suchten. 18 Man kann diese Beziehungen auf den Wegen der alten hebråischen Predigten noch deutlich verfolgen und es erkennen, wie man sich dort dem geistigen Kampfe nicht weigerte. Alle die einzelnen Pfade, auf denen die griechische Philosophie hereintrat, lassen sich nicht mehr feststellen. Man braucht sie nicht gerade in einer unmittelbaren Vertrautheit mit bestimmten Schriften zu suchen. So manches Motiv und so mancher Satz, platonische und stoische ebenso wie epikuråische, waren damals ein Gemeingut griechischer Bildung und gelangten mit ihr çberallhin. Man hat auch ohne Zweifel die griechischen Wanderprediger in Palåstina gut gekannt; auch sie sind wohl die »Philosophen« gewesen, von deren streitenden Gespråchen mit diesem und jenem der ålteren Schriftgelehrten der Talmud oft erzåhlt. Wir erfahren, wie griechi17.
2 Vgl. Freudenthal, Hellenistische Studien II (Alexander Polyhistor) S. 169 f. und S. 171 f., wo an zahlreichen Beispielen nachgewiesen ist, wie »der harte palåstinische Boden nicht unberçhrt von hellenistischen Einflçssen geblieben ist«. Vgl. ebendort S. 187, sowie Die Flavius Josephus beigelegte Schrift çber die Herrschaft der Vernunft, S. 39, 4. Vgl. auch die mannigfachen Nachweise der umgekehrten Einwirkung bei Rapoport, Erech Millin, p. 101 ff., bei Frankel, Vorstudien zu der Septuaginta, und Einfluû der palåstinensischen Exegese, ferner bei Freudenthal, Josephus' Schrift çber die Herrschaft der Vernunft S. 39, sowie bei Ritter, Philo und die Halacha. 18.
1 Vgl. Schçrer, Geschichte des jçdischen Volkes II 3, 341 f. und 349 f.; vor allem Norden, Agnostos Theos 107 f., 126 f. und 134 ff., besonders seine Bemerkung (S. 134): »Bei dem vielfach bedachtlos gebrauchten Worte Hellenismus¬ muû man sich darçber klar sein, daû der Hellenisierung des Orientalischen die Orientalisierung des Hellenischen mindestens die Waage gehalten hat.« Vgl. auch Bousset, Kyrios Christos S. 367.
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sche Theatertruppen seit langem ganz Vorderasien durchzogen; 19 die schweifenden Redner werden noch weit mehr diese Straûen beschritten haben. Die jçdische Predigt ist denn auch mit demselben Ausdruck benannt worden, der die griechische bezeichnet. 20 | Aber wie immer der Weg ins Land fçhrte, man wuûte in Palåstina von den griechischen Schullehren, und die heimische jçdische Predigt ist ihnen gegençbergetreten, um sie abzuweisen oder sie aufzunehmen. Denn man trug kein Bedenken, sich dessen auch zu freuen, was von der hellenischen Welt her kam, und bezeichnend ist, daû es besonders platonische Gedanken, diese idealsten unter allen, gewesen sind, die man willkommen hieû. Fçr das alexandrinische Schrifttum ist diese Hinneigung bekannt; in Philons Persænlichkeit ist es fast etwas Selbstverståndliches, daû er die Worte Gottes an Moses derart erlåutert und sublimiert, daû Gott von den platonischen Ideen ganz ausdrçcklich spricht. 21 Aber in der palåstinischen Haggada tritt uns im Grunde dasselbe entgegen. Auf mehrere Beispiele hierfçr hat Jol schon hingewiesen. 22 Doch sie sind noch zahlreicher, und es sei hier wenigstens eines noch aufgezeigt, weil gerade dieses charakteristisch dafçr ist, wie die Art, in der ein Philon lehrt, auch der eigentlichen palåstinischen Predigt nicht fremd gewesen ist. In mehreren Predigten wird fçr die Offenbarung, die Abraham erlebte, ein Bild gesucht, das dieses Erhabene und Auûerordentliche darstellen soll, und es wird in folgendem gefunden: »Gott, so sagt die Bibel, fçhrte Abraham hinaus¬. Das ist so zu verstehen, daû Gott den Abraham çber das Himmelsgewælbe emporgefçhrt hat, dorthin, 19.
2 Siehe Friedlånder, Sittengeschichte Roms, II 6, 87 ff.; III 6, 284 und 350; çber die Wanderprofessoren siehe II, 86; siehe auch Mommsen, Ræmische Geschichte III 8, 350. Vgl. auch Norden a. a. O. 107. Deutlich spricht schon die eine Tatsache, daû der Kyniker Oinomaos von Gadara im talmudischen Schrifttum ausdrçcklich genannt und sein Verkehr mit R. Meir erwåhnt wird; siehe Graetz, Geschichte der Juden IV 2, 469 f. 20.
3 Siehe Apostelgeschichte 18, 4; 19, 8 und 9; 20, 9; 24, 25. An allen diesen Stellen ist fçr »predigen« das Wort dialgesjai gebraucht; die Ûbersetzung »Disputationen fçhren«, wie sie zum Beispiel Rud. Knopf in seiner Erklårung der Apostelgeschichte, in den Schriften des Neuen Testaments, herausgegeben von Joh. Weiû, I 2, 612 und 617, gibt, ist eine irrige, ebenso die Ûbersetzung von Preuschen in seinem Handwærterbuch zu den Schriften des N.T. sub voce: »Lehrvortråge, die in der Form von Disputationen verliefen«. Dialgesjai ist einfach der technische Ausdruck fçr das Predigen, wie dort auch schon der ganze Zusammenhang klar zeigt. 21.
1 Philo, De special, leg. I (de monarchia) p. 219 M. V, 12 C.W.: ¨nomzousi d a©t@ o©k ¤p skopo½ tine@ t¾n par 3 ¢m¼n §da@. 22.
2 M. Jol, Blicke in die Religionsgeschichte I, 117 ff. und 128 ff.
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wo das Ewige wohnt, so daû er unter sich die Bahnen der Gestirne erblickte, die Wege und Gesetze, die von Anbeginn her festgelegt sind.« 23 Wer Platons Phådros kennt, wird sofort, Zug | um Zug, an das wundersame Bild erinnert, in dem dieser Græûte der »Schauenden« unter den Griechen den Aufstieg des Weisen geschildert hat, wenn die Stunde çber ihn kommt, da er erkennen darf: »er wird emporgefçhrt und steht auf dem Rçcken des Himmels und die Umdrehung trågt ihn umher, und er sieht, was auûerhalb des Himmels ist; ¼ er schaut die ewige Gerechtigkeit, die ewige Vernunft, die ewige Einsicht und alles das Ewige sonst.« 24 Mit dem platonischen Gleichnis hat so der jçdische Prediger in der Sprache der Bibel sein Erhabenstes, die prophetische Offenbarung, zu schildern gemeint. Aber dieselbe Predigt fçhrt uns dann noch in den Kampf der Gedanken hinein; denn sie fåhrt fort, daû Gott zu Abraham gleichsam gesprochen habe: »Wer unterhalb der Gestirne, im Irdischen, ist, 23.
3 Bereschit rabba 44, 12 (zu 15, 5, ed. Theodor p. 432 f.; siehe auch die dort angegebenen Parallelen): arfjf tmau fajrfe wlfpl Zfhm jkf jfl ªt wub pufej ªt erfhe fvfa arfjf
xnhfj ªt wub xfmjo ªtb edfj ªt vfrfhf Zta eup al dp tma vad Yje ajmu jssu ejl jfh ala erfhe fvfa ªma xjnbt eiml elpmlm ala ibe xja emjmue an ibe ejl tmad afe pjste vqjkm elpml felpe tma afbl latuj fusb fejmtj jmjb afe ajbn jk ujae vua bue evpf ªnu ofcflftioa va xjaf eva ajbn fvhv la wjmue vfvfamf fdmlv la wjfce Ytd la ªd tma ek dªªee eªªbse whjne alf fg edjm jdjl jm ebfk oftd Ylcjtb aldno dp jfl ªt tma fjvhne alf edjme fgl afbl usb wkjba wetba tbk ªfcf wujjd wem elpml evau eva lba wem atjjvm wem eiml xfvnu. Der Tanchuma (zu etu jjh
VI) weist nur unwesentliche Abweichungen auf. Zu Grunde liegt hier eine Predigt R. Jochanans, deren Thema dann durch seinen Schçler R. Lewi weiter ausgefçhrt wurde; sie ist also etwa in die zweite Hålfte des 3. Jahrhunderts zu setzen. 24.
1 Plato, Phaedros p. 247 Bff.: a mn gr ¤jnatoi kalomenai, nk3 Ôn pr@ Íkr²w gnwntai, Îxw poreuje¼sai Îsthsan ¥p t²¾ to½ o©rano½ n
t²w, stsa@ d a©t@ perigei periyor, a d jewro½si t Îxw to½ o©rano½¼¥n d t» perid²w kajorº mn a©tn dikaioshn, kajorº d swyrosnhn, kajorº d ¥pistmhn ¼ Diese Stelle ist mannigfach von Philo benutzt, zum Beispiel »de opificio mundi« I 16 M. I, 23 C.W.: ka plin pthn@ ¤rje@ ka tn ¤ra ka t totou pajmata kataskevmeno@ ¤nwtrw yretai pr@ a§jra ka t@ o©rano½ peri¡dou@; ebenso de special. leg. I (de monarchia) 217 M. V, 10 C.W.: totwn gr ¡ logism@ ¤p g»@ Ínw metwro@ ¤rje@ a§jerobate¼ ka sumperipol¾n l²w ka seln±h ka t²¾ smpanti o©ran²¾; ferner »de opif. mundi« 12 M. I, 17 C.W.: ¢p gr ywt@ Ínw parapemyje¼sa Êrasi@ ka katido½sa ysin ¤strwn ¼ Philo hat auch die Bibelstelle (Gen 15 5), die den Text unserer Predigt in Bereschit rabba bildet, in der gleichen Weise interpretiert, siehe Legum allegoriarum liber III, ± I, 95 M. I, 121 f. C.W. ± o© parrgw@ d prskeitai t²¾ »¥xgagen a©tn« t »Îxw« ¼ ¥xgagen a©tn e§@ t ¥xwttw cwron ¼ tn no½n e§@ t ¥x
taton ¥xgage. Hiermit zu vergleichen ist auch der Satz Jer Chagiga p. 22b Zfhbm amfg xb jte (Bawli p. 15a: Zfhbm amfg xb xjjdp); das Wort Zfh ist wohl hier ganz so wie in Bereschit rabba 44 und in den zuletzt angefçhrten Såtzen Philos zu verstehen; die Erklårung Jols, Blicke I, 163, daû es bedeute: »bei den Chizonim, den Håretikern«, ist irrig.
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fçrchtet sie; wer çber sie emporsteigt, ins Ewige, fçrchtet sie nicht. Du kannst ein Prophet sein und brauchst kein Sterndeuter zu sein.« 25 Gotteserkenntnis und Astrologie, wie sie hier einander entgegengestellt werden, darin liegt, was die Geister damals bewegte. Keine Gelehrsamkeit hatte jener Zeit so sehr imponiert wie die astrono |mische in ihrer Verbindung mit dem astrologischen Fatalismus. Die alte Schicksalsidee, die hinter der Mythologie wohnte und allein auf die Dauer sie ertråglich machte, schien zum Range der Wissenschaft erhoben zu sein. Auch das, im Grunde so unmythische, jçdische Denken blieb davon nicht unberçhrt; wenn auch Abneigung und Zuneigung wechselten, der Eindruck war immer ein starker. In den apokryphischen und hellenistischen Schriften kænnen wir es verfolgen: die Vergangenheit der Astrologie wird in die biblische Geschichte hineingestellt; die Gottesmånner erscheinen bald als ihre Meister, bald als ihre Ûberwinder. 26 In der griechischen Kulturwelt hatte diese Schicksalswissenschaft in der Renaissance gesiegt, die die antike Religion damals erfuhr, und die ihr, die dem Ende schon nahe schien, noch fçr Generationen die Fortdauer schenkte. Der Schæpfer dieses neuen Lebens ist vor allem Poseidonios gewesen. Man kann die Bedeutung des Mannes nicht hoch genug einschåtzen. In ihm wurde dem griechischen Altertum noch einmal ein schwungvoller glåubiger Geist gegeben, der kçnstlerisch alles zu umfassen suchte, ein Poet des Kosmos, und zugleich ein Meister der Sprache, der mit eigenem Griffel schrieb. Sein Einfluû reicht weit und lange hin, auch in die jçdische Hellenistik hinein, und er hat ihn auch ganz unmittelbar und praktisch ausgeçbt, als Lehrer der ræmischen Aristokratie und Verteidiger ihres Staatsgedankens. Er hat, und dadurch ist er eine geistige Macht geworden, die das Fçr und Wider forderte, aus Altem und Neuem eine wissenschaftliche Religion aufgebaut, in der es dem Aufgeklårten gegeben sein sollte, daû er an die Gætter glauben kænnte. In die physikalische Theologie, die er hierfçr formte, hat er nun die Astrologie eingefçgt; die Gestirne wurden der mathematische Beweis fçr den Polytheismus. Fçr das Judentum war das eine verånderte und zudem eine gefåhrlichere Kampfeslinie. Das alte Heidentum und seinen Gætzen25.
2 Bereschit rabba a. a. O.; der letzte Satz stellt ein Stçck dar, das aus einer anderen Predigt çber das gleiche Thema angefçgt ist. 26.
1 Vgl. die von Schçrer, Geschichte des jçdischen Volkes II 3, 342, Anm. 36 und III 3, 358 f., sowie von Bousset, Religion des Judentums 2 S. 73 f. angefçhrten Stellen. Ûber die Anschauung der Gnosis und des Christentums siehe Bousset, Kyrios Christos 221 ff. und 405; vg. auch Kol 2, 8 und 20.
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dienst hatte man, je långer desto mehr, weit unter sich sehen kænnen; seine Gætter waren ein Eitles und Nichts, fçr das man den | Spott bereit hatte, den Jesaja gelehrt, und den noch die »Weisheit Salomos« nachgeahmt hat. Jetzt trat der Glaube an die Gætter im Zeichen der Wissenschaft auf, und dagegen reichte die Abwehr nicht mehr aus, die man gewohnt war; man brauchte andere Waffen und andere Richtungen des Streites. Der neue Kampf hat Jahrhunderte hindurch das Judentum erregt, und noch lange hin haben Narben und Spuren dargetan, daû ein Gegner çberwunden werden muûte, der auch den Sieger noch in seine Gedanken verfing. In diese Zeit fçhrt uns unsere Predigt hinein, die dem Menschen die Wahl stellt, den Astrologen oder den Propheten zu folgen. Abraham erscheint als der, der den Glauben an Gott gewonnen hat und damit çber die Sternenkreise erhoben ward. »In Israel hat kein Gestirn die Macht«, damit schlieût unsere Predigt, 27 und mit diesem Satze, der ein Grundsatz wurde, ist die astrologische Schicksalslehre prinzipiell abgelehnt. Das Bezeichnende ist, daû man ihr mit jenen Worten Platons begegnete. In seiner Philosophie erschien dem jçdischen Denken eben das verwandt, was uns hier entgegengetreten ist: der çber das Irdische hinausweisende Zug, die Verkçndung der Ideen als der ewigen Urbilder des wandelbaren Vergånglichen, dieser groûe Begriff des Gleichnisses. In einer Predigt aus dem vierten Jahrhundert finden wir einen Satz, der eine unmittelbare oder mittelbare Ûbertragung eines Wortes von Philon oder vielleicht auch von Plotin, dem Erneuerer der platonischen Philosophie, ist: »Das Abbild des ewigen Lichtes ist der | Weisheit ist die Torah.« 28 Hier spricht sich fast epi27.
1 Schabbat 156a: ek tmanu latujl lgm xjau xjjnm xnhfj tªªad ¼ latujl lgm xja tma xnhfj ªt latuj alf fvhj we emem wjfce fvhj jk fvhv la wjmue vfvfamf fdmlv la wjfce Ytd la ªd tma erfhe fvfa arfjf tmanu latujl lgm xjau xjjnm bt tma edfej bt tmad latujl lgm xja tbo bt Paf fjnql tma Yjpmm arj tua wa jk fal fl tma jvfa utfj jvjb xb pªªubt eªªbse jnql wetba tma latujl lgm xjau Ylu vfnjncirjam ar ejl tma xb djlfel jfat jnjaf jlu vfnjncirjab jvlkvon pªªubt.
Dieser Satz Raws bildet den Grundstock unserer Predigt; dies ergibt sich deutlich daraus, daû Jochanan, der Autor unserer Predigt, sich auf ihn beruft und hier denselben Satz des Jeremia, wie in der Version des Bereschit rabba, zum Belege anfçhrt. In unserer Predigt liegen uns also drei Schichten vor, die eine Rekonstruktion ermæglichen: 1. der Satz des Raw (Schabbat 156); 2. die Predigt des Jochanan (der mittlere Teil des Kapitels in Bereschit rabba); 3. die des Lewi (Anfangs- und Schluûsatz in Bereschit rabba); hierzu kommt dann noch der im Namen der »Lehrer« angefçgte Satz (siehe S. 149 Anm. 3), der vielleicht auch auf Raw zurçckzufçhren ist. 28.
1 Bereschit rabba 17, 5 (zu 2, 21) und 44, 17 (zu 15, 12): vflbfn uflu tma shrj tb annh ªt etfa vlbfn xjvtv dfp Pjofm xjba ªt vbu abe wlfpe vlbfn wflh eafbn vlbfn enju evjm vlbfn xe etfv xlpmlu emkh vlbfn emh lclc elpmlu. Vgl. Plotin, Enneade II 9, 4: t gr Íllo p½r
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Griechische und jçdische Predigt
grammatisch aus, warum man das Judentum platonisch fassen wollte. Nicht zum mindesten in der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen empfand man diese Gemeinsamkeit. Und auch hier bietet sich uns wieder ein Eigentçmliches dar, das uns den Gesichtskreis der Predigt erkennen låût. Die griechischen Bibelçbersetzer geben das »Ebenbild« mit »e§k
n« wieder. Dieses Wort ist in die hebråische Predigtsprache aufgenommen worden; sie benennt mit ihm den Menschen, und inmitten der hebråischen Såtze heiût er so ausdrçcklich mit griechischem Worte die e§k
n Gottes. 29 Das bedeutet nicht etwas Sprachliches | bloû, viel mehr etwas Religiæses; eine Betonung liegt darin, es ist wie eine feierliche Forderung, wie ein Einspruch gegençber anderem Glauben. In der damaligen relibeltwn e§kn to½ ¥ke¼ pur@ par t ¥nta½ja p½r; ¼ Íllo@ d Álio@ met3 ¥ke¼non pr totou to½ ¡rwmnou t@; diese Lehre vom »hæheren Lichte« als dem Urbilde der Sonne ist ausfçhrlich von Philo behandelt worden; siehe de opificio mundi, I 6f. M. I 9 C.W. ywt@, Ê plin ¤s
maton án ka nohtn lou pardeigma ¼ t d ¤raton ka nohtn y¾@ ¥ke¼no jeou lgou ggonen e§kn to½ diermhnesanto@ tn gnhsin a©to½. Ebenso ebendort I 12 M. I 18 C.W.: pr@ d tn to½ nohto½ ywt@ §dan ¥kenhn ¤pid
n, È llektai kat tn ¤s
maton ksmon, ¥dhmiorgei to@ a§sjhto@ ¤stra@. Vgl. auch den Gebrauch von y¾@, ywtzein, ywtism@ in den Mysterienliturgien (vgl. Reitzenstein, Hellenistische Mysterienreligionen 72 f., 106 und passim); ebenso Klemens, Protrept. XI 114: y¾@ ¼ ¥x o©rano½ ¼ lou kajar
teron. ± Vgl. auch das bekannte Wort, in der ersten Predigt von Bereschit rabba, das die Torah, umgekehrt, nicht als Abbild, sondern als Urbild hinstellt: etfvb ijbm eªªbse eje Yk wlfpe atfbf. Eine andere Version dieses Satzes gibt Bachja ben Ascher als Midraschzitat in seinem Pentateuchkommentar zu Gen I, 26: lªªgtl dha tmam fnjrm elpm lu ajlmqb lkvomu dp tbd eufp eªªbse xja tmau afef eg lp vrs etfm. Zu dieser elpm lu ajlmq, als Bezeichnung der Ideenwelt ± siehe hierçber Plato, Timaeus p. 37 ± vgl. Berachot 17a, Ssanhedrin 67b und 99b; auch in diesen Såtzen erscheint die sichtbare Welt als Abbild der unsichtbaren. 29.
2 Siehe Midrasch Tehillim zu 17, 7: lu ajnfsja Ytdb Ylfe wdau epub jfl xb pufej ªt tma eªªbse lu xjnfsjal wfsm fnv wjtmfaf xjgjtkmf fjnql xjklem wjkalm. Fçr das schwer verståndliche wjkalm lu ajnfsja ist, entsprechend den bald danach folgenden Worten ftmul fmp xjarfj vfnfjcle, zu lesen wjkalm lu vfnfjcl; åhnlich Midrasch zu Ps 5, 5. Zu vergleichen ist auch die Ûbersetzung des Symmachus, der Gen 1, 26 wiedergibt mit: poiswmen Ínjrwpon £@ e§kna m¾n, wåhrend die anderen griechischen Ûbersetzer dafçr ¥n e§kni beziehungsweise kat3 e§kna haben. Interessant ist, daû das jerusalemische Targum das Wort e§k
n (xjnfsja) nur fçr das Bild und die Gestalt eines Menschen gebraucht ± siehe zum Beispiel zu Gen 5, 3 ± da gegen das gættliche Urbild mit dem Worte xsfjd = dekhlon bezeichnet, so zu Gen 1, 26; 5, 1; 9, 6; Deut 21, 23, ebenso das Targum zu Ps 39, 7; åhnlich auch im Talmud Chullin 91b (nach der richtigen Lesart des Aruch): xjlkvomf xjlfp anv eim lu fnsfjd vfmdb xjlkvomf xjdtfjf elpm lu fnsfjdb; hier wird also das ewige Urbild, die Idee, als xsfjd = dekhlon und das irdische Abbild als xsfjd vfmd bezeichnet. Ebenso Bawa batra 58 a: lkvov la emrp jnsfjdb jnsfjd vfmdb vlkvon etmaf lfs vb evrj.
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giæsen Sprache des Griechentums bezeichnete nåmlich e§k
n ein Exklusives. Nicht jeder Mensch war hier gættliches Ebenbild, sondern nur der Auserkorene war es, der zu den Gættern erhoben sein sollte. Das Wort gehærte der Sprache des Herrscher- und Heroenkultus an, der die griechisch-ræmische Welt ergriffen hatte. So wird in der berçhmten Inschrift von Rosette, deren Dreisprachigkeit die Entzifferung ågyptischer Schrift ermæglichte, der Kænig Ptolemåus als »lebende e§k
n des Zeus« gepriesen. 30 Die Sprache dieses Kults ist dann in die christliche Rede vom Heiland çbergegangen, und mit den anderen Prådikaten des Herrschers wird denn auch dieses, die gættliche e§k
n, dem Gottmenschen, dem Christos, beigelegt. 31 Vergegenwårtigt man sich diesen Akzent, den das Wort so besaû, dann gewinnt es eine besondere Bedeutung, daû mit ihm, in seiner griechischen Form, von der jçdischen Predigt der Mensch benannt wird. Der Mensch erhålt das Prådikat, das dort nur dem Auserwåhltesten, sei es der Kaiser, sei es der Gottmensch, zugesprochen wird; der Mensch ist die e§k
n Gottes. So wird dem Glauben des Judentums sein Recht gesichert. 32 Aber dies alles soll hier nur die Beispiele dafçr geben, wie die jçdische Predigt damals auf dem Wahlfelde der Gedanken war. Man versteht sie erst, wenn man den Kampf kennt, der sie nach hierhin und dorthin gefçhrt hat. Man begreift dann auch ihren Stil; er ist so unrhetorisch, weil sich in ihm die ringende Selbstbehauptung ausspricht, die immer wieder sich dartun muû. Darum hat er seine suchende Rastlosigkeit, die oft wie eine Unstetheit, fast wie Zerfahrenheit anmutet; man wollte der Wahrheit immer | neu gewiû werden und immer wieder andere Straûen in der alten Offenbarung entdekken, Pfade, die zur Gegenwart hinfçhren. So wie damals ist es spåterhin geblieben, wenn auch in manchen Zeiten der Enge sich das Suchen oft im Kreise bewegt hat und zur Spielerei geworden ist. Aber man hat doch immer wieder den Weg in die Weite gefunden, um gegençber jedem neuen Tage das geistige Daseinsrecht zu erweisen. So ist es çberhaupt die hervortretende Eigenart. In der Ruhe des Gedankens hat das Judentum selten gewohnt; dazu fehlte das fertige Glaubenssystem, das genug hat, wenn es bewiesen und verkçndet wird. Man hat stets mehr nach der Religionsphilosophie als nach der Dogmatik gestrebt; die Prinzipien waren wichtiger als die Ergeb30.
1 Dittenberger, Orientis gr. inscr. No. 90 (im Auszug bei Wendland a. a. O. S. 406 ff.): e§kno@ z
sh@ to½ Di@. 31.
2 Siehe II Kor 4, 4; Kol 1, 15; vgl. auch Ræmer 8, 29. 32.
3 Vgl. die zahlreichen Gleichnisse des Midrasch von »Gott, dem Kænige, und seinem Sohne«, die die gleiche Tendenz haben.
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Griechische und jçdische Predigt
nisse. Gegen den Ausdruck konnte man duldsam und fast gleichgçltig sein, weil man des Grundsatzes stets gewiû blieb; er stand immer fest. Hatte man auch nicht das Besitzesgefçhl der Macht, das der Erfolg gibt, so hatte man dafçr das Eigentumsbewuûtsein der Ûberzeugung. Hiermit ist, um auch das hier noch zu sagen, zugleich die Aufgabe der Gegenwart philosophisch wie historisch bestimmt. Es klingt wie ein Selbstverståndliches, daû einer die Religion, die er predigen will, auch kennen muû; es wåre wenigstens gut, wenn es selbstverståndlich wåre. Nicht um ein Kennen im Sinne des Angeeigneten handelt es sich ± jeder ehrliche Prediger erfåhrt es an sich, daû er lehrend lernt, daû er zu sich vor allem redet. Gemeint ist ein Kennen im Sinne des stetigen Suchens, in welchem man nie sich fertig dçnkt. Die Predigt hat die Erfassung des Judentums zu ihrer ersten Aufgabe. Auch hier muû vor der Technik die Wissenschaft stehen. Aber eben das ist håufig, man darf sich darçber nicht tåuschen, der Mangel der jçdischen Predigt, daû sie zu wenig aus der Vertiefung in das Judentum hervorgeht. Ihre Wurzeln sind oft zu dçnn, sie liegen in einer Oberflåche, in der hergebrachten oder angeschwemmten Redensart, der von gestern oder von heute, und in dem verbrauchten, entkråfteten Empfindungsklang. Man hat die geçbte Phrase, die man spricht, bis man schlieûlich an sie glaubt, und dem Gedankenlosen, da er auch feierlich sein mæchte, bleibt als die letzte, gern bereitete, Zuflucht die herbeigeholte Rçhrung, die mit dem Wimmern der rhetorischen Schelle die | Trånen wachrufen will. Corruptio optimi pessima, sagte der Lateiner. In der Sprache des Judentums heiût es gebietender: »Ihr sollt meinen heiligen Namen nicht entweihen!« Die Wçrde der Religion ist dem Prediger anvertraut; das Bewuûtsein hiervon sollte ihm das Gewissen schårfen. Er sollte nicht vergessen, daû er von der Heiligen Schrift herkommt. Das Amt erhålt die Seele erst durch das Gebot, und dieses spricht nicht davon, gefallen zu sollen, sondern zu belehren und emporzuheben. Hierzu gehært allerdings wie ein gerader Verstand so ein gerader Charakter; nur ein Mensch, der innerlich frei wird, kann predigen. Es so zu erfçllen, ist keine leichte Aufgabe. Bequemer ist es, hinunterzusteigen, um dann, im Gesetze der Schwerkraft, stetig abwårts gefçhrt zu werden. Wohl kænnen zu jedem von uns Augenblicke der Verdrossenheit kommen, in denen Trågheit und Selbstsucht ihren Rat geben und vielleicht auch »die Menschen« ein gleiches sagen. Aber dann mag ein jeder einer Mahnung gedenk sein, wie sie in der »Divina Commedia« Virgil zu Dante spricht, als dieser ermçden will und auf die Menschen hæren mæchte: »Vien' dietro a me, e lascia dir le gente« 163
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Der Midrasch
»Komm mir nach, und laû die Menschen reden!« Und es ist doch wohl auch ein Glçck, das manches lohnt, vor sich Achtung haben zu dçrfen und das Wort respektieren zu kænnen, das man der Gemeinde geben will. Auch die Geschichte der jçdischen Predigt zeigt, wie man dem Eigenen und Besten des Judentums treu bleibt. Predigen heiût »lernen und lehren«.
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Die Frage ist, besonders in der Zeit der Debatten çber die »Christusmythe«, oft gestellt worden, ob wir aus dem talmudischen Schrifttum etwas Entscheidendes çber Entstehung und Geschichte des Christentums erfahren. Bekanntlich ist das Historische im Talmud das verhåltnismåûig Seltene; es braucht nur daran erinnert zu werden, wie wenig, wie fast nichts wir çber den geschichtlichen Hintergrund des Chanukkafestes und çber die Epoche, an deren Beginn es steht, also çber einen der bedeutungsvollsten Abschnitte der jçdischen Geschichte, wçûten, wenn unsere Kenntnis auf das beschrånkt wåre, was der Talmud berichtet. Es kann darum nicht als ein Beweis gegen die Geschichtlichkeit einer Gestalt verwendet werden, wenn darauf hingewiesen wird, daû der Talmud von ihr nicht erzåhlt, obwohl ihr doch im jçdischen Volke der talmudischen Zeit ihr Platz zugehæren mçûte. Aber immerhin enthålt der Talmud an geschichtlichem Stoffe mehr, als er auf den ersten Blick zu besitzen schien. Es ist die groûe Entdeckerleistung der Månner, welche im vorigen Jahrhundert die Geschichtslinien der talmudischen Periode darlegten, daû sie dieses im Talmud verborgene historische Material hervorholten. Sie haben auch manches, was der Talmud çber das Christentum zu sagen scheint, beigebracht. Jedoch auch das ist ein Geringes. So zahlreich und mannigfaltig sich die Quellen und Parallelen zu fast allem in den synoptischen Evangelien und zu so manchem in den paulinischen Briefen darbieten, so weniges von dem, was doch einmal einen Teil der Geschichte des palåstinensischen Judentums ausgemacht haben muû, von dem geistigen Kampf gegen das vordringende Christentum hat bisher aufgezeigt werden kænnen. Wie immer man sich zu den einzelnen Fragen der Anfånge des Christentums stellen mag, das steht doch fest, daû vom 2. Jahrhundert ab eine 165
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christliche Kirche da ist | und daû sie gegen das Judentum auftritt. 1 Und daû die palåstinensischen Schulen diesem Angriff, der mit einer Fçlle von Geist und mit einer bezeichnenden Beherrschung der Methoden der haggadistischen Schriftdeutung gefçhrt worden ist, 2 nicht auswichen, darf wohl kaum bezweifelt werden. Die jçdische Predigt von damals, wenn sie nur von dem rechten Standpunkte aus betrachtet wird, beståtigt es auch in der Tat. Wir besitzen aus jener Zeit, in der das siegreiche Christentum und das Judentum auf dem Boden Palåstinas zusammentrafen, eine nicht geringe Zahl von Predigten, deren deutliches Thema die Polemik gegen den christologischen Gedanken ist und deren eigentlicher Sinn erst dadurch hervortritt, daû dieses ihr Thema erfaût wird. Allerdings ist es, um diese Erkenntnis zu gewinnen, vorerst erforderlich, die Meinung bei Seite zu stellen, die durch den Terminus Peticha nahegebracht worden war 3 und die noch zuletzt ihre Stçtze in der Autoritåt Bachers gefunden hatte, 4 daû nåmlich in unseren Homilienmidraschim nicht sowohl Predigten als vielmehr nur Proæmien zu Predigten gesammelt seien. Ist dies der Ausgangspunkt, dann kann sich die Betrachtung im wesentlichen nur auf das Formelle richten, auf die Introduktions- und Schluûformeln, auf die Bestandteile und den Bau des Proæmiums, und als das Wesentliche, als der »Kern« der Peticha erscheint dann die Auslegung des Proæmialtextes und die ihr dienende Anknçpfung desselben an den Perikopentext. Was sich hier ergibt, ist in umfassender Weise vor allem von Theodor und Bacher aufgezeigt worden. Aber die Frage, welche die entscheidende sein mçûte, ob die Textauslegung denn wirklich Selbstzweck sei oder nicht vielmehr bloû Mittel zum Zweck, zu dem Zwecke der Behandlung eines Themas, und dieses zu findende Thema der eigentliche Inhalt, | der »Kern« der Peticha sei, ob die sogenannte Peticha also in Wahrheit nur eine Einleitung bedeute und nicht vielmehr eine Predigt, diese Frage blieb unerærtert. 5 Die Theorie vom bloûen Proæmium bestimmte von vornherein das Urteil. Eines schon håtte gegen sie bedenklich machen mçssen: die Tat1. 2.
S. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums, S. 46 ff. Vgl. Weiû, fjutfdf tfd tfd III (Ausgabe 1924) p. 123 ff.; Gçdemann, Religionsgeschichtliche Studien 99 ff.; L. Ginsberg in Monatsschr. fçr Geschichte u. Wissensch. des Judentums 1897 S. 156 ff. Vgl. den Aufsatz »Der alte Widerspruch gegen die Haggada«, S. 180 ff. 3.
3 Vgl. Theodor in MGWJ 1879, 168 ff.; Lerner in Magazin fçr die Wissenschaft des Judentums 1880, 157 ff. und 1881, 30 ff.; Maybaum, Die åltesten Phasen in der Entwicklung der jçdischen Predigt, 9f. und 14 ff. 4.
4 Bacher, Die Proæmien der alten jçdischen Homilie 1ff. und 26 ff. 5.
1 Die Peticha war als »perikopische Homilie« aufgefaût worden von Ph. Bloch
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sache, daû die alte Sammlung unserer Homilienmidraschim auf dieselbe Schule, die Schule von Tiberias, zurçckgeht, 6 aus welcher der jerusalemische Talmud stammt; bereits in der Håufigkeit und der Art der Wiederholungen 7 zeigt sich çbrigens diese Gleichheit. Es ist doch kaum anzunehmen, daû die Schule, die als Sammlerin der Halacha immer, bei aller Kçrze und aller Beschrånkung auf Hinweise oder Andeutungen, doch ein logisches Ganzes bot, sich in der Sammlung der Predigten mit der bloûen Feststellung der Einleitungen begnçgt haben sollte. Die Behauptung, daû dies deshalb der Fall wåre, weil das Proæmium allein das Wechselnde und die Ausfçhrung der eigentlichen Predigt ein Stereotypes gewesen sei, 8 låût sich wohl kaum halten. Schon deshalb nicht, weil die Voraussetzung, von der sie ausgeht, daû uns nur Proæmien erhalten sind, es ausschlæsse, daû wir etwas von der Beschaffenheit der Predigten wçûten. Auch ein weiterer Vergleich zwischen der halachischen und der haggadischen Ûberlieferung kann gegen jene Theorie sprechen. Es låût sich nåmlich nicht verkennen, daû wir eine besondere Form zunåchst der Ûberlieferung der tannaitischen Haggadot haben. Sie zeigt, so wie sie auûer in den tannaitischen Midraschim und den Awot 9 uns auch in den Zitaten der anderen, spåteren Midraschim vorliegt, deutlich die Form der Mischna und der Baraita. Sie gibt, entsprechend dem einfachen halachischen Ausspruch beziehungsweise dem kurzen halachischen Midrasch, den einfachen haggadischen Satz, die kurze haggadische Schriftdeu | tung, ganz wie dort bald unter Nennung des Autors, bald anonym; sie hat auch gelegentlich, wie die Mischna, eine Zusammenfassung von Såtzen in einer Zahlengruppe. 10 Neben ihr steht in ganz anderer Form, entsprechend der Gemara des Talmud, die amoråische Haggada. Sie gibt nicht den einfachen Satz eines Lehrers, sondern sie enthålt die Erærterung einer Frage, also eine Predigt, und zwar in der Form, wie sie sich nach ålterem Vorbild vor allem in der Schule Jochanans ausbildete, das heiût unter Zusammenstellung von Texten aus den drei oder aus in MGWJ 1885, 260 ff.; er war auf die Frage des Themas jedoch nicht eingegangen. 6.
2 Vgl. Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer III, 502 ff. 7.
3 Ûber die Wiederholungen im Jeruschalmi vgl. Jewish Encyclopaedia 12, 6 f., çber die in den Midraschim braucht nur auf die Anmerkungen in den Ausgaben von Buber, Friedmann und Theodor hingewiesen zu werden. 8.
4 Maybaum, a. a. O. 35 f. 9.
5 Die Awot de-Rabbi Natan sind am besten als haggadische Gemara zu dem Traktat Awot, dieser haggadischen Mischna, zu charakterisieren. 10.
1 Vgl. auûer den Beispielen im Traktate Awot als ein charakteristisches Beispiel Schir ha-schirim rabba, Einleitung § 10.
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zwei Hauptteilen der Bibel, von denen der eine durch den anderen seine Erklårung finden soll. 11 Sie setzt sich dabei oft, wie die Gemara mit der Mischna, so mit haggadischen Aussprçchen der Tannaiten, also, wenn dieses Wort gebildet werden darf, mit der haggadischen Mischna, oder auch, wieder entsprechend der Gemara, mit haggadischen Såtzen von Amoråern auseinander. Nur durch diese Scheidung zwischen haggadischer Mischna und haggadischer Gemara kann ein klares Bild von der Ûberlieferung der alten Predigt gewonnen werden. Zu diesem Ergebnis, daû uns nicht bloûe Proæmien erhalten sind, daû sie vielmehr ganze Predigten darstellen, fçhrt auch das richtige Verståndnis der Termini hvq und ahjvq, wie es sich aus dem jeweiligen Zusammenhange deutlich erschlieût. Alle wesentlichen Stellen, welche fçr die Erklårung dieser Termini in Betracht kommen, sind von Bacher gesammelt worden. 12 Aber die Ûbersetzung, die er bietet, nach der ahjvq, »das Proæmium« bedeute und hvq: »einen Vortrag mit einem Proæmium eræffnen«, ergibt çberall ein Erzwungenes, 13 wåhrend die Ûbersetzung »Predigt« und »predigen« | durchgångig den natçrlichen klaren Sinn gewåhrt. Die sprachliche Entwicklung fçhrt ebenso dazu hin. Die ursprçngliche verbale Form ist nåmlich hvq utdf oder auch tmaf hvq, wobei es schwer festzustellen sein wird, was anfånglich als Objekt zu dem Verbum hvq gehært hat. Aus allen Stellen ist ersichtlich, daû diese beiden Verben utdf hvq beziehungsweise tmaf eine feststehende Wortverbindung mit der Bedeutung »predigen« bilden. Aus dieser Wortverbindung fiel dann spåter das utdf beziehungsweise tmaf fort, und es blieb der verkçrzte Ausdruck hvq mit der gleichen Bedeutung »predigen«, so daû z. B. fçr die Pre11.
2 Vgl. Bacher, Proæmien, 11 ff. und 15 ff. 12.
3 Bacher, a. a. O., 26 ff. 13.
4 Als Beispiele seien genannt Awot de-Rabbi Natan VI, 7: xbt fjnjp xvn wfj fvfa
dmp wjdjmlve fefshdf fjlp shd hfvql lfkj jnja lªªa uftdf hvq fl tmaf tgpjla jbtb jakg xb xnhfj wlfpm xga xvpmu alu wjtbdb utdf hvqf. Berachot 63b: hvq futdf ajnoka dfkkb wlfk fhvq ªkf utdf etfv dfbkb ¼ edfej ªt. In der Parallelstelle Schir ha-schirim rabba zu 2, 5 5 heiût es: ªkf utdf edjej ªt onkn. Eruwin 64a: tmaf dh hvq. Jer. Maaûer scheni 56c: eb hvq jgq tb edfj ªt. Ssota 2a: jke tma eifob lªªt hvq efe jk. Megilla 13a: efe jk jke tma wjmje jtbdb hvq. Ssanhedrin 68a: tmaf etfub fjlp hvq. Echa rabbati zu 1, 9: tmaf hvqf lap ¼ jflp hvqmf lpjml jpb ± s. jedoch auch die Lesart in der ed. Buber ±. Vgl. auch den von Bacher, a. a. O. 28 n. 6 aus den wjnd jsflh ed. Finkelscherer ±
Festschrift fçr Israel Lewy, p. 256, vgl. jedoch auch die Variante ± angefçhrten Satz: dpfmb xjhvfq xja lbb jnb dpfmb vme fnql xjhvfq latuj Zta jnb. Ûberall hier ist die Ûbersetzung »mit einem Proæmium eræffnen« fast etwas Unmægliches, wåhrend sich die Bedeutung »predigen« als eine selbstverståndliche einstellt; ganz besonders die letzten Såtze, die von Reden an der Totenbahre handeln, zeigen es.
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digt an der Totenbahre bald hvq, bald tiqa beziehungsweise tjiqe 14 vorkommt. Als diese Verkçrzung çblicher Sprachgebrauch geworden war, konnte das Substantiv ehjvq beziehungsweise ahjvq fçr »Predigt« gebraucht werden; es konnte auch als Objekt zu dem Verbum hvq oder auch zu dbp treten. 15 Aber vor allem spricht doch gegen jene Annahme, daû unsere Homilienmidraschim bloû Proæmien enthielten, die Tatsache, daû, wenn wir nur einmal von jenem Vorurteil abgehen, wir die Predigten entdecken, das heiût, daû wir in jeder sogenannten Peticha ein bestimmtes Thema feststellen kænnen, zu dessen Darlegung die Predigt gehalten worden ist, und daû dadurch erst alles seinen Zusammenhang und seine Bedeutung gewinnt. Diese Feststellung des Themas wird so auch das heuristische Prinzip, um Teile, die in der handschriftlichen Ûberlieferung von einander getrennt sind, als zu einem Ganzen gehærig zu erkennen. Sie gibt der Predigt auch erst ihre Pointe; es tritt nun hervor, mit wem die Predigt sich auseinandersetzt oder gegen wen sie gerichtet ist. Denn wohl nur verhåltnismåûig selten ist die Predigt damals bloû aus der Lust am Deuten oder am Fabulieren hervorgegangen. In jener Zeit des Glaubensringens ist sie zumeist Ausdruck eines Gebotes des | geistigen Kampfes gewesen, welchen die alten Lehrer in Verteidigung und Angriff gegen andrångende, bedrohende Gedanken fçhren muûten. Erst dadurch, daû dies erkannt wird, gewinnt die jçdische Predigt der talmudischen Zeit ihre religionsgeschichtliche Stellung und wird auch das Niveau sichtbar, das sie besaû. An zwei Predigten zunåchst, je einer aus dem dritten und aus dem 4. Jahrhundert, soll dies im folgenden erwiesen werden. Sie sollen zugleich ein Beispiel dafçr bieten, in welcher Weise die jçdische Predigt damals dem Christentum gegençbertrat. Als erstes Beispiel diene die Predigt des Hoschaja rabba, die den Beginn des Bereschit rabba bildet und vielleicht dem Buche diesen seinen Namen gegeben hat. Einzelnes in ihr, die charakteristische Einwirkung griechischer philosophischer Gedanken, ist bereits von Freudenthal und nach ihm von Joel 16 herausgehoben worden. Aber
14.
1 Vgl. Bacher, Terminologie II, 155. 15.
2 Diese Verbindung ¼ ªl ahvq dbp und ¼ ªl ahvq hvq hat dann wohl die Bedeutung: »als Predigttext nehmen fçr ¼«; sie wird mit Bezug auf den çblichen zweiten Text, den aus den Propheten oder Hagiographen, gebraucht, der den pentateuchischen Text erlåutern oder erklåren soll. Vgl. besonders Megilla 10b und 11a. 16.
1 Freudenthal, Hellenistische Studien I, 73. Joel, Blicke in die Religions-
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das, was den eigentlichen Gedankengehalt dieser Predigt bildet, ist bisher unbeachtet geblieben. Ihr Inhalt ist leicht darzulegen. Der eigentliche Text, der erste Satz der Genesis, soll seine Erklårung erhalten durch Sprçche 8, 22 und 30. Die Frage, fçr welche diese Erklårung die Antwort bringen soll, ist: Wer ist der vjuat, durch den ± denn so faût der Prediger das erste Wort der Bibel auf ± Gott den Himmel und die Erde geschaffen hat, dieser vjuat, von dem die Geschichte der Schæpfung erzåhlt und als den dann, in dem Buche der Sprçche, sich die Chochma bezeichnet? Diesen vjuat, das ist die erklårende Antwort, låût das Buch der Sprçche von sich sagen, daû er als xfma zu Anbeginn bei Gott gewesen ist. Die Frage, von deren Beantwortung das Entscheidende abhångt, ist daher die, was dieses Wort xfma bedeute. Es kænnte mancherlei benennen: den Erzieher oder auch den Verborgenen oder den Aufbewahrten, nach der Ansicht einiger 17 auch den Groûen, und fçr alle diese Auffassungen kænnte ein Beweis von Worten der Schrift beigebracht werden. Aber die richtige, die erst beantwortende Erklårung ist, 18 | daû xfma dasselbe wie xmfa ist, also den Kçnstler, den Meister bezeichnet. Der Meister, der Kçnstler ist bei Gott gewesen, als diesen Kçnstler 19 rçhmt sich die Chochma, sie, die Gott zum »vjuat seines Weges« gemacht hat. Und sie ist keine andere als die Torah; denn auch diese nennt sich den vjuat, ihr erstes Wort ist: »Durch mich, den vjuat, 20 hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen.« Sie ist die Chochma, 21 der xfma des Buches der Sprçche. Sie darf sagen: Ich bin bei Gott der Kçnstler gewesen, das Werkzeug 22 der geschichte I, 117. Vgl. auch Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer I, 107 n. 2. 17.
2 Dieses ªkf jtmad vjaf ist wohl aber nur eine Einfçgung des Redaktors. 18.
3 Die Worte tha tbd sind eine Interpolation. Mit dem ihnen folgenden Satze beginnt die eigentliche Antwort, welche Hoschaja gibt. Vgl. Tanchuma zu Gen 11 § 1 xmfa ala xfma jtsv la, sowie Tanchuma ed. Buber § 5. Vgl. auch die Anmerkung Theodors z. St. 19.
1 Vgl. Sapientia Salomonis 7, 21, wo die Chochma als tecn¼ti@ bezeichnet wird, ebenso ibid. 8, 5. 20.
2 vjuatb ist genommen als: vjuat jb, vgl. die handschriftliche Ûberlieferung in den Varianten der Theodorschen Ausgabe. 21.
3 Ûber die Identifikation von Chochma und Torah vgl. Sirach 24, 8-11 und 23; I Baruch 3, 38 ff.; Awot VI, 10. Vgl. auch Bereschit rabba zu 2, 21: emkh vlbfn etfv xlpm lu, wozu wieder zu vergleichen ist Sapientia Salomonis 7, 26, wo von der Chochma gesagt ist: ¤pagasma gr ¥sti ywt@ ¤idou; vgl. auch die in »Griechische und jçdische Predigt« S. 151 Anm. 2 angefçhrten Beispiele. Vgl. auch Jalkut zu Proverbia 3, 19: va afe Yftb ufdse atb emkhb lªªbut wub tgpla ªt tma wlfpe, sowie Bereschit rabba I, 5. Zu dem Gesamtproblem siehe »Die Pharisåer« S. 257 ff. 22.
4 Dieses Wort fvnmfa jlk erhålt seine Erklårung durch eine, hierfçr bisher noch
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Kunst Gottes. Ein Gleichnis, das von Philo 23 herstammt, wird zur Erlåuterung dessen angefçhrt: Wenn ein Kænig einen Palast baut, so baut er ihn nach den Gedanken eines Meisters und der Meister nach den Plånen, durch die er vorher alles bedacht hat, durch die Plåne baut er also den Palast; so »hat Gott auf die Torah geblickt und die Welt geschaffen«. 24 Die Torah allein ist der vjuat der Schæpfung. Die Inhaltsangabe zeigt schon, daû hier nicht der Inhalt eines Proæmiums, sondern einer Predigt vorliegt. Aber noch deutlicher tritt dies hervor, wenn das Thema genauer betrachtet wird. Das Thema ist die Frage, wer der vjuat, die ¤rc ist, oder wie in der Sprache der Zeit auch gesagt werden kann, wer die Chochma, der | Logos 25 ist. Diese Frage war damals eine entscheidende, an ihr schieden sich Christentum und Judentum. Daû die Welt von Gott durch die Chochma, durch den Logos geschaffen worden ist, darin stimmten damals mit dem Christentum, wie schon unsere Predigt zeigt, auch Ansichten im Judentum çberein. Fçr beide bot diese Lehre die Mæglichkeit, das kosmologische Problem mit dem alten jçdischen Gottesglauben zu verbinden; nur dadurch konnte auch die Philosophie ± alle Religionsphilosophie der hellenistischen Zeit ging von der kosmologischen Frage aus ± ihren Platz in der Begrçndung der Religion erhalten. Um es mit einem treffenden Worte Harnacks zu sagen: »Die Formel vom Logos legitimierte die Spekulation ¼ innerhalb des kirchlichen Glaubens«. 26 Vom Judentum kann ein Øhnliches gesagt werden. Wenn die Religion ihre kosmische Bedeutung haben sollte, so konnte sie auch hier, zumal fçr die griechisch Gebildeten, nicht dieser Lehre entraten. Bezeichnend dafçr ist schon das eine, daû das Fragmententargum, welches doch sehr altes Traditionsgut enthålt, die Worte atb vjuatb mit atb amkfhb 27 wiedergibt. Aber die Frage, von der dann alles abhing, war nun die, wer dieser vjuat, wer diese Chochma, dieser Logos ist. nicht beachtete, Stelle bei Philo de cherubim § 125. Dort wird aufgezåhlt: t ¢y3 oÞ, t ¥x oÞ, t d§ oÞ, t d§ Ê, das alles also, wodurch etwas wird, und dann weiter gesagt: d§ oÞ d t ¥rgale¼on ¼ Ñrganon d lgo@ jeo½ d§ oÞ kateskeusjh. Diesem letzteren Satz entspricht genau in unserer Predigt etfve .eªªbse lu fvnmfa jlk jvjje jna vtmfa 23.
5 Philo, de opificio mundi § 18, sowie de cherubim § 125. 24.
6 Vgl. auch Bereschit rabba zu 1, 3 fmlfp atbf eªªbse sopvn fbu vjuatb tqo. Die Erklårung Theodors zur Stelle ist wohl kaum richtig. Vgl. auch Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer II, 453 f. 25.
1 Der stoische Logos erscheint in der Sapientia Salomonis als die Chochma, sieht dort 7, 24. 26.
2 Harnack, Dogmengeschichte I 4, 698. 27.
3 Vgl. mit Bezug auf die Schæpfung des Menschen Sap 9, 2: ka t±» soy°a sou
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Fçr das Christentum war, als es kosmische Theologie auch sein wollte, die selbstverståndliche Antwort, daû der Christus der Logos, die Chochma ist. So sagt schon der erste Brief an die Korinther von dem Christus, daû »durch ihn alle die Dinge geworden sind«, 28 so dann der Brief an die Hebråer, daû »durch ihn Gott das Weltall geschaffen hat«, 29 so der Brief an die Kolosser, daû »das All geschaffen worden ist in ihm ¼ durch ihn und auf ihn hin«, 30 so nennt ihn die Apokalypse den vjuat, »die ¤rc der Schæpfung Gottes«, 31 und dieser Satz gewinnt vielleicht durch | unsere Predigt seine richtige Erklårung, 32 so erscheint er im Prolog des Johannesevangeliums 33 als der, der »im Anfang war« und »durch den alles geworden ist«. So konnte, wie Hieronymus an einer bekannten Stelle berichtet, der Schæpfungssatz erklårt und çbertragen werden: »Im Sohne schuf Gott Himmel und Erde« 34 oder, wie eine andere alte kirchliche Schrift es faût: »Im Anfang«, das will sagen: »in der Vermittelung des Christus und nach seinem Willen«. 35 Diese Lehre, daû der Christus der vjuat sei, war fçr das Judentum eine bedrohliche. Sie war es um so mehr, als sie in der Zeit, der unsere Predigt entstammt, durch den bedeutendsten Theologen der alten Kirche, durch Origenes, auf dem Boden Palåstinas neu gestaltet wurde. Und gewissermaûen auch auf einem jçdischen Boden; denn kateskeasa@ Ínjrwpon. Ebenso II. Henoch (Rec. A.) 30, 8. Vgl. auch LXX zu Prov. 8, 2: krio@ ¥ktis me ¼ e§@ Îrga a©to½. 28.
4 I Kor 8, 6. In bezug auf Christus ist hier gesagt: d§ oÞ t pnta, mit Bezug auf Gott ¥x oÞ t pnta. 29.
5 Hebr 1, 2: di 3 oÞ ka to@ a§¾na@ ¥pohsen. Cf. ibid. 1, 10. 30.
6 Kol. 1, 15 f.: ¥n a©t²¾ ¼ di 3 a©to½ ka e§@ a©tn. Zu diesen verschiedenen Pråpositionen vgl. Seneca ep. 65, Plut. de def. orac. 48, Philo, de prov. 23. 31.
7 Apokalypse 3, 14: ¤rc t»@ ktsew@ to½ jeo½. 32.
1 Die Worte ibid. ¡ ¤mn, ¡ mrtu@ ¡ pist@ ka ¤lhjin@ haben bisher keine befriedigende Erklårung finden kænnen. Die Vermutung liegt nahe, daû das Wort ¤mn nicht nur die Wiedergabe von xma Jes 65, 16 sondern auch von xfma sein soll, von dem ja gesagt wird, daû er ¤rc t»@ ktsew@ ist. Die Vermutung wird auch dadurch nahegebracht, daû der ¤mn genannt wird: ¡ mrtu@ ¡ pist@ ka ¤lhjin@; dies kænnte dem Targum entsprechen; denn dieses gibt xfma wieder mit: avnmjem. 33.
2 Ev. Joh 1, 1 und 3. 34.
3 Hieron. quaest. hebr. in Gen. p. 3. Vgl. Harnack, Dogmengeschichte I 4, 213 Anm. 35.
4 Harnack, Texte und Untersuchungen III, 18: in principio ¼ hoc est in Christi arbitrio et ad ejus voluntatem. Vgl. L. Ginzberg in MGWJ 1898, 539. Arbitrium hat die Bedeutung »Vermittlung«, siehe zum Beispiel Assumptio Mosis I: ab initio orbis terrarum praeparatus sum, ut sim arbiter testamenti illius. Die Worte »arbiter testamenti« entsprechen den Worten im Hebråerbrief 8, 1, 9, 15 und 12, 24: diajkh@ mesth@.
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mit den Mitteln der Philosophie Philos 36 hat Origenes seine Glaubenswissenschaft auszubauen gesucht, und auch ihm war alle Theologie zugleich Exegese der Bibel, 37 deren hebråischen Text er beherrschte. Råumlich trat er zu der jçdischen Forschung in unmittelbarste Nåhe. In Cåsarea, wo auch der Sitz des Metropoliten von Palåstina und Syrien war, 38 hatte er seine Schule, eben dort also, wo der Tannait Bar Kappara sein Lehrhaus gegrçndet hatte und wo jetzt auch sein Schçler Hoschaja, der Autor unserer Predigt, lehrte. Nebeneinander waren sie dort, der »Vater der Mischna« 39 und der Vater der kirchlichen | Theologie. Es liegt nahe, daû diese beiden Månner nicht aneinander vorçbergehen konnten. Wir haben zudem Berichte von Disputen, welche Hoschaja, ganz wie vor ihm Bar Kappara, 40 mit christlichen Lehrern hatte. 41 Es scheint, daû diese Schule von Cåsarea ganz eigentlich die Schule des geistigen Kampfes mit dem Christentum gewesen ist; sie hat sich als diese noch in der Zeit Awahus erwiesen. In ihr war es begreiflicherweise vor allem geboten, daû man sich mit der kirchlichen Lehre vom vjuat auseinandersetzte; der jçdische Prediger in Cåsarea konnte dem damals nicht aus dem Wege gehen. Daû und wie dies geschah, tritt uns in unserer Predigt entgegen. Sie stellt gegen den Satz, daû der Christus der vjuat sei, den anderen hin, daû in Wahrheit die Torah es ist. etfv ala vjuat xja »die Torah allein ist der vjuat«. Sie ist die Chochma, der Logos, »durch sie und auf sie hin« hat Gott die Welt erschaffen. Von ihr nur kann es gesagt werden, daû sie der Kçnstler und Meister des Schæpfungswerkes gewesen ist. Mit Hilfe philonischer Gedanken, ganz wie in der Theologie des Origenes und wie in ihr mit den Mitteln der Bibelexegese wird dies erwiesen. Auf gleichem Boden standen die Gegner einander gegençber. Der Christus oder die Torah, so war es seit der Zeit des Galaterbriefes ein eigentlichstes Problem des Kampfes zwischen Christentum und Judentum. Ein Zeugnis von ihm ist auch unsere Predigt. Sie erhålt ihren Sinn und ihren geschichtlichen Platz erst dadurch, daû dieses zentrale Thema erfaût wird. Vielleicht wird hierdurch auch manches einzelne in ihr in andere Stellung gerçckt und verdeutlicht. Die Worte »verborgen« und »auf36.
5 Vgl. Harnack, Dogmengeschichte I 4, 669 f. 37.
6 Ibid. 653. 38.
7 Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums, 419. 39.
8 Jer Bawa kamma 4c etc. Vgl. Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer I, 89, Anm. 3. 40.
1 Vgl. Bacher, Agada der Tannaiten II, 506. 41.
2 Vgl. Bacher in JQR III, 357 ff.
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bewahrt«, eofkm und pnrfm, erscheinen nun wie Prådikate, die dem Christus und der Torah gelten sollen, als Prådikate, welche Ausdruck fçr die Pråexistenz sind. Daû die Torah vor Erschaffung der Welt war, daû sie das eigentlich Pråexistente ist, ist alte Ûberlieferung der mçndlichen Lehre. 42 Ebenso wird es durch | das apokryphische und pseudepigraphische jçdische Schrifttum beståtigt: schon das Buch der Jubilåen 43 spricht davon und desgleichen die Assumptio Mosis, 44 ganz wie dieses eine palåstinensische Schrift; das Buch Sirach und das der Weisheit Salomos meinten dasselbe, indem sie die »Weisheit« mit der Torah identifizierten. Ûberall ist es hier der Gedanke, daû die Torah von Anbeginn an »aufbewahrt« und »verborgen« 45 war zu dem Tage ihrer Offenbarung hin. Und das nåmliche wird im neutestamentlichen Schrifttum von dem Christus gesagt, mit Worten, auf die fast in unserer Predigt Bezug genommen sein kænnte. Im Brief an die Ræmer wird die Verkçndigung vom Christus genannt »die Enthçllung eines Geheimnisses, das ewige Zeiten verschwiegen war, jetzt aber kundgetan worden ist«. 46 Im Brief an die Epheser wird von ihm gesprochen als »dem Geheimnis, das seit Urzeiten in Gott, dem Schæpfer aller Dinge, verborgen gewesen ist.« 47 Und im ersten Brief an die Korinther heiût die »Weisheit« die »geheimnisvolle, verborgene, welche Gott vor den Zeiten vorherbestimmt hat«. 48 Von dem Christus und der Torah sind so die gleichen Prådikate ausgesagt; was von jenem gerçhmt wird, ist ihr auch zugesprochen; die jçdische Predigt konnte sie alle fçr die Torah in Anspruch nehmen. Es wåre mæglich, daû auch das Wort vom Pådagogen hier seine Beziehung hat. Polemisch hatte es der Galaterbrief gegen die Torah gebraucht, um ihre Zeit fçr beendet zu erklåren, 49 aber das Wort von Christus, dem Lehrer, dem Mystagogen hat auch im apologetischen 42.
3 Bereschit rabba I, 5 und Parallelen; VIII, 2 und Parallelen. Es ist charakteristisch, wie hier der Messias, in der Frage der Pråexistenz, zurçcktritt, indem nur von seinem Namen gesagt ist, daû er zur Schæpfung von Anfang an bestimmt war. Es ist eine deutliche Tendenz, wenn dort, wo die Pråexistenz behandelt wird, immer nur von dem hjume wu gesprochen ist. Siehe das Targum zu Micha 5, 1, Sech 4, 7 und Ps 72, 17. Vgl. auch Henoch 48, 3. 43.
1 Jubilåen 1, 29 ff.; 2, 18; 4, 32 etc. 44.
2 Assumptio Mosis 1, 11, falls dort statt plebem (siehe Kautzsch, 319) legem gelesen wird. 45.
3 Ûber diese Prådikate als Ausdruck der Pråexistenz siehe Henoch 46, 3, 48, 6 und 62, 7, sowie das Targum zu Micha 4, 8. 46.
4 Ræmer 16, 25 f. 47.
5 Epheser 3, 8f., vgl. Kol 1, 26. Zu dem mustrion, von dem an diesen Stellen gesprochen ist, vgl. Der alte Widerspruch gegen die Haggada S. 183. 48.
6 I Kor 2, 7. 49.
7 Gal 3, 24 f.
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Sinn, besonders in der Theologie des Origenes, 50 seinen Platz. Hier deutlichere Linien in unserer Predigt zu sehen, bleibt bei dem Fragmentarischen der Ûberlieferung leider verwehrt. Das Verståndnis der Predigt selbst wird dadurch aber nicht beeintråchtigt. Von dem, was das Wesentliche ist, von dem Thema und der Richtung der Predigt, also von dieser selbst, haben wir das bestimmte, klare Bild. 51 | Ein weiteres Beispiel hierfçr soll durch die Predigt beigebracht werden, die als erste in der Peûikta de-Raw Kahana enthalten und auch sonst mannigfach çberliefert ist. Ihr Autor ist R. Juda ben Schimon, 52 als Tradent wird, wie meist fçr ihn, R. Asarja genannt. Sie ist also zu Beginn des vierten Jahrhunderts gehalten worden. Juda ben Schimon hat seine Stellung in der Geschichte des jçdischen Forschens dadurch, daû er Bar Kapparas Kompromiû zwischen der Entscheidung Akiwas, der dem Lehrhause die Kosmogonie verbot, und der Jischmaels, der sie gestattete, wieder aufgenommen hat, dieser Kompromiû, welcher dahin ging, daû es zulåssig sei, von der Entstehung der Welt zu lehren, soweit es sich um das handle, was in den sechs Schæpfungstagen geworden, aber unzulåssig, soweit es das betreffe, was vor diesen Schæpfungstagen gewesen ist. 53 Die textliche Ûberlieferung, zumal der angefçhrten Namen, 54 ist 50.
8 Harnack, Dogmengeschichte I 4, 674 und 682 f. 51.
9 Es ist interessant, daû die Deutung vjuatb = etfvb, durch welche die Torah zum Logos wurde, nicht festgehalten worden ist. Sie erschien doch wohl bedenklich, offenbar weil sie der christologischen Deutung eine zu groûe Mæglichkeit bot. Dafçr hat græûere Geltung ein Satz, der diese Bedenken nicht in sich schloû, gewonnen, welchen ein ålterer Zeitgenosse Hoschajas, R. Benaja, aussprach: »um der Torah willen ist die Welt geschaffen worden«; siehe Bereschit rabba I, 5: Zta doj emkhb ªd etfv vfkgb ala wlfpe atbn al ejnb ªt tma, wobei emkhb çbersetzt ist: um der Chochma willen. Vgl. auch die von Theodor angemerkten Parallelen. Wie dann spåter der vjuat in harmloser Weise erklårt wurde, siehe Bereschit rabba, a. a. O. 52.
1 Eine treffende Charakteristik seiner Predigtweise gibt Weiû fjutfdf tfd tfd III, 140. 53.
2 Jer Chagiga 77c; Bereschit rabba I, 13; Peûikta rabbati 109a. Die Auffassung Bachers, Agada der palåstinensischen Amoråer III, 166 Anm. 1, daû Juda ben Schimon schlechthin der Entscheidung Jischmaels folge, ist irrig. 54.
3 Daû fçr R. Schimon zu lesen ist R. Juda ben Schimon, zeigen alle Parallelstellen ganz bestimmt. Sehr wahrscheinlich wird es durch dieselbe Vergleichung, daû fçr Schimon ben Joûef zu setzen ist: Schimon ben Joûe (ben Lakonja) oder eventuell Schimon ben Jochai. Schimon ben Joûe war der Schwager des Elasar ben Schimon ben Jochai, und es kænnte naheliegen, fçr den unbekannten Elasar ben Awina, der als Tradent genannt ist, Elasar ben Schimon einzusetzen; dazu wçrde es auch passen, daû der erste Tradent, Tanchum, als sein Schwiegersohn bezeichnet ist. Eine solche Bezeichnung nach einem sonst unbekannten Manne wçrde befremdlich sein kænnen, nach einem Manne wie Elasar ben Schimon aber natçrlich sein. ± Die Parallelen sind am voll-
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nicht durchgångig gut; es låût sich aber wesentlich immer erkennen, was auf den Redaktor und was auf den Autor zurçck | zufçhren ist. 55 Vor allem treten die eigentlichen Linien der Predigt, die das Charakteristische der amoråischen Predigt zeigt, deutlich hervor. Der erste Satz des siebenten Kapitels im vierten Buche Moses, der Beginn der Chanukkaperikope: »Und es war, als Moses beendet hatte, das Heiligtum zu errichten«, soll seine Erlåuterung finden durch den Satz des Hohenliedes (5,1): »Ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester Braut«. Gott konnte, so wird erklårt, zu Israel diese Worte des Liedes sprechen, als das Werk der Stiftshçtte beendet war; denn einst, am Anfang der Tage, war eine Ståtte Gottes auf Erden gewesen, aber Gott hatte dann die Erde verlassen, und jetzt erst kehrte er zu ihr zurçck. Unser Prediger beruft sich hierfçr auf den Tannaiten Schimon ben Joûe; 56 dieser hatte darauf hingewiesen, daû unser Text mit dem Worte jejf »und es war« beginnt, und dieses Wort besage immer, daû etwas einst gewesen sei, dann fçr lange Zeit aufgehært håtte und nun wieder eintrete. 57 Das wolle es auch hier bedeuten: Anfånglich, in der Zeit der beiden ersten Menschen, war die Schechina auf Erden. Als jene gesçndigt hatten, zog sie fort, zum ersten Himmel hin ± darum, so sagt unser Autor mit einem Satze des Abba bar Kahana, heiût es: »sie hærten die Stimme Gottes, wie er fortging« ±; als dann Kain sçndigte, zog sich die Schechina zum zweiten Himmel zurçck, bei der Sçnde des Geschlechtes des Enosch dann zum dritten Himmel, bei der Sçnde des Geschlechtes der Sintflut zum vierten, bei der des Geschlechtes des Turmbaues zum fçnften, bei der Sçnde der Øgypter in der Zeit Abrahams zum sechsten und schlieûlich bei der Sçnde der Sodomiten zum åuûersten Himmel. Weil | damals aber Abraham ein Frommer war, konnte die Schechina zum sechsten Himmel zurçckkehren, und so haben danach die Frommen ståndigsten angegeben von Buber zu Tunchuma zu Num 7, 1 (§ 24) und von Theodor zu Bereschit rabba zu 3, 8. 55.
1 Unzweifelhaft ist, daû der Satz des R. Chanina vom Redaktor interpoliert ist; vgl. auch Bloch in MGWJ 1885, 211 f. Dagegen sind die Såtze des R. Abba bar Kahana und des R. Jizchak, als Zitate, dem Autor jedenfalls zuzuschreiben. 56.
2 Der Tanchuma ed. Buber, der die beste Ûberlieferung unserer Predigt bietet, zeigt deutlich, daû die Ausfçhrungen çber die Nåhe und die Ferne der Schechina nicht etwa, wie aus der Ûberlieferung in der Peûikta zu folgen scheint, dem R. Jizchak, sondern vielmehr Schimon ben Joûe, beziehungsweise, wenn diese Lesart vorgezogen wird, Schimon ben Jochai zugehæren. Das gleiche ergibt sich aus Tanchuma zu Ex 38, 21 (§ 21) und Peûikta rabbati 18b und 19b. 57.
3 Der Tanchuma ed. Buber låût klar erkennen, daû die Ausfçhrungen von Schimon ben Joûe (beziehungsweise Jochai) an die Deutung des Wortes jej anknçpfen; ebenso Peûikta rabbati 18b und 19b.
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der folgenden Zeit, Isaak, Jakob, Lewi, Kehat, Amram Gott der Erde immer nåher gebracht, von Himmel zu Himmel hernieder, bis dann zuletzt, als Moses die Stiftshçtte errichtet hatte, die Schechina wieder, wie einst im Garten Eden, auf Erden sein und Gott sprechen konnte: »Ich bin in meinen Garten zurçckgekehrt«, das will sagen: in meine Ståtte, dorthin, wo ich anfånglich gewesen war. Und daher heiût es: »Und es war, als Moses beendet hatte, die Wohnung zu errichten«. Darum, so fçhrt unser Autor es an, konnte R. Jizchak auch das Wort des Psalms (37, 29) so deuten: »Gerechte werden das Land besitzen und werden der Schechina darauf eine Ståtte geben«. Aber das, was Schimon ben Joûe dartat, so meint dann unsere Predigt, 58 besagt doch noch nicht alles. Es war doch nicht nur so, daû das Frçhere wiederkehrte, sondern es kam noch ein Neues hinzu. Gott hatte die Erde versæhnt wieder aufgenommen, und jede Wiederversæhnung bringt ein Neues. Durch ein Gleichnis wird das erlåutert: Wenn ein Kænig seine Frau, die er verstoûen hatte, zurçckrufen låût, dann darf sie denken, daû jetzt, wo er sie zurçckhole, er ihr ein Neues gewåhren werde. So hat Gott, als er wieder auf der Erde seine Ståtte nahm, ein Neues gewåhrt. Vordem hatte er die Opfer von oben aus angenommen; jetzt nahm er sie von unten an. Darum konnte Gott jetzt wahrhaft sagen: »Ich bin in meinen Garten gekommen, 59 meine Schwester Braut; ich pflçcke meine Myrrhe und meinen Balsam«. Und das ist der volle Sinn des Satzes: »Und es war, als Mose beendet hatte, die Wohnung zu errichten«. Das Thema der Predigt ist deutlich erkennbar. Es ist die Frage, wo die Ståtte der Schechina ist. Diese Frage stellt ein wesentliches Stçck der alten Theologie, der jçdischen wie vor allem der christlichen, dar. Daû durch die Sçnde der ersten Menschen die | Schechina von der Erde verdrångt war, darin stimmten damals Judentum und Christentum miteinander çberein, und ebenso darin, daû der Zustand der Urzeit an einem Tage der Erfçllung wiederkehre. Die Frage, an der sie sich schieden, war die, die unsere Predigt behandelt, ob und wodurch die Schechina wieder zu den Menschen zurçckgefçhrt worden sei. Die alte christliche Theologie erklårte, Christus sei der neue 58.
1 Was Juda ben Schimon als Eigenes in unserer Predigt gibt, ist nur das »Neue« mit diesem Gleichnis von der Frau des Kænigs. Es ergibt sich so durch eine Nebeneinanderstellung der Ûberlieferung im Tanchuma ed. Buber und der Peûikta rabbati und der in der Peûikta de-Raw Kahana, sowie besonders deutlich auch aus Bemidbar rabba XIII, 4. Es entspricht dies auch der Art unseres Autors, vgl. Weiû, a. a. O. 59.
2 Zu der Deutung des Wortes ab vgl. Bloch, a. a. O. Anm. 3.
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Adam, durch ihn und in ihm sei die Schechina zur Erde zurçckgekehrt; ihrer werde teilhaftig, wer mit ihm verbunden sei. In Christus sei, wie mit dem griechischen, dem Worte Schechina entsprechenden Begriffe gesagt wurde, die Ståtte des plrwma. 60 »Es war Gottes Wille«, so sagt der Kolosserbrief, »in ihm das ganze des plrwma wohnen zu lassen«. 61 Und derselbe Brief dann wieder: »In ihn wohnt das ganze des plrwma der Gottheit leibhaftig, und in ihm seid ihr dieses des plrwma teilhaft«. 62 Mit einem Worte, das an den Namen des Stiftszelts anklingen soll, rçhmt der Prolog des Johannesevangeliums von Jesus, daû in ihm »der Logos sein Zelt unter uns hatte«. 63 Durch den Epheserbrief, diesen Brief von der Kirche, wird dasselbe dann auf sie, den »Leib Christi«, bezogen; mit Worten, die an das haggadische enjkue wfrmr 64 erinnern, nennt er sie t plrwma to½ t pnta ¥n pºsi plhroumnou, d. h. den »Bereich, innerhalb dessen der wohnt, der das All in allen Wesen ausfçllt«. 65 Und wie frçh auch hier schon das Hohelied seine Allegorien dafçr geboten hat, zeigt die Apokalypse, die das »neue Jerusalem«, diese Ståtte der Schechina, im Bilde der Braut darstellt und zu ihr hin das Wort vom Throne Gottes ergehen låût: »Siehe die Wohnung ± skhn ± Gottes unter den Menschen, er wird unter ihnen wohnen.« 66 Demgegençber sagt unsere Predigt: Durch den Bau der Stiftshçtte ist die Schechina zur Erde zurçckgefçhrt worden, und der Urbeginn ist damit zurçckgekehrt. Sie knçpft damit an einen | alten Gedanken an, den die Haggada mannigfach behandelt hat. Schon Schimon ben Jochai hatte unseren Text so erklårt: durch die Errichtung des Heiligtums sei die Welt erst wahrhaft errichtet worden; vorher håtte sie geschwankt, nun håtte sie ihre Festigkeit gewonnen. 67 Das Heiligtum erhålt damit die kosmische Bedeutung; sein Werk wird in allen seinen Teilen zur Wiederkehr des Schæpfungswerkes. 68 Und damit 60.
1 plrwma, dfbk beziehungsweise atsj und enjku sind korrelate und schlieûlich analoge Begriffe; daher wird dem Christus auch die dxa (dfbk) zugesprochen, siehe Phil 3, 21; Marcus 10, 37; Matthåus 16, 27 et passim. 61.
2 Kol 1, 19. 62.
3 Kol 2, 9. 63.
4 Ev Joh 1, 14: ¥sknwsen ¥n m¼n, cf. ebendort: ka ¥jeasmeja tn dxan a©to½. Cf. Apokalypse 21, 3. 64.
5 Siehe hierçber Peûikta de-Raw Kahana 5a; 20a; 152a; Wajjikra rabba XI, 8. 65.
6 Eph 1, 23. Vgl. Weinel, Bibl. Theol. des N.T. 468 und 574. 66.
7 Apokalypse 21, 3, cf. Ez 43, 7. Die Worte skhn und skhno½n werden allerdings oft auch ohne jede Beziehung auf das Stiftszelt gebraucht. 67.
1 Peûikta de-Raw Kahana 6a und Parallelen. Vgl. Harnack, Dogmengeschichte I 4, 786. 68.
2 Tanchuma zu Exodus 38, 21, § 2 wlfp vajtb dcnk lfsuu. Die Gleichheit zwischen den Schæpfungstagen und dem Werke des Stiftszeltes wird hier im einzelnen
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auch gewinnt es seine stete Gegenwart; es ist immer in Israel geblieben; in den Synagogen und Lehrhåusern dauert es weiter, in ihnen hat die Schechina ihre Ståtte. Es ist wieder Schimon ben Jochaj, der dies bestimmt ausgesprochen hatte: Die Wohnung der Torah ist die Wohnung Gottes. 69 Aber der Gedanke selbst hatte schon vor ihm seinen Ausdruck gefunden 70 und ist dann auch nachher mannigfach dargestellt worden, so auch von unserem Juda ben Schimon. 71 Mit dem jçdischen Volke, dem Volke der Torah, wurde so die Schechina verbunden. Schimon ben Jochaj hatte auch hier wieder das thematische Wort gegeben: wo Israel ist, ist die Schechina; wenn Israel wandert, wandert auch sie. 72 Das Wort steht im Mittelpunkt so mancher Predigt. 73 Damit gewinnt auch das jçdische Volk sein Kosmisches; es erscheint nun ± entsprechend der Umbiegung vom Christus zur Kirche, dieser Umbiegung vom Kolosser- zum Epheserbrief ± als | der vjuat, 74 als das Logosvolk, als das Volk, durch das die Welt ihren Bestand, ihre Schæpfung erhalten hat; gerade in der Zeit des Juda ben Schimon ist darçber auch gepredigt worden. 75 Unsere Predigt selbst zeigt nun ihre deutlichen Linien. Wo die Ståtte der Schechina sei, ist die Frage, von der sie ausgeht. Die Antwort, die sie gibt und durch ihre Erklårung der Bibelsåtze beweist, ist: Nicht in Christus ist die Schechina herniedergestiegen und nicht in der Kirche hat sie ihre dauernde Ståtte, sondern durch die Gerechten von Abraham her ist sie von Himmel zu Himmel herniedergefçhrt worden, um dann in der Stiftshçtte ihren Bereich zu gewinnen und in den Heiligtçmern Israels, in seinen Synagogen und Lehrhåusern zu bleiben. Die Zeit der Erfçllung ist nicht mit Christus durchgefçhrt. Als Autor wird Jaakow ben Assi angegeben. Vgl. auch Buber, Einleitung zum Tanchuma, p. 85b. In einer von Jellinek, Bet ha-midrasch VI, 88 veræffentlichten Jelamdenustelle, die eine Parallele bietet, wird Jehuda ben Schalom als Autor genannt. Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer III, 443 Anm. 2, ist die Tanchumastelle entgangen. Vgl. ferner Jalkut zu Prov 3, 19: .xkume eupn flle wjtbd ªnbf Ztaf wjmu fatbn wjtbd ªnb 69.
3 Tanchuma zu Ex 38, 21 (§ 4, II. Anhang). Vgl. Jer Ssanhedrin 28b und Bereschit rabba XLII, 4. Siehe auch Wajjikra rabba XI, 7: jvbf vfjonk jvb xja wa wlfpb fvnjku etum eªªbse xja vfutdm, sowie Tanchuma, a. a. O. § 2: djpm xkume .latujb enjkueu 70.
4 Awot III, 2; III, 6 etc. Vgl. auch besonders Midrasch zu Ps 90, 1. 71.
5 Dewarim rabba VII, 2. Vgl. den Satz des R. Jizchak S. 170 sowie Jes 60, 21. 72.
6 Megilla 29a, siehe Dikduke Ssofrim zur Stelle und Parallelen bei Bacher, Agada der Tannaiten II, 98 Anm. 2. 73.
7 Siehe Bacher, a. a. O., und Agada der palåstinensischen Amoråer II, 287. 74.
1 Tanchuma ed. Buber zu Gen 1, 1 § 3; Wajjikra rabba XXXVI, 4. 75.
2 Wajjikra rabba, a. a. O.: Tanchuma ed. Buber zu Gen 27, 28 § 11; cf. Bereschit rabba XCVIII, 4.
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erst gekommen, sondern sie hat am Sinai begonnen, diese Zeit, da Gott wieder auf Erden sein Gebiet hat. Israel ist der neue Adam. 76 Dies ist das Thema der Predigt; sie greift in die Frage hinein, die ein Existenzproblem des palåstinensischen Judentums damals war, die Frage, wer das Volk Gottes sei, das jçdische Volk oder die Kirche. 77 Schon råumlich fast war damals, wo die Kirche in Palåstina Boden gefaût hatte, 78 vor den jçdischen Prediger diese Frage hingestellt. ± Aus der Notwendigkeit des Kampfes ist die jçdische Predigt ganz wesentlich hervorgegangen. Gewiû hatte sie auch die Aufgabe der reinen Belehrung sich gestellt, die nichts abwehren und nichts angreifen will, gewiû lebte in ihr auch die reine Freude am bloûen Erklåren und Deuten wie am bloûen Erzåhlen und Dichten. Aber schon das Targum, das ja auch in das Gebiet der Haggada hineinreicht, wird verståndlich erst, wenn man weiû, wovon es abgrenzen und was es abweisen will. Ganz so und in noch viel hæherem Maûe hat die Predigt den starken Impuls dadurch erfahren, daû sie sich immer wieder vor das Gebot hingefçhrt sah, das Juden | tum zu sichern gegen Verlockungen und Angriffe, gegen scheinbar verwandte wie gegen fremde Gedanken, gegen Lehren, die ihm neuen Reichtum zu bringen verhieûen, wie gegen Såtze, die ihm sein religiæses Eigentum und sein Recht bestritten. Eine Aufgabe und ein Thema hat sie dadurch immer neu erhalten. Das ist ja auch ein Grund, weshalb die Predigt Palåstinas so viel reicher und bedeutungsvoller ist als die Babylons. Die Juden Babylons lebten im groûen ganzen fern von den Feldern des religiæsen Kampfes jener bewegten Zeit. 79 Die Juden Palåstinas standen in dem groûen Gebiete des Ringens, sie sahen sich auf ihrem eigenen Boden immer wieder bedroht. Wohl nur selten konnten sie sich von der Welt, in der neue religiæse Måchte erwachsen waren, abwenden, um den Blick innerhalb des Bezirkes des Judentums festzuhalten. Wenn sie ihre Religion bewahren wollten, muûten sie vor allem gegençber den gnostischen und den christlichen Lehren ihren Standpunkt gewinnen und ihn vertreten. Von diesem Gebote der Selbstbehauptung empfing die Predigt ± und die Predigt ersetzte in der 76.
3 Von Israel wird dasselbe gesagt wie von den ersten Menschen im Garten Eden: es ist enjkue enhmb und eªªbse lu fvrjhmb, siehe Bemidbar rabba XIII. 77.
4 Vgl. I Petr 2, 9f.; Hebr 2, 16; Jak 1, 1 etc. Vgl. Der alte Widerspruch gegen die Haggada, S. 182 ff. ± Es lag vielleicht nahe, daû besonders die Chanukkapredigt, gegençber der Weihnachtspredigt, sich diese Frage zum Thema nahm. 78.
5 Siehe Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums 422 f. 79.
1 Vgl. die Worte Awahus, Awoda sara 4a und Pasachim 56a, sowie çber religiæse Polemik in Babylon Gråtz, Geschichte der Juden IV 2, 402 f.
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Zeit der mçndlichen Lehre das Buch ± ihre Richtung. Man konnte hier nicht ein Judentum predigen, das von den Gedanken der Welt nichts weiû oder sie nicht beachtet. Die Predigt jener Zeit wendet sich daher zumeist an jemanden oder gegen jemanden. In den Sammlungen von Predigten, die wir mehr oder minder fragmentarisch in unseren Midraschim vor uns haben, ist dieser allerdings nicht bezeichnet, das Ziel der Verteidigung oder des Angriffs wird nicht herausgehoben. Daû es nicht geschieht, entspricht nur der literarischen Art in der Tradition der mçndlichen Lehre. Man wollte ja auch an dem Prinzip festhalten, daû alles sich von selbst aus dem einen Buche ergebe, neben dem man kein anderes Buch anerkannte; das Prinzip der damaligen jçdischen Predigt ist, wenn dieses Wort gebildet werden darf, der Monobiblismus, der dem Monotheismus entspricht. Auch darum wohl beschrånkte sich die Tradition auf das, was ihr das Wesentliche war, auf das eben, was dieses eine Buch, richtig erklårt, çber irgendein Problem sagte. Man nannte die fremden Lehren nicht, gegen die sich diese Erklårung kehrte. Die, zu denen einst gesprochen wurde, erfuhren von ihnen oder | wuûten von ihnen; vor den Zuhærern stand deutlich das Ziel, die Pointe der Predigt. Wenn wir die Predigt verstehen wollen, wie sie damals verstanden wurde und verstanden werden wollte, mçssen wir darum in vielen Fållen vorerst zu erkennen suchen, gegen wen sie sich richtet, und damit tritt dann erst das Thema hervor, dem die homiletische Erklårung der Textverse dienen sollte. In so mancher Predigt finden wir dann auch, mehr als man es bisher wuûte, das Zeugnis geistigen Kampfes mit dem Christentum. Von der Auseinandersetzung zwischen den beiden Religionen schien bisher nur das christliche Schrifttum jener Jahrhunderte uns die Kunde zu geben; nur die Stimmen von drçben schienen zu uns zu dringen. Aber wir kænnen auch von der jçdischen Seite her sie vernehmen. Zwei Beispiele sollten dies hier dartun und zugleich zeigen, daû in unseren Midraschim durchgefçhrte Themen und damit Predigten und nicht bloûe Proæmien çberliefert sind.
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Der alte Widerspruch gegen die Haggada
Im talmudischen Schrifttum tritt neben der Anerkennung, die die Haggada erfåhrt, auch gelegentlich eine Stimme gegen sie hervor. Die erstere bedarf kaum eines Beweises; sie wird schon durch die haggadische Literatur selbst dargetan, durch den weiten Raum, den diese erhalten hat. Mit einem gewissen Ûberschwang wird dann auch die Geltung betont, die ihr zukommt. Es wird als alter Denkspruch der Schriftdeutung angefçhrt: »Willst du den Schæpfer der Welt erkennen, so lerne die Haggada; von dem kommst du dahin, Gott zu erkennen und seinen Wegen anzuhangen.« 1 Ein anderer alter Satz rçhmt besonders die volkstçmliche Haggada und sagt, daû sie von dem Schriftworte gemeint sei: »Was recht ist in den Augen Gottes, sollst du tun.« 2 Ihre Meister werden die »ganz Reichen« 3 genannt oder auch, nach dem Bilde des Jesaja, die »Stçtze an Wasser«. 4 1.
2.
1 Ssifre zu Deut 11, 22 (ed. Friedmann p. 85a) tmau jm tjkvu Ynfrt wjtmfa vfmfut jutfd fjktdb sbdmf eªªbse va tjkm eva Yk Yfvmu edce dfml wlfpe ejef. Dasselbe sagt der Midrasch zu Ps 28, 5: vfdcae fla tma pufej ªt ¼ ªe vlfpq la fnjbj al jk. Vgl. auch Ssifre zu Deut 6, 6 (p. 74a): sbdmf eªªbse va tjkm eva Yk Yfvmu Ybbl lp elae wjtbde xv .fjktdb
2 Mechilta zu 15, 26 (ed. Weiû p. 53b, ed. Friedmann p. 46a), ebenso Mechilta de-R. Schimon ben Jochaj (ed. Hoffmann p. 74): vfdca fla eupv fjnjpb tujef .wda lk jngab vfpmune vfhbfum 3.
3 Bawa batra 145b: vfdce lpb afe eg jbmfq; tjvp xjokn tjvp xnbt fnv ebenso ibid. 10a zu Proverbia 21, 21: dfbkf bjvkd edca jlpb. 4.
4 Chigaga 14a (zu Jes 3 1): edcab wjmk wda lu fbl xjkufmu edca jlpb fla wjm xpum lkf. Ebenso Schabbat 87 a (zu Ex 19 9): edcak wda lu fbl xjkufmu wjtbd eum dcjf, ferner Ssifre zu Deut 32, 14: xjjk wda bl vfkufmu vfdce fla tmh evuv bnp wdf, Mechilta zu 16, 31: wda lu fbl Yufm afeu edcel emfd (xm) tmfa aªªt; vgl. Joma 75a (mit Bezug auf Num 11 7): wjmk wda lu fbl vkufmu edcel emfdu dc. Allen diesen Såtzen liegt ein Wortspiel zugrunde, das darauf zurçckgeht, daû dem aramåischen dcn das hebråische Yum entspricht. Vgl. auch die Erzåhlung von R. Awahu und R. Chija bar Abba. Ssota 40a: ªfcf xjrqfs jm lp, sowie Midrasch zu Koh 2, 8: lu fcfnp xeu vfdcae
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Der alte Widerspruch gegen die Haggada
Um so mehr kænnte es befremden, daû auch ein gewisser Widerspruch gegen die Haggada bisweilen laut wird. Er richtet sich | nicht nur, wie es zunåchst scheinen mag, dagegen, daû sie, schon frçhzeitig, 5 niedergeschrieben wurde. Er wendet sich vielmehr gegen sie selbst oder wenigstens gegen den Wert ihrer Deutungen. Am schårfsten wurde er von R. SeÒra ausgesprochen; von ihm wird berichtet, daû er »gegen die Leute der Haggada Vorwçrfe erhob und sie Gelehrte der Wahrsagerei nannte«. 6 Er ging soweit, daû er, offenbar den bekannten Satz aus den Sprçchen der Våter 7 travestierend, von der Haggada erklårte: »Sie låût sich hin- und herdrehen und wenden, aber lernen låût sich aus ihr nichts.« 8 Was SeÒra sagt, låût schon erkennen, worauf das Bedenken gegen die Haggada zurçckging. Er nennt sie »Wahrsagerei«, und mit diesem Worte 9 wurde auch das christliche Schrifttum bezeichnet; 10 | sie erschien also als etwas, was mit dem Christentum zu sehr zusammenhinge. Sie war in der Tat ganz ebenso christlich wie jçdisch; 5.
1 Siehe die von Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer III, 502 angefçhrten Stellen. Vgl. auch Gittin 60b: bvfk eva jaf bvfk eva ela ela anv lapmuj ªt jbd vfkle, woraus sich zu ergeben scheint, daû die Schule Jischmaels das Verbot des Niederschreibens auf die Halacha beschrånkte. Das Wort des Jehoschua ben Lewi (Jer Schabbat XVI, 1 p. 15 c, ebenso Ssofrim XVI, 10, vgl. Midrasch zu Ps 22 4): tku lbsm fnja epmfue Ythvm eutfde slh fl xja ebvfke avdca ade bezieht sich auch in seinem zweiten und dritten Teile wohl nur auf die Haggadabçcher. Asarja de Rossi enjb jtma XV (ed. Cassel p. 209) sieht darin eine Gegnerschaft gegen die Haggada schlechthin. 6.
2 Jer Maaûrot III, 10 (p. 51a): xjmofs jtqjo xfel hffrf avdcad xjljal tvnsm atjpg ªt efef. Fçr jtqjo ist, mit Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer II, 297, Anm. 3, zu lesen: jtqo5 was durch den Zusammenhang gefordert wird. avdcad xjlja ist der spættische Ausdruck fçr das sonst çbliche avdcad xnbt. 7.
3 Awot V, 22: eb elkd eb Yfqef eb Yfqe tmfa cb cb xb. 8.
4 Jer Maaûrot a. a. O.: wflk enjm xnjpmu al ekqem ajef ekqe aje atjpg ªt tma. 9.
5 Siehe Blau, Altjçdisches Zauberwesen, S. 30; vgl. Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer III, 502, Anm. 6. 10.
6 Siehe Toûefta, Chullin II, 20 (p. 503): xjmofs jtqo xejtqof, cf. Chullin 13a. Es ist wahrscheinlich, daû SeÒras Worte auf diese Baraita ausdrçcklich hinzielen. Die Bezeichnung der christlichen Schriften als xjmofs jtqo hångt vielleicht auch damit zusammen, daû im Talmud Jesus bisweilen mit dem Namen des Bileam ± Josua 13, 22 wofse tfpb xb wplb ± benannt wird. Siehe die betreffenden Stellen bei Strack, Jesus, die Haeretiker und die Christen, § 12. Es wåre an sich mæglich, den Ausdruck »Wahrsagerei« darauf zu beziehen, daû die Haggada zweideutig sei, da SeÒra aufzuzeigen sucht, daû man durch sie zwei entgegengesetzte Ansichten aus einem Bibelverse beweisen kænne. Aber sein Ausspruch erhålt die eigentliche Pointe erst dann, wenn diese Zweideutigkeit in dem gleichen haggadischen Recht der christlichen und der jçdischen Lehren bestehen soll. Dafçr spricht auch der messianische Charakter des von SeÒra angefçhrten Bibelverses Ps 76, 11; vgl. das Targum und den Midrasch zu diesem Satze.
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Der Midrasch
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in der Methode ist zwischen hier und dort kein Unterschied. In den paulinischen Briefen oder etwa in den Homilien des Origenes begegnen wir dem gleichen Midrasch wie in der damaligen jçdischen Predigt. Haggadisch war das Christentum entscheidend nicht zu widerlegen. Sprach man der haggadischen Beweisfçhrung, durch die sich die einen Glaubenssåtze ganz ebenso darlegen lieûen wie die anderen, den bestimmenden Wert zu, so hieû dies, sich dem Christentum gegençber entwaffnen oder zum mindesten den Kampf unentschieden lassen. 11 Man hatte sich damals der weiten Glaubensansprçche der christlichen Kirche zu erwehren, die sich als das wahre Israel, 12 die wahre Erbin der Verheiûungen an Abraham 13 rçhmte. Und sie berief sich hierfçr, ganz wie das Judentum, auf die Såtze der Bibel, auf den Sinn, der in ihnen liege. Der Eigenbesitz der jçdischen Gemeinde war bedroht. Ein Wort des R. Awin spricht diese Sorge bezeichnend aus: »Was fçr ein Unterschied bliebe ± wenn die ganze Gotteslehre niedergeschrieben ist ± zwischen uns und den Vælkern; sie wie wir wiesen ihre Bçcher auf, sie wie wir wiesen ihre Pergamente auf!« 14 Er faûte ein Wort des Hosea dahin, daû Gott zu Mose einst gesprochen håtte: »Håtte ich dich die gesamten Såtze | meiner Torah ± also auch die mçndliche Lehre ± fçr sie aufschreiben lassen, wçrden sie nicht dann wie die Fremden erachtet sein!« 15 Noch eindrucksvoller tritt uns dieser Gedanke in einer anderen, mannigfach çberlieferten Stelle entgegen. Sie lautet in der Peûikta: 11.
1 Siehe den bezeichnenden Ausdruck in der noch zu erærternden Stelle der Peûikta rabbati p. 14b xjjfpm wjjngame fjukpf. Vgl. auch ein ebendasselbe besagende Wort ben Asais, Ssifre zu Num 28, 8 p. 54a vfdtl wjnjml eq xfhvq xvjl alu. 12.
2 Ræm 11, 17 ff.; Gal 3, 7, 29; 6, 16; I Petr 2, 9f.; Hebr 2, 16; Jak 1, 1. Vgl. S. 183. 13.
3 Ræm 4, 11 f.; 9, 6ff. Siehe Harnack, Dogmengeschichte I 4, 171 und 199; Mission und Ausbreitung des Christentums, S. 49, 289, 311; Bousset, Kyrios Christos, S. 357. Vgl. ein Øhnliches im Talmud: Jewamot 102b amp cªªtl anjm afee ejl tma ªfkf ejnjm ejtm ejl Zlhd; Chagiga 5b ejtm fenjtdead amp aoftfsjqa afee (hªªbjtl) ejl jfha .ejnjm ejqal 14.
4 Jer Pea II, 6 p.17a vfmfal xnjb em fbuhn tg fmk al jvtfv jbft Yl jvbvk jlflja xjba ªt tma xejtvqd xjajrfm fljaf xejtvqd xjajrfm flja xejtqo xjajrfm flaf xejtqo xjajrfm fla . Die Parallelstelle Jer Chagiga I, 8 p. 76d, hat fçr jlflja die Lesart flja, vgl. hierzu Gittin 60b, wonach die jvtfv jbft von R. Elasar auf die schriftliche, von R. Jochanan auf die mçndliche Lehre bezogen werden; vielleicht geht die erwåhnte Verschiedenheit der Lesart auf diesen Unterschied zurçck. Vgl. auch die noch anzufçhrende Stelle der Peûikta und des Tanchuma. Frankel, in seiner Ausgabe des Jeruschalmi I, 66b, liest ebenfalls jlflja und erklårt es mit jlmla. ± Awin folgt der Auffassung Jochanans. 15.
1 Hos 8, 12. Das Targum çbersetzt ganz nach der talmudischen Auffassung .fbjuhvja ajmmpk xfnjaf jvjtfa vfajco xfel vjbvk
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Der alte Widerspruch gegen die Haggada
»R. Jehuda, der Sohn des R. Schalom, sagte: Mose hatte gebeten, daû auch die Mischna niedergeschrieben wçrde. Aber der Heilige, gelobt sei er, sah voraus, daû einst die Vælker die Torah ins Griechische çbersetzen und sie so lesen werden und dann gegençber den Israeliten sprechen werden: sie sind nicht Israel!¬ Darum sagte der Heilige, gelobt sei er: »Mose, einst werden die Vælker sprechen: wir sind Israel, wir sind die Kinder Gottes!¬, und die Israeliten werden entgegnen: wir sind die Kinder Gottes¬ ± und so wçrden die Waagschalen im Gleichen stehen.« Aber der Heilige, gelobt sei er, wird zu den Vælkern sprechen: »Ihr sagt, daû ihr meine Kinder seid! Ich erkenne nur den an, dem mein Mysterium (xjtjiom) anvertraut ist; der ist mein Kind!«, und sie werden fragen: »Welches ist dein Mysterium?« Dann wird Gott antworten: »Die Mischna ist es.« 16 Im Tanchuma ist der Schluû | noch ausfçhrlicher gefaût: »Die Mischna ist das Mysterium Gottes, und Gott offenbart sein Mysterium nur den Gerechten, wie geschrieben steht: »Das Geheimnis des Ewigen ist bei denen, die ihn fçrchten.« 17 An dieser Stelle ist manches interessant. Nicht zum mindesten auch das, daû hier, um die christlichen Behauptungen zu widerle16.
2 Peûikta rabbati s. V (ed. Friedmann p. 14b): eum usjb wflu jbtb edfej ªt tma
wjtmfaf vjnfj eb wjatfs vfjelf etfve va wctvl xjdjvp vfmfaeu eªªbse eqrf bvkb enume aevu lu fjnb we fna latuj we fna wjtmfa vfjel vfmfae xjdjvp eum ae eªªbse fl tma latuj we xja wva em vfmfal eªªbse tma .xjjfpm wjngame fjukpf ,wfsm lu fjnb we fna wjtmfa latujf wfsm tma Ylu xjtjiom we emf fl ftma jnb afe fdjb jlu xjtjiomu jm ala pdfj jnja jnb wvau wjtmfa enume fg wel. Darauf folgt dann die haggadische Deutung des Satzes Hos 8, 12 fbuhn tg fmk xk waf jvtfv jbfd Yl bfvka tmfa afe Yk. Friedmann, a. a. O., Anm. 8, und
Buber, Tanchuma I, 44b, Anm. 46 und II, 58b, Anm. 120 stellten die zahlreichen Parallelen und Varianten zusammen; vgl. dazu auch noch Gittin 60b. Die Versionen der Peûikta rabbati sowie des Tanchuma zu atjf s. V (ebenso ed. Buber s. VI) und zu auv jk s. XXXIV sind offensichtlich die ålteren; dagegen sind die in Schmot rabba s. XLVII und Tanchuma ed. Buber auv jk s. XVII spåtere Bearbeitungen; sie fçgen zum Beispiel bezeichnenderweise zu enum noch hinzu edceef dfmlvef. Bemidbar rabba s. XIV bietet in verkçrzter Form die gute alte Ûberlieferung; hier ist der Gedanke noch schroffer ausgedrçckt: wel xvn
wuk eªªa efqjjgj alu jdk bvkb envn al Yk lpu vfmfae taum eb xjnjjfrm vfjel eq lpbu etfv latuj weu ftmajf bvkbu etfv fupu. Zu diesem Vorwurf der Verfålschung (Pfjg) vgl. Jer Ssota VII, 3 p. 21c, ªfcf wkvtfv xvqjjg wjvfk jtqfol jvjmn. Vgl. auch Bousset, Religion des Judentums 2, 462. ± Weiû (fjutfdf tfd tfd I, 96) sieht in unserer Stelle einen
Einspruch gegen die griechische Bibelçbersetzung; damit verliert unsere Stelle ihre eigentliche Bedeutung. Weiû hatte es unterlassen, den Satz des R. Awin zum Vergleich heranzuziehen. 17.
1 Tanchuma zu atjf s. V (ed. Buber s. VI p. 44b): xjaf eªªbse lu xjtfiom aje enume fjatjl ªe dfo (Ps 25, 14) ªnu wjsjdrl ala flu xjtfiom (ed. Buber elcm) tofm eªªbse. Vgl. auch Midrasch zu Hohel 7, 3: fnljbub wjtmfa latujf wlfpe atbn fnljbub wjtmfa pªªefa wlfpe atbn, ebenso Bereschit rabba s. 83 und Midrasch zu Ps 2, 12.
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Der Midrasch
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gen, christliche Gedankengånge in die jçdischen hineingeleitet werden. Wie das Wort, so ist auch die Vorstellung vom Mysterium als dem Heilsbesitze, die uns hier, und auch anderwårts im damaligen jçdischen Schrifttum, 18 begegnet, nicht jçdisch. Aber das fçr unsere Frage Wesentliche ist: Nur die Mischna, also die Halacha, ist hier als das Eigentum, das Mysterium, hingestellt, das den Unterschied zwischen Israel und den anderen Religionen bezeichnet. 19 Sie ist das eigentlich Jçdische, das, was erst die ganze Bibel gibt, wåhrend vorher eben dieses von der Haggada ausgesagt worden war; jetzt konnte sich deren geringere Schåtzung aus diesem besonderen Werte, der der Halacha beigemessen wird, leicht ergeben. Diese Folgerung ist auch ganz ausdrçcklich von R. Lewi, der selbst ein Mann fruchtbarer Haggada war, gezogen worden. Er | bezeichnet, im Anschluû an Koh 6, 2, die »Månner der Haggada« als die, »denen Gott nicht die Befugnis verliehen hat, von dem zu genieûen, was sie besitzen; denn sie kænnen nicht verbieten und nicht erlauben, weder fçr unrein, noch fçr rein erklåren.« 20 Sie sind also die armen Reichen; sie haben den Reichtum der Bibel, aber sie haben nicht den Gewinn davon; ihn erwerben nur die Månner der Halacha. Dasselbe ist in einem Satze des Tanchuma ausgesprochen, wenn auch nicht mit ebenso unmittelbaren Worten. Hier werden die Månner des Talmud als die gerçhmt, die das groûe Licht sehen, von dem Jesaja (9 1) redet; sie schauen es, »weil Gott ihre Augen erleuchtet 18.
2 Siehe zum Beispiel Targum Jonatan zu Num 16, 26 jljd xjtiom fmjotq; Tanchuma zu Gen 17, 2 (ed. Buber p. 40a) wetbal ala eljm lu xjtjiom eªªbse eljc alu; Schmot rabba s. 19 ªfcf fjtfiom pdj laf fbtpvj la vtha emfa eªªbse wel tma; Midrasch zu Hohel 2, 7 welu xftiom flcj alu (cf. Ketubot 111a); Schmot rabba s. XIX eva dfmp fvfa ejhef wjela lu xjtfiomb ; das Wort hat hier den sakramentalen Sinn und nicht bloû, wie zum Beispiel in Bereschit rabba s. 50 und im Targum Jonatan zu Gen 28, 12 und sonst, den des Geheimnisses. ± Siehe auch den ebenfalls im Namen des Jehuda ben Schalom çberlieferten Satz Dewarim rabba s. I, der in bezug auf Edom, wobei man sehr wohl an die Kirche denken kann, Gott zu Israel sprechen låût: ejufv wjtujl xfqrf ªanu etfv ala enfqr xjaf etfvl fhtb wkl cffdgmu wvjat wa. Der Begriff des Mysterium ist hier durch xfqr wiedergegeben. Dies betreffende Bibelwort (Spr 2 7) ist nach seinem Ketiw hier genommen. 19.
3 Vgl. Bemidbar rabba s.14 eb xjnjjfrm vfjel; cf. Gittin 60b eªªbse vtk al xnhfj tªªa .eq lpbu wjtbd ljbub ala latuj wp vjtb 20.
1 Jer Horajot III, 9 p. 48c toh fnnjaf vqofve eg dfbkf vfkle flja wjokn atsme eg tufp lu fvnumf ejpufe ªt lu fvnumf enfe ªt lu fvnum xfck vflfdc vfjnum flja efavj tua lkm fuqnl alf amim al tjvm alf tofa al fnjau edca lpb eg fnmm lfkal wjelae enijluj alf atqs tb dfmlve lpb eg fnlkaj jtkn uja jk teim. Ebendort findet sich einige Zeilen zuvor, von
einem spåteren Lehrer Schmuel bar Joûe vorgetragen, eine charakteristische andere Ansicht, mit Bezug auf Spr 28, 11 xjbm ldf dfmlve lpb eg tjup uja fjnjpb wkh .edca lpb eg fntshj
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Der alte Widerspruch gegen die Haggada
durch die Lehre vom Verbotenen und Erlaubten, vom Unreinen und Reinen« 21 ± also durch die Halacha. Die Bedeutung dieser beiden Såtze tritt noch klarer hervor, wenn eine Stelle des Midrasch Tehillim zum Vergleich herangezogen wird. Dort wird David das Gebet in den Mund gelegt, daû »man seine Worte nicht lesen mæchte, wie man in den Bçchern des Meros liest, sondern so sie lese und çber sie sinne und fçr sie belohnt werde, wie es bei den Reinheitssatzungen (vfleaf wjpcn) geschieht; dann erst wçrden seine Worte vor Gott wohlgefållig sein¬«. 22 Es kann hier nicht auf die Bedeutung der Bçcher des Meros 23 eingegangen werden, unter denen wohl eine Schrift von der Art der »auûenstehenden« (wjnfrjh) zu suchen ist. Das Bezeichnende ist, | daû als die eigentliche Lehre hier das Halachische erscheint, das zudem nach seinem Besondersten, den Reinheitsvorschriften, 24 benannt wird, und alles nicht Halachische damit fast in die Linie des Auûenstehenden 25 und Ketzerischen gerçckt scheint. Es ist die Parallele zu dem Worte Seiras, der die Haggada mit den Wahrsagebçchern verglich. Demselben Gedanken und auch dem gleichen bezeichnenden Ausdruck vfleaf wjpcn begegnen wir in einem, mehrfach çberlieferten, Worte, das Elasar ben Asarja an Akiwa richtet: »Akiwa, was hast du bei der Haggada zu suchen, gehe doch endlich von deinen Reden zu den Reinheitssatzungen (vfleaf wjpcn) hin!« 26 Man hat hierin einen Einspruch gegen die haggadische Methode Akiwas, gegen den Mi21.
2 Tanchuma zu hn s. III lfdc tfa fatu dfmlve jlpb fla lfdc tfa fat Yufhb wjklfee wpe .tfeibf amib tvef tfoab wejnjp tjam eªªbseu 22.
3 Midrasch Tehillim zu 1, 1, Abschnitt 8 (ed. Buber p. 5a) xjtfsk web xjtfs fej laf jq jtma xfrtl fjej vfleaf wjpcnk tku xejlp xjlifnf web xjcfef web xjtfs fjej ala otjm jtqob. Die Stelle ist im Namen Rabbis çberliefert. Vielleicht spricht ein Gleiches auch aus der Tatsache, daû die Mischna Rabbi's, im Unterschied von der Tosephta, nichts Haggadisches aufgenommen hat. 23.
4 Siehe Graetz, Kohelet p. 166, Perles in Revue des tudes juives III, 112 ff., Kohut in Quaterly Review III, 546 ff., Joel Blicke I, 73 ff., vgl. L. Ginzberg, Jerushalmi Fragments I, 262. 24.
1 Vgl. Jer Mo'ed katan II, 5 p. 81b wjpcn xmf vfljea xm xjjusd dpfmb xjljm vja; Chagiga 11a vfbftm vfklef ipfm atsm vfleaf wjpcn anv. 25.
2 Aus Jadajim IV, 6 ergibt sich jedenfalls das eine, daû die otjme jtqo in Gegensatz zu den heiligen Schriften gestellt werden, ebenso folgt es aus Chullin 60b nach der Lesart des Aruch s. v. oftjm (oftjme jtqok Ptuel xjjfatu vfatsm ebte lªªt tma). Die Stelle Jer Ssanhedrin X 1 (p. 28a) scheint, wenn man sie mit Toûefta Jadajim II 13 und mit Peûikta rabbati III p. 9a vergleicht, folgendermaûen zu emendieren zu sein: enpl xb jtqof oftjmfe jtqo xfck wjnfrjhe wjtqob atfse Pa tmfa pªªt .vtcab atfsk xeb atfse Yljaf xakm fbvknu wjtqo lkf atjo xb tqo lba 26.
3 Chagiga 14a und ebenso Ssanhedrin 38b, ferner Ssanhedrin 67b: xb aªªt fl tma vfleaf wjpcn lra Yjvftbdm Ylk edca lra Yl em abjsp ejtgp (Ssanhedrin 38b fehlt Yjvftbdm, Ssanhedrin 67b hat Ylf Yjvftbdm elk).
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Der Midrasch
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drasch-Haggada, erblickt, der von dem Prinzip ausgegangen sei, »die Sage unter die Kontrolle der Schrift zu stellen.« 27 Ob aber der Midrasch-Haggada des Akiwa damit gekennzeichnet sei, ist zu bezweifeln; sein Eigentçmliches besteht vielmehr darin, daû durchgångig, also auch in der Haggada, jedes Wort der Bibel in einer Wortbestimmtheit erfaût werden soll; hiermit war der Grundsatz der Jischmaelschen Schule angegriffen, daû der Stil der Bibel der der gewæhnlichen menschlichen Rede sei. 28 Gerade die beiden Erklårungen, gegen die sich der Widerspruch Elasars wendet, zeigen dies deutlich. Das eine Mal ist es Akiwas Auf | fassung, daû, da in einem Satz des Buches Daniel (7, 9) das Wort Thron in pluraler Form (xfotk) gebraucht sei, zwei Throne anzunehmen seien; 29 das andere Mal meint er, da bei dem Hereinbrechen der zweiten ågyptischen Plage das Wort Frosch in der Einzahl stehe (Exodus 8, 2), es auch nur rein singularisch, also nicht kollektiv, verstanden werden dçrfe. 30 Aber der eigentliche Grund, weshalb Akiwa hier von der Haggada zur Halacha hingewiesen wird, ist ja nicht in seiner Methode zu suchen, sondern in den Konsequenzen, zu denen sie zu fçhren droht. Besonders die erstere unserer beiden Stellen låût es alsbald erkennen. Hier erklårt Akiwa die Annahme zweier Throne zunåchst dahin, daû der eine fçr Gott, der andere fçr David bestimmt sei. Der Messias erscheint also Gott nebengeordnet, und man kann den Vorwurf verstehen, den hier Joûe gegen Akiwa richtet: »Wie lange noch wirst du Gott vermenschlichen!« Wenn dann Akiwa die nachtrågliche Erklårung gibt, daû der eine Thron der des strengen Rechtes (xjd), der andere der des Erbarmens (esdr) sei, so bringt diese Deutung die gleiche Gefahr, denn sie fçhrt zu der gnostischen Annahme 27.
4 Gçdemann in der Jubelschrift zum 90. Geburtstag von Zunz, S. 118 ff. 28.
5 Siehe Ssifre zu Num 15, 31 (p. 33a), Berachot 31b und die zahlreichen dort angegebenen Parallelen wda jnb xfulk etfv etbd; vgl. Jer Nedarim I, 1 (p. 36c) ektdk etbjd etfvef xe xjlfqk vfnful tmad lapmuj ªtk. Vgl. auch Jer Joma III, 5 (p. 40c) fnjnpk utdmf utdm lk. Vgl. Frankel enume jktd p. 108 ff. und Gråtz, Geschichte IV 2, 427 ff., Bacher, Agada der Tannaiten I, 245 ff. 29.
1 Chagiga 14a und Ssanhedrin 38b fl dha ajus al bjvj xjmfj sjvpf fjmt xfotk jd dp xjdl dha ala lfh enjku eufp eva jvm dp abjsp jljlce jofj ªt fl tma abjsp ªt jtbd dfdl dhaf aªªt fl tma abjsp ªt jtbd esdrl dhaf xjdl dha uªªv ejnjm elbjs al fa ejnjm elbjs esdrl dhaf fjlct wfdel Ptqtu fjlp bujl aok Ptqtul dhaf aokl dha ala ªfkf ejtgp xb. Vgl. Tanchuma zu wjufds s. I, wo die Kontroverse zwischen Joûe und Akiwa çber die Erklårung
dieses Satzes in anderer Form und mit anderem Ergebnis dargestellt wird. 30.
2 Ssanhedrin 67b erjtue evje vha pdtqr tgpla ªt tma wjtrm Zta va okvf pdtqre lpvf
tgpla ªt fl tma wjtrm Zta lk ealmf evje vha pdtqr tmfa abjsp jbt janvk wjtrm Zta lk ealmf fab wef wel estu evje vha pdtqr ªfkf ejtgp xb. Schmot rabba s. X hat folgende Version: Zta va ealmf erjtue ajef evje vha pdtqr tmfa abjsp ªt jnv ªfkf okvf pdtqre lpvf .fabf xel estuf evje vha pdtqr ªfkf Yl em abjsp ejtgp xb tgpla ªt fl tma wjtrm
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Der alte Widerspruch gegen die Haggada
von den zwei Gottheiten hin, dem Gott der strengen Gerechtigkeit und dem der erlæsenden Gçte. 31 Demgegençber wird die Warnung Elasars erst verståndlich. Es ist kein Zufall, daû sich an sie unmittelbar eine Auseinandersetzung mit einem gnostischen Christen (anjm) çber den Demiurgen, den Metatron 32 | anschlieût. Auch im gnostischen Dualismus lag die starke Bedrohung des jçdischen Denkens. 33 Nicht ganz so klar tritt diese Besorgnis vor den Folgen der Akiwaschen Interpretation an unserer zweiten Stelle hervor. Aber die Vermutung liegt nahe, daû es sich hier um etwas Verwandtes, um ein apokalyptisches Bild handelt. Die Plagen, die çber Øgypten kamen, sind nåmlich fçr den Midrasch auch die Bezeichnung fçr die Strafen, die am Tage des Gerichts çber Edom-Rom verhångt sein werden. 34 Dieser Midrasch hat sein, bisher noch nicht beachtetes, Gegenstçck im 16. Kapitel der »Offenbarung des Johannes«; dort erscheinen die drei Dåmonen, die die Måchte dieser Welt zum letzten entscheidenden Kampfe versammeln werden, als Fræsche. 35 Als ein solcher Dåmon kænnte auch der eine Zefardea, der nach Akiwas Erklårung das Land Øgypten erfçllte, gelten; der Einspruch Elasars wçrde damit sein bestimmteres Ziel erhalten. Das Gesamtergebnis ist: Gegen die Haggada, der in der Zeit der ersten Tannaiten das reiche Lob gezollt wurde, machen sich, wenigstens was die Konsequenzen ihrer Methode anlangt, schon in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts gewisse Bedenken
31.
3 Siehe Harnack, Dogmengeschichte I 4, 297 ff., vgl. auch Joel, Blicke in die Religionsgeschichte I, 115. 32.
4 Ssanhedrin 38b. Von dem Thron fçr Metatron wird auch Chagiga 15a gesprochen ªb wfluf oh amu ¼ latujd avfkg bvkjml bvjml avfut ejl abejvad xftiijm agh vfjfut. Durch diese Stelle erhålt die unsere erst die rechte Beleuchtung. Vgl. auch Mechilta zu 20, 2 (ed. Friedmann 66b, ed. Weiû 74a) wo mit Bezug auf das Wort Daniels von den zwei Thronen gesagt ist wlfpe vfmfal eq xfhvq xvj alu we vfjfut jvu wjtmfau xjnjml ebfuv xakm tmfa xvn ªt ¼ xe vfjfut jvu tmfl, åhnlich Mechilta zu 15, 3. Noch bestimmter heiût es in der Peûikta rabbati, ebenfalls im Anschluû an den Satz des Buches Daniel, p. 100b tmaj wa aba tb ajjh ªt tma .ªfkf xfnja wjela xjtv avjngd atb Yl 33.
1 Siehe die zahlreichen Stellen çber vfjfut jvu und besonders Jer Berachot IX, 1 p. 12d und 13a. Vgl. Joel, Blicke I, 127 ff. und 152 ff. 34.
2 Siehe Peûikta, ed. Buber 67b, Peûikta rabbati 90a, Tanchuma zu ataf s. XIII und zu ab s. IV; Tanchuma, ed. Buber II, 15b und 22a. Dieser Midrasch geht schon auf R. Meir, also auf die Schule Akiwas zurçck, siehe Peûikta p. 68a tªªaf .wmp wjmft fdtjf tjam
35.
3 Offenbarung Johannis 16, 13 ff. Dies Bild geht auf die persische Religion zurçck, in der die Fræsche als Diener des Ahriman erscheinen. Vgl. Vendidad 14, 5 und æfter.
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geltend. 36 Es war die Zeit, in der die erste groûe Auseinan | dersetzung mit den Gedanken des Christentums stattfand, 37 die Zeit, in der z. B. die Bezeichnung Minim fçr die Christen aufkam. 38 Es ist charakteristisch, daû das Wort von dem »Anziehenden«, das frçher allgemein der Haggada beigelegt wurde, 39 jetzt sorgenvoll vom Christentum ausgesagt 40 wird. Diese Bedenken verstårkten sich in der Epoche, der Seira, Lewi, Awin, Jehuda ben Schalem angehærten, der Zeit eines Constantin und Constantius, in der die Kirche ihre Macht im Staate antritt und ihren starken Druck auch auf Palåstina ausçbt. 41 Man muûte darauf bedacht sein, die Grenzen zu wahren. Durch die Haggada war den Angriffen ein Boden gegeben, der der Kirche ebenso sehr eigen war wie der Synagoge, 42 und von dem also viele Wege ausgingen. So zogen damals manche Lehrer sich von ihm mehr und mehr zur Halacha zurçck; sie erschien als das Eigenste des Judentums. Sie war das Gesetz, von dem die Kirche meinte, daû es durch sie aufgehært håtte. Mit um so stårkerem Willen baute man es aus, um zu zeigen, daû es weiterbestehe als der Bund zwischen Gott und Israel.
36.
4 Hierher gehært auch das Wort des R. Jehuda, des Schçlers Akiwas, Toûefta Megilla IV, p. 228 und Kidduschin 49a Pjofmef jadb eg jte fvtfrk dha sfoq wctvme Pdcmf Pthm eg jte fjlp. Etwas ganz anderes besagt selbstverståndlich das Evangeliumzitat, in dem Disput eines christlichen Gelehrten, mit Gamliel II bvkf jvjva eumd avjjtfa lp jqofal ala jvjva eumd avjjtfa xm vhqjml al ana ejb; fçr ala ist auch alf çberliefert; vgl. Gçdemann, Religionsgeschichtliche Studien p. 72 f. 37.
1 Siehe Joel, Blicke I, 14 ff. und II, 89 ff. Vgl. die zahlreichen Disputationen des R. Jehoschua und Gamliel II. 38.
2 Joel, Blicke II, 90. 39.
3 Siehe oben S. 176, Anm. 4. Das Wort wird zuerst von Elasar aus Modiim gebraucht. 40.
4 Awoda sara 27b akumd vfnjm jnau, im Anschluû an eine von R. Jischmael handelnde Erzåhlung. Charakteristisch ist auch das schon angefçhrte Wort des Schimon ben Asai, Ssifre zu Num 28, 8 p. 54a vfdtl wjnjml eq xfhvq xvjl alu, aus dem man entnehmen muû, daû in den Disputationen auch die Minim bisweilen zu siegen schienen. ± Zu beachten ist auch das Wort (Ssanhedrin 99b) eje .jqfd lu edceb utfdf bufj 41.
5 Gråtz, Geschichte IV, 328, 338, 490. Siehe auch den aus dieser Zeit stammenden, zunåchst gegen die dualistische Gnosis gerichteten, Satz, der dann von Juda bar Schimon und Acha weiter erlåutert wird, Dewarim rabba s. II wp btpvv la jnu efla uj wjtmfau fla wp (Proverbia 24, 21) btpvv la wjnfu; ebenso Tanchuma zu Num 10, 1 s. IX (ed. Buber III, 26b). 42.
6 Dem gleichen Bedenken ist im Mittelalter durch Awraham ibn Esra Ausdruck gegeben worden, vgl. Bacher, Die Bibelexegese, in Winter und Wçnsche, Die jçdische Litteratur II 293 f.
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Der »Menschensohn«
Die Frage, welche Bedeutung dem Worte »Menschensohn«, Ben adam, Bar enasch zukomme, beschåftigt die Religionsgeschichte seit langem. Zwischen dem, was das Wort ursprçnglich, in dieser seiner hebråischen bzw. aramåischen Form, und dem, was es dann im griechischen Evangelium bezeichnet, ist ein kaum zu çberbrçckender Gegensatz. Denn der oft unternommene Versuch, eine Verbindung zwischen beiden durch einen neuen Sinn herzustellen, den unser Wort im Henoch- und im IV. Esra-Buche habe, kann einer Prçfung nicht standhalten. Ebensowenig kann es danach als dargetan gelten, so gern es bisweilen angenommen wurde, daû Sprache und Lehre des Judentums im Jahrhundert vor der Zerstærung des zweiten Tempels den erwarteten Messias so benannt haben. 1 Das Wort ist ein altes biblisches. Es gehært der gehobenen, dichterischen Rede zu, durch den einzelnen die Gattung bezeichnend und oft wechselnd mit den anderen Gemeinnamen fçr den Menschen: Isch, Enosch, Gewer. Im Pentateuch steht es einmal, in der Bileamrede, und es fehlt in den geschichtlichen Prophetenbçchern. Der erste Teil des Jesaja-Buches hat es, wohl zufålliger | weise, nicht, dagegen der zweite Teil dieses Buches ebenso wie Jeremia, der Psalter 1.
1 Ûber die mannigfaltigen Antworten, die gegeben worden sind, vgl. C. G. Montefiore, The Synoptic Gospels I 2 S. 64-80, H. Weinel, Biblische Theologie des Neuen Testaments § 34, Bousset-Greûmann, Die Religion des Judentums im spåthellenistischen Zeitalter S. 262 ff., G. F. Moore, Judaism in the first cent. II 333 ff., Wellhausen, Evangelium Marci S. 17 f. und S. 66 ff., J. Klausner, Jeschu ha-nozri S. 266 ff., deutsche Ausgabe S. 348 ff., H. Junker, Untersuchungen çber literarische und exegetische Probleme des Buches Daniel, sowie die in RGG 2 sub voce verzeichnete Literatur. Ûber den allgemeinen Charakter der pseudepigraphischen Literatur siehe Travers Herford, Talmud and Apocrypha S. 171 ff. und 211 ff.; çber die mit unserer Frage zusammenhångenden allgemeinen religionsgeschichtlichen Probleme siehe Rudolph Otto, Menschensohn und Gottesreich.
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und Hiob. Durchgångig benennt es den Menschen schlechthin, im Gegensatz entweder zu Gott oder zum Tiere, und damit appellativ das Menschengeschlecht, das menschliche Wesen. Eine Besonderheit hat unser Wort im Buche Ezechiel; mit ihm, oft zugleich mit dem Fçrwort »du«, ruft Gott den Propheten an. Der prophetische Stil zeigte hier seine Mannigfaltigkeit. So wie einst Abraham und Moses hatten sich Samuel und Elija mit ihrem Namen von Gott angesprochen gehært und ebenso nach ihnen Amos und Jeremia, diese beiden nach der Frage, die Gott an sie gerichtet hatte: »Was siehst du?« Die anderen Propheten haben es so nicht vernommen, auch Jesaja nicht, als ihm in wundersamem, ganz persænlichem Erlebnis die Berufung zuteil ward, Secharja nicht, als an ihn auch die Frage erging: »Was siehst du«. Erst das Buch Daniel, wohl mit einer gewollten Altertçmlichkeit, låût den Kçnder wieder von dem Boten Gottes mit Namen angeredet werden. 2 Wenn unser dichterischer Ausdruck »Menschensohn« fçr Ezechiel der ist, mit welchem ihn der Spruch Gottes fordert, so ist es der Art dieses Propheten gemåû, der sich immer wieder von Gottes erhabener Allgewalt ergriffen und niedergeworfen fçhlt und darum immer erst angerufen und aufgerichtet werden muû, aber angerufen nicht mit seinem Namen, sondern eben mit diesem Worte »Menschensohn«, in welchem sich ihm der ganze Abstand von Gott auftut. Von Ezechiel hat wieder das Buch Daniel das entlehnt; auch Daniel, zu Boden gedrçckt, wird einmal so von dem Abgesandten des Himmels angesprochen. 3 Aber daneben gibt die Danielschrift unserem Worte, und ebenso seinen gleichlaufenden, einen besonderen Ton. Sie erzåhlt von Wesen, die der hæheren Welt zugehæren und die das Aussehen | eines Menschen haben. Sie folgt darin Wendungen, in denen Ezechiel seine erste Vision geschildert hat. Wie dort gesagt ist: »Gestalt von vier Chajjot, und dies war ihr Aussehen, Gestalt eines Menschen hatten sie ± demut adam ±« »Auf der Gestalt des Thrones eine Gestalt, anzusehen wie ein Mensch ± »demut kemar'e adam ±«, ganz so hier: »Siehe, mir stand einer gegençber, anzusehen wie ein Mann ± kemar'e 2.
1 Num 23, 19; Jer 49, 18 und 33; 50, 40; 51, 43; Jes 51, 12; 56, 2; Hiob 16, 21, 25, 6; Ps 8, 5; 80, 18; 146, 3. Der Psalter hat besonders håufig die Pluralform wda jnb, die schon im Abschiedsliede des Moses und ferner bei Joel, Micha und Jeremia sowie in den Sprçchen vorkommt. 3.
2 Ez 2, 1 und oft; 2, 8 und oft; Gen 22, 1; Ex 3, 4; I. Sam 3, 10; I. Reg 19, 9 und 11; Amos 7, 8; 8, 2; Jer 1, 11; 24, 3; Jes 6, 9; Sech 4, 2; 6, 2; Dan 10, 11 f.; 12, 4 und 9; 8, 17. Fçr den Menschen schlechthin im Gegensatz zum Tier, einmal auch im Gegensatz zu Gott ist im Buche Ezechiel das Wort adam gebraucht.
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gawer ±«, »Siehe, einer wie Gestalt der Menschenkinder rçhrte an meine Lippen ± kidemut bne adam ±«, »Wieder rçhrte mich an, der wie ein Mensch aussah ± kemar'e adam ±«, und dann schlieûlich in dem aramåischen Abschnitt der Satz, der religionsgeschichtlich so bedeutungsvoll werden sollte: »Siehe, mit den Wolken des Himmels war einer wie ein Menschensohn gekommen ± kewar enasch ±«. Immer ist also hier gesprochen nicht von einem Menschen, sondern von einem, der das Aussehen eines Menschen hat, der wie ein Mensch erscheint, und erst, wenn weitere Bezeichnungen dieses selbe verdeutlichen, wird auch kurz gesagt: »Mann«, »Mensch«. So: »ein Mann, gekleidet in linnene Gewånder, und seine Lenden umgçrtet mit reinem Gold, und sein Leib wie ein Chrysolith, und sein Gesicht anzusehen wie ein Blitz usw.« oder: »eine Menschenstimme çber dem Ulajfluû« oder, wenn der Name genannt werden kann, noch kçrzer: »der Mann Gawriel«. Immer ist ein Wesen von oben, eines von denen, die dort sind mit menschlicher Gestalt, gemeint. Es ist nicht Gott; und es ist nicht ein Mensch, aber ist doch wiederum in ein Gleichnis zum Menschlichen gestellt. Da, wo »nach den groûen Tieren, deren vier sind« mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn« kommt, darf daher auch der Nebenton des Menschlichen mitklingen: dem, worin sich das Tierische mit seiner Gewalt erweist, stellt sich das nun entgegen, worin Menschliches sein Hæchstes zeigt. 4 Der Stil des Buches Daniel ist fçr alle spåteren Apokalypsen bestimmend geworden. Wir sehen es zunåchst an den sogenannten Bilderreden des Buches Henoch, die zudem nichts anderes sind als ein alter Midrasch zum Buche Daniel; das Buch Daniel ist hier immer vorausgesetzt, seine Worte, die darum nur aus ihm verstanden werden kænnen, werden gebraucht. Ganz wie dort ist hier bildhaft Gott »der Betagte«, »dessen Haupt weiû wie Wolle ist« | genannt, und ganz so ist hier auch von dem »Menschensohn« gesprochen und wird auf ihn hingewiesen. Und dasselbe wie dort wird von ihm ausgesagt. Wie das Danielbuch von ihm erzåhlt, daû er erscheint, nachdem Throne hingestellt sind und Gott inmitten seiner Myriaden sich zum Gericht hingesetzt, die Bçcher geæffnet worden und den Tieren die Macht genommen, und daû nun ihm die bleibende Herrschaft gegeben wird, so auch hier: »Ich sah dort den, der ein Greisenhaupt hat, sein Haupt war weiû wie Wolle, und bei ihm war einer, dessen Antlitz das eines Menschen war«, »ihm, diesem Menschensohn, ward der Schluû des Gerichtes çbergeben, und er lieû die Sçnder 4.
1
Ez 1, 26 vgl. 1, 5 und 10; Dan 8, 15; 10, 16 und 18; 7, 13; 8, 16; 10, 5; 12, 6 und 7.
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und Verfçhrer der Welt von der Erde verschwinden und untergehen«; auf ihn, der »wie ein Menschensohn« ist, wird dann immer wieder hingewiesen. Ein Gleiches zeigt uns dann das IV. Esrabuch. Wie die Danielvision mit der Erscheinung beginnt: »Siehe, die vier Winde des Himmels peitschten das groûe Meer und vier groûe Tiere stiegen aus dem Meer« und dann ihr Wundersamstes in dem Bilde hat: »mit den Wolken des Himmels war einer gekommen wie ein Menschensohn«, ebenso hier: »Ein gewaltiger Sturm erhob sich von dem Meer und regte alle seine Wogen auf. Ich sah, da fçhrte jener Sturmwind aus des Meeres Herzen einen, der einem Menschen glich. Ich sah, und dieser Mensch flog mit des Himmels Wolken.« Und ebenso schlieûlich in der Apokalypse des Johannes. Wie Daniel einen sah »gekleidet in Linnen und seine Lenden umgçrtet mit reinem Gold ¼, seine Augen wie Feuerfackeln und seine Arme und Beine wie das Blinken des glånzenden Erzes und der Schall seiner Worte wie ein gewaltiges Rauschen«, so schaut Johannes »einen gleich einem Menschensohn, gehçllt in wallendes Gewand und um die Brust mit goldenem Gurt gegçrtet ¼, seine Augen wie ein Feuerbrand und seine Fçûe gleich geglçhtem Erz ¼ und seine Stimme wie das Rauschen groûer Wasser«, und wie Daniel erblickt auch er »eine lichte Wolke, und auf der Wolke sitzend einen gleich einem Menschensohn.« 5 | Es sind die Bilder und Worte des Buches Daniel, die çberall hier 5.
1 Henoch 46, 1ff.; 71, 10 ff.; 42, 2ff.; 48, 2; 69, 26 ff.; 70, 1; 71, 17. Zu beachten ist auch 60, 10, wo Henoch in der Weise des Ezechiel mit: »Du, Menschensohn« angesprochen und 71, 14, wo Henoch als der Menschensohn, der zur Gerechtigkeit geboren wird, benannt wird; hier bezeichnet »Menschensohn« einfach, in der alten biblischen Art, den Menschen. Vgl. demgegençber in demselben und dem vorangehenden Kapitel, 71, 17; 70, 1 »jenen Menschensohn«, wodurch in der çblichen Weise unseres Buches auf den Menschenartigen des Danielbuches hingewiesen wird. Die einzige eigene Terminologie unseres Buches ist: Sohn der Mutter alles Lebendigen ± siehe die Zusammenstellung bei Beer, Anmerkung zu 46, 1 ± das ist: Sohn der Chawa, nach Gen 3, 20, Ben chawa entsprechend dem Ben adam. Der Ausdruck des Elasar ha-kappar, aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, im Jalkut zu Numeri 23, 7 nach Midrasch Jelamdenu, falls der Satz nicht çberhaupt apokryph ist: »Er sah voraus, daû ein Mann, Sohn eines Weibes, aufstehen werde, der sich selbst zu Gott zu machen und die ganze Welt zu beirren suchen wçrde«, spiegelt bereits das christliche Dogma wider. In IV Esra siehe 13, 2f., nach Dan 7, 2f.; zu beachten ist hier »dieser Mensch« und 13, 5, 32, 51: »den aus dem Meer emporgestiegenen Menschen«. Die demonstrativen Verweisungen im Henochbuche, »dieser Menschensohn«, »jener Menschensohn« erhalten hierdurch weitere Beleuchtung. In Apokalypse siehe 1, 13 f., nach Dan 10, 5, und 14, 14, vgl. 1, 7. Vgl. hier fçr den Stil 5, 6; »wie ein geschlachtetes«. ± Zu IV. Esra vgl. auch A. Kaminka in MGWJ 1932, S. 121 ff.
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sprechen, entweder einfach wiederholt oder haggadisch weiter ausgefçhrt; nirgends ist ein Eigentliches und Neues zu den Vorstellungen der Danielschrift hinzugefçgt. Sie ist die Apokalypse, und zu ihren wesentlichen Bestandteilen gehært die Erscheinung dessen, »der wie ein Menschensohn ist und mit den Wolken des Himmels kommt und vor Gott hintritt«. Wo immer dann »jener Menschensohn«, »dieser Menschensohn« oder kurz »der Menschensohn« genannt wird, redet das Zitat aus Daniel. Auch in den Evangelien sehen wir es deutlich, da, wo in ihnen Bruchstçcke von Apokalypsen enthalten sind. Wenn hier gesagt ist: »sie werden den Menschensohn auf den Wolken des Himmels mit viel Macht und Glorie kommen sehen«, »ihr werdet den Menschensohn sehen sitzend zur Rechten der Macht, kommend mit den Wolken des Himmels«, so ist nicht zu verkennen, daû hier Såtze aus Apokalypsen, åhnlich der des Johannes, und so wie diese mit dem Zitat aus Daniel, sprechen. 6 Allein diese beiden Såtze, in denen sich hier die alte Bedeutung verkçndet, treten hinter die zahlreichen anderen zurçck, die es immer wieder dartun, daû in den Evangelien das Wort einen neuen Sinn erlangt hat, daû es ein ganz besonderer Ausdruck geworden ist. Nicht mehr das alte apokalyptische Bild erscheint in ihm, sondern ein selbståndiger theologischer Begriff; nicht mehr zum | Gleichnis, zur Kunde der Vision, sondern zur bestimmten Bezeichnung steht es da. Es ist jetzt das Wort, mit welchem eindeutig der Christus der Kirche benannt wird und sich selber benennt. 7 Die Zeit, in der dieser entscheidende Wandel erfolgt ist, kann festgestellt werden. Es ist die Zeit nach der Johannes-Apokalypse; denn diese hat das Wort nur als Danielzitat. Es ist die Zeit nach den Paulusbriefen; denn diese haben unser Wort çberhaupt nicht, begreiflicherweise nicht als Zitat, da sie ja nichts eigentlich Apokalyptisches enthalten, aber auch nicht als Benennung des Christus, obwohl sie es so haben mçûten, wåre es damals schon zum bestimmten Ausdruck fçr ihn geworden. Es ist die Zeit nach dem Barnabasbrief; denn wenn dieser, fast leidenschaftlich, kurz erklårt: »Jesus, nicht Menschensohn, sondern Gottessohn«, so kann wiederum unser Wort noch nicht den Christus eindeutig bezeichnet haben. 8 Aber es ist die Zeit vor den Briefen des Ignatius; denn wenn dieser 6.
1 Matth 24, 30 = Mark 13, 26 = Luk 21, 27, vgl. I. Thess 4, 15 f.: Matth 26, 64 = Mark 14, 62, vgl. Apostelgesch 8, 56. 7.
1 Vgl. die Ûbersicht çber alle in Betracht kommenden Såtze bei Weinel a. a. O. S. 191 ff. 8.
2 Barnabasbrief 12, 10.
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an die Epheser schreibt ± und es klingt dies wie ein sehr betonter Einspruch gegen jenen Satz des Barnabas ±: »Jesus Christus, der Menschensohn und Gottessohn«, 9 so ist hier das Wort bereits zu dem neuen Begriffe geworden, welcher Wesen und Namen des Christus umschreiben soll. Der Bedeutungswandel hat sich also in der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert vollzogen. Zu welch festem Terminus der Ausdruck dann allgemein geworden ist, bezeugt auch ein Satz, in dem Rabbi Awahu, ein jçngerer Zeitgenosse des Origenes und wie dieser in Cåsarea lehrend, sich gegen die Christologie der Kirche wendet. Wenn es hier heiûen kann: »Sagt dir einer: ich bin Gott¬, so lçgt er, der Menschensohn bin ich¬, so wird es ihn geleiden, ich steige zum Himmel empor¬, so hat er gesprochen und wird nicht vollbringen«, 10 dann stand damals das Wort »Menschensohn« so bestimmt da, um eindeutig vom Christus der Kirche und nur von ihm zu sprechen, daû es in der religiæsen Auseinandersetzung das Erkennungswort sein durfte. Auch der Raum, in welchem sich die Umbildung vollzog, ist klar erkennbar. Da im Judentum jener Zeit, wie die Tar | gumim und die alten talmudischen und midraschischen Schriften zeigen, das Wort Menschensohn nur schlechthin fçr den Menschen, nicht aber als Name fçr den Messias gebraucht wird, 11 so kann es, was ja auch aus der polemischen Richtung in Awahus Satz hervorgeht, nur im Bereiche der Kirche zu seiner neuen Geltung gelangt sein. Der lange Weg dahin liegt deutlich vor dem Blick. Er geht wieder vom Buche Daniel aus. Die groûe religionsgeschichtliche Bedeutung kommt diesem vor allem daher zu, daû uns hier eine wesentliche Wandlung des messianischen Gedankens entgegentritt. Wåhrend er im prophetischen Denken und Suchen sich in einer Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen dem Daseienden, jetzt noch Bestehenden und dem Werdenden, Einstigen darstellte, spricht er sich hier in einer Gegensetzung von Hienieden und Droben, von Diesseits und Jenseits aus. Das »Kommende« ist hier nicht mehr ein Tag, zu dem die Hoffnung hinzieht ± jamim baim ±, sondern eine 9.
3 Ignatius, Ephes 20, 2. 10.
4 Jer. Taanit II, 1 Ende, S. 65b unten, mit Beziehung auf Num 23, 19. Vgl. den Satz des Elasar ha-kappar, der S. 317 Anm. angefçhrt ist. 11.
1 Unter den zahlreichen Belegen seien als besonders charakteristisch angefçhrt: ein Satz des Awahu in Jer. Joma V, 3 S. 42c = Peûikta de-Raw Kahana S. 178a »nicht ein Mensch ± Bar nasch ±, sondern Gott«, ferner ein Satz des R. Jehuda, Mitte des 2. Jahrhunderts, Peûikta de-Raw Kahana 190b = Schwuot 39b: »wenn man einen ± Bar nasch ± schwæren låût«, schlieûlich die anonyme haggadische Deutung Wajikra rabba zu 1, 2, ben adam bedeute: Sohn von Gerechten und Frommen.
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Welt, die sich der Vision auftut ± olam ha-ba ±. Ist dort der Erwartete, nach dem die Sehnsucht ausschaut, ein Sproû aus dem Hause Davids, der die Geschichte erfçllen wird, so ist er hier das çberirdische Wesen, das von himmlischen Hæhen her die Geschichte beendet. Ist die Linie der Sehnsucht dort, im Prophetischen, die horizontale, so ist sie hier, und das macht das Apokalyptische aus, die vertikale. Und das Eigentçmliche ist danach auch, daû im Gange der Zeiten jene von dieser doch nicht aus der Seele des Volkes verdrångt noch abgelæst worden ist. Beide behalten sie, bisweilen miteinander kåmpfend, ihren Platz und ihre Richtung: der Sohn Davids und der Menschenartige auf den Himmelswolken; auch im Neuen Testament sehen wir es, wie sie neben- und gegeneinander gestellt sind. Wenn das Apokalyptische immer der Ungeduld, die nicht erwarten, sondern erleben wollte, und auch ihrem Begehren nach dem Wunder entgegenkam, so zog das Prophetisch-Messianische dafçr seine stetige Kraft aus | dem geschichtlichen Bewuûtsein des Volkes, aus seinem Willen, an der Zukunft die Vergangenheit wiederzufinden. 12 Es ist schwer zu sagen, wie weit die Anfånge der apokalyptischen Vorstellung, dieser Steigerung der messianischen Idee ins Ûberweltliche, zurçckzufçhren sind. Zu beachten ist jedenfalls, daû dieser Gegensatz von Oben und Unten charakteristisch ist fçr die alexandrinisch-griechische Offenbarungsphilosophie und daû die Danielschrift, die ihn im palåstinensisch-jçdischen Denken zum ersten Male aufweist, verfaût worden ist, nachdem Palåstina mehr als ein Jahrhundert in dem Macht- und Kulturbereich Øgyptens gestanden hatte. Aber ob es so gewesen ist, daû der Anschauungswechsel sich schon innerhalb des Judentums vollzogen hatte und durch ihn das jçdische Denken dann fçr die alexandrinische Offenbarungsphilosophie empfånglich wurde, oder so, daû umgekehrt ihr Einfluû erst den Wandel ermæglicht hat, låût sich kaum beantworten. Doch wie immer es sei, dieser Wandel hat auf das jçdische Denken weithin eingewirkt; die Vorstellung von der »kommenden Welt« ist seither eine bestimmende. Allem, was einen entscheidenden Wert besitzt, ist nun sein erster und sein bleibender Bereich jenseits des Irdischen zugewiesen. Die Heilige Schrift und das Heiligtum, das Volk Israel, seine Stammvåter und sein Messias, sie gehæren nun mit ihrem Anfang und ihrer Dauer dem Ûberweltlichen, dem Reiche des Idealen zu. Sie sind damit, wie jede Idee, ein Ursprçngliches, vor der gewordenen Welt von Gott geschaffen. Die Pråexistenz wird 12.
1 Vgl. Psalmen Salomos 17, Philo de praemiis et poenis 16. Vgl. L. Baeck, Messias in RGG 2.
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ihnen ausdrçcklich, bald poetisch bald begrifflich, zuerkannt. Auch der Messias ist so der von Beginn an Seiende. Wenn auch dem alten messianischen Glauben ein Ziel darin gewahrt bleibt, daû er, der Ursprçngliche, in einen werdenden Tag als Davids Sproû eintreten soll, wenn auch die besondere Lehre von dem ideellen Vorhersein des Messias, seinem Vorhersein im »Gedanken Gottes«, und von seinem verborgenen, einst zu offenbarenden Namen noch dem Geschichtlichen einen Raum låût, der Messias ist doch jetzt der Pråexistente, der Ideale geworden, der, welcher von jeher bei Gott ist. 13 | Damit trat er aber nahe an eine andere Gestalt, an eine andere Idee heran, so nahe, daû sie beide ineinander çbergehen konnten, ineinander çbergehen muûten. Auch das Volk Israel hat, wie der Messias, seine Pråexistenz, seine Zugehærigkeit zum çberweltlichen Reiche. Und in dieser hæheren Welt haben Messias und Volk doch eigentlich keinen gesonderten Inhalt, keine getrennte Bedeutung mehr. Was sind sie beide hier anders als der Genius Israels, das ideale Israel? Die Grenze, die zwei verschiedene Worte bezeichnen wollten, schwindet im Ideellen; im jçdischen Denken und Dichten sind sie denn auch beide oft zu einem geworden. Wie dies geschehen konnte, zeigt schon das siebente Kapitel des Danielbuches. Ist der, welcher »wie ein Menschensohn ist und mit den Wolken des Himmels kommt und vor den Ewigen hintreten darf«, der Messias oder das Volk Israel »das Volk der Heiligen des Hæchsten«? Wenn hier von dem, der »mit den Wolken des Himmels gekommen war«, gesagt wird mit Worten, die den alten Verkçndigungen vom Messias entsprechen: »Ihm gab man Herrschaft und Wçrde und Reich, und alle Vælker, Nationen und Zungen dienen ihm, seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht weicht, und sein Reich wird nicht zerstært werden«, und wenn danach hier dasselbe vom Volke Israel gesagt ist: »Das Reich und die Macht und die Herrschaft der Reiche unter dem Himmel wird dem Volke der Heiligen des Hæchsten gegeben, sein Reich ist ein ewiges Reich, und alle Herrscher werden ihm dienen und gehorchen«, sind dann nicht die Linien und Zçge beider schon zusammengeflossen? Das ideale Israel oder, mit Daniels Sprache, der Ssar, der Archont, der Aeon Israels ist zum Messias geworden und der Messias zu dem idealen Israel. Fast noch deutlicher sehen wir es im Buche Henoch. Es ist hier von dem »Gesalbten« gesprochen, und er ist oft »der Auserwåhlte« genannt, und dieses sel13.
2 Bereschit rabba I, 4 ed. Theodor S. 6; XIV, 6 ed. Theodor S. 130 sowie die zahlreichen von Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament III, 700 ff. angefçhrten Stellen. Vgl. oben S. 165 ff.
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Der »Menschensohn«
be Wort wird ebenso oft dem Volke Israel beigelegt. Desgleichen heiût er »der Gerechte« und das Volk Israel: »die Gerechten«. Der Kænig der Endzeit und das Volk der Endzeit stehen in gleichen Prådikaten da, und von hier aus wird es ja auch begreiflich, wie dann spåter im kirchlichen Bereich ein Øhnliches fçr den Christus und die Kirche gelten konnte. 14 Die Wurzeln, aus denen das erwuchs, reichen aber | noch tiefer, noch in die Zeit vor dem Buche Daniel, hinein. Schon der Jesaja des Exils hat mit einem und demselben Namen »Erwåhlter des Ewigen«, diesem alten Beinamen des Gesalbten, sowohl das Volk Israel wie den »Knecht des Ewigen« benannt. Die alte Frage, was das Wort »Knecht des Ewigen« in der Rede dieses Propheten bedeute, kann auch kaum anders beantwortet werden, als daû schon hier beide, das Volk und der Mann, welcher des Volkes Wert und Wçrde darstellt ± der Prophet ist es bald und bald der Messias ± in ihrer Bedeutung zusammenklingen. 15 Zu beachten ist hierbei, wie sehr in allem Religiæsen der Versuch, sich auszusprechen, zum Ringen um den Ausdruck wird. Alles Begriffliche stellt sich nur allmåhlich ein. Das Wort »Messias« in seinem bestimmten, begrifflichen Sinne gehært denn auch erst einer spåteren Zeit zu; erst die Pseudepigraphen, das Neue Testament, das Targum und die Mischna besitzen es. Wenn die alten Verheiûungen von dem Herrscher der Zukunft reden wollen, von dem Hause Davids, in welchem Gerechtigkeit wohnen und bleiben wird, so kænnen sie diesen Kænig der kommenden Tage nur in immer neuen Bildern und Vergleichen verkçnden: als den Sproû aus dem Stamme Jischajs, den Zweig aus dessen Wurzeln, auf dem der Geist des Ewi14.
1 Dan 7, 9, 14, 22, 26 f.: Henoch 52, 4 (Gesalbter); 48, 6ff.; 49, 2; 50, 1; 51, 3ff.; 52, 6ff.; 53, 6; 55, 4; 56, 6; 58, 1ff.; 61, 8ff.; 62, 1ff.; siehe auch das sogenannte VI. Esrabuch 1, 53.56. (Auserwåhlter und Auserwåhlte); Henoch 38, 1ff.; 46, 3ff.; 47, 1; 61, 13; 62, 2; 71, 19; vgl. 60, 2 (der Gerechte und die Gerechten). Vgl. Jes 60, 21 und Ps 37, 29 Sowie Ssanhedrin X, 1; Tanchuma Chajje Ssara, Ende. Zu »mein Sohn« IV. Esra 13, 32 vgl. Ex 4, 22 und Ps 2, 7. Charakteristisch ist eine apokalyptische Haggada des R. Meir ± Tanchuma Wajjeze, II ±, in der Jakob, gegençber den Ssarim von Babel, Medien, Jawan und Edom, als der Ssar des Volkes Israel erscheint. Zu erinnern ist auch daran, daû bei Philo-de prof. 20, de somniis II, 28 und 34 ± bisweilen der Logos, bisweilen Michael als der »Hohepriester« bezeichnet ist. 15.
1 II. Sam 6, 21 und 21, 6; I. Kæn 11, 34; Ps 89, 3 und 106, 23; Jes 43, 10, 20; 44, 1; 45, 4; 65, 9, 15, 22; 52, 13 ff.; 61, 1. ± Es ist zu beachten, daû die LXX den »Knecht Gottes« zumeist mit dem Worte pa¼@, das auch »Kind« bedeutet, wiedergeben (Jes 42, 1, 49, 6, 50, 10, 52, 1 3), selten mit do½lo@ (49, 3 und 5). Bemerkenswert ist, wie das Lukas-Evangelium bzw. die Apostelgeschichte mit dem Worte pa¼@ sowohl Jesus (Apostelgesch. 3, 13, 4, 2 7 und 30) als auch David (Luk 1, 69) wie das ideale Israel (Luk 1, 54) benennt.
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gen ruhen wird, als das Kind, das uns geboren, auf dessen Schultern die Fçrstenschaft sein, das man nennen wird Fçrsten des Friedens, als den Sohn, den sein Vater heiûen wird: Immanuel, d. h. Mit-unsist-Gott, als den gerechten Sproû, der auf Erden Recht und Wahrhaftigkeit tun wird, als den Hir | ten, der sie weiden, der ihnen ein Hirt sein wird. 16 Schon von dem Manne einer Zukunft, die im Wege dieser Welt lag, konnte nur in Gleichnissen erzåhlt werden. Um wieviel mehr war es so, als nun von dem gesprochen werden sollte, der dem Jenseits, dem Ûberweltlichen zugehærte, der als der Genius des Volkes, als der messianische Befreier die ganze Fçlle der Bedeutung in sich schloû. Kein einzelnes Wort, keine einzelne Bezeichnung konnte ihn benennen, ihn konnte nur das Bild aufzeigen: mit den Wolken des Himmels war einer wie ein Menschensohn gekommen und vor Gott hingetreten. Dieses Bild, vollståndig oder gekçrzt, als Anfçhrung oder als Erinnerung aus dem Danielbuch, hat fortan von ihm gesprochen. Der Satz, in dem sich dieses Bild darbot, trat in die griechische Welt, in die griechische Sprache der Kirche. Hier aber sprach aus den Worten »Sohn eines Menschen« nicht wie im Hebråischen ein Wortgebilde, um einfach einen Menschen zu bezeichnen, sondern hier waren es zwei Worte, und sie meinten: ein Sohn eines Menschen. Und was die zwei griechischen Worte so aussagten, das gewann im Werden der Kirche sehr bald eine Bedeutung, an der sich die Meinungen und schlieûlich die Ûberzeugungen schieden. Die Predigt des neuen Glaubens hatte die beiden Gedanken, die im jçdischen Volk lebten, den prophetischen vom Sohne Davids und den apokalyptischen von dem çberweltlichen Wesen, zu der Lehre vom himmlischen und menschlichen Ursprung des Messias, von dem als Menschenkind geborenen Sohne Gottes verbunden. Aber wider den als Menschen Geborenen, den Sohn eines Menschen erhob sich nun radikaler, gnostischer und marcionitischer, Widerspruch. Gegen ihn hat die Kirche sich wenden mçssen. Wie sie gegençber dem Judentum die Gottessohnschaft betont hatte, so hat sie jetzt der Gnosis gegençber die Menschensohnschaft betont, je heftiger das Ringen war, desto nachdrçcklicher. Der Menschensohn ist in dieser Auseinandersetzung zum Losungsworte geworden, das sich durchgesetzt hat. Hatte der Barnabasbrief noch den Satz wagen dçrfen: »Jesus, nicht Sohn eines Menschen, sondern Sohn Gottes«, so schreibt nun Ignatius an die Epheser: »Jesus Christus, der Sohn eines Menschen und Gottes«. In den Worten | des Irenåus, die diesem Wege folgen: 16.
1 Jes 11, 1ff.; 9, 5f.; 7, 14 f.; Jer 23, 5; Ez 34, 23.
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Der »Menschensohn«
»Filius dei filius hominis factus« hat die katholische Kirche endgçltig ihre Lehre erkannt. Der »Menschensohn« ist aus einem Bilde jetzt ein fester Begriff, ein wesentlicher Bestandteil des Dogmas geworden. Die Hellenisierung unseres Wortes hat sich vollzogen. 17 In diesem Kampfe gegen die Gnosis, der ein Kampf um den Menschensohn war, ist die Kirche ihrer selbst gewiû und ist sie zur katholischen Kirche geworden. Um ihn zu bestehen, hat sie den neutestamentlichen Kanon geschaffen. Im Evangelium des Kanons 18 hat der Menschensohn seinen Platz erhalten, und es wird jetzt begreiflich, weshalb er dort eine der håufigsten Bezeichnungen Jesu ist, weshalb er bisweilen, wenn Jesus von sich spricht, das »Ich« ersetzt. Er gehært in die siegreiche Christologie der Gemeinde, in das Evangelium der Kirche. Nicht nur »wie ein Mensch, der mit den Wolken des Himmels kommt und vor Gott hintritt«, ist er hier, sondern der Gottessohn, welcher Menschensohn geworden ist. Der dogmatische Akzent bestimmt hier das Wort. Wie unser Wort seinen Weg von der alten Dichtung der Bibel zur Apokalypse genommen hatte, so ist es jetzt aus der Apokalypse in den Bereich der kirchlichen Begriffe eingetreten. Sein Weg ist ein Weg der Religionsgeschichte.
17.
1 Wenn der Barnabas-Brief, falls 16, 3f. so zu deuten sein sollte, erst der Zeit Hadrians angehærte, so håtten wir in seinem Satze einen letzten Einspruch gegen die kirchliche Lehre vom Menschensohn. Der Hebråerbrief 2, 6 konnte den »Menschensohn« von Ps 8, 5 schon auf den Messias deuten; vgl. I. Kor.15, 27 und Eph 1, 22. Zu Irenaeus und dem kirchlichen Dogma vgl. Harnack, Dogmengeschichte I 4 S. 596 f. und 606 f. Anmerkung. Wenn Harnack in der Gnosis eine »akute Hellenisierung« findet, so darf daran erinnert sein, wie vor allem eine Hellenisierung des Wortes ihre Wirkung ausgeçbt hat. 18.
2 Auch das Markusevangelium in seiner kanonischen Form gehært erst dem letzten Teil des I. Jahrhunderts an. Einen interessanten chronologischen Hinweis gibt jetzt E. Bikerman in seinem Aufsatz, Les Hrodiens, in Revue Biblique 1938 p. 195 f.
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Der Satz Matthåus 16, 19 gehært zu den Stellen des Neuen Testaments, deren Auslegung auf eine ganze Geschichte zurçckblicken kann. Der katholischen Kirche lehrt er den Primat des Papstes, und in der Polemik zwischen ihr und dem Protestantismus hat er darum seinen bevorzugten Platz gehabt. Aber auch der modernen Exegese 1 ist er in sachlicher und sprachlicher Hinsicht ein Gegenstand der Bemçhung. Jesus sagt zu Schimon bar Jona (V. 18): »Du bist Petrus, und auf diesen Fels will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hælle werden sie nicht bewåltigen. (V. 19) Ich will dir die Schlçssel des Reichs des Himmels geben, und was du auf Erden binden wirst, soll gebunden sein im Himmel, und was du auf Erden læsen wirst, soll gelæst sein im Himmel.« Der Sinn des ersteren dieser beiden Verse ist deutlich. Schimon bar Jona trågt, was die Anrede an ihn als bekannt voraussetzt, den Beinamen Kefa aq5jK9, Fels, griechisch Ptro@. 2 Diesem Beinamen gemåû wird er als der feste Grund hingestellt, auf dem die Gemeinde erstehen soll: »Du bist Kefa, und auf diesem Kefa will ich meine Kirche bauen.« Das ist bis hierher ein klarer Vergleich, der dem Auge eine bestimmte Vorstellung bietet. Die Schwierigkeit beginnt mit dem folgenden Verse. Der zweite Vers verlåût nåmlich gånzlich das Bild, das der erste begonnen hat. Dort ist Schimon der Fels gewesen, das Fundament, das den neuen Bau tragen soll; hier ist er jetzt der o§ko | nmo@, der 1.
1 Siehe die Synoptiker erklårt von H. J. Holtzmann (Handkomm. z. N.T.); die Evangel. nach Matth und so weiter, ausgelegt von C. F. Næsgen (Kurgef. Komm. z. N.T.); das Evangelium Matth, çbersetzt und erklårt von J. Wellhausen, und andere; vgl. Arnold Meyer, Jesu Muttersprache, p. 94; Dalmann, Die Worte Jesu I, 174; Strack-Billerbek z. St. 2.
2 Vgl. Matth 1, 2; Mc 3, 16 f.; Joh 1, 42; 322 und so weiter.
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Schlçsselmeister und Verwalter fçr das neue Haus. 3 Die beiden Såtze klaffen so vællig auseinander. Eine Verbindung zwischen ihnen lieûe sich nur dann schaffen, wenn die beiden Vorstellungen, auf denen die entgegengesetzten Bilder beruhen, durch ein gemeinsames oder åhnliches Wort, das sie beide bezeichnet, wieder verknçpft wçrden, wenn also die sachliche Verschiedenheit durch die phonetische Gleichheit, durch ein Wortspiel çberbrçckt wåre. Dies ist unbedingt erforderlich, wenn anders die genannten Såtze zusammengehæren sollen. Der einzige unter den Erklårern unserer Stelle, der diese Notwendigkeit wohl empfunden hat, wenn er sie auch nicht ausspricht, ist A. Sulzbach. 4 Er will dartun, daû das Amt des Petrus als das des Schlçsselbewahrers gedacht ist. Hierfçr weist er auf einen von den Wachtråumen des Tempels hin, in welchem die Schlçssel des Heiligtums aufs sorgsamste aufbewahrt wurden; dieser wird zweimal ausdrçcklich als eqjk, als Gewælbe, bezeichnet (Tamid 1, 1; Middot 1, 8 f.). Die Sorgfalt, mit der die Schlçssel in dieser Kippa geborgen werden, soll das Vorbild abgeben fçr das Schlçsselamt, das dem Schimon Kefa anvertraut wird. »Nun wird«, so schlieût Sulzbach, »das bekannte Wortspiel: Kaiphas, aqjk, Felsen, noch durchsichtiger; nicht nur auf dem Felsen, Kaiphas, soll das Heiligtum stehen, sondern Kaiphas soll auch die bisherige eqjk ersetzen, in deren Hut die Tempelschlçssel geborgen waren«. So geistreich diese Kombination unstreitig ist, so will sie doch etwas gezwungen erscheinen. 5 Und vor allem, sie låût den Kern | punkt 3.
1 Daû in Vers 19 das Haus als bereits erbaut gedacht werde, im Gegensatz zu dem erst zu erbauenden des Vers 18, wie zum Beispiel Holtzmann annimmt, und wodurch die Schwierigkeit nur erhæht wird, låût sich kaum behaupten. Petrus erhålt nicht das Schlçsselamt in dem Hause, sondern fçr das Haus, nåmlich fçr das zu erbauende Haus. ± Das Reich des Himmels in der ersten Hålfte des Verses ist, wie Wellhausen hervorhebt, die neue Gemeinde, die geschaffen werden soll. 4.
2 In der ZNTW IV, 19 f. Sulzbach wendet sich gegen die Auffassung W. Kirchbachs, der in den Schlçsseln eine Anspielung auf die wjhjtb der Stiftshçtte findet. 5.
3 Eines håtte Sulzbach zugunsten seiner Ansicht noch anfçhren kænnen: der an und fçr sich nicht notwendige Genuswechsel zwischen ptro@ und ptra ± s eâ Ptro@ ka p tat±h t±» ptr°a ktl. ± deutete mæglicherweise auf einen entsprechenden Genuswechsel im Aramåischen hin; der kænnte dann der Wechsel zwischen dem Maskulinum aqjk und dem Femininum eqjk sein. Das nåchstliegende ist jedoch, daû das griechische Evangelium den Genuswechsel deshalb vorgenommen hat, um dadurch den Unterschied zwischen dem Eigennamen Petrus und dem Appellativum Fels kenntlich zu machen. ± Das Wort tat±h wird çbrigens von Blaû gestrichen.
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auûer acht, daû nåmlich die beiden Bilder, die im Mittelpunkt des Vergleichs stehen und die also allein durch das Wortspiel miteinander verknçpft werden kænnen, das des Felsens und das des Bindens sind. Das Binden, und nicht der Schlçssel, ist der wesentliche Begriff; denn wåre der Schlçssel das Wesentliche im Vergleiche, dann wåre wohl vom Schlieûen bzw. Úffnen die Rede gewesen, nicht aber, wovon unser Satz spricht, vom Binden bzw. Læsen. Der Schlçsselbund ist das ganz allgemeine Abzeichen des o§konmo@, das durch Jes 22, 22 gegeben war; 6 das Besondere und Charakteristische, das hier vom Verwalter ausgesagt wird, ist das Binden und Læsen. Zwischen dem Binden und dem Felsen muû also jene erforderliche phonetische Øhnlichkeit vorhanden sein. Hålt man dies fest, so kommt die Læsung alsbald nåher: aramåisch aqjk heiût der Fels, und binden heiût im Aramåischen vq4K7. Der Gleichklang zwischen aqjk und vqk ist es, der die beiden entgegengesetzten Bilder zusammenschlieût. Erst dieses Wortspiel macht einen Zusammenhang der beiden Såtze verståndlich. Das Wort vqk finden wir im Buche Daniel, und es kommt dann sowohl in der Mischna wie auch im jerusalemischen Fragmententargum zur Torah und im Targum zu den Hagiographen vor, 7 dagegen nicht bei Onkelos und wohl auch nicht im Prophetentargum. 8 Auch die beiden Talmude bieten zahlreiche Belege. Besonders die Mischna Kelim XII 1 ist fçr den Vergleich mit unserem Satze bezeichnend, weil sie zeigt, wie z. B. eine Kette entweder | mit einem Schlosse versehen (eljpn vjb uju) 9 oder zum Zubinden eingerichtet (evjqkl ejfupe) sein konnte. Daû das Binden und Læsen 10 an unserer Stelle die Bedeutung hat: fçr verboten und fçr erlaubt erklåren, toa und tjve, bedarf fçr keinen Kenner des Sprachgebrauches jener Zeit einer weiteren Aus6. 7.
Vgl. Apok 3, 7 und Ssifre zu Deut 32, 25 (S. 138a). Siehe die Nachweise bei J. Levy: Wærterbuch çber die Targumim und Neuhebråisches und Chaldåisches Wærterbuch; Kohut: Aruch comp.; Dalmann: Aramåisch-neuhebråisches Wærterbuch u. a. sub voce. Fçr das jerusalemische Targum sei noch die Variante Gen 11, 8 hinzugefçgt Ejd¸jB3 Ejv9q7K4 . 8.
3 Die genannten Werke haben keine Belege aus dem Prophetentargum; mir sind aus demselben wenigstens zwei Varianten bekannt, die eine fçhrt Lagarde, Prophetae chaldaice, zu Jud 15, 10 (p. XIII) an: vqkjml fçr tojml; sodann zitiert Ssaadja in seinem Kommentar zu Dan 3, 20 das Targum zu Richt 15, 12, das in den gewæhnlichen Ausgaben an der betreffenden Stelle Ytojml hat, folgendermaûen: Yvj avqkl xnjmctvm Ytoal. 9.
1 Siehe auch ebendort: ªjnu fje wa lba dha hvqm afeu xmgb. 10.
2 Vgl. Matth 18, 18. ± Siehe auch Wçnsche, Neue Beitråge zur Erlåuterung der Evangelien 196 f.
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fçhrung. Alle sonstigen Auffassungen, daû es sich, wie z. B. die griechischen Våter und die alten lutherischen Theologen annahmen, um die Befugnisse der Sçndenvergebung handle, oder daû das Recht, einzulassen und auszuschlieûen, gemeint sei und dgl. mehr, sind sprachlich nicht gençgend zu rechtfertigen. Petrus wird, wie Wellhausen klar hervorhebt, als Schriftgelehrter 11 gedacht, und die weisende, entscheidende Tåtigkeit, die einem solchen zusteht, wird ihm darum çbergeben. Von ihm soll das Urteil çber Recht und Unrecht, çber erlaubt und verboten abhången. Die bekannte Doppeldeutung von toa zeigt, wie die Begriffe des Bindens und des Verbietens ineinander çbergehen. Ebenso ist aber çberhaupt jedes Festhalten, Zurçckhalten, Verschlieûen fçr das Denken der damaligen Zeit leicht mit der Vorstellung des Verbietens verknçpft. Eine alte Erklårung zu Deuteronomium 16, 8 setzt fçr trp (verschlieûen) ausdrçcklich toa (verbieten) ein und weist dieses Verschlieûen und Úffnen als besondere Befugnis dem Schriftgelehrten zu. 12 Er soll das Schlçsselamt des Erlaubens und Verbietens haben. Der Schlçssel und das Binden bzw. Verbieten vertrugen sich durchaus. Ebenso ist es ein jener Zeit vertrauter Gedanke, daû im Himmel als verboten und erlaubt anerkannt wird, was der Schriftgelehrte dafçr erklårt. 13 Welch wichtigen Platz endlich die Wortspiele in der lehrhaften Darlegung damals einnahmen, das bedarf nicht erst der Beispiele.
11.
3 Vgl. Matth 13, 52. 12.
4 Siehe Ssifre zu Deut 16, 8 (ed. Friedmann S. 101b) und Parallelen: dpfm jmjl xjnm wjmkhl ala bfvke ftom al ¼ ekalm lkm tfrp jpjbu em ¼ vtrp ¼ lªªv ekalmb wjtfoau .tvfm wfj fgjaf tfoa wfj egja Yl tmfl 13.
5 Siehe zum Beispiel Jer Rosch ha-schana I, 3 (jdpfm we wva wvjts wa); Ssifra zu 23, 2 (ed. Weiû S. 99b); Jer Ssanhedin I, 2 (eimlu dªªbl ¼ xjnp va eªªbªªse tom Yk lk); Peûikta de-Raw Kahana ed. Buber 193a.
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R E LIGIONSGE SCH ICHTLICH E S
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Drei alte Lieder
In jeder unserer drei groûen Midraschsammlungen sind uns, ohne Nennung des Namens des Verfassers, zwei Strophen und eine Halbstrophe çberliefert, 1 in denen das jçdische Volk von dem singt, was ihm in allem Wandel und allem Leide dennoch bleibt. Sie knçpfen an den Satz des Hohenliedes (5 2) an: »Ich schlafe, und mein Herz wacht«. Die Gemeinde Israel spricht diese Worte vor Gott ± im Sinne der alten, von Akiwa festgehaltenen, von Jochanan bar Nappacha dann bisweilen verlassenen Weisung, 2 daû die Lieder des Hohenliedes Wechselrede zwischen der Gemeinde Israel, »der Geliebten«, und Gott, »dem Freunde«, seien. Der Text, der in unsern Ausgaben des Midrasch Chasita verderbt ist, hat im Tanchuma und in der Peûikta die ursprçngliche, echte Form. Er lautet mit seiner Pråambel und seinen Strophen, welche als Kehrworte die beiden Hålften unseres Bibelsatzes haben: wjmlfpe xfbt :eªªbse jnql latuj vonk etma udsme vjbm enuj jna vfutdm jvbbf vfjonk jvbb tp jblf vfnbtse xm enuj jna vfsdrbf vfrmb tp jblf vfrme xm enuj jna wvfupl tp jblf Zse xm enuj jna 1.
1 Midrasch Hohel 5, 2; Tanchuma ed. Buber zu Gen 27, 9, p. 69a; Peûikta deRaw Kahana, zu Paraschat Hachodesch, ed. Buber p. 46 a f.; Peûikta rabbati, ibid., ed. Friedmann, p. 70a. Einige Fragmente unseres Textes sind in Schmot rabba II, 7 und XXXIII, 3 erhalten, an letzterer Stelle auch eine Umdichtung. 2.
2 Midrasch Hohel zu 1, 1 (I, 11). Die von Akiwa vertretene Auffassung des Hohen Liedes geht nicht erst auf ihn zurçck, sondern ist schon die frçherer Lehrer gewesen.
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elfacl tp jblf | elface xm enuj jna 3 jnlacju tp jblf Das Verståndnis dieser Såtze hångt zunåchst davon ab, daû der Sinn der Wortverbindung xm xuj »schlafen von« erkannt wird. 4 Was sie meint, kænnen andere Såtze des Midrasch zeigen, welche das gleiche oder ein åhnliches Wort bieten. Ein Satz des Rabbi Lewi sagt: »Gott richtet die Vælker der Welt nur in der Nacht, zu der Zeit, wo sie von den Sçnden schlafen, und er richtet Israel nur am Tage, zu der Zeit, wo es die Gebote çbt.« 5 Es ist klar, daû das Wort »schlafen von« hier nur bedeuten kann: »nicht tun, nicht çben, nicht zu begehen vermægen, nicht haben«, weshalb denn auch den Gegensatz zu ihm das Wort sop »çben, sich befassen« bildet. Daher kann die Ûberlieferung unseres Satzes im Jeruschalmi unser Wort »schlafen von« durch das Wort lib, »feiern, mçûig sein, etwas nicht tun« ersetzen, und kann die erweiterte Fassung der Peûikta rabbati beide Worte miteinander abwechseln lassen. 6 Wir haben hier also als sprachliche Gleichung xm lib = xm xuj und ©b sop = ©b tp Die gleiche Richtung zeigt unser Wort im Midrasch zu Ps 3, 6: »David sprach: Ich legte mich nieder von der Prophetie, und ich schlief vom Heiligen Geist, ich erwachte durch Chuschai, den Arki, denn der Ewige richtete mich auf durch Natan, den Propheten.« 7 | Es ist wiederum klar, daû unser Wort besagt: nicht haben, nicht besitzen, nicht çben kænnen, und das Erwachen demgegençber meint: wieder erlangen, wieder fåhig werden. Eine weitere Linie dieser Bedeutung gibt ein Satz im Midrasch zu Ps 121, 3: »Das Gebet: 3.
1 Diese letzte Zeile ist auch im Tanchuma und in der Peûikta dadurch verderbt, daû die Einfçgung eines Abschreibers, der das Wort jbl durch die Worte eªªbse lu fbl erlåutern wollte, in den Text gekommen ist. 4.
2 Levy, Wærterbuch çber die Talmudim und Midraschim, s. v., erklårt ganz unbestimmt »vernachlåssigen«, und ihm folgen andere Wærterbçcher, ebenso Bacher. 5.
3 Bereschit rabba zu 19, 1 (50, 3), ed. Theodor-Albeck p. 519 eªªbse xja jfl ªt tma
wjsofpu epub wfjb ala latuj va xd fnjaf vftbpe xm wjnuju epub eljlb ala wlfpe vfmfa va xd vffrmb. Ebenso Jer Rosch ha-Schana 57 a, wo fçr vffrme zu lesen ist: vftbpe, sowie
Midrasch zu Ps 9, 9 und in erweiterter Form Peûikta rabbati p. 167 b. Im Jeruschalmi steht fçr wjnuj das gleichbedeutende wjlib. Vgl. Megilla 13 b unten: fnuj .vfrme xm 6.
4 Zu der Bedeutung von lib vgl. Awot I, 5 u. IV, 10 sowie, zum Beispiel, Berachot 16 a, wo xm lib und sop sich gegençberstehen. 7.
5 ed. Buber p. 20 a: jufh jdj lp jvfrjse udse hftm enujaf eafbne xm jvbku jna dfd tma ajbne xvn jdj lp jnkmoj ªd jk jktae. Die gleiche Wortfolge ist dort als tha tbd der Gemeinde Israel in den Mund gelegt.
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Drei alte Lieder
mæge nicht schlummern, der dich behçtet!¬ will besagen: mæge Gott nicht, gewissermaûen, schlummern von¬ den Leiden, die çber Israel in dieser Welt kommen!« 8 Der Sinn ist wieder: Mæge Gott nicht gewissermaûen mçûig sein, untåtig bleiben gegençber den Leiden Israels! Im Wortlaut am nåchsten kommt unseren Strophen ein Wort des Rabbi Alexander: »Wenn ich von der Torah und den Geboten schlief, dann reihten sich mir Nåchte an Nåchte«, 9 ± was wiederum doch sagen soll: »Wenn ich sie nicht çbte, sie nicht çben konnte ¼«. Daû auf dem letzteren der Ton wohl eher liegen mag, darauf kænnte ein Gebet dieses selben Mannes hinweisen: »Herr der Welten, es ist offenbar und erkannt vor Dir, daû es unser Wille ist, Deinen Willen zu tun, und wer hindert es? die Knechtung durch die Reiche. Mæge es Dein Wille sein, daû Du uns aus ihrer Hand rettest, und wir wieder die Satzungen Deines Willens mit ganzem Herzen tun!« 10 Unserem Worte »schlafen von« entspricht so in diesem Gebete der Begriff: gehindert werden. So ergibt sich, daû unsere Wortverbindung »schlafen von« insgesamt bedeutet, indem das Schlafen als ein Vorçbergehendes zugleich noch die Bedeutung des Zeitweiligen, nicht Endgçltigen in sich schlieût: zu einer Zeit etwas nicht besitzen, nicht tun, nicht vermægen. 11 Und das Wort »wachen in« meint demgegençber: etwas besitzen, etwas vermægen, es tun kænnen. Danach wird der Sinn zunåchst der beiden ersten Strophen durchaus klar. | Sie singen: Mir ist jetzt versagt das Heiligtum, Aber mein Herz besitzt die Synagogen und Lehrhåuser. Mir sind jetzt versagt die Opfer, Aber mein Herz besitzt die Gebote 12 und das Wohltun.
8.
1 ed. Buber p. 253b: lfkjbk ege wlfpb latuj lp vfabe vftre xm ala Ytmfu wfnj la em ala xuj bªse. Vgl. Ssota 48a. 9.
2 Midrasch Hohel zu 3, 1 vfljl jl fkmon vffrme xmf etfve xm jl jvnujuk jtdnokla ªt tma vfljll. Dieser Satz wird dann dort von R. Lewi erweitert. 10.
3 Berachot 17a: eojpbu tfau bkpm jmf Ynfrt vfupl fnnfrtu Yjnql pfdjf jfln wjmlfpe xfbt wlu bblb Ynfrt jsfh vfupl bfunf wdjm fnljrvu Yjnqlm xfrt jej vfjklm dfbpuf. Die Worte eojpbu tfau, die sich auch wenig in den Zusammenhang fçgen, sind wohl aus
dem Gebete des Tanchum bar Scholastikai, Jer. Berachot 7d, in das unsere eingedrungen. Vgl. Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer I, 197. 11.
4 In dem Satze Bereschit rabba 17, 5 enju elqm vlhv hat das Wort Schlaf selbstverståndlich einen anderen Sinn. 12.
1 Mizwa schlechthin bezeichnet meist gemilut cheûed; vgl. Friedmann zu Peûikta rabbati p. 70a n. 39; aber hier sind wohl Gebote çberhaupt gemeint.
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Mir sind jetzt versagt die Gebote, Aber mein Herz besitzt, sie zu tun. Mir ist jetzt versagt das Zeitenende, Aber mein Herz besitzt die Erlæsung. Unsere Verse sind ohne Nennung des Verfassers çberliefert, und es ist zwar keine allgemeine Regel, aber eine doch sehr oft berechtigte Vermutung, daû die Anonymitåt auf ein hohes Alter hinweise. Såtze ohne den Namen des Urhebers sind zumeist solche, die im Laufe der Jahre in Volksweisheit und Volkspoesie çbergegangen sind, so daû der Autor darçber vergessen werden konnte. So erscheinen zum Beispiel Såtze des Jesus ben Sirach im talmudischen Schrifttum, ohne daû sein Name erwåhnt wird. Die Art, wie diese seine Såtze angefçhrt sind, 13 ist bezeichnend fçr den Ursprung und Charakter der anonymen Haggada. Von hier aus wird es auch begreiflich, daû in dieser Form Såtze, die aus dem haggadischen Schrifttum bezeugt sind, uns in den Evangelien entgegentreten. Sie sind hier nicht Aussprçche, sondern sind auch hier angefçhrt als Såtze, die im Munde des Volkes oder der Gelehrten lebten und deren Autor nicht mehr genannt oder gekannt ist. Die frçhe Zeit, der unsere Strophen entstammen, låût sich genau feststellen; der Inhalt zeigt die Zeit deutlich an. Wenn die erste Strophe sagt, daû Tempel und Opfer jetzt versagt sind, so weist dies unzweifelhaft auf die Tage nach der Zerstærung des zweiten Tempels. In ihnen hatte Jochanan ben Sakkai zu seinem Schçler Jehoschua, der çber den zerstærten Tempel klagte, gesprochen: »Wir haben eine Sçhne, die so viel ist wie der Tempel, wir haben die Liebestat«, 14 und auch die alten Worte waren damals sicherlich | lebendig geworden, die das Lehrhaus und die Synagoge neben das Heiligtum stellten. 15 So hat damals auch der Dichter unserer Strophe træstend von dem gesungen, was geblieben war, von dem Hause des Gebetes und der Lehre, von dem Gebot und der tåtigen Liebe, und das Volk hat es ihm dann nachgesungen und seinen Namen vergessen. Die zweite Strophe weist dann aber deutlich auf eine andere Zeit und auf den anderen Autor. Er widerspricht dem, womit die erste Strophe geschlossen hat, indem er beginnt: »Mir sind jetzt versagt die Gebote.« Gerade das zeigt unverkennbar die Zeit an, in der er sang. Es waren die Tage, in denen nun auch Gebote verwehrt wur13.
2 Vgl. Zunz, Gottesdienstliche Vortråge S. 102, Anm. b, c und d sowie Schechter in JQR III, 682-706. 14.
3 Awot de-Rabbi Natan IV, 5; Peûikta 165b. Vgl. Derenbourg, histoire de Palstine p. 313 f. u. 480 f. 15.
1 L. Baeck, Die Pharisåer S. 204 ff.
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Drei alte Lieder
den, 16 die Tage nach der Niederwerfung des Aufstandes des Bar Kochba, die Tage der hadrianischen Verfolgung, die scha'at haschmad. In ihnen konnte der alte Trost nicht ganz mehr gelten, daû doch die Gebote gewåhrt sind; auch sie waren nun nicht mehr ganze Wirklichkeit. Und es war die Zeit, in der die Erwartung des Zs, des Endtages, wie man sie damals gehegt hatte, diese Erwartung, daû Bar Kochba ihn herauffçhre, vergeblich geworden war; auch diese Trosteshoffnung war nun versagt. Damals hat darum einer, dessen Name wieder hinter seiner Dichtung entschwand, im Sinne und in der Art der alten Strophe fçr seine Zeit die neue gesungen: So manches Gebot ist jetzt verwehrt, aber so viele sind doch geblieben; zu frçh war der Endtag geglaubt, er ist jetzt geschwunden, aber die Gewiûheit der Erlæsung bleibt doch. Das war das neue Lied, der neue Trost, der zu dem alten hintrat. In der Zeit, die nun begann, hoffte man oft auf ein Aufhæren der Herrschaft Roms. Die Geschichte Babels war doch zu Ende gegangen, die Persiens, die Jawans; sollte nicht auch die des Ræmischen Reiches, Edoms, ihr Ende finden? Aus diesem und jenem glaubte man zuweilen eine Zuversicht gewinnen zu kænnen. Aber in den Jahren Aurelians und Diokletians schwand auch sie mehr und mehr. Damals sagte Schimon ben Lakisch: »Der Abgrund« (Gen 1 2), das ist Rom. »Wie der Abgrund nicht ergrçndet werden kann, so kann die Dauer dieses Reiches nicht ergrçndet werden.« 17 Damals sagte Schmuel bar Nachman: die Engel, die Jakob im | Traume aufund niedersteigen sah, sind die Aeonen von Vælkern gewesen; der Aeon Babels, der Mediens, der Jawans stieg auf und stieg dann nieder, aber der Edoms stieg hinauf und hinauf, und kein Ende lieû sich sehen. 18 Doch Schmuel bar Nachman hat dann auch das Wort des Trostes also verkçndet: »Als damals Jakob sich fçrchtete und sagte: Wird er denn niemals herniedersteigen?¬ sprach Gott: Du fçrchte dich nicht, mein Knecht Jakob, und verzage nicht, Israel, (Jer 30, 10); såhest du ihn auch gleichsam neben mich hinaufsteigen, von dort stçrze ich ihn herab¬« (Owadja 4). 19 Ganz so hat ein Ungekannter in jenen Tagen den Trost gegeben, indem er an unsere Strophen, auch er wieder dem letzten Satze widersprechend, zwei neue Verse stellte. Mit kçhner Paradoxie hat er çber das, was einst, in zwiefacher Zeit, gesungen worden war, sein Lied zum Lied fçr alle Zeiten empor16.
2 Mechilta Bachodesch, ed. Friedmann 68b. 17.
3 Bereschit rabba zu 1, 2 ed. Theodor p. 17: epute vfklm Yk tsh fl xja ege wfev em tsh el xja. Cf. Peûikta rabbati p. 152b. 18.
1 Tanchuma zu Gen 20, 12, Peûikta 151b, Wajjikra rabba 29, 2. 19.
2 a. a. O.
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gefçhrt, indem er das Wort »mein Herz« ein Wort sein låût, mit dem die Gemeinde Israel ihren Gott anruft, ihn nennt »mein Herz« 20 und also darum sprechen darf: »Ich schlafe, und mein Herz, das ist mein Gott, wacht ± mir ist noch versagt die Erlæsung, aber mein Gott bleibt, so daû er mich erlæsen wird.« So ist es die letzte Antwort.
20.
3 Chija bar Abba hatte mit Berufung auf Ps 73, 26 Gott als das »Herz« Israels bezeichnet. Siehe die S. 330 in Anm. 1 und S. 331, Anm. 1 genannten Stellen.
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Am Anfang des Midraschs zum Buche Leviticus, sowohl im Rabba wie in den beiden Tanchumas, ist uns eine Predigt 1 des Tanchum bar Chanilai, aus dem Beginn des 4. Jahrhunderts çberliefert. 2 In der Art, wie sie besonders die Schule von Tiberias ausgebildet hatte, geht die Predigt von zwei Bibelsåtzen aus, den zwei Texten aus den beiden Hauptteilen der Schrift, der Torah und der Kabbala, d. i. den Newiim und Ketuwim, damit sie fçr einander die Erlåuterung bieten: von dem Satze Lev 1, 1 »Der Ewige rief den Moses und sprach zu ihm vom Stiftszelt aus« und dem Psalmsatz 103, 20 »Preiset den Ewigen, ihr seine Boten, ihr Helden an Kraft, die ihr sein Wort tut, zu hæren auf die Stimme seines Wortes«. Der Inhalt der Predigt bietet sich mit einem deutlichen Gedankengange in der Ûberlieferung dar: Wer sind diese Boten, diese Helden, die in unserem Psalmsatze zum Lobe Gottes aufgerufen werden? Die Geister der oberen Welt kænnen in ihm nicht gemeint sein. Denn von diesen spricht der ihm folgende Psalmsatz: »Preiset den Ewigen alle seine Heere, ihr seine Diener, die ihr seinen Willen tut«. Fçr sie ist das Attribut »alle« kennzeichnend; denn sie verharren insgesamt und stetig in der immer gleichen Bereitschaft zu dem gættlichen Geheiû, es ist so ihr Wesensgrund, keiner ist vom andern darin unterschieden. Sie sind die, welche »alle ¼ seinen Willen tun«. Den Menschen auf | Erden kommt dieses Merkmal »alle« nicht zu; denn nicht ihre Wesensbestimmt1.
1 Es soll hier auch ein Beispiel dafçr geboten sein, in welcher Weise aus der fragmentarischen Ûberlieferung der Gedankengang einer Predigt hervorgeholt werden kann. 2.
2 Neben den oben genannten Ûberlieferungen, die im Wesentlichen çbereinkommen, haben wir eine Teilçberlieferung, in etwas anderer Anordnung, im Midrasch zu Ps 103, 20. Aus allen ist deutlich erkennbar, daû eine Predigt des Tanchum bar Chanilai zu Grunde liegt.
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heit, sondern die Entscheidung des einzelnen ist es, wenn sie dem Worte Gottes gehorchen; zu ihnen redet daher Gott, und sie hæren auf ihn im eigentlichen Sinn, ihnen ganz eigentlich gilt das fordernde Gottesgebot. Sie sind es daher, die unser Psalm also anspricht: »ihr seine Boten, Helden an Kraft, die ihr sein Wort tut, zu hæren auf die Stimme seines Wortes«. Zwei sind hier nebeneinandergestellt, so fåhrt unsere Predigt fort, die Boten Gottes und die Helden. Wer sind zunåchst diese Boten Gottes, die »Engel«, von denen hier unser Psalm spricht? So manches Bibelwort beweist es, daû die Propheten als die Boten Gottes bezeichnet werden (Num 20, 16; Ri 2, 1 u. 13, 6; Haggai 1, 13; II Chr 36, 16); 3 ein Wort Jochanans, des Schulhauptes, auf das unser Prediger hinweist, sagt, daû sie wegen ihres Berufes, ihrer Sendung so heiûen, da sie doch Boten Gottes sind. 4 Und »wer sind die Helden an Kraft, die sein Wort tun«, die der Psalm dann weiter nennt? Dies sind die Gerechten. Sie sind in der Tat die »Starken«, wie auch der Prophet Joel (2, 11) sie heiût; denn sie erfçllen, oft gegen den Vorteil und unter Opfern das Gebot Gottes. Durch sittliche Entscheidung und Kraft »tun sie sein Wort«, çben sie das Gute. Von ihnen kann sogar, wie wieder mit einem Worte Jochanans gesagt wird, gerçhmt werden, daû sie dadurch hæher stehen als die »Engel des Dienstes«, diese Wesen der hæheren Welt. 5 Zu besonderem Zeugnis dessen werden mit einem Worte des Rabbi Jizchak, aus der Generation vor unserem Prediger, die gepriesen, welche die Vorschrift des Sabbatjahres beobachten. Sie sind wahrhaft Helden, denn sie sehen Feld, Garten, Weinberg freigegeben, die Hecken durchbrochen und dabei doch die Steuern Roms eingetrieben, und dennoch wahren sie das Gebot. Sie alle, die Propheten und die Gerechten, sie vermægen die Stimme des Gotteswortes zu hæren, auch darin hæher als die Engel droben, die vor des Ewigen Stimme erbeben; zu ihnen spricht Gott, und sie sind die, »die sein Wort tun, um zu hæren auf die Stimme | seines Wortes«. 6 Und vor allem gilt es so von Moses, ihn rief Gott mehr noch als alle sonst; er vor allem war berufen und befåhigt, »die Stimme 3.
1
In unserem Rabba-Text ist ad in ae zu verbessern und ebenso jtma xnbtf in
ejvffkdf.
2 Zu diesen Beweisen hat der Redaktor eine Erklårung des Rabbi Simon (ben Pasi), weshalb Pinchas als »Engel« bezeichnet werden durfte, hinzugefçgt. 5.
3 Das Wort gehært nicht Tanchum an, sondern Jochanan, S. Sanh. 93a; Pesikta rab. p. 160b: vtue jkalmm tvfj wjsjdr wjlfdc xnhfj ªt tma. 6.
1 Der Redaktor hat hier ein Wort des Rabbi Acha aus Lydda angefçgt, daû unser Psalmsatz das Volk Israel meine, das gesprochen habe: »wir wollen tun und hæren«, und von dem darum gerçhmt werden konnte: »die sein Wort tun, um zu hæren usw.«, worauf er eine Auseinandersetzung damit folgen låût.
4.
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seines Wortes zu hæren«. Er war alles: Bote 7 und Tuender und Hærender. Der Satz »Der Ewige rief Moses und sprach zu ihm vom Stiftszelt aus« erhålt so seinen ganzen Sinn erst durch unseren Psalmsatz. Es scheint zunåchst, als diente diese Predigt einem, vielleicht geistreichen, exegetischen Spiel. Aber man wçrde sie miûverstehen und verkennen, wollte man das oder nur das in ihr finden. Aus ihr spricht in Wirklichkeit der Ernst eines Kampfes um die religiæse Eigenart des Judentums. Das Thema unserer Predigt ist durch die Frage gegeben, wer hæher stehe, der Fromme oder der »Engel«, der Sphårengeist. Es ist interessant, daû diese Frage weit çber unsere Predigt hinaus ihren geschichtlichen Weg hat; sie hat das ganze Mittelalter beschåftigt, sowohl im Islam, wo sie eine Streitfrage zwischen Aschariten und Mutasiliten war, als auch im Judentum in seiner philosophischen wie seiner mystischen Richtung; mit Bezug auf sie polemisiert z. B. Abraham ibn Esra gegen Saadja. 8 Aber hier in unserer Predigt hat sie ihren besonderen Platz. Um sie und damit unsere Predigt zu verstehen, ist es notwendig, sich das gedankliche Gebiet zu vergegenwårtigen, aus dem sie hervorgekommen ist. Die stårkste Macht in der zu Ende gehenden antiken Religion war die modernisierte Astralreligion. Im babylonischen Kulturkreise war sie herrschend gewesen, sie war dann, vor allem durch Poseidonios, mit der alten griechischen und ræmischen Mythologie verwoben und zur Religion des imperium romanum gemacht worden. Was an ihr die Geister anzog, war, daû sich in ihr eine Vereinigung von Religion und mathematischer Astronomie, von | Glaube und transzendenter Musik darzubieten schien. Die alten Gætter waren nun zu beseelten kosmischen Måchten, zu Astralgeistern, zu Wesen der Sphårenharmonie geworden; ihre Wirklichkeit, ihre Bedeutung und ihre Macht schienen wissenschaftlich dargetan zu sein. 9 Im Judentum wollte ein Øhnliches seinen Raum gewinnen; bald sollte hier den »Gættern der Vælker«, als solchen Gestirngættern, eine Realitåt unter dem einen Gott gewåhrt sein, 10 bald sollten sie die »Engel«
Dort, wo unsere Predigt wieder einsetzt, ist in çblicher Weise der Autor, Tanchum, wieder genannt. 7.
2 Vgl. Midrasch zu Ps. 90, 1, ed. Buber p. 195b, wo Moses genannt wird: ba wjkalml, vgl. auch ebendort p. 195a. 8.
3 Vgl. M. Schreiner, Der Kalam in der jçdischen Literatur, p. 14. 9.
1 Vgl. oben S. 149 f. 10.
2 S. Mechilta zu Exod. 20, 3 und Ssifre in Deut 11, 16.
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sein, von denen die Bibel sprach. 11 In dem apokryphischen wie dem midraschischen Schrifttum ist es deutlich erkennbar, wie in diesen beiden Formen die Versuchung jener astronomischen Religion nahe herantrat. Die Gefahr, die dem Charakter des Judentums darin drohte, kann nicht unterschåtzt werden. Die Einheit Gottes und die Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott waren in Frage gestellt; denn diese »Gætter der Vælker«, die der eine und andere so zugestehen wollte, waren doch Gætter neben Gott, und diese neuen »Engel« waren doch Mittelwesen zwischen Gott und dem Menschen. Von um so græûerer Bedeutung ist es, daû die Gefahr klar erkannt wurde und daû sich der unbeirrte Widerstand erhob. Schon Jochanan, der das Wort von dem Frommen, der græûer als der Engel sei, gesprochen hatte, hatte gegen den Lehrer von Sepphoris, Chanina bar Chama den Grundsatz vertreten, der dann maûgebend wurde, daû Israel nur Gott, aber keinem durch Gestirne bewirkten Schicksal untertan sei. 12 Schon vorher hatte Bar Kappara in gleicher Richtung das Wort gesprochen: »Die Werke der Frommen sind græûer als das Schæpfungswerk.« 13 Der entscheidende Gedanke wird dann, in der Sprache und dem Stil der Zeit, durch unseren Prediger vollzogen, und es ist zu beachten, daû er wie auch Jochanan von Bar Kappara herkommt. 14 Er nimmt den Gestirngeistern die religiæse Wçrde des Platzes zwischen Gott und dem Menschen dadurch, daû er, Jochanan folgend, den frommen Menschen çber sie, also in wesentlichere Nåhe zu Gott stellt. 15 | Die religiæse Bedeutung von Mittelwesen zwischen Gott und dem Menschen wird ihnen dadurch entzogen, daû ihrer Kraft geringere Geltung zugesprochen wird als der Kraft menschlicher Entscheidung zum Guten 16 . Sie haben nur noch ihren Platz im Kosmos, aber nicht mehr in der Beziehung des Menschen zu Gott. Der Idee von der Einheit Gottes und von der Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott ist damit ihre Bestimmtheit wiedergegeben. Das ist das deutliche Thema dieser Predigt des Tanchum bar Cha11.
3 S. die Midraschim zu Gen 28, 12. 12.
4 Schabbat 156a; Ssukka 29a. 13.
5 Ketub. 5a. 14.
6 S. Bacher, Ag. d. Tan II, 505, Anm. 4 u. Ag. d. pal. Am. III, 628. 15.
7 In dieselbe Linie gehært es, wenn schon Bar Kappara-Ber. r. zu 28, 12, ed. Theodor-Albeck p. 785 f. und die dort angefçhrten Parallelen ± unter den Engeln die Hohen Priester versteht. Vgl. auch Midrasch zu Ps 91, 12 in der von Buber p. 200a, Anm. 44 ausgefçhrten Lesart, sowie Pesachim 118a, unten. 16.
1 In die gleiche Richtung fçhren die mannigfachen Såtze jener Zeit, daû der Gerechte das Fundament der Welt ist; z. B. Tanchuma zu Gen 1, 1, ed. Stettin p. 6 b; Joma 38 b (Jochanan); Targum Prov 10, 25.
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nilai. Das Wissen um das eigentliche Religiæse des Judentums spricht aus ihr. In der Erfçllung des Gebotes wird eine Erhabenheit gefunden, die hæher ist als die der beseelten Sternenwelt. Oder mit anderen Worten: Das moralische Gesetz in uns ist hier mehr noch als der gestirnte Himmel çber uns.
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In der amoråischen Haggada wird des æfteren in feierlichem Tone von »dem Blute des Secharja«, von »der Schuld an Secharja« 1 gesprochen, und neben mannigfachen Legenden, die sich daran anschlieûen, 2 ist auch bisweilen, und immer in dem gleichen Wortlaute, eine bestimmte Ûberlieferung daran geknçpft; die Antwort nåmlich, die Rabbi Acha dem Rabbi Judan auf seine Frage gab, wo, in welchem Vorhofe man den Secharja getætet habe. 3 Seine besondere Bedeutung erhålt dieses alte Wort dadurch, daû es in åhnlicher feierlicher Form im Matthåus- und im Lukasevangelium enthalten ist. Dort schlieût die groûe Weherede, die das Hereinbrechen des endlichen Strafgerichtes verkçnden will, mit dem Satze: »auf daû çber euch komme alles gerechte Blut, das auf Erden vergossen ist, von dem Blute Abels, des Gerechten, bis zum Blute Secharjas, des Sohnes Berechjas, den ihr ermordet habt zwischen dem Tempelhaus und dem Altar«. 4 Der geschichtliche Ort dieses Satzes kann bestimmt werden, nur wenn festgestellt zu werden vermag, welche unter den uns bekannten Persænlichkeiten, die den Namen Secharja trugen, hier gemeint ist. Am nåchsten liegt es sicherlich, mit den meisten Kommentatoren an den Priester Secharja, den Sohn des Jojada, zu denken, von dem das zweite Buch der Chronik in der Geschichte des Kænigs Joasch (24, 20 f.) erzåhlt, daû sich eine Verschwærung gegen ihn richtete, als er dem Volke seine Sçnden vor | gehalten hatte: »sie steinigten 1.
ejtkg lu fmd jer. Taanit 69a, Gittin 57b, Ssanhedrin 96b (ejtkgd ejmd), Tanchuma zu Lev 4, 1, Echa rabbati zu 2, 2 (ed. Buber S. 54b); ejtkg lu fnfp ebendort, Peticha 23 (S. 10b). 2.
2 Ebendort S. 11a und die von Buber angemerkten Parallelen; vgl. auch Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament I, 940 ff. 3.
3 Echa rabbati, Peticha 5 (ed. Buber S. 3b) und die von Buber angemerkten Parallelen, sowie Midrasch zu Koh 3, 16 und 10, 4. 4.
4 Matth 23, 35; Lukas 11, 50 f.
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ihn auf Befehl des Kænigs im Vorhofe des Hauses des Ewigen«. Nach der alten Folge der biblischen Bçcher 5 ist er in der Reihe derer, die unschuldig gemordet wurden, in der Tat der letzte, ganz wie Abel der erste ist. Gleich ergreifend ist ihr Geschick; das Blut des einen wurde vom Bruder, das des anderen im Heiligtum vergossen, und beider Tod ruft das Gericht Gottes auf; dort heiût es: »Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir vom Erdboden« (Gen 4, 10), hier ist gesagt: »Sehen wird es der Ewige und ahnden« (II Chr 24, 22). Es durfte so gesprochen werden: »vom Blute Abels bis zum Blute Secharjas«. Hinzu kommt, daû der Secharja unserer Haggada bisweilen ausdrçcklich als Priester und Prophet bezeichnet wird, 6 und des weiteren, daû die Frage des R. Judan, in welchem Vorhofe Secharja ermordet worden sei, sich sinngemåû an den Bericht der Chronik, der ganz allgemein vom Vorhofe spricht, anschlieûen kann. Wenn das Matthåusevangelium anstatt Jojadas als seinen Vater Berechja nennt, so kænnte dies auf eine Verwechslung mit dem Vater des bekanntesten Secharja, des Propheten, zurçckgehen, der der Sohn Berechjas, des Sohnes Iddos war, und Verwechslungen solcher Art waren damals nicht selten; mit åhnlichem Versehen ist unser Secharja einmal im Targum als der Sohn Iddos 7 bezeichnet. So wahrscheinlich und fast gewiû dies alles zunåchst erschien, so konnten sich doch gewisse Bedenken einstellen. Einige Erklårer des Evangeliums 8 betonten, Secharja ben Jojada sei doch nicht, wie das Evangelium sage, »zwischen Tempelhaus und Altar«, son | dern »im Vorhofe« getætet worden; sodann, was besonders Wellhausen mit der bei ihm nicht seltenen hæhnischen Emphase, die jeden Widerspruch sofort zum Schweigen bringen sollte, behauptet hat, dieser Secharja der Chronik sei »ein ganz obskurer Mann, dessen Bekanntschaft bei den Zuhærern oder den Lesern nicht vorausgesetzt wer5.
1 Vgl. Bawa batra 14b. In der griechischen Bibel ist Secharja jedenfalls in der Reihe der geschichtlichen Bçcher der letzte Mårtyrer. 6.
2 Targum Klagelieder 2, 2; Echa rabbati, Peticha 23 (S. 11a) und zu 4, 13 (S. 75a); jer. Taanit 69a. 7.
3 Targum Klagel 2, 20; diese Bezeichnung geht auf Esra 5, 1 und 6, 14 zurçck; vgl. auch Eruwin 21a. J. Lichtenstein in seinem Kommentar zum MatthåusEvangelium, herausgegeben von Laible und Levertoff, S. 110, vermutet, daû im Evangelium beziehungsweise der Haggada der Prophet Secharja gemeint sei und eine alte Legende von einem Mårtyrertod, den er im Heiligtum erlitt, gesprochen habe. ± Jene Verwechslung kænnte auch auf Jes 8, 2 zurçckgehen. 8.
4 Siehe die sorgsame Darstellung bei C. G. Montefiore, The Synoptic Gospels 2 II 303 f. Die Ansicht, daû es sich in unserer Haggada um Secharja ben Jojada handle, vertritt auch Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer III 128 Anm. 5 und 6.
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den konnte«; und endlich, was fçr Wellhausen »das Entscheidende« ist: sein Blut kænne nicht als das letzte vergossene Blut eines Gerechten dem Abels als dem ersten entgegengesetzt werden, denn nach ihm håtten die Juden noch viele Propheten und Gerechte getætet, z. B. unter Kænig Menasche und unter Kænig Jojakim. 9 Keiner dieser Einwånde ist aber stichhaltig. Die beiden Ortsbezeichnungen zunåchst, »im Vorhofe« und »zwischen Tempelhaus und Altar«, brauchen einander nicht zu widersprechen; denn der eigentliche Altar, der groûe Brandopferaltar, stand im Vorhofe. 10 Ganz ohne Bedeutung ist das Argument vom »obskuren Mann«; denn ein Secharja, wer immer er war, ist in die Legende oder zum mindesten in die Erinnerung des Volkes eingegangen, und damit war er kein Unbekannter mehr; das, was hier erst bewiesen werden soll, daû nåmlich jener Secharja der Chronik nicht ein Bekannter, sondern ein Unbekannter war, dient so hier schon als Beweisgrund. Und dieselbe petitio principii wird begangen, wenn umgekehrt z. B. von Nestle aus der Tatsache der Legende schon gefolgert wird, daû es sich nur um den Secharja der Chronik handeln kænne. 11 Auch das, was fçr Wellhausen das »Entscheidende« ist, kann nicht als entscheidend angesehen werden; denn ganz abgesehen davon, daû damals oft die Linie der Bibel auch als die der Zeitenfolge galt, ist von denen, die unter Menasche getætet wurden, in der Bibel keiner mit Namen genannt, und der Prophet Urija, der unter Jojakim den Mårtyrertod starb, wird ± und dies kænnte als ein wichtiges Argument erscheinen ± in einer Haggada ausdrçcklich neben unserem Secharja als der ermordete Gerechte genannt. 12 | Auf diese çblichen, vor allem von Wellhausen vorgebrachten Beweise låût sich daher die andere Annahme nicht stçtzen, die nåmlich, welche schon auf eine Vermutung von Grotius zurçckgeht, daû es sich im Evangelium nicht um den Secharja der Chronik handle, sondern um einen ganz anderen Secharja, um den Secharja ben Baruch oder ben Berechja, von dem Josephus berichtet, daû die Zeloten, die vor dem Fall Jerusalems die Herrschaft erlangt hatten, ihm, einem angesehenen, gerechten Manne, den Tod bereiteten; als 9.
1 Wellhausen, Das Evangelium Matthaei z. St. und Einleitung in die drei ersten Evangelien 2 S. 118 f. 10.
2 Josephus, Antiquitates XV, 11, 5; Middot III, 1ff. und V, 1. 11.
3 ZNTW 1905, S. 199. 12.
4 Midrasch zu Koh 3, 16: »An der Ståtte, an der Gerechtigkeit wohnen sollte¬ (Jes 1, 21), ¼ dort haben sie den Secharja und den Urija getætet«; ebenso Midrasch zu Lev 4, 1. Die Zusammenstellung dieser beiden geht wieder auf Jes 8, 2 zurçck.
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Baeck 4 p. 225 / 5.7.2006
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ein Gericht, das sie einberiefen, ihre Anklage gegen ihn zurçckwies, so erzåhlt Josephus, »fielen zwei der Zeloten mitten im Tempel çber ihn her und tæteten ihn, indem sie ihm hæhnend zuriefen: da hast du auch unsere Stimme und eine zuverlåssigere Freisprechung!¬ Darauf warfen sie ihn aus dem Heiligtum hinab in den neben diesem liegenden Abgrund«. 13 Daû nur dieser andere Secharja in Betracht kommen kann, ist, trotz jener nicht haltbaren Beweismittel, bestimmt und klar darzutun. Schon das Evangelium selbst spricht sehr deutlich. Die drohenden Worte, die es von Jesus ausgehen låût, richten sich an die Gegenwart, und sie wçrden daher ihren Sinn verlieren, sollte das Verhångnis, das ihr verkçndet wird, die Strafe fçr Verbrechen sein, deren letztes, mehr als acht Jahrhunderte zurçck, in grauer Vergangenheit lag. Seit ihm war der Untergang Samarias, die Zerstærung Jerusalems und des Tempels, das Leid des Exils çber das Volk hereingebrochen; alte Sçnden waren gesçhnt. Neue schwere Sçnden waren dann verçbt worden, und von ihnen sollte nicht mehr gesprochen worden sein, wenn gesagt wurde: »Wahrlich, ich sage euch, dies alles wird çber diese Generation kommen« (Matthåus 23, 36), »damit von dieser Generation das Blut gefordert werde« (Lukas 11, 50)! Den noch eindeutigeren Beweis erbringt dann die Haggada, besonders in einer Predigt des Joûe ben Chanina. Sie ist im Midrasch Echa rabbati 14 çberliefert, und der Redaktor des Midrasch hat in sie jene eingangs erwåhnte Antwort Achas eingefçgt. Ihr Thema ist das damals oft behandelte von der Sçnde, welche | schlieûlich den strafenden Zorn Gottes çber das Volk heraufbeschwæren muûte; der eigentliche Text, neben dem ersten Verse der Klagelieder, der durch den Tag, an welchem sie gehalten wurde, den neunten Aw, gewiesen war, ist eine Drohrede des Ezechiel (24, 6ff.). Der Prediger çbertrågt die Worte des Propheten so, daû sie auf ein bestimmtes Ereignis hindeuten: »Wehe der Stadt, in deren Mitte sie Blut vergossen haben, wehe diesem Kessel, in dessen Mitte schmutziger Rost ist, und nicht ist sein Rost aus seiner Mitte abgegangen. Stçck um Stçck haben sie darum in die Fremde ziehen mçssen; nicht war ein Los çber die Stadt geworfen. Denn ihr Blut war in ihrer Mitte, das Blut des Secharja, 15 auf kahlen Felsen hat sie es flieûen lassen, nicht auf den 13.
1 Josephus, Bellum judaicum IV, 5, 4. Ûber die verschiedenen Lesarten des Vaternamens siehe die Niesesche Edition. 14.
2 Echa rabbati, Peticha 5. Joûe ben Chanina besaû Traditionen von den Tannaiten her, vgl. Bacher Ag. d. Amoråer I 421. 15.
1 Diese Worte »das Blut des Secharja« sind in unseren Handschriften aus-
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Erdboden hat sie es vergossen, daû sie Staub dann darçber deckte. Dadurch hat sie bewirkt, daû der Grimm heraufkommt und daû die Strafe geçbt wird. Darum, so spricht der Ewige, wehe çber die Stadt, in der das Blut ist, ich werde viel sein lassen der Leiden, viel sein lassen der Legionen, ich werde aufbieten die Heerfçhrer, ich werde anrçcken lassen die Krieger, und ihre Helden werden verstært sein.« An die Worte der Predigt »ihr Blut war in ihrer Mitte, das Blut des Secharja« hat der Redaktor jenes Weitere angefçgt: »Rabbi Judan hat den Rabbi Acha gefragt: Wo haben Israeliten den Secharja getætet, im Vorhof der Israeliten oder im Vorhof der Frauen? Und er hat ihm geantwortet: Nicht im Vorhof der Israeliten und nicht im Vorhof der Frauen, sondern im Vorhof der Priester, und nicht tat man mit seinem Blute wie mit dem Blute eines Hirschs und dem Blute einer Gazelle; 16 von dem Blute eines Hirschs und dem Blut einer Gazelle schreibt die Bibel: Wenn man ihr Blut vergieût, soll man es mit Staub bedecken¬ (Leviticus 17, 13). Aber hier steht geschrieben: »ihr Blut war in ihr, auf nackten Felsen | hat sie es flieûen lassen, nicht es auf den Erdboden vergossen, daû sie Staub dann darçber deckte¬.« Es ist gar nicht zu verkennen, wie es der eigentliche Zielpunkt unserer Predigt und ebenso der Worte des R. Acha ist, daû in Jerusalem unschuldiges Blut auf kahlen Felsen geflossen und unbedeckt geblieben ist. Das ist der Rost, der nicht abgewaschen werden konnte, die Sçnde, welche Ezechiel vorausgeschaut hat, um derentwillen Jerusalem zerstært worden ist und seine Bewohner fortgebannt wurden, Stçck um Stçck, was wohl meint: von der Fortbannung durch Titus bis zu der durch Hadrian. Auch in anderen Ûberlieferungen, die vom Blute des Secharja sprechen, tritt das gleiche deutlich hervor. 17 Dies alles wird verståndlich, nur wenn es auf die Ermordung dieses Secharja hinzielt, von dem Josephus spricht. Er ist in der Tat, darin stimmen die Evangelien, die Haggada und der Bericht des Josephus çberein, »zwischen dem Tempelhaus und dem Altar«, »in der Vorhalle der Priester«, »mitten im Tempel«, getætet worden, und er war, ganz wie Josephus sagt es die Haggada, hinabgestçrzt worden gefallen; daû sie ursprçnglich dort standen und zu ergånzen sind, ergibt sich aus der Anfçgung der Frage des R. Judan. Sie konnte von dem Redaktor angefçgt werden, nur wenn die Predigt selbst von Secharja sprach. Die handschriftliche Ûberlieferung unserer Predigt weist auch sonst solche Auslassungen auf, die wesentlich aus dem Targum zu ergånzen sind. Vgl. Echa rabbati, Peticha 23 (S. 10b) und zu 4, 13 (S. 74b). 16.
2 Deut 12, 15 f. und 15, 22 f.; Strack, Kommentar I 940 çbersetzt irrig: »Widder« lj3a4 statt lJ5 a4 . 17.
1 Tanchuma zu Lev 4, 1.
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Secharja ben Berechja
»auf den kahlen Felsen«, »in den Abgrund am Heiligtum«. Durch die Erzåhlung des Josephus klingt die Erschçtterung hindurch, die der furchtbare Mord hervorrief. Er konnte den Zeitgenossen und den spåteren Geschlechtern als die Sçnde erscheinen, fçr die es nun keine Vergebung mehr gab, um derentwillen Strafe çber Strafe hereinbrach. Wir besitzen eine alte Ûberlieferung, die ein Zeugnis dieses Empfindens ist, von einem Manne, der die Tage nach dem Sturze Betars geschaut hat, von R. Jehoschua ben Karcha: ihm habe ein Greis aus Jerusalem, ein Mann also, der den Mord an Secharja noch erlebt hatte, erzåhlt, das Blut vom Tale bei Betar, in den Tagen BarKochbas, sei geflossen, bis es an das Blut des Secharja heranreichte 18 ± das Blut von Betar also die Strafe noch fçr das »Blut des Secharja«. So sehr hat dieses unschuldige Blut die Gemçter erregt, daû die Kunde schlieûlich zur Legende wurde, zu der Legende von dem ungesçhnten Blute, welches wallt und siedet und nicht stille sein will, und daû diese Legende dann auch die biblische Erzåhlung vom Morde am Priester Secharja mit in sich aufnahm und »das Blut | des Secharja«, »die Schuld an Secharja« der Ausdruck fçr die groûe Sçnde geworden ist. Einen besonderen historischen Hintergrund haben die Worte des R. Acha. Er war ein Zeitgenosse des Kaisers Julianus, der den Plan zu hegen schien, den Tempel wieder aufzubauen. Acha beschåftigte offenbar der Gedanke daran; er erklårte, daû das Heiligtum auch vor den Tagen des Messias wieder erstehen dçrfe; 19 fçr ihn »war die Schechina von der Tempelmauer, die noch stand, nicht fortgegangen«. 20 Ihn muûte die Frage bewegen, ob nun das Blut gesçhnt sei, das am Abgrunde des Tempels geklebt hatte. Es braucht kaum gesagt zu werden, wie diese bestimmte Antwort, die sich hier ergibt, zugleich beweist, daû die Wehereden des Evangeliums nicht Worte sind, die Jesus gegen sein Volk richtete, sondern ein Zeugnis der Auseinandersetzung der christlichen Gemeinde in der Zeit nach dem Jahre 70 mit der Gemeinde des Judentums.
18.
2 Gittin 57b. 19.
1 Jer. Maaûer scheni 56a. 20.
2 Midrasch zu Ps 11, 4 und Parallelen, vgl. Bacher, Agada der palåstinensischen Amoråer III, 111 ff.
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Das dritte Geschlecht
Adolf Harnack hat in seinem Werke Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten darauf hingewiesen, wie im 2. Jahrhundert die Bezeichnung »drittes Geschlecht« den Christen von ihnen selbst wie von den Heiden beigelegt worden ist. Als erstes Zeugnis, aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts, kænnte ein Fragment der sogenannten Praedicatio Petri gelten, das Clemens Alexandrinus aufbewahrt hat. Hier werden die Christen gemahnt, nicht wie die Hellenen Gott zu verehren und auch nicht wie die Juden, sondern in »neuer Art durch Christus«; mit ihnen sei der neue Bund geschlossen, den die Bibel verkçndet hatte, sie seien die, »welche Gott neu als drittes Geschlecht verehrten«. 1 Einen bestimmteren Beleg bietet dann die pseudocyprianische Schrift »de pascha computus«, die aus dem zweiten Drittel des 3. Jahrhunderts stammt; sie spricht davon, daû das Feuer die drei Gefåhrten des Daniel, Chananja, Asarja und Mischael, »sie, die von dem Sohne Gottes in unserem Mysterium, die wir das dritte Geschlecht der Menschen sind, geschçtzt waren«, nicht versehrt hat. 2 Schon vorher, gegen Ende des 2. Jahrhunderts, hatte Tertullian als von einer bekannten Tatsache davon gesprochen, daû die Christen von Gegnern spættisch »das dritte Geschlecht« genannt werden. 3 Ûber Herkunft und Grund dieser Bezeichnung weiû Harnack nichts zu sagen, und was er çber ihren Sinn ausfçhrt, ist nicht ein1.
Harnack a. a. O. S. 182 ¼ kain¾@ tn jen di to½ Cristo½ sebmenoi ¼ ¢me¼@ d o kain¾@ a©tn trt²w gnei sebmenoi cristiano. Wenn unser Satz so wie von Harnack aufgefaût wird, daû er nur die christliche Art der Gottesverehrung als die dritte nach der heidnischen und jçdischen meine, so håtte er fçr unsere Frage allerdings keine wesentliche Bedeutung. 2.
2 a. a. O. S. 184: et ipsos tres pueros a dei filio protectos in mysterio nostro, qui sumus tertium genus hominum, non vexavit. 3.
3 a. a. O. 200: Plane, tertium genus dicimur.
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Das dritte Geschlecht
deutig und nicht beweisend. Erst durch das zeitgenæssische | jçdische Schrifttum ± dieses spricht, was Harnack nicht bekannt war, mehrfach von dem »dritten Geschlecht« ± wird es klar, welches Ursprung und Bedeutung des Ausdruckes sind. Er stammt, um das Ergebnis des Folgenden kurz vorwegzunehmen, aus dem jçdischen Denken der Zeit, und er benennt hier das jçdische Volk als »das dritte« und bleibende. Wie die Kirche damals allgemein darauf bedacht war, die Prådikate, die der Gemeinde des Judentums beigelegt waren, sich beizumessen, wie sie sich als die wahre Gemeinde, das »wahre Israel«, 4 »die eigentliche Erbin der Verheiûungen an Abraham« 5 rçhmte, so hat sie auch dieses zueignende Wort vom »dritten Geschlecht« fçr sich in Anspruch genommen. Was dasselbe meint, tritt uns zunåchst in einer anonymen alten Predigt entgegen, die in den beiden Tanchumas zu Numeri 10, 2 çberliefert ist. Sie behandelt das Thema, daû man dem einen Gott allein dienen und ihm darum auch mehr gehorchen solle als dem Kænig. 6 Ihre çblichen beiden Texte sind der genannte Satz der Perikope, der von den Kænigstrompeten spricht, und sodann der Vers Spr 24, 21: »Fçrchte den Ewigen, mein Sohn, und den Kænig; unter die Entzweienden¬ mische dich nicht.« 7 Wenn hier, so fçhrt diese Predigt aus, nebeneinander gesetzt ist: »den Ewigen und den Kænig«, so bedeutet dies keine Gleichstellung, sondern der Sinn der Mahnung ist, zuerst den Ewigen und danach erst den Kænig zu fçrchten, den Ewigen also mehr als den Kænig. Darum haben auch Chananja, Mischael und Asarja dem Gebote des Nebukadnezar, dem Gætzen zu dienen, nicht gehorcht. Und als Nebukadnezar ihnen vorhielt, wie ihre Religion ihnen doch gebiete, der Obrigkeit gehorsam zu sein, wie doch Kohelet gesagt habe: »Das Wort des Kænigs wahre« (Koh 8 2), da erwiderten sie ihm: »Du bist Kænig çber uns, wo es sich um Steuern und Abgaben, 8 um staatliche Verordnungen handelt; | verlangt aber ein Kænig von uns, den Gætzen zu dienen, dann gilt uns sein Wort nicht mehr als das Bellen 4. 5.
Vgl. Ræmer 11, 17 ff.; Gal 3, 7, 29; 6, 16; I Petr 2, 9f.; Hebr 2, 16; Jak 1, 1. Ræmer 4, 11 f.; 9, 6ff.; Vgl. Harnack, Dogmengeschichte I 4, 171 und 199 Mission und Ausbreitung S. 292 f.; Bousset, Kyrios Christos S. 357. 6.
3 Vgl. zu diesem Thema Apgesch 4, 19; 5, 29; Markus 12, 17; II. Klemensbrief 4, 4. 7.
4 Die Beziehung der beiden Texte ist die folgende: Moses soll zwei silberne Trompeten verfertigen lassen; Trompetenschall kçndigt das Nahen eines Kænigs an, und von Gott ist gesagt, daû ihm so gehuldigt wird, Ps 47, 6; wird damit nicht der Kænig Gott gleichgestellt? Aber Gott allein ist der Kænig der Ehre. 8.
5 Vgl. Ræmer 13, 6f.
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eines Hundes. Vor dem goldenen Bilde, das du aufgerichtet hast, werden wir uns nicht beugen.« 9 Ganz so meint es unser Bibelsatz: »Fçrchte den Ewigen, mein Sohn, und dann erst den Kænig!« Und demgemåû kann er dann auch weiter sagen: »unter die Entzweienden, die Verzweifachenden mische dich nicht ± das heiût unter die nicht, welche erklåren, daû es zwei Gottheiten gebe ±; denn plætzlich wird sich ihr Verderben erheben, und wer kennt ihrer beider Unheil!« 10 Sie beide, so schlieût unsere Predigt, die, welche den Kænig mehr fçrchten als Gott, und die, welche zwei Gottheiten lehren, werden schlieûlich aus der Welt schwinden. Das hat auch der Prophet Secharja verkçndet ± 13, 8f. ±: »So wird es sein çber die ganze Erde hin, ist der Spruch des Ewigen, zwei Teile 11 auf ihr werden ausgerottet, werden vergehen, und das Dritte ± vjuluef ± wird auf ihr çberbleiben. Ich werde das Dritte in das Feuer kommen lassen und werde die, die zu ihm gehæren, låutern, wie man das Silber låutert, und prçfen, wie man das Gold prçft. Das selbige wird meinen Namen anrufen, und ich werde ihm antworten; ich habe gesagt: mein Volk ist das¬, und es wird sagen: Der Ewige, mein Gott¬ !« Wenn der Prophet hier von dem »Dritten« spricht, so ist damit Israel gemeint. Unter allen Religionen ist Israel der »dritte Teil«, die dritte Gemeinde ± vjujlu slh ±. 12 Dies hat auch Jesaja ihm verheiûen 19, 24: »An jenem Tage wird Israel das dritte zu Øgypten und Assyrien sein, ein Segen mitten auf Erden.« | Thema und Richtung dieser Predigt sind deutlich. Sie warnt vor einem Doppelten: vor dem Herrscherkult und vor dem Dualismus, 13 und sie stellt ihnen das Judentum gegençber. Die Zeit, in der sie gehalten wurde, wird damit auch erkennbar; es ist die Zeit, in der als Heidnisches besonderlich diese beiden Formen des Religiæsen vor 9.
1 Vgl. auch Tanchuma zu Gen 8, 16. 10.
2 In unseren Ausgaben ist in çblicher Weise nur Vers 21 angefçhrt; die Darlegung bezieht sich aber selbstverståndlich auch auf den darauf folgenden Vers. 11.
3 wjnu jq wird mit der Nebendeutung »der Mund der zwei«, das heiût die, welche die vfjfut jvu lehren, genommen. Das Wort vjulu gewinnt dadurch noch mehr seinen besonderen, von der Zahl unabhångigen Sinn. 12.
4 In der Buberschen Ausgabe ist die Lesart: latuj fla vjulue we jm. In der çblichen Ausgabe des Tanchuma lautet der Satz, der dort allerdings an eine falsche Stelle gerçckt ist: vjujlu slh latuj ebuhn fjatj lklu. Diese Fassung erinnert an die Praedicatio Petri; vgl. S. 348 Anm. 1 ± Unsere Predigt ist auch kurz in Dewarim rabba II, 24 çberliefert. Hier lautet die entscheidende Stelle: djvp jmf .xjujlu fatsnu latuj fla eb tvfj vjuluef wjjs vfjel 13.
1 Beiden ist gemeinsam, daû sie neben den einen Gott einen zweiten setzen.
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dem Blick des Menschen in Palåstina standen, am ehesten also die tannaitische Zeit. Aber fçr unsere Frage ist das Wichtige die Tatsache, daû hier die Bezeichnung »das Dritte« uns entgegentritt, und offenbar als bekannt angenommen wird 14 , als Bezeichnung dafçr, daû Israel das bleibende Volk, das Volk fçr die Zukunft sei. Daû diese Benennung in dieser ihrer Bedeutung in der Tat schon çblich gewesen ist, zeigt der Midrasch zum Hohen Liede 1, 3. Hier wird in dem Satze: »Darum lieben dich die vfmlp« dieses Wort vfmlp nach dem Wort vfm©lp in Psalm 48, 15 erklårt, so wie Akylas es çbersetzt hatte; er hatte es, wie der Midrasch hier und an anderen Stellen berichtet, 15 mit ¤janasa, Unsterblichkeit, wiedergegeben. »Er wird uns zu der Welt fçhren, in der kein Tod ist«, d. h. zu der messianischen Welt, so çbertrågt unser Midrasch daher unsern Psalmsatz 16 . Dem entsprechend wird nun auch der Satz aus dem Hohen Liede hier çbersetzt: »Darum lieben dich die, welche çber den Tod hinaus bleiben«, und erklårend fçgt nun der Midrasch, indem er auch hier den Satz des Secharja als Beweis anfçhrt, hinzu: »Die çber den Tod hinaus bleiben, das meint die dritte Gemeinschaft, vk vjujlue«. Auch hier ist deutlich zu erkennen, wie dieser Begriff »die Dritten« ein schon çberlieferter war, so daû auf | ihn nur angespielt zu werden brauchte, und ebenso, wie er diejenigen bezeichnete, die in die messianische Zeit eingehen werden. Eine Parallele hierzu bietet sich im Midrasch zum elften Verse des ersten Kapitels des Kohelet. Den Schluû dieses Verses hatte das Targum messianisch erklårt und den Satz daher çbersetzt: »Es ist kein Andenken fçr die frçhen Geschlechter, und auch fçr die spåteren, die einst sein werden, wird ein Andenken nicht sein mit den Geschlechtern, die in den Tagen des messianischen Kænigs sein werden.« Ganz so faût es unser Midrasch auf, und er fçgt erklårend noch hinzu: Von wem ist gesagt, daû sein Bleiben »zum Letzten«, am Ende der Tage, sein werde? »Die, welche zum Letzten sein werden, sind 14.
2 Die ganze Art der Darstellung und Beweisfçhrung in unserer Predigt, auch in der Parallelstelle in Dewarim rabba, wird am deutlichsten, wenn unsere Bezeichnung eben als bekannt vorausgesetzt wird, so daû die Såtze aus Secharja und Jesaja nur der Beleg fçr ein Bekanntes sind. 15.
3 Vgl. Midrasch zu Ps 48, 15; Wajjikra rabba XI, 9; Kohelet rabba zu 1, 11; Schir ha-schirim rabba zu 1, 3; Jer Moed katan 83b und Megilla 73b. Akylas hatte vfm-lp entweder aufgefaût »çber den Tod hinaus« oder er hat ± gemåû der Erklårungsregel der Schule des Elieser ben Jaakow, die das Ajin wie Alef las, Berachot 32a ± das Wort gleich vfm la »kein Tod« genommen. 16.
4 vfm fb xjau wlfp. Zu dem Aufhæren des Todes in der messianischen Zeit vgl. Bereschit rabba zu 5, 32 und die von Theodor dort angemerkten Parallelstellen. Vgl. IV Esra 8, 53; II Baruch 21, 22; Testament Levi 18; I Kor 15, 25 f.
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das Volk Israel«. 17 Hier ist zwar nicht das Wort »die Dritten« gebraucht, aber der nåmliche Begriff liegt der Haggada zu Grunde; denn auch sie sagt doch, daû es drei Geschlechterreihen gibt, die frçhere und die spåtere ± und von dieser einen und dieser anderen wird nichts bleiben ± und dann, die bleibende. Und diese dritte, diese bleibende, dies Volk der messianischen Tage, so wird gesagt, das ist das Volk Israel. 18 Wie alt unsere Bezeichnung ist, erweist sich daran, daû sie, in einer Ûberlieferung des jerusalemischen Talmuds, ein bekanntes Wort bereits in der Zeit des Jochanan ben Sakkai, d. h. in der zweiten Hålfte des ersten Jahrhunderts, gewesen ist. Es wird erzåhlt, 19 wie Elasar ben Arach und nach ihm Joûef ha-kohen und Schimon ben Netanel »vor ihrem Lehrer Jochanan ben Sakkai von der Welt des Pleroma, dem ebktm eupm, sprachen, und wie danach eine Stimme von oben, eine Bat kol also vernommen wurde: »Die Ståtte ist fçr euch bereit, und die Sitze sind fçr euch ausgebreitet, ihr und eure Schçler seid bestimmt fçr die dritte Gemeinschaft ± vjujlu vk ±!« Der Vergleich mit den vorher angefçhrten Stellen zeigt deutlich, was auch hier wieder gemeint ist; wåhrend die ersten Worte dieser Verheiûung sich auf die Seligkeit nach dem Tode, im Jenseits beziehen, sprechen diese anderen, die beschlieûenden Worte von der messianischen Zeit; wer fçr sie bestimmt | ist, gehært zu der »dritten Gemeinschaft«. 20 Bezeichnend fçr das Alter des Wortes ist, daû es hier einer Stimme von oben zugesprochen wird. Aus dem allem ergibt sich, daû der Ausdruck »das Dritte« oder die »dritte Gemeinschaft« 21 schon der frçhen tannaitischen Zeit vertraut 17.
1 latuj fla enfthal fjeju. 18.
2 Eine åhnliche Dreiteilung der Zeiten hat der Midrasch Schmuel Kap. 19, Anfang: dmu lu ftfdl dhaf vfbalf vftfdl dha wjtfoje fslhvn wjslh eulul aha ªt wub anfe ªt ªcf fnjpuqm llfhm afef dªªe hjume Ylml dhaf (Jes 53 5). Die messianische Zeit ist auch hier die dritte Zeit. 19.
3 Jer Chagiga 77a, unten, bawli Chagiga 14b. 20.
1 M. Joel, Blicke in die Religionsgeschichte I, 135 erklårt unsere Stelle dahin, daû unter der vjujlu vk die pneumatischen Menschen der Gnosis, diese dritte Gruppe çber der hylischen und der psysischen zu verstehen sei; ihm ist unsere Predigt im Tanchuma entgangen. Die drei Gruppen Toûefta Sanhedrin XIII, 3 ± vgl. Bacher, Agada der Tannaiten I 2, S. 15, Anm. 4 und S. 40 ± stehen zu unserem Begriffe in keinerlei Beziehung, ebensowenig wie die drei Bçcher ± Rosch ha-Schana 16b ± oder die sieben Gruppen im Midrasch zu Ps 11, 7. An allen diesen Stellen handelt es sich, obwohl die erstere auf unseren Satz des Secharja Bezug nimmt, um eine der in der Haggada çblichen Gruppierungen, wåhrend unser Begriff einen bestimmten terminus darstellt. 21.
2 Die drei verschiedenen Formen sind: jujlu slh, vjujlu vk und vjujlu beziehungsweise xjujlu, falls nicht diese letztere in Dewarim rabba II, 3 ein Schreib-
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war, daû er diejenigen benannte, denen der Anteil an der messianischen Zeit gewåhrt ist, und daû der Gemeinde Israels, dem Ûberrest Israels dieser Anteil und darum dieses Wort zugesprochen waren. In spåterer Zeit wurde sein Sinn allerdings nicht mehr verstanden. So nimmt der Redaktor des jerusalemischen Talmuds an, daû der Name »dritte Gemeinschaft« in dem preisenden Spruche der Bat kol die dritte unter den sieben Gruppen der Gerechten meine. 22 Schon Juda bar Schimon aus der vierten Generation der Amoråer, d. h. aus der ersten Hålfte des vierten Jahrhunderts, hatte das Wort zwar noch gekannt und gebraucht und den Satz des Secharja auch angefçhrt, aber er hatte seinen Gehalt nicht mehr begriffen und es darum zu deuten versucht. Er hatte ihm den Sinn untergelegt, daû es die Dreiteilung Israels in Priester, Leviten und Israeliten bezeichne. 23 Daû er es deutet und es so deutet, gerade das bezeugt aber, daû es aus ålteren Tagen stammt. | Welches der eigentliche Ursprung der Bezeichnung ist, låût sich nicht mehr feststellen. Eine Vermutung sei aber vorgelegt. Das Targum zu Hos 6, 2 çbertrågt den Satz: »Am dritten Tage wird er uns auferstehen lassen, und wir werden vor ihm leben« in die Worte: »Am Tage der Wiederbelebung der Toten wird er uns aufstehen lassen, und wir werden vor ihm leben«. 24 »Der dritte Tag« erscheint so hier im Targum als »der Tag der Wiederbelebung der Toten«. Sollte nicht dieser »dritte Tag«, diese »dritte Zeit« zur bestimmten Bezeichnung fçr die messianischen Tage geworden sein, so daû sich dann daraus weiter ergab, daû die Menschen, die fçr diese Zeit bestimmt sind, diese Menschen der Auferstehung die »dritten« und die »dritte Gemeinschaft« genannt wurden? Hierdurch kænnte auch der oben angefçhrte Satz der Schrift »de pascha computus« 25 seine Erklårung finden. Wenn tertium genus, was çbrigens auch aus unseren Midraschstellen folgt, diese Bedeutung »Geschlecht der Auferstehung« hat, so ist der Sinn jenes Satzes »in mysterio nostro, qui sumus tertium genus hominum« klar, zumal in Verbindung mit dem Worte Sech fehler fçr vjujlu sein sollte. vk und slh sind ungefåhr gleichbedeutend, sie bedeuten beide: Gruppe, Gemeinschaft, Reihe, etwa entsprechend den griechischen Worten, mro@, gno@, koinwna. 22.
3 Jer Chagiga 77a unten: wjsjdr lu vfvjk pbu Yjnq va vfhmu pbfu dªªmk, vgl. Midrasch zu Ps 16, 11 sowie oben Anm. 1. 23.
4 Dewarim rabba II, 24: wjfl wjnek xjulfum weu xjujlu fatsnu latuj fla eb tvfj vjujluef wjlatujf. Ûber åhnliche Deutungen vgl. Tanchuma zu Ex 19, 1 vgl. dort: wlfpl .bjbh jujlue 24.
1 jefmds jhnf annjmjsj ajvjm vjjha wfjb; vgl. Raschi zur Stelle. 25.
2 Siehe S. 348 Anm. 2. Die Errettung der drei Månner im Feuerofen gilt als ein Zeichen und Wunder der Auferstehung.
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13, 8; er besagt: »in unserm Mysterium, die wir das Geschlecht der Auferstehung sind«. Von dieser dritten Zeit spricht auch eine Ûberlieferung, die der Talmud auf die »Schule des Elijahu« zurçckfçhrt. »Sechstausend Jahre ist die Zeit der Welt: zweitausend Jahre Chaos, zweitausend Jahre Torah und zweitausend Jahre die messianischen Tage«. 26 Auch hier ist die messianische Zeit die dritte Zeit. Ganz ausdrçcklich finden die messianischen Tage diese Bezeichnung »dritte« in einer anonymen Ûberlieferung des Tanchuma. Hier werden sie, auch wieder im Anschluû an unseren Secharja-Vers, die dritte Befreiung ± vjujlu elfac ± genannt, die dritte und bleibende nach der ersten, der aus Øgypten, und der zweiten, der aus Babel in Esras Zeit. 27 In diese selbe Richtung fçhrt auch ein an | deres Wort, das ebenfalls in den beiden Tanchumas anonym çberliefert ist. In Verbindung damit wieder, daû Israel, gemåû den Såtzen des Secharja und des Jesaja, das Dritte heiût ± latuj ala vjujlu xja ±, wird hier gesagt, daû an dem Tage der Erlæsung, von dem diese Propheten sprechen, nur Gott und Israel sein werden. 28 Auch hier ist Israel das Letzte, das Bleibende auf Erden. ± Jedenfalls steht es fest, daû unser Wort dem palåstinensischen Judentum zugehært. Von hier ist es dann in einen Sprachgebrauch der Kirche gelangt und hat im Munde ihrer Gegner zu Spættereien den Anlaû gegeben.
26.
3 Ssanhedrin 971; Awoda sara 9a. Zu Chaos und Torah vgl. Peûikta de-Raw Kahana p. 6a (ed. Buber), Schabbat 88a; Tanchuma zu Gen 1, 31; Peûikta rabbati 99b; Rut rabba, Anfang. 27.
4 Tanchuma zu wjiqfu, ed. Buber letzter Abschnitt, gewæhnliche Ausgabe, Abschnitt 9: vjujluef aªªd vfba vulu jnb wlfp lu fvfujlum weu latuj fla eb tvfj vjujluef atgp vlfac fg ejnu wjtrm vlfac fg enfuat elfan vjujlu elfacb ala wrtab xjbujvm xjau eb tvfj soqe el xja vjujlu. Buber verzeichnet fçr fvfujlum die beachtenswerte Lesart: uju wlfp lu fvjvum xeb, wozu dann Bereschit rabba 75, 11 und Midrasch zu Ps 11, 3 zu
vergleichen wåren. 28.
1 Tanchuma zu Lev 6, 2; ed. Buber § 4: xjtjjvum latujf eªªbse wlfpe xm slvom fupu xfjk.
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DIE GLAUBENSSPRAC HE
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Glauben
Der Begriff des Glaubens hat im religiæsen Denken, zumal dem abendlåndischen, sein weites Gebiet und seine vielfache Frage. In dem Platz, den er hat, und der Antwort, die durch ihn gewiesen wird, zeigt sich çberall ein Besonderes und Unterscheidendes auf. Seine abendlåndische Bedeutung hat er zunåchst von der Bibel her erhalten; der Sinn, den das Wort hier besitzt, hat dem nahekommenden griechischen und lateinischen Worte neuen Inhalt zugeteilt. 1 Dieses biblische hebråische Wort bezeichnet in seinem Eigentlichen ein Sichern, Festigen, Erhalten, und es hat sich von da aus nach zwei Richtungen weitere Bedeutung bereitet, nach der des Kænnens und Tuns und nach der des Empfindens und Wissens. Es benennt daher sowohl das Ausbilden, Erziehen, Unterweisen, Betreuen als auch das Vertrauen, das Gewiûsein, das Dasein von Treue und Wahrheit. In seiner kausativen Form, der Form fçr das Bewirken und Veranlassen, bringt dieses Zeitwort demgemåû dann zum Ausdruck, daû jemand in seiner Seele einen oder etwas sicher, fest und stetig werden låût, oder eben, daû er an ihn oder daran glaubt. So ist Glauben in der biblischen Sprache nicht ein Erfahren von etwas oder ein Erfaûtwerden von einem oder etwas, sondern es ist hier, grammatisch gesprochen, eine Hif 2ilform, ein Tun und Schaffen, ein Fåhigsein des Menschen, sein Vollfçhren und Bewirken; er schafft und bewirkt eine Gewiûheit und Beståndigkeit in seinem Innern. Wenn so von Abraham, als er die gættliche Verheiûung empfing, gesagt ist: »Er glaubte an den Ewigen, und der Ewige erachtete es ihm als Fræmmigkeit« (Gen 15 6), so meint das im Genauen: Abraham war dessen fåhig, und er gab es sich, daû das, was Gott ihm ver1.
Dem hebråischen xmae bzw. enfma entsprechen das griechische pisteein bzw. psti@ und das lateinische credere bzw. fides.
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Die Glaubenssprache 233
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heiûen hatte, ihm in Gott, durch Gott fest und gewiû war. | Wenn so nach dem Durchzug durch das Schilfmeer, nach allem, was Gott an Israel getan hatte, es vom Volke Israel dann gerçhmt wird: »Das Volk fçrchtete den Ewigen, und sie glaubten an den Ewigen und an Moses, seinen Knecht« (Exodus 14, 31), so bedeutet das: sie erwarben die Sicherheit in Gott und in Moses. Oder wenn es in der groûen Strafandrohung heiût: »Du wirst bangen Tag und Nacht und wirst nicht an dein Leben glauben« (Deut 28, 66), so besagt das: du wirst keine Gewiûheit durch dein Leben erlangen. Oder das Wort der Warnung: »Glaubt nicht an einen Nåchsten« (Micha 7 5) ± bereitet euch keine Sicherheit durch einen Nåchsten. Oder das Wort des Jesaja an das zagende Volk ± mit dem Spiele zwischen der kausativen und der passiven Form des Zeitwortes ±: »Glaubt ihr nicht, so seid ihr nicht beglaubigt« (Jes 7 9) ± schafft ihr in eurer Seele keine Sicherheit, so werdet ihr nicht gesichert sein. Und das åhnliche Wort desselben Propheten »Wer glaubt, der wird nicht beeilen« (Jes 28, 16) ± wer sich Gewiûheit gibt, wird nicht beeilen. Oder, als ein letztes Beispiel, der Spruch: »Ein Einfåltiger glaubt allem, und ein Kluger achtet auf seinen Schritt« (Sprçche 14, 15), was besagen will: Ein Einfåltiger bereitet sich an allem Sicherheit. So ist es deutlich, was in dem biblischen Denken und Sprechen der Begriff »an Gott glauben« enthålt. Er bringt zum Ausdruck, daû der Mensch in Gott und durch Gott sich eine seelische Gewiûheit und Sicherheit bereitet. Und da der Mensch der Bibel um den einen, einzigen Gott weiû, um den, neben welchem kein anderer ist, so ist diese Gewiûheit die eine und einzige, zu der keine andere als gleich hingestellt werden darf. Gott ist der einzige Grund der wahren, bleibenden Gewiûheit, die der Mensch sich gewåhren kann, und als dieser einzige Grund zugleich fçr sie der notwendige Ausgang. Nur von ihm her kann sie erlangt sein. Der Mensch gewinnt diese Gewiûheit nur dadurch, daû sein Denken den Standort in dem einen Gotte nimmt. Aller Glaube ist also, so kænnte es auch gefaût werden, ein Denken und Wissen von dem einen Gotte aus. Hier ist ein eigentlicher Unterschied gegençber dem Polytheistischen. In diesem ist der Ausgang vom Menschen aus genommen; vom Menschen her gewinnen Denken und Gewiûheit daher ihren Grund. Die Gætter sind zum Standort des Menschen hingefçhrt, | sie treten in seinen seelischen und geistigen Raum hinein. Der Anthropomorphismus ist daher hier ein prinzipieller, und auch die Kunst, die mit den Zçgen und den Leidenschaften des Menschlichen die Gætter darstellt, ist darum hier als ein Grundsåtzliches und Notwendiges erfordert. In dem religiæsen Denken und Sprechen des Juden238
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Glauben
tums, besonders auch seiner Haggada, ist das Anthropomorphe etwas ganz anderes. Es ist hier umgekehrt Ausdruck dessen, daû der Mensch von Gott her so innig denkt, daû er die Bezeugung fçr Gott in Bildern seines Menschlichen sucht, daû er mit allem, worin menschliches Sehnen und Empfinden, Hoffen und Leiden sich darzutun vermag, diesem Denken, mit dem er von Gott aus denkt, das Wort gibt. Es ist der Mensch, der hier und dort gestaltet; aber das Entscheidende ist sein Standort. Dort sind die Gætter zum Wesen des Menschen, der auf seinem Standort bleibt, herabgeholt; hier ist der Mensch zum Wesen und damit zum Standort des einen Gottes emporgestiegen. Glauben ist hier gewissermaûen eine Himmelfahrt des Denkens. Dadurch, daû der Mensch von Gott her denkt und weiû, bereitet er sich die letzte und insofern einzige Gewiûheit seiner Seele. Er glaubt so zu Gott hin, in Gott und durch Gott ± das gibt den Inhalt des biblischen Wortes bestimmter wieder als die Ûbersetzung: »an Gott glauben«. Darum ist hier Glauben auch nicht etwas, was am Menschen geschieht, so daû auch sein Glauben dann sich darauf bezieht, daû diese Wandlung durch die Gnade in ihm geworden ist und so sein Glaube im Grunde der Glaube daran ist. Fçr das jçdische Wissen ist Glaube die Wandlung des Standortes, die der Mensch kraft dessen, daû er von Gott geschaffen und das Ebenbild Gottes ist, zu vollbringen vermag, um dadurch gegençber allem Wandelnden und Irdischen das groûe »Und dennoch«, die groûe Stetigkeit und Einheit seines Lebens zu erreichen. Damit bereitet der Glaube sowohl die groûe Zuversicht, die von allem Kommenden und Gehenden unabhångig ist, wie die groûe Einigung des Lebens, das in dem Einig-Einzigen seinen Grund weiû. Der Glaube ist die Wurzel, aus der dies hervorwåchst. Die dem Denken Philos entstammende Bestimmung des Glaubens im elften Kapitel des Hebråerbriefes, daû er »das Wesen dessen ist, was gehofft ist, und die Ûberzeugung von Dingen, die nicht gesehen sind«, er | klårt mehr das Vertrauen, das sich aus dem Glauben ergibt, als den Glauben selbst. Glaube selbst ist jenes Denken von Gott aus, jene Gewiûheit, die dadurch geschenkt ist. Fçr das Judentum gibt es kein Denken, das sich nicht auch im Handeln ausspråche. Daher bedeutet hier alles Glauben, alles Denken von Gott aus zugleich: von Gott aus handeln, »vor Gott und mit Gott gehen«, »den Weg Gottes erkennen«, »in den Wegen Gottes gehen«, wie dies die Bibel und danach die Haggada bezeichnen. Beides ist hier ein Charakteristisches. Nicht der Mensch ist das Prinzip des Handelns oder gewåhrt sich das Prinzip des Handelns, wie dies in aller bloû philosophischen Ethik der Fall ist, sondern der Mensch will den einen Gott zum Prinzip seines Handelns machen. Und eben239
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so dieses andere: Der Glaube wird hier grundsåtzlich zur Tat, so daû es ohne die sittliche Tat keinen Glauben gibt. Auch hierdurch ist der Mensch das geforderte Subjekt des Glaubens. Zu diesem Glauben fçhrt ein Weg, der der Ehrfurcht. Ehrfurcht bedeutet: zu einem hin denken und empfinden, der çber einem steht. Sie låût also dazu gelangen, daû das Denken und Wissen den hæheren Standort gewinnt. Der Glaube an Gott beginnt so mit der Ehrfurcht vor Gott, wie diese wieder in der Demut anhebt, diesem Gefçhl des Menschen, durch das er von seiner Kreatçrlichkeit, von seiner Vergånglichkeit und Ungewiûheit, von seinem Platze im Unendlichen erfåhrt. In der Demut erwacht die Sehnsucht nach dem Glauben, nach der letzten Gewiûheit. Mit dem Glauben wiederum ist die Liebe verbunden. Liebe bedeutet: zu einem hin empfinden, dieses Einswerden und Gewiûwerden im Empfinden. Aller Glaube an Gott wird so zur Liebe zu Gott. Nicht nur eine Verheiûung, auch nicht eine bloûe Erfahrung, sondern ein menschliches Kænnen, wie Ehrfurcht und Liebe, ist der Glaube. Er kann nicht besser bezeichnet sein, als in dem biblischen Worte sich ausdrçckt: Gewiûheit schaffen in dem einen Gott, durch den einen Gott.
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Das Reich Gottes
Die erste Strophe des zweiten, des messianischen Abschnittes des Alenu-Gebetes lautet: »Darum harren wir Dein, Ewiger, unser Gott, baldig anzusehen die Herrlichkeit Deiner Macht, Gætzen zu bannen von der Erde ± und die Nichtse werden vertilgt werden ±, eine Welt zu ordnen durch die Herrschaft des Allmåchtigen ± und alle Menschenkinder werden Deinen Namen anrufen ±, zu Dir zu wenden alle Bæsen der Erde.« In seiner Konstruktion gibt dieser Satz eine Frage auf. Wir haben hier asyndetisch vier Infinitive: zu sehen, zu bannen, zu ordnen, zu wenden. Haben diese das gleiche Subjekt, so daû sie alle auf das Eingangswort »wir harren« bezogen sind: wir harren Dein, zu sehen ¼, zu bannen ¼, zu ordnen ¼, zu wenden ¼? Oder ist fçr die letzten drei Infinitive das Subjekt »Gott«, derart, daû sie sich als Apposition an die Worte »die Herrlichkeit Deiner Macht« anschlieûen: Deiner Macht, zu bannen ¼, zu ordnen ¼, zu wenden ¼? Die deutschen und, soweit sich feststellen lieû, die englischen Ûbersetzungen geben hierauf keine ganz deutliche Antwort. Sie begnçgen sich zudem vielfach, besonders was den Satzteil vom Gottesreich anlangt, mit den sogenannten freien Ûbertragungen; die gern gewåhlte Form des Passivums gewåhrt dann hier noch die Mæglichkeit, jeder Frage nach dem Subjekt enthoben zu sein. Ein so vortrefflicher und um den Text des Gebetbuches so verdienter Grammatiker wie Wolf Heidenheim hatte hiermit begonnen; er çbersetzt: »Durch das Reich des Allmåchtigen wird die Welt vervollkommnet werden«. Ihm reihen sich andere an, so Alexander Behr in seinem Mçnchener Gebetbuch, Fçrstenthal, Pråger und auch Arnheim (»daû die Welt eingerichtet werde unter dem Reiche des Allmåchtigen«). In åhnlicher Weise çbersetzen dann auch christliche Theologen unserer Zeit, wie Dalman, Fiebig und Else Schubert-Christaller. Noch mehr neben dem Text be | wegt sich die Ûbertragung von Geiger: »alle Welt 241
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das Gottesreich anerkennt« oder wie es in der spåteren Auflage heiût: »die menschliche Ordnung im Einklang steht mit der Weisheit Deiner Weltregierung«; ihm folgen z. B. Joel und Einhorn (»daû die Weltordnung als Dein Reich offenbar werde«). Nicht ganz eindeutig ist der Sinn des Satzes bei Michael Sachs. Er çbersetzt: »¼ zu schauen ¼, daû Du wegråumest ¼, aufzurichten die Welt durch das Walten des Allmåchtigen ¼, Dir zuzuwenden ¼«, er bezieht also den zweiten Infinitiv auf Gott, scheint dann aber den dritten und vierten wieder dem Menschen zuzuordnen. Am genauesten geht dem hebråischen Texte Samson Raphael Hirsch nach; er stellt die vier Infinitive nebeneinander, und sie erscheinen demnach auf das Eingangswort »wir hoffen« bezogen; aber sein Kommentar, der nur von Gott die Herbeifçhrung dieses Ziels und vom Menschen nur die Hoffnung auf ein baldiges Geschehen aussagt, scheint doch auf eine andere Auffassung hinzudeuten. Die Geschichte der Gebetsçbersetzungen des vergangenen Jahrhunderts ist, wie schon dieses Beispiel zeigt, psychologisch wie theologisch interessant. In der Tat liegt hier ein theologisches Problem zugrunde. Die Frage, die sich hier einstellt, ist nicht bloû eine der Philologie, sie greift ebenso in die Religionsgeschichte hinein; es handelt sich um die Frage nåmlich, wem das Heranfçhren des messianischen Reiches zugemessen worden ist, dem Walten Gottes nur oder auch der Aufgabe des Menschen. Zunåchst das Philologische. Unser Gebet hat seine kunstvolle Gliederung. Seine beiden, mit derselben Pråposition anhebenden, Teile haben je zwei Strophen, die aus je vier Paaren von Viererzeilen bestehen und mit einem Bibelzitate schlieûen. Jede Strophe wiederum hat im Zusammenhang ihrer Verse eine bestimmte Struktur. So ist die erste Strophe gebildet durch ein Zeilenpaar mit asyndetischen Infinitiven und, in der alten Fassung, drei immer mit derselben Partikel eingeleitete Zeilenpaare kausal-relativer Form. So hebt in der zweiten Strophe emphatisch der erste Satz mit »wir« und der letzte mit »er« an, und dazwischen sind vier polysyndetische Såtze, die beiden ersten aus je einem Halbvers, die beiden letzten aus je einem Vers bestehend. Øhnlich fangen in der vierten Strophe das erste und das letzte Zeilenpaar mit | derselben affirmativen Partikel an, und zwischen ihnen sind polysyndetisch vier Futursåtze. Dieselbe Zahl vier bestimmt auch die Gestalt unserer dritten Strophe; je ein Hauptsatz im Futurum beginnt und beschlieût sie, und die Mitte bilden vier Infinitive, durchbrochen mit zwei parenthetischen Såtzen. Allen diesen Satzgruppen ist es nun eigentçmlich, daû sie in ihren Teilen eine gleiche Beziehung haben. Das architektonische Gefçge will so dahin 242
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Das Reich Gottes
weisen, daû in unserem Abschnitt alle vier Infinitive zu dem gleichen Subjekt hin konstruiert sind. Dafçr spricht ein Weiteres. Es wçrde eine dem Stil unseres Gebetes sonst fremde, sprachliche Hårte sein, wenn von Gott hier gesagt wåre: »wir hoffen, daû Du die Welt ordnen wirst durch die Herrschaft des Allmåchtigen« und nicht, was der sprachliche Rhythmus und das Metrum ja zulieûen: »durch Deine Herrschaft« (Yv8fklmb); vom Menschen her klingt es dagegen recht: »durch die Herrschaft des Allmåchtigen«. In die nåmliche Richtung weist, daû in der Bibel das Zeitwort »fortbannen (tjbpe)« von dem Fortbannen des Heidnischen durch Menschen gebraucht ist, 1 und ebenso das Zeitwort »ordnen (xsv)« eine Tåtigkeit des Menschen bezeichnet, 2 auch in der hier uns entgegentretenden Verbindung »Ordnung der Welt« (xfsv wlfpe ). 3 Der Sinn des Satzes ist demnach: »wir hoffen, daû wir schauen ¼, fortbannen ¼, ordnen ¼, zuwenden werden«; stilistische und sprachliche Erwågungen fçhren dahin. Hierzu kommt das religionsgeschichtliche Moment. Die Herrschaft Gottes, so war es die damalige jçdische Auffassung, besteht immer, »fçr alle Ewigkeiten, durch alle Geschlechter« (Ps 145, 13); aber so wie fçr den Menschen Gott da ist, nur wenn der Mensch Gott anerkennt ± man denke an das Wort des Schimon ben Jochaj zu Jes 43, 12: »Wenn ihr meine Zeugen seid, bin ich der Ewige; wenn ihr nicht meine Zeugen seid, so bin ich gewissermaûen nicht der Ewige« (Peûikta 102b) ±, ganz so ist das Reich Gottes fçr die Menschheit da, nur soweit es von Menschen erfaût wird. Daher wird mit Bezug auf Abraham gesagt, vor ihm sei Gott gewissermaûen nur im Himmel Herrscher gewesen, er erst habe bewirkt, daû Gott Herrscher auf Erden auch sei (Ssifre 134b). Dasselbe | meint das alte Gleichnis, daû die Frevler Gott von der Erde fortfçhren und die Gerechten ihn zur Erde hinfçhren (Peûikta Ib). Daher ist es der çbliche Ausdruck, den ja auch unser Gebet hat, »die Herrschaft Gottes auf sich nehmen«. Der Mensch hat die Entscheidung zwischen der Herrschaft Gottes und der Herrschaft der Gætzen auf Erden, er bereitet der einen oder der anderen die Ståtte. Er geht den Weg zum Guten dadurch, daû er, wie Elasar ben Asarja sagt, »sich von der Sçnde fortwendet und die Herrschaft Gottes auf sich nimmt« (Ssifra 93d), dadurch daû er, wie das Buch der Jubilåen (12, 19) es von Abraham rçhmt, »Gott und seine Herrschaft erwåhlt«. In Israel hat diese daher ihren Bestand. Die 1. 2. 3.
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I Kæn 15, 12, II Chr 15, 8. Koh 7, 13; 12, 9; vgl. Bereschit rabba zu 2, 3. Vgl. zum Beispiel Ssifre, ed. Friedmann, 97b.
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Weisheit, so wird gerçhmt, »hat einst Jakob die Herrschaft Gottes gezeigt« (Sap 10, 10), seine Nachkommen beten: »wir haben keinen Herrscher auûer Dir« (Taanit 25b), der Proselyt ist »der, welcher die Herrschaft Gottes auf sich nimmt« (Tanchuma ed. Buber I 32a), Religionsverfolgungen sind das Trachten, »die Herrschaft Gottes zu beseitigen« (Midrasch zu Psalm 5 2). Als Aufgabe des jçdischen Volkes gilt danach die, welche unser Gebet bezeichnet: »eine Welt zu ordnen durch die Herrschaft des Allmåchtigen«. Nur dadurch, daû diese in Israel verwirklicht wird und so von hier weiter ausgehen kann, vermag die Welt ihren Bestand zu haben. »Håtte Israel nicht am Sinai gesprochen: alles, was der Ewige geredet hat, wollen wir tun und hæren¬, so håtte die Welt vergehen mçssen und wåre wieder zum Chaos geworden« (Midrasch zum Hohelied I 9). »Die Welt war ohne Halt gewesen, erst durch das Heiligtum in Israel hat sie den festen Grund erhalten« (Peûikta 6a). »Die Gemeinde Israels ist die Sulamit, die Friedreiche, sie schafft einen Frieden zwischen Welt und Gott« (Bereschit rabba s. 66). Sosehr, eschatologisch, das Kommen des Reiches Gottes von Gottes Walten und seinem Willen bedingt bleibt, sosehr wird doch auch wieder die Aufgabe des Menschen betont, den Weg dahin zu bereiten. Auch die religionsgeschichtlichen Zeugnisse sprechen so dafçr, daû der Sinn unseres Satzes ist: Wir hoffen, daû wir ¼ eine Welt ordnen werden durch die Herrschaft des Allmåchtigen.
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»Der im Dornbusch Wohnende«
eno jnku in Deut 33, 16 wird im Hinblick auf Ex 3, 2f. erklårt als »der im Dornbusch Wohnende«. So hatten es die Septuaginta und die Targumim aufgefaût; aber sie hatten es auch schon als auffållig empfunden, daû auf Grund einer einmaligen Erscheinung ein »Wohnen« ausgesagt werde. Die griechische Ûbersetzung stellt deshalb fçr das Wohnen die bloûe Erscheinung ein, 1 und Onkelos çbersetzt, um jedes Miûverståndnis auszuschlieûen: der, dessen Schechina im Himmel ist und der dem Moses im Dornbusch erschien. 2 Den mittelalterlichen Exegeten hatte sich diese Schwierigkeit ebenso aufgedrångt. Ibn Esra sucht ihr aus dem Wege zu gehen, indem er das Partizipium jnku gar nicht auf Gott, sondern auf den Menschen bezieht; er erklårt: es mæge Josef zu Teil werden das Ziel der Sehnsucht dessen, der im dornigen, d. h. trockenen Lande wohnt und darum stets um Regen betet, 3 eno jnku xfrt ist so nach Ibn Esra nur ein poetischer Ausdruck fçr den Regen. Fçr Nachmanides steht der Dornbusch gewissermaûen als pars pro toto; Gott werde von Moses »der im Dornbusch Wohnende« genannt, weil Gott ihm zum ersten Male im Dornstrauch erschien und viele Tage auf dem Sinai, wo sich dieser Strauch befindet, wohnte. 4 Neuere Erklårer sind geneigt, um diesem unabweisbaren Bedenken Rechnung zu tragen, fçr eno das sprachlich naheliegende und durch den Inhalt nahegebrachte 5 Wort jnjo einzusetzen. So Renan, 6 | 1. 2. 3. 4. 5. 6.
t²¾ ¨yjnti ¥n t±» bt²w. Das Targum jeruschalmi çbersetzt: ajnob ejvnjku tsj jtuad, Pseudo-Jonatan çbersetzt: ajnob eum lp ejvnjku tsjab jlcvad. Vgl. Pseudojonatan zu Ex 3, 2.
3 Ibn Esra zu Ex 3, 2. Die Erklårung, die er zu Deut 33, 16 vorbringt, ist nicht seine eigene, sondern die des Ssaadja.
4 Nachmanides zu Deut 33, 16.
5 Als Ståtte Gottes ist der Sinai bezeichnet Deut 33, 2, Ri 5, 5, Ps 68, 9 und 18.
6 Renan, Histoire du peuple d'Isral I 2 p. 192 n. 1.
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Wellhausen 7 und diesem folgend Steuernagel, ein spåterer Kommentator des Deuteronomiums; letzterer çbersetzt dementsprechend: »Mit dem Wohlgefallen dessen, der auf dem Sinai wohnt«. 8 Die inhaltliche Schwierigkeit wåre hierdurch wohl behoben; die Emendation låût sich jedoch in philologischer Hinsicht schwer rechtfertigen; der Knoten ist durch sie nicht gelæst, sondern durchhauen. Aber auch ohne diese Gewaltsamkeit kann man vielleicht zum Sinai gelangen. Im Hebråischen finden sich nåmlich, wenn auch nur vereinzelt, nebeneinander die monophthongische Endung e--- und die diphthongische Endung j---4 als radikaler Wortausgang. Barth 9 fçhrt an: jd³¨u5 neben ed·¨u5 sowie neben eW8a3 die Form jW4a3 , die als Absolutus zu dem singularischen status constructus jW9a3 anzusetzen ist. 10 Kænnten da nicht auch eno und jnjo miteinander identisch sein, derart, daû das eine die monophthongische, das andere die diphthongische Form eines und desselben Eigennamens wåre? 11 eno jnku hieûe dann, ohne jede textliche Ønderung: der auf dem Sinai Wohnende. Die Vokalisierung der Massoreten, die nach dem Beispiel von Targum und Midrasch eno als Dornstrauch auffaûten, dçrfte aber wohl abzuåndern sein, vielleicht nach Analogie von en8 o8 I Sam 14, 4, wenn anders anzunehmen ist, daû dieses Wort, wie z. B. ek8B8 und ec8 e8, in pausa unveråndert geblieben ist. 12 Eine Frage, die sich hieran anschlieût, ist die, ob eno in Ex 3, 2ff. in gleicher Weise zu interpretieren sei, so daû es auch dort hieûe: der Sinai brannte in Feuer, aber er wurde nicht verzehrt. Dafçr zu | sprechen scheint der demonstrative Artikel enoe, der auf etwas Bekanntes hinweist, 13 was vom Sinai eher gilt als vom Dornstrauch. Daû der Sinai im Feuer brennt, wie es vom eno gesagt wird, ist eine ståndig 7. 8.
Wellhausen, Prolegomena 4 S. 344. Steuernagel, Handkommentar zu Deut 33, 16; vgl. auch Baentsch, Handkommentar zu Ex 3, 2. 9.
3 Barth in ZDMG 42, 351, Anm. 3 und »Nominalbildung« § 230 p. 375. 10.
4 Barth, Nominalbildung, a. a. O. Anm. 2: »der Constr. jW9a3 verhålt sich zum parallelen eWa3 wie jd¸V7 zu ed¸V7«. 11.
5 Folgende Formen seien, zwar nicht als analoge Bildungen, aber zur Vergleichung angefçhrt: jn4 q7a5 = en8 q7a5 (Barth in ZDGM 42, 345), en8 b7l3 = arab. lubnaj (Gesenius-Kautzsch, Grammatik 25 § 86, 2, 5), ferner die Femininformen et´V5 = jt³V5 (Nædelke in ZDMG 40, 183) und et¸V7p8 = israj (Olshausen, Grammatik, § 110). Vgl. auch ef8 D´ und jF5 D³. 12.
6 Siehe Olshausen, Grammatik, § 144a; vgl. auch Gesenius-Kautzsch, § 84a 1e und § 87, 1c. Ûber die Zusammengehærigkeit von jnjo und eno (I Sam 14 4) vgl. Wellhausen, Prolegomena 4 S. 344, Anm. 1. 13.
1 Vgl. Baentsch, Handkommentar zu Ex 3, 2: »enoe mit Artikel, als ob der Dornstrauch bekannt wåre«. Ebenso schon, bejahend, Ibn Esra zu Ex 3, 2.
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wiederkehrende Anschauung im Pentateuch; 14 ja das vom eno Ex 3, 2 ausgesagte Prådikat uab tpb findet sich gerade regelmåûig beim Sinai, und çberhaupt sonst nur bei ihm. 15 Auch die Heiligkeit des Bodens 16 ist dem Sinai eigentçmlich. 17 Trotzdem wird es, da mehr dagegen zu sprechen scheint, wohl angemessener sein, bei der herkæmmlichen Interpretation von Ex 3, 2 zu bleiben. Es ist dann auch leicht begreiflich, daû diese Erzåhlung vom Dornbusch es bewirkt hat, daû man im Worte eno Deut 33, 16 nicht den Sinai erkannt, sondern den Dornstrauch erblickt hat.
14.
2 Ex 19, 18 f.; 20, 21; 24, 17; Deut 4, 11 et passim. 15.
3 uab tpb enoe = uab tpb tee siehe Deut 4, 11; 5, 20; 9, 15. uae Yfvm bthb = Yfvm enoe Deut 4, 15; vgl. 4, 33; 5, 23; 9, 10; 10, 4 et passim. Zu dem Gebrauch von Yfv vgl. Micha 7, 14 lmtk Yfvb. 16.
4 Ex 3, 5. 17.
5 Ex 19, 12 ff.; 24, 2ff. ± Der ssifre zu Deut 33, 16 (ed. Friedmann, p. 146b) elncnu enoe lp enthålt jedenfalls eine falsche Lesart, die nach dem Jalkut zu verbessern ist. Es wåre sehr gesucht, wenn man etwa aus den Worten enoe lp folgern wollte, daû der Ssiffre das Wort eno als Sinai aufgefaût habe.
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MYSTIK UND RELIGIONSPHILOSOPHIE
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Baeck 4 p. 251 / 5.7.2006
Ursprung der jçdischen Mystik
Die jçdische Mystik wird gewæhnlich mit dem Worte Kabbala¬ bezeichnet. Mit diesem Worte, welches wohl anfånglich Belehrung¬, belehrende Rede¬ bedeutet, werden im talmudischen Schrifttum die Bçcher der Propheten und die Hagiographen zum Unterschied von dem Pentateuch benannt. Erst in der nachtalmudischen, der sogenannten gaonåischen Zeit wird das Wort Kabbala als Benennung der mçndlichen Ûberlieferung, der Tradition gebraucht, und in dieser Bedeutung ist es dann zur besonderen Bezeichnung der Mystik geworden. Wenn diese so als Ûberlieferung hingestellt wird, das heiût als etwas, was ohne schriftliche Fixierung mçndlich weitergegeben worden ist, so ist damit freilich nichts gesagt, was gerade sie charakterisierte. Die Zeit, in der die Mystik sich zu gestalten begann, ist die, in welcher das jçdische Volk Palåstinas mehrere Jahrhunderte hindurch bewuût und mit Absicht nichts geschrieben hat. Das einzige, was dann in diesen Jahrhunderten ohne Bçcher verfaût worden ist, der Talmud, ist mehr unter dem Zwange einer Not, aus der Sorge heraus, es kænnte vergessen werden, als aus literarischem Bedçrfnis hervor geschrieben worden. Der Talmud ist zudem mehr das Buch einer Schule als einer bestimmten Persænlichkeit und ist in seinem ersten Teile, der Mischna, mehr eine Gesetzesniederschrift als eine Schrift und in seinem zweiten Teile, der Gemara, nicht ein verfaûtes, komponiertes Buch, sondern eine Sammlung, eine Kompilation. Es ist eine der eigenartigsten Erscheinungen, daû ein Volk, in welchem so starke Kråfte gestaltender literarischer Fåhigkeit waren, ein Volk, welches Buch um Buch geschrieben hatte, sich nun gleichsam diese Askese auferlegt hat, nicht mehr zu schreiben. Denn es war doch das: nicht etwa ein Nichtmehrkænnen, sondern ein Nichtwollen; es war nicht ein Erlahmen der Kraft, | sondern es war ein gefaûter Entschluû. Es war eine Entscheidung, die eine Parallele bildet zu 251
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Mystik und Religionsphilosophie
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dem bewuûten Verzicht auf die formende Kraft in der Kunst, auf Plastik und Malerei. Wie man um des einen Gottes willen, um des rein Geistigen, Gestalt- und Bildlosen willen das Gebot in sich aufgenommen hatte: »Du sollst keine andern Gætter haben neben mir, du sollst dir kein Bildnis machen und keinerlei Gestalt«, ganz so hatte man um des einen Buches willen nun die Forderung an sich gerichtet, keine Bçcher zu haben neben dem Buche, kein Buch mehr zu schreiben. Dem Monotheismus fçgt sich, wenn dieses Wort gebildet werden darf, der Monobiblismus an; der Abweisung der Gætter entspricht eine Ablehnung der Bçcher. Selbst als Mischna und Gemara dann niedergeschrieben waren, hielt man an der Fiktion des einen Buches fest; auch der Talmud sollte im Bereich des einen Buches stehen, sollte nur die alte Torah sein. Wie die Entschiedenheit des Monotheismus die bestimmte Grenze gegen die anderen Religionen zog, so sollte diese Ablehnung der Bçcher vor den Gefahren der Sektenbildung schçtzen. Man kehrte so mit Bewuûtsein in allem, was neu gedacht und gesprochen wurde, zum Primitiven, zur bloûen Tradition zurçck. Wir kænnen es genau verfolgen, wie mit der Feststellung des einen Buchs und mit dem Kampf fçr dessen Geltung sich diese Abwendung von jedem neuen Buche, von jeder neuen Komposition durchsetzt. Um des einen Buches willen geschah es so, aber es war ein hoher Preis, der dafçr gezahlt wurde. Denn eine Anlage, die gehemmt, ein Organ, das nicht mehr bençtzt wird, bçût seine Bewegungsfåhigkeit und seine Kraft ein. Durch die Entscheidung, keine Bçcher zu schreiben, ist die literarische Gabe, die Stilund Kompositionsfåhigkeit fçr lange Zeit wesentlich beeintråchtigt worden. Nur in den scharf geprågten und leicht çberlieferbaren Sprçchen und Epigrammen und vor allem in den wunderbaren hebråischen Gebetsdichtungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte hat die alte formende Kraft weiterwirken kænnen. Es ist also keine besondere Eigentçmlichkeit der jçdischen Mystik aus jener ersten, beginnenden Zeit, daû kein Buch, kein literarisches Denkmal von ihr zeugt, daû sie ålter ist als ihre Bçcher. Im Gegenteil, das erste eigentliche Buch, das dann wieder geschrieben worden ist, ist das mystische. Zwar gilt sie als geheime | Lehre; in der Mischna ± Chagiga II, 1 ± steht das Wort, man dçrfe çber die Syzygien, die Lehre von den månnlich-weiblichen Prinzipien, Arajot, nicht vor dreien sprechen, und çber das, was vor der Weltschæpfung war, Maaûe bereschit, nicht vor zweien, und çber das Jenseits, die Welt der Vision gættlichen Thronens, Merkawa, selbst vor einem, nur wenn er ein Weiser sei, der aus eigenem Erkennen begriffe. Etwas von diesem Zauber des Geheimen blieb auch stets çber dieser 252
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Ursprung der jçdischen Mystik
Doktrin. Aber nicht, daû sie esoterische Lehre sein soll, ist der eigentliche Grund, daû sie nicht niedergeschrieben sein wollte; denn wie gesagt, als das eine Buch gesichert war und fçr die Bçcher wieder der Raum frei sein durfte, bereitete sich vor allem das mystische Buch seinen Platz. Der Grund war vielmehr jener allgemeine, der in der Zeit lag, welche die Bçcher ablehnte. Um dessentwillen sind die Lehren der Mystik langehin nur mçndlich weitergegeben worden, so daû sie in dem mittelalterlichen Sinne dieses Wortes Kabbala waren. Ihre ursprçngliche Form verschwimmt so im Ungewissen einer, nicht fixierten, Tradition. Aber der Inhalt, der ihnen eignet, ist doch erkennbar. Um ihn zu kennzeichnen, muû ein Allgemeineres zunåchst festgehalten werden. Es gibt, hiervon muû hier ausgegangen sein, nicht eine Mystik schlechthin, sondern jede Religion entwickelt gemåû ihrer besonderen Art ihre besondere Mystik. Nicht eine allgemeine Mystik steht vor uns, sondern die Mystik des Buddhismus, des Taoismus, des Neuplatonismus, des Judentums, des Christentums, des Islams. Es ist selbstverståndlich, daû zwischen den einzelnen mystischen Richtungen das Gemeinsame ist. Alle Mystik bedeutet nåmlich den Versuch, eine unmittelbare, im Menschen angelegte Verbindung zwischen ihm, dem vergånglichen Menschen, und dem Seienden, dem Ewigen und Unendlichen herzustellen, den Menschen aus seiner Vergånglichkeit heraus in das Seiende eingehen zu lassen. Ob dieses Hintrachten, das mit Gott einen will, mehr den Charakter einer Fræmmigkeit hat oder mehr den eines Spekulativen, ob es mehr gefçhlsmåûige oder mehr geistige Versenkung ist, ob ein mehr oder weniger Weltanschauliches oder eine pia ignorantia den Untergrund bildet, ist gleichgçltig. Das Kennzeichnende ist immer nur das Erlebnis davon oder der Glaube daran, daû die Distanz zwischen Jenseits und Mensch ganz çberwunden werden kann. Auf dieses Unmittelbare ist der | Nachdruck zu legen. Denn Mystik im eigentlichen Sinne ist dort nicht vorhanden, wo die Verbindung mit dem Seienden an ein Mittel, ein Sakrament, eine Ûbung, einen Ritus geknçpft wird. Wo dies der Fall ist, dort kann nicht von einer Mystik, sondern nur von einer Mysterien-Religion gesprochen werden. Andererseits wiederum gehært zur Mystik als ihr Kennzeichen nicht mehr als eben dieser Versuch, mit dem Seienden eins zu werden. Ob dieses Seiende atheistisch oder pantheistisch oder im Sinne des persænlichen Gottes gefaût ist, und ob dem Menschen der Persænlichkeitswert zugesprochen oder abgesprochen wird, ist fçr die Mystik als solche nicht bestimmend. Diese Verschiedenheit und Besonderheit ist nur durch die Religion oder Weltanschauung gegeben, in 253
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der die Mystik sich entwickelt, und darin hat diese dann alle die Mannigfaltigkeit ihrer geschichtlichen Formen gewonnen. Auch die jçdische Mystik låût sich so nur aus den Voraussetzungen und den Besonderheiten der jçdischen Religion erklåren. Ein Eigentçmliches der prophetischen Religion, in der das Judentum sich gebildet hat, ist ihr ethischer Charakter. Die Fræmmigkeit, die vom Menschen gefordert wird, ist das sittliche Handeln; durch sein Leben, das er gestaltet, soll die Religion zu seinem Besitze gemacht sein. Aller Glaube, alle Ehrfurcht ist darauf gegrçndet, und auch alle Erkenntnis Gottes ist daran geknçpft. Die Wege zu Gott sind die der guten Tat. Hierin liegt die Stårke, die wirksame Kraft dieser Fræmmigkeit, aber hiermit ist auch gegeben, daû sie in den Menschenumkreis vorerst hineingestellt bleibt, daû diese Erde ihr Bezirk wird. Die Religion hålt den Menschen zunåchst auf der Erde fest; diese Erde wird zur Welt, zu der Welt, die das Gebiet der Fræmmigkeit ist. Hier zeigt es sich, von wo aus die jçdische Mystik ihren Ursprung und ihren Grund hat. Ûber jenen Bezirk der Erde hinaus will nåmlich diese Mystik den Menschen und seine Fræmmigkeit emporfçhren, sie will ihn çber den Bereich der Erde zum Universum hinausheben, ihn, den ethischen Menschen zugleich zum kosmischen Wesen machen. Seine Fræmmigkeit soll nicht nur auf dieser Erde bleiben, sondern soll zu einer Fræmmigkeit werden, die in der Weite der Welt ihr Gebiet und ihre Antwort findet. Die jçdische Mystik ist so aus demselben kosmischen Problem hervorgekommen, aus welchem | heraus in dem beginnenden Christentum die Gestalt des Messias zu dem Christus des Epheser- und des Kolosser-Briefes geworden ist. Dieses selbe Bedçrfnis waltet hier, um dessentwillen dort der Messias der Geschichte zu dem gemacht worden ist, der in den Welten seine Ståtte und seine Bedeutung hat. Gerade in der Messiaslehre war der Ausgang hierfçr gewåhrt, denn in der Gestalt des Messias und ebenso in der mit ihr zusammenhångenden des ersten Menschen, des Adam kadmon, war ein gewisser Ûbergang vom Ethischen zum Kosmischen leicht vollzogen. So mannigfaltig die Perioden der jçdischen Mystik sind, dieses eine ist ihnen allen gemeinsam, daû sie den Menschen der Erde zum Menschen der Welt, den Menschen des Gebotes zum kosmischen Wesen machen wollen. Aber es ist hier immer der Mensch dieser Erde, der zum Menschen der Welt werden soll. Das will sagen, daû diese Erde nicht negiert, daû der Mensch von ihr nicht losgelæst und von ihr nicht erlæst werden soll, sondern nur, daû seine Erde in einen groûen kosmischen Zusammenhang hineingestellt wird. Dem Menschen wird der Zugang zum Kosmos und damit der 254
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Zugang zur schæpferischen Gotteskraft eræffnet. Damit ist das Weitere aber auch gegeben, daû die Erde der Ausgangspunkt bleibt, und damit die Aufgabe auch, die auf dieser Erde gestellt ist, die ethische, gewahrt wird. Das Eigentçmliche der jçdischen Mystik ist gerade, daû sie nie aufhært, ethisch zu sein. Die verbindenden Wege ihres Kosmos sind ethische, alle Kråfte der Welt sind Willenskråfte, Kråfte zur Erfçllung des Gebotes. Die Ethik wird hier ins Kosmische gedehnt. Der Mensch bleibt der Mensch dieser Erde, und die Erde hat ihre hæchste Bestimmung darin, durch ihn kosmisch zu werden und dadurch unmittelbar verbunden mit dem Reiche der Vollkommenheit, mit der Welt, die dem nichtmystischen Menschen nur eine Welt des Jenseits ist. Die Persænlichkeit des Menschen mit allem, was von ihm als seine Pflicht gefordert wird, ist somit festgehalten. Die jçdische Mystik ist nie Erlæsung vom Willen, Erlæsung vom Ich, sondern im Gegenteil Lehre von der stårksten Aktivitåt, von der Schæpferkraft des Menschen, der das Gebot mit ganzem Herzen erfçllt. Wenn in einer spåteren Epoche der jçdischen Mystik dasselbe Wort Kawwana sowohl die Gesinnung bezeichnet, das heiût die seelische Haltung des Menschen, der das Gebot mit ganzem Her | zen erfçllt, als auch die Versenkung, durch die der Mensch den Zugang zu Gott gewinne, so spricht dieses Eigentçmliche der jçdischen Mystik sich darin aus. Darum ist die jçdische Mystik auch nicht pantheistisch. Der strenge Theismus des Glaubens an den einen persænlichen Gott, der den Menschen anruft und zu dem er betet, steht fest. Es findet keine Ineinssetzung von Gott und Welt statt, weder ein Aufgehen der Welt in Gott noch ein Aufgehen Gottes in der Welt. Das Eigentçmliche der jçdischen Mystik ist vielmehr und weit eher eine Erstreckung des Menschen zu den Welten, so daû sie ihm zugehæren, so daû er in das Unendliche hinein wirkt und schafft, so daû seine ethische Tat zugleich eine kosmische Tat wird und er so den Weg zum Gebiet des Weltschæpferischen gewinnt. Wenn man das Wort bilden will, so ist ein gewisser Pananthropismus der jçdischen Mystik eigentçmlich. Diese Erhebung des Menschen ins Kosmische unter strengem Festhalten seines Ethischen, diese Ausdehnung der Reichweite seines Tuns ins Unendliche hinaus kennzeichnet alle Phasen der jçdischen Mystik. Ihre Anfånge gehen, wenn man von mystisch klingenden Stellen in der »Weisheit Salomos« und vor allem in diesem Zusammenhange von Philon absieht, etwa in das erste nachchristliche Jahrhundert zurçck. Sie tritt uns hier sowohl als ekstatische Mystik entgegen, als ein »Drauûensein«, um ein bezeichnendes Wort des Talmud zu ge255
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brauchen, wie auch als spekulative Mystik. Die Ziele ihres Suchens sind, wie schon erwåhnt, das Dasein vor der Schæpfung, sodann die Welt des Pleroma, des Sitzes der Gottheit, und schlieûlich die Reihe der Øonenpaare, der Syzygien. Sowohl auf dem ekstatischen wie auf dem spekulativen Wege soll dies alles sich dem Menschen erschlieûen, soll er einer Offenbarung teilhaftig werden, in welcher er çber die Grenzen dieser Erde zu dem gættlichen Geheimnis, das die Wahrheit ist, zu dieser unmittelbaren Nåhe Gottes gebracht wird. Alles das erscheint auf dem Boden des Judentums zunåchst als ein Fremdes, und es ist in der Tat nur auf die, mannigfach bezeugte, Berçhrung und Auseinandersetzung mit dem Gnostizismus, mit dieser Mischung griechischer und orientalischer Religionen und Mythologien, wie sie damals die Umwelt Palåstinas beherrschte, zurçckzufçhren. Die kosmischen Gedanken und Vorstellungen, die von daher an das | jçdische Denken herantraten, verlangten ihre Antwort, die Widerlegung oder die Zustimmung, und aus diesem Erfordernis ist diese mystische Richtung im Judentum, sosehr die Voraussetzungen zu ihr in ihm selbst gegeben waren, hervorgekommen. Die åltesten Zeugnisse lassen erkennen, daû die Fçhrer des Volkes zunåchst diesen Erlebnissen und Lehren, wenn sie dieselben auch auf einen Kreis der Erlesenen beschrånken wollten, nicht unfreundlich gegençberstanden. Charakteristisch ist, was von Jochanan ben Sakkai, dem ersten Schulhaupte nach der Zerstærung des Tempels, und seinem Schçler Elasar ben Arach berichtet wird. Der Jerusalemische Talmud ± Chagiga 77a ± erzåhlt von ihnen: »Es trug sich zu, daû Rabban Jochanan auf dem Esel reitend des Weges zog, und hinter ihm ging Rabbi Elasar ben Arach. Da sagte der zu ihm: Lehre mich doch einen Abschnitt der Lehre von der Merkawa ± Ezechiel Kap. 1 ± !¬ Und er antwortete ihm: Haben die Weisen denn nicht gesagt: nicht soll man çber die Merkawa auch einem nur vortragen, es sei denn, er wåre ein Weiser und håtte die Erkenntnis aus Eigenem.¬ Da sagte er: Rabbi, so erlaube denn, daû ich davon ein Wort vor dir spreche.¬ Und er antwortete: Sprich.¬ Als nun Rabbi Elasar anhob, von der Merkawa zu predigen, da stieg Rabban Jochanan vom Esel herab; er sagte: Es ist nicht recht, daû ich von der Glorie meines Schæpfers reden hære und dabei auf dem Esel reite.¬ Da gingen sie und setzten sich unter einem Baume nieder. Und es kam ein Feuer vom Himmel herab und umkreiste sie, und Engel fçhrten einen Reigen um sie, fræhlich wie Hochzeitsgåste vor dem Bråutigam, und ein Engel rief aus dem Feuer: So wie du sprichst, Elasar ben Arach, so ist die Lehre von der Merkawa.¬ Und alsbald æffneten alle Båume 256
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ihren Mund und stimmten ein Lied an, so daû es sich erfçllte, was geschrieben steht: Da jauchzen die Båume des Waldes.¬ Wie nun Elasar geendet hatte, erhob sich Rabban Jochanan und kçûte ihn aufs Haupt und sagte: Gelobt sei der Ewige, der Gott Abrahams, Isaaks und Jaakobs, der unserem Vater Abraham einen weisen Sohn gegeben hat, kundig, zu predigen von der Glorie unseres Vaters im Himmel!¬« 1 »Von der Glorie Gottes re | den«, so wurde also diese mystische Spekulation benannt, kein græûeres Lob konnte gezollt sein. Aber bald sind doch Bedenken gegen diese Mystik rege geworden. Mit Bezug auf vier Lehrer der Generation nach Rabban Jochanan ben Sakkai wird im Jerusalemischen Talmud ± Chagiga 77b ± gesagt: »Vier traten in das Paradies ± das heiût die Ståtte, wo einer in der Unmittelbarkeit Gottes ist ± ein, Ben Soma, Ben Asaj, Acher und R. Akiwa. Ben Soma schaute und starb, Ben Asaj schaute und ward verstært, Acher schaute und schlug Schæûlinge ab ± das heiût er stiftete Abfall unter der Jugend ±, Akiwa ging in Frieden hinein und kam in Frieden heraus.« Er hatte, das ist damit gemeint, der Mystik wieder entsagt. Die Warnung, die in diesem Satze liegt, ist dann auch in der Mischna ± Chagiga II, 1 ± kodifiziert worden: »Wer çber viererlei spekuliert, dem wåre besser, er wåre nicht zur Welt gekommen: çber das, was oberhalb ist, çber das, was unterhalb ist, çber das, was vorher gewesen, und çber das, was nachher sein wird. Wer so die Glorie seines Schæpfers herabzieht, dem wåre besser, er wåre nicht zur Welt gekommen.« »Die Glorie Gottes herabziehen«, so hieû jetzt diese mystische Spekulation. Zwischen dem Worte hæchsten Preises, das Jochanan ben Sakkai gesprochen, und diesem Worte der Verurteilung in der Mischna liegt ein geschichtlicher Einschnitt, die Abkehr von dieser theosophischen Mystik hat sich vollzogen. Sie war bewirkt durch die Erkenntnis der Gefahr, welche von daher der Reinheit der Lehre, der Eigenart des Judentums drohen konnte. 2 Man sprach damals das 1.
1 Ebenda ist auch, wohl aus einer anderen Tradition, das weitere Lobeswort Jochanans angefçhrt: »Mancher ist im Predigen schæn und handelt nicht schæn, mancher handelt schæn und predigt nicht schæn; Elasar ben Arach predigt schæn und handelt schæn. Heil dir, unser Vater Abraham, daû aus dir hervorgegangen ist Eleasar ben Arach.« Bezeichnend ist hier die Forderung der Einheit von Ethik und Mystik, Forschen und Tun. Zwei anderen Schçlern Jochanans wird dann hier fçr ihre Mystik die kommende Welt zugesprochen. ± Zu dem Reigentanz der Engel vergl. Philon, de opif. mundi, I p. 16. 2.
1 Die Abkehr von dem Griechentum und damit von seiner Gnostik, wie sie sich nach dem Bar-Kochba-Aufstand vollzog, hat dabei mitgewirkt. Die Verwerfung groûer Teile der apokryphen Literatur, die sich ja mit Maasse bereschit und Maasse merkawa weithin befaûte, geht wohl hierauf zurçck.
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resignierte Wort: »Diese Torah gleicht zwei Wegen, der eine ist von Feuer, der andere von Schnee. Wendet einer sich dem einen zu, so stirbt er im Feuer; wendet er sich dem andern zu, | stirbt er im Schnee. Was soll er tun? Er gehe in der Mitte!« ± in der Mitte zwischen der Mystik und dem Rationalen. 3 Aber ein wesentliches mystisches Element blieb in dieser Epoche. Es war in einer Idee gegeben, die dem Denken der Zeit besonders nahe war, in der von dem Wohnen Gottes¬, seiner Gegenwart, der Schechina. Die alte biblische Vorstellung hatte in der Stiftshçtte und dann dem Tempel die Ståtte der Schechina gezeigt. Nun, da der Tempel zerstært war, wurde dies zum Problem, das die neue Antwort verlangte. Wie der Gottesdienst sich vom Tempel losgelæst hatte, so muûte auch die Idee der Schechina von ihm unabhångig werden. Die Lehrer der Generation nach der Zerstærung des Tempels haben dem auch den bestimmten Ausdruck gegeben. Sie haben erklårt ± Awot III, 2 ff. ±, wo die Torah sei, dort sei die Schechina, und wenn Menschen in die Torah eintreten, dann sei darum die Schechina unter ihnen. Einer dieser Lehrer trug kein Bedenken, einen klassischen Satz von der Schechina im Heiligtum ± Exodus 20, 24 ±: »An der ganzen Ståtte, wo ich meines Namens gedenken lassen werde, werde ich zu dir kommen und dich segnen« auf den Menschen anzuwenden, der sich mit der Torah verbindet; der Mensch der Torah wird das Heiligtum. Besonders Schimon ben Jochaj hatte diesen Gedanken mannigfach gefaût: wo die Synagoge und wo das Lehrhaus ist, dort ist die Schechina; wohin immer das Volk der Synagoge und des Lehrhauses wandert, die Schechina zieht mit ihm. Die Ståtte der Torah erhielt so kosmische Bedeutung, sie ist die Ståtte, wo der Mensch unmittelbar mit Gott verbunden ist. Die Mystik von der Torah und mit ihr die Mystik von der Synagoge und dem Lehrhause hat hiervon ihren Ausgang genommen. Vor allem in der spåteren Zeit ist sie dann im Judentum fruchtbar geworden. Die åltesten mystischen Schriften, die wir besitzen, knçpfen freilich an jene anderen Formen der Mystik an, von denen der Talmud uns Kunde gibt, und die nun, wohl auch jetzt durch das Denken der Umwelt angeregt, wieder hervortraten, an die ekstatische wie an die theosophisch-spekulative. Sie sind zumeist Zeugnisse von Visionen. Diese Visionen sind teils nur literarischen Charakters, von der Art mancher alten Apokalypsen und Himmelfahrten, | bunte Visionen, denen das Wort des Talmud ± Toûefta Megilla 228, 1 ± gilt: »Viele 3.
1 Der Zusammenhang, in dem dieser Satz steht ± Jer. Chag. 77a ±, zeigt, daû dies seine Bedeutung ist.
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haben von der Merkawa gepredigt und haben sie doch niemals geschaut.« Teils stellen sie aber auch, was meist çbersehen worden ist, Urkunden wahrer ekstatischer Erlebnisse, wirklicher Verzçckungszustånde dar. Was die Verfasser mancher dieser Schriften erzåhlen, hatten sie in ihren Entrçckungen erblickt und gehært; alle die merkwçrdigen Bilder und Worte, von denen sie kçnden, waren zu ihren Sinnen hingedrungen. Ganz besonders gilt dies von den sogenannten Jorde merkawa, »den Månnern, die zur Merkawa hingelangen«, diesen Månnern der Himmelfahrt, deren Auditionen und Visionen uns in den sogenannten Hechalot-Schriften erhalten sind, Schriften, welche die himmlischen Hallen¬, die Hechalot, schildern wollen. Es hat damals auch unter den Juden eine gewisse Technik der Ekstase gegeben. Der um das Jahr 1000 lebende Gaon Hai, das Schulhaupt von Pumbedita, berichtet als von etwas Bekanntem: »Viele Gelehrte waren der Ansicht, daû fçr den durch gewisse Eigenschaften dazu Befåhigten, wenn er danach strebt, die Merkawa zu erschauen und einen Blick in die Hallen der himmlischen Wesen zu tun, auch Wege vorhanden sind, dies zu erreichen. Er soll dahin bestimmte Tage fastend verbringen, soll den Kopf zwischen die Kniee legen und zur Erde hin viele Lieder und Gesånge flçstern, wie sie genau angegeben sind. Alsdann erblickt er das Innere und die Hallen; es fçgt sich ihm, als sehe er mit eigenen Augen diese sieben Hallen, und es ist ihm, als tråte er von einer Halle in die andere und sehe alles, was darin ist.« 4 Manches eigenartig Dichterische ist in diesen Hechalot-Schriften; ihre Gebetshymnen haben auf die Liturgie eine Einwirkung ausgeçbt. Und vor allem die Gebetsmystik der spåteren Zeit ist dadurch bestimmt worden, der Glaube an das »Geheimnis des Gebetes«, an die Versenkung und Verzçckung, die den Betenden von der Erde fort zu der Ståtte der Glorie Gottes trage, der Glaube an die kosmische Wirkung des Gebetes, daû es Tore des Schicksals zu æffnen und zu schlieûen vermæge. Aus etwa derselben Zeit wie diese Hechalot-Schriften stammt das Buch, in welchem die theosophische Mystik, die Philosophie vom kosmischen Menschen, ihre erste literarische Fassung gefunden hat, | der Ssefer Jezira, das Buch von der Schæpfung¬. In ihm ist der erste Versuch gemacht worden, eine philosophische Terminologie der Mystik in freier Formung von Worten zu bilden. Und diese Terminologie låût zugleich deutlich eine Abhångigkeit von der neupythagoråisch-neuplatonischen Philosophie, vor allem der des Proklus erkennen. Der Grundgedanke des Buches ist, daû der Mensch zu 4.
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Teschuwot ha-geonim, ed. Lyck, Nr. 99 S. 31.
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dem Geheimnis der Schæpfung gelangen kænne. Denn die Schæpfung, so wird hier gelehrt, ist ein Werk des Schæpfungswortes, und das Wort ist aus Buchstaben aufgebaut. Sie wie die Urzahlen, die Sphåren, sind die Elemente von allem; in ihnen sind die elementaren Verhåltnisse, die Gesetze gestaltet. Wer vermæge seines wahren Glaubens, der ihn zu Gott hinfçhrt, sie wahrhaft zusammenzufçgen und zu ordnen weiû, so wie es einst Abraham in dem Bund, den Gott mit ihm geschlossen hatte, beschieden war, der kennt und bestimmt die Gesetze des Weltenbaues; er ist kosmisches Wesen geworden, gewissermaûen, wenn dieses moderne Wort gebraucht werden darf, der Laplacesche Geist. Gott offenbart dem, welcher glaubend zu ihm hingelangt ist, sein Gesetz, seinen Bund. In den Hechalot-Schriften und dem Ssefer Jezira vollenden sich die Anfånge der Mystik. Was deren fernere reiche Geschichte enthålt, hat hier seinen Ursprung. Das Kennzeichnende dieser weiteren Geschichte ist, daû der ethische Charakter sich mehr und mehr betont. Trotz allem Bizarren und allem Theosophischen, trotz allem Spielerischen und Gekçnstelten wird die Mystik mehr und mehr Mystik des Menschenwillens und seiner Versæhnung, Mystik von der Grçndung des Heiligtums Gottes auf Erden. Sie erlebt und lehrt eine Geschichte der Welt, welche die Geschichte der Frommen, der Gerechten auf Erden ist. Sie sind es, denen gegeben ist, wie schon talmudische Worte gesagt hatten, Gott mit der Erde zu verbinden, durch die Sphåren hindurch den Weg zu ihm zu finden und den Weg fçr sein Kommen und sein Walten zu eræffnen. Die Kråfte der Welt sind hier Kråfte des Guten und Sittlichen; die fromme Tat voller Versenkung in das Gute gibt hier die unio mystica. Auch die Mystik behålt ihr Gebot. Damit ist in diese Mystik mehr und mehr auch die starke Zukunftssehnsucht eingetreten. Sie hat ihren messianischen Ton. Sie will nicht vom Willen und von der Welt erlæsen, sondern Willen und | Welt mit Gott versæhnen, das Jenseits zum Diesseits herniederfçhren. Sie will den Sabbat, dessen Poesie sie ihre ganze Liebe zuwandte, zum Odem der Welt, zum Menschheitsleben und zur Menschheitserfçllung werden lassen. Dieses Fordernde und Hinausweisende, dieses Aktive und Messianische, dieser Persænlichkeits- und Zukunftscharakter, der sich doch mit der Versenkung in die Seligkeit der Ruhe, in das Geheimnis des Sabbats eint, ist das Eigentçmliche dieser jçdischen Mystik geworden. Aus der Eigenart des Judentums heraus ist sie so geworden.
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I. Grundbegriffe des Jezira-Buches Der Ssefer Jezira hat seine besondere Stellung in der Geschichte der jçdischen Mystik. Er bezeichnet den ersten Versuch, ein System mystischer Naturphilosophie zu gestalten. Und ebensosehr hat er seinen Platz in der Geschichte der hebråischen Sprache. In ihm ist es zum ersten Mal unternommen worden, Begriffe der griechischen Philosophie selbståndig nachzuformen, sie mit den Mitteln der hebråischen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Die Bildhaftigkeit, die çberall der mystischen Rede eigentçmlich ist und sie immer wieder sprachschæpferisch werden låût, beweist sich auch in unserem Buche. Einige Beispiele sollen es erlåutern und zugleich dartun, daû der Ssefer Jezira in seinen Gedanken wie in seiner Terminologie von der Lehre des letzten der groûen Neuplatoniker, des Proklos, abhångig ist, ja in seinen entscheidenden Abschnitten nichts anderes ist als die Ûbertragung des Systems dieses griechisch schreibenden Scholastikers in jçdisches Denken und biblische Sprache. emjlb vftjqo Im ersten Teile des Buches werden zehn emjlb vftjqo als die genannt, welche zusammen mit den zweiundzwanzig Buchstaben die Wege (vfbjvn) 1 bezeichnen, in denen die Schæpfung sich vollzog, und viele 1.
Ssefer Jezira I 1: ªcf vfabr ªd ej ssh emkh vfajlq vfbjvn wjvuf wjulub. Es ist mæglich, daû dieses Wort vfbjvn eine Ûbertragung des griechischen stoice¼on wåre, das sowohl die Urprinzipien wie die Buchstaben wie auch die Bilder des Tierkreises bezeichnet und mit seinem Stammwort stoâco@ Linie und seinem Verbum stoice¼n in einer Reihe gehen fçr den des Griechischen und Hebråischen Kundigen das Gleiche wie das Wort ebjvn sagen kænnte.
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von den Abschnitten dieses Kapitels beginnen em | phatisch mit diesen Worten: emjlb vftjqo tup. Was sind diese Ssefirot, die im Midrasch Bemidbar rabba (zu 7, 14) schon wie ein Bekanntes erscheinen und die zu einem ståndigen Begriff der jçdischen Mystik geworden sind? Goldschmidt in seiner Ausgabe des Ssefer Jezira erklårt sie als »die abstrakten Zahlen, die ein Nichts und zugleich ein Etwas sind«. 2 Bloch çbersetzt: »Zahlen, in sich geschlossen« und erlåutert dies: »ohne irgend etwas, also abstrakt, rein fçr sich allein«. 3 Daû es sich hier nicht um die Zahlen der Mathematik handelt, ergibt sich daraus schon, daû hier an Stelle des çblichen tqom Zahl dieser besondere Terminus etjqo gebildet worden ist. 4 Es ist daher zu vermuten, daû er auch zur Wiedergabe eines besonderen Begriffes dienen soll, der in einem eigenen Wort eine eigene Art der Zahl benannte. Welches dieser Begriff sein kænnte, tritt uns nahe, wenn wir uns vergegenwårtigen, welches die Bedeutung der vftjqo tup emjlb in unserem Buche ist. Sie sind hier die hæchsten Prinzipien, von denen die Wirkung der Gottheit auf die Welt ausgeht. Dieses selbe hatte Proklos von den »çberwesentlichen Zahlen« gesagt, die ein bestimmender Teil seines Systems sind, die er zwischen das Urwesen und das Intelligible gestellt hatte, und fçr sie hatte sich ihm der besondere Terminus geboten, der der a©totele¼@ nde@. Auch sie stellen den vermittelnden Ûbergang von dem Ureinen zur Vielheit dar, dasselbe so wie in unserem Buche die vftjqo tup. Es ist daher das Wahrscheinlichste, daû unser Autor das Wort vftjqo gebildet hat, um einen bestimmten Ausdruck fçr diese nde@ zu gewinnen. 5 Und wenn er ihnen das Beiwort emjlb beilegt, so sollten damit offenbar die Attribute der absoluten Einfachheit wiedergegeben werden, durch die Proklos das Wesen dieser nde@ zu verdeutlichen sucht, der Attribute a©totele¼@, ¤mi | ge¼@, a©ta kaj3 aut@ 6 . Dem Worte ¤mige¼@ entspricht das emjlb ganz im Wærtlichen. Daû eine biblische 2. 3.
Lazarus Goldschmidt, Das Buch der Schæpfung, S. 80, Anm. 7. Philipp Bloch, Die jçdische Mystik und Kabbala in »Winter und Wçnsche, Die jçdische Literatur«, III, 245. 4.
3 Es ist mæglich, wie hier bemerkt sei, daû die, anders kaum erklårbare, dreifache Formung des Stammwortes tqo, die wjtqo eulu, am Ende von I, 1, die drei Klassen von Zahlen, welche Proklos unterschied, bezeichnen soll; çber sie vgl. Zeller, Philosophie der Griechen III, 2, 5, S. 862, Anm. 5. 5.
4 Eine Umbildung des Wortes dha, die der Bezeichnung nde@ genau entsprechen wçrde, verbot sich, da dieses Wort zur Benennung des einen Gottes beziehungsweise des Geistes Gottes ± vgl. I, 7 und 9 ± vorbehalten bleiben muûte. 6.
1 Siehe die zahlreichen von Zeller a. a. O. S. 853 ff. zusammengestellten Belege. Vgl. I, 5 Pfo xel xjau tup.
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Wendung (Hiob 26 7) fçr die Ûbertragung gewåhlt wurde, ist nur dem Stile unseres Buches gemåû, fçr den auch das folgende Beispiel den Beleg gewåhren kann. bfuf afrt Der sechste Abschnitt des ersten Perek bringt eine der wichtigsten Darlegungen: ftbdf Zs xel xja xvjlkvf sgbe eatmk xvjqr emjlb vftjqo tup wjfhum we faok jnqlf fqdtj eqfok ftmamlf bfuf afrtb xeb. Goldschmidt çbersetzt: »Zehn Zahlen ohne etwas, ihr Aussehen wie die Erscheinung des Blitzes, ihr Ziel ist endlos, sein Wort ist in ihnen in Hinund Herlaufen und auf seinen Befehl eilen sie wie ein Sturmwind; und vor seinen Thron werfen sie sich nieder.« 7 Bloch gibt folgende Ûbersetzung: »Zehn Zahlen, in sich geschlossen ± ihr Anblick wie die Erscheinung des Blitzes und ihr Ziel hat keine Grenze, er fçhrt sie in kreisfærmigem Lauf, und auf sein Wort jagen sie dahin wie der Sturm, und vor seinem Throne verneigen sie sich.« Er erlåutert seine Auffassung dahin, daû er ftbdf von dem aramåischen tbd = fçhren herleitet und bfuf afrt als »hin und zurçck«, als Ausdruck fçr »kreisfærmig« auffaût. 8 Beide Ûbersetzungen vermægen nicht zu erklåren, was durch diesen Satz gesagt wird. Sein Sinn wird erfaût, erst wenn auch hier wieder erkannt wird, daû unser Autor durch die dem Merkawa-Kapitel des Ezechiel (1, 14) entnommenen Worte bfuf afrt einen bestimmten Begriff der Philosophie des Proklos zum Ausdruck bringen will. Das System des Proklos grçndet sich auf die, schon bei Plotin vorgebildete, Lehre von der triadischen Entwicklung. Sie geht davon aus, daû das Hervorgebrachte sowohl mit dem Hervorbringenden verbunden als auch von ihm verschieden ist, daû es darum einerseits in seiner Ursache »bleibt«, andererseits aus ihr »heraustritt« und doch wieder, da sie sich ihm mitgeteilt hat, sich zu ihr »hinwendet«. Alles Werden, das ist das Charakteristische dieses Systems, ist in dieser Kreisbewegung des Heraustretens aus der Ursache und der | Rçckkehr zu ihr; alle Entwicklung der Dinge aus dem Urgrunde vollzieht sich in diesem triadischen Gesetz der mon, des Seins des Hervorgebrachten im Hervorbringenden, der prodo@, des Hervorgehens aus ihm, und der ¥pistroy, der Rçckwendung zu ihm. Alles Erkennen ist ein Erkennen dieses Triadischen. 9 7. 8. 9.
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Goldschmidt a. a. O., S. 50. Bloch a. a. O., S. 246. Vgl. Zeller a. a. O., S. 853 ff.
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Nichts anderes ist in unserem Satze des Ssefer Jezira gesagt. Die prodo@ und ¥pistroy erscheinen hier als bfuf afrt. Die Worte ftbd xeb bezeichnen das Sichmitteilen, in dem die mon gegeben ist; das Hervorbringende teilt sich dem Hervorgebrachten mit, sein Wort, seine Schæpferkraft ist in ihm. Mit der Neigung zu bildhaften Synonymen, die unserem Buche eigentçmlich ist, wird dann der Begriff, der der wichtigste des triadischen Systems ist, der der ¥pistroy, nachdem er in das biblische Zitat gefaût war, nochmals zum Ausdruck gebracht, zunåchst mit dem dichterischen Satz: »zu seinem Schæpferwort streben sie, wie der Wirbelsturm, wieder hin« 10 und sodann mit dem anderen Gleichnis, das dasselbe sagen will: »vor seinem Throne neigen sie sich«. 11 Der Erklårung bedçrftig sind jetzt nur noch die Worte: xja xvjlkvf Zs xel »ihr Ziel ist ihnen kein Ende«. Eine Bewegung, deren Ziel kein Ende bedeutet, ist die Kreisbewegung. Es ist jene Kreisbewegung des Triadischen, in der Proklos sich alle Entwicklung vollziehen låût. Das Bild dafçr, das durch das Merkawa-Zitat gegeben war, 12 bietet der Blitzstrahl, er tritt aus dem Verursachenden hervor und bleibt doch in ihm und kehrt zu ihm wieder zurçck. Und um die Stetigkeit dieser Bewegung bestimmter darzustellen, fçgt unser Buch dann alsbald das andere durch das Merkawa-Kapitel gegebene Gleichnis an: 13 »Ihr Ende ist in ihren Anfang hineingesteckt und ihr Anfang in ihr Ende, wie die aufsteigende Flamme | verbunden ist mit der Kohle«. 14 Es ist wieder das Bild fçr den Kreis, der von Gott ausgeht und zu ihm zurçckkehrt. Als Ûbersetzung unseres Satzes ergibt sich nunmehr: »Die zehn unvermischten Zahlen sind wie die Erscheinung des Blitzstrahles 10.
2 Das Wort ftmam entspricht dem ftbd als sein Synonym; das Schæpferwort bleibt in den Henaden und sie wenden sich zu ihm zurçck. Pdt hat hier die Bedeutung, die ihm in der talmudischen Sprache bisweilen zukommt: hinstreben, hindrången, hinstræmen. Zu eqfok vgl. Jes 5, 28 und 66, 15. Das sich bewegende runde Rad ist mit dem Wirbelsturm verglichen. 11.
3 Auffållig ist, auf vftjqo bezogen, allerdings durch einen langen Satz davon getrennt, die maskuline Form wjfhvum we. Es wåre daher mæglich, das Verbum auf tbd und tmam zu beziehen; auch das Schæpferwort tritt aus Gott hervor und kehrt zu ihm zurçck. 12.
4 Ez 1, 14; sgbe eatmk bfuf afrt vfjhef. 13.
5 Ez 1, 13: ua jlhck wejatm vfjhe vfmdf. 14.
1 Ssefer Jezira I, 7 vlhcb etfus vbeluk xqfob xvlhvf xvlhvb xqfo Zfpn emjlb vftjqo tup. Unser Satz ist von Schmuel ibn Motot in seiner Ûbersetzung der »Bildlichen Kreise«, die einen Teil seines Jezira-Kommentars vfbjvn bbfum bildet, bençtzt worden: vfjnfjpte vflfcpe tqo ed. Kaufmann S. 2b: eqfo Zfpnu vjbuhm elfcpl emfd .evlhvb
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zu betrachten: 15 ihr Ziel ist ihnen kein Ende. Gottes Schæpfergedanke bleibt in ihnen, so daû sie aus ihm hervortreten und zu ihm zurçckkehren; zu seinem Schæpferwort streben sie, wie der Wirbelwind, hin, und vor seinem Throne beugen sie sich.« wfsml bfu Durch das Verståndnis unseres Abschnittes gewinnt dann auch ein weiterer 16 seine klare Bedeutung: »Zehn Zahlen, unvermischt, das ist geschlossen, 17 und das will dir sagen: verschlieûe deinen Mund, daû er nicht rede, und dein Herz, daû es nicht grçble. Tritt aber das Wort deines Mundes hervor, zu reden, und der Gedanke deines Herzens, zu grçbeln, dann kehre zu dem »Orte« zurçck; denn das meint der Bibelsatz: »die Chajjot treten hervor und kehren zurçck«; hierdurch 18 wird die Verbindung bewirkt.« In diesen Såtzen ist das Gesetz der Erkenntnis dargelegt, ganz wie in den vorher behandelten das Gesetz der Entwicklung. Alles dialektische Erkennen ist fçr Proklos ein Erkennen der triadischen Bewegung, also des bfuf afrt wfsm; es besteht daher darin, daû der Verstand, welcher zu der Vielheit hinaustritt, sich zu dem ersten | Ursprunge, zu dem »Orte« 19 immer wieder zurçckwendet, 20 daû er die Vielheit zur Einheit zurçckfçhrt und so den »Bund«, die Verbindung mit dem Einen erfaût. Aber çber dieser Erkenntnis, çber der »Wahrheit«, wie er sie nennt, steht fçr Proklos eine hæhere noch, die psti@, der Glaube, 21 15.
2 Ûber die dem Buche Hechalot rabbati entstammende Bedeutung des Wortes des ejqr Erscheinung, Anblick, vgl. Bloch a. a. O., S. 244, Anm. 1. Es wåre aber auch mæglich, daû ejqr hier das Hervorflieûen, Hervorstræmen, im neuplatonischen Sinne, bedeutete. 16.
3 Ssefer Jezira I, 8 Yblf tbdl Yjq Zt waf tetelm Yblf tbdlm Yjq wflb emjlb vftjqo tup .vjtb evtkn eg tbd lpf bfuf afrt vfjhef tman Yklu wfsml bfu tetel 17.
4 Das Wortspiel zwischen emjlb und wflb ist der Haggada Chullin 89a entnommen. Vgl. auch Aruch sub voce wlb, sowie Bachja ben Ascher zu Deut 33, 27, dessen Erklårung von emjlb wohl ein Zitat aus unserem Buche ist. 18.
5 tbd lp bedeutet hier dasselbe wie dj lp. 19.
1 Wortspiel zwischen den Bedeutungen von wfsm: einerseits Ort, Ausgangspunkt, andrerseits der Allgegenwårtige, Gott. Dasselbe, was hier durch die Worte wfsml bfu ausgedrçckt wird, ist in I, 4 mit den Worten gesagt: lp trfj bufef fnfkm »laû den Schæpfer auf seinem Platze bleiben«. Vgl. auch I, 5 xfpmm wlkb lufm fuds, sowie I, 6 wjfhvum we faok jnqlf. 20.
2 Durch unseren Satz gewinnt auch eine Stelle in einem Gedichte des Jehuda ha-Lewi ihren klaren Sinn, Diwan ed. Brody III 231 (Strophe 4): afrtf bfu frjtpjf. Wie sehr sich Jehuda ha-Lewi mit unserem Buche befaûte, zeigen Kusari III, 17 (ed. Cassel, S. 230) und vor allem IV, 25. Vgl. auch V, 14 (ed. Cassel S. 406). 21.
3 Proklos, Theologia Platonis I, 24 ff.
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der ein Schweigen, eine mystische Ruhe im Unaussprechbaren ist; denn durch den Glauben wird die Seele in Gott hineinversetzt. Diesen Glauben meinen die Worte Yjq wflb, und von ihm spricht auch das letzte Kapitel des Buches, das von Abraham rçhmt, daû er diesen Glauben hatte und daû er durch ihn Schæpferkraft gewann. 22 Deutlich tritt so hervor, was unser Abschnitt sagen soll: Willst du hæchste Erkenntnis besitzen, so glaube schweigend. Bist du dessen noch nicht fåhig und willst die »Wahrheit« suchen, so wirst du sie finden, indem du alles zu seinem Ursprung zurçckfçhrst. djhj vjtb
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Der dritte Abschnitt 23 des ersten Kapitels hat den Erklårern immer besondere Schwierigkeiten geboten. Um sie zu læsen, muû zuerst erkannt werden, was unter den Worten prmab vnffkm djhj vjtb zu verstehen ist. Wer zunåchst der djhj ist, zeigt der Vergleich mit den parallelen Wendungen in unserem Buche xman Ylm la djhj xfdaf | fuds xfpmm wlkb lufm sowie fl jnu xjaf djhj xfdau; 24 er zeigt, daû mit diesem Worte Gott benannt ist. Um die absolute Einheit Gottes, zum Unterschied von der Einheit der ersten Zahl, 25 also jenes Ureine des Proklos, das a©ten 26 zu bezeichnen, hatte unser Autor, einem Ausdruck der Haggada folgend, 27 dieses Wort djhj gewåhlt. Demnach bedeutet djhj vjtb die Verbindung mit dem Ureinen. 28 Auch das, was von dieser djhj vjtb ausgesagt wird, prmab vnffkm, wird nun klarer, besonders wenn man wieder eine parallele Stelle heranzieht, wo von den sechs Erstreckungen und von dem Tempel
22.
4 Ssefer Jezira VI, 15. Es ist bezeichnend, daû an dieser Stelle von Abraham dieselben Prådikate sshf brh ausgesagt werden, wie in I, 1 und vielen anderen Stellen unseres Buches von Gott, dem Schæpfer. 23.
5 Ssefer Jezira I, 3: vnffkm djhj vjtbf umh dnnk umh vfpbra tup tqomk emjlb vftjqo tup tfpme vljmkf xfule vlmk prmab. Fçr vlmb und vljmbf, das die meisten Ausgaben haben, ist mit einer der Handschriften, zu lesen vlmk und vljmkf. Denn vlmk und vljmkf ist parallel dem tqomk. Daû vlm und vljm zu lesen sind, die ein Wortspiel bilden, zeigt ein Vergleich mit VI, 15. 24.
1 Ssefer Jezira I, 5 und 7; vgl. auch, falls diese Stelle echt ist, VI, 2: djhj Ylm fmlfpb. 25.
2 Ssefer Jezira I, 9 und I, 14: wjjh wjela hft vha. 26.
3 Proklos, Theologia Platonis 2, 4. 27.
4 wlfp lu fdjhj Bereschit rabba XXI, 5 zu 3, 22. Peûikta de-Raw Kahana 29b und sonst. 28.
5 Der Terminus djhj vjtb im Kommentar des Abraham Ibn Esra zu Lev 1, 1 ist vielleicht eine Reminiszenz an unser Buch, hat aber dort einen anderen, einen stilistischen Sinn.
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des Heiligtums gesprochen ist, der in der Mitte feststeht und sie alle trågt. 29 Proklos hatte, darin Plotin folgend, das Urwesen als das kntron, den Mittelpunkt 30 bezeichnet, der den ganzen Kreis des Seienden bestimmt und beherrscht. 31 So ist die Verbindung mit dem Ureinen die Verbindung mit dem Mittelpunkt. Von diesem Mittelpunkt spricht unser Satz. Und fçr ihn will er ein Symbol aufzeigen. Wie die makrokosmische Zehnzahl ihr mikrokosmisches Abbild am Menschen in den zehn Fingern oben und den zehn Zehen unten hat, so hat dieser bestimmende Mittelpunkt sein Abbild in dem Organ des Wortes, dem oberen Zentrum, und in dem Organ der Beschneidung, dem unte- | ren Zentrum. Auch von diesen beiden wird darum das Wort vjtb = Bund, Verbindung gebraucht. 32 Unser Satz ist demnach zu çbersetzen: »Die zehn unvermischten Zahlen sind entsprechend der Zahl der zehn Finger, fçnf gegençber fçnf, und die Verbindung mit dem Ureinen, die durch den Mittelpunkt feststeht, ist entsprechend dem Worte der Zunge und der Beschneidung der Scham«. 33 Dieser Sinn, zu dem so die Grundbegriffe unseres Buches gelangen, tut es dar, wie der Ssefer Jezira in bestimmender Weise durch die Philosophie des Proklos beeinfluût ist. Ist dieser Beweis erbracht, dann ist auch die Frage nach der Zeit der Entstehung unseres Buches beantwortet. Der terminus ad quem steht fest, da Aharon ben Ascher es bençtzt und Ssaadja bereits einen Kommentar zu ihm geschrieben hat. Der åuûerste terminus a quo wåre nun die Zeit des Proklos, also das fçnfte Jahrhundert. Wir werden das Buch wohl der letzteren Zeit nåher zu rçcken haben als der ersteren. Und es 29.
6 Ssefer Jezira IV, 4: prmab xffkm udfse lkjef wftdf xfqr btpmf htgm eimf elpm. ± Es wåre an sich mæglich, das Wort vnffkm im Sinne von »entsprechend« aufzufassen, wie es zum Beispiel in dem Satze gebraucht wird Jer Berachot 8c: udfs vjb elpm lu wjudse udfs vjb dcnk xffkm eim lu wjudse. Aber der Gebrauch des gleichen Wortes in dieser anderen Stelle IV, 4, wo die Bedeutung »aufgerichtet, feststehend« unzweifelhaft ist, verlangt diese selbe Bedeutung auch hier: »Die Verbindung mit dem Ureinen, die im Mittelpunkt feststeht.« 30.
7 Siehe die von Zeller a. a. O., S. 554, Anm. 3 u. 570 Anm. 7 angefçhrten Stellen. Zu dem prmab vnffkm vgl. besonders Plotin, Enneaden I, 7, 1 de¼ oãn mnein a©t (t¤gajn), pr@ a©t d3 ¥pistryein pnta Åsper kklon pr@ kntron ¤y3 oÞ pºsai gramma. 31.
8 Vgl. Ssefer Jezira I, 5: fuds xfpmm wlkb lufm und IV, 4 xlfk va aufn afef. Dieses kntron = prma ist I, 4 als fnfkm, I, 5 als fuds xfpm, I, 6 als faok, I, 8 als wfsm und IV, 4 als udfse lkje bezeichnet; alle diese Ausdrçcke sind also Synonyme. 32.
1 Siehe VI, 15: eljme ajef fjlct vfpbra tup xjbf xfule ajef fjdj vfpbra tup xjb vjtb fl vtkf. 33.
2 Vgl. S. 387 Anm. 5.
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ergibt sich so ungefåhr die Epoche, in die Zunz 34 es auf Grund sprachlicher Kennzeichen gestellt hatte. Aber auch geistesgeschichtlich ist diese Abhångigkeit unseres Buches bedeutungsvoll. Am Ausgang der Antike steht, weithin auch die Schatten werfend, die Gestalt des Proklos. Auf dem Wege çber die Schriften des Areopagiten hat er in den Kreis seines Einflusses das christliche Mittelalter gezogen. Durch den Ssefer Jezira ist er so auch in das jçdische Mittelalter eingetreten. II. Die zehn Ssefirot im Ssefer Jezira Es ist dargelegt worden, wie der Ssefer Jezira in seinen grundlegenden Lehren, denen von der Ssefira, dem triadischen Gesetz, dem Erkenntnisweg und dem Mittelpunkt, durch die Philosophie des Proklos bestimmt wird. Im folgenden soll an der Bedeutung der einzelnen Ssefirot dieser Nachweis fortgefçhrt werden. 264
| hft Der neunte und zehnte Abschnitt des ersten Kapitels sprechen, in dem unserem Buche eigenen emphatisch-liturgischen Stil, von den ersten beiden Ssefirot. Die Ssefira »Eins« wird als »Geist des lebendigen Gottes« und als »heiliger Geist« bezeichnet, die Ssefira »Zwei« als »Geist aus Geist«. 35 Aus jçdischen Gedankengången, sei es haggadischen, sei es mystischen, kann diese Zweiteilung des Geistes nicht abgeleitet werden. Dagegen macht die Philosophie des Proklos, und erst sie, deutlich erkennbar, was diese beiden Begriffe meinen und weshalb zwischen ihnen geschieden ist. Fçr die Lehre des Proklos ist nåmlich eines vornehmlich kennzeichnend, und er weicht darin von seinen Vorgångern ab: er setzt çber die Vernunft noch ein besonderes Vermægen der Seele. Die Erwågung, die ihn hierin leitet, ist die folgende. Da, nach dem bekannten Grundsatze des Empedokles, Gleiches nur von Gleichem erkannt zu werden vermag, so kann das hæchste Gættliche nicht durch die eigentliche Denkkraft erfaût werden, sondern nur durch eine darçber hinausgehende Kraft. Da nun das erste Gættliche mit 34.
3 Siehe Zunz, Gottesdienstliche Vortråge S. 165 f. Vgl. auch Bloch a. a. O., S. 244. ± Die Zeit ist die, in welcher die hebråische Sprache wieder neu zur Literatursprache gemacht wird. 35.
1 hftm hft wjvu udfse hft afe fmu Yftb wjjh wjela hft vha emjlb vftjqo tup.
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dem obersten Einheitlichen gleichgeltend ist, so kann es sich auch nur einem besonderen Einheitlichen der Seele darbieten. Diesem Einheitlichen gibt Proklos einen bildhaften Namen; bald heiût es, mit einem Worte aus den sogenannten Chaldåischen Orakeln, die »Blçte der Denkkraft«, Ínjo@ to½ no½, bald auch der »Gipfel der Seele«, ¤krth@ t»@ vuc»@. 36 Nur durch dieses »Einheitliche unseres Wesens«, t Çn t»@ o©sa@ m¾n, reichen wir an das Gættliche heran und wird die Vereinigung mit dem Ureinen vermittelt. 37 Dieser begrifflichen Trennung einer obersten Denkkraft von der | eigentlichen Denkkraft entspricht es ganz, wenn hier unser Autor einen obersten Geist von dem aus diesem erst hervortretenden Geist scheidet. Daû er den ersteren, diesen »Gipfel des Geistes« als den »heiligen Geist«, den »Geist des lebendigen Gottes« bezeichnet, ist seinem eigentçmlichen Unternehmen gemåû, Begriffe der griechischen Philosophie in das biblische Denken und die biblische Sprache zu çbertragen. Dieser Benennung kam zudem die jçdische Ûberlieferung entgegen; sie hatte in dem »heiligen Geist«, von dem die Bibel spricht, ± auch das Targum çbersetzt so ± die Kraft der Prophetie, diese hæchste, offenbarende Erkenntnis gefunden, in der sich der Eine, Gott, dem Menschen erschlieût. 38 hftm hft Die eigentliche Denkkraft wird von unserem Autor »Geist aus Geist« genannt, und diese Bezeichnung fçgt sich dem Prinzip des Proklos ein, daû das Zweite immer Teil am Ersten hat. 39 Von dieser Denkkraft ist gesagt: 40 »Zehn Zahlen, in sich geschlossen, çberwesentlich ± Zwei ist Geist aus Geist. In ihn hat er satzunggebend eingezeichnet 36.
2 Platonis Theologia I, 3 tn d krthta to½ no½ ka, Ì@ yasi, t Ínjo@ ka tn Äparxin sunptesjai pr@ t@ Ànada@ t¾n Ñntwn ka di totwn pr@ a©tn tn pas¾n t¾n jewn ndwn ¤pkruyon Ànwsin. 37.
3 In Cratylum S. 51 t@ gr o©sa@ a©t¾n ± sc. t¾n je¾n ± £@ ¤¬«tou@ ka ¤gn
stou@ mn²w t²¾ Ínjei to½ no½ jewre¼n katalepei. Ibid. S. 70 t²¾ gr Ínjei to½ no½ ka t±» ¢prxei t»@ o©sa@ m¾n a©to¼@ sunptesjai peykamen. De prov. et fato cp. 24: fiat igitur unum, ut videat t unum, magis autem, ut non videat t unum; videns enim intellectuale videbit et non supra intellectum et quoddam unum intelliget et non t autounum. 38.
1 Vgl. In Parmenidem VI, 52 kat t@ aut¾n ¤krthta@ ka ndtha@ ¥njousti¾si per t Çn ka e§si je¼ai vuca. Ûber den »heiligen Geist« vgl. Moore, Judaism I, 237 f. 39.
2 Vgl. Zeller, Philosophie der Griechen III, 2, 5, S. 858. 40.
3 Ssefer Jezira I, 10: pbuf vfma ulu dfoj vfjvfa wjvuf wjtup eb brhf ssh hftm hft wjvu .vfifuq etup wjvuf vflfqk
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und bestimmend eingegraben 41 zweiundzwanzig Urzeichen: 42 drei Mçtter, sieben Doppelte und zwælf Einfache«. Und auch dieser Satz weist auf Proklos zurçck. Das System des Proklos låût nåmlich zuerst innerhalb des no½@, dieser eigentlichen Denkkraft, die ein Denken des Ersten ist, eine Vielheit aus der Einheit hervorgehen, eine von der Einheit umfaûte Vielheit. Sie ist die Welt des Paradigmas, der intelligiblen Ideen oder, was hier dasselbe ist, der intelligiblen Zahlen, die das | Bindeglied zwischen der einheitlichen, intelligiblen und der intellektuellen Welt darstellen. 43 Eben dieses sagt auch unser Satz: in den »Geist aus dem Geist« ist eine erste Vielheit eingezeichnet, eingeschrieben, die der intelligiblen Zahlen-Ideen. Sie benennt unser Autor mit dem Worte vfjvfa, welches sowohl Zeichen, Paradigma wie auch Buchstabe und Ziffer bedeutet. Wenn er den drei ersten von ihnen den Namen »Mçtter« gibt, so kann auch dies auf Proklos zurçckgehen. In der fçr ihn çblichen Art, metaphysische Annahmen und religiæse Vorstellungen ineinander zu setzen, so daû ihm die Zahlen zugleich die Gætter sind, bezeichnete nåmlich Proklos diejenigen Urzahlen, an welchen das Moment des Hervorgehens, der prodo@, 44 gegençber denen des Bleibens und der Zurçckwendung, bestimmend ist, als die drei weiblichen Gætter, die mçtterlichen Kråfte. 45 Ebenso konnten sich fçr unseren Autor die sieben Doppelten, die sich ihm aus dem hebråischen Alphabet ergaben, vielleicht an die planetarische Siebenzahl angelehnt haben, nach der fçr Proklos die intellektuellen Gætter geordnet sind, die den Ûbergang des Intelligiblen an das geteilte Sein vermitteln. 46 41.
4 Es ist unserem Autor eigentçmlich, daû er neben Wortspielen wie elm und eljm, I, 3, oder em jlb = in sich geschlossen, sich selbst gençgend, çberwesentlich, und emjlb, I, 8, = Verschlossenheit, Mystik, auch doppeldeutige Worte liebt. So hier ssh = einzeichnen und = Gesetz geben, brh = eingraben und = bestimmen. Vgl. Spr 8, 27 f. 42.
5 dfoj bezeichnet in unserem Buche das, woraus das Folgende hervorgeht, das Paradigmatische. 43.
1 Plat. Theol. III, 14, IV, 28. Die Ssefirot sind, wie oben S. 382 f. gezeigt, die çberwesentlichen Zahlen, die absolut einfachen Einheiten, die, nach Eigenschaften und Kråften verschieden, das çberseiende Eins mit dem Seienden, das Urwesen mit seiner Offenbarung verknçpfen. Die dfoj vfjvfa sind die Ideen, die paradigmatische Welt. 44.
2 Siehe oben S. 384 f. 45.
3 Plat. Theol. IV, 1f. 46.
4 Plat. Theol. V, 1f. Vgl. Zeller a. a. O. S. 863. ± Es wåre mæglich, daû auch die Bezeichnungen vflfqk und vfifuq, in einer, unserem Autor eigenen, Doppeldeutigkeit sich an Gedanken des Proklos anschlieûen. Fçr diesen ist die Bewegung, der Entwicklung entsprechend, eine dreifache: die kreisfærmige, die
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hftm wjm Von der folgenden Ssefira wird gesagt: »Drei ist Wasser aus Geist. Darin hat er satzunggebend eingezeichnet und bestimmend eingegraben ein Tohu und Bohu, einen Schlamm und Lehm; er hat sie satzunggebend eingezeichnet åhnlich einem Beet, hat sie be | stimmend eingegraben åhnlich einem Wall, hat sie fçgend hineingewirkt åhnlich einem Estrich«. 47 Auch zu dem Verståndnis dieses Satzes leitet erst die Philosophie des Proklos. Das Triadische, mit dem dieser sein System durchgehend, bis zur Eintænigkeit, ordnet, fçhrt er auch in das Ganze der Denkkraft ein. Das Gebiet, das fçr seinen Vorgånger Plotin die eine Denkkraft, der no½@ ist, zerlegt er in drei Sphåren, das Intelligible, das nohtn, das er mit dem Sein gleichsetzt, das Intellektuell-Intelligible, das nohtn ¿ma ka noern, das er als das Leben auch bezeichnet, und das Intellektuelle, das ihm das Denken ist. 48 Von diesem Leben, das ihm »das aus den Prinzipien Hervorgehende«, t prion ¤p t¾n ¤rc¾n, ist, 49 sagt er, daû sein Symbol das Wasser sei. 50 Dieses intelligible Leben, das aus dem intelligiblen Sein folgt, konnte unser Autor dementsprechend »Wasser aus Geist« nennen. Er konnte hier zugleich einem haggadischen Satze folgen, der Wasser, Geist und Feuer vor der Welt erschaffen sein lieû. 51 Auch haggadischen Auslegungen des Genesiswortes vom »Geiste Gottes, der çber dem Wasser schwebte« 52 schloû er sich damit an. Ganz so håtte sich ja auch Proklos auf einen seiner Vorgånger stçtzen kænnen, dessen Worte er bisweilen anfçhrt, auf Numenius aus Apamea, der sich auf jenes Genesiswort einmal beruft, 53 denselben Numenius, fçr den sein Meister dem obersten Hervorgehenden zukommt, dann die spiralfærmige der Zurçckwendung und schlieûlich die gerade des Bleibens ± vgl. Hugo Koch, Ps. Dionysius Areopagita, S. 83 ff. und 151 f. Das Wort vflfqk bezeichnete dann nicht nur: doppelt, zwiefåltig ± s. Ssefer Jezira IV, 2 ±, sondern auch: herumgelegt, gekrçmmt, also spiralfærmig, und vfifuq nicht nur einfach, sondern auch gerade. 47.
1 I, 11: xkko emfh xjmk xbrh ecftp xjmk xssh ijif uqt febf fev web brhf ssh hftm wjm ulu ebjgpm xjmk. Auch das Wort xkko hat hier seine Doppeldeutigkeit: durchweben, wirken, und bedecken, schçtzen. 48.
2 Vgl. Zeller a. a. O. S. 857 f. 49.
3 Plat. Theol. III, 9. 50.
4 In Timåum 318 A: zw»@ gr t ¢grn smbolon di ka libda kalo½sin a©tn (sc. die Weltseele) t»@ Ãlh@ zwogona@. Plat. Theol. IV, 15 o leim¾ne@ t»@ zwogona@ yrousi t Ädwr smbolon. 51.
5 Schmot rabba XV, 22 Anfang. 52.
6 Bereschit rabba II, 5f.; Chagiga 12a und 14b; Jer Chagiga 77a und c. 53.
7 Numenius bei Porphyrius, De antro Nymph. 10: prosxanen (sc. Platon) t²¾
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Plato »ein attisch redender Moses«, Mwus»@ ¤ttikzwn gewesen war. 54 Von Proklos her wird auch verståndlich, was unser Autor, entsprechend den Urzeichen im Geiste, nun in das »Wasser« eingeordnet sein låût. Unser Satz nennt es »Tohu und Bohu, Schlamm und | Lehm«. An sich schon ist es klar, daû der Vergleichungspunkt hier etwas, was gemischt ist, sein soll. Aber ganz deutlich wird das, was gemeint ist, durch die Lehre des Proklos. Sie bezeichnet das erste Wirkliche, das zuerst Seiende, t pr
tw@ Ñn, das darum auch o©sa, Wesen, 55 heiûen darf, als das Gemischte, t miktn. Es ist das Ergebnis von Grenze und Unbegrenztem, 56 und es gehært mit diesen beiden zu der ersten intelligiblen Trias hin. 57 Dieses »Gemischte« des Proklos erscheint in unserem Satze als »Tohu und Bohu, Schlamm und Lehm«, und als Vergleiche fçr das Produkt von Grenze und Nichtbegrenztem werden Beet, Wall und Estrich hingestellt. Es ist nun unverkennbar, was diese Vergleiche besagen wollen. wjmm ua Der zwælfte Satz gilt der weiteren Ssefira: »Vier ist Feuer aus Wasser. Darin hat er satzunggebend eingezeichnet und bestimmend eingegraben den Thron der gættlichen Herrlichkeit, die Sserafim und die Ofanim und die heiligen Chajjot und die Boten des Dienstes«. 58 Auch hier spricht wieder zuerst eine haggadische Ûberlieferung mit; es war eine alte Anschauung, daû die hæheren Wesen Feuer seien. 59 Damit konnte sich ein Gedanke des Proklos wieder verbinden; er erklårte, im Anschluû an die alte stoische Lehre vom Feuer, daû die Leiber der Gætter aus feinstem, immateriellem Lichte genommen
Ädati t@ vuc@ jeopn²¾ Ñnti. di to½to ka tn proythn e§rhkna ¥myresjai ¥pnw to½ Ädato@ jeo½ pne½ma. 54.
8 Clemens Al., Strom I, 342C. 55.
1 Plat. Theol. III, 9. 56.
2 Plat. Theol. III, 9. Es ist mæglich, daû ein in bezug auf die drei Mçtter uªmªa Gesagtes, III, 8ff.: tvk fl tus, sich auch auf die Grenze bezieht; verb. tvk = umgeben, umschlieûen. 57.
3 Plat. Theol. III, 12: toiath mn oãn ¼ t¾n noht¾n prwtsth tri@, pra@, Ípeiron, miktn. Vgl. Zeller a. a. O. S. 855 Anm. Ûber dem miktn stehen die ¤mige¼@; zu diesen vgl. oben S. 383. 58.
4 vtue jkalmf udfse vfjhf wjnqfaf wjqtu dfbke aok eb brhf ssh wjmm ua pbta. 59.
5 Bereschit rabba 78, 1: Schmot raba 15,7; Jer Rosch ha-Schana 58a. Vgl. II Henoch 29; II Baruch 59, 11.
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seien, 60 das durch alles hindurchgehen kænne. 61 | Aber das Entscheidende ist hier ein anderes: die Sonderung der Ssefirot entspricht hier wieder dem System des Proklos; fçr diesen heiût die erste Trias der intellektuell-intelligiblen Gætter ± er glaubt darin Platos Phådrus zu folgen ± der çberhimmlische Ort, 62 das also, was fçr den Juden »der Thron der Herrlichkeit« hieû. Sprachen also die vorangehenden Såtze unseres Buches von dem obersten Intelligiblen, so jetzt dieser Satz von dem obersten Intellektuell-Intelligiblen. wvh Von den letzten sechs Ssefirot spricht der dreizehnte Abschnitt: »Fçnf ± er hat Hæhe gesiegelt und hat hervorgehen lassen nach oben ¼; Sechs ± er hat Tiefe gesiegelt und hat hervorgehen lassen nach unten ¼; Sieben ± er hat Osten gesiegelt und hat hervorgehen lassen nach vorn ¼; Acht ± er hat Westen gesiegelt und hat hervorgehen lassen nach hinten ¼; Neun ± er hat Sçden gesiegelt und hat hervorgehen lassen nach rechts ¼; Zehn ± er hat Norden gesiegelt und hat hervorgehen lassen nach links ¼« 63 Alles, was hier gesagt ist, gewinnt wieder von Proklos her seine Bestimmtheit. Zunåchst die Vorstellung vom Siegeln. Proklos will die mjexi@, die Teilnahme am Hæheren, durch die etwas mit der Idee erfçllt ist, bildlich erklåren, und er gebraucht hierfçr, neben dem alten platonischen Bilde vom Spiegel, auch das schon vom Philo und dann auch von Plotin gern gebrauchte 64 vom Siegel. Die Ideen sind das Siegelnde, sie geben Ðcno@ ti aut¾n ka tpon »eine Spur und ein 60.
6 Vgl. Zeller a. a. O. S. 872. Dionysius Areopagita, der ebenfalls von Proklos herkommt, sah Gott und die Engel im Bilde des Feuers, dargestellt als Feuergestalten, ¥mprioi schmatismo ± Ep. 9, 2 ±. 61.
7 Zeller a. a. O. Anm. 1 u. 2. Vgl. die stoische krºsi@ d§ Ãlwn. Von hier aus gewinnt auch das Wort Ssef. Jez. II, 6 uqvn fnjau tjfa »Luft, die nicht festgehalten wird«, seine Erklårung. 62.
1 Plat. Theol. IV, 37. 63.
2 htgm wvh pbu eªªfjb fmvhf eiml enqf vhv wvh uu fªªejb fmvhf elpml enqf wft wvh umh
fnjmjl enqf wftd wvh puv jªªfeb fmvhf fjthal enqf btpm wvh enmu fªªjeb fmvhf fjnql enqf jªªefb fmvhf flamul enqf xfqr wvh tup eªªjfb fmvhf. Diese sechs Teilvariationen im Te-
tragrammaton sind Bezeichnungen dafçr, daû in den Raumerstreckungen je ein verschiedenes Siegel Gottes, das heiût eine verschiedene von Gott hervorgehende Kraft, aber doch nicht die ganze Kraft Gottes ist. Die Bezeichnungen fçr Kombination, beziehungsweise Kombinierbarkeit, und Variation, beziehungsweise Variationsfåhigkeit, sind in unserem Buche: tjme; Ptr = wechseln, verbinden, tauschen; lsu = ausgleichen, s.II, 4 u. IV, 6ff. 64.
3 Philo, De mundi opificio I, 17; de migratione Abrahami I, 451 u. 466; legum allegoriarum. I, 107 (Mangey); Plotin Enneade I, 1, 7; III, 6, 9.
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Gepråge von sich«. 65 Ganz so ist das Bild | hier gebraucht. Die Ssefirot sind die çberwesentlichen Einheiten der Raumerstreckung; sie sind deren Siegel, die der Schæpfer aufdrçckte, so daû, wie vorher gesagt war, »sein Wort in ihnen ist«. 66 Sie sind nicht der Raum selbst in seinen sechs Erstreckungen, sondern, als dessen çberwesentliche Einheiten, eben dessen Siegel. Das, was in frçheren Såtzen als »einzeichnen, eingraben« bezeichnet worden war, wird hier, als Wort fçr Erstreckung, »hinwenden«, erstrecken, hervorgehen lassen, eNq genannt. Ebenso geht die Vorstellung vom Raum, die hier zu Grunde liegt, auf Proklos zurçck. Fçr diesen ist der Raum ein Gættliches und Beseeltes, ein feinstes Licht, der kugelfærmige, alles durchdringende und durch nichts geteilte Lichtkærper der Welt. 67 Eben das ist er fçr unseren Autor: aus Feuer, 68 hervorgehend aus çberwesentlichen Einheiten, aus Ssefirot. 69 Mit der Lehre von den Ssefirot, die durch das Ssefer Jezira in das Judentum eingefçhrt worden ist, trat in dasselbe, besonders in seine Mystik, ein Problem ein, das seitdem das Denken nicht mehr losgelassen hat, das Problem, wie das Eine, das Schæpferische die Gegensåtze und die Verschiedenheiten aus sich entlåût. Sosehr sich Inhalt und Bezeichnung der Ssefirot spåter ånderten, das Problem war immer dasselbe. Eines ist hierbei in unserem Buche ein Charakteristisches und Bestimmendes und ist es in der jçdischen Mystik stets geblieben: an dem einen, einzigen Gott, wie die Bibel ihn verkçndet hat, hielt das Denken immer, auch in dieser Problematik, unbeirrbar fest. Die Gefahr eines eigentlichen Pantheismus und eines Pankosmismus blieb damit fern. Ebenso ist ein anderes in unserem Buche und dann spåter in der gesamten jçdischen Mystik feststehend: die Idee der Erwåhlung Israels. Abraham ist der zur mystischen Erkenntnis Berufene gewesen, so schlieût unser Buch, er ist der Mann, dem sich die Ssefi | rot erschlossen haben, der zum Mittelpunkt hingelangt ist. Mit ihm und zugleich mit seinen Nachkommen hat der eine Gott diesen Bund geschlossen. Auch damit war hier eine Gefahr der Mystik ferngehalten. Alle Mystik stellt das Individuum aus der Gemeinde heraus und da65.
4 66.
1 67.
2 68.
3
In Parmenidem V, 71 ff. Siehe oben S. 385. Vgl. Ssef. Jez. III, 2: vfpbi uub wfvh. In Rem publicam II, 197 f. Vgl. Zeller a. a. O. S. 71 f. Der Ableitung der Ssefirot ± zusammengefaût I, 14: hft emjlb vftjqo tup fla wftdf xfqr btpmf htgm vhvf wft wjmm ua hftm wjm hftm hft wjjh wjela ± entspricht es, wenn die Ssefira Fçnf, und durch sie die folgenden, aus Vier abgeleitet wird = wft .uam
69.
4 Von den Ssefirot des Raumes sind die vfjvfa des Raumes geschieden; S. IV, 4.
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mit leicht gegen die Gemeinde. 70 Durch die deutliche und stetige Betonung dieses Erwåhlungsgedankens wurde dem Individuum sein Platz in der Gesamtgemeinde, seine innerste Verbindung mit ihr gewahrt.
70.
1 Vgl. Elbogen, Der jçdische Gottesdienst, Ergånzungen zu den Anmerkungen der 2. Aufl., zu § 44, 5ff.
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Das Buch Bahir bietet, abgesehen davon, daû es wohl eine aus verschiedenen Einzeldarstellungen zusammengefçgte Schrift ist, abgesehen auch davon, daû seine textliche Ûberlieferung vielfach mangelhaft ist und der ursprçngliche Text manche Hinzufçgung erfahren hat, dem Verståndnis nicht wenige Schwierigkeiten. Sie ergeben sich schon daraus, daû fçr das wundersame Denkbild, von dem das wundersame Wort zeugen soll, hier noch nicht die geprågte çberlieferte Ausdrucksform vorhanden ist, çber welche das spåtere mystische Schrifttum verfçgt. Dazu kommt der dem Ssefer Jezira folgende spruchartige, bisweilen splitterartige Stil. Er sucht zudem gern Vergleiche, meist recht kçnstliche, mehr hergestellte als geschaute, um durch sie das Ferne, Ûbersinnliche nahezubringen, und gerade durch sie behålt der Inhalt, wie der Mystik gemåû ist, seine Entrçckung. Es hat sein Reizvolles, daû er sich oft in den Kreis menschlichen Gespråches begibt. Denn unser Buch liebt die Weise der Aporien, die der ausgehenden Antike eigentçmlich war, das heiût die Weise erdachter Fragen und Auseinandersetzungen, um in ihnen die geheimnisvollen Gedanken vorzutragen. Geschichtlichen oder erdichteten Personen der talmudischen Zeit sind sie in den Mund gelegt ± von einer Fålschung hier, oder zum Beispiel etwa bei dem Sohar, reden zu wollen, wåre ebenso unsinnig, wie wenn Dante, welcher Virgil sprechen låût, ihrer bezichtigt wçrde. Schon mit dieser ganzen Art hångt es zusammen, daû die Darstellung nicht immer im planmåûigen Fortschreiten ihren Weg nimmt; sie bricht bisweilen ab, und spåtere Ausfçhrungen sind in frçheren vorausgesetzt, so daû erst die Kenntnis eines Ganzen das Verståndnis eines jeweiligen Anfangs gewåhrt. Aber trotzdem ist hier, besonders in dem ersten, grundlegenden Teile des Buches, der auch eine gewisse stilistische Einheitlichkeit | 276
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und Geschlossenheit aufweist, der Aufbau eines Systems, die bestimmte, von einheitlichen Begriffen gelenkte Gedankenfçhrung deutlich zu erkennen. Es wird im folgenden versucht, dies festzustellen. Als Vorspruch ist vor das Buch der Satz gesetzt, in dem alle Mystik ihre Bçrgschaft findet: Letzte Verborgenheit ist zugleich letzte Erkenntnis; was von unten, von hienieden aus, betrachtet, Finsternis ist, ist, von oben her gesehen, durchsichtiges Licht. 1 So ist es das Trachten aller Mystik, zu dieser Nåhe Gottes zu gelangen, um von daher Sein und Werden zu erfassen. Nicht vom Gewordenen zum Schaffenden hin sucht sie zu blicken, sondern von diesem zu jenem hin den Weg zu haben. Darum will alle jçdische Mystik, und darum unser Buch auch, mit dem Anfang von allem Bereiche des Menschen, mit der Schæpfung beginnen. Von dem Anfange der Erde ist gesagt: »Die Erde war Tohu und Bohu.« Das will sagen, daû sie zuerst als Tohu war, dieses also das Ursprçnglichere ist. Dieses Tohu ist die Form oder, wie unser Autor mit einer sprachlichen Ableitung des Wortes sagt, »das Begrenzende«, das Bestimmende, das Differenzierende. 2 Das Tohu ist dann zu Bohu geworden. Bohu ist, wie wieder ethymologisch erklårt wird, »das, woran es ist«, das, woran das Tohu, die Form, das Wirkliche, ist, das, was das Wirkliche trågt. 3 Unser Autor | folgt hier der plotinischen Lehre, die ein Gemeingut jener Zeit geworden war, daû in dem letzten Abstand vom Ursprung der Geist zur Materie werden, daû er sie als seinen Ort, als das, woran er ist, hervorbringen muûte. Hier tritt bereits ein Grundgedanke unseres Buches hervor, der, daû es kein absolut Bæses gibt: selbst die Materie, das Niedrige, Bæse ist 1.
1 Bahir, Abschnitt 1. Die Anfçhrungen beziehen sich auf die Ausgabe Wilna 1912; es ist aber auch stets die wichtige Ausgabe von Scholem, Leipzig 1923, sowie sein Artikel »Buch Bahir« in der Encyclopaedia Iudaica vorausgesetzt. ± Zu dem obigen Einleitungssatz vgl. Dionysius Aeropagita ep. I und V. 2.
2 Abschnitt 2. Die Bedeutung dieses Wortes eavme tbd, welches auf das Verbum eav ± vgl. Num 34, 7 und 8 ±, jfv ± vgl. Leviticus rabba 18 ± = abgrenzen, bezeichnen, zurçckgeht, ist seit langem miûverstanden worden. Man hat ihm die Erklårung Raschi's untergelegt, der Tohu auf das talmudische Verbum aev = in Verwirrung, im Staunen sein, zurçckfçhrt. Der erste, der es so tat, war wohl Nachmanides. Die Folge war, daû textlich mit Raschi zu eavme die Worte wda jnb hinzugefçgt und fçr eavme, wieder mit Raschi, aevme geschrieben wurde, und daû der Inhalt in das Gegenteil verkehrt wurde, Tohu die Materie und Bohu die Form bezeichnen sollte. ± Der Gedanke unseres Buches geht zurçck auf Ssefer Jezira II, 6: »Gott bildete aus dem Tohu das Wirkliche«, das heiût, das Tohu ist das Wirkliche, das in die Welt trat. 3.
3 Der Text lautet also: tbd fev jamf fev evje tbku evje pmum jam febf fev evje Ztaef
:afe fb feb bjvkd umm fb uju tbd feb jamf febl etghf evje fev ala febf fev jamf eavme
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aus dem Hæheren, dem Guten und Reinen, das Bohu aus dem Tohu hervorgekommen. Materie und Form gehæren so zusammen, und das ist der Sinn des Satzes des Kohelet (7, 14): »Dieses hat Gott mit Bezug auf Jenes gemacht«, das heiût Gott hat Gegensåtze zusammengefçgt, hat sie in eins gesetzt. Gott hat das Bohu, die Materie, das Bæse geschaffen und hat ihm sein bestimmtes Dasein, seinen Ort erst durch das Tohu, die Form, das Gute gegeben, und er hatte das Tohu, die Form geschaffen, und hat ihm hienieden seine bestimmte Existenz, seinen Ort durch das Bohu, die Materie gegeben. In der geschaffenen Welt soll Materie nur in der Form sein und Form zur Verwirklichung der Materie. Oder mit anderem Worte: Die Erschaffung des Bæsen, des Mangelhaften und die des Guten, des Vollkommenen, des »Friedens« stehen in einer Wechselbeziehung, sind ein Korrelat. Hierin liegt auch die tiefe Bedeutung des Satzes des Jeschaja (45 7): »Er, der Frieden macht und das Bæse schafft« ± zuerst den Frieden, dessen das Bæse bedarf, und dann das Bæse, aber das eine mit Bezug auf das andere. 4 Das Bæse ist demnach in unserem Buche, das hier zunåchst wie | der dem allgemeinen neuplatonischen Gedankenwege folgt, der Mangel, das Bestimmungslose, Nichtseiende. Es ist, und darin liegt dann das Eigene unseres Buches, das noch nicht Gute, das, was des Guten noch bedarf, was dazu da ist, um vollendet zu werden. Das Gute ist die Bestimmung des Bæsen, es ist »auch mit Bezug auf dieses geschaffen«. Bezug von Materie und Form ist es in der geschaffenen Welt. Aber das, woraus diese hervorgegangen ist, ihr Prinzip ist nur das Gute, der »Segen«, die Beracha, die eins ist mit der »Weisheit«, der Torah, 4.
1 Abschnitt 9 ist inhaltlich und stilmåûig zu Abschnitt 2 gehærig, er schlieût sich durchaus an ihn an; durch ihn wird es auch noch deutlicher, wie Tohu die Form und Bohu die Materie bezeichnet. In den Text ist der alte Midrasch von Michael und Gabriel, den Geistern von Wasser und Feuer ± vgl. Peûikta p. 3a und die von Buber dort angegebenen Parallelen ± eingedrungen, in der Art, wie alte Abschreiber in einen Midrasch einen anderen, der sich mit ihm zu berçhren schien, einfçgten. Der Text tritt, wenn diese Einfçgung ausgesondert ist und ein alter Schreibfehler ± febm anstatt febb ± verbessert wird, deutlich hervor: fev atbf wflub fmfsm wuf feb atb wjelae eup eg vmfpl eg va wc jamf :febb wfluf fevm pt drjk ae pt atfbf wflu eufp bjvkd fnjjef ptb fmfsm wuf. Vielleicht gehært auch der Hiobsatz 25, 2 zu dem ursprçnglichen Text; er sollte dann belegen, daû der »Frieden« von den Hohen stammt und daû fçr seine Entstehung das Verbum eup gebraucht ist. Zu der Auffassung des Koheletsatzes vgl. Chagiga 15a. ± Hier liegt auch schon der dann spåter dargelegte Gedanke unseres Buches zu Grunde, daû Gott die Erfçllung des Bedçrfens vor dem Bedçrfen geschaffen hat.
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und der ewigen Glorie, der »Tehilla«. Durch sie hat Gott die Welt geschaffen, mit ihr hat Gott sich gleichsam am Urbeginn beraten, sie ist der »Reschit«, das Prinzip der Welt, durch das Gott die Welt zum Dasein gerufen hat. Sie ist das, was Gott wahrhaft und ganz gibt. Darum beginnt die Geschichte der Schæpfung mit dem Buchstaben Beth, dem Buchstaben der Beracha, er steht am Anfang von allem; denn er bezeichnet den Bereich, wo Gott ist, die Ståtte Gottes. Wer Gott nahen, Gott preisen, Gott das Knie beugen will, muû darum zur Torah, zu dieser Weisheit, diesem Segen, diesem Anfang hingelangen. 5 Dieser Segen, der der Anfang ist, ist aber nichts Einmaliges, nichts Gewesenes, nichts, was in sich bleibt; er ist vielmehr das Volle, das »male«, die Ûberfçlle. Er dringt çberall hin, er will alles erreichen, und wohin immer er dringt, bçût er doch nichts von sich ein, bleibt er sich gleich ± »çberall ist das Beth gesegnet«. So sagt es das Wort des Moseh (Deut 33, 23): »Ein Volles ist der Segen des Ewigen.« Durch diesen çberstræmenden Segen erhålt Gott die Welt der Mangelhaftigkeit, »trånkt er das Bedçrftige«. Nicht nur | fçr sich, sondern fçr die untere Welt hat also Gott die Torah, den Segen, das »male« bereitet. Ein Gleichnis in der oft etwas trockenen, prosaischen Art unseres Buches, will das erlåutern: Ein Kænig hat seinen Palast in Felsen gebaut, die er gesprengt hat, und als aus ihnen ein starker Strom hervorkam, da sprach der Kænig: Ich will einen Garten pflanzen, damit ich und die ganze Welt an ihm das Ergætzen haben. In diesem Gleichnis soll der Palast die Ståtte Gottes, der Garten bei ihm die Torah, die bei Gott ist, bedeuten; der immer flieûende Quell meint dann Grund und Kraft der Torah, das Ûberstræmende der Beracha, die auch der unteren Welt von ihrer Fçlle gibt. Zweitausend Jahre lang, bis zur Offenbarung, so wird im Anschluû an eine alte Haggada dann erklårt, war die Torah nur bei Gott gewesen; von da ab ist sie fçr alle Dauer nun der Welt gegeben. So 5.
1 Abschnitt 3. Der Text ist hier im wesentlichen gut erhalten. Das Gleichnis von dem Kænig, der seine Tochter verheiratet, das hier noch hinzugefçgt ist, will nur das Wort »geben«, aus I Reg 5, 26, in seiner ganzen, vollen Bedeutung erlåutern. Das Zitat vom Segen Salomos ist wohl I Reg 2, 45. Die Worte jl jk Ytb lk ptkv bezeichnen die obere Welt, die Welt der Wesen, die vor Gott immer stehen, den fdfbk wfsm, wo die Torah, die Beracha ihre erste Ståtte hat. Den Worten Ylme vjb ena wjlafu liegen die bekannten Worte der Mussaph-Keduscha zu Grunde. ± Hinter den letzten Worten xful lk pbuv sind einige, dem Satze fljqaf wjnfjlp entsprechenden Worte ausgefallen, vielleicht wjnfvhv fljqaf, gemåû Nidda 30b, wo dieser Schluû von Jes 45, 23 auf die ins Erdendasein Tretenden bezogen wird. ± Vgl. auch Otiot de Rabbi Akiwa, ed. Jellinek, p. 19 und 55. ± Der Segen heiût hier im Gleichnis die Ståtte der Herrlichkeit Gottes, die Ståtte wo jeder, welcher Gott naht, das Knie beugt.
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konnte Gott sprechen: »Ich stelle meinen Ruhm, meine Torah dir hin« (Jes 48 9), und ebenso gilt denen, welche die Torah çben, das Wort: »Sein Ruhm ist fçr immer da« (Ps 111, 20). Ohne die Torah, ohne die Beracha, diesen Lebensquell der Torah, kænnte die Welt nicht bestehen. Zwar hat ihr Gott gewisse Mæglichkeiten der Existenz oder, wie hier bildlich gesagt wird, Regenfålle und Aufnahmefåhigkeit des Bodens gewåhrt, aber erst jener Quell gibt ihr den bleibenden Bestand. Und wie viel er auch gibt, so nimmt er doch niemals ab, er ist immer der gleiche. 6 Wieder tritt hier | der Grundgedanke hervor, daû in die ganze Welt fçr immer das Gute gelegt ist. Was alles er besagt, wird nochmals mit dem Satz des Segens des Moses zum Ausdruck gebracht (Deut 33, 23): »Eine Fçlle, ein male¬, ist der Segen des Ewigen, sein Gebiet ± das der Mensch besitzen soll ± sind Meer und Dçrrland«, das heiût sowohl jene Welt, die eigentliche Welt der Beracha, die der Torah, der Chochma, die mit der Meeresfçlle verglichen ist, als auch diese Welt, die der Dçrre, des Bedçrfens. Beide Welten sind dem Menschen zugewiesen, die eine, in die er hineingesetzt ist, und die andere, die er erreichen darf. Oder, wie es mit einem Gleichnis dargelegt ist: Zwei Besitztçmer hat der Kænig; das eine, das heiût diese Welt, hat er seinem Sohne, dem Menschen, eigentlich bestimmt, aber er hat ihm doch beide zugesprochen, und der Sohn braucht nicht zu besorgen, daû er nun, da er das andere zu eigen haben soll, erst dieses verlieren, aus diesem fortgehen mçûte. 7 Von dieser Welt aus, das ist der weitere bestimmende Gedanke un6.
1 Abschnitt 4. Der Nachdruck liegt hier darauf, daû die Beracha zwar einmal gegeben worden ist, nach zweitausend Jahren, wie mit der alten Haggada gesagt wird, aber nun dauernd der Welt bleibt. Im Texte besagen die Worte alme xm erp lin, daû Male = Torah ist, gemåû dem Midrasch zum Anfang der Genesis, der das von der Torah aussagt. Der Satz Jes 48, 9 ist nach dem Targum aufgefaût: »ich stelle meinen Ruhm hin«. Die Erklårung von Ps 145, 1, die dem Nachweis dient, daû Tehilla = Torah = Beracha ist, will sagen, daû David das eine besitzt, weil er das andere zu eigen hat. ± Nach wjmuc fdtju sind die Worte djmv bafu zu tilgen. Die Regengçsse sollen die in der unteren Welt vorhandenen Mittel der Erhaltung bezeichnen. ± In den Abschnitten 3 und 4 sind die Texte wohl teilweise ineinander çbergegangen. Die Bilder sind nicht deutlich abgegrenzt, indem die Torah bald mit der Beracha in eins gesetzt wird, bald wieder der Garten ist, der von der Quelle, der Beracha lebt, der geworden ist, damit sie ihre Segenskraft verwirkliche. Vgl. Abschnitt 29: wmfjs aje vªªjbf sowie auch Otiot de Rabbi Akiwa p. 14: lk xja wa wjjsvm flk wlfpe lk xja emjmv etfv xja wa vmjjsvm emjmv etfv xja wjjsvm flk wlfpe. Zu dem Satze Prov 8, 30 vgl. ebendort: xja .xfma flra ejeaf tmanu etfv ala jvnfma 7.
1 Abschnitt 5 und Abschnitt 7. Dieser letztere von dªªeml bis eutj wftdf wj gehært inhaltlich und wohl auch textlich zum Abschnitt 5. Wenn er dorthin gesetzt wird, gewinnt der Abschnitt 7 seinen inhaltlichen und textlichen Zusammenhang. Der Satz Deut 33, 23 ist dann aber nochmals aufzunehmen, so daû
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seres Buches, kann der Mensch zu jener Welt hingelangen; als Mensch, der in diese Welt gesetzt ist, kann er jene besitzen. Der Weg dorthin, und damit hat dieser Gedanke wieder seinen besonderen jçdischen Gehalt, ist der, in den Geboten Gottes zu wandeln. Oder um, zwar nicht mit Worten unseres Buches, aber in seinem Sinne den Gegensatz auszudrçcken: nicht durch eine Wunderhandlung gættlicher Gnade und auch nicht durch eine Versenkung oder eine Spekulation wird der Mensch dahin gefçhrt. Dem erst, so sagt unser Buch, der die Wege Gottes wahrt, und nur ihm ist alles gegeben ± ihm, da er damit das Ebenbild Gottes ist, so wie Abraham es geworden war, in dem einst, als er aus | Abram ein Abraham wurde, die Menschenform vollendet ward und sich wahrhaft das Ebenbild Gottes dargestellt hatte. Als Ebenbild Gottes erwirbt der Mensch die obere Welt, so daû er alles¬ besitzt. Und nicht nur das, er gelangt zu Gott hin, er erlangt gleichsam Gott. So ist es der volle Sinn jenes Segens des Moses: »Eine Fçlle ist der Segen Gottes, çber Meer und Údland hin, erlange Gott.« 8 Hier wohnt das tiefe Geheimnis, das der groûen Menge verschlossen bleibt, das Gott ins Innerste, in »das Herz gegeben hat«, so daû es sich nur der innersten Fræmmigkeit eræffnet. 9 Es ist dieses Geheimnis von dem, was im Anfang war, von dem Segen, der Torah, die aller Schæpfung vorangegangen ist. Denn zuerst hat Gott das gebildet, dessen das All bedarf, und danach erst hat er das All geschaffen. Darum steht am Anfang das Wort Bereschit, dieses Wort vom Segen, von der Torah, und danach erst stehen die Worte der Erschaffung von Himmel und Erde. 10 der Text lautet: fnjjef ej ut fnjjef llkb eªªbse Pa ej ut ala tmfl fl eje ut eutj dªªm jktd tfmuvu jaflf ut ejf lke Yl xvnjf eutj wftdf wj bjvkd. Zu dem Satze Deut 33, 23 vgl. Jer. Berach. 11d: abe wlfpef ege wlfpe utjl ekfg va eutj wftdf wj. Zum Verståndnis
unseres Abschnittes vgl. Bachja ben Ascher zu Deut 33, 23. ± Zur Deutung des Sçdens vgl. Jalkut zu Hiob 26, 7: wlfpl wjdtfj ektb jlli wum wftde vnq hft. ± Zu dem Bilde vom Meer vgl. Pesikta, ed. Buber, p. 2b. ± Zu der Erklårung von eutj vgl. R. Jehuda in Menachot 29b und Jochanan in Jer. Chagiga 77c. 8.
1 Abschnitt 6 und 7; vgl. vorangehende Anmerkung. Abraham wird hier eine åhnliche Bedeutung zuerkannt wie im Ssefer Jezira. Das Wort xjnb = Menschenform nimmt auf Gen 2, 22 Bezug. 9.
2 Vgl. Midrasch zu Koh 3, 11: ªªkf wdae armj al tua jlbm jl eml Yk lkf. 10.
3 Abschnitt 8. Der Text ist hier im letzten Satze fehlerhaft çberliefert; es ist wohl zu lesen: Ztae vaf wjmue va ejtvb bjvk jamf lke jktr lk vjuatb vjuatb jam. Die Worte wjela kªªhaf sind wahrscheinlich eine Glosse nach dem Sohar zu Gen 1, 1. In dem in unseren Ausgaben folgenden Abschnitt 9 ist die schon dargelegte Verbindung von Materie und Form behandelt. Der Abschnitt 10 gibt eine Terminologie der Worte ejup bzw. etjrj und eajtb. Die Entstehung dessen, was an sich eine Form, ein Wirkliches ist, was also ein Seiendes darstellt ± umm fb uju
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Demnach ist der Segen die Voraussetzung, gleichsam die Ståtte der Welt, nicht aber die Welt seine Ståtte, so wie Gott, der vor der Welt ist, sie umfaût, aber sie nicht ihn, wie er gleichsam ihre Ståtte ist, aber sie nicht seine Ståtte. Der Segen ist, wie gemåû der Ineinssetzung von Kosmogonie und Urschrift gesagt wird, das Beth, das Haus der Welt. So wie dieses sein Zeichen, das Beth, oben, hinten und unten geschlossen, aber vorn geæffnet ist, so ist der Segen von drei Seiten, von allem Rçckwårtigen, allem Beginne her ver | schlossen, das heiût in immer gleichem Verborgenen, aber nach vorn, das heiût zu dem hin, was sein soll, zu der geschaffenen Welt, zu diesem Werdenden hin geæffnet. Er ist aufgetan, wirkungsoffen, wirkungsbereit zu der gewordenen Welt hin. Nur vermæge dessen kann diese bestehen. 11 Zweck und Form des Segens ist, so ist es der Gedanke unseres Buches, daû er Segen fçr die Menschenwelt sein soll. Das Aleph wiederum, das Zeichen, mit welchem das Wort adam, Mensch, beginnt, hat seine Úffnung nach rçckwårts, das heiût, es ist zu dem, was vor ihm gewesen, hingewiesen, zu der Torah, zu der Beracha. Nur vermæge dessen, daû dieses Zeichen so dorthin offen ist, und nur dann also, wenn vom Menschen ein offenes Tor dem des Beth zugekehrt bleibt, vermag der Mensch zu bestehen, kann er ein dauerndes Leben haben. Beide gehæren sie zusammen, Aleph und Beth, Mensch und Segen, da sie Tore haben, die einander zugewandt sind; der Mensch und die Beracha sind Correlate. Durch die Beracha, durch die Chochma erhålt der Mensch seine Formung, seine Verwirklichung. Es ist seine Bestimmung, seine Freiheit, daû er dem Beth sich zukehrt, ganz wie die Welt çberhaupt die Mæglichkeit des Daseins nur dadurch hat, daû das Beth zu ihr hin offen bleibt. 12 | und ejfe fb uju ± wird durch ejup und etjrj bezeichnet. Die Entstehung dessen, was an sich formlos und nichtseiend ist, was also nur in einem Gegensatz, einem Mangeln, eutqef eldbe, bestimmt ist, wird durch eajtb bezeichnet. Zu emendieren ist hier: bjvkd ejfe fb uju tfa und ebenso: ejfe ejb jfe ald Yufh. Das Wort ajtbe ist hier erklårt: er ist getrennt worden, das heiût, er ist gesund geworden. 11.
1 Abschnitt 11. Der Vergleich mit Gott, der Ståtte der Welt, ist mit fnjjef eingeleitet; er will, vjb = wfsm setzend, dem Worte vjb den Sinn: »Vorbedingung« geben. Der Belegsatz Prov 24, 3 soll hier bedeuten: »Als Chochma ist das Beth gebaut«, das heiût, das Beth stellt die Chochma dar. Vgl. Abschnitt 29. In dem Worte emfvo ist die Doppelsinnigkeit von »geschlossen« und »verborgen«. 12.
2 Abschnitt 12. Die ersten Worte emfd ªb emlf sind zu çbersetzen: »Womit gehært dieses Bajit zusammen, was ist sein Complement? Mit dem Menschen, der durch die Chochma geformt ist«, das heiût, in der geschaffenen Welt ist die Chochma dazu bestimmt, die Ståtte des Menschen zu sein, und der Mensch dazu bestimmt, die Chochma zu seiner Ståtte zu machen. Die Såtze trfnu wda emkhb und ªªkf enfbvbf vjb enbj emkhb beziehen sich aufeinander. Zu den Worten
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In einem weiteren noch wird diese Bezogenheit dargetan, in der Segen und Mensch zueinander stehen, in der sie fçreinander bestimmt sind. Das verborgene Urlicht, der Inbegriff des Segens, ist vor aller Welt gewesen, ehe Israel, diese Erfçllung des Menschentums, geworden war. Aber ideell war in dem Sein des Lichts schon das Sein Israels gegeben. Mit dem alten Kænigsgleichnis wird es verdeutlicht: Der Kænig, Gott, bestimmt die herrlichste Krone fçr seinen Sohn, fçr Israel, ehe noch ihm der Sohn geboren und zur Wçrde herangewachsen ist. Israel gehært pråexistent zum Licht des Anfangs hin. 13 So ist Gott das Urprinzip des Seins, und die Beracha ist das Prinzip alles Werdens. Aber damit sie, die durch Gott gewordene und fçr das Werden, die Emanation bestimmte, das sein kænne, gehært zu ihr das Prinzip des Weiterfçhrenden, des Vermittelnden, vermæge dessen sie zu der Welt des Geschaffenen, des Menschen zumal hingelangen kann. Dieses Prinzip ist der dritte Buchstabe, das Gimmel¬, das heiût das Gewåhrende, das Erweisende oder, wie mit einem Bilde wieder gesagt wird, von der Gestalt des Gimmel her, das, was von oben nach unten hinabreicht und hinunterfçhrt wie eine Ræhre; es ist diese Zufluûmæglichkeit zur unteren Welt, so daû die Beracha dort wirksam wird, so daû sie die »nåhrende« wird und ihre »Ståtte« dort hat. 14 So ist es die weitere leitende Idee unseres Buches: Die beiden Welten, die obere und die untere, sind nicht getrennte, sondern, wie schmal der Kanal auch sein mag, verbundene Welten. fjnql und fjthal = in der Zeit vor und nach der Schæpfung vgl. Chag. 11b. Das Wort bng bedeutet: abhångig von etwas, zu ihm hingehærig, åhnlich wie das in Abschnitt 14 gesagt ist. ± Unser Abschnitt wird verståndlich nur, wenn davon ausgegangen wird, daû das Aleph ± im Unterschied von Abschnitt 14 ± hier den Anfang des Wortes Adam bezeichnen soll; vgl. auch Abschnitt 33: vfmd Pªªla Pªªla fnjjef ebuhmb tmfa jfe udse lkje enaf ¼ efme. Das Aleph bezeichnet demgemåû sowohl Gott als auch das Ebenbild, den Tempel Gottes, den Menschen. ± Zu dem Worte hfvq vgl. Otiot de Rabbi Akiba p. 55 f.: jqlk lªªmjc ¼ aªªje jqlk fjnq vªªjld . ¼ fjnq ¼ vªªjb 13.
1 Abschnitt 13. Auch hier wird der optimistische Gedanke weitergefçhrt, daû das Gute der oberen Welt fçr die geschaffene Welt bestimmt ist. 14.
2 Abschnitt 14. Das Aleph bezeichnet, wie hier vorausgesetzt ist, in der oberen Welt Gott, elohim, so wie es in der unteren Welt den Menschen, adam, das Abbild Elohims bezeichnet. Das Wort bng bezeichnet hier wie in Abschnitt 12 das, was zu etwas hingehært, was nicht an sich ist. Das Gimmel wird, åhnlich wie das Beth, zuerst nach seiner Wortbedeutung und dann nach seiner Gestalt erklårt; zu den Worten »nåhrend« und »Ståtte« = fnkul vgl. Prov 8, 30 und Deut 12, 5. Zu der Erklårung des Gimmel vgl. Otiot de Rabbi Akiba, ed. Jellinek, p. 20, 56 und 58. ± An den Anfang des Abschnittes 14 ist durch einen Abschreiber eine Haggada aus Bereschit rabba I, çber die Gestalt des Bet, angefçgt worden.
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Die Beracha ist in der oberen Welt vor allen anderen Wesenheiten, die dort sind, von Gott ins Dasein gerufen worden als das | Prinzip von allem. Kein Wesen dort hatte an ihrem Entstehen Anteil; Gott allein hat sie gemacht, sie ist in der Unmittelbarkeit Gottes. Und von dieser Unmittelbarkeit Gottes her kommt damit alles, was die Beracha gewåhrt. Sie, dieses erste Erschaffene, ist das, dessen die untere Welt zu ihrem Bestande bedarf, sie ist die eigentliche Voraussetzung dieser Welt, das, wovon hier alles ausgeht, worauf hin alles angelegt, worauf alles hingewiesen ist. Sie darf daher das All genannt werden. Von ihr lebt, wie mit dem alten Bilde geschildert wird, das Paradies, der Himmel, der Baum, den Gott, zur Erfçllung und Befriedigung fçr sich und fçr alle, gepflanzt hat, dieser Baum des Lebens, in dem die Seelen wohnen, ehe sie zur unteren Welt hinabziehen. Von ihr lebt die ganze Welt. 15 Die Beracha ist so vor dem Paradies, vor dem Himmel geschaffen worden, vor dem Baum die Quelle, die ihn nåhrt, damit der Baum immer bleibe und Frçchte bringe, indem die immerflieûende Quelle seine Wurzeln trånkt. Gott hat es so gemacht; den Baum und vorher die stete Quelle, damit in ihm die Beracha immer sei und immer wirke. Das, wessen ein Geschaffenes bedarf, seine Voraussetzung, ist vor ihm geschaffen worden; ohne die Beracha sollte weder Himmel noch Welt entstehen kænnen. Die Quelle war also vor dem Baum, aber sie sind doch in einem: der Baum durch die Quelle und die Quelle fçr den Baum. 16 Die Beracha heiût, wie sie das All genannt ist, so auch erez, Erde, die erez Gottes; diese erez ist, wie nochmals gesagt wird, vor dem Himmel geschaffen worden. »Vor Beginn hast du die Erde gegrçndet.« Ihre Wohnståtte, ihr Bereich, das ihr zugehært, ist die ganze | Welt, und sie war vollståndig, sie hatte ihre Bestimmtheit, ihren Na15.
1 Abschnitt 15. Das Wort Ytfr in den Abschnitten 8, 15 und 16 bezeichnet die Voraussetzung einer bestimmten Existenz; das Wort pbs bedeutet: auf etwas hingewiesen sein. Der gepflanzte Baum, in Anlehnung an Genesis 2, 8, bezeichnet den Garten Eden, der nach dem Midrasch zum Himmel gehært und der Aufenthalt der Seelen ist; der Schluû des Abschnittes zeigt es deutlich. Als All ist die Beracha benannt. ± Den Wechsel der Bilder zeigt Abschnitt 29, wo von dem Sabbat dasselbe, wie hier von dem Baum der Beracha gesagt ist: wum vfmune lk wjhtfq. Der Sabbat ist mit der Beracha gleichgesetzt. 16.
2 Abschnitt 16. Das Wort ege wlfpe bezeichnet hier allgemein: die Welt, ganz wie im vorigen Abschnitt: ege xlae = der Baum. Der Zusammenhang zeigt deutlich, daû mit der Quelle die Beracha, mit dem Baum der Paradieseshimmel gleichnishaft bezeichnet ist. Das Wort pupu ist bald auf xlja, bald, mit Prov 8, 30, auf emkh bezogen ± vgl. Abschnitt 4 ±; auch daraus ergibt sich, daû die Chochma bzw. Torah mit dem Baum bzw. Garten identifiziert ist.
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men, als sie diese ihre Ståtte hatte. Sie ist innerhalb der Welt das immer Seiende, das »waed«, die immerseiende Lebenskraft und Festigkeit der Welt, und diese darf darum »olum waed«, »die Welt des Immerseienden« heiûen. 17 Der Beginn der Bibel zeigt das alles deutlich. Von dem Lichte ± und die Beracha ist das Urlicht ±, wird, da es vor allem von Gott gemacht war, zu Anfang der Schæpfung gesagt: »Gott sprach: es sei Licht«, nicht aber: es werde Licht. Denn das Licht war, als die Schæpfung begann, ja schon da. Aber jetzt erst, wo mit der Schæpfung dem Lichte seine Ståtte bereitet war, hatte es seine ganze Wirklichkeit, seine Bezeichnung gefunden; bis dahin war es gleichsam zurçckgehalten, verborgen gehalten. Das ist die Bedeutung der Worte: »Gott sprach: es sei Licht, und das Licht war da.« 18 Daû die Beracha Prinzip und Voraussetzung der Welt ist, findet darin nicht seinen Widerspruch, daû die Welt durch das Prinzip des strengen Rechts, durch middat haddin, durch elohim geschaffen wurde. Es gibt eine dreifache gættliche Kraft, diese des strengen Rechts, dann die des Erbarmens, die middat harachamim, und die umfassende des schaddaj, die der Welt Grenze und Bestand gibt, die eine umfassende ist, weil sie Recht und Erbarmen mit dem versæhnenden Prinzip der teschuwa, der Umkehr und Vergebung, umschlieût. Diese drei hat Gott eines sein lassen, und in dieser ihrer Einheit sind sie Wirklichkeit und Ståtte fçr den Menschen geworden. Recht und Liebe Gottes und Umkehr des | Menschen sind die zur Einheit strebenden Kråfte in der Welt. Gottes Namen kann nun auch uja sein, die Zeichen jener drei verbindend; ihre Einheit ist in diesem Namen zum Ausdruck gebracht. 19 17.
1 Abschnitt 17. Das Verståndnis dieses Abschnittes hångt davon ab, daû hier erkannt wird, daû die Beracha als die erez, die Urerde bezeichnet. Schon der Schluû des vorigen Absatzes eg xlja jvutuf jvpin ebu jrta jvpstu vpb machte dies deutlich. Der Himmel und die ganze Welt ± mit Rçcksicht darauf, daû erez hier = beracha ist, kann hier nicht gesagt werden: Himmel und Erde ± sind Bereich dieser erez. Auch in Abschnitt 21 ist von dieser erez gesprochen. Zu beachten ist, daû in diesem und dem folgenden Abschnitt die Worte xjnb, tfbh, xfkm und wfsm das gleiche besagen. Ebenso ist fnjnb xsvaf = xfkm el xsvuk = wfsm fl xmg. Desgleichen bezeichnet in beiden Abschnitten das Gleichniswort ean Zqh die Beracha, die die erez und das Licht ist. 18.
2 Abschnitt 18. Zu dem Urlicht vgl. Abschnitt 55: afe wc emkh afeu xfuate tfae :fdfbk Ztae lk alm tmanu lke bbfom. In diesem Satze sind so die drei Worte tfa xfuate, emkh und dfbk gleichbedeutend. 19.
1 Abschnitt 19. Es ist kein Zweifel, daû die drei Buchstaben des Wortes uja die drei Namen Gottes Elohim, Ihwh und Schaddaj bezeichnen sollen; Schaddaj ist als jd wlfpl jvtmau, nach Bereschit rabba zu 1, 10 und 17, 1, aufgefaût ± das Wissen um den Midrasch ist hier wie auch sonst von unserem Buche voraus-
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Wenn so die untere Welt, da sie ein Gebiet der Beracha ist, auch ihren Reichtum besitzt, so ist sie im Vergleich zu der oberen Welt trotz dieses ihres Reichtums eine arme. Daher hat sie ihr Urzeichen in dem Dalet, das eine Armut, eine Bedçrftigkeit bedeutet. So ist es die Urlogik, daû auf die ersten drei Zeichen: auf Aleph, den Beginn von allem, auf Beth, die Beracha, die çberall hingelangen will, auf Gimmel, den Kanal, der sie zur unteren Welt weiterleitet, das Dalet, der Bezirk des Bedçrfenden folgt. 20 Mit der Beracha kommt durch das Gimmel in die Welt des Dalet eine Kraft des Ersten, des Ewigen herab, die Schechina, sie, deren kosmisches Zeichen das He ist. Es ist zweimal im Tetragrammaton, dem Zeichen des Ewigen, enthalten; denn es weist zunåchst auf den Ewigen hin, will also die obere Schechina bezeichnen, und es weist sodann darauf hin, daû von dem Ewigen her etwas zu der Welt des Menschen hingelangen kann, will also auch die Ståtte der Schechina unten auf Erden bezeichnen. Durch den Kanal kommt die Schechina herab. Wie die kosmisch-ethische Reihenfolge der Zeichen Gimmel, Dalet, He ist, so håtte sie an sich auch He, Gimmel, Dalet sein kænnen. Gimmel und Dalet sind nur um des He willen da: Gimmel, um die Beracha und Schechina herabzuleiten, Dalet, um sie aufzunehmen. Gimmel gehært zum He, weil es, wenn es oben sich weitet, oben sich streckt, zum He wird, Dalet, weil es, wenn es sich vervollståndigt, wenn es links | einen Långsstrich erhålt, zum He wird. Dalet kann aber sein, nur wenn das Gimmel zu ihm hinfçhrt. 21 Wåhrend so das He im Gottesnamen zweifach ist, ein Zeugnis dessen, daû die Schechina oben ist und unten sein will, steht das folgengesetzt ±, und daher kann gesagt sein: wlfpe lk llfk xªªju. Die Worte vjb und wu bezeichnen hier dasselbe wie in Abschnitt 17. Daû uja auch ein Name Gottes ist, ist alte Haggada; siehe Sota 42b und Parallelen. ± Der çberlieferte Text unseres Abschnittes ist sicherlich der ursprçngliche. 20.
2 Abschnitt 20a. Die Erklårung des Dalet stammt aus Otiot de Rabbi Akiwa p. 22. Vgl. ebendort p. 14: lªªmjc xja wa ¼ Pªªla xja vªªjb xja wa vªªjb xja Pªªla xja wa .:lªªmjc xja vªªjld xja wa vªªjld xja 21.
1 Abschnitt 20b. Der Text ist hier in den Satz, der mit wjqlhn wel tma beginnt, teilweise verderbt, aber der Inhalt ist deutlich, so wie er oben wiedergegeben ist, erkennbar. Das Dalet, so ist gesagt, wird durch einen Långsstrich, einen Zfs, zum He, es ist »Ståtte fçr das He«, aªªe wfsm; das Gimmel wird, wenn es oben sich weitet ± vielleicht war hinzugefçgt: und unten sich æffnet ±, Ståtte und Vermittlung fçr das He. Beide sind um des He willen, das heiût, damit es auch eine untere Schechina geben kænne, da. ± Zu der oberen und der unteren Schechina vgl. Abschnitt 55 (ed. Scholem § 116). ± Das He ist als Zeichen der oberen Schechina »das erste«, xfuate, als das der unteren ist es das letzte, xfthae. Vgl. auch Abschnitt 6: wetbab aªªe eªªbse Pjofe eml. Durch das He ist Abram vollståndig, das heiût, das Ebenbild Gottes geworden.
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de Zeichen, das Waw, das Zeichen der sechs Enden der Welt, nur als eines im Tetragrammaton. Denn wenn die Welt auch sechsfach sich erstreckt, so ist sie doch als die eine, bestimmte von Gott geschaffen; allen Richtungen ist von Gott die Grenze gesetzt, das Siegel angelegt. Sie hat er mit allen ihren Erstreckungen festgesetzt, so wie er das »Licht«, das er ausstræmen lieû »wie ein Gewand umlegt« (Ps 104 2), das heiût, daû es trotz seines Ausstrahlens in seinen Grenzen bleibt, die er ihm gesetzt hat. 22 Da die Schechina die Zweifache ist, so ist es auch die erez. Es gibt die obere erez, die Ståtte des Gan Eden, und die untere erez, die Ståtte des geschaffenen Menschen und besonders des Volkes Israel. Dem Gan Eden oben entspricht unten Land und Volk Israel mit seinem Heiligtum; auch Israel heiût erez. Als der Tempel zerstært und das Volk verbannt war, hatte Gott »vom Himmel die erez, die Herrlichkeit Israels fortgeworfen« (Echa 2 1). Damals schien es, als | wåre die erez vernichtet. Aber wie ein Kænig, wenn Unglçckskunde zu ihm kommt, wohl im Schmerz Krone und Mantel von sich wirft, aber sie dann wieder aufnimmt, da er nicht ohne Krone und Mantel sein will, so bleibt doch die erez droben wie drunten. 23 22.
2 Abschnitt 20c. Das Verståndnis dieses Satzes ist davon abhångig, daû die Worte vha fªªaf richtig dahin verstanden werden, daû im Tetragrammaton zwischen dem doppelten He ein Waw steht, was bedeuten soll, daû es zwar die doppelte Schechina, aber trotz der sechs Erstreckungen doch die bestimmte umfaûte Welt gibt. Vgl. hierzu Abschnitt 19 wlfpe lk llfk und die dazu gegebene Anmerkung. Zu dem Lichte vgl. unser Buch, Abschnitt 55: xm lrane tfae :lke bbom afe wc ¼ xfuate tfae. Zu der Deutung des Psalmsatzes vgl. dessen Deutung durch Samuel bar Nachman Gen. r. 3 Anf., siehe auch die von Bacher, Agada der Amoråer I 120 und 545 angefçhrten Parallelen. Die Kenntnis des Midrasch ist von unserem Autor stets vorausgesetzt. Zu der Versiegelung der Welt vgl. Sefer Jezira XIII. 23.
1 Abschnitt 21. Das Wort Zta ist hier so gebraucht wie am Ende von Abschnitt 15: xlja jvutuf jvpin ebu jrta. Es soll dargetan sein, daû es auûer der erez, im gewæhnlichen Sinne dieses Wortes, noch die andere erez gibt, die Ståtte des gan eden; die Anfçhrung der Haggada ± Ber. r. I ± dient nur diesem Nachweis, daû erez auch gan eden befaût. Vorausgesetzt ist des weiteren, daû erez, und entsprechend, hadom raglaj' in dem Schluû von Echa 2, 1, das Volk Israel bezeichnet ± siehe Midr. zu Koh 1, 4 ± und daû dem gan eden oben das Heiligtum unten entspricht ± siehe Targum zu Ps 24, 7 und 9, Schemot r. 25, Deut r. 8, 7; Midr. zu Ps 92, 1 ±. Das Wort flqn hat als Subjekt latuj vtaqv Zta. In der Deutung des Satzes Echa 2, 1 ist erez als Akkusativobjekt genommen. In der nur andeutenden Art unseres Autors hat er in dem Gleichnis vom Kænig den Schluû, als selbstverståndlich, nicht ausgesprochen, obwohl in ihm erst die Antwort enthalten ist. In dem Gleichnis erscheint Israel als Krone Gottes. ± Die Zerstærung des Tempels ist, wie auch sonst, als ein kosmisches Ereignis, als kosmische Katastrophe aufgefaût: als Israel, die erez unten, verbannt und fortgeworfen war, war auch die erez oben verbannt und fortgeworfen. Doch, so ist der Ge-
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Damals, als der Tempel zerstært wurde, hatte Israel Bæses getan. »Das Bæse dringt vom Norden her« in die Welt ein, dort, wo die Welt nicht geschlossen ist, wo die Schæpfung der Welt nicht beendet worden ist. Dessen Zeichen ist das Chet. Seine Bedeutung ist Sçnde, seine Gestalt und ebenso sein Vokal, das Patach katan, ist das Tor. Aber dieses Tor, durch welches das Bæse eindringt, ist zugleich das Tor fçr das Gute. Von Israel hångt es ab, was durch das Tor Eintritt findet. Sçndigt Israel, so hat das Bæse, so hat der Zorn Gottes den Zugang. Ûbt Israel dann aber, indem es umkehrt, den Willen Gottes, so kommt das groûe Erbarmen in Bewegung, schafft der Langmut den Raum und bewirkt die Vergebung. Es gibt kein Tor, durch das nur das Bæse in die Welt kåme. Israels Fræmmigkeit kann immer wieder der Welt das Gute und damit ihren Bestand verbçrgen. 24 | So ist das Bæse in der niederen Welt nie endgçltig; durch das nåmliche Tor, durch welches das Bæse einen Eingang hat, tritt auch das Gute ein. Das Zeichen dieser Welt, das Dalet, hat denn auch den Querbalken oben, der sich dem He, der Schechina, zukehrt, die hinabkommen will. 25 Und es hat als seine Vokale das Patach und das Patach katon, die Zeichen also des Tores, diese »Tore der Welt«, von danke fortzusetzen, Gott bleibt mit seiner Schechina bei Israel, und die erez bleibt so. 24.
2 Abschnitt 22. Es ist wahrscheinlich, daû in dem uns çberlieferten Texte ein Abschnitt ausgefallen ist, der von dem Zeichen Sajin handelt, und daû dieses, entsprechend den Otiot de Rabbi Akiwa ± ed. Jellinek p. 24 ± und unserem Buche ± Abschnitte 29, 52, 54, 55 und 57; § 36, 102 und 124 ed. Scholem ± als Zeichen der Seele, der ernåhrenden, aufschlieûenden Kraft und als Prinzip der gættlichen Gçte dargestellt worden ist. Dieser Abschnitt wçrde damit die Voraussetzung des unseren sein, und die Worte von dem Tor, durch das Gutes und Bæses hereinkommen, wçrden damit verståndlicher werden. Auch in unserem Abschnitt sind die Otiot derabbi Akiba, welche den Buchstaben vªªje als aih erklåren ± p. 29 ± vorausgesetzt. Zusammen mit dem wahrscheinlich ausgefallenen Abschnitt çber das Sajin bildet unser Abschnitt die deutliche, logische Fortsetzung des Abschnittes 21, da dieser von der durch Israels Sçnde verschuldeten Zerstærung des Tempels und der unsere dann von Gottes Langmut und Israels Umkehr spricht. ± Das Verbum bbo bedeutet: sich hinbewegen, sich zuwenden, entsprechend der alten Pilbedeutung des Wortes. ± Daû das Bæse von Norden her komme, geht auf Jer 1, 14 zurçck, die Vorstellung vom Tore im Norden auf das Wort hvqv in diesem Jeremiassatz. Auch Hiob 26, 7 wurde so aufgefaût; vgl. Jalkut zu Hiob 26, 7: »Die Nordseite der Welt ist nicht vollendet worden, dort ist die Wohnung der bæsen Geister, von dort ziehen sie in die Welt hinaus.« Ebenso in Otiot derabbi Akiba p. 50 f.: vfpte vfhfte lk xfqre xm ala vfab xnja wlfpl vfabe. Vgl. auch unser Buch, Abschnitt 59, Ende: :etem envjoa xfqre xm evmun ljafef. ± Zu der Anschauung von den beiden Toren vgl. Otiot derabbi Akiba p. 56. 25.
1 Vgl. Otiot p. 22 f.: ege wlfpb ld afeu jm lku jnqm aªªe jqlk fjnq xvfn vªªjld em enqm .:abe wlfpl afe tjup
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denen der Psalm spricht, diese Zugånge im Norden, fçr das Bæse und das Gute. Mag der Zugang fçr das Gute auch der kleinere sein, das patach katon, er ist der Schechina zugewendet, und das Gute tritt immer herein. 26 Diese Entscheidung und diese Umkehr Israels, die das Gute in die untere Welt eintreten lassen und ihr das Dasein verbçrgen, sind vor Gott der græûte Wert. So darf im Psalm gesagt werden (87 2): | »Der Ewige liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnungen Jakobs.« »Die Tore Zions«, das heiût die Tore, welche vor Zion sind, durch die das Bæse eintreten will, durch die aber immer, wenn Israel das Gute erfçllt, das Gute, der Segen zur Erde kommt, sie gelten vor Gott mehr als »alle Wohnungen Jakobs«, das heiût als alle die Vollkommenheiten in der oberen Welt, als alle Bezirke, in denen der stete Friede, die stete Harmonie waltet. Wenn in der Welt der Unvollkommenheit, in dieser Welt der Mæglichkeit des Bæsen, durch Israel das Rechte seinen Weg findet, dann ist der Zweck der Schæpfung, der Wille Gottes verwirklicht. 27 ± Die dargelegten Abschnitte scheinen die erste der Schriften zu bilden, aus denen unser Buch entstanden ist, oder wenigstens einen 26.
2 Abschnitt 23. Der Text ist hier stellenweise sehr verderbt. Das Wort lfcoe ist erklårende Glosse. Hinter den Worten ebp vªªjld em enqm ist wohl ein Satz ausgefallen, der dem Satze aus den otiot ± p. 22, letzte Zeile: fjnq xvfn vjld aªªe jqlk ± entsprochen haben mag. Das Wort elpml gehært hinter ebp. Die Worte vor dem Psalmsatz 24, 7 sind wohl zu lesen: xis hvqbf hvqb afeu jnqm. Das Wort ebp bedeutet hier: einen Querbalken haben, entsprechend dem talmudischen bfp = Balken. Es liegt hier vielleicht auch der Gedanke zu Grunde, daû das Dalet links offen ist und links ist nach der alten Anschauung, die in dem Blick nach Osten orientiert ist, der Norden. In der Bedeutung, die der Norden hier hat, liegt auch eine Beziehung dazu, daû die untere Welt in Abschnitt 5 als der Sçden bezeichnet ist. Der letzte Teil des Abschnittes, der von dem Throne Gottes spricht, ist in unseren Texten jedenfalls versehentlich an seine Stelle gekommen. Es ist mæglich, daû er in irgendeiner Form an den Schluû von Abschnitt 21 gehært, wozu dann die Korrelation aok und wjluftj in den otiot ± p. 22 unten ± zu vergleichen wåre und ebendort die Ausfçhrungen çber das mem ± p. 36 ± sowie Abschn. 34 unseres Buches. Die Bedeutung des Satzes bfi emf wejlp clcl: »Als die Schçler sagten: »Wie auch das Gute!«, låchelte er çber sie:« Habe ich euch nicht gesagt: »das kleine Patach!« kann wohl nur die oben dargelegte sein. 27.
1 Abschnitt 24 (in der Wilnaer Ausgabe ist durch einen Druckfehler der Abschnitt 23 doppelt gezåhlt). In der Gegençberstellung von tpu und xkum soll tpu das zu Verwirklichende, das, was erst geæffnet werden muû ± daher die Verweisung auf Ps 118, 19 ± bezeichnen und xkum das Dastehende, Stetige, das immer Gleiche. Der zu Grunde liegende Gedanke ist derselbe wie in den Haggadot, die den Frommen çber den Engel stellen. Es sei auch auf Abschnitt 19, Ende verwiesen: ebfuv eb bfvku jnqm wlfpe lk llfk xªªju. ± Daû von den Toren Zions gesagt ist, daû sie epte drm sind, geht wohl auf Ezech 8, 3ff. und 9, 2 zurçck.
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Teil von ihr. 28 In ihr, die in ihrer Ausgangslinie von den Otiot de Rabbi Akiwa bestimmt ist, aber weit çber dieselben hinausgreift, steht ein ethisches kosmisches System in seiner Grundlage vor uns. Seine Ideen, in ideographischen Bildern dargestellt, fçgen sich deutlich in einander: Ein Urgeheimnis ist vor allem, ist das erste Prinzip von allem. Dieses Geheimnis wird wirksam und emaniert in einem Segen, der nie versiegt, der immer weiterstræmt. Dieser Segen hat seinen ersten Ausdruck in dem kosmischen Licht, in der kosmischen | Torah, und eine kosmische Kraft, ein kosmisches Licht, nicht nur eine geistige Wahrheit waltet so auch in unserer Torah. Ursegen ist der letzte Sinn und Zweck von allem. Zwei Welten sind von dem Urgeheimnis, von dem Ewigen ins Dasein gerufen, die Welt des Seins, der Vollkommenheit und die Welt des Werdens, der Mangelhaftigkeit. Aber die beiden sind keine geschiedenen Welten; zwischen ihnen besteht die Verbindung. Von der einen her kommt der Segen; in die andere hinein will er gelangen. Und mit dem Segen tritt die Pråsenz Gottes in die untere Welt; in der oberen Welt ist diese gættliche Gegenwart, in der unteren will und soll sie sein. Ein anderes noch hat in diese Welt einen Zugang gefunden, das Bæse, das Mangelhafte; denn die Form von oben hat im letzten die Materie, das Licht die Finsternis hervorgebracht. Diese Welt ist die unvollkommene, sie ist gleichsam nicht vollendet worden, und Bæses ist das nicht Geformte, das noch nicht Vollendete, das im Mangel, in einem Nichtsein Befindliche. Damit, daû so Segen und Bæses zu dieser Welt gelangen, ist ihr ein Schicksal zugeteilt, das Schicksal von Gut und Bæse. Von Wesen in dieser Welt, vom Menschen hångt immer wieder die Entscheidung dieses Geschickes ab. Wenn er in den Wegen Gottes geht, dann bewirkt er immer wieder den Zutritt fçr den Segen und fçr die gættliche Gegenwart. Unter den Menschen ist dieses Schicksal der Welt bestimmend dem Volke Israel çbergeben, dem Volke, dem die Torah offenbart ward, und das von Abraham stammt, welcher als erster die menschliche Vollståndigkeit und Ganzheit, das Ebenbild Gottes auf Erden verwirklicht hat, diesem Volke, das darum von Gott nie vællig aufgegeben sein kann. Das Schicksal, das in Israels Entscheidung, in seiner Fræmmigkeit oder Sçnde liegt, ist das eigentlichste Schicksal der Welt, kosmisches Schicksal. »Zions Tore« sind wie Tore der Welt. 28.
2 Eine solche Einheit weisen vor allem die Amora-Abschnitte auf.
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Wenn diese Welt so eine unvollendete ist und darum der Mangel ihr anhaftet, so ist ihr doch ein hæchstes Ziel gewiesen; sie kann vermæge der Entscheidung Israels eine letzte Vollkommenheit gewinnen. Israels Aufgabe ist es, diese Welt zu vollenden. Wenn nåmlich Israel sich zu dem rechten Wege wendet, wenn es die Gebote Gottes erfçllt, wenn es so der Beracha ihren Zugang zum | Menschenbereich schafft, dann hat es begonnen die letzte Bestimmung, die in der Beracha liegt, ihre Emanation zur Erde zu verwirklichen; es hat die unvollendete untere Welt zu vollenden angehoben. Die religiæse kosmische Aufgabe, fçr die diese Welt ins Dasein gefçhrt worden und zu der es selber berufen worden ist, wird nun von ihm vollbracht. Ein grandioser kosmischer Optimismus, eine stårkste religiæse Betonung der Einheit der Welt lebt in diesem Gedankengefçge. In ihm ist die entschiedenste Gegensåtzlichkeit gegen den gnostischen Dualismus mit seiner Lehre vom absoluten Bæsen, gegen diese Zerreiûung der Welt, in der die Antike sich auflæste und unterging und die den Spalt dann in das mittelalterliche Denken eintreten lieû. Auch in dieser Mystik des Buches Bahir, wie in der gesamten Mystik des Judentums, waltet der eigentçmliche und besondere jçdische Geist. Auch sie ist Mystik von der Aufgabe und von der Umkehr, von dem ewigen Geheimnis, welchem der Segen mit seinem Gebot entspringt.
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Lewi ben Awraham ben Chajjim
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Es liegt im Wesen der Bibel als eines kanonischen Buches, daû man oft mehr, als ihr Wortlaut und Sinn zugestehen, von ihr zu fordern geneigt war. Wåhrend der talmudischen Epoche waren es Religionsgesetz und Religionsdichtung, die mit ihren Annahmen und Ansprçchen an sie herantraten, im Mittelalter Religionsphilosophie und Religionsgeheimnis. Von diesen vier Richtungen tendenzvoller Schrifterklårung hat sich mit der tendenzlosen sprachwissenschaftlichen am innigsten die religionsphilosophische rationalistische Exegese verbunden. Schon åuûerlich spricht sich dies darin aus, daû ihnen beiden von demselben Manne, von Saadja, die Bahn gewiesen wurde. Sie ergånzten einander; die eine wollte die formale Richtigkeit, die andere die materiale Wahrheit des Bibelworts dartun. Hiermit ist es auch schon gesagt, daû die Rationalisten das Ergebnis der schlichten Exegese wohl benutzten, aber nicht als endgçltig anerkannten; wo dieselbe aufhærte, dort setzten sie ein; sie wollten das erst noch erklåren, was ihr die Erklårung schon zu sein schien. Maimuni spottet çber »die armen Erklårer, die da meinen, die Erklårung von Worten sei die Weisheit«. 1 Es galt die Ûbereinstimmung des Wissens mit dem durch das Bibelwort geoffenbarten Glauben aufzuzeigen. Der notwendige Ausgangspunkt war, die wahre Philosophie zu finden; denn sie | war diejenige, die in dem recht erfaûten Bibelwort enthalten sein muûte. Sie 1.
1 More Newuchim 2. 29 sub fin.: jk fbuhj tua wjjnpe wjutqmef wjnutde fupju fmk alf emkhe aje vflme ªjq vpjdj. Im çbrigen sei verwiesen auf Bacher: Bibelexegese
Maimunis. Es werden hier nur diejenigen Belege angefçhrt, die dort çbergangen wurden. Auûerdem sei bemerkt, daû der »More« in der hebråischen Ûbersetzung zitiert ist, weil er in dieser Form seinen Einfluû ausgeçbt hat, zumal auf den hier zu behandelnden Autor.
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gab den Maûstab, nach dem allein die exegetischen Resultate beurteilt werden konnten; denn nur wenn ein Satz durch Vernunftschlçsse gegen jeden Zweifel sichergestellt war, konnte er in der heiligen Schrift stehen. Ihn dort aufzudecken und so zur richtigen Auslegung zu gelangen, war das letzte Ziel alles Philosophierens. Es gençgt hierfçr auf die bloûe Tatsache hinzuweisen, daû die Metaphysik jçdischer Religionsphilosophen çberschrieben ist, nicht »Geheimnisse der Natur«, sondern »Geheimnisse der Bibel«. 2 Wollte einer dieser Rationalisten sein System darstellen, so konnte er es daher auch in Form eines Bibelkommentars tun. 3 Ein Aristoteles-glåubiger Averroist håtte einen Kommentar zum Aristoteles geschrieben. Solche Bestrebungen hatten zur Konsequenz, daû auch in allen Erzåhlungen der Bibel eine bestimmte philosophische Tendenz erblickt wurde; es erschien undenkbar, der heiligen Schrift bloûe Lust am Fabulieren zuzumuten. 4 Damit war der weitgehendsten Allegorese und Typologie Tçr und Tor geæffnet, und auch die schlimmsten Ausschreitungen waren nur die notwendige Folge. Fçr fast jede derselben findet sich schon bei einem so besonnenen Vertreter dieser Richtung wie Maimuni der Keim. Es braucht nur an seine Erklårung der Ophannim, an seine Auslegung des siebenten Kapitels der Sprçche und des Buches Hiob erinnert zu werden. 5 Um diese Entwicklung bis zu ihren Extremen hin zu begreifen, ist es deshalb wohl nicht erforderlich, den »auf dem Wege çber die Kirchenvåter in die Synagoge eingedrungenen Philo« 6 zu Hilfe zu rufen. Wir stehen vor einer Erscheinung, die sich aus vorhandenen Elementen notwendig ergeben muûte und die in der Tat auch bei gleichen Ursachen stets hervorgetreten ist. Immer, wenn der Versuch gemacht wurde, einen neuen Glauben mit dem alten zu versæhnen, zeigte sie sich. Schon die alten Stoiker suchten | und fanden den yusik@ lgo@ in Mythen, indem sie ihnen ihr System der Theologie unterlegten, um es dann als neu gefundenen Schatz wieder hervorzuholen. Von Kleanthes und Chrysippus wurde die allegorische Auslegung von Tatsachen der Mythologie und die typologische Umdeutung von Gestalten der Volksreligion in weitestem Umfange
2. 3. 4.
Ûber diesen terminus siehe Bacher a. a. O. p. 12, n. 4ff. Vgl. Kaufmann: Attributenlehre, p. 336, Anm. 4.
3 More III, 50: vpd vmal wa etfvb vjhtke vlpfvl afe etfvb bfvk fearmvu tfqo lk jk pd .wjupme xm eupm xfsvl fa etfve vfnqm enq ajeu 5.
4 Siehe Bacher a. a. O. p. 122 ff., p. 16 u. p. 126 ff. 6.
5 Kaufmann: »Simon ben Joseph's Sendschreiben« in »Jubelschr. zum 90. Geb. Zunzens«, p. 145.
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angewendet. Was die Methode anlangt, so ist von keinem Spåteren etwas Weiteres herzugetragen worden. Durch eines freilich hatten jçdische, und auch christliche, Allegoristen etwas vor den Griechen voraus. Diese konnten nur mythologische Erzåhlungen, im besten Fall einen Gottesnamen interpretieren; die Jçnger der Bibel hatten ein heiliges Buch mit genau bestimmtem Wortlaut, an dem sie ihre Kunst çben durften. Nur eine Grenze, und das ist bezeichnend, gab es hier fur die jçdischen Exegeten, die Tatsache der Gebote; vor ihr machte man halt, und man war sich auch bewuût, hierdurch im Gegensatz zum Christentum zu stehen. 7 Selbst alle die Zahlenspielereien, die sich håufig bei spåteren Rationalisten und in gewissen Grenzen schon bei Maimuni finden, 8 erklåren sich aus inneren Grçnden. Der Gedanke, Gruppen von Dingen oder Erscheinungen deshalb zueinander in Beziehung zu bringen, weil sie in gleichem Zahlenverhåltnis vorkommen, lag so nahe, daû er sich aufdrången muûte. Schon der Midrasch bietet mannigfache Beispiele hierfçr. Man hat fçr diese allegorisierende, rationalistische Richtung im Judentum des Mittelalters meist nur tadelnde Worte gefunden; aber mit Unrecht. Sie war fçr jene Zeit eine Notwendigkeit und von nicht zu unterschåtzendem Werte. Durch sie wurde damals vom Judentum die unselige Lehre von der doppelten Wahrheit ferngehalten; durch sie wurde es damals mit bewirkt, daû Månner, zu denen manche Erkenntnis von andersher gelangt war, vom Bewuûtsein erfçllt blieben, auf dem Boden des Judentums zu | stehen. Was das bedeutet, kænnen Tage lehren, wo es anders gewesen ist. Wenn das Judentum aus der Auseinandersetzung mit der arabisch-griechischen Philosophie und Naturwissenschaft neu gekråftigt hervorging, so ist dies nicht in letzter Reihe der rationalistischen Schriftauslegung zu danken. Die Ûbergriffe, die sie im Gefolge hatte, die im çbrigen aber, zumal im Vergleich mit einzelnen bedenklichen Wirkungen der Mystik, von geringem Nachteil fçr die allgemeine Entwicklung waren, dçrfen es nicht vergessen lassen, welche wichtige geschichtliche Aufgabe sie erfçllte. Sie leistete fçr das Mittelalter, was fçr die Gegenwart religionsgeschichtliche und den Sinn suchende Auffassung 7.
1 Vgl. hierçber Bacher a. a. O. p. 16, n. 4 und p. 174, n. 4. Ich weise auûerdem hin auf Nissim von Marseille im he-Chaluz VII, 108. ± Ûber die Berçhrungen zwischen jçdischer und christlicher Allegoristik vgl. Kaufmanns erw. Abh.; Gçdemann: Gesch. des Erz.-Wes. I, 37 ff. I, 163 f., II, 117 und Bacher in »Jçd. Literatur« II, 293 ff. 8.
2 Siehe zum Beispiel More Newuchim II, 10.
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der Bibel leisten will. Eine Zeit, welcher der historische Sinn abging, empfand zudem die Allegorese nicht als solche. Niemand zweifelte daran, in der eigenen Philosophie die wahren Gedanken der Propheten aufgedeckt zu haben, ganz wie einst vielleicht Kataskeuasten der biblischen Bçcher meinten, das religiæse Denken und Fçhlen der alten Zeiten am richtigsten wiederzugeben, wenn sie ihre eigenen religiæsen Ûberzeugungen und Empfindungen sprechen lieûen. Zu einem beherrschenden Faktor wurde die rationalistische Exegese erst durch Maimuni. Der Grund ist nicht zu verkennen. Der Rationalismus ist kein System, sondern eine Methode; er will zeigen, daû die wahre Philosophie mit der Religion nicht im Widerspruch stehe. Mit Erfolg kann er dies nur tun, wenn er seine Behauptung nicht bloû von Fall zu Fall fçr einzelne Ideen, sondern fçr ein in sich geschlossenes System in allen seinen Teilen nachweist. Dies war im Mittelalter zum ersten Male durch Maimuni geschehen, und zwar nicht mit seichter Vernçnftelei in der Art der Ichthyo- und Melittotheologie des 18. Jahrhunderts, sondern durch metaphysische und psychologische Vertiefung. Der Versuch, auf religiæser Grundlage eine einheitliche Weltanschauung zu entwickeln, ruft aber stets auch eine Popularphilosophie ins Leben. Auch an Maimuni schloû sich eine Reihe von Månnern an, die mehr darauf ausgingen, die Wahrheit zu verbreiten, als sie zu suchen, die in erster Linie Lehrer und Prediger und in zweiter erst Forscher sein wollten. Es ist kein bloûer Zufall, daû die Maimunisten meist es unternahmen, das ganze Wis | sensgebiet in Form von Enzyklopådien 9 zu behandeln. Die Popularphilosophie ist gern enzyklopådisch. In den Kreis dieser Månner gehært Lewi ben Awraham ben Chajjim. Er ist einer jener leidenden Helden der Literaturgeschichte, denen ein Martyrium græûeren Ruf verschafft hat, als es ihrer Bedeutung entspricht. Er bietet Interesse nicht sosehr als Mann eigener Art wie vielmehr bloû als Mann seiner Zeit. Er ist nicht geringer als seine Zeitgenossen, die am Werke der Philosophie mitarbeiteten, aber çberragt sie auch keineswegs. Seine Allegoristik, um derentwillen er bei manchen Historikern als berçchtigt gilt, ist gemåûigt, weit gemåûigter zum Beispiel als die des Jaakow Anatoli. Seine Rationalisierung biblischer Wunder, um derentwillen er verketzert wurde, ist 9.
Es sei hingewiesen auf die wjqfoflqe vfpd des Schemtow Falaquera (siehe Steinschneider: hebr. Ûbers. I, 5), den emkhe utdm des Jehuda ben Schlomo ibn Matka (ibid. I, 1 f.), den wjmu tpu des Gerschom ben Schlomo (ibid. I, 9 f.), die enfma jljbu des Meir Aldabi (ibid. I, 16).
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im groûen und ganzen unschuldig und geht in nichts çber das damals gewohnte Maû hinaus. Es hat den Anschein, als habe sich eine Orthodoxie grade gegen ihn nur deshalb gewandt, weil sie ihm gegençber, da er ohne Macht, Besitz und Einfluû war, manches wagen zu kænnen meinte, was sie gegen Hochgestellte nicht håtte versuchen wollen. Von biographischem und bibliographischem Standpunkte aus ist sein Wirken und Leiden in trefflicher Weise dargestellt worden, 10 çber seine Stellung in der Geschichte der Philosophie ist noch nichts Genaueres gesagt. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, einige seiner Ideen auf ihre Elemente analytisch zurçckzufçhren. 11 Das Resultat, das hier bereits kurz gegeben werden mag, ist folgendes. Lewi ist in seinen philosophischen Anschauungen, was | ihre Grundlage anlangt, Maimunist. 12 Maimuni ist ihm der Lehrer schlechthin bte; das rationalistische Prinzip desselben, Fragen des Supranaturalismus nach Mæglichkeit in psychologische Probleme umzusetzen, wird von unserem Autor im Sinne des Meisters angewandt. 13 Bis auf exegetische Einzelheiten geht diese Abhångigkeit. 14 In einer wichtigen Doktrin wird hier nachgewiesen, wie unser Autor, der seine Quelle nicht nennt, aus BatlajÞsi schæpft. 15 Auf eine Stelle, wo ein Satz aus den »Bildlichen Kreisen« unter Nennung dieses Werkes angefçhrt wird, ist bereits von Kaufmann aufmerksam gemacht worden. 16 In Einzelheiten seiner Exegese ist Rabbi Lewi ben Awraham vor allem von Awraham ibn Esra abhångig; 17 ihm folgt er bisweilen gegen Maimuni. 18 Daneben sind auch Einwirkungen David Kimchis bemerkbar, 19 sowie vor allem auch ein deutlich sichtbarer Einfluû 10.
2 Siehe Neubauer-Renan in Hist. lit. de la France XXVII, 628 ff. u. 746, sowie Steinschneider in Ersch u. Gruber II, t. 43, p. 294 f. Der von Bacher in »Jçd. Litt., ed. Winter u. Wçnsche« p. 338 angefçhrte Artikel im he-Chaluz II, 18 ff. ist nicht von Schorr, sondern von Geiger. 11.
3 Der hier vorgelegte Teil behandelt das zweite Buch des sechsten Traktates des xh vjfl, welches enfmae jtvo betitelt ist. Er beruht auf einer Abschrift aus dem Mçnchener Ms. des genannten VI. Traktats. 12.
1 Siehe p. 423 ff., p. 36 und so weiter dieses Aufsatzes. Dagegen Polemik gegen Maimunische Exeg. siehe p. 424 und so weiter dieses Aufsatzes. 13.
2 p. 425 dieses Aufsatzes und a. a. O. 14.
3 p. 423, 429 f., 431 ff. dieses Aufsatzes und æfter. 15.
4 p. 433 u. so weiter. 16.
5 Vgl. weiter unten. Eine mægliche Einwirkung des Bachja ibn Pakuda siehe p. 433. 17.
6 Zum Beispiel p. 437 und æfter. 18.
7 Zum Beispiel S. 436 ff. und æfter. 19.
8 p. 441 und æfter.
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Jaakow Anatolis. 20 Eine Spur des Buches Bahir kann nur vermutet werden. 21 Lewi nennt mit Ausnahme des letztgenannten Buches die erwåhnten Autoren hin und wieder, aber nur fçr Nebensåchliches; dort, wo die Beziehungen am wichtigsten sind, gibt er seine Quelle nicht an; letzteres gilt fçr alle hier angefçhrten Stellen. | Eine Einwirkung Lewis auf die Folgezeit ist hier mit Sicherheit nur fçr einen Autor, Bachja ben Ascher, nachgewiesen. 22 Was die åuûere Form seiner Darlegungen anlangt, so sei bemerkt, daû, mit Ausnahme des Kapitels çber die Schæpfung, das philosophische Raisonnement vom exegetischen stark zurçckgedrångt wird. Jedes Kapitel pflegt mit der Feststellung zu beginnen, daû die, zunåchst als bewiesen angenommene, philosophische Annahme sich aus der schriftlichen und mçndlichen Lehre ableiten lasse. Zum Schluû folgt dann eine kurze philosophische Demonstration nach. Mit Rçcksicht auf die beigegebenen Texte ordnet hier die Darstellung sich der Reihenfolge des Werkes unter. Der Gottesbegriff Maimonides sucht, ehe er seinen »Fçhrer« an die Gottesbeweise schreiten låût, zunåchst einen klaren, dialektisch unanfechtbaren Gottesbegriff zu gewinnen. Vor allem muû die Frage beantwortet sein, wie wir uns den einen Gott, falls er existiert, zu denken haben, dann erst kann seine Realitåt geprçft werden. Es liegt im Wesen der Scholastik, daû ihr die innere Wahrheit eines Begriffes seine Wirklichkeit zum mindesten sehr wahrscheinlich macht. Die logische Unanfechtbarkeit bildet die sicherste Grundlage fçr die metaphysische Unangreifbarkeit. Maimonides folgt nur dem Ideengange der mittelalterlichen Philosophie, wenn er zuerst die essentia der Got20.
9 p. 439 Anm. 5, p. 440 Anm. 3 u. 5 und æfter weiter unten. Ich fçge zur Erhårtung dieser Annahme noch eine Stelle aus der hier noch nicht behandelten Partie des xh vjfl an. Lewi bemerkt an derselben zu dem Midrasch R. Elieser des Groûen, der auch More Newuchim II, 26 behandelt ist: pqum fupn wjlclceu --
clu atsne lae fatb tmfhm ffevn vfdfoje lªªt vllfke Ztaf bªªsªªe lu fufbl tfa atsne wjlkue fatb tfa vfom tfa ej ftmab ijjqe xffk eg laf etfr jlb vfjel. Hiermit vgl. Jaakow Anatoli: Malmad p. 53b: aok vhvu clum vatbn Ztaeu wtmab enfke evje vfdfoje lk lp egm fatb tfa vfom tfa ej tmau ijjqe wc ¼ vftfre lk lbsm afe xfuate tmfhe xk ¼ dfbke .fhslu eatn tmame
21.
10 Im Abschnitt çber die »Schæpfung« Anfang. 22.
1 p. 435 Anm. 2; p. 439 Anm. 3; p. 333 Anm. 1 und æfter weiter unten ± Parallelen bei Gersonides, die aber auf eine Beeinflussung noch nicht schlieûen lassen, siehe zum Beispiel p. 439 Anm. 3 und æfter.
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tesidee klarstellt und hierauf erst die Grçnde fçr ihre existentia entwickelt. Den Leitfaden fçr diese grundlegende Untersuchung gibt die Attributenlehre; sie fçhrt uns zu einer in sich widerspruchslosen Vorstellung von der Gottheit. Aber daneben oder richtiger eben dadurch leistet sie noch ein anderes, sie stellt der dogmatischen Philosophie die Grenzen fest, bis zu denen sich die Mæglichkeit, Gott zu erkennen, erstreckt. Ist festgestellt, wie weit sich mit dem Wesen der Gottheit Attribute vertragen, so ist damit zugleich auch festgestellt, wieviel wir von Gott aussagen dçrfen. Also nicht im Wesen des menschlichen Verstandes, sondern im Wesen der | Gottesidee liegt das Kriterium fçr die Mæglichkeit transzendenter Erkenntnisse; die Lehre von den gættlichen Eigenschaften ist gewissermaûen die Kritik der reinen Vernunft, ein Gedanke, den die jçdische Religionsphilosophie in der Theophanie Ex 33, 18 f. ausgedrçckt fand. Dieser Methode seines Meisters folgt Lewi ben Awraham, aber nur nach der Seite der rein åuûerlichen Anordnung. Er bemerkt zwar auch, daû wir zu den meisten Erkenntnissen çber Gott auf dem Wege der Negation gelangen; und was er gegen die Zulåssigkeit der Wesensattribute einwendet, geht auf die Ausfçhrung des Maimonides zurçck, daû die Attribute zur Substanz etwas hinzufçgten; sie annehmen heiûe daher, in Gott eine Mehrheit setzen (More I, 50 f.). Deshalb, so erwåhnt Lewi hierbei, sei es ein schæner Brauch, vor den »dreizehn Eigenschaften« (Ex 34 6) das pmu-Gebet zu sprechen, um damit die Ûberzeugung zu bekunden, daû die verschiedenen Handlungen Gottes nicht eine Vielheit von Attributen zur Voraussetzung haben, sondern aus einem unteilbaren Wesen hervorgehen. Im çbrigen ist aber von der umsichtigen Kritik der Attributenlehre, die wir an Maimonides bewundern, bei ihm wenig zu finden. Ohne das quid juris zu erledigen, beginnt er sofort mit dem quid facti. Vor allem, so fçhrt er aus, muû die Gottheit unkærperlich und absolut einfach gedacht werden. Das »Sein im Raume« (wfsm), die Ortsbewegung (svpe) und der Ûbergang von der Potentialitåt zur Aktualitåt (epfnv), der ja auch an die Materie gebunden ist, sind Gott abzusprechen. Zur Bekråftigung dessen wird die scheinbar widersprechende, inadåquate Redeweise der Bibel nåher erlåutert; was hierzu vorgebracht wird, ist aber nichts weiter als eine Inhaltsangabe der einschlågigen Stçcke im More Newuchim (I, 26, 46 u. 47). So ist es zum Beispiel maimunische Exegese, wenn erklårt wird, daû in der Bibel menschliche Organe und Sinneståtigkeiten Gott nur dann beigelegt sind, wenn sie im alltåglichen Sprachgebrauch eine menschliche Vollkommenheit ausdrçcken. Sehen und Hæren seien 298
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dementsprechend wohl von ihm ausgesagt, nicht aber Schmecken und Tasten, da diese eine grob materielle Berçhrung bezeichneten. Desgleichen kænnten ihm unter den geistigen Vermægen zwar cogitatio (ebuhm) und voluntas (enffk), jedoch nicht phantasia (xfjmd), imaginatio (xfjpt) und opinio | (etbo) bildlich zugesprochen werden (vgl. More I, 45). In der Deutung einzelner hierher gehæriger Bibelverse schlieût Rabbi Lewi ben Awraham sich teils seinem Vorbilde an, wie wenn er etwa fçr Jer 31, 19 (jpm fme) auf Ps 40, 9 und 11 hinweist (vgl. More I, 46), teils tritt er ihm auch entgegen, wie z. B. in der Auffassung von Gen 6, 6. Maimonides hatte hier die Wendung fbl la brpvjf, so wie vor ihm schon Ibn Esra, dahin erlåutert, daû Gott »in seinem Herzen« zçrnte, das heiût daû er seinen Beschluû niemandem verkçndete, woneben er freilich auch die Erklårung offen lieû: »der Mensch war widerspenstig gegen seinen (Gottes) Willen.« (More I, 29.) Dem stellt unser Autor drei andere Auslegungen gegençber, ohne sich aber, wie dies auch sonst seine Gewohnheit ist, fçr eine bestimmt zu entscheiden. Zunåchst weist er auf Hiob 10, 8 hin und çbersetzt, dieser Stelle analog: »Gott bereute, daû er den Menschen geschaffen und gebildet habe«. 23 Daû das letzte Wort des Satzes nun in der Luft schwebt, berçcksichtigt er nicht weiter. Sodann faût er als Subjekt zu brpvjf »den Menschen« auf, so daû der Sinn der ist: »Gott hatte es nicht gewollt, daû der Mensch in den irdischen Dingen aufgehe und in seinen intellektuellen Fåhigkeiten verletzt und geschådigt werde«. 24 Auch in der letzten Erklårung betrachtet er »sein Herz« als das Herz des Menschen, çber das Gott betrçbt war; II Sam. 19, 3 gibt ihm diese Deutung an die Hand 25 . 23.
1 (cf. Gesenius: Lex brp I) bprvjf wdae va eup jk ªd whnjf. 24.
2 eufpf lmpf ldvum ejeju wdae vfajrmb wue xffk al ªflk Ztab wdae va eup jk ªt whnjf flkub doqnf brpvnf hti wdae jk Ztae xjnpb. Øhnlich spåter Bachja ben Ascher zur Stelle. 25.
3 fbl la = fbl lp. Siehe cod. hebr. Mon. 58, p. 69: jqk ejev fnb atfbe vhcue enef
wjbfie lra epjdje bfvke ljqe xkl fjnql tkgnef pfdje afe wue pdfje wlue jk vfsbdef epjdje tmanf itqb lªªt (Ex 33, 12) wub Ypdaf xkf (Ex 33, 12) wub Yjvpdj (Gen 18, 19) fjvpdj jk tma epda vage epte fup al waf lªªt jk (Gen 18, 21) epda al waf xkf (Ps 1 6) wjsjdr Ytd ªd pdfj atfbe vlfpq elvv alu jqlf (Ps 1 6) dbav wjput Ytdf wjnq vtvoeb we wjpte lba wejlp hjcuaf afu Ya (Hab 1, 13) lkfv al lmp la ibef tmau fmk omhef lfpef pte xjnpb fvnffkf fvhcuef wds jlcf fb armu ejjat lk wctv (Hiob 35, 13) la pdj al wfsm egf (Hiob 35, 13) la pmuj al (More I, 48) vfahofnb lqn vfpi eje mªªt bvku fmk jlfaf wpi web pdfn alu euflum Zfh ªd eal eafnu jk ªd atjf (Gen 6, 12) wdae va wjela atjf (Gen 6, 5) wdae vpt ebt jk ªd atjf wef fmk fjdjoh lp wue vhcuem pjufel frtju eml bofm eulu elam dha lk jk tmfl tuqjaf (Gen 29, 31) (More I, 29) lae xfrt dnnk wdae dtjf mªªt ªjq (Gen 6, 6) fbl la brpvjf tmau emf fjnbf hfn jnfupjf jnfbrp Yjdj xfulm brpvjf utql ujf tha xjnpb sfoqe xjbeu ala fnfrt fbl ªjq oflsnfa xkf wdae la bu fbl ejej fa Ztab wdae va brpvjf eup jk ªd whnjf sfoqe xjnp ejejf (Hiob 10, 8) ejeju wdae vfajrmb wue xffk al ªmflk Ztab wdae va eup jk ªd whnjf xk sfoqe xjnp ejejf
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| Auch in der Beurteilung der drei Stellen, an denen Onkelos ªd atjf mit ªd aghf, çbersetzt, obwohl es sich um die Wahrnehmung von etwas Bæsem handelt, weicht er vom »Fçhrer« ab, nachdem er sich ihm in der ganzen Theorie çber die targumische Umschreibung des gættlichen Sehens (More I, 48) angeschlossen hatte. Zur Erklårung jener Abweichung war von Maimonides angenommen worden, daû hier falsche Lesarten vorlågen. Lewi glaubt auf diese Ausflucht verzichten zu kænnen; er meint, daû es sich hier (Gen 6, 5, 6, 12 und 29, 31) um Fålle handle, wo Gott, im Grunde genommen, doch etwas Gutes sehe, insofern seine Hilfe ja schlieûlich eintrete. 26 In der Erlåuterung der Bitten Mosches und der Antworten Gottes (Ex 33, 13 ff.) folgt er dem Maimonides (More I, 54) wieder genau; ebenso in der Erklårung von Ex 33, 21, wo Maimonides, wie so oft, den theozentrischen Standpunkt in den anthropozentrischen verwandelt, das heiût ein Tun oder eine Beziehung, die in der Bibel Gott beigelegt wird, in den Kreis menschlicher Wirksamkeit hineinversetzt und dem Menschen zuspricht. 27 »Es ist ein Ort bei mir« bedeutet auch bei Lewi: »es gibt eine Stufe der Erkenntnis, die hæchste, die dem Menschen erreichbar ist« (vgl. More I, 8). Desgleichen haben die Worte »stelle dich an den Felsen« den Sinn: »erkenne den wahren Ursprung der Dinge«, wie dies Jes 51, 1 deutlich zeige (vgl. More I, 16). Eigener Beitrag Lewis ist nur die Bemerkung, daû die »Felskluft« hier (V. 22) dasselbe besage, wie die »Brunnenhæhle« dort. 28 Im Kapitel çber die »dreizehn Eigenschaften« geht er dagegen fast durchweg von Maimuni ab. Zwar faût er mit ihm die »Eigenschaften« als die verschiedenen Ausdrçcke fçr das Walten Gottes auf, freilich nicht bloû fçr das im Menschenleben sichtbare und auf den Menschen bezçgliche, | wie jener behauptet (siehe More I, 54). Jedoch in der Erklårung der einzelnen termini tritt er ihm entgegen, so alsbald bei den beiden Tetragrammata (Ex 34 6). Ibn Esra folgend 29 bewda lu fbl xfdg lp wpk lae fa flkub doqnf brpvnf hti wdae jk Ztae xjnpb eufpf lmpf ldvum (II Sam 19,3) fnb lp Ylme brpn xjnpk. 26.
1 fjdjoh lp wue vhcuem pjufel frtju eml bofm. Siehe hebråischen Text vorige Anm.
Diese Umkehrung stammt aus Aristoteles, der das Bewegen auf ein ¨rgesjai des Bewegten zurçckfçhrt. Vgl.: de an. III, 10: Phys. I, 9 et passim; Metaph. XII, 7. 28.
3 Siehe cod. hebr. Mon. 58 p. 69 ff.: cjuvu lªªt (Ex 33, 21 ) tfre lp vbrnf tmau afef wvbrfh tfr la fijbe xfulm (Ex 33, 22) tfre vtsnb Yjvmuf ftmab ertu afef Yutuf Yvlhfv vvma lpfqe lkue vvma afe vfsbde wp wdal cufju em vjlkv jk (Jes 51, 1) wvtsfn dfb vbsm laf .fjlp lran fnmm jk umue vfmd eatm htje tfau fmk ªd dfbk vfmd afeu 29.
1 Ûber diese Streitfrage siehe Tossafot Rosch ha-Schana 17b s. v. vfdm cªªj, sowie die dazugehærende eece. Wir erfahren hier, daû die Ansicht, das erste Tetragrammaton sei nicht unter die »Eigenschaften« zu rechnen, auf die dem Nis27.
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hauptet er nåmlich, daû das erste Gottes Wesen benenne, das zweite hingegen ein gættliches Attribut bezeichne. Auf Gottes Wesen weist der Name hin, insofern er das absolut notwendige, ursachlose Sein kennzeichnet; ein Attribut ist er, insofern er Gott als erste Ursache hinstellt. 30 Das erste Gebot belehrt uns daher sowohl çber die Aseitåt Gottes, als auch darçber, daû er die causa causarum ist. 31 Lewi weist hierfçr auf eine Bemerkung des Averroes hin, daû die notwendige Existenz von dem, welchem sie zugesprochen werde, nicht nur besage, daû er ohne Ursache ist, sondern auch daû er die Ursache fçr anderes ist, daû sie also negative wie relative Bestimmung in sich einschlieûe (vfqtireef vfljlue Zbsm). Auch grammatisch gliedert unser Autor den Vers Ex 34, 6 anders als Maimonides. Dieser bezieht in den Worten »Gott zog an seinem Antlitz vorçber« »sein Antlitz« auf Gott. Gott ging an seinem eigenen Antlitz vorbei, das heiût er lieû Mosche an der Erkenntnis, die durch »Gottes Antlitz« bezeichnet wird, vorçber zu einer anderen Erkenntnis gelangen. 32 Lewi glaubt, daû »sein Antlitz« das des Mosche sei: Gott ging an des Mosche Antlitz, das heiût an seiner Absicht, Gottes Wesen zu erkennen, vorçber und fçhrte ihn | zu anderem. 33 Was die syntaktische Anordnung der beiden Tetragrammata anlangt, so hålt er es sowohl fçr mæglich, mit Saadja, das erstere als apostrophierendes Subjekt, wie auch, dem Akzent folgend, es als Subjekt der Apostrophe anzusehen. 34 Die zweite der Eigenschaften »la«, wird von Gott ausgesagt mit Rçcksicht darauf, daû sich seine Vorsehung ununterbrochen auf die separaten Intelligenzen und die Sphåren erstreckt, damit sie gesetzsim ben Jaakow zugeschriebene wjtvo vlcm zurçckgehe. ± Ibn Esras Ansicht siehe zu Ex 3, 15.
30.
2 tav wu wuef vfajrme bjjfhm fnjnp jk wrpe wu afe lba llk tav fnnja xfuate fnjela ªd wnma (siehe More I, 61 und I, 63 Ende) vfajrme ajrmmf effemf xfda afeu ªflk, cf. Ibn Esra zu Ex 23, 21: lke fvamf lke afe jk wue tav armj wc ,fdbl afe jk wrpe wu afe dbkne wue jk. Ûber Averroes cf. destr. f. 176. ± 31.
3 Dies will die Frage beantworten, welche in der exegetischen und religionsphilosophischen Literatur oft auftaucht, weshalb das erste Gebot uns nicht çber die Schæpfung der Welt belehre. Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: dhfjme wub Yjela ªd jkna sfoq lp vflpe vlp fvfjef fvfajrm vnfma Ymo xkl vfajrme bjjfhm fnjnpu vªªt bvk vfajrme bjfhm wub dªªuªªt xb ert xkf tave wu wpqf wrp wu wpq afe wue eg jk pªªb wkhe bvkf eg ejej wnma fvlfgl ebo afef ebo fl xjau jfrm afeu fnjnp vfajrme bjjhvm atsj waf ªul egf .vfqtiree afe fvlfgl ebo fvfjef vfljlu afe fl ebo xja xjnpf ljafe vfqtireef vfljlue Zbsm
32.
4 More Newuchim I, 21. »Sein Antlitz« ist = »sein Gesehen werden«, »t ¡r°ºn a©tn. 33.
1 Es scheint, daû ihn hier dasselbe Prinzip leitet wie bei der Erklårung von Gen 6, 6. Siehe oben p. 424. 34.
2 cf. Ibn Esra zur Stelle.
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måûig wirken. 35 Alle folgenden Attribute beziehen sich auf Gottes Walten in der sublunarischen Welt, und zwar ist er wfht, insofern er uns erschuf, 36 xfne, insofern er uns die Kråfte gibt, die uns erhalten, 37 wjqa Yta insofern er der Materie die Fåhigkeit wahrt, immer neue Formen aufzunehmen. Ihrem Wortlaute nach verståndlich sind die drei Bestimmungen, welche sich hieran anschlieûen, ebenso die Worte eaihf puqf xfp aufn; nur ist bei diesen zu bemerken, daû sie drei verschiedene Aussagen enthalten; denn xfp bezeichnet die vorsåtzliche Sçnde, puq das Beharren in der Sçnde, und eaih die Verirrung. 38 In der Auffassung von esnj al esn folgt er dem Maimonides, 39 neben dem er als Quelle Ibn Ganach und uªªt (Raschi) anfçhrt: Gott rotte nicht ganz aus. Daû diese Erklårung richtig sei, sei daraus ersichtlich, daû Moses, als er nach der Rçckkehr der Kundschafter die gættliche Gnade erfleht, Gott dieses Attribut beilegt (Num 14, 18). Dieselbe Erwågung hat unseren Autor wahrscheinlich auch veranlaût, in der letzten Eigenschaft, entgegen dem »Fçhrer« (I, 54 sub finem), ebenfalls die Barmherzigkeit Gottes zu suchen. 40 Er findet sie darin zunåchst in Anbetracht dessen, daû die Strafe nur bis zum vierten Geschlecht hindringt. Sodann aber, und dies ist das richtigere, ist zu bedenken, daû wenn Gott die ganze Schuld am Frevler heimsuchen wollte, er ihn vællig ausrotten mçûte, derart, daû nichts von ihm çbrig bliebe, weder fçr diese noch fçr jene Welt. | Deshalb ist es ein Zeichen gættlicher Gnade, wenn die Strafe auf ihn und die vier folgenden Geschlechter verteilt wird. Die Nachkommen haben so, wenn sie sçndigen, ± und nur in diesem Falle werden sie ja fçr die Schuld der Våter herangezogen 41 ± neben ihrem Vergehen auch zu einem Teil das der Vorfahren zu bçûen. Es scheint, daû unser Autor in der letzten Eigenschaft die notwendige Ergånzung der vorletzten erblickt. 42 35.
3 xjde jqk bjjfhm djmvm wnjjnpu wjlclcef wjlkue lp vfdjmvb hjcum, cf. More III, 17: .envuj alu xjjnp lp wvdjmve web ehcuee xjjnp ¼ webu emf wjlclce 36.
4 cf. More I, 54: xjnp afef ¼ fb vfhk ajrmef ¼ fvcene vfsd ecufeuk jk fb lumef .wfht ªvj fjlp tman vfnmhte 37.
5 cf. ibid.: xfnh atsn egl ¼ sh fl xjau jm cjenjf ajrmj ªvj afef. 38.
6 Aus Joma 36b entlehnt. 39.
7 cf. Bacher: Bibelex. Maimunis p. 66 n. 3. 40.
8 Lewi folgt hierin dem Ibn Esra zu Stelle. 41.
1 Siehe Ssanh. 26 und Onkelos zu Ex 20, 5; cf. Ssifre zu Deut 32, 30. 42.
2 Vgl. cod. hebr. Mon. a. a. O.: wjpbt lpf wjulu lp vfba xfp dsfq vdmb jl eatn xkf fnjau dha wjnq jnu lp fnjnpf wjmht vfdm tau wp wu etkgnu tha wjmht vdm afeu (Ex 20, 5 ff.) fnjau xfkne afef jnuef wjqlal ajeu ebfi edmb xk xjau em jpjbt tfd dp st ptge lp xfpe dsfq wlfpb al vjtau fl ejej al jtmcl vtkjf ehmj xk eupj wau dbl aifhe lp fujnpmf xfpe lk dsfq jdk dbl jpjbt tfd dpf wjabe vftfde lpf fjlp unfpe slhmf xfpe dsfq Ya abe wlfpb alf ege .flbolf unfpe jnqb dhae lk dfmpl lkfju
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Die Namen Gottes An das Kapitel çber die dreizehn Eigenschaften schlieût sich die Darlegung der gættlichen Namen. Auch sie bezeichnen das gættliche Wirken und ergånzen deshalb den vorhergehenden Abschnitt; die Erklårung des Tetragramms konnte daher denn auch in demselben bereits ihren Platz finden. Von einem Wesen, dem Engel Metatron, heiût es, 43 daû sein Name wie der seines Herrn sei; dieser Engel sei der Erdgeist 44 (lpfqe lku), der vermittelst dessen, was von Gott auf ihn herabstræmt, den irdischen Dingen ihre Form gibt. 45 Die Geschichte der Gottesnamen ist die Geschichte der Entwicklung des religiæsen Denkens, wie aus Ex 6, 3 ersichtlich ist. Vor Awraham gab es nur Polytheisten; man hielt Gott fçr einen Sphårengeist hft lclce. 46 Abraham war Henotheist, er nahm nur einen graduellen Unterschied zwischen Gott | und den verschiedenen Bewegern an, 47 auch jedem der letzteren attribuierte er notwendige Existenz kraft eigenen Wesens (fmrp vfnjhbb vfajrme bjfhm). Daû er jedenfalls die absolute Notwendigkeit im gættlichen Sein erkannte, erhellt aus der Parallele zwischen Gen 15, 7 und Ex 20, 2. Ihm war so Gott ein la jdu. 48 Moses war der erste reine Monotheist; denn er begriff zuerst, daû das Sein Gottes vællig einzigartig, daû es erste Ursache und Prinzip aller Wesen sei, ganz wie es dann Aristoteles in der Metaphysik nåher bestimmt hat. Es låût sich nicht leugnen, daû diese Ansicht in damaliger Zeit recht originell war. Der zweite der Gottesnamen ejea tua ejea (Ex 3, 14) kann nach der Meinung unseres Autors verschieden erklårt werden, entweder, daû Gott seinem ganzen Inhalt nach ewig unverånderlich bleibe, demnach vor der Erschaffung der Welt derselbe war wie nach der Erschaffung, oder auch dahin, daû Gott vor der Schæpfung existierte 43.
3 Siehe Ssanh. 38b. 44.
4 Fçr diese Identifizierung des Metatron mit dem Erdgeist cf. Gersonides zu Prooem. 1, 8: jmft xfulb wa afeu xftiim lªªg fefats eboe vagl ¼ lpfqe lkue afe waef. Angedeutet ist sie schon More II, 6, wo der lpfqe lku der wlfp lu ftu (siehe Jew. 16b und Chull. 60) genannt wird. Øhnlich wie Gersonides a. a. O. leitet unser Autor Metatron von anftim ab; dieselbe Etymologie findet sich bei Bachja ben Ascher zu Ex 24, 1: xfda hjluf xfda afef ¼ xftiim feg ªd la elp elbse Ytd lpf enftim elumm vlpb vtbce la xjtfsu wjmkh xfulm (ed. Pesaro 1514). 45.
5 Siehe Mischne Torah: Jes. Torah 4, 6 und More II, 6. 46.
6 cf. Jaakow Anatoli: Malmad ha-Talmidim ed. Lyck, 1866, p. 53b. 47.
1 wlfkm Pjsvf dbknf lfdc tvfj dhaeuf wjppfnvme tqomk vfdtqn vflhve vfajrm ¼ 48.
2 Siehe More I, 63 sub finem. Nach Lewi erkannte so Awraham nur das, was im Tetragramm wrp wu, aber nicht, was tav wu ist. Wahrscheinlich dachte er dabei an Ibn Esra Ex 6, 2: afe wue eg st wrpe wu afeu wue eg fpdj vfbae jk sqo xjaf fpdj al tave. Vgl. auch Kusari, ed. Cassel, p. 91 n.
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und auch nach ihr nicht aufhærte. 49 Fçr mæglich hålt es Lewi auch, daû dieser Name darauf hindeute, daû in Gott die Erkenntnisfåhigkeit mit der Erkenntniståtigkeit und folglich auch mit der Erkenntniswirklichkeit identisch ist (lku = ljkum = lkufm), eine Interpretation, die Jaakow Anatoli entlehnt ist. 50 Daneben fçhrt er auch noch die Erklårung »Mancher« an, daû dieser Name sowohl eine Wesensbezeichnung, daû Gott notwendig existiere, als auch eine attributive Bezeichnung, | daû er Schæpfer sei, enthalte, sodaû dann das erste Verbum ein Kal, das zweite ein Piel (ufcd xjnb) wåre. 51 Der Name fef jna, der im Talmud vorkommt (Ssukka 45a [IV, 4]), will uns ebenfalls anzeigen, daû in Gott Denken, Denkendes und Gedachtes zugleich sei. Das Erkennende sagt gleichsam vom Erkannten, bzw. dieses von jenem: Ich und dasselbe sind eines. 52 Dies kænnte auch noch in einem anderen Sinne gesprochen werden. Da nåmlich die Vollkommenheit des Menschen darin besteht, daû er reine Formen in sich aufnimmt, so kænnten die Worte epjufe fef jna an (Ssukka a. a. O.) auch bedeuten: Ich und die reine Form sind eins, deshalb bin ich deiner Hilfe wçrdig. 53 Die Bezeichnung Gottes als ej belehrt uns çber seine Allmacht; 54 dieses Wort wird denn auch in Ps 89, 9 durch die Beifçgung xjoh in diesem Sinne nåher erlåutert. 55 ± Der Name wjela charakterisiert; wie in der çblichen Weise ausgefçhrt wird, Gott als Richter, 56 was zum Beispiel Jes 30, 18 zeigt. Er wird allgemein fçr jeden gebraucht, welcher richtet und vorsorgt; deshalb wird er auch den Engeln beigelegt, weil sie çber die sublunarische Welt walten. Wenn Gott Deut 10, 17 wjelae jela genannt wird, so tritt er uns demgemåû als Gott der 49.
3 Dieselbe Erklårung bei Awraham ibn Daud: ha-Emuna ha-rama II, 3; die Quelle dçrfte im Midrasch zur Stelle zu finden sein. 50.
4 Siehe Malmad p. 47a: ljkume lkue afeu jnqm tman egu fb tma fmp jvtbhveu wkhef emrpl eatm ajeu eatml lumn afe flak djmv fmrpb eatn afeu fb erft lkufmef. Lewi bringt auch dieses Gleichnis und erlåutert es nåher, daû Durchsichtiges, wie Glas und Luft, die Dinge nicht in sich zeige, wohl aber der Spiegel (ajbm jtfqoe tbde emrpb wjtbde eatm eatme lka vjkfkgef tjfab xjnpk fmrpb al wvfa eatmf wjatne), deshalb kænne er einen Vergleich fçr das Wesen von Gottes Denken abgeben; freilich sei das alles nur Phantasiegemålde (bftsf xfjmd). Um Denken, Denkendes und Gedachtes in Gott anzudeuten, so fçgt Lewi hinzu, schreibt man fçr den wu ein jjj. 51.
1 ejea tua ejea ist gleich: vfajrme efem jna tua vfajrme bjfhm jna. Es ist die Deutung, die Lewi dem Tetragramm gibt. 52.
2 Siehe Anatoli ibid.: an epjufe fef jna tmfl fnsv xjnp eg jqlu tuqaf. 53.
3 (fnpjufvu) wpjufvu Yl jfat xk lp dha tbd fef jna cf. More III, 18. 54.
4 vlfkje wrfp afeu. 55.
5 cf. More I, 63 sub finem vgl. den Text p. 34 n. 1. 56.
6 Siehe Bereschit rabba s. 33.
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Engel (wjkalme jefla) entgegen, ganz wie in dem Ausdruck wjndae jnda als Herr der Sphåren (wjlclce xfda). 57 Im Buche Kohelet 58 und in der Schæpfungsgeschichte wird daher auch nur der Name wjela gebraucht, weil dort von einem gættlichen Wirken die Rede ist, das durch Mittelwesen geschieht. Aus Daniel 2, 11 erhellt, daû die Engel immateriell sind; 59 weil sie ewig und Gott | nahe sind, 60 wird dieser der »çber den Cherubim Thronende« genannt (I Sam 4, 4 und æfter). 61 Der Gottesname jdu ist von demselben Stamme herzuleiten wie das Substantivum dfu, er bezeichnet Gott als den Lenker der Gestirne (ektpme hrnme). 62 Weil diese Seite des Waltens Gottes das Heil Israels zum Ziele hat, 63 wird er der latuj hrn genannt. Nicht unmæglich ist es auch, daû das Wort jdu mit wjdu »Brçste« zusammenhångt. Es wçrde dann andeuten, daû von Gott aller Wesen Existenz und Erhaltung herabstræme. Es scheint, daû unser Autor hierneben auch noch 57.
7 Nach More II, 6, der sich an Kus. IV, 1 anschlieût. 58.
8 Vgl. hierzu den Schluû der Ausfçhrung Ibn Esras zu Ex 3, 15; zum Verståndnis dieser Stelle Ibn Esras ist heranzuziehen der Anfang seiner Erklårung von Ex 23, 20. 59.
9 Dieser Vers wird schon von Ibn Esra zu Exod 3, 4 als auf die Engel sich beziehend gedeutet. 60.
1 Lewi scheint die beiden åhnlichen Worte bfts und bftk wohl im Anschluû an Dawid Kimchis Komm. zu I Sam 4, 4, miteinander in Beziehung zu bringen; cf. More II, 4 wjbtsvme wjkalme, wenn anders diese Stelle im Gegensatz zu Ephodi aufgefaût werden darf. 61.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: jk wjela wa jk wu vjuatb eupmb xkf vlesb tkgn al xk lp al atub wp xfetdm jd xjela wjkalme lp ftmaf wjkalme vfprmab wjupne wjupme lp tbdm wu wjbftke bufj lae atsn wue la wvbtsf wjkalme hfrclf wjqfcb alf wjqfc wnja jk (Dan 2, 11) jefvja
(I Sam 4, 4; II, 6, 2 und æfter). 62.
3 Diese Erklårung ist jedenfalls aus Ibn Esra entlehnt; siehe diesen Autor zu Ex 6, 2, wo er im Namen des Schmuel ha-Nagid bemerkt, jdu sei gleich hrnm Pjsvf, und ibid.: vfnfjlpe vfktpme hrnm fuftjqu jdu la jna oder, nach der Anfçhrung bei Nachmanides, der die Auffassung billigt, zur Stelle: wjmu vfktpm ddumf hrnm. Ebenso auch Dawid Kimchi; siehe liber radicum s. v. »ddu«: la jna ege utue xmf ddfu xjnpk hrnmf Pjsv fnjnpu jdu. Der Ausdruck hrn dçrfte der terminus technicus fçr die Art, wie Gott bewegt, sein. Diesen Sinn hat auch More I, 59: wjqfofljqe lkf fvfmjpnb fnhrn wjtmfa, ein Ausdruck, der çbrigens auch von unserem Autor erklårt wird in einer Kerem chemed VIII, 200 angefçhrten Stelle. »fvfmjpnb fnhrn« ist, was bisher nicht beachtet worden ist, die Ûbersetzung von Arist.: Metaph. XII, 7, 1072b 3 kine¼ d £@ ¥r
menon cf. ibid. 1072a 26. cf. More I, 72 s. fin.: jm hbvuj fvfmlu fnhrnu : Siehe auch More II, 4: afef bfeae tbde afef fetjjru eml esfuv lclcl ejeju .fmu elpvj lae 63.
4 Ûber die durch jdu angezeigte Beherrschung der Gestirne um Israels willen siehe Nachmanides zu Ex 6, 2: lp tbcjl hrnme Pjsve afe jk fnjba wetbal evp tma xklf vlumm vhv fjej al wcjenj fnfrtbf fmp ªd slh ejeju wlfpl fptg xjbf fnjb vjtb ejejf djlfjf flgm lgmf bkfk, sowie Ibn Esra zu Ex 23, 26: Yvfa ebta jna jndbpvu fmp vjtb vftkv waf .vdlfve hrna jk dam damb
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die traditionelle Erklårung des Wortes als »der, welcher gençgend ist« fçr berçcksichtigenswert hålt. Er bemerkt nåmlich, »jdu« sei sowohl Eigenname wie auch Eigenschaftsname. Ersteres, insofern durch unser Nomen die Autarkie, die Gott allein als erster Ursache zukomme, ausgedrçckt werde. 64 Letzteres, indem es Gott als hinreichenden Grund der | Welt bezeichne und uns darçber belehre, daû alles nur durch ihn und in ihm 65 existiere und daû er der ewige Ort fçr alles sei. 66 Diese Ausfçhrung stellt eine Kombination der Erklårung des Maimonides und der des Ibn Esra 67 dar, sie beruht, wenn der Autor dies auch nicht anmerkt, ganz sichtlich auf der erwåhnten herkæmmlichen Auslegung. Ganz unklar bleibt es nun freilich, wie sich das Tetragramm von jdu unterscheidet; vielleicht hat Lewi, Ibn Esra noch çberbietend, 68 beide Namen fçr vællig identisch angenommen. Als letzter Gottesname wird vfabr ªd behandelt. 69 Nach dem einfachen Wortsinn ist vfabr ein objektiver Genitiv (xjjns wu) und deshalb stets mit dem eigentlichen Gottesnamen verbunden, um die Herrschaft çber die Heere des Himmels anzuzeigen. Nach talmudischer Ansicht weist »Zewaot« darauf hin, daû »er in Mitten seiner Heerschaaren ein Zeichen ist«. Dies wolle sagen, daû jedes Wesen eine einheitliche Substanz nur dadurch wird, daû etwas von der gættlichen Einheit, die sich çber alles erstreckt, auf dasselbe herabstræmt. Mit anderen Worten: Alle Form emaniert aus Gott. Die Tat64.
5 Dies ist die Ansicht des Maimonides; siehe More, I, 63 sub. finem. 65.
1 Diese Wendung schlieût sich an die bekannte Formel Awr. ibn Esras an, der wir bei Lewi noch an anderen Stellen begegnen; siehe Ibn Esra zu Gen 1, 26 und zu Ex 23, 21 cf. zu Deut 32, 18. 66.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: (Jes 13, 6; Joel 1, 15) afbj jdum dfuk xfulm afe jdu dblb latuj ljbub jk (I Sam 15, 29) latuj hrn atsn xk lpu eatnf ektpme hrnme lp xk atsnf
wfjse fjla Yjummf armn lk vfajrm pjqum afeu fnjnpf wjdu xfulm tgcnf tabn jdu jlfaf lgme hrnj fdmpm tbdl Ytirj alf vflpe vlp afe jk fmrpl sqo uj jk tav wuf wrp wum bktfm afeu eatnf .wrp wu afe dre efmf wlfpe jnql fnjnpb fvfajrmb sqvome fdbl afef fmrpl aok afe jk fmrpl Und ferner dasselbe: wlfpl tmau afef armn lkl jd fb uj jk tav wu fb featsnu dre wlfaf fb lkef lke djmpm fbf fvljbcme fvtfr dha lkl xvfn afe jk (Chag 12a: jd wlfpl jvtmau) jd Bereschit) wlfp lu fmfsm afeu lªªg tmau fmk fl wdfsf wfsm lkl wfsm afef wlfp lu fmfsm afef ftmau dbl tav wu fvfje fb fnjbeu ala lªªg wuftjq xkf (rabba cp. 68; Midr. Tehil. 40 (cf. Jalkut zu Gen 17 1) ejtb lkl jd jelab uju afe jna jdu la jna. 67.
3 Siehe Ibn Esra zu Ex 6, 2: tav afe jdu wuu st utqe wejnjb xjaf dbkne wue afe jdu la .tav wu wpqf wrp wu wpq dbkne wuef
68.
4 Siehe vorige Anmerkung und Ibn Esra zu Gen 17, 1. Auch bei Ibn Esra ist in dieser Beziehung eine gewisse Unklarheit, namentlich was die Erklårung von Ex 6, 3 ± vgl. mit unserer Stelle die oben S. 429, Anm. 2 angefçhrte ± anlangt, wenn anders unsere Texte korrekt sind. 69.
5 Zu dem folgenden vgl. die Ausfçhrung Ibn Esras çber diesen Namen, zu Ex 3, 15.
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sache der Individuation ist so ein Beweis fçr die | Existenz eines ersten Bewegers. 70 Wir haben in diesem Batlajusischen Beweise eine kleine Variation des durch Awraham Ibn Daud in die jçdische Religionsphilosophie eingefçhrten aristotelischen Gottesbeweises, der vom Begriff der Bewegung ausgeht. Fçr die Bewegung ist ihr Resultat, die einheitgebende Form eingesetzt. In diesem Betracht wird Gott nach unserem Autor tfr genannt, weil er reine Form und formgebendes Prinzip ist, 71 wie auch wlfpe jh »der Ewiglebende und der Welt Leben Gebende.« 72 Gott ist demnach, wie Lewi noch einmal hervorhebt, nur in seinem Wirken erkennbar; sein Wesen hingegen bleibt uns verschlossen. Er ist so das Offenbarste und das Verborgenste, das Nåchste und das Fernste. 73 Dem will auch die Fassung der Segensprçche Ausdruck geben, in denen Gott nicht nur mit dem Tetragrammaton, sondern auch als der, welcher die Menschen heiligt, | angerufen wird. 74 ± 70.
Dieser Beweis ist ohne Zweifel aus Batlajusi entlehnt, siehe vfjnfjpte vflfcpe ªo ed. Kaufmann, p. 34b, Z. 13 ff. ejen wnmau wjarmne xm tbd lk armj ljkume xnfbvj tuak
1
dhjvnu vfdhae evfaf vfdhae hk afef fvlfgm eb tknf eb armju vfmrp wfu fl evjen tuab jfrm aje vfdhae evfaf wjarmne xm fnjbf fnjb uju em vfprmab ªbvj atfbem fjla epjcje wnma eb afe vjfef tdpn jte vfdhae evfa fnmm dtqv tuakf fvlfgm eb tkjnf fnfsjh eb tua fvtfrf fvjjfe wjtbde lkb ªbvj atfbe vam vfdhae, cf. Parallele ibid. p. 35, Z. 19 ff.: tua ajee vfdhaef atfbe xm fjla iuqve wnma armjf fb iuqvj. Zu dem Ausdruck in unserem hebråischen Text: web wjjflc fjvfvfaf cf. More II, 12: ¼ vfajrmb wjjflc wjtafbm dtqne lkue jupm ¼ 71.
2 tfr wird mit etfr in Zusammenhang gebracht, siehe auch S. 425 Anm. 3 und vgl. Ibn Esra zu Deut 32, 4: wrp fl xjau wtspf lfau vflbl wtfrf xkf etfr xfulm wjtmfa ujf xfmds tfr afe st lbsm, vgl. hiermit den hebråischen Text. Daû Gott die Form der
72.
Welt ist, siehe Batlajusi a. a. O. p. 38, Z. 12. Øhnlich Kusari IV, 3 und More I, 72 sub finem, ± Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: flu abr Yfvb vfa afeu jql (I Sam 1, 3 und æfter) vfabr atsn afeu ftma lªªg ªjvfbt wnma fjlp pquu emb dha ejef wrpve armn lk jk pfdj jk lªªt (Chag 16a: flu vfbbtb afe vfa)
3
tbd lkb armn afef atfbe web pbsu sfhe farmj wlfkf wjarmne lkb viuqvme atfbe vfdhae web wjjflc fjvfvfaf wajrmm lp ejatf vfa ojatbnb armne pbief vfdhaeu armn ldbn vfsbd (Deut 32, 15 u. æfter) tfr atsjf xjnp wef (der Nachsatz beginnt mit: ªfkf vfdhaeu armn) pdfn jvmae dhae vfjelf (Dan 12,7) wlfpe jh atsn xk lp lbsm tbd fb xjaf lke vtfr fvfjel jªªaªªb vfktbe pbimb fdoj fvvmaf fvfem fnmm elkonf fmrp drm wlpn lkb farmnf fjupm drm .sfhtef bftse tvonef elcne elpvj afe jk fªªbªªsªªa eªªmªªa 73.
4 Siehe More I, 72: lp dfmpj vqfmef fnmm fvsnef wlfpe xm elpvj fldbe lp dfmpj vqfme jk vfhqe sde ªjqaf fjslhm slh lkb fvhcuef fvcene jupm vfajrm. Lewi hat seine Ausfçhrung wohl aber eher aus Bachja ibn Pakuda, siehe Chob., dfhje ªu, cp. X: afe jk fdfbk wrp vfmd drm sfht lkm sfhtf fjvflfpq drm bfts lkm bfts. Die Idee findet sich
74.
schon in der Haggada, siehe Midr. zu Ps. 4, 1; Deut r. II, 2. Siehe hebråischen Text vorige Seite Anm. 3 sub finem. Eine Benutzung dieses Gedankens findet sich, wenn anders nicht aus gemeinsamer Quelle geschæpft ist, in Bachja ben Aschers hmse dk. Siehe daselbst s. v. ektb (ed. Lemberg I, 31a): fnl fnsv ege tspe pfmul jdkf ¼ sfhtf bfts tvonf elcn ektbe xful wjmkh fnsvu emf tvon lp etfm ªrfªbªsªaf elcn lp etfm jªaªb tvonf elcn xfulb ektbe hofn, ebenso ibid. s. v. ehnue I, 67a, wo zu Cant. 2, 9 bemerkt wird: lumne ªbvj wueu vftfel ege xjnpef
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Zum Schlusse wird dann noch kurz auf die geheimnisvolle Macht der gættlichen Namen hingewiesen; 75 man sieht, daû unser Autor, ein so treuer Anhånger des Maimonides er war, doch auch fçr die Mystik, die sich damals in seinem Heimatlande zu neuer Blçte entwickelt hatte, nicht ganz unempfånglich blieb. Verehrung Gottes (elqve dfo)
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Die Lehre vom Wesen Gottes erhålt ihre Anwendung auf das Leben durch die darauf folgende Darlegung der Art und der Grenzen der Gottesverehrung. Aus der Realitåt des Gottesbegriffes, deren religiæse Selbstverståndlichkeit die Voraussetzung der bisherigen Auseinandersetzungen bildete und die zum Schlusse derselben dann noch kurz philosophisch dargelegt wurde, werden die Konsequenzen fçr das religiæse Tun gezogen. Eine systematische Behandlung des Gegenstandes findet freilich nicht statt; der Autor beschrånkt sich im groûen und ganzen auf die Erklårung von einzelnen, ziemlich wahllos herbeigezogenen Bibel- und Talmudstellen. Als oberster Grundsatz gilt, daû Gott das rechte Gebet erhært, und zwar steht diese Wirkung in entsprechendem Verhåltnis zu der Andacht (pjmume xffkvn wa pmfue xffkvn), es ist dieselbe Norm also wie bei der Vorsehung. Auf die Andacht ist nun aber unser seelisches Gemeingefçhl, 76 welches wiederum, in diesem Zusammenhang ein eigentçmlicher Gedanke, von der Art des Wetters abhångig ist, nicht ohne Einfluû. Die Beschaffenheit des Tem | peraments entspricht der der Temperatur; der Geist ist klar bei klarer Luft. Dies ist der Grund, weshalb Rabba an einem Tage, an dem der Himmel bewælkt war, nie einen Buûtag abhalten lieû. Desgleichen erhålt Thr 3, 44 hierdurch seine Erklårung; weil auch die Sçnden keine rechte Innigkeit des Flehens aufkommen lassen, so kænnen sie an dieser Stelle mit einer Wolke, welche das Gebet gleichsam nicht hindurchdringen låût, verglichen werden. Dasselbe Bild liegt auch Jes 59, 2 zugrunde. 77 xeb uju vfktbe hofn armv eage vnffke lpf ¼ fnjuel sfht afef blb bftsf armn afe dfdl .armn xfulf tvon xful 75.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wjsghef wjdbkne vfmue jnjnpb dfp Yjtael juqn evrt alf .wjsjvp wjtbdef wjsfmp vfdfo we jk 76.
3 Das Wort juqn hft im hebråischen Text ist jedenfalls eine Ûbersetzung des
Plotinschen pne½ma t per tn vucn, das die Vitalseele bezeichnet, cf. enn. IV, 4, 18 f. und sonst. Vgl. auch Kus. II, 14 s. f. 77.
1 Siehe cod. hebr. Mon. 58 p. 69 sequ.: (Taan. 20b) vjnpv tgc al abjpd amfjb ebt ftmaf jfatk xffkl lkfj alf ljdbm Yom afef Yge tjfab juqne hfte vfkg jk xnpe wfjb tfbp lkue jk wpief vfnfpe jk (Thr 3, 44) elqv tfbpm Yl xnpb evko tma vldbm erjhm enfke lqfaf ebuhme vkuhf
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Mittelalterliche Popularphilosophie
Neben seinem transzendenten Zweck hat das Gebet noch den immanenten, daû unsere Vernunft durch dasselbe reine Formen in sich aufnehme 78 und sich so mit der Gottheit vereinige. Im Buche Hiob (22, 21) 79 heiût es deshalb: »Richte deinen Sinn auf Gott und du wirst vollkommen sein. 80 Von einem Gebete, das nur irdische Wçnsche zum Inhalte hat, gilt dies freilich nicht; ein solches heiût im Talmud »ein aramåisches«, und es wird von ihm gesagt, daû die Engel es nicht verstånden. 81 Durch die rechte Andacht hingegen werden wir den Engeln gleich. 82 Wir werden durch dieselbe çber alles Materielle emporgehoben, was der Psalmist | (91, 7) poetisch mit den Worten ausdrçckt: »Myriaden fallen zu deiner Rechten«; diese Myriaden bezeichnen nåmlich das Heer der fleischlichen Begierden. 83 Den Fingerzeig fçr diese Interpretation sieht Lewi in einer Bemerkung Schemajas, 84 daû der Rechten Gottes die Linke des Menschen entspreche, so daû dem Menschen zur Rechten die Sçnde, zur Linken die Weisheit gesetzt sei; diese Tatsache gebe Ps 16, 8, ebenfalls erst den rechten Sinn. Einer besonderen Besprechung hålt unser Autor das »kurze Gebet« Rabbi Elisers 85 fçr wert. Es schien ihm einer besonderen Erlåuterung bedçrftig, daû man zu Gott flehen solle, sein Wille mæge im Himmel geschehen, und daû dieser Wunsch in Verbindung ge(Jes 59, 2) wjldbm fje wkjvfnfp wa jk tma Zrfh xnp we. Die angefçhrten Verse werden More III, 9 auf die Hindernisse, die die Materie dem Geiste in den Weg legt, bezogen. Daû Lewi trotzdem dieses Kapitel des More vor Augen hat, zeigt der charakteristische Ausdruck ljdbm Yom, der auch zum Beispiel More III, 51 wiederkehrt. 78.
2 Vgl. More III, 51: fnjbf fnjnjb wjljdbme wjpnfme sjhtelf tjoel elqvf enhv aun wue laf. Die Annahme dieses immanenten Zweckes soll die alte Streitfrage læsen, ob der wahre Gottesdienst im Gebet oder in der Erkenntnis bestehe. Ûber diese Kontroverse vgl. Kaufmanns Attrib.: S. 405, Anm. 70. 79.
3 Dieselbe Interpretation im More III, 51. 80.
4 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: (Berach. 13b) vfaq uub fkjlmel jdk dhab Yjtael fffrf
wpik lpqb vfjel flku ljctjf wdae ttfpj elqvbf wpe xfme fupju Ytdk fuat pnpnl Ytirju alf xjmael tjpvf vftfeie vftfre wp btpvelf fatfbb dhavelf sbdel fbl xjkjf wluf fmp an xkoe .jvmae deaef tfmce xfmdsef lke dfoj Ytbvj afeuf fvam abj lkeuf fhkbf lab 81.
5 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: xjtjkm vtue jkalm xjau vjmda xfulb fjktr wda usbj la wpik jmta xful atsu afef wlfpe jktr vusbb ebte Yjtaj alu lªªt (Sabb. 12b) jmta xfulb vjmta vim lp bujl tfoa (Berach. 8b, cf. Pes. 112b): vjmta (vim lp) eim fbuv la wtma (vjmda vim lp buv la ¼ efr wjtbd ªd) (Berach. 8b). 82.
6 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: lpfqe lkub wdae sbdj vjvmae vnffkme elqvb jk pdf (Gen 25, 21) fl tvpjf xk lp vha ectdmb fmp bfujf. 83.
1 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wuem afeu lªªt Ynjmjm ebbtf Pla Ydrm lfqj ajbe egl ajlmq xjb wflu wjujf wem wflu fl xvjuf xjmje drb vfarmne vfjmune vffave jbtm (fnljrju) tgp eim lu ajlmql elpm lu. Cf. dagegen More III, 51 sub finem.
84.
2 Siehe Joma 53b. 85.
3 Siehe Berach. 29b und Jer. Ber. III, 7.
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bracht werde mit dem andern, Gott mæge den Frommen den Frieden im Herzen zuteil werden lassen. Lewi schwankt seiner Gewohnheit gemåû zwischen mehreren Erklårungen, ohne sich fçr eine derselben fest zu entscheiden. Die erste weist darauf hin, daû, da die Gestirne in ihrem Wirken unwandelbar sind, ein Unglçck demnach, das ihre Konjunktion herbeizufçhren bestimmt ist, unabwendbar bleibt, 86 die Menschen leicht der Verzweiflung anheimfallen kænnten. Da wird denn Gott angefleht, ihnen dennoch die Seelenruhe zu gewåhren, damit sie alles willig auf sich nehmen. In dem Bewuûtsein von der Unverbrçchlichkeit des Naturgeschehens sieht also unser Autor nicht einen Umstand, der die Ergebung in den gættlichen Willen erzeugt oder doch erleichtert, sondern einen, der sie leicht stæren kann. Seine zweite Auffassung geht davon aus, daû Gott, unbeschadet der Naturgesetze, den Frommen ihrem unheilbringenden Einfluû entziehen kænne und daû er ihn vor allem zufålligen Unglçck behçte. 87 Weil aber hierdurch im Menschen die Meinung erweckt werden kann, daû in Gott eine Willensånderung, mithin ein Leiden mæglich sei, betet der Talmudlehrer, Gott mæge den Gerechten Seelenruhe schenken, das heiût, sie vor jenem Irrtum bewahren. Als letzte mægliche | Erklårung wird es hingestellt, daû jenem Gebete der Gedanke zugrunde liege, daû wir oft nicht wissen, was fçr uns wahrhaft heilsam ist; deshalb sei es fçr den Frieden unseres Gemçtes das beste, daû Gott uns schickt, was er fçr gut hålt. 88 Hierdurch werden auch die Worte des sabbatlichen Tischgebetes erlåutert: »Mit deinem Willen schenke uns Ruhe«; sie bedeuten: »schenke uns Ruhe, die nach deinem Willen ist«, entsprechend den Worten der Tephilla fçr den Sabbatnachmittag: »eine vollkommene Ruhe, an der du Wohlgefallen hast«. Mæglich wåre es allerdings auch, daû »mit deinem Willen« den Sinn hat: »wie du uns durch deine Propheten kundgetan hast«.
86.
4 Vgl. hierçber die Ausfçhrungen auf S. 441 f., wo diese ganze Frage, inwieweit Naturgesetze um eines Frommen willen von Gott abgeåndert werden, behandelt wird. 87.
5 Siehe S. 442 Anm. 1. Vgl. More III, 51: ªfkf ehcuel ajbme xjnpe jk. 88.
1 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: fnvuj alf wjmub vsgh tua Yjvftgp Yjrqh wjluvu qªªpa Ytd wel xv fa wee vftgce xfrtb lbsl flkfju (Berach. 29b) Yjajtjl hft vhn xv wjbkfke vfhk Yrqh djmv xk jk egb vflpqef jfnu Yl cjuj alu fnpdjf wjtsmem wtmuf lgme wsjgj alu xjnpf xjhbel pdfn al vfbt wjmpq jk eup Yjnjpb bfie utql lkfn wc Yjnjpb bfie eupv wlfplf xfmdse .fna alf thbv eva xkl vmae jql fnl bfie afe em
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Mittelwesen 89 An die Lehre von Gott schlieût sich ganz sinngemåû die von den Mittelwesen an, und zwar zunåchst in Fortfçhrung des Themas, um zu zeigen, daû es verboten ist, dieselben anzubeten. Daû Gott durch Mittelwesen oder, wie sie als seine Beauftragten auch heiûen, durch Boten, Engel handelt, wird als unzweifelhaft hingestellt; biblische Beweisstellen sind zum Beispiel Gen 20, 13 (wjela jva fpve tuak), Deut 4, 19 (wva Yjela ªd slh tua) 90 und Deut 32, 8 (wjmp vlbc brj). 91 Aus Dan 10, 20 f. kænnte fçr einen, der nicht tiefer dringt, folgen, daû zwischen den Engeln Streit und Eifersucht herrsche, sie also mit eigener, unbeschrånkter Befugnis handeln; in Wahrheit wird aber in diesen Versen nur auf die Konstellation der Gestirne, von denen jedes sein Herrschaftsgebiet auf Erden hat, hingewiesen. 92 Die Mittelwesen haben tatsåchlich keine andere Macht, als die, welche Gott ihnen gibt, und keinen anderen Willen, | als Gott zu erkennen. 93 Sie anzubeten, ist Gætzendienst. Dieser Satz låût sich auch umkehren: Gætzendienst besteht darin, daû Mittelwesen religiæse Verehrung gezollt wird. Denn auch die Heiden glauben an Gott, ihr Irrtum besteht nur darin, daû sie meinen, auch den Engeln dienen zu sollen. 94 Jer 10, 7 u. 8 sowie Mal 1, 11 zeigen es deutlich. Auf den ersten Blick kænnte es hiernach scheinen, als verriete ein Wort im Segen Jakobs (Gen 48, 16) heidnische Anschauung. Hiergegen spricht jedoch die Tatsache, daû es sich um einen Segen und kein Gebet handelt, und sodann auch der vorhergehende Vers, in dem ausdrçcklich Gott angerufen wird. Die beiden Verse sind in ihrem Zusammenhange ganz nach Analogie von Gen 24, 7 aufzufassen. Sich an ein Mittelwesen zu 89.
2 Lewi behandelt zunåchst in einem Kapitel, das den Titel hat: ojnkel alu ªªq« »etrsb wjkalme vfajrm eatnf jprma, ganz allgemein die Annahme von Mittelwesen und dann in einem weiteren Kapitel ihre astrologischen Einwirkungen. Ûber diese Disposition vgl. auch Kaufmann Attrib. S. 38, Anm. 71. 90.
3 Ebenso Ibn Esra zur Stelle und More II, 5 sub finem. 91.
4 Siehe Ibn Esra zur Stelle. 92.
5 Ebenso Awraham ibn Daud, Emun. ram. II, 4, cf. Ibn Esra zu Deut 4, 19: tjpf tjp lkl lgm uj xkf lgmf pfdj bkfk wpf wp lkl. 93.
1 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wjbkfke lk dmpm eatfe lp tbd (sc. Dan 10, 20 f.) eg ftmak wejlp etfjf wsjghj lufmf tu emfaf jfc lk llk lp jk lakjmm Zfh latuj lp eptl wvfdpf ab xfj tu enef, cf. More II, 5. 94.
2 Cf. Ibn Esra zu Ex 20, 1: etg edfbpl wjtismf wjhbgm wef wub wjnjmam weu wjbt uj jk wjqvum st wub wjdfm ela enef ¼ wel fbjijj jk wjbufh weu wjmue vkalml wjtisme fmk tha fmp, cf. Mischne Torah: Hilch. Akkum I, 1 und More I, 36; Lewi folgt hier
fast wærtlich dem Maimonides, der auch die beiden von ihm angefçhrten Verse als Beweisstellen beibringt.
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wenden, wåre vællig unnçtz: weshalb einen Anwalt zwischen uns und Gott stellen, da diesem doch alle unsere Gedanken offenbar sind und eine Willensånderung in ihm unmæglich ist? Unsere wahren Fçrsprecher bei Gott sind unsere guten Taten. 95 Gott braucht auch niemanden, der ihn an etwas erinnert; denn dies wçrde ja auch voraussetzen, daû in Gott ein Gedanke neu entstehe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daû diese Ausfçhrungen eine polemische Spitze gegen die christliche Engellehre enthalten sollten. 96 Fçr »Engel« und »Prophet« kommt in der Bibel derselbe Name vor in Deut 18, 15, wie dies ein Vergleich mit Ex 23, 21 zeigt. 97 Auch | das Wort Ylm »Kænig« wird sowohl fçr den Engel als auch fçr den Propheten gebraucht. Die erstere Bedeutung ist gesichert durch Spr 25, 3; denn dieser Vers besagt, daû, wenn dem Weisen auch die Hæhe des Himmels und die Tiefe des Erdengrundes bekannt ist, ihm die Erkenntnis der Engel doch versagt bleibt. 98 In diesem selben Sinn wird das Wort auch angewandt, wenn Gott der Kænig aller Kænige (wjklme jklm Ylm) 99 genannt wird. Daû Ylm den Propheten bezeichnet, ist erwiesen zunåchst durch Deut 33, 5, wo unter dem Kænig Moses
95.
3 Siehe Awot IV, 11. 96.
4 Es sei hier bemerkt, daû Dawid Kimchi im liber radicum s. v. atj eine Erklårung seines Vaters zu Ps 130, 4 anfçhrt, die eine interessante Polemik gegen den Mittlerglauben darstellt. 97.
5 Diese Erklårung beruht auf More II, 34. Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: fnku uj (Ex 23, 21) fbtsb jmu jk wpif (Deut 18, 15) xfpmuv fjla tha wfsmb efru Ytdk ajbn Yalme va (Berach. 34a [V, 3] und Megilla IV, 9) Yfktbj tmfae fdma eg sjhtelu eatnf fmfctvk vfnjm Ytd eg jte wjbfi; bei dem Schluû des Satzes scheint Lewi den Gedanken vor Augen zu haben, den die Tossafot zu Megilla 25a s. v. Yfktbj aussprechen: fjbfi wje la tmflk vfjfut jvuk jghmd wfum jmn ja. ± Obgleich die LA. des Mçnchener MS. ajbn Yalme va fnku ujf sich vielleicht aus der angefçhrten Stelle des More rechtfertigen lieûe, so dçrfte es sich doch empfehlen, zu lesen: fnku ujf Yalm ajbne va, entsprechend Lev. r. zu 1, 1. Dafçr spricht auch More II, 41 sub finem: Yalm atsn wjmpq ajbneu und II, 42: ªfkf Yalm atsj kªªc ajbneuf ebenso I, 15. Durch diese Ønderung wird auch der talmudische Ausspruch in besseres Licht gesetzt. Fçr die philosophischen Grundlagen dieser Exegese vgl. auûer Schem Tow und Efodi zu More II, 34 noch Mischne Torah Jes. Torah 7, 1: dha ujal Yqejf wjuja wjatsne wjkalme vlpmb fuqn btpvv ¼ Einige Parallelen fçhrt Bacher, Bibelex. Maim., p. 68 n. 3 an. Zu denselben låût sich noch Ibn Esra zu Num 20, 16 hinzufçgen. 98.
1 fvtjshm trbv wjdtqne wjlkue vcue lba Ztae smfpf wjmue wft pdfju qªªpa. Das Wort Ylm wird auf die Intelligenz gedeutet von Pseudo-Maimonides: Maamar ha-Jichud sub finem, wo xjklm vfhml (Prov. 31, 3) mit wjlku jdjoqml çbersetzt wird. Bacher, Bibelex. Maim., p. 159 n. 2 fçhrt als Quelle Abulwalid an; es sei hinzugefçgt, daû Dawid Kimchi: liber radicum s. v. Ylm diese Erklårung mit dem aramåischen Stamm Ylm »denken« begrçndet. 99.
2 Malchujot fçr den Neujahrstag. Vgl. Kusari II, 2 und More II, 6.
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zu verstehen ist, 100 und ebenso erhellt es aus Spr 8, 15. Dementsprechend kann auch in Spr 24, 21a unter dem Kænig der Prophet verstanden werden. Mæglich ist es aber auch, daû hier der Engel gemeint ist, und die zweite Hålfte unseres Verses wçrde dann vor denen warnen, welche die Ehrfurcht vor den Mittelwesen so weit ausdehnen, daû sie ihnen gættliche Ehren zuerteilen. 101 Dies sind die zwei scheinbaren Gegensåtze, die unser | Autor miteinander zu versæhnen sucht: an die Mittelwesen glauben, aber sie nicht anbeten. 102 Das Verbot des Engelkultus, das bei Maimonides, der in den Låndern des Islams wirkte, zurçcktrat und zurçcktreten durfte, muûte in der Religionsphilosophie seines provenzalischen Jçngers eine hervorragendere Stelle einnehmen. Die philosophischen Grçnde, die fçr die Annahme von Mittelwesen angefçhrt werden, sind die alten aristotelischen, durch den Neuplatonismus weiter ausgebildeten, denen Awraham Ibn Daud zuerst entschieden Eingang in die jçdische Religionsphilosophie verschaffte: Aus der absoluten Einheit Gottes kann nur eine einzige Bewegung emanieren; die Mannigfaltigkeit und der Wechsel des Naturgeschehens kann aus Gott nicht abgeleitet werden. Der reine Geist vermag auch nicht auf die Kærperwelt zu wirken, denn sie wird nur durch materielle Berçhrung beeinfluût; schon aus Grçnden, die in der Natur der Materie liegen, ergibt es sich, daû Gott sie nicht direkt bewegt. 103 Es sind dieselben Schwierigkeiten, die einst zur Annahme des Logos genætigt hatten, die jetzt mit dem erneuten Eindringen griechischer Philosophie ins Judentum notwendig wieder 100.
3
101.
4
Ebenso Ibn Esra zu Deut 33, 5. Die Quelle ist Tanchuma zu Yvflpeb cp. IX: .ªfnf jejf ªnu Yjvjup Ylm Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wp alf vfjjnuef Pfvjue jnjmam wp btpvj alu ftjege
eatjl Yvjfjru qªªpa btpvv la wjnfu wpf tmaf lae la btsvj egbu fbuhb fedbpjf enum femjuju ªfnf wjnfu wp wnma (Ex 23, 21) Yalme jtbdm. Das gleiche enthålt eine Randglosse des Buches hmse dk von Bachja ben Ascher I, 97a (ed. Lemberg): wjnfu wpf tha xjnpf uflue jnjmaml xjde afef vfjjnue jnjmam wef wjqvvume wp. Die gemeinsame Quelle ist
im Tanchuma wohl zu finden, aus dem die Erklårung auch in den Aruch s. v. at II çbergegangen ist; Tanch. a. a. O.: xeu xjtmfau xvfa wpf ªfkf wjnfu wpf btpvv la wlfpb vfela jnu. Ûber Pvu vgl. Sukka 45b: tspn tha tbdf wjmu wu Pvume wlfpe xm sowie Kus. I, 76 und More I, 35 n. 60; çber vfjjnu vgl. Kus. IV, 3 und More I, 75. 102.
1 Ebenso bei Awraham ibn Daud: Emma rama II, 6. 103.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wjupme jfbjt wjkalme vfajrm lp fdjmpeu emmf
dfpf elfpqe xm dha xjm st tdfoj al dhae xm jk wjjprma wjlpfq lp wjdjpme wlfpb wjqlhvme bktfme Pfcef jhtkee jnhfte ifuqe tbhl jfat xja jk dfpf djmv wfj lkb wjjfnuef vflfpqe udhve tdoe lulvuj al wlfplf vflpqef lpfq ufumb wa jk eufp eje alf jtmh hjtkeb wc jtuqjae Ytdk wlfpe jajsb fhjneu enfkvef tave jqk wa jk jfbjte pjcm eje alf wlfpb wjatne ectdef (Berach. 58a) eptad avfklm xjpk apjstd avfklmf fntdou.
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auftraten und die alten philonisch-neuplatonischen noera dunmei@ wieder auferwecken muûten. Dem Rationalismus bot diese Doktrin ein weites Feld. Da er geneigt ist, in jedem Menschenglauben einen Strahl gættlichen Lichtes zu sehen, durch allen Gætzendienst hindurch den Schein alter Erkenntnis zu erblicken, so boten ihm die Sphårengeister ein bequemes Mittel, um auch im Heidentum ein Wahres zu erweisen. So ist der »Gott des Landes« 104 fçr unseren Autor nichts anderes, als das Gestirn, welches çber das Land herrscht. 105 Denn jeder Stern hat sein bestimmtes Gebiet, çber das hinaus er aber nicht wirken kann, ein Gedanke, den Ibn Esra oft ausspricht 106 und der dann | besonders nachdrçcklich von Gersonides betont wird. 107 Man darf hierbei jedoch nicht an die landlåufige Astrologie denken; es handelt sich vielmehr um Hypostasierungen bestimmter Seiten und Mittel des gættlichen Waltens und des natçrlichen Wirkens. 108 In welchem Maûe dies gilt, mag daraus ersehen werden, daû Lewi anråt, dem »Gott des Landes« zu gehorchen, und als bemerkenswerte Beispiele solcher »Verehrung des Landesgestirns« anfçhrt, die Apulier und Sizilier (ajjljrjuf ajjlfq juna) pflegten zu jeder Mahlzeit Lauch (oqtk), und die Marokkaner (usftm juna) am Morgen Rettich zu essen (xfnr). Der Einfluû des Gestirns ist also hier, und das ist ein bezeichnender Rationalismus, nur ein anderer Name fçr Klima und »Verehrung des Landesgottes« ein Ausdruck fçr die Anpassung an die klimatischen Verhåltnisse. In diesem eigentçmlichen Sinne wird es von ihm erklårt, weshalb die Samaritaner starben, bis sie »die Weise des Gottes des Landes« 109 beobachteten: sie konnten im Lande erst leben, als sie die klimatischen Verhåltnisse desselben zu berçcksichtigen anfingen. Auch der »Gott von Vælkern«, in dessen Hand der Herr den Pharao und Øgypten geben will, 110 ist in gleicher Weise aufzufassen. Ûber diese gewissermaûen naturkundliche Bahn astrologischer Doktrin geht dann Lewi aber hinaus, indem er in Form einer planetarischen Prådestination die Gestirne auch auf den menschlichen Willen einwirken låût. Er kommt so zu einer Art von Determinis104.
3 Deut 31, 16. 105.
4 Ztae jela atsne eb lufme lgme hk. 106.
5 Siehe oben S. 437 Anm. 5. 107.
1 Milchamot, letzter Abschnitt passim. Maimuni nimmt ein kausales Verhåltnis zwischen den Sphårengeistern an. 108.
2 Lewi hat folgende Formel: wejq lp wjcenvmf wjnfjlpe wjqfcl wjtbpfum wjlque wjqfce. Es sei hier bemerkt, daû er die Zahl der Gestirne auf bªªktvv berechnet. 109.
3 II Kæn 17, 26 ff. 110.
4 Ez 31, 11.
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mus; 111 Ibn Esra hat hier den Sieg çber Maimonides davongetragen. 112 Die absolute Unverbrçchlichkeit der in den Gestirnbahnen zum Ausdruck kommenden Naturgesetze wird mit groûer Entschiedenheit festgehalten. 113 Um keines Menschen willen greift Gott in sie | ein; das einzige, was seine Providenz fçr den Frommen leistet, ist, daû sie ihn dem Machtbereiche des unabwendbaren Naturereignisses entzieht. 114 Die Elemente dagegen wandelt Gott zu Zwecken der Vorsehung um, denn unter dem Monde gibt es keine ewigen Gesetze. 115 Es ist eine Auffassung, wie sie åhnlich spåter von Gersonides vertreten wird, daû es nåmlich nur in der sublunarischen Welt Wunder gebe, nicht aber im Reiche der Sphåren. 116 Das Leben kann infolgedessen auch durch die græûte Fræmmigkeit nicht çber seine natçrliche Grenze hinaus verlångert werden; bloû vor einem plætzlichen Tode, wie ihn Lasterhaftigkeit herbeizufçhren pflegt, bleibt der Gottesfçrchtige durch seinen Wandel bewahrt. 117 Wenn daher dem Kænig Hiskia verheiûen wird, daû seine Lebenszeit verlångert wer111.
112.
Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wjnfjlpe xm epjnm vrs fa tgp uj wjjthbe wejtbtb wc (Koh 3 8) ªfkf bfeal vp emlu tkgu em xjnpk tuqjae jslh jnum eg ja tfhbl fdjb uju qªªpaf
5
wejbkfk vfje eg vbof ebeae vjlkvb eg va eg fbeaju wjsfht wjuna jnu fdlfj wjmpq jk lªªt .htfmc ebea ibm lp fjef hkb wjmdvm
Ûber Ibn Esras Ansichten siehe seine astrologischen Exkurse zu Ex 9, 15 ff. und zu Ex 39, 19, die çberhaupt zu unserem ganzen Abschnitt zu vergleichen sind. 113.
7 Bei Ibn Esra hat dieser Gedanke nur die Form, daû die Gestirne ihre Bahn nicht åndern kænnen, die ihnen Gott vorgeschrieben hat, siehe zum Beispiel Einleitung zu Ex 39, 19: fl xvnu she wem dha tfbpjuf wktd vfnul wjvtume flkfj al enef
6
.wue vfpte xm fpjufel wlue bboj afeu. Lewi folgt hier Ibn Esra, siehe diesen a. a. O.: ejeju wjbkke hkm xfjlpe hk fetmuj wa Zfh fntsj xk fvdlfm jbkk vktpm jqk fjlp tgcnu em ¼ ¼ ;fkf lum Yl xvaf vftgcem lrnj ga fb sbd; vgl. besonders die folgenden beiden
114.
1
115.
2
116.
Gleichnisse Ibn Esras. Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: fjatj Ytfrl djmv atfbe enuj wem efevmef vfdfojb lba
lbcfm wnjnp xja jk eg vlfgf etjrpf time vdjtjk fvmkh etgcu em jqk wjatfn wjalq web udhjf ejej wfhe fa tfse fa time vatfe lp iqume jk wc wjbkfke vktpm jql djmv tdo lp Yl fje alf ajee vpb tjfae vnfkv jqlf fjvo fa Zjs eje wa xmge jqlf Ztae jql. Dasselbe dçrfte wohl auch ausgesprochen sein von Efodi zu More II, 29: tha vftdfome vfjktpme vfboe vuum vftdfom tbk we djvpb ftsjuf fabju vfjktpme wee vfboef vftdfom vflbcfm vfpfnv .vjuatb jmj
Lewi wie Gersonides waren hierdurch gezwungen, das Wunder des Stillestehens der Sonne (Jos 10, 12 ff.) wegzudeuten, nachdem es schon More II, 35 stark rationalisiert worden war, cf. Spinoza tr. th.-pol. I: multi, quia nolunt concedere in coelis aliquam posse dari mutationem ¼ 117.
4 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: fljpfj alf ¼ jdfoje vfhle wfjsbf lgmb jflv wjmj vktae vffave tha Yumj alf lkue jqk cenvjf ekgju jm ¼ fhkbu emm sgh tvfj vfjel vfrme vfkg ..lgme fjlp etfj ªjqa vjtsm evjm vfmj alf fngm jql fl xkvju em lk fvtjmuf fvcene jbfib ejej
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de, 118 so will dies nur besagen, daû ein vorzeitiges Ende von ihm abgewendet sei und er das weitere Ziel, fçr das seine kærperliche Beschaffenheit ausreicht, in der Tat erreichen werde. 119 Diese Konsequenz unterscheidet sich von der Ansicht Ibn Esras, daû die Seele auf den Leib lebenfærdernd einwirken kænne, 120 wie denn dieser çberhaupt annimmt, daû die menschliche Vernunft dadurch, daû sie sich zur Stufe der | Mittelwesen erhebe, in das physische Geschehen einzugreifen vermæge. 121 Seinen Voraussetzungen gemåû, sieht dann Lewi auch im »Gebet fçr die Kranken« nur den Ausdruck des Wunsches, Gott mæge die menschliche Natur sich ausleben lassen und sie vor Zufålligkeiten behçten. Er beruft sich hierfçr auf einen Ausspruch Alfarabis, daû bei der Heilung, ganz wie bei der Schiffahrt und dem Ackerbau, nicht vorherzusehende Momente eine groûe Rolle spielten; deshalb habe hier die Providenz ein weites Feld. 122 Eine weitere Schwierigkeit, die seiner naturwissenschaftlichen Ûberzeugung in den Weg trat, war die talmudische Ansicht, daû Israel keinem planetarischen Einfluû unterworfen sei. Er nimmt hierbei wieder zu den kontingenten Geschehnissen seine Zuflucht. Aus deren Machtbereich kænne wohl Israel sich erheben, dadurch, daû es infolge geistiger Vollkommenheit in den Bereich gættlicher Vorsehung trete, 123 nicht aber ein heidnisches Volk, das alles dessen nicht teilhaft ist. Biblische Beweise hierfçr sind u. a. Deut 32, 9 und Jer 10, 16, Stellen, die den Versen Deut 4, 19 und Deut 32, 8 gegen118.
5 II Kæn 20, 6. 119.
6 flu atsj fvfldvue lkb vfnsl wdal tuqjau em lk jk ¼ fl fqjofe flum. 120.
7 Siehe Ibn Esras Excurs zu Ex 23, 26: lfkju pfdj xmgf bfrs xmg uja lkl jk fnpdj enef wdae ejej gaf emune hkb ehlef wfhe sghj wub sbdef ¼ vfdlfve ehlef wfhe bft jqk vfjhl .bfrse xmgem tvfj 121.
1 Vgl. zum Beispiel Ibn Esra zu Ex 3, 15: wjkalme dfob dfmpv emune wkhv waf und Excurs zu Ex 6, 3: ¼ lque wlfp vfdlfv vfnul eum lfkj eje xk lp ¼ sowie zu Num 20, 8: wjvqfmf vfvfa lkb udhjf lkb sbdj lke va slhe pdj tuak jk pd. Ûber die Quelle dieser Anschauung, die dem Propheten eine Art »Laplaceschen Geistes« zuspricht, siehe Efodi zu More II, 29 sub finem § p und besonders Schemtow ben Falaquera zu ebendiesem Kapitel, letzter Abschnitt. Die Quelle ist Avicenna. Vgl. auch Kaufmann, Attrib., S. 204, Anm. 181. Gersonides bekåmpft diese Ansicht im sechsten Abschnitt der »Milchamot«. Vgl. S. 435, Anm. 6. 122.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: fnljrju lal elqv st wjmj Pjofel enja wjlfh vktb eafqte vfkalm [trnfba tjkgeu] trnfba tkgnu fmk pbie ejlrj laeu elqv ajef vjtsm evjmm al elam dha lk jk wvlfpq jql djmv vklfe wvjlkv ejevu bjfhm fnja emdae vdfbpf vfhlmef .fvkalmb hjlrj vfupl jfate lk eupju tuqja xk lp dbl dha lpqm wluj 123.
3 Vgl. oben S. 441 f., auûerdem Ibn Esra zu Deut 4, 19: elfdc elpm latuj wu wuef wue vlhn latuj enef wel bkfk alf wrpfj wue vfjel; cf. Ibn Esra zu Ex 23, 26: wvrftmbf lbsn al tfmun wa enef wdj lp fkqef tbd lque wlfpe jnb flbsj, cf. Ibn Esra zu Deut 32, 8.
Zur Sache vgl. More III, 51.
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çberzustellen sind, 124 und von denen der letztere anzeigt, daû es ebenso viele Vælkergestirne gebe, wie Ståmme in Israel. 125 Als die | Israeliten das goldene Kalb anbeteten, waren sie der falschen Meinung, daû sie der Fçhrung eines Gestirnes, und zwar des Stieres, 126 selbst dann bedçrften, wenn sie Gott verehrten und in seiner Vorsehung stånden. 127 In der teleologischen Beurteilung des Verhåltnisses der Mittelwesen zum Menschen steht unser Autor ganz auf maimunischem Boden; der anthropozentrische Standpunkt ist in der Frage nach dem Zweck der Welt von ihm vællig aufgegeben. Mit Maimonides nimmt er einen doppelten Zweck jedes Wesens an, den immanenten und den transzendenten. 128 Der letztere besteht bei Pflanzen und Tieren darin, daû sie den Menschen nçtzen sollen, 129 und bei den Menschen wiederum darin, den reinen Formen sich darzubieten. 130 Hieraus ergibt es sich, daû die Mittelwesen nicht um des Menschen willen existieren, sondern umgekehrt. Daher besagen die Worte des Schæpfungsberichts, nach denen die Sonne der Erde leuchten soll, nicht, daû dies der Zweck sei, fçr den sie geschaffen wurde, vielmehr 124.
4 Diese Stellen waren auûer von Ibn Esra auch von Maimonides bereits in diesem Sinne gedeutet worden, siehe Mischne Torah, Hilch. Akkum, II, 1 und More II, 5. 125.
5 Dieselbe Bemerkung findet sich bei David de Pomis, de medico hebraeo, praef., sowie in umgekehrter Form bei Bachja ben Ascher zu Ex 7, 4: bfvke ats vflgm bªªj dcnk wjibu bªªj wjlclce abr dcnk weu jql jvfabr latujl. An keiner dieser Stellen ist es im Namen des Talmuds angefçhrt, in dem sich die Quelle (Berach 32b Mçnchener Codex Dikd. Sofr.) findet: dcnk wjmub jvatb vflgm bªªj ¼ eªªbªªse tma .wjibu bªªj 126.
1 Vgl. Ibn Esra zu Ex 32, 1: evje wjnfjlpe jnul elfdce vtbhme jk ftma vflgme jmkhf .latujl lgm afe vflgme vmkh Ytd lpf jld lgmb st evje al jk bgk egf tfu lgmb 127.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: fvtfvf fvfrm fupju lªªt (Sabb. 156a. f.) latujl lgm xja jk (Jer 10, 2) fvhv la wjmue vfvfamf ftmak wjjtsme wjtbde xm fefljrj ehcueb tabnu fmk (Deut 4, 19) Yjela ªd slh tua ftmak wejlp ilfue bkfke ek jqk wvflquf wvfklmf vfmfae vfmfae wejlp wlufmu vflgme lªªt wvfa (ibid. 32,8) latuj jnb tqoml wjmp vflbc brj tmfaf slh lba wjibue tqomk bªªj we (es ist wohl zu lesen: vflgme wejlp wjlufmu vfmfae) afe lke trfj jk bspj slh elak al tmfa afe xkf (Deut 32,9) fvlhn lbh bspj fmp ªd (Sabbat a. a. O.) ebjsp ªtf lafmub wjtkgne wjupme lk ftfj xkf (Jer 10, 16 und 51, 19) lgm xja fvpd eje lfdc egfh ejeu qªªpa lafmu wc vfboe jqsfm jvlb wjtsme wjnjnpb wlfk jk wvpd evje tuak Yalm jq lp fncjenj alf lgme jq lp fnjnp aej alu wuem usb eumf latujl ªfnf wjklfe Yjnq xja wa tmau fegf ehcuee jqk fnjnp ejej lba tfu vjnbvk lcpe wvfupb fnjlp lgme lumu dp laem fnshtl fvfkjtaf fnvflc vbof (ibid. 33, 16) ªfmf pdfj embf (Ex 33, 15) wjtrm vflcl wpi em xk al waf tmhe pjnkel ebo vflce wc.
128.
3 More III, 13 f. 129.
4 ibid. 130.
5 Cf. ibid.; nach Maimonides ist die Gottesverehrung jedoch nicht der Zweck des Menschen, um dessen willen er geschaffen wurde, sondern nur seine ethische Bestimmung.
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geben sie nur an, welchen Nutzen die untere Welt von ihr haben solle. 131 Eine Reihe von Agadot, die scheinbar den Menschen fçr den Zweck des Alls erklåren, ist da | hin zu verstehen, daû sie in Wahrheit nur die sublunarische Welt im Auge haben. Der Ausspruch, daû der Mensch so viel wert sei, wie die ganze Welt, will ihn nur als Mikrokosmus charakterisieren und widerspricht deshalb der philosophischen Wahrheit nicht. 132 In der Polemik Ibn Esras gegen Saadia, die Frage betreffend, ob das Behçtete bedeutungsvoller sei als der Behçtende, 133 stellt sich Lewi demgemåû auf Ibn Esras Seite, der in verneinendem Sinne entscheidet. Nach Lewis Ansicht sind Bibelverse, wie Gen 28, 15 und Ps 121, 4 vællig ausschlaggebend. Falsch ist fçr unseren Autor auch der Beweis, der von gegnerischer Seite aufgestellt wurde, daû an jedem Dinge dasjenige, was sich in seiner Mitte befinde und so am meisten geschçtzt werde, das Wertvollste sei, wie zum Beispiel der Kern an der Frucht. In Wahrheit ist die Frucht, als das Wirkliche, dem bloû Potentiellen gegençber das Kostbarere. Das Herz, auf das Saadia sich ebenfalls berief, ist nicht, weil es das edelste Organ ist, in die Mitte des Kærpers gesetzt, sondern damit alle Glieder von ihm gleichen Nutzen haben kænnen. 134 | Um seine These zu erhårten, weist Lewi sodann auf den Sprach131.
6 Nach More III, 13. 132.
1 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: lp farme afe xjm lkb xfuate vjlkve jk jvtajb tbk vqjdkf ejfee Yumef xjmb xkvju bfie [la] [fçr vqjdkf dçrfte vcfkf zu setzen sein; der Sinn des Satzes wåre dann, daû der erste Zweck jeder Art die Erhaltung der Art ist, und der Zweck der Erhaltung wiederum, mithin der zweite Zweck, der, daû sie dazu dient, die Art ein auûer ihr liegendes vernçnftiges Ziel erreichen zu lassen; fçr die Beurteilung des Satzes vgl.: Anatoli: Malmad p. 52a: vfevel tuqjau em vjlkv fnmm efevjuk wue xfrtl ejeu doqeef ejfee vdmve. .]
vjlkvb bfi vfajrme jk eupml vfarfe armel xkvju eml vfajrme vtgc emkhe jk vfajrme cufju wef wjkalml vfmdelf vftfeie vftfrb btpvelf btsvel wdae vjlkvf wdae Ytfrl wjlque vbue enfke dr lp afe wnma egf lae xfrtb vfbfie xm fjla fpjcju emf wvlfpq drm wdal wvfajrm lp tjael tmau emf doqnf effe afeu wdae tfbpb wjdmfpe wjnfjlpe fatbnu eljlh jk [vjnue] wem [vpcme] pjcme vlpfve lp tfqo afe (Gen 1, 15) Ztae [der Satzteil: tfqo afe wem vpcme vlpfve lp ist wærtlich aus More III, 13] wdae wnma vjnue enfke lp wjlqub (Gen. r.) Ztae lp ala fnja wda lu fnfjbr lk tªªbb ftmau fmk wnfjbrf wvjlkvf wjlque tsp afe (cp. 10, 10c, zu beachten, daû in einzelnen Ausgaben das Wort ala fehlt) egl vffrl wa jk xjnpk lque wlfpe lªªt (Berach. 6b) eg ljbub ala atbn al wlfpe lk ftmau emf (ibid, und Sabb. 30b, zu beachten ist, daû manche Ausg. fçr vffrl lesen: vfbrl; letzteres auch LA: des Aruch) wlue ajrmel pbi vfjel xjffee vfajrmb enfkeu lªªt jk lªªt (Abot di R. Nathan 31.) flfk wlfpe lk dcnk eg lfsu tmau jmf fjktr fl ajrmelf .xis wlfp atsn egl lquf xfjlp armn lk vllfk wdae vbkte
133.
2 Ûber diese Kontroverse siehe M. Schreiner, Der Kalam in der jçd. Lit., p 14 n. 5 und 8. 134.
3 Ûber die physiologische Seite der Frage vgl. Kaufmann, Die Sinne, p. 62 ff.
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gebrauch hin, der das Mittelwesen als etwas Hæheres bezeichne, sowie auf die Tatsache, daû die Ursache ihre Wirkung an Wesensinhalt çbertrifft. Hiergegen, so fçhrt er weiter aus, kann auch nicht eingewandt werden, daû der Mensch, welcher die Vollkommenheit sich erst erringen mçsse, sittlich hæher stehe als der Engel, dem sie angeboren sei; 135 denn bei diesem Einwurf wird çbersehen, daû ein notwendiges Gut objektiv weit hæheren Wert hat als ein kontingentes, erworbenes. 136 Schon die Tatsache der Ûbel, welche durch die Gestirnbewegung erzeugt werden, 137 widerlegt es, daû die Gestirne uns dienen; es ist ausgeschlossen, daû etwas, das fçr uns schlimme Wirkungen herbeifçhrt, um unseretwillen besteht. 138 Freier Wille Das auf die Darlegung der Sphårenwelt folgende Kapitel widmet Lewi ben Awraham ganz systematisch der Frage nach der Stel | lung des Menschen im Weltganzen. Er beantwortet sie durch Berufung auf die Ansicht Batlajusis und Gazzalis, daû, wenn die Linie der Reihenfolge der Wesen zu einem Kreise umgebogen gedacht werde, der Mensch in demselben die Stelle einnehme, wo die beiden Enden je135.
1 Siehe Schreiner a. a. O. 136.
2 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: jprmaf vfkjab jprma wjnjnp eulu lp tmaj jprma jk dfpf
137.
lp etvj eboe vlpm jk pfdjbf elpme tsj dha lk wfsmb jprma tmajf jprmae thbn elamf vfdmb vfajrmb wdae xm wjdbkn wjnfjlpe jk tftbf jflc tbde eglf flpqm tvfj dbkn lpfqef bbfome vlpm fubkf fvftjhb drm abv wdae vsdr jk wvfatb egb wjtbdme epieu emm dhau eatnf dfbkf elpmf xjnp we lba web ilfu pte trj xja jk vjpbi wvlpm wjkalme lba dam ebte etku eglf ftrj va wjlclce xm Pa bfvkb vtafbm wvfpjtc enef jtuqae lp bjjfhme vlpm xftvjb [ftpu] ftau alf wjjs alf htj dp xe tmaf (Ps 8, 4f.) fntkgv jk ufna em tma ªjcf Yjmu eata jk tmau tha jk wjbkfkef lfdc afeu jm fntfbpb ejej Yjaf (ibid. 15, 16) ªfcf hlanf bpvn jk Pa (Hiob 25, 5f.) ªfcf ljeaj tjame Ygef edfsne tfbpb tfdkef Psfme tfbpb Pjsme ejejf clqfme ldfcbf wfsmbf elpmb fnmm .tmfhe tfbpb [etfref] atfnef Yfuhe tfbpe tfbpb
Der Ausdruck im hebråischen Text, daû die Sterne uns »Bæses zufçgen«, ist nicht wærtlich, sondern nur als Ausdruck der objektiven Tatsache zu nehmen. Unser Autor steht jedenfalls auf dem Standpunkt Ibn Esras, der fçr das gesetzmåûige Wirken der Gestirne den klassischen Ausdruck hat: ptel frftj al wktd ekk st bjijel fa (Exc. zu Ex 34, 1); ibid.: fptj alf fbjijj al und zu Ex 23, 26: .ptel fa bjiel fatbn al 138.
4 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: [wjnfsf] wejnfsf lae xfrtb fnvfa wjcjenm wjbkfkef wjmue etfr wel wjmuef tmfhf dfojk Ztae vfjef Ztae [lp] la wjmue vlpmlf epfnvef hkef vfjhe fnl emmf tabveu fmk enfbvm eiml emkh jk (Spr 3, 19) enfbvb wjmu xnfk Zta doj emkhb ªd tma
3
vrsm wlfpb doqeef pte bjjhve eatnu em fnljpfelf fnvtul fatbn weu tmfae vpd jql tfvoju wjsjgm wjtbd emk farmj jk wc wdal wjpjtmf wjsjgm wjbkfk vrs vfjemf vktpme vfpfnve jdjm wmrpl farmn wnma wjlclceu vhtkm vpde xk lp doqeef ejfee pbil fbjjhve vlpfve jpfdj jvlb ajee vpb lclcvjf xmdgju em jqkf fpbi jqk dha lk wem flbsj wjlquef whk jql wjlpfq wef .wvlpqf wvpfnvm
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ner Linie zusammenkåmen. 139 Die unteren Lebewesen, so erlåutert er dies weiter, sind notwendig rein vegetativ, die oberen notwendig rein intellektuell; das Wesensresultat des Menschen ist dagegen kontingent, ihm ist der freie Wille gegeben, sowohl der ewigen Erkenntnis 140 teilhaftig zu werden als auch in der Materie zu versinken. 141 Gåbe man dies nicht, so wurden Gebote, Lohn und Strafe widersinnig. 142 Weder die gættliche Praescienz 143 noch die Naturanlagen des Menschen heben die Wahlfreiheit auf; letztere kænnen nur den Entschluû erleichtern oder erschweren. 144 Kraft und Vermægen zum Handeln stammen von Gott, die Willensrichtung liegt dagegen im Machtbereich des Menschen. In der biblischen Beweisstelle Deut 30, 15 bezeichnet der Gegensatz »gut« und »bæse« die ethischen (vfjupm vfrm), »Leben« und »Tod« die dianoetischen Tugenden (vfjlkue vfrmef epjdje) bzw. Fehler; in der talmudischen, welche besagt, daû alles in Gottes Hand sei, mit Ausnahme der Gottesfurcht, werden durch die | Gottesfurcht die freien Willenshandlungen bezeichnet. 145 Der Ansicht des Maimonides, daû hier die Einschrånkung gelte, daû eine groûe Sçnde die Reue und Umkehr unmæglich mache, 146 schlieût er sich nicht an. Ihm erscheint es gebotener, anzunehmen, daû dies dem gættlichen Wesen widerstrebe. Wenn es nun trotzdem zum Beispiel heiût, daû Gott das Herz des Pharao verstockte, so ist dies dahin zu verstehen, daû Gott, 139.
1 Die Stelle ist nicht aus Gazzali, sondern aus Batlajusi, siehe Kaufmann, Die Spuren Batl.'s p. 42 f., besonders p. 44 n. 2, sowie auûer der hier, Anm. 3 angefçhrten Stelle noch das Bild bei Kaufmann, Text p. 25. Lewi ben Awraham fçhrt Gazzali und Batlajusi an, da Gazzali das erste Buch der »bildlichen Kreise« in seine »Gedankenwaage« hinçbergenommen hat. 140.
2 Es sei hier bemerkt, daû Lewi, wie dies auch bei anderen çblich ist, jhrn als aeternus a parte post und xfmds als aeternus a parte ante regelmåûig anwendet. Siehe zum Beispiel Schemtow zu More II, 27: xfmds eje xk jhrn afeu fmk. 141.
3 Vgl. Cod. hebr. Mon. f. 84a: elfcpe Pfo afe jk wjlquef wjnfjlpe xjb jprma wdae ege vflkvueb vfarmne fje fnful egf wjnfjpe jngam tqobf vflfcpe jtqob armnu fmk (e)fvjuatf kªªp evjuat la bfuj tua elfcpe Pfo wdae ejef ejvfrs jnu fucqnu dp elcpveu elcpk. (Siehe Batlajusi: vfjnfjpte vflfcpe ªªo ed. Kaufmann p. 10, Z. 12 ff. Der dortige Text hat folgende Abweichungen: pro elcpveu elcpk legit elcpve elcpk; pro fucqnu dp leg. fsbdn tua dp; pro bfuj tua leg. bfuv tua) tusj wau vftuqab fnjnp hnfe ¼ eim eim dtj tmfhe pbie tha Yumnf (Eccl 3, 11) fblb wlfpe xvn waf jhrn ejej wjlkue wp . ± vjllk etjhb fl xvn jk eatj enemf 142.
4 Cf. Mischne Torah: Hilch. Teschuwa cp. Vf. 143.
5 Cf. a. a. O. und Schemona Perakim c. 8. 144.
6 lfdn jufsb vrsf lsnb eg eupj wjuna vrsu ala cf. Ibn Esra zu Ex 23, 25. 145.
1 Vgl. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wjmu vatjm Zfh wjmu jdjb we wjjpbie wjtbde lk wjtjhbe wjtbde llfke (Berach. 33b). 146.
2 Maimonides: Mischnakommentar: Schem. Per. cp. VIII und Hilch. Tesch. VI, 3 f.
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weil er die erste Ursache alles Geschehens ist, alle Handlungen des Menschen so zugesprochen werden dçrfen, als veranlaûte er sie; deshalb haben die erwåhnten Worte keinen anderen Sinn als die auch bisweilen gebrauchten: »das Herz des Pharao war hart«. 147 Von den exegetischen Bemerkungen, die unser Autor zu diesem Kapitel macht, seien nur wenige angefçhrt. Die Konjunktion xpml ist, im Gegensatz zum finalen tfbpb, konsekutiv, demgemåû besagt Ps 130, 4, daû das Versæhnen die Voraussetzung und Veranlassung der Gottesfurcht ist; ebenso ist Deut 29, 18 dahin zu erklåren, daû sorgloser Wandel es zur Folge hat, daû die Begierde die vernçnftige Seele ins Verderben reiût. 148 ± Als Grund, weshalb fromme Leute barhaupt (uate jflcb) zu sein sich scheuen, gibt er an, daû, da Gottes Herrlichkeit die ganze Welt erfçllt, 149 sie sich çberall im Gotteshause wissen. ± Zur Charakteristik unseres Autors sei noch bemerkt, daû sich ihm die Annahme, Salomo sei nicht ein Prophet gewesen, daraus erschlieût, daû im Midrasch die Prophetie, nach der Strafe des Sçnders gefragt, mit einem Verse des Ezechiel, die ihr gegençbergestellte Weisheit mit einem Spruche des Kænigs Salomo antwortet. 150 | Schæpfung Nachdem das Wesen Gottes und die Naturgesetze klargelegt sind, bleibt es noch çbrig zu erærtern, welcher Art die Existenz der Welt ist. Gott hat die Welt, wie der Prophet Jesaja es sagt, durch fçnfzehn Prinzipien geschaffen, 151 durch die zehn reinen Formen und die fçnf Grundstoffe. 152 Wenn es Gen 2, 4 heiût, daû Gott die Welt durch fçnf schuf, so sind dort nur die materiellen Mittel ins Auge gefaût, ganz wie andrerseits im Ausspruche der Weisen, das All sei durch zehn Worte entstanden, nur die immateriellen Ursachen berçcksichtigt 147.
Vgl. Cod. hebr. Mon. f. 85b.: (sc.: die Ansicht Maimunis) ege vpde lp slfh ujf (Ex 9, 12 etc.) eptq bl va ªd sghjf ftmaf wlfpl ebfuve (vfhml) eiml fsdrf lae tufjm xja jk
3
armv xk lp vjllke etjhbe pbie afef lkl enfuat ebo evfjel lae hkl wjohfjm wjtbd lku jql pbi jk wcf fmrpm eje fbl sgfh jk lsm afeu (Ex 7, 13 etc.) eptq bl sghjf vfmfsme vrsb fvtjhb lp feftgp wjnfjlpe hkf fdlfm. Cf. Awraham ben Dawid zu Hilch. Tesch. VI, 5. 148.
4 efavme wp vlkume uqne vflkl ebo ejej fbl vftjtu tha fvkl jk. Diese Erklårung ist beeinfluût durch Dawid Kimchi, liber radicum s. v. eqo: vqofvf xftvj vv xpml .vjlkue uqne ajef eamre lp efavme ajef efte uqnl 149.
5 Vgl. More III, 52: fdbk Ztae lk alm wfum eqfsg emfsb vklm wtjege vpdj tbkf und ebenda: fvfa vkkfomf wdae lp vqqfhm enjkue vfjel wuat vflclm wjpnmn fje lªªg fnjmkh jlfdcf.
150.
6 Siehe Jalkut zu Ez cp. 358 und zu Ps cp. 762. 151.
1 Jes 26, 4b; siehe die Deutung Jer. Chag. II und Men. 29b. 152.
2 Ûber die wjifuq wjqfc eumh cf. More I, 72.
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sind. Da die Emanation sich durch Vermittlung des ersten Sphårengeistes auf das Universum ergoû, beginnt die Bibel mit den Worten: »Durch das oberste Prinzip 153 schuf Gott Himmel und Erde«. Die Sphårengeister traten so zuerst ins Dasein, und deshalb nennt sie der Autor des Jezirabuches die Sefirot, die fçr sich allein sind, das heiût die zuerst erschaffen wurden. 154 Mæglich ist es aber auch, daû die zehn Worte, von denen der Talmud spricht, eine Bezeichnung fçr die zehn Kategorien sind. 155 | Da die Welt durch die Vermittlung der separaten Intelligenzen ins Dasein trat, wird fçr die gættliche Schæpfertåtigkeit oft das Verbum ens erwerben¬ gebraucht, um anzudeuten, daû Gott sein Werk durch sie gewissermaûen erworben hat. 156 Noch aus einem anderen Grunde ist dieses Verbum recht prågnant; es stellt die Schæpfung als eine
153.
3 Nach Beresch. r. zu 1, 1 bzw. nach More II, 30; cf. Jaakow Anatoli p. 64. 154.
4 Diese Identifikation der »zehn Schæpfungsworte« mit den Sefirot dçrfte durch das Buch Bahir veranlaût sein, in dem die zehn Sefirot als vftmam bezeichnet werden, siehe ed. Berlin 1706 p. 9a: ªfkf tmam fl uj lclcf lclc lk et passim. Daû der Bahir spåtestens in den Anfang des 13. Jahrhunderts fållt, also unserem Autor bekannt sein konnte, siehe Hebr. Bibl. XII, 116 und XIV, 132. Es sei hier bemerkt, daû emjlb vftjqo wohl eine Ûbersetzung des von Proklus gebrauchten Begriffes a©totele¼@ nde@ ist. 155.
5 Diese Erklårung ist, wie çberhaupt vieles in diesem Kapitel, aus Jaakow Anatolis Predigten geflossen; siehe wjdjmlve dmlm p. 62b: atbn wlfpeu eaft eva jk xfjpe jmkh ftajbu fmk armne lk wjllfk vftmam etup xk fmkf ¼ vftmam etupb. Zu Lewis Erklårung des Wortes vjuat vgl. ibid. p. 64a: wlfpe atbnu wdfsu Ydml vjuat xfulbf vjuat jdj lp web ¼ etfre xvfn »lk vjuatb eufp« vj wuef ¼ wjkalme atb jtmhe. Den hebråischen Text fçr die obige Darstellung s. Cod. hebr. Mon. f. 87b: lkef
ejejf orpvj fbu em armn lk lbsj fpqum jk wjarmne lkb vfiuqvme vfdhabf fmub dmfp watb ªªeb (Gen 2 4) watbeb utql eatn xkf lke vllfkf lke epjnm vjmfje epfnve wc dha wtmab etfref vlpfqe eboe tkg lba vjtmhe eboe st tkg alf (Bereschit rabba cp. XII) jffref etjmae ohfjv wejla jk vftfre tupb egb ert (Awot V, 1) wlfpe atbn vftmam etupb wjela atb vjuatb lhe xk lp lke eufp fvjjlmq fjkalm vfprmab fa xfuate lkue vfprmab jk lªªt vfprmab jk lªªt (Meg. 21b und Rosch haschana 32a) afe tmam jmn vjuatb jk (Gen 1, 1) (Ps 33, 6) fupn wjmu ªd tbdb ftmak Ztaf wjmu atb ftbd jufp jkalm vfprmab fa xfuate lkue (etjrj ªo I, 2 etc.) em jlb vftjqo tup etjrj tqoe lpb atsu wef lke vlhveb fatbn wjkalmef vftmam etupb gmt fa (Spr 8, 24) ªfcf jvllfh vfmfev xjab tmanu tbd atbn alu dp fatbnu ªªlk wef wjdoqne wjfel wjsghme wef wjtsm epuvef wrp dhae wjmucb wjtshne wjsghm etup lu xfjnee vmkhb wjpfdje. Der Anfang dieser Stelle ist aus Batlajusi entlehnt:
Batl. p. 38
Lewi ben Awraham
em armn lk lp fvfdham pjque ªªbvj afeu lkb vfiuqvme vfdhabf fmub dmfp lkef wnma armn lk ene eb tjjfrj ejfe fb fl ejeu wrpvj fbu em armn lk lbsj fpqum jk wjarmne .dha ejejf tjjrf fjla fnmm iuqvn tua afee vfdhab armj .fvfa Vgl. auch More I, 69: pqub enfkj tua xjnpb fvdjmp djmvm afef armn lke atfbe vfajrmb jk. 156.
1 Nach Bereschit rabba cp. 43. Vgl. die Erklårung von jnns bei Saadia Emun.
II, 5.
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Possession dar, weist also auf eine vorhergegangene Privation hin 157 und bezeichnet demnach Gott als den creator mundi; es ist der relativ beste Ausdruck fçr das Schaffen aus dem Nichts. 158 Das Zeitwort trj sagt hingegen von Gott nur, daû er der architecton mundi ist, ganz wie eup und atb. 159 Mit dem Beinamen tfr wird Gott in doppelter Hinsicht bezeichnet, als der, welcher die Form der Welt ist, 160 und als der, welcher allem seine Form gibt. Die Schæpfung aus dem Nichts ist der wichtigste Glaubensgrundsatz; denn das freie Wirken Gottes, wie es sich auch im Wunderwirken und in der Vorsehung kundtut, ist nur denkbar, wenn | wir sie annehmen. 161 Deshalb ist der Begriff »Nichts« so scharf und absolut zu fassen wie nur mæglich. Die Zulassung eines relativen Nichts im Sinne von Platos ewiger Urmaterie 162 stæût auf entscheidende Schwierigkeiten. Denn von dem Auûersichsein die Ewigkeit, also die hæchste Potenz des Lebens, auszusagen, ist eine contradictio in adjecto; man kann der formlosen Materie nicht einmal Dauer zuschreiben, da sie ohne Bewegung ist. 163 Um allen Miûverståndnissen vorzubeugen, ist es deshalb besser, von einer Schæpfung nach dem Nichts als von einer Schæpfung aus dem Nichts zu sprechen. Dies ist auch aus dem Grunde von Vorteil, weil selbst, wenn die Ansicht, daû die Pråposition »aus« auf einen Urstoff hindeute, abgewiesen ist, immer noch der Ausdruck von jedweder wærtlichen Auffassung gereinigt werden muû; denn daû aus dem absoluten Nichts etwas erschaffen werde, widerspricht dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. 164 | 157.
2 Siehe Maimonides: xfjcee vflm cp. XI. 158.
3 Vgl. Anatoli: ibid. p. 67a: evfa lbs lba ufdhe vnfmab sdsdl fbl wu al ¼ wetba eje afee xjnse lpbu etfm xjns vlmf ¼ Ztaf wjmu enfs xfjlp la tmau wu afe sdr jklmm afee xjnse jdplbm. In der Form, die unser Autor diesem Gedanken gegeben hat, findet er sich dann bei Bachja ben Ascher zu Deut 32, 6: Yns Yjba afe ale Ztaf wjmu atbu ªªlk Ztaf wjmu enfs xkf ¼ xjns uj lkf ujl xjam Yajrfe jk xjns Ymuu ªªlk xjam uj xajrfef. ± Vgl. auch die von Kaufmann Attrib. S. 65, Anm. 121. nach Ibn Esra angefçhrte Gleichsetzung uje tpu = xjns. 159.
4 Gegen More II, 30 sub finem und III, 10 Anfang, im Anschluû an Ibn Esra zu Gen 1, 1. Dawid Kimchi im liber rad. s. v. atb erklårt atb als creare ex nihilo, trj dagegen als Verleihen der Form. Von Jaakow Anatoli wird eup ebenso erklårt, siehe Malmad p. 64a. Vgl. auch die Erklårung von trj im Buche Bahir p. 2. 160.
5 Als Form der Welt wird Gott von Batlajusi bezeichnet. Siehe »Bildliche Kreise« p. 37 und 38. 161.
1 Vgl. More II, 25-27. 162.
2 Vgl. Plato, Phileb. 24 A ff. und Tim 49 A ff. sowie Aristoteles, Phys. I, 9. Vgl. auch Joel: Religionsphilosophie des Maim. II. Ausg. S. 32, Anm. 1. 163.
3 Vgl. Kaufmann, Attr. S. 306-309. 164.
4 Vgl. Schreiner: Kalam, S. 37 n. 2 u. 3. S. Cod. hebr. Mon. a. a. O.: xffkme wem wans flak wjlkue fpjque vfprmab wajrmeu jql enfs tma jk (Gen 14, 19 et 22) sfoqb
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Da ganz ebenso ausgeschlossen, wie es ist, daû die absolute Existenz sich in ein Nichts verwandle, es auch ist, daû das absolute Nichtsein zu einem Sein werde, 165 so mçssen wir in der Schæpfung den Akt eines ursachlos aus sich heraus wirkenden Wesens erblicken. Das ist aber auch das einzige, was wir in dieser Frage aussagen kænnen. Die zahlreichen Beweise, welche der Kalam çber die Notwendigkeit der Annahme einer Weltschæpfung beizubringen vermeint, um daraus einen Schluû auf die Existenz und das Wesen Gottes zu ziehen, sind nichts als das Ergebnis einer groben Selbsttåuschung. 166 Wer die Erkenntnis sucht, darf sich nicht, wie unser Autor mit einem alYdmll enfse vlm tma xk lpu eatnf (Ps 148,5) fatbnf efr afe jk wjprmae lp gfmtl tma xkf vtkn evje al djmvm jhrn armne eje flau tdpee tha lke fajrme lae vfmlu lp etfju emm jk evfan tvfj elm xfulb arm al jk tha wpi jl eatn dfp xjnse lp etfj wnma tdpeef lpfqe vlpq vftfel vfcfen vflm fnl xja cjuel fnmm wlpnf (tg) eg tbd eg vfjel jk xjam uj vfarmne lp enmm farmn xk lp hkb fjeu (wjtbd) tbd vfarmne lp vflqfn ejupf etjrjf eajtb vflm jk fnjnp lp vnjnh lpf (Sech. 12,1) fbtsb wda hft trfjf tma etfre vnjvn lp etman etjrj vlmf wdab wvulu etfj tfr wu xkf fntrfj evaf tmfhe fnhna ftma xkf wdae trfj wjnvh vktbb fnsv vjlkue etfre etfve lk bife ufdhe vnfmab dha xjnpb wjutu jnu trfj varmn etfr xvfnf etfr afeu jm lp atfbe vlkj wrp wda lkl elcj fb jk (fnvnfmab) jvnmae jb tdo lk wjjsf ebfi enfma lk xkvjf xjmam lkf fb jflv ehcuef vfvfae jk wc fvlfgl Yjtr jvlb fvfmrpb sqvom afe (jkf) xkf ªªbvj Yftb lae vlfg xfmds tbd xjau afef enfmab sjghel wjbjjfhm fna xkl etfve ujhkm wlfpe vfmdsb uj eupn lkef wvpfnvm wjbjjfhme vpdf xmgef wjmuef vfdfoje xfuate xm udhvn lke lba afe xfilqa vpd lp fegf fmrpb vfajrm fl xjau tbd afeu jlfjem dhae wjnq jnu lp tmaj xjaf .xjam dfmpl jlfjee pbim xja jk lfibe tafbm eg fvpdf hkb ejeu wfds tmfhm wlfpe atb laeu buhu Yumn afe jk dfpf fmrp pjnj al vm tbd tmfhe jk dfpf evlfg vfajrm fl xjaf etfr jlb xmg wfu lhfeu tha doqel jfat eje fvpd jql jk dfpf ilhfmb lfpql wdfs hkeu wjtmfae vpd tha egb xm lke ajrme laeu afef tfmc tdpe xffkme afef xjab wjjnue wjnqef fvfhrnb ifquj afe enef oqaeu tjjfrj alf vfajrml uju eupj al tfmc vfajrm alm jk etbpe afe xm jtmaf tfmce oqae oqaef tdpee tha lke ajrme laeu jvnffk lba dhj wjkqe jnu farmn jk armn ejej xjaef uj bfuj fmkf tmfh lp etfj xm vlm fa ªªme jk xjam uj tman tuam xja ejeu tha atbn lkeu tmfl xkvj tvfjf (xjau) uju tfmc xjae xk xja bful xkvj al tdpeb tusnf sbd fnjau afef fmrpb dmfpe tfmce ujeu vfkja fvpdlf wlfpe vfajtbb lae xfrt vjlkv eje emf uj bful xkvj al ujl vfkume vflve fl epd egb fnl xja fla vflaub arfjkf Pfc fnjau emm Pfc ejen Yjaf egl wdfs fatb al Yjaf fvfatbe Liturgie) eljlf wfj atfb fnfrtk tman eglf wda wful ejat egb pcv alf ejla epjcel Ytd alf des Abendgebetes; in den meisten Ausgaben endet der Satz mit fnfrtk, worauf ein neuer mit atfb beginnt) wjtbdme fatsu emf (ujds-Gebet) evfptk atb jd amlpb xkf wejtbd vfjel wjmlul jfatf vfqjjfgm vfnpib wmrp fnfj wef eapie afe wlfpe ufdh lp ejat xfrtef tfbde jqk enfmae ejevu al vfajrme jnman wjtbdm wejtbd fjejuf wvnfmaf wtfjr tha wjkumn jtmhe lkue tfajbb evnfkvf elaue fg jvabe tbkf wtqoml Zs xja vfuqn armem wejvfnpim thaf.
In der scharfen Fassung der creatio ex nihilo liegt wohl polemische Tendenz gegen Averroes oder gegen die Annahme des alm im Buche Bahir. Die Schæpfung aus dem relativen Nichts wird bekanntlich von Gersonides postuliert. 165.
1 Cf. More II, 13b. 166.
2 Vgl. More I, 71, I, 73 Ende und I, 74 Ende. Ûber den Ausdruck in unserem Text eapie, welcher der terminus technicus fçr die falsche Dialektik des Kalams geworden ist, siehe Steinschneider, Alfarabi, S. 54 f. Eine Widerlegung des Kalams bringt Lewi ben Awraham nicht vor, da die eingehendere phi-
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ten Wortspiele sagt, nach diesen Begriffskçnstlern richten, welche die Wirklichkeit nach den Begriffen umbilden, statt die Begriffe nach der Wirklichkeit festzustellen. 167 Grund, Zweck und Art der Schæpfung sind in Wahrheit nicht bloû unerforscht, sondern unerforschlich. 168 Wir mçssen uns damit begnçgen, das eine zu wissen, daû Gott die Welt nach seinem freien Willen ins Dasein rief. Mehr zu erkennen, hindern uns die natçrlichen Schranken unseres Verstandes, die unçberwindlich sind. 169 | Maimunischer Geist spricht aus solchen, von unserem Autor mehrmals wiederholten 170 Worten. Diese Erkenntniskritik, die ja auch der Attributenlehre des More ihr Gepråge gibt, 171 ist das Grundprinzip in Maimunis System; sie ist darin zugleich ein besonders Wertvolles und ein Bleibendes. Daû Lewi ben Awraham die von seinem Meister abgesteckte Grenze des Erkennens so scharf festhålt, zeigt uns, daû er in den Geist von dessen Philosophie eingedrungen ist und nicht nur ihre åuûere Form und Darstellungsweise angenommen hat; in einer Zeit, die in transzendenten Problemen so siegesgewiû war, ist das nicht ganz gering anzuschlagen. 172 In dieser Entschiedenheit, mit welcher er jede Darstellung des Wesens und des Hergangs der Schæpfung ablehnt, ist wohl auch ein bewuûter Gegensatz gegen die Lehren der Mystik zu erblicken, welche damals in seiner Heimat neu erblçht war. Maimunis Gedankengang folgen sodann auch die Ausfçhrungen 173 unseres Autors, die sich gegen die aristotelische Annahme einer Ewigkeit der Materie, der Kreisbewegung und der Zeit richlosophische Beweisfçhrung nicht dem populåren Zweck eines Werkes entsprach und er andrerseits bei den Gebildeteren die Kenntnis der betreffenden Partien des More voraussetzen durfte. 167.
3 Siehe More I, 71: tha vkumn vfajrme xja tma ofjiomv ftmau fmk tbde jk Yl tmfa llkf vfajrme tha vfkumn vfjvmae vfpde lba vfpde. Siehe ibid.: vage wjtbde vmkh fdjlfef. 168.
4 More II, 24 Ende; II, 25 Ende und III, 13 Anfang. 169.
5 Siehe die letzte angefçhrte Textstelle unseres Autors. 170.
1 Siehe die folgenden Textstellen. 171.
2 Siehe oben S. 422. 172.
3 Um sich des ganzen Gegensatzes bewuût zu werden, braucht man nur die Erklårung der biblischen Schæpfungserzåhlung bei Bachja ben Ascher zu lesen, der ja sonst unserem Autor in vieler Hinsicht åhnelt. 173.
4 Vgl. Cod. hebr. Mon. f. 88b: fnjau tmfhe drm vfmdse lp vfjat fajbe fvpjof fiota jfune xmge drm xkf pbib elhve el xjauf vfbftm vha ajeu vjbfboe epfnve drmf doqn alf effe tbfpe xmgl vjlkv afeu lªªt dhj vjlkvf elhve afeu fntabu fmk evpe tdc jkf (evp) emp jffub afe doqnf effe lku ftmajf xmg femds alu tjjfrj alf evp armj alu bfuhj xkl djvpe xmgl elhvef wtif wds xfck tmavu elm lk wcf vjlkv all xkf tha xmgl Yjtr eje doqn fa efevn xmge waf xmgb elhve fl uju em lk jk ftmajf djmv xmge arme htkem xk wa xmg lp etfv vflme xm eg vlfgf thaf edfn fla lk jk fnl bjjhvj al eg lkf eg Yqef Pfo fl xja elhve fl xjau em lkf Yqeef Pfo fl uj bjjfhm afe Pfo fl uj elhve fl uju em lk jk tmau em wc farmnu vpm pbie eg lp wvfje web
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ten. 174 Sie sind im groûen und ganzen nichts anderes als eine kurze | Inhaltsangabe der betreffenden Kapitel des More 175 in popularisierter Form. Die Widerlegung 176 geht auf den Haupteinwand zurçck, den Maimuni gegen Aristoteles richtet, daû nåmlich die Gesetze, die aus der bestehenden Natur unserer schon entstandenen Welt abstrahiert seien, keine Anwendung auf die Frage, wie diese Welt und diese Gesetze entstanden seien, finden dçrften. 177 Wenn es daher auch zugegeben werden kænne, daû es in der vorhandenen Welt kein schlechthinniges Werden und Vergehen gebe, so folge daraus doch noch nichts gegen die Schæpfung und fçr die Ewigkeit des Stoffes. 178 Umgekehrt schlieûe der zeitliche Anfang der Welt auch nicht notwendig ihr zeitliches Ende ein; denn auch der Grundsatz von der Vergånglichkeit alles Entstehenden gelte wohl fçr alles, was im natçrlichen Laufe des Werdens entstanden sei, habe aber keine Anwendung auf dasjenige, welches ein Schæpfungsakt aus dem Nichts ins Dasein gerufen habe. 179 Nachdem die Welt einmal geschaffen worden, ist immer die Voraussetzung fçr eine Weiterexistenz gegeben. 180 Durchaus den Darlegungen des More folgt in gleicher Weise die
174.
vfajrme hke auju tbd eje al xjam udheu tha jk hkb ejeu wlfpb al wc effee Ytdb eupnu emb .dhj wjkqe jnu farmjf hk fnjau em
Der von Maimuni im More II, 14 angefçhrte erste Beweis des Aristoteles, der vom Begriff der Bewegung ausgeht, wird von Lewi ben Awraham nicht berçcksichtigt. Wahrscheinlich glaubte er ihn, da nach peripatetischer Ansicht die Bewegung nur ein Akzidenz des Bewegten ist, schon in dem Beweis enthalten, der die Materie fçr unentstanden erklårt. Siehe More II, 13: epfnvef ppfnvml etsm. Zu den Ausfçhrungen çber die Temporalbestimmungen, wonach jedes »jetzt« auf eine vorangegangene und am letzten Ende auf eine anfanglose Zeit hindeutet, vgl. auch Gersonides Milch. VI, 1, 10, ed. Leipzig, p. 329: elhve afe vjlkv fvfje wp tua evpe und ff. 175.
1 More II, 14 ff. 176.
2 Die Widerlegung beginnt in unserer Textstelle mit den Worten: al eg lkf bjjhvj. 177.
3 Es zeigt sich hier wieder, wie streng Maimonides die Grenzen der Erfahrung und die Schranken der Erkenntnis respektiert. Die Erkenntniskritik ist der Angelpunkt seines Systems. 178.
4 Siehe More II, 17. 179.
5 Siehe More II, 27. Ûber die Behandlung dieser Frage in der damaligen Philosophie siehe Schemtow zu More II, 13 pr. 3 und zu II, 14 pr. 4, sowie Renan, Averro s et l'AverroÒsme 3 p. 112: dire, qu'une chose passe du non-tre absolu l'tre, c'est dire qu'elle poss de une disposition qu'elle n'a jamais eu. 180.
6 Zu dem Schluûsatz unserer Textstelle vgl. More II, 13: dha armn efevju aªªau
5
wue tavf tfmc tdpe afee tmhe tdpe la Yoqj alf tfmc tdpe afee tmhe tdpem etfrf tmh lpb tha aufnb vha evpb wjkqee jnu xjb Zbsl lfkj afeuk ftafvk eg lp lfkj afeuk wlra, sowie More II, 14: vftuqae aufn afe armn tbd jvlbm aªªa xk wa afee vftuqae aun jm tuqa eje waf. ±
Besonders entschieden wurde die Unvergånglichkeit der Welt von Averroes
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Darstellung und Widerlegung der von den spåteren Peripatetikern aufgestellten Ewigkeitsbeweise, 181 die nicht wie die aristote | lischen vom Wesen der Dinge, sondern vom Wesen Gottes ausgehen. 182 Nach diesen wçrde ein Schæpfungsakt einen neuen, vorher nicht vorhandenen Tåtigkeitsakt, mithin einen Ûbergang aus der Mæglichkeit in die Wirklichkeit, eine Verånderung in Gottes Wesen hineintragen und auûerdem eine veråndernde Kraft, die in Gott oder auf Gott wirkt, zur Voraussetzung haben; auch zur Einfçhrung einer hindernden Ursache, die erst zu einer bestimmten Zeit die schæpferische Tåtigkeit freigab, wçrde man notwendigerweise gelangen. Und ganz wie Gottes Wirksamkeit mçûte auch seine Weisheit, deren Werk die Schæpfung ist, bis zum Zeitpunkt der Schæpfung gehemmt und gemindert gewesen sein. 183 Solche Fragen, so hålt unser Autor im Anschluû an Maimuni dem entgegen, darf aber nur der stellen, welcher die Welt ebenso ewig und notwendig wie Gott sein låût und sie zu ihm in dasselbe Verhåltnis absolut notwendiger Folge setzt, in dem die Wirkung zur Ursache, beispielsweise das Licht zur Sonne steht. 184 Dann aber kann man auch nicht, wie Aristoteles es tut, Gottes beabsichtigten Willen als den Grund der Welt annehmen betont, siehe Schemtow zu More II, 14 pr. 4, sowie die zahlreichen von Renan, Averro s et l'AverroÒsme p. 112 angefçhrten Stellen. 181.
7 Cod. hebr. Mon. f. 89a: eajrjf vftuqjaf jfnu fb vfjel xkvj alu lae drm ejat fajbj wcf hkmf enumm ab jfnu lkf jfnu afe lpfqe la hke xm eajrj lk epjnml Ytirjf lpfqe la hke xm to alf fvlpq emfds fvmkhf wfds afeu fmku ftmajf lae lpql eljhve vusa wlrb afe emfdme fvbuhmb eup umaf vjlkve jlb wdsm ljib fvfje dam sjhtjf fvfmlum egf bfie ajrmmf vfjem umue tha tfae Yumek fnmm bjjhvmf lsumb tusn uctfme wlfpeu ftmajf vfajrme eg udhl [bftm] djmv fnfrtb vfajrme pjquj laef tfmc pbi umue xm tfae jk fvlpm lflpe Yfume llkbf laeu fvpd jk eajrmel vjlkv em eg usbl xjaf hmuf fb pdfjf fvfmlu ldfcf ftup bftm Yjumjf lkeu xjman fnhnaf vfajrme vfkjummf vp lkb vfpjqumf xfrt wp tbfhm pbib vflpfq vflfbhvf wfjse jlfa Yjummf djmv pjqum afe fudh vpmuf bl xfrte xm udhm. Das von mir in Klammern gesetzte Wort bftm muû getilgt werden, da es jedenfalls nur durch ein aus dem folgenden bftm zu erklårendes Versehen hingeschrieben wurde. Fçr bl xfrte xm ist wohl ujl xjae xm zu lesen, obzwar man bei dem nachlåssigen Stil
unseres Autors keinen strengen kritischen Maûstab an seine Ausdrucksweise anlegen darf. ± Die Widerlegung beginnt mit den Worten eg usbl xjaf. 182.
1 Zu den Worten lae drm ejat vgl. More II, 14: web Ylj tua wjktde vfema fla web fmjjsj ¼ fjtha wjabe wftkg kªªc wjktd ujf fmrp wlfpe drm wlfpe vfmds wfjsb fiojta .fmu ªªvj lae drm wlfpe vfmds 183.
2 Siehe More II, 14. Lewi ben Awraham fçhrt zum Teil wærtlich die Såtze des More an; vgl. zum Beispiel fvbuhmb eup umaf mit More II, 14 Ende: vtma flak wlfpe atb uma elpvj wueu. Vielleicht ist in dem Ausdruck uma eine Anspielung auf das Anagramm des Buches Jezira 3, 1f. enthalten, das ja auch Kus. IV, 25 angefçhrt wird: lke atbn xebu ¼ lfdc dfo uªªma. 184.
3 Siehe More II, 20: Pfcem lre bjjhvek enfuate eboem lªªt atfbem wlfpe vfajrm bfjhu umuem tfae bjjhve fa uaem wfhe bjjhve fa. Der Vergleich stammt von Plotin her.
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und ihm die Freude an ihr auch zusprechen. 185 Man braucht also, um jene An | sicht zu widerlegen, sie nur bis zu ihren åuûersten Konsequenzen zu verfolgen. 186 Was uns aber direkt die Existenz einer frei nach Absichten schaffenden ersten Ursache aufdrångt, ist die Mannigfaltigkeit der Welt. 187 Wer ein absolut notwendiges Hervorgehen des Alls aus Gott annimmt, muû imstande sein, das Vielerlei des Universums, die Zahl der Sterne und die oft gegensåtzliche Verschiedenheit ihrer Bewegungen aus Naturgesetzen zu erklåren. Da dies unmæglich ist, so bleibt nichts çbrig, als an Stelle des ewigen Bestehens aus Naturnotwendigkeit die Entstehung durch einen freien Akt des gættlichen Schæpfers zu setzen. 188 Einen zwingenden Beweis fçr die Annahme der Weltewigkeit 189 gibt | es so nicht. Alle Versuche, 190 die von Anhångern dieser An185.
4 Siehe More II, 20. 186.
1 Maimuni weist die Peripatetiker zurçck, indem er gewissermaûen den Spieû umdreht. Sie hatten den Schæpfungsbegriff ad absurdum zu fçhren gemeint, indem sie auf Widersprçche hinwiesen, die sich aus ihm ergåben; Maimuni zeigt, daû man mit den gleichen Mitteln auch gegen die Annahme der Weltewigkeit ankåmpfen kænne. Die Schluûsåtze in dem angefçhrten 20. Kapitel, in denen Maimuni fragt, ob mæglicherweise die »spåteren« Schçler des Aristoteles der Weltursache die Absicht absprechen, sind in ironischem Sinne aufzufassen. 187.
2 Cod. hebr. Mon. a. a. O.: wvftjemb wtdof wjlclce vfpfnv dhjvem ufdhe lp vfatl fnl uj
vfnisbf ldfcb wjbkfke Plhvef wjifpjmbf wjjfbtbf wjbkfke vfajrmb wjlclce jslh Plhvef wtfhjaf wejlclc vjjin vbo afe tua wejbifs Plhvef wvjjinf wvfqse jlclcf wegktm vajrjf wejatm Pflhf al eg lkf ejvhv tua wjlclce xjmjl Plhvm htgme afeu xfjlpe xjmj wc vfqse jlcln jgktml wjaufn wjlque tfbpb evjlkvu enjnpm eatj fg etfr lba bfjhe jql Yjumel flkfj. Diese Såtze geben
in wenigen Worten einen kurzen, aber klaren Ûberblick çber die damaligen astronomischen Anschauungen; die Schluûworte vgl. mit S. 446, Anm. 2 und 3. 188.
3 Siehe More II, 19 und 24. 189.
4 Cod. hebr. Mon. f. 89b: fmk fvmkhf fnfrt pdn al fnhnaf fvcuel lfbc uj jufnae lkue jk
vfste armem bte euseu em xkf fmrpl wa jk ljkuj alf dha wrp lke jk fvfemf fmrp pdn alu jmjnqf xfrjh wjhiu jnu tfdk lkl jk fntabu fmk wjtfdke xjb vfst xjau edfn fna wc jk wflk eg xja tfdke jlfcjp Yfvb wjhnfm eqsee jlclcf tfdk lkb tua wjgktme jarfj wjlfcpef wlfpe gktm wgktm ala bfjhe Ytd lp lke hjnj eudh (enfkv) enfsv wc .dha ujak wlfpe lk jk fnmm wjtbjak wef sfht shtm wjqlhvme wjshtme xjnpm eatju em wel eusj wc vfmfluv alf elk va fkjume alu Ytdb gfhal fnl uj xk lp vfmdse lp Yvfh vqfm wjsjvpml xja wfsm lkm Yjtael xjaf bfts shtmf vqfmb tabve tbku tbd tfbpb wa jk lbfsme Yqel jfat xjaf fnvlbsb sjghelf (fnvnfma) fvnfma wjtbde xm afe eajtbe dfoj .vmae la wtjghnf lkufme wp emucee jsfoq utqnu Ytdk Yvfh ªªfkf wkjktd alf tma xk lp dha lke fmrpf fnfrtu jql wjmlpnf lae xfrtb wjjflve pbie xm wjefbce lk jk vmab pdjl lkfn Ztabu em lk tmflk (Ps 115, 16) ªªfkf ªdl wjmu wjmue tmaf (Jes 55, 8) wjarmne lba wjela wu wa jk wvfatbb tjkge al xkl xjde jqkf pbik fupn (wjlque) wjlkue vftbo we web tbdnu em bftef tfbcef fnmm ensn cfo wel wa jk Yvfh vqfmb web pdn al wjnfjlpe .vfan tvfj afeu emf vfjatf
190.
1 Ûber die Annahme des leeren Raumes in den groûen Sphåren vgl. More II,
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sicht, 191 besonders Astronomen, unternommen wurden, die Vorgånge der Welt nur aus allgemein gçltigen Naturgesetzen zu erklåren, scheitern an der wechselvollen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die allen bisher aufgestellten Regeln und Hypothesen getrotzt hat. Und nur wenn eine philosophische Annahme unwiderleglich bewiesen ist, dçrfen wir, so legt unser Autor mit den Worten Maimunis den Maûstab fest, ihr entsprechend die çberlieferte religiæse Anschauungs- und Ausdrucksweise umprågen, so wie es zum Beispiel in bezug auf die Unkærperlichkeit Gottes geschehen ist. Solange die Evidenz nicht auf seiten der Weltewigkeit ist, mçssen wir deshalb an dem alten Glauben von der Weltschæpfung festhalten. 192 Und das wird auch mit dem Fortschritt der Wissenschaft nicht anders werden. Denn nur in der sublunarischen Welt gibt es fçr uns die Mæglichkeit des Erkennens, weil hier uns alles gleichartig ist; darçber hinauszudringen und das generell von uns Verschiedene vællig zu erfassen, ist uns versagt. Was allein durch den Willen Gottes geschehen ist und geschieht, ist fçr uns ganz ebenso unerforschlich wie das Wesen Gottes, denn sein Wille 193 und sein Wesen sind mit einander identisch. Bloû das, was Gott, insofern er Elohim ist, das heiût insofern er der Herr der auf Erden waltenden Gesetze ist, schuf, ist fçr unseren Verstand durchdringbar. 194 »Der Himmel ist Himmel fçr Gott, und die Erde hat er den Menschenkindern gegeben«, dies gilt auch in Hinsicht der Erkenntnis. 195 | Verhåltnis Gottes zur Welt Alle Schwierigkeiten, die sich daraus zu ergeben scheinen, 196 daû Gott einerseits ein freier Akt der Schæpfung aus dem Nichts und andererseits ein ewig gleicher, ewig unverånderlicher Wesensinhalt 24 und die Bemerkungen Munks zu diesem Kapitel, vgl. auch More I, 73 pr. 2. Zu der Wendung in unserem Text dha ujak wlfpe lk vgl. Kusari IV, 3: fmd tbkf lfdc wdak wlfpe wjqfofljqe, sowie Batlajusi: Bild. Kreise p. 14: lfdc wda wlfpe atsnf. 191.
2 wjsjvpm sind die fçr ewig Erklårenden. Den Ausdruck sjvp »ewig« hat zum Beispiel Jeschua ben Jehuda. Siehe Schreiner: Studien çber Jeschua ben Jehuda, p. 30 und p. 35 n. 1. 192.
3 Siehe More II, 25. 193.
4 Vgl. Kaufmann, Attrib., S. 358. 194.
5 Vgl. S. 430. Elohim ist der Ausdruck der xjde vdm, und xjd wird von unserem Autor hier im Sinne von Naturgesetz angewandt. 195.
6 Siehe More II, 24. 196.
1 Cod. hebr. Mon. f. 90a f. vfbfuvf vflau Ytdb fnvlfkj jqk vpdl febtsn eg lk lp waf vftuqjaf hkb elhv ejej atb alu vp eje Yja vp lkb lpqb afe lae vfmluu tha lauv wau
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zugesprochen wird, beruhen nach unserem Autor, der darin wieder dem Maimuni folgt, 197 auf einem Denkfehler. An Stelle des theozentrischen Standpunktes, von dem aus allein wir eine Einsicht in das gættliche Wirken gewinnen kænnen, nehmen viele den anthropozentrischen Standpunkt ein 198 und gelangen dadurch zu | Widersinnigkeiten, auf Grund derer sie dann die Annahme eines Schæpfungsaktes als widersinnig hinstellen wollen. Die Kategorien menschlicher Erfahrung werden auf das Transzendente angewendet; es ist dasselbe Verfahren, das Maimuni schon in seiner Attributenlehre zurçckgewiesen hatte. 199 Als die Welt ins Dasein trat, ging xm eajrj eg eje al jk bjun ajrfml Ytirjf toh afe tdpel afe hke lpq lkf lpql arju thaf efuef fpbif fjvfbof armn alb elhve jk fktpb al dbl fnktpb eje ufdhef jfnuef lpqe la hke afe wjnqb atfbeu ftmau fmk fvpjdjb tdfom fmrpb armn eje lke [fjvfbof] wtbof armne lk vfnfkv fnl fvfateb wfsm lkm tmav waf .wjqfofljqe blb featef fpjque ertukf wlfk varmne jlb wdsm jk febjun fnfrtl ufdhf jfnu eje jk xk eup alu tha fvbuhmb eg eupf fvkalm fnaftb vaf fvlkj wrfpf fjvfnfkv fjdbp lkl vfatel fatbu vpl wlfpe atbl wfdse frqhb tgcn eje elhve vfbjdce dr lp eg eup lba elpm fl Pjofjf vfmlu eªªbse tbd xjau qªªpaf fvlfdc vtaqv tsj vqdpef fdfe bftlf wjjhe pfbmf bfie [tfsm] etsm afe jk fjaftb la bfief vlpfve pquef dohef wjmk lkl btp afe jk wcf wjjh wjm tfsml fpqu bfvke emd xk lp dr lkl pfqu fldcf fbfi atsj xkf (Prov 25, 25) eqjp uqn lp wjts. Der Text unseres Ms. ist wahrscheinlich hier nicht ganz korrekt, zum Beispiel bei der Stelle ftmau fmk wozu zu vgl. ist Batlajusi: Bildl. Kreise, p. 36: tbd lk wp ªvj atfbe jk wjmkhe ªma, und ibid.: tbd lk wp lae jk wjmkhe xm wjmdfse tmam, ferner More I, 69: armn lke atfbe vfajrmb jk,
sowie eine von Kaufmann: Spuren Batl., p. 49 angefçhrte Stelle aus Kalonymos' Kænigsbuch: lkb atfbeu wjmkhe ftma, und ibid.: ªlaeu wjtrne jmkhm dha tmau em ªfkf jfrm lkl fmrp bdnvm. Vgl. auch Gebirol, wjjh tfsm ed. Munk, III, 14: eg jnqmf ¼ eflae hk ejeju ¼ bjjhvju xku lkf web ulqmf wjtbde vfjmjnqb psfu lkue wrp eje lkb ulqm; vgl. Ibn Esra zu Gen 1, 26, Ex 23, 21 etc. 197.
2 Siehe More II, 17. Wenn Lewi ben Awraham auf diese Einwånde, die durch die vorangegangenen Ausfçhrungen schon widerlegt sind, nochmals ausfçhrlich eingeht, so folgt er damit einem Rate Maimunis; siehe More II, 14 (nach der Emendation in der Ausgabe von M. E. Stern f. 28a Anm.): eus xk fmk fegf dfo vfatelf ftjvel ljkum lk Yjtr tua fegf dam, vgl. dagegen ibid. (f. 28b): lp dfpf .lib ªvujf ªvj atfbe eje Yja wjtmfa weu eshtee dr 198.
3 Das gleiche Argument hatte Maimuni bereits angefçhrt, um die anthropomorphischen Wendungen der Bibel in philosophischem Sinne zu deuten, er hatte gezeigt, daû auch viele Såtze der Schrift vom anthropozentrischen Standpunkt aus von Gott sprechen und so dem Wortlaute nach etwas von Gott, in Wahrheit etwas vom Menschen aussagen. Siehe oben S. 425 und die folgende Anmerkung. 199.
1 Siehe oben S. 421 f. Es ist scholastischer Grundsatz, daû die Erforschung des gættlichen Wesens in der Explizierung des unanfechtbaren Gottesbegriffes besteht; hierauf beruht auch der Gegensatz Maimunis gegen den Kalam, siehe More I, 71, sowie II, 17: febjjhju emm lba vfajrme pbim al ¼ ejat fnl ajbju ala wue shb lkue; in letzterem Kapitel nennt er dieses Prinzip eine schçtzende Mauer, die er um die Religion aufgefçhrt habe. Fçr Maimuni folgt aus dieser Unmæglichkeit, das Wesen Gottes durch das Wesen der Welt zu erklåren, seine Erkenntniskritik und seine Erfahrungstheorie, siehe oben S. 452. ±
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eine Verånderung vor in Beziehung auf sie und auf uns, nicht aber in Beziehung 200 auf den Schæpfer. Und ebenso waren, als Gott sich zu bestimmter Zeit den Denkern und Propheten offenbarte, in diesen neue Ideen entstanden, 201 nicht aber in Gott; ihnen | wurde eine hæhere Vollkommenheit dadurch zuteil, nicht aber ihm. Die Welt war durch Gottes Weisheit ideell erschaffen und infolgedessen im hæchsten Grade wirklich, bevor sie materiell in die Erscheinung trat, ganz wie die Sonne leuchtet, auch wenn sie niemandem leuchtet. 202 Nicht nur mit seiner Tåtigkeit, sondern auch mit seinem Willen und seiner Weisheit ist Gottes Vermægen identisch. 203 Und deshalb hat er die Welt, die er von Ewigkeit her, wie er sie gedacht hatte, auch stofflich schaffen konnte, doch erst geschaffen, als seine Weisheit dazu den Zeitpunkt erwåhlte; 204 ganz wie er zum Beispiel auch nichts logisch Unmægliches tun kænnte, weil dies seiner
Man sieht hier wieder, wie Maimunis System auf festen, stets innegehaltenen Prinzipien beruht. 200.
2 Ûber Ytp cf. More I, 52d; Samuel ibn Tibbon identifiziert in seiner Terminologie Ytp mit ohj. Kaufmann macht in seiner Attributenlehre, p. 388, n. 45 darauf aufmerksam, daû erst Maimuni den Unterschied zwischen Ytp und vfqtire genau fixiert hat. Es sei hier bemerkt, daû çber das aus vfqtire und vfljlu zusammengesetzte Attribut, von dem oben, S. 426 die Rede war, zu vergleichen ist Awr. ibn Daud: Em. rama, ed. Weil, p. 54 und 82. 201.
3 Siehe cod. hebr. Mon. f. 90b: [fvmkh] fvmkhf atfbe fl jk pfdj ene dfp tmav waf
fatfbl lfkj ejeu wlfpe atbn wdfs xk wa Pofn tbd xja dha lke fjtavm eg vlfgf fvlkjf frqhf fvmkh fb dhfjvu emb ala fvlpqf fvlkj [±] al jk ebfuve bkpm eje jmf fatfbl erft afe vfnub st fvlkj elvj al eg jnqmf fvmkh etgcu vpl ala wlfpe atbl fvlkj dhjvn al xk lp fnfrtf eg xjaf ehcueb wjtbd vmjvhb tkgnu fmk vfpnmne vrs vfupl alf fmrp vfnul xkvj alf wjupme (Jes 1, 13) etrpf xfa [lkfa al] (Hab 1, 13) lkfv al lmp la ijbef tmau emk vfmlu lba fshb xftoh la pdj al wfsm egf (Hiob 11, 11) xnfbvj alf xfa atjf (Hiob 35, 13) la pmuj al afu Ya [? lfpqe] lpfqe tbdb fnjnp ejej xk wau bfjhb lpfq ejeju lae lp tmfl xkvj al (Hiob 18, 21) thfbu vpb lpfq afe xfrtb lpfq lk jk uab xjnpk xkfm tmfh armju vp lk htkeb lpfqe pbib ebftse etrsef else Ytdef ftmambf frqhb wlfpe atb lae erftuk xk lp vfupl erftf lfpql vpl epfnvf xmg jlbm fpqum fajrmef fatbf fude lae jk fb (?) fnjau bfie afef egb wjsjghm fnau fjam umue fmk lfpq armj alu qªªpaf afe flpq jk djmv fmrpb lpqk eje afef wdsm tgcf ertu bjjhvef vfmluf xfmds flpq alu etgc fvmkh jk lpqk emh uae xef fnmm dha tfaj al ªqaf fmrpb fnfrtk fvlkj vfmlumf htkeb fvlpl lflpe emdj aluf vfmdsb tbd [fmrpl] fmrp Pvvuj alu alu fvfmlum xkf ertu vpl wcenm vfnul fjvflpqb vfvfae fdhjbf ajrme alu [tha] dha ajrmeuk xkvj alu qªªpa ertju vpl lke atbl tgc eglf tfmce xfmdsef tfmc bfie afe lba bfib tbd enuj (Eccl 3, 7) tbdl vpf vfuhl vp ftmab gmt eg laf afee vpe dhj eml alf epfnv jlb vp tjjrl fnl ela eusj laf (Ps 33, 6) fupn wjmu ªd tbdb tma xkf tabnu fmk tfbd atsj wlfpl lae arme jk (Ex 17, 16) ej ok lp dj jk ftmak fmrp afe vjvmae faok jk aok alb wpqf aokb wpq ejej xk wa tfdf tfdl Yaok buv wlfpl ªd eva ftma xkf (Ps 93, 2) eva wlfpm gam Yaok xfkn tman fjlpf jfnu fnnjuj al ªbvj afe jk tma wnjnp Pflhf latuj jfnu tkgu tha jk (Thr 5, 19).
202.
1 Vgl. Ibn Esra, Kurzer Kommentar zu Ex 23, 20. 203.
2 Siehe More I, 69 und III, 13. 204.
3 Vgl. Kaufmann, Attributenlehre, S. 304 ff.
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Weisheit widersprechen wçrde. Hierin liegt daher kein Mangel, sondern eine Vollkommenheit. 205 Aus seiner Vollkommenheit ist çberhaupt sein ganzes Verhåltnis zur Welt zu erklåren. Gottes Wesensfçlle ist so groû, daû sie çberstræmte, und die Welt wurde; von Gott emaniert das All. Die Emanationstheorie hatte zur Zeit unseres Autors Heimatsrecht in der jçdischen Religionsphilosophie gewonnen. Diese geheimnisvolle neuplatonische Lehre war von einem sonst mystischen Anschauungen so zugeneigten Philosophen wie Jehuda Halewi auf das Entschiedenste bekåmpft 206 und von einem so nçchternen Denker wie Moses Maimonides zu einem integrierenden Bestandteil seines Systems gemacht worden. 207 Sie bot in der Tat fçr die damalige Philosophie die einfachste, wenn nicht die einzige Mæglichkeit, die Schæpfung des Stoffes zu erklåren und dadurch einerseits dem Pantheismus, andererseits der aristotelischen Weltewigkeit zu entgehen. Aber in ihr berçhrte sich auch die Theosophie mit der Philosophie, und sie hat die Brçcke gebildet, welche viele von dieser zur Mystik hinçbergefçhrt hat. 208 | Mit der Emanationslehre ist die Annahme der Unvergånglichkeit des Stoffes aufs engste verknçpft, da die Notwendigkeit der Ursachen das Fortbestehen der Wirkung einschlieût. 209 Unser Autor kommt 205.
4 Siehe More III, 15, vgl. II, 29 ± Ûber den »Thron Gottes« siehe More I, 9 und II, 26. 206.
5 Siehe Kusari IV, 25 und V, 14. 207.
6 Siehe More II, 11 und 12. 208.
7 Zwischen den zehn Sefirot und den zehn separaten Intelligenzen lieû sich leicht eine Verbindung finden. Siehe Albo, Ikkarim II, 11: wjlflpe fatsjf vbu fatsju vjtjupe etjqoe afef lpfqe lkue afef jtjupe lkue ¼ vftjqo. Siehe auch oben S. 449. ± Wie sehr die Lehre von den Sefirot allgemeine Geltung erlangt hatte, kann man daraus ersehen, daû sie Bemidbar rabba unter den Zahlenbeispielen sich findet, siehe dort cp. XIV zu 7, 80: atbnu vftmam etup dcnk em jlb vftjqo tup dcnkf wlfpe web. Daraus, daû zwischen vftmam und vftjqo geschieden ist, kænnte man vielleicht schlieûen, daû der Autor des Bemidbar rabba das Buch Bahir noch nicht kennt. ± Daû die Schæpfung, wie es in unserer Textstelle heiût, auf einem Befehlen beruhe, ist averroistische Anschauung, siehe Albo Ikk. II, 13: ela fppfnvju wjlclce la ffrju vflhvee la efr laeu tut xba tma Ztaef wjmue fdmp efrme vfrmbuf vfpfnve. Vgl. die vorangehende Textstelle, sowie Schreiner, Kalam, S. 34, Anm. 2. 209.
1 Ganz besonders entschieden war dies von Averroes behauptet worden; siehe Munk, Mlanges, p. 357 f., sowie Schemtow zu More II, 13, wo als Ansicht des Averroes mitgeteilt wird: tmhe vlfg udfhm flk doqeef ejfeem wlfpe egu xjbvu jfat vpfnvf wjjmjmue wjmtce vpfnv la flpj flaf wjudfhm we wjtsmef vftfre lkf ¼ vfmucef jhrnf udfhm afe xakb armju jm lk xk wa wjjhrn we wjjmjmue wjmtce, sowie zu II, 14, pr. IV: tua jk ¼ jhrn wlfpe ejeju bjjfhj ene armju wdfs jtuqa wlfpe eje wau tma tªªb wkhe jhrn armju tuqa wlfpe wa ¼ wkhe tmaj xklf doqn ejeju tuqa ja vfjjhrne lbsl fb tuqa .ªfkf jhrn ejeju bjjfhm. Diese Behauptung des Averroes steht im Zusammenhange
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deshalb auf diesen Punkt nochmals zurçck und betont es nachdrçcklich, daû die Welt, wenn auch geschaffen, a parte post als ewig hingestellt werden mçsse. Da die Sphåren, 210 die Ursachen der | sublunarischen Welt, notwendig ewig sind, insofern ihr Verlangen 211 nach Gott nie aufhært, so ist auch die aus ihnen einmal hervorgeganmit seiner Polemik gegen Ibn Sina, der die Existenz fçr ein bloûes Akzidens erklårt hatte, was Averroes und, ihm folgend, Gersonides widerlegt hatten, siehe Munk, a. a. O., Jol, Lewi ben Gerson, p. 70, Kaufmann, Attributenlehre, p. 422. Efodi zu More II, introd. XIX: we vfarmne lku tbfo dªªut ªx
aªªnjo xba vpdk tbfo lªªgmte wnma llk tuqae wu wejlp sdrj alf wvbo vnjhbb vfajrme jbjjfhm dªªmhfbaf. Maimuni hatte die endlose Fortdauer der Welt aus ihrem Zwecke ±
siehe More II, 28 ± und aus dem Willen Gottes hergeleitet, siehe More II, 27 und II, 29: vlfkj uju qªªpa ¼ elpvj fert tua pbie eg lp jhrn wlfpl vfajrme egu xjmanf eg tdpj aluf fajrmeu vpb tfrje ajrmju etgc fvmkhf wue ala ¼ ftjdpel fa flfk fvfnul ªvj fl ajrme tua. Vgl. auch Schemtow zu More III, 13: la tujjme afee tqob xnfbvvukf djmvm jhrnf wjjs tbde eg ejeju fvfajrm vjlkvu lªªt ¼ ege xjnpe Yl tabvj ¼ enfkne .ªvj ftfjrb afeu fmk 210.
2 Siehe Cod. hebr. Mon. f. 94b: bjth dhf amlp jfe jnu jqla avju lªªt wtma Yl eusj laf abj xbthf doqe lp etfju bjth dhf ala fevl tgfh fa elk ftma al jk ± Rosch hasch. 31a ± dfoj tbcveb lfbm tfbpb fa lke Ptujf tjfae belvjf uae dfoj tbcveb vjtqcf ua vbob wlfpb (Bereschit rabba cp. III) xbjthmf vfmlfp enfb tmfae vpd xkf wjme tjfae xm vrs bfujf jmjme fnjtbdb tabveu fmk eg fnamj dut xbaf ªfiota wnma wjmkhe xm fvlfgf anjo xba vpdl tuqja xkf bjjhvm eje wjjh jlpbm wjbt fa wdae libj flaf xjbme vfajrm lp etgc emkhu tmaf pbie vmkhb xmge Ytfab udhvel vfmfsme vrsb xkvj anjo xba vpdl Ya pnmn wdam al wda armef xk wtdpe Yjtreu emmf jllk doqe vfjel tuqja jk eatj lfbme vutq iqum wnma ¼ vfdfoje cgmm wda wvpdm eatn xk lp ¼ pnmn wvbue jk eate fvuaf uja xjmf xjm lkm [ebvb] ebjob ojnkel wjujae vfbob wjtmfa xku lkf wlfpe vfhrnb edfe xfilqa wc ¼ pnmn wdam al wda armeu uj elhve fl uju em lk alef udfhm fvfje wp wlfpe vfhrnb fntma Yl eusj laf .eljlh wvtghf xm eupnu tbdb al xfilqal bjjhvm afef ejfee Ytdb udhvju tbdb ala bjjhvj al eg jk Pfo fl tauj jk djmv dmfp wlfpe vfjel jfate xm hrnl vftaune wjsjdre vfuqnb armj eg xfjmdf tdpee wvftfr xjaf Yqe wjmul xja jk wjjhrn vfjel wjjfate wjdtqne wjlkuef wjlclce weu fjvfbo wjjsveb fnjuel wvsfuvf watfb la wvfavf wsuhl wvsfuvl vjlkv xjaf vfdfoje vftfr weu fmk vfkqevm jvlb wjlclce fje epnee vjlkv jlpb jvlb wjdtqne wjlkueu thaf wlkufmf wtfjrb lpqb we djmvf lfqj al htkeb fnja fnjnpf fpbi Plhvj al tmfhe xkf jfnu fjla pjcj al lpqeu thaf vjlkv jlpb lpfqe jk fb weu emm wejuja pbi envuj alf we wjarmne vfjfee jnjm fqlhvj alf wjlpqnb jfnu cefn fcenmk wlfp ftmaf (Eccl. 1, 9) umue vhv udh lk xjaf tma eglf dha xjnpb wlfpl lpqj lquef xfkjve jnqfce wlfpe lku jql .tabveu fmk vfalqne xjnp eg tfvoj alf (Ab. sara 54b) atfbeu sfoqe xjnp jk (Deut 33, 27) wlfp vfpftg wjkalme ats wjdtqne wjlkue wfjsb dmfp jela enfpm ftmak (Bereschit rabba cp. 68) wlfp lu fmfsm afef afe lke wdfs fbf lkl wdfs tha fafbj tua wef wjkalme [we] xe fjvhvu vftfel wlfp vfpftg vhvmf ftmaf (a. a. O.) wds ftbd jufp hk jtfbc wef (cf. Ps. 55, 20) wnpju emb lke eupj wvfprmabu fvjjlmq wef fvctdm onkel Ytirn wa fb fslhnf lque wlfpe xm lªªt dmfp afe em lp wlfpl ftmau emf (Ps 103, 20) lp fvdjmpu wjmkhe vrs ftmau fegf wjlclce vfhk web sjqoj fa dtqn lku wjlque vftfr vnjvnb tmanu (a. a. O.) dha sjdr lp wvrsf vflgme [lp] la lªªt (Chag. 12b) wjdfmp tup wjnu lpfqe lkue lp gmt (Prov. 10, 25) wlfp dfoj sjdrf.
211.
1 Siehe hierçber More II, 4 und oben, S. 431, Anm. 3. Ûber den Ausdruck esfuv vgl. zum Beispiel More II, 19 sub finem, wo die Bedeutung des Verlangens bereits ganz in die der Richtung çbergegangen ist. Daû das Wort jfat in unserer Textstelle »notwendig« wiedergibt, siehe Kaufmann, Attributenlehre, S. 333, Anm. 204.
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gene Wirkung von unbegrenzter Existenzdauer. 212 Die Ewigkeit der ins Dasein getretenen sphårischen Gesetze bedingt die gleiche Art der Existenz bei den sublunarischen Gesetzen. An und fçr sich brauchte es dadurch aber nicht ausgeschlossen zu sein, daû auf der Erde groûe natçrliche Revolutionen einstmals stattfinden werden. Was bei der Sçndflut geschah, daû ein Element die anderen zurçckdrångte, 213 kænnte sich wiederholen. Die Fortdauer der Arten 214 wçrde dadurch nicht negiert sein, wenn | anders man der Ansicht Ibn Sinas folgen darf, daû unter gewissen Umstånden durch die Mischung der Elemente eine Urzeugung mæglich sei. 215 Jedoch liegt kein zwingender Grund vor, solche elementare Umwålzungen als zukçnftig hinzustellen; philosophische Forderungen und Bibelworte widersprechen sogar dieser Annahme. Die endlose Fortdauer der Welt ist in jedem Falle gegen Zweifel sichergestellt. Der Satz von der Vergånglichkeit alles Entstehenden gilt, wie schon bei der Widerlegung der peripatetischen Ewigkeitsbeweise bemerkt wurde, 216 nicht bei dem, was durch einen Schæpfungsakt aus dem Nichts in die Existenz gefçhrt wurde. Daû etwas, was einen zeitlichen Anfang hat, doch kein Ende in der Zeit zu haben braucht, 217 zeigt schon die Tatsache der Unsterblichkeit der Seele. 218 Die Mittelwesen sind, wie die Bibel sagt, »die Arme der Welt«, 219 sie vermitteln und erhalten ihr die Fortdauer; die Naturgesetze sind unverbrçchlich und unvergånglich. 220 212.
2 Siehe die oben çber die Ansicht des Averroes angefçhrten Stellen. Vgl. Gersonides, Milch. VI, 1, 16 p. 359: jau tafbm afe doqn jvlb jjmjmue wtce eje tuakf
fdjmveu em vfjfee fla fb fmjluju em xakb fpquj wjjmjmue wjmtce jk doqju wlfpb tuqa doqn jvlb xk wc lque vfajrme eg eje eglf wjarmn. Vgl. ibid. VI, 1, 14 p. 353. 213.
3 Siehe ibid. VI, 1, 15 p. 358: wj eubje bfuvu tuqa jk wjmue vfvfa tqob tma eglf .ªfkf eubj wjef 214.
4 Vgl. More III, 13: doqef ejfee Yumeb etfre vag vdmve xjml enfthae vjlkvef, siehe auch Schemtow zu diesem Kapitel: wjjhrn wemf ujab wjjhrn wem wjtbde farmnf .bfief vfjhrnem flbsju tuqau em jqk xjmb
215.
1 Dieser Fiktion folgend lieû Ibn Tofail seinen Hayy ibn Jakdhn durch Urzeugung geboren werden, siehe Munk, Mlanges, p. 413. 216.
2 Siehe oben, S. 454. 217.
3 Ûber diese Annahme siehe die S. 361, Anm. 1 angefçhrten Stellen. Vgl. More II, 28: fufmj al we wjshe fla lªªt wjatbn fjeu qªªpa, und ibid.: fbu emf wlfpe wjjfup weu qªªpaf hrnl wpbi lp wjdmfp. 218.
4 Siehe More, II, 27: llk ftdpj al wjatbn fnjvpd jql we wjbfuhe vfuqn xkf. 219.
5 Cf. Ibn Esra zu Deut 33, 27: wflk utjq alf wue vhvmf uftjq vhvmf jk tma xfacef. 220.
6 Vgl. oben S. 441 f. Siehe auch More II, 29: eg lp jhrn wlfpl vfajrme egu xjmanf vqfme dr lp fjitqb ala wjnq wfub tbd fnmm envuju al elpvj fert tua pbie. Ûber den zu Anfang unserer Textstelle angefçhrten talmudischen Ausspruch vgl. die Erklårung desselben im More II, 29, sowie die dazu gehærige Bemerkung Schemtows: eljlh tgfh wlfpeu vpd lp ertj vha etfr lp afef, was zu vergleichen
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Auch durch das Eintreten sogenannter Wunder 221 wird die Stabili | tåt der Weltordnung ± und mit diesen Darlegungen steht unser Autor ganz auf maimunischem Boden 222 ± keineswegs gebrochen. 223 Die Naturgesetze sind nicht aus einem notwendig wirkenden Absoluten hervorgegangen, sondern sind von einem frei nach Absichten handelnden Gotte geschaffen worden. Deshalb sind sie der Ausdruck nicht nur des Wesens der Dinge, sondern vor allem auch des gættlichen Waltens. 224 Der Wille des Schæpfers tritt im Naturgeschehen zutage. Was als Wunder gilt, ist keine Verletzung der Regel und keine Abweichung von ihr, sondern eine seit ihrem Entstehen in ihr liegende, prådestinierte Variation. Die Wunder sind ganz ebenso prådestiniert wie die Gesetze. Sie finden in dem freien Schæpfungsakt ihre zureichende Erklårung, ganz wie dies mit der Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit des Naturlaufes der Fall war. 225 Mit der Lehre von der Weltschæpfung steht und fållt daher die Annahme von Wundern; 226 nur dann sind diese mæglich, wenn die Naturgesetist mit den Worten unseres Autors: eljlh wvtghf wjujae vfbob wjtmfa. Ûber die Deutung von Prov 10, 25 vgl. Kusari, ed. Kassel, S. 43, Anm. 5 und Kaufmann, Attrib., S. 205, Anm. 181. 221.
7 Siehe Cod. hebr. Mon. f. 95a (çberschrieben wjvqfme stq): va eªªbªªse atbuk
vlpk tbd lk wp xvn sfh djmv fb cenvel fdhjf emkhe jql fl jfate pbi tbd lkl xvn wlfpe wjlpfq fupju xjnpb wtdof wjnfjlpb pjbie wc tgcu vpk fb vfjel tgcu vfalqne fpbib dhjf [? fvlpk] tmanf jfnu lal eg bjjhj jk vfae fvfup vpb pbie va vfnul xfrt wul udhvju al wee wjvp ela aeju] ptsu wje wp eªªbse enve janv lªªg wjmkh ftma xkf (Mal 3, 6) ªªfkf jvjnu al ªd jna Yqe wjvqfme xjau armn (Bereschit rabba cp. 5) ªªfkf ejnnhl [sjgv] sjgj alu tfae wpf [ptsn gmtu tuqjaf ¼ tjkgnu fmk vfpnmne vusbb vqfmb flfib tabve tbku tbd fjeju dp pbib tfmc tfjre tha bfie fttfpve jk latuj pjufelf wub sbdel flku vfttfpve lp uhnl eime vkjqeb dhfjme wue xjau fntajb tbk ¼ (Chul. 95b?) wjbfi wjuhn jnu wtmak xk wc uhn atsj erpef enfuat ebo fvfjel vfajrme bjjh afeu jm st pbie vfnul lkfju jm xjaf lke vlhve lp st lqfn ¼ wjvqfme udhl xkvj dbl wue egb jk (Ex 6, 3) wel jvpdfn al ªd jmuf ftma xk lp ¼ pbil fpbim Zfh weu em atfbe [vlkjl vfjel] vlkj el vfjel wjbt wjnq lp pbie xm wjarfje wjtbde vfmrpb tbde vajrj wemf vfsqtveef etcee wpbi jk eiml elpmm vftcem wjme vdjmpb [wpbim] lp wjffe wjpbie wjtbde jk tjrse vpb timf vflfs vfabeb pbie vftg wemf uhn eime bfub alf jhtke tuqjae bfu fa tuqja fa bjjfhm pnmne bfu fa tuqjab fa pnmn bjjfhme bfu wemf bfte fplrl pbtme tifs vfnvue fa Yqeb fa djvp fa efe tbpe bfuk fb atfbe vlkj [elv alf] elv al .doqne efe jhrne bfu Yqe fa jhrn efee bfu fa 222.
1 Siehe More II, 29, siehe besonders: tmfae vlpm lp etfm afe featvu fmk afe wa egf xk fhnfeu tha xfrt udhvj fa vjuatb eupm tha pbi envuju dam fjnjpb eus vfjef, sowie: ªfkf fªªiojtal vfan fnhnau afef vpde elcnf xjnpe Yl tabve tbk ene taub usee afef. Hieraus
ergibt sich es, daû Maimuni die Auffassung, welche er in der Midraschstelle findet, als seine eigene auch hinstellt. Vgl. auch Efodi zur Stelle § w: eatju lªªt .wjjpbi wjnjnp we wlfk vfalqneu wejtbdm
223.
2 Siehe oben S. 441 f. 224.
3 Siehe More I, 69: ªfkf fvmkh laf fnfrt la vjlkv lk tfdo pjcj eglf. 225.
4 Siehe oben, S. 456. 226.
5 Siehe More II, 25: vfa lkl vbgkmf etspm vde vtvfo aje ene ¼ vfmdse vnfma; und ibid.: vfvfae vbgke fjtha Yumv alf etfve jdfoj tfvoj al afee vpde. Siehe auch oben
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ze durch einen freien gættlichen Akt in die Existenz gerufen wurden. Deswegen ist auch | Gott allein imstande, Wunder zu çben; 227 der Prophet ist nur Werkzeug und Bote, welcher das, was von Ewigkeit her beschlossen ist, den Menschen verkçndet. 228 Deswegen steht aber auch das, was aus logischen oder mathematischen Grçnden unmæglich ist, çber der Wundertåtigkeit; denn Gott kann das Unmægliche nicht mæglich machen. 229 Die auf diesen Grçnden beruhenden Gesetze sind konstant und vællig unverbrçchlich. Providenz Da in der Schæpfung die ihr innewohnenden Gesetze unverånderlich und ewig fortdauern, so steht çber dem Zufall, dem kontingenten Wechsel des Entstehens und Vergehens, alles das, was in seinem Sein durch diese Gesetze bestimmt wird. Diese beståndige Ordnung ist es, die von Gott emaniert; was in seiner Existenz auf ihr beruht, steht daher mit Gott in Verbindung. Von den Sphåren und separaten Intelligenzen gehært notwendigerweise, kraft ihres Wesens, jede einzelne dieser unverbrçchlichen Gesetzmåûigkeit an, und ebenso unter den unbeseelten Dingen jede Gattung. Das menschliche Individuum steht mit einer Materie auûerhalb jener Stetigkeit, dagegen ist es von seiten seiner Form innerhalb ihres Geltungsbereiches. Aber je mehr der Mensch seiner Materie Herr wird und sein formales, geistiges Dasein bereichert, desto mehr gliedert er sich den ewigen Gesetzen ein, und desto mehr ist er der gættlichen Emanation teilhaftig. Das ist es, was Lewi ben Awraham mit Maimuni die gættliche ProS. 350. ± Ûber die Allegorisierung der Schlange vgl. More II, 30, çber die Gruppierung der Arten von Wundern vgl. Gersonides, Milch. VI, 2, 9, p. 442 (ed. Leipzig), vgl. zum Beispiel die Worte unseres Autors: tbde vajrj wemf uhn eime bfub vfmrpb mit denen des Gersonides a. a. O.: Yqee wjmrpbu em lum .uhnl eime 227.
1 Gegen Ghazali, ibn Esra und Averroes: siehe Efodi zu More II, 29, § p: lfpql aje uqne vlfnou tbfou dªªmhfba wem wjalqe xjnpb vtha vpd wel uj wjmkhe tau wnma lkue wp vfdhab vtusn evfje vnjhbb vfarmnb lpqv ajbne wdae uqn dªªut ªx jqlf wlfpe jlfjeb dªªmhfba vnffk Pfob tafbm afeu fmkf atgp ªx vpd fegf lpfqe. Die Ansicht des Averroes
und ihre Quelle ist ausfçhrlicher dargestellt von Schemtow zu II, 29, letzter Abschnitt. Vgl. auch Kusari V, 12 und die von Kassel, S. 397, Anm. 1 dazu angefçhrte Stelle des Averroes, sowie Gersonides, Milch, VI, 2, 10, p. 446 und 447: ªªfkf atgp xba wetba ªt wkhe vpde egl ein tbku emdj enef und ibid. p. 449 und cp. 11, p. 453. Siehe auch oben, S. 443, Anm. 1. 228.
2 Siehe More II, 29 sub finem. 229.
3 Siehe More III, 15. Zu dem mathematischen Beispiel unseres Autors vgl. ibid. II, 13 pr. 2: fplrl efu ftis pbftm atbj fa.
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videnz nennt; 230 die angewandte Emanationstheorie ist die Lehre von der Providenz. | Vorsehung bezeichnet so einerseits nichts anderes als die von Gott gewollte, zweckvolle Konstanz 231 der Naturordnung, andererseits ± und das ist der eigentlichste Sinn dieses Begriffes ± benennt sie die geistig-sittliche Erhebung çber das materielle Dasein, die von Gott dem Menschen als Zweck 232 gesetzt ist, und die hierdurch bewirkte Konstanz der Individuen. 233 Was vom theologischen Standorte aus als Providenz erscheint, stellt sich dem psychologischen Gesichtspunkt als ideelle Selbsterhaltungskraft dar. Es ist das Verdienst Maimunis, daû er die Providenztheorie damit gewissermaûen auf autonome Grundlage gestellt 234 und ihr dadurch den Charakter einer energistischen Ethik gegeben hat; 235 er hat auch hierin wiederum seine groûe Meisterschaft bewåhrt, supranaturalistische Probleme zu psychologischen und ethischen Fragen umzuprågen 236 und sie so in das philosophische Denken seiner Zeit hineinzustellen. Von Maimuni 237 hat unser Autor die Charakteristik der verschiedenen Anschauungen çber die Providenz çbernommen, und er findet sie auch såmtlich in den Dialogen des Buches Hiob ver | treten; 238 den 230.
4 Siehe die folgenden Textstellen, sowie More III, 8-21 und 50-51. 231.
1 Siehe More III, 13 und III, 17b: cjenm vceneb wef ehcue web uj wjtbde vrsu tdom tdof, ibid.: wejuja fdjmve eg jnqmf wjlclcb hjcum, ibid.: wvdmve afe web ehcuee xjnp .envuj alu xjnp lp 232.
2 Die Lehre von den Zwecken bildet bei Maimuni einen Teil der Providenztheorie. 233.
3 Siehe More III, 8: fvtfr vtgc jqk vdmvme edjmpe usblf tfhbl dbkne djmv wvfldvue vdbkne et passim. 234.
4 Ihren klassischen Ausdruck findet diese Autonomie in den Worten des More III, 51: fb ehnuee ejev lku lpb lk lku tfpju jqk. 235.
5 Die spezielle Ethik schlieût sich deshalb im More an die Lehre von der Vorsehung an, und unser Autor hat die gleiche Reihenfolge, wie er denn çberhaupt sich im groûen und ganzen der Anordnung des More angeschlossen hat. ± Ûber den bezeichnenden Begriff des Energismus siehe Paulsen, System der Ethik, I 3, S. 199 und 225 ff. 236.
6 Er versetzt eine Tåtigkeit, die von dem Bibelwort Gott zugeschrieben wird, in das Gebiet menschlichen Handelns und damit das Problem aus der Sphåre des Supranaturalismus in die der Anthropologie. Siehe oben S. 421. ± Ûber die Ansichten der arabischen Philosophen in betreff der Providenz siehe Munk, Mlanges, p. 319, 346 und 362, sowie Schemtow zu More III, 18, letzter Abschnitt, und Efodi zu III, 51, Vorwort. 237.
7 Siehe More III, 17 und çber die nachher erwåhnte Auffassung des Buches Hiob More III, 23. 238.
1 Siehe Cod. hebr. Mon. f. 100b (çberschrieben: ehcueb tpu): ajef ehcuee vnfma wjdfm wjunae lk jk tmanf elhv pjrnf eb xjjflv wjbt wjutu tua etfve jutum lfdc utu al ehcue xjaf llk tbdl elp xjaf etsmb lfpn lke fbuhu fvpjof oftfsjqam Zfh eflae vfajrmb (Jer 5, 12) afe afl ftmajf db fuhk fjlp tmanu jm vpde eg lp Yumnf wjnfvhvb alf wjnfjlpb
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Wortfçhrer der wahren Ansicht sieht auch er in Elihu. Ebenso folgt er Maimuni im ganzen Gang der Untersuchung. Er nimmt mit ihm an, 239 daû die meisten Ûbel, die den | Menschen treffen, eine Folge seines eigenen Verhaltens sind, und daû er von diesen infolgedessen lkb fnvfatb wjtbdb vtafbm atfbe vnfk jk bgkef evhueb tafbm fnmm lae fnljrj vpde egf tbd lkb dhfjm pbie vnjvnf dha xjnpb wjkumn wjjdmv wvfjef tufjef xfsvef tdoe vjlkv armn bjim fbfif fvfmlu bftl afe jk ehcueb xjmaj eflab edfme lk eglf ehcuef enfk lp etfj wnma xqfaf ecenee vfkjab wjmkhe fslhju ala armn lkl vjlkv afef wcjenjf wvfa ertjf fjaftbl djmv tbd lkb wjjs pbi armeb xjmaju jm wem jk wejvfpd Plhve jql vflpm lp eb wef etjmue ujhkj lba pbib xjmaju jm wemf llk envum jvlb flpqf fnfrt envuj al pbil lpfqe jk jvlb tha Yumn vfajrm wjjsjf edbjf djmvme jvma vfajrme libjf ufhe fjlp [etfju] edfju emb jvma tdc xjaf fqflh lkub tbfp armn lkf llk wjjs pbi xjau bfuhju jm wemf fvbuhmf fjnfjpt pbie bfuj thaf tgnu wjvplf frqh jqk fvfnul lal xkvju ala wjjs pbib xjman fnhnaf llkl jk ehcuee vvmab etuje fvnfmaf afejla vpd ajeu enfkne fvpd tfajb egf ¼ fvfmdsl hmfrb lkue wemp tbfhj alu vfjfee jnjm lkb ajef vjnjm ehcue jnjm jnu wlfpb lae vhcue fnfgm xjm lkl dhj lae jk egf xjmb [w]xjmjjs [w]xtjegelf wejujab alf wejnjmb [ajef] afef jhef fa elfno fb dhjf fvlre webu wjtbd xjkef ftgpef fmfjs web tua wjlpfqf vfhkf wjlk fb ajrmef Pfo ege xjme lpf ¼ fvpd vajlqf fvmkh vfsdf fvnfkf fvhcuef fvpjdj lp djpj eg lkf vflfco vflfcob vjdhfjme vjitq web ehcuee ejevu al (Ps 147, 9) emhl emebl xvfn tma ehcue wdae vntdm jqlf lkue fb sjbdju jm lpf ljkumm ejev ehcuee jk fvlpm jqk dha lkl wdae jnb ehcuee fb sghvv wjlkul fbtsvef fvfbjuhf. Die beiden angefçhrten Bibelverse sind
auch von Maimuni, More III, 17 in gleicher Weise interpretiert worden. 239.
2 Siehe Cod. hebr. Mon. f. 103b: wjlqfnef wjtbdb bftb vdhfjm aje vjitqe ehcuee vag
jqk lae fntmuj fnlra vfajrme jqsfm jvlb lpfqe lkue lra vfboe jlbcfm weu jtuqjae vhv eg vlfgbf lcumb fa lkamb fmrpl fsjgeb xk fvfpjuqm vfabe vfpte fjej alu janvbf ertu Ytpe fmrp vlfg wjuael fl xja fmrpl sgn wtcf fvflkob fuqnb puqu em jk wjthal fpjtef fsjgem xe Pa ftmful ehcuee ejev wpqf ¼ (Prov 19, 3) fbl Ppgj ªd lpf fktd Plov wda vlfa ftmak jqk ejev fvpjof ªªfiota vpdl xk wc vfav tua ajef fvlkue wjvqfm Ytdb wjjhtkee wjtbdem wlue wdab armne afef tufje eatmf fjbjbo fl tjame jufnae lkue afeu Zjlme Yalme vlpm xm wjbbfome xjbjf vfmdse xm vfdlfve ajrfel wtjdpjf wjllke wjtbde lk flkub Pjsmf vfjtbdb alf vfjel jfatu em lk cjuju dp flku tjaj ga jk fvpdl wdal xkvju em lk fpdmb llfkf vfboe [wrfp] wrp hsj wjbkfke jiqum fvpdb wc wda lkul wjtfome wjdjvpe wjtbde xm tbd fnmm wlpj vfhk tbd lkl xvn jelae pbieu fmk jk vjpbif vjlku aje ehcuee fgf ¼ wjbt wjnjnpm lrnel taubm tvfj fb wjtcvme wjpfpte bftmf wjpcne xm tmuel fb lkfj lku wdab dhj xk fvfajrm ftmuj tbd dbkne tmame fats vfme vfafqt jmo tqob mªªt ªvk fqfc vulfhf fvbkte vfsdl wjjh jlpb la etsju em lkm xfhibef elref etjmue la etjhbe ifquj vjufnae emuhme bfi jk fnful eg ejev tua aje vjvqfme ehcueef ªbvj lae vhcueb wa jk vma xfhib xjau qªªpa wjpcqe xm Pfce fntma tbkf fmp wjsbdf fvfa wjbefaf wjpdfjf fjvfrm jtmfuf la vtfvb wjcfee wjdjohe wjmkhl lra lkufmf pfdj wpbi eje pbie lra wjdhfjmef vfajrme jlbcfm vfboe jqsfm weu wjtbde lku lku sbdebf wjjnfrte wjtbde fa wjtsme vrs wemf wrpe juja wemu fntma tbkf dtqne lkue vfnfbv] vfnfkv Ytdf xkvju Ytdb fjvfbob flam udhvme tbde fedmlj fmp fdhavef wkhe (Ex 15, 25) Zp ªd fetfjf tma wjfdme vrs aqtlf sgee slolf doqee tjoel fepjdfj [?Jes 40, 14] ejej vfsbdef epjdje vfmlu jqlf ¼ (II Reg 2, 20) ªfkf jl fhs wjme va fvaqtb pujla tmajf wlue sjdre lfmcvmf wjjhe vfrs fntmau fmk pute unfpmf ehcuee tfpjuf jelae pque lfdc lba ¼ jdfoje fvfhl jql vfjhl fl xkvju em lk ejhjf wjbfrse fjmj almj wueu fntmau fmk Yvfju em Pjlhju fa wlfpl emfam fnmm elkj alu fa ebfrse vfhle vag vdm lp Pjofel lkfjuk wjkqee xm bktfeu jm jk pnmn eg hrnl vfjhl lkfj tua dp Pfce vfjhl tauk wfj lkb enmm wjjfnuef vftfre jqflh djmv lbsme afef jfbte lbsl fpbib tua vffpme tmfhe xm efevef jhrn bfuj al effef doqn effe lk jk vjpbie vfme xm ilmel fl tuqja ja vfdjmvef. ± Der Bibel-
vers Prov 19, 3 ist im More III, 12 in gleichem Sinne erklårt. Ûber die rationa-
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befreit wird in dem Maûe, in dem er zur Stufe der Vorsehung emporsteigt. 240 Durch seine geistigen Kråfte ist er dann auch imstande, Schlçsse aus den Ursachen auf die Wirkungen zu ziehen und eine Zukunft zu berechnen, sich also dadurch vor Schådigungen zu bewahren; 241 denn wer zu einer separaten Intelligenz sich erhebt, kann das, was aus ihr hervorgeht, erkennen und in den Kreis seiner Voraussicht ziehen. Wenn man sich so den Gesetzen der Natur einfçgt, so lebt man ihnen gemåû sein Dasein aus; eine Verlångerung desselben çber seine natçrliche Grenze hinaus stånde aber im Widerspruch mit ihnen und ist deshalb unmæglich. 242 Notwendig und unabwendbar sind çberhaupt alle die Ûbel, die im Wesen der Materie als solcher liegen; diese wird daher in der Bibel als »die Finsternis«, »die Gruft« und »das Bæse« bezeichnet, 243 und hierin liegt der Schlçssel fçr die Erfassung der Schriftstellen, welche Gott als den Schæpfer von Bæsem und Nichtgutem hinstellen. 244 | listische Erklårung von Ex 15, 25 vgl. die Bemerkung Ibn Esras zu diesem Verse: eje eafqt Ytd wjtmfa fnjje wjdmfp wjme fje fljaf. 240.
1 Vgl. More III, 11 und 12. 241.
2 Vgl. More III, 18 und 23, sowie II, 38. Ûber den von unserem Autor gebrachten Hinweis auf Aristoteles vgl. Schemtow zu More III, 18: vjlkvb alqe ljhvmem ejat ajbe alf vfdme tqol fvfhjvqb tmau emm tªªrnfbam ejat ajbeu fnjtfmm alqe ªfkf fjvfmjgm egf lkue jqk lpfqe wnma lªªg vfdme tqob tma jk vfmkhe.
242.
3 Vgl. oben S. 442. Die Ansicht unseres Autors kehrt dann bei Gersonides wieder, siehe dessen Bemerkung zu Prov 10, 27: jk wjbfrse fjmj lp wjmj wdal Pjofv ªd vatj
jpbie jfljbe wdfs fvvjm vfbo weu fl ftdfo tua vfptem lrnj fb jªªue vhcue vfsbd drm und zu 10, 36: va ftma wpik vfmj al vfjhl fl tgcne xmge Yfv wlfpl ifmj al ftmab ertj fa .alma Yjmj tqom
243.
4 Vgl. More III, 9 und 10. 244.
5 Siehe Cod. hebr. Mon. 105 a f.: atfbf ftmab Yuh jfts tdpeef pt atsu afe jlfjee egf fifuqk pt atfb ejeju al tdpef ebo afeu tmhe ajrmeu ªmflk (Jes 45, 7) pt atfbf Yuh
bfie vfajrmef wrpe vajtb st lae la ohjl xkvj alf lpfq vlpqm fnja tdpee afe pte jk ªmflk (Hiob 26,6) xfdbal vfok xjaf fdcn lfau wftp tma xfdbaf lfau jlfjee atsj wc fdcnk ejevu vdhfjm etfr fl vfjem fajrfel wftp afeu lªªt [ebo] vbo afeu tmhe ajrmeu fbrjvjf ftmab bfvke eats xkf ufblf vfok fmk tmfhl etfref (Gen 2, 18) fdcnk tgp wpik afef (Hiob 28, 22) ªmfcf ftma vfmf xfdba bfvke tqo fjlpf (Hiob 38, 14) ufbl fmk vfnb jvu elf esflpe pbik evfa fajsef ejfee fkuml (Prov 30, 15) esflp emlu atsu xjnpk ujctme tfbpb ujctm xjab enfkvf ujctm xjaf ujctm vfjfee jnjm jnuu lªªt (a. a. O.) afeu tma wjnfjlpe xm wvfa usbm flaf fla etfr jnjm djmv sufh tmfhe vfjelf evtbcf ehqub (Prov 30, 16) wjm epbu al Zta [ªmab] ftmak jk jl eatjf pbu ftma wlfplf (a. a. O.) be be spfr etma al uaf ftmab llkf jfnu lbslm enpbuv alf lpqel djmv vfnkfm weu vflpqvme vfhke llk djmv vfnumf vflpfqe vfhke (a. a. O.) xfe. Zur Erklårung von Jes 45, 7, vgl. More III,
10. Die Erklårung von Hiob 28, 22 kehrt auch bei Gersonides wieder, siehe seine Sacherklårung zu dieser Stelle und besonders seine Erklårung von Prov 27, 20. Vgl. auch seine Bemerkung zu Prov 30, 15: xfuate jlfjee ajef lfau aje und zu Prov 30, 15, wo er von der esflp sagt: wde ajsjf, was mit der Bemerkung unseres Autors evfa fajsef zusammenzustellen ist. Zu den Worten ªfkf ehqub xjnpk vgl. Gersonides zu Prov 30, 23.
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Auch die Naturgesetze, die der Gesamtheit der Schæpfung Nutzen bringen, kænnen kraft ihres von Gott bestimmten Wirkens dem einzelnen und sogar vielen groûen Schaden zufçgen, ohne daû deshalb gegen die gættliche Vorsehung etwas bewiesen wåre. Die feste Ordnung des Ganzen bleibt gut, auch wenn sie in dem wandelreichen sublunarischen Gebiet manchen schådlichen Wechsel hervorruft. In dieser materiellen Welt sind zudem die Gegensåtze miteinander verknçpft, jedes Gut hat auch sein Nichtgut, und der Verlauf des Geschehens fçhrt nach dem einen das andere herbei; die Freuden sind begrenzt und oft trçgerisch, viel von ihnen beruht auf der Einbildung, ganz wie auch viel des Ûbels. Wer sich çber das blinde Spiel dieses irdischen Zufalls denkend erhebt, wird daher von ihnen nicht ergriffen und vermindert den Schmerz und erhæht sein Glçck. Gutes und Bæses, das dem Menschen zustæût, wird so vor allem Lohn und Strafe fçr sein Tun, fçr sein andauerndes oder mangelndes Streben nach geistiger Vollkommenheit. Dies ist die gættliche Gerechtigkeit; die Erkenntnis der Providenz fçhrt zur Einsicht in die Theodicee. 245 | Mit diesen Darlegungen, obwohl sie sich nur auf einen Teil des Liwjath-chen erstrecken, ist das System unseres Autors und seine Art zu philosophieren in ihrem Grundzuge gekennzeichnet. Sie zeigen, daû er kein Philosoph, sondern ein Darsteller der maimunischen Philosophie ist, wenn er auch die Gedanken noch anderer 245.
1 Siehe Cod. hebr. Mon. 105bf.: ut sufp wa ftmab eg vbo emlu xvn eg tbd eg lpf Yvfatb iqume olqmf sdrem wjarfj wjtbd wlfpb eatv wa lªªt (Eccl. 5, 7) wejlp wjefbcf ªfkf
wjprmab lpfq lae vfje fg ebo jk eªªbse lu frqh lp emvv la tdpnf lgcn iqumef sfup iqume vfqlhvme vfpfnvef wjlpfqe bftl enef wlfpb jfnuef jfbte vbo weu fnjnjbf fnjb wjbt wjlpfq vfjef fa wjbt wjnjmm fa vfbt vfrta wjllfk wef wjnffkm jvlb wjpfptf wjdoqe wlfpb ftsj alu tuqja ja vfajrme bjjhvju fmk ene jk wvlfgl bjiju tuqja wjdha wjujal fa dha xjml sjgel wjdhfjm we ehcueb lqfne sqoe tjvel vtha Ytd dfp .ptef doqee llkb lulvuj xk wjbkfkef wjmue xm bfief eglf vma Ytdb al vfmfdm vfbfif vfmfdm vfpt xe fnmdseu fmk elae vfbfief vfpte bft jk fjiqub bakjf [ufctj] ujctj alf fjpfupub ljcj alf fjpfupuf xmge vfbfib hmuj al jvmae wkhe lp Pjlhmf fktd [vffpme] vfpme fjvfljlpb Zfsjf gfbjf fjvfptf fjvfbfi lk fl fbuhn xjak jk wjpte alf dthj alf fvhlref fbfil hmfe fnja jk lgme vhv fnja ujae egf fjvfpfnv btb doqef ejffe lk fjndpb wjthfbe fb wjhifbe fjbefa st akdjf bakj alf Pjlhjf ujctj al afef doqee abb fbl tvj vfbfi lkb wdae lkvuj tuak enef fktp ljdcme wa jk ljqujf ljqjf gfbj alf fjvfmpiml wjfavme xjau [erjdf] erjtf ehmu alf vfm alb wjjh xja etfmvm ept ecjuj alu ebfi armj al ege wlfpe lk eatjf dhq jlbm ehib alf ebadf enad jlbm efluf isue xja emhlm jlb wflu alf egct emp wdae jnb vfhlre wc etoe fepjnj xjnsf vfmlu lkf etem btpj vfbtp lkf bgkvf dbav efsv Yqee wlfp eg wlfp wjqfofljqe fats xjdlf elkvf lfbc el xjau vjnqfc ehlre Yl xjaf vfsflh pute isue wa jk (Eccl. 7, 14) wjelae eup ªfkf bfib eje ebfi wfjb emlu tma egl etfmvef fjlpbl tfmu tufpf vjtsm evjm vfmjf wjalhe vfdljvel ebo afe jk fl ptl afe vfbt wjmpq fvfluf vdbal ebo ejejf fatfb hkujf ipbjf eacvj jk wc vfhnal fkqej vfhmu emkf (Eccl 5, 12) fvptl fljreu vflp fb wjsbde fjbefaf fjdjohl bboj lae wnma ¼ wlfp vvjm fvvjm ejevuf fuqn (Jes 25, 1) sfhtm vfrp ajbm (Jer 32, 19) ejljlpe btf erpe lfdc afe jk ela wjnjnpb arfjkm .fjdjoh va tfmul
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Denker in seine Ausfçhrungen aufgenommen hat. Neues Wertvolles gibt sein Werk nicht, wenn er auch auf exegetischem Gebiete mitunter Eigenes bringt. Alles das macht ihn zu einer typischen Erscheinung, zum Vertreter der Religion der Gebildeten in jener Zeit und jenem Lande. Seinen charakteristischen Zug zeigen såmtliche Schçler des einzigen jçdischen Religionsphilosophen, der Schule gemacht hat. Sie alle stehen und fallen mit Maimuni, die Wahrheit seines Systems ist fçr sie eine religiæse Existenzfrage. 246 Wenn man Lewi ben Awraham und die, welche neben ihn zu stellen sind, ihrem Wesen nach, von ihrem Verhåltnis zu Maimuni abgesehen, mit einem Worte benennen will, so kænnte man sie als Vertreter des philosophischen Midrasch bezeichnen; sie schrieben ja auch nicht fçr die wenigen, sondern wollten Belehrung ins | Volk hinaustragen. Der Faden der Midraschliteratur ist eigentlich nie abgerissen; dazu war der Einfluû der Bibel, der alles in seinen Bann zog, zu groû. Zahlreiche rationalistische und noch mehr mystische Schriften zeigen deutlich diesen midraschischen Charakter, wenn sie sich auch weniger oder mehr, aus methodischen Rçcksichten, von der biblischen Reihenfolge entfernen. Der historische Zusammenhang, nicht bloû die logische Kontinuitåt, 247 ist klar zu erkennen, ein Beweis mehr fçr die Entwicklung der Idee in der Geschichte der jçdischen Literatur.
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1 Charakteristisch ist in diesem Betracht der emphatische Schluû, in den Schemtow die maimunische Widerlegung der peripatetischen Ewigkeitsbeweise ausklingen låût, zu More II, 25: fnfs dfbk lp ofhju wdal jfat xklf. ± Dieser Umstand låût uns die heftigen Kåmpfe in der Provence verstehen. 247.
1 Vgl. oben S. 417 f. ± Ûber den beachtenswerten Begriff der logischen Kontinuitåt siehe Ludwig Stein, Die Kontinuitåt der griechischen Philosophie usw., abgedruckt in seinen Essays, An der Wende des Jahrhunderts. S. 106.
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Die Entwicklung zur sittlichen Persænlichkeit
Wenn von Persænlichkeit hier gesprochen wird, so sind in diesem Begriffe als bestimmende Merkmale gesetzt: die stete Beziehung zu Werten, welche durch einen bleibenden hæchsten Wert zu sinnvoller Einheit, zu einem Gesamtwert zusammengefçgt sind, und die Einheit und Geschlossenheit, welche das individuelle menschliche Leben bei allen seinen zeitlichen und seelischen Mannigfaltigkeiten durch diese stete Beziehung erhålt. Der sittlichen Persænlichkeit sind diese Werte und dieser hæchste Wert von sittlicher Art, das heiût Werte, in denen sich das Gute offenbart, und die vor die Entscheidung des Menschen als Gebote hingestellt sind, damit er sie durch sein Tun bejahe und erfçlle und dadurch im Individuellen verwirkliche. Fçr die religiæse sittliche Persænlichkeit tritt als besonderes Kennzeichen noch hinzu, daû der Ursprung und Sinn dieses Guten nicht im endlichen Menschen selbst gefunden wird, sondern in einem unbedingten letzten Grunde, der zugleich den letzten und hæchsten Wert, den letzten und hæchsten Sinn alles Guten bezeichnet; aus ihm hervor und zugleich zu ihm hin ist so der Mensch geschaffen. Wenn von Entwicklung hier gesprochen wird, so ist darunter nicht ein bloûes Anderswerden verstanden, weder eine bloûe Linie des Fortgangs mit ihrem Auf und Nieder, mit ihrer Unterbrechung, ihrem Stillstand und ihrem Weiterschreiten noch ein bloûes Wachstum mit seiner Erstreckung, mit allem dem, worin es sich weitet und wodurch es gehemmt wird. Entwicklung bedeutet hier, da sie im wollenden Menschen und durch ihn sich vollzieht, da sie ein Werden aus einer Freiheit, einer Entscheidung hervor also ist, ein ganz anderes. Sie grçndet sich hier auf ein wirksames Vermægen, ein Schæpferisches des Menschen, auf das individuelle Schaffen einer inneren lebendigen Kraft; in ihr ist eine seelische Erzeugung, eine seelische Geburt und Wiedergeburt, | auch mit ihren Schmerzen. 345
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Die Erziehung im Judentum
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Diese Entwicklung ist so eine Geschichte, die Geschichte einer Persænlichkeit in ihrer eigentçmlichen Kausalitåt, ein Suchen und Ringen, ein Ergriffenwerden und Ergreifen, ein Sichverlieren und Sichgewinnen. Entwicklung bedeutet hier die immer erneute Verpersænlichung. Sittliche Persænlichkeit entwickelt sich demgemåû in einem, oft dramatischen, Sichfinden und Sicherfassen von menschlichem Ich und sittlichem Wert. In dieser Auseinandersetzung von Individualitåt und Gebot wird ein sittlicher Lebenssinn immer wieder verwirklicht, verlebendigt und verpersænlicht, wird er immer wieder im Leben eines Menschen dargestellt. Der sittliche Wert wird, in der Bezogenheit des Ich zu ihm, eine schaffende Kraft, vermæge deren die Persænlichkeit gestaltet und umgestaltet wird, und zugleich wird er selbst darin immer neu charakterisiert und akzentuiert, er gewinnt die individuellen Zçge, durch die allein er im Menschlichen seine Wirklichkeit hat. Je stetiger diese Richtung zu ihm ist und je bestimmender sie damit wird, desto mehr wird er das Bleibende und Einheitliche im Wechsel und Wandel eines Lebens. Die Individualitåt erhålt in ihm einen dauernden und wesentlichen Ausdruck sittlichen Wertes; sie hat sich zur sittlichen Persænlichkeit entwikkelt. In dies alles fçgt sich nun das Besondere noch hinein, das aus dem Besonderen der Religionen hervorkommt. Sie wollen, soweit sie monotheistische Religionen sind, es offenbaren, wie in dem hæchsten Wert das Menschenleben seinen Grund und sein Ziel besitzt, wie er das Ziel sein kann, nur weil er der Grund ist, wie so Grund und Ziel, Voraussetzung und Bestimmung, dieses Gegebene und dieses Gewiesene einander bedingen und verbçrgen. In dem Wie treten Mannigfaltigkeiten hervor; aber gemeinsam ist hier, daû diese eigentliche Voraussetzung und diese eigentliche Bestimmung an sich jedem Menschen und nicht bloû dem Menschen einer einzelnen Kaste oder Rasse oder eines sonstigen engeren Kreises zuerkannt sind. Jeder Mensch ist in seinem Eigentlichsten und Wesentlichsten hier der Mensch Gottes, des einen Gottes aller Menschen, und nicht nur und vorerst der Mensch eines abgegrenzten Bodens, aus dem sein Dasein aufwåchst. Einem jeden ist so hier die Entwicklung der sittlichen Persænlichkeit, als Mæglichkeit und darum als Aufgabe, an sich zugewiesen. | Dem ethischen Monotheismus fernerhin, oder was dasselbe benennt, der Versæhnungsreligion ist es zugehærig, daû der sittliche Wert als entscheidender religiæser Wert, als bestimmender Ausdruck der Fræmmigkeit erfaût wird. Das Gebot mit seiner Unbedingt346
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heit ist daher hier die eigentliche Offenbarung des Gættlichen, und seine Erfçllung ist die eigentliche Verwirklichung dessen, wofçr Gott den Menschen geschaffen hat. Die Fåhigkeit zum Guten und seinem Gebot ist die Gnade, die jedem Menschen zugeflossen ist und die in ihm als Beziehung zu Gott immer bleibt, so daû die Hinwendung zum Guten, die Umkehr zu ihm und die darin gegebene Versæhnung mit Gott zu jeder Zeit ein Vermægen und eine Aufgabe des Menschen ist. Das Sittliche hat daher hier seinen Grund nicht im Rationalen; es wurzelt in der Tiefe des Geheimnisses, aus dem alle Individualitåt, diese Tatsache der Eigenweltlichkeit jedes Menschen, der Einzigartigkeit seiner Seele auch hervorwåchst. Gestaltung des Sittlichen wird damit zur Formung des Individuellsten und nicht bloû ein Erwerben eines Anteils an einem Allgemeinen. Mit alledem ist bereits gesagt, welches die Richtung und die Weise ist, wie vom Judentum aus die sittliche Persænlichkeit ihre Entwicklung findet. Die bestimmende Voraussetzung, die der Glaube hier gibt, ist die von dem ursprçnglichen ewigen Werte des Menschen. Die Bibel nennt ihn mit einem gleichnishaften Worte die Gottesebenbildlichkeit, in welcher der Mensch geschaffen worden ist. Es kann dafçr auch gesagt werden: das Geniale, Schæpferische, Reine, Unvergleichliche, Persænliche, zu dem jedes einzelne Menschenleben angelegt ist. Das Ziel, welches der Glaube aufzeigt, ist das Gute, das Sittliche, wie es in Gott seine letzte und hæchste Wirklichkeit, seine Vollkommenheit und Einheit hat. Zu ihr soll der Mensch hinstreben, ihr sich annåhern; er soll, wie es im Worte der Bibel heiût, heilig sein, wie der Ewige heilig ist. Den Weg von dieser Voraussetzung zu diesem Ziele bezeichnet das »Gebot«; einen eigentçmlichsten sittlichen Begriff hat mit diesem Worte die Religion hier geformt. Im Ringen um das nie endende, nie ganz erfçllte Gebot »heiligt sich« der Mensch, oder wie dafçr auch gesagt werden kann, gestaltet sich die Individualitåt des Menschen zur sittlichen Persænlichkeit. Dieses Religiæse in dieser Besonderheit mit seinen Voraussetzun- | gen, seinen Zielen und seinen Wegweisungen vermag in entscheidender Weise dafçr wirksam zu werden, daû seelische Mæglichkeiten als Mæglichkeiten der Wertbeziehung erkannt und erfaût, daû so diese seelischen Mæglichkeiten planmåûig gelenkt, bestimmt und entfaltet, daû so Richtungen zum Werte bereitet und gepflegt werden. Nicht darum handelt es sich also hier vorerst, daû der Mensch zu bestehenden, im Geschichtlichen gewordenen Werten hingefçhrt werden soll oder daû Werte in ihn einzupflanzen sind ± ganz abgesehen davon, ob dieses letztere çberhaupt mæglich oder denkbar ist. 347
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Es handelt sich hier nur um den Blick fçr ein Vorhandenes, im Menschlichen Angelegtes und fçr seine Entwicklung, wie ihn das Religiæse geben kann, um den Blick fçr dieses Urphånomen, das die Wertrichtung ist, und fçr die Hilfe, die ihr geleistet werden soll, damit der Mensch ihrer bewuût und gewiû werde und sie dadurch als Kraft der Persænlichkeit gewinne. Dieses Bewuûtwerden der Wertbeziehung vollzieht sich, da sie ein ursprçnglicher Besitz unserer Seele ist ± auch alles Gewissen ist Wertgewissen ±, nicht in einem denkenden Erfassen, sondern vor allem und wesentlich in einem Willensmåûigen und Gefçhlsmåûigen, in einem Emotionalen. Als ein Erlebnis tritt es an den Menschen heran, als ein Bewuûtwerden seines Innersten, seines Intimsten und Individuellsten, als das eigentliche Erlebnis seines Persænlichen. Wertbewuûtsein ist so immer ein Selbst-Bewuûtsein. Aber hiermit stellt sich zugleich das entscheidende psychologische Problem ein. Seiner selbst bewuût werden, bedeutet immer zunåchst ein Krisenhaftes im Menschen, einen Erregungs- und Spannungszustand bis zu einem Krankhaften hin; es ist Wirkung und Ausdruck der Stærung eines bisherigen Zustandes, seines Gleichgewichts und Gleichmaûes. Schon im Kærperlichen zeigt es so sich aufs deutlichste. Der Mensch wird sich seines Kærperlichen bewuût, wenn in diesem eine Umwandlung, eine organische Verånderung oder auch nur eine Unregelmåûigkeit eintritt. Daher ist die Zeit der Reifung, der Pubertåt, diese Zeit der ersten und wohl stårksten kærperlichen Krise die, in welcher und durch welche der Mensch zuerst und am tiefsten seines Gesamtkærperlichen sich bewuût wird. Diese selbe Periode ist, in einem psychophysischen Parallelismus, die der ersten und oft einer entscheidenden psychischen Krisis, die ganz wesentlich eine Willenskrisis ist. In ihr, in | ihrem Zerrenden, Spannenden, Unruhvollen, Quålenden wird der Mensch psychisch seines Selbst, seines Eigensten sich bewuût. Er erlebt in ihr und durch sie sein Persænliches, oft in allen den Schichten, in die sich das Erlebnis aufspalten kann. In jeder Krisis, in jedem wesentlichen Erlebnis setzt sich eine Entwicklung durch, sie ist ein Ausschlagen nach der einen oder anderen Seite hin. Sie bezeichnet so im Psychischen eine Wandlung, im Willensmåûigen auch eine Entscheidung, die Entscheidung fçr oder gegen einen Wert; sie schlieût so einen Persænlichkeitsfaktor in sich. Jede Entscheidung wird aber davon bestimmt, welche Kråfte im Menschen wirksam werden kænnen, welche vorher in ihm geformt oder verstårkt worden sind. Die Wertentscheidung in der psychischen Krisis und damit deren Ausgang hångt daher immer davon 348
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ab, was die Zeit vor ihr zu eigen gewonnen hat. Die Gestaltung der Persænlichkeitskråfte, die in der Krisis, im Erlebnis und Bewuûtsein des Selbst, wie die Jahre der Reifung sie çber jeden Menschen bringen, schlieûlich hervortreten sollen, muû daher in der Vorerlebniszeit, das heiût in der Kindheit, statthaben. Das Kind lebt zwar, wofern es nicht in einem Krankhaften ist, wohl in einem Ich-Empfinden, jedoch ohne Bewuûtheit seiner selbst, und gerade dies ist das Kennzeichnende fçr das Kind. Aber in dieser Zeit der Unbewuûtheit kænnen die Fåhigkeiten und Kråfte fçr die Zeit der Selbstbewuûtheit vorbereitet werden. Diese Mæglichkeit ist im Kinde von zwei Seiten her gegeben. Zunåchst kommt sie von dem eigentçmlichen, echten, das heiût nicht durch Kçnstliches, was erst herangebracht wird, verkçnstelten, Spieltriebe her, der im Kinde von Anfang an lebendig ist. Im wahren Spiele spricht sich ein Nichtnçtzliches aus. Das Spiel ist nicht an einen anhaltenden Zweck gebunden, schon deshalb, weil es nicht eine Arbeit, sondern eine Betåtigung ist; es bewegt sich in einer Welt, welche abseits von der bloû realen ist, welche çber diese hinaushebt und in vielem Betracht eine Welt der Freiheit ist und welche zudem in dieser Freiheit auch zu andern Menschen hinstellt. Von hier aus fçhrt eine seelische Linie einerseits zu dem Sinn fçr das, was anders und mehr als das nur Nçtzliche ist, zu dem Sinn fçr das Ideale und Sittliche, fçr das Wertvolle hin und andererseits zu dem Sinn fçr die freie Gemeinschaft mit ihrem Ich und Du in dem Nebeneinander und dem Einandergegençber. Im | Spiel kann ein deutlicher erster Ausgangspunkt, gewissermaûen ein erster Anlauf gewåhrt sein zum Verstehen und Erwerben des Sittlichen, zum Beginne der sittlichen Persænlichkeit hin. Ûber das »Ernstspiel« hin kann es zum Ernste, zum Ûberlegten hinleiten, vom Unbewuûten allmåhlich zum Bewuûten hin. Das andere, wodurch sich im Kind diese Bereitschaften sittlichen Verhaltens gestalten wollen, die den Boden fçr sittliche Kråfte dann geben kænnen, ist seine eigentçmliche Phantasie, die ursprçngliche dichterische Kraft, die in ihm lebt. In ihr ist vieles dem Spieltriebe und Spielempfinden åhnlich und mit ihm verbunden; Zuhæren und Anschauen ist fçr das Kind wie ein Mitspielen. Durch sie auch, und durch sie noch mehr, kann sich ein Zugang zu einer Welt des Besonderen, einer Welt des Sittlichen auftun, und da es das dichtende Vermægen des Kindes ist, Ferne und Nåhe, Auûenwelt und Innenwelt eins werden zu lassen, so wird all das, diese wundersame Welt, zur Welt des Kindes, zu seinem Eigenen, zu seinem Erfahren, seiner Freude und seinem Schmerz. Ein Gefçhl fçr das Gute, fçr das Rech349
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te, fçr das »Du sollst« und »Du sollst nicht«, eine unbewuûte Wertbezogenheit, eine Richtung zum Sinngebenden und Wertbestimmenden kann und will sich hierin entfalten. Das Geheime und das Gebietende, beide nicht getrennt, blicken das Kind an und sprechen mit ihm, spielen gewissermaûen mit ihm, und nach und nach wird seine Phantasie zur Phantasie des Weges auch, den es gehen soll und will. Alle gegebenen und gewordenen Beziehungen, vor allem die des physischen und psychischen Emporschauens, erhalten durch diese dichterische Gabe des Kindes ihr Eigentçmliches. Es wird darum ein Entscheidendes im Leben des wachsenden Menschen, wenn er einmal Vater und Mutter, Lehrer und Fçhrer ohne Phantasie zu sehen anfångt, wenn sie geheimnislos, unpoetisch fçr ihn zu werden beginnen. Fçr die Religion und fçr die Aufgabe menschlicher Formung, welche in ihr gesetzt ist, wird das alles von wesentlicher und nicht nur psychologischer, sondern religiæser Bedeutung. Da fçr sie ein ursprçnglich Gutes im Menschen, eine Reinheit der Seele die Glaubensvoraussetzung ist, so vermag sie im Spiele des Kindes und im Dichten seiner Phantasie einen Ausdruck dieses Reinen und Guten, dieses Gegebenen, von dem die Aufgabe ausgeht, zu | erfassen. Fçr sie ist es das erste Problem des Gewåhrens und Beistehens nun, neben dem, daû die Phantasie ihre reine Nahrung erhalte, dazu zu helfen, daû alle diese Mæglichkeiten jetzt zu intentionalen Dispositionen sittlicher, religiæser Art, zu Dispositionen sittlicher, religiæser Richtung werden kænnen, daû in ihnen allen sich ein bestimmtes Verhalten bilde mit allen seinen Kråften des Widerstands gegen die Situation und der Beziehung zum Wert, daû so die Fåhigkeit des Emporblickens, der Ehrfurcht und damit die Entwicklung zur sittlichen Persænlichkeit vorbereitet werde. Fçr das Judentum ist es noch besonders charakteristisch, daû hier die Weise dieser Vorbereitung vornehmlich ein Tun ist, in welchem sich diese Anlagen des Kindes auswirken sollen ± wohlverstanden ein Tun und nicht eine Leistung; wenn das Tun eine Leistung sein sollte oder wollte, wçrde das wahrhaft Religiæse damit beeintråchtigt oder verbildet. Dieses Tun erstreckt sich, neben der Gewæhnung an ein Wohltun im allgemeinsten Sinne dieses Wortes, auf die sinnhaften und sinnbildlichen Formen religiæser Poesie, auf alles das, was bedeutsam zu Auge, Ohr und Hand hintreten kann, auf die mannigfachen religiæsen Bråuche und Ûbungen, die durch ihr Symbolhaftes fçr den erwachenden Geist, wie der biblische Ausdruck besagt, zu »Zeichen« werden. Das Tåtigkeitsbedçrfnis des Kindes ist hierdurch, wie auch durch das Wohltun, zu einer Bedeutung hingefçhrt; die Bedeutung, 350
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dieses Seelische, Geistige, das fçr die Entwicklung der Persænlichkeit entscheidend wird, ist unbewuût von ihm ergriffen. Und da diese Bråuche und Ûbungen sich an Tage, Stunden und Zeiten knçpfen, so tritt zugleich, wieder im Unbewuûten gewonnen, ein Rhythmus in das Leben ein, diese Zusammenstimmung im dahinziehenden Dasein, in der es eine Einheit im Verschiedenen und im Wechsel, einen seelischen Stil erlangt. Spielen und Dichten und Erfassen einer Bedeutung vereinen sich hier, weil im Kinde jedes Sehen und Hæren des Besonderen sich als ein Dichten auch vollzieht, jedes »Zeichen« durch sein Anziehen und Hinfçhren zugleich eine Tåtigkeit, sozusagen ein Mitspielen anregt. Durch dieses Tun bereitet sich eine Gesinnung mit der Zielstrebigkeit, die in ihr ist, gewissermaûen im Unterbau allmåhlich vor; im Unbewuûten wird eine Struktur, eine Funktion des Sittlichen ge- | formt. Aus dem Tun entsteht so die Gesinnung, nicht, wie bisweilen angenommen wird, umgekehrt. In der Systematik der ethischen Begriffe hat die Gesinnung ihren Vorrang, ihren Primat; psychologisch, im Werden des sittlichen Lebens ist die Tat das Vorangehende, das Erstere. Handlungen in ihrer Aufeinanderfolge und der Einheit ihrer Linie fçgen und bilden eine seelische Disposition, ein Gesinnungsmåûiges, das dann allerdings in das Tun wieder hineinwirkt, sich in ihm ausdrçckt und seiner Mannigfaltigkeit eine Einheit gibt, um dann von ihm wieder selbst eine Festigung und Verstårkung zu erfahren. Erst das, was durch das Tun des Kindes im Unterbewuûten vorbereitet ist, kann daher spåter einen Teil des Selbstbewuûtseins ausmachen, kann dann im Bewuûten und Gewollten das Handeln bestimmen und ihm eine Einheit und Ganzheit, eine gewuûte Bedeutung gewåhren. Mangel an sittlicher Gesinnung, an sittlicher Persænlichkeit ist oft nur Mangel an dieser Vorbereitung. Sie erst kann zumeist es bewirken, daû die Krisis, in welcher der reifende Mensch zum Selbst-Bewuûtsein gelangt, zu einer entscheidenden Beziehung zum Sittlichen wird, daû so das Erlebnis, in welchem diese Krisis ihren persænlichen Ausdruck gewinnt, einen sittlichen Persænlichkeitssinn, einen Entwicklungswert erhålt. Das Eigentçmliche dieser Krisis ist, daû der Intellekt mit seinem Sondernden, Trennenden, Reflektierten hervortritt. Das Ich des Menschen gewinnt eine Vorstellung von sich selbst, es wird fçr sich deutlich fçhlbar, erfaûbar und bestimmbar, seine Individualitåt erfåhrt von sich. Und da das Ich nur in der Beziehung zur Welt, in die es hineingestellt ist, um sich weiû, da alles Selbst-Bewuûtsein auch ein Welt-Bewuûtsein ist, so ist damit zugleich die Vorstellung von einer Welt, einer freundlichen oder feindlichen, einer guten oder bæsen, 351
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gewonnen. Der Mensch beginnt vor sich selber hinzutreten und damit seinem Leben und seiner Welt gegençberzutreten. Er setzt sich, suchend oder ablehnend, im Begehren oder im Widerstreit, im Anerkennen oder Verwerfen mit ihnen auseinander. Die Entwicklung seiner Individualitåt, seine persænliche Geschichte hat nun ihre Zeiten. Im råumlichen wie im zeitlichen Lebensbereiche wird es so erfahren. Zunåchst im Råumlichen: Der Unterschied zwischen Nåhe und Ferne, zwischen Geeintem und Getrenntem, zwischen Er | reichbarem und Unerreichbarem, der fçr das Kind seelisch noch nicht vorhanden war, dringt nun in das Bewuûtsein und in die Erkenntnis ein. Die Einheit der Lebenssphåre, der Eigenwelt des Menschen zersetzt sich und hært schlieûlich auf. Ein Dualismus des Lebens, der Welt und zuletzt des Ich erfçllt mehr und mehr das erwachte Selbstbewuûtsein und erzeugt die Empfindsamkeit, die Reizbarkeit und Unstetheit mit ihrem Bohren, Grçbeln und Zweifeln, diesen Zusammenstoû des Werdenden im Menschen mit seinem Gewordenen. Ebenso ist es im Zeitlichen. Das Kind hatte nur Gegenwart mit ihrer kleinen Ausdehnung zum Gestern und zum Morgen. Erst der Mensch der Reifung gewinnt die Vorstellung einer Vergangenheit und einer Zukunft, eines Gewesenen und eines Ersehnten. Auch damit wird eine Lebenseinheit, die åuûere und die innere, zerlegt oder aufgehoben wie in einem Schicksalsdualismus. Zeiten des eigenen Daseins sind sein und doch nicht sein, sie kænnen ihm fremd, ja ihm entgegengesetzt, ein schmerzlicher Widerspruch zu seiner gegenwårtigen Stunde, zu seinem Ich werden. So bezeichnet diese Krisis eine vællige Lageverånderung in der Seele, eine Stærung, ja Aufhebung des inneren Gleichgewichts. Das erste eigentliche Erlebnis vom Ich ist das Erlebnis von ihr, und das Entscheidende im Leben ist nun, ob und wie sie gelæst wird. Die wahre, die heilende Læsung, die Wiederherstellung des Ich kann nur durch eines gebracht werden. Sie kann nur daher kommen, daû jetzt, am ehesten kraft der Vorbereitung in der Vorerlebniszeit, die nun verlorene Welt- und Lebenseinheit ersetzt, erneut und wiedergeboren wird durch die Einheit und Geschlossenheit, wie die sittliche Persænlichkeit sie in sich schlieût, daû also jetzt diese Einheit des Lebens und Wesens entwickelt und zu eigen gewonnen wird, die in der Bezogenheit auf einen hæchsten Wert und einen Gesamtwert gegeben ist. Durch diese Wertbezogenheit erhålt das Selbst-Bewuûtsein, das Erlebnis, das in der Krisis eintritt, seine sittliche Bedeutung, und damit, daû es diese Bedeutung gewonnen hat, ist im Grunde die Krisis çberwunden. Die sittliche Gesinnung, die als seelische Dis352
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position vorbereitet war, wird jetzt durch die Krisis ins Bewuûte emporgehoben; sie kann jetzt zur Persænlichkeitskraft werden. Auf dies alles richtet sich die zweite erzieherische, helferische Bestimmung, welche die Re | ligion sich stellt: sie will zu dieser neuen Einheit erziehen und helfen. Der Weg hierzu ist im Psychischen deutlich gewiesen. Wenn der werdende Mensch sich selbst und seinem Leben gegençbertritt, so kann dies zum Ichleid, zum Welt- und Lebensschmerz werden. Aber es kann doch auch dazu werden, daû sein Ich, sein Leben und seine Welt sich an ihn wenden, ihn aufrufen und auffordern, daû sie fçr ihn den Sinn eines sittlichen Problems, einer sittlichen, religiæsen Forderung, die vor ihn hingestellt ist, gewinnen. Er selber kann so fçr sich zur Aufgabe werden, wenn dieses Gebot der Fçhrung seines Daseins, des Weges seines Lebens vor ihm steht. Erst durch jenen Dualismus wird dies mæglich und wirksam. Erst dadurch, daû sein Leben und sein Ich in ein zweifaches, in ein daseiendes und ein ersehntes, in ein gegebenes und gedachtes, auseinanderfielen, erst hierdurch kann die hæhere Einheit fçr ihn zur Idee und zum Ziele werden. Denn sie hat ihre Bedeutung und Erfçllung darin, daû das eine Leben zu dem andern, das niedere zu dem hæheren, die bloûe Wirklichkeit zu dem Ideal bezogen und emporgehoben und damit in ihm aufgenommen, mit ihm zu der neuen Einheit verbunden wird. Hierauf erstreckt sich die Hilfe, welche die Religion gewåhrt. Sie will dieses Bewuûtsein der Verantwortlichkeit, zu dem das Selbstbewuûtsein nun wird, durch ihre fordernde Macht verstårken, und sie will das ersehnte, das hæhere Leben mit ihren Werten erfçllen und ihm so die Beziehungs- und Anziehungskraft geben. Sie will damit zur Kraft der sittlichen Entwicklung, der Verpersænlichung des Lebens werden. Diese Hilfe ist durch das psychologisch neu Gegebene bestimmt. Sie richtet sich daher nicht mehr auf das Spielende hin, sosehr dieses fortwirkt, sondern auf das Ernste und Suchende, nicht mehr auf das Dichtende, sosehr dieses zumal weiterleben will, sondern auf das Denkende und Erkennende. Sie låût zum suchenden jungen Menschen ihr Unbedingtes, ihr Kategorisches sprechen, sie will in ihm den Stolz der sittlichen Entscheidung, das Pathos des sittlichen Heroismus lebendig werden lassen. Als Religion des Gebotes tritt sie zu ihm hin ± fçr das Judentum gilt dies vor allem ±, des unendlichen, nie ganz erfçllten Gebotes, das immer wieder aufruft, das ihm ein weites, grenzenloses Feld seines Schaffens und Erfçllens zuweist. Und dem denkenden Drang des jun | gen Menschen gewåhrt sie ihre Ideen, ihre groûen Gedanken. Sie zeigt ihm die Ziele, die immer auf353
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gerichtet sind, die Verheiûungen, welche immer bleiben, die Werte, in denen alles sich eint, und fçhrt sie im Menschen seinesgleichen, in Persænlichkeiten ihrer Geschichte und vielleicht ihrer Gegenwart, zu ihm hin; sie verbindet ihn mit einem letzten Sinn seines Lebens. Das Kind lebt, der reifende Mensch sucht zu wissen, wofçr er lebt. Zu dem allem und dem Heiligenden, das darin gegeben ist, fçgt sie das besondere und das auûerordentliche Heilige mit seinem Sakralen und mit seinem numinosum und tremendum. Sie låût ihre unterbrechenden, ihre sabbatlichen und feierlichen Tage, die aus dem Gewohnten fortfçhren, und ihre auûerordentlichen Zeiten, die Zeiten der Bekehrung und Versæhnung, die von dem Bisherigen und Gewesenen fortrufen wollen, immer wieder zu ihm hintreten. Und sie weist ihm inmitten jedes Tages ein Besonderes zu, indem sie ihre alten Bråuche, Sitten und Handlungen, die der Kindheit eine Betåtigung, wie ein Spielen waren, ihm als seine persænliche Ûbung und Erfçllung, als Heiligung seines Alltags anvertraut. Heiligung ist in ihnen auch im Sinne einer Askese wirksam, im Sinne der Fåhigkeit, das Natçrliche zu befrieden und zu ordnen, im Empfinden des Moments den Gedanken und das Gebot des Lebens festzuhalten und so auch dem Alltag eine gewisse »heroische Form des Daseins« zu geben. Jeder Tag erhålt seinen Ausdruck. Und im Gebete schlieûlich, zu dem die Religion den Menschen hinfçhrt, in dieser Andacht seines Ich wird das tiefste Selbstbewuûtsein und das innerste Erlebnis des Menschen immer wieder geweckt, die Gewiûheit der Verbundenheit mit dem Gættlichen in ihm erneut; seinem Leben wird die Richtung zum Grund alles Wertes gegeben. Durch alle diese stete, einheitliche Wertbezogenheit wird die Selbsterhaltung zur Wçrde, Selbstbewuûtsein und Erlebnis zur Sittlichkeit und Religiositåt, Individualitåt zur Persænlichkeit. In der Auseinandersetzung, in welche dieses Ganze und Geschlossene zu dem einzelnen der Tage gestellt ist, hat die Persænlichkeit ihre Geschichte, ihre lebendige Entwicklung. Und durch die Mannigfaltigkeit dieser Auseinandersetzung wird diese Entwicklung zugleich zur »Auswicklung«, zur Entfaltung und Gliederung, zur Erweiterung und Bereicherung des individuellen Lebens. | Das Entscheidende dieser Entwicklung vollzieht sich in der Zeit des Reifwerdens, in ihrer Krise des Selbst-Bewuûtseins. Jahre nach ihr, in der Periode der vollendeten Reife, erfåhrt der Mensch von neuem eine solche Krise, eine psychische Umlagerung. Es ist die Zeit, meist im vierten Jahrzehnt, in welcher der Dualismus mit seiner Polaritåt, mit seiner Spannung wieder aufgehært und einer Einheitlichkeit des Daseins, einer ganz anderen als der des Kindes354
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lebens, Platz gemacht hat. Das Dasein hat jetzt seinen festen Umkreis, seinen umgrenzten Bereich erhalten. Das Ersehnte, Getråumte, die Hoffnung auf das Auûerordentliche ist vor der Endgçltigkeit des nun Gewordenen und Festgestellten entschwunden; die Mæglichkeiten des Daseins scheinen beendet, mag es auch sein, daû der Mensch bisweilen noch »auf das Wunder wartet«. Arbeit und Beruf, Sorge und Pflichterfçllung, bei einzelnen Berufslosigkeit, fçllen das Leben aus. Es ist nur noch ein Leben mit dem Auf und Nieder des Alltags, und ein Ich in einer Welt hat es zu eigen; das Hæhere ist in das Alltågliche eingesunken. Wohl bleibt eine Wertbezogenheit, aber die Werte sind eingeschrumpft, da sie die Beziehung zu dem hæchsten Werte verloren haben. Sie haben nur noch die Richtung entweder zur bloûen, oft strengen Pflichterfçllung oder zur åuûerlichen Wohlanståndigkeit und zur Tagesarbeit. Die Bedingtheiten haben das Unbedingte verdrångt. Das Heilige, das Verpersænlichte entschwindet. Auch hierin vollzieht sich eine Krise des Selbst-Bewuûtseins, eine Verånderung des bisherigen psychischen Gleichgewichts, wenn sie auch nicht so stark, so aufrçhrend erlebt wird wie jene erstere, und auch hier will es der Religion wieder obliegen, beizustehen. Sie vermag es, indem sie jetzt das, was sie vorher hatte çberwinden wollen, den Dualismus mit seiner Spannung, mit seinem Gebote der Auseinandersetzung, wieder in das Leben hineintrågt. Sie will ihn erzeugen, indem sie gegen die das Leben umringende und umzwingende Prosa die Kraft der Poesie stellt, die in ihr lebt, indem sie die Poesie, die in der Kindheit angelegt und vorbereitet war, zurçckzurufen und zu erneuern sucht. Sie vermag dies zumeist und am ehesten von den Kindern her, die in das Leben des Menschen nun eintreten und in ihm selbst Kindheit wiedererwachen lassen. Alle Lebensgestaltung, die von der Religion ihr Vermægen empfångt, ist in einem Wesentlichen eine Auseinander | setzung zwischen Poesie und Prosa, zwischen dem Offenbarenden und Gebundenen, zwischen Geheimnisvollem und Alltåglichem. Dadurch, daû diese Auseinandersetzung jetzt immer wieder angeregt, daû sie in allem, wodurch sie von der Religion her den Menschen erfassen kann, in Andachtsvollem, Symbolischem, Sabbatlichem, der Prosa entgegen in das Leben hineingefçhrt wird, ist jene Spannung wiedergebracht. In ihr kann wieder eine hæhere Einheit und Geschlossenheit, eine Beziehung zu einem hæchsten Werte geschaffen werden. Die Endgçltigkeit des Daseins wird damit çberwunden, die sittliche Persænlichkeit wieder entwikkelt. Es kann noch eine letzte Krisis des Selbst-Bewuûtseins im Leben 355
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geben: im Alter, wenn der Mensch, der ganze Mensch, und die Welt, die Welt als Ganzes, einander fernerrçcken, einander fremd werden. Auch hier entsteht die Spannung. Es ist die zwischen diesem Leben und der Ewigkeit. Ihre Læsung, die Erneuerung der Persænlichkeit in ihr reicht in das Jenseits hinçber. Hier schenkt die Religion die letzte ihrer Gaben.
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1. Der Lebensstil Es ist fçr die jçdische Religion eigentçmlich, daû sie in besonderem Maûe, bis ins Kleinste hinein, das Leben derer, die ihr zugehæren, durchdringen wollte. Der Gedanke vom Priestertum aller (Ex 19, 6) hatte seine bestimmende Kraft gewonnen; jeder sollte der Priester seines Daseins werden. Die Trennung zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Feiertåglichem und Alltag hærte damit innerhalb des Menschlichen in mancher Beziehung auf; das Sakrale sollte in jede Daseinszeit eintreten und nicht nur als ein Tag neben Tagen der Woche einhergehen. Vor allem das sogenannte »Gesetz« mit seiner Fçlle von Bråuchen und Satzungen, von Bestimmungen symbolischer Art, diente diesem Ziele, alles im Leben, bis in jede Stunde und jede Obliegenheit hinein, religiæs zu erfassen, alles in die Gesamtaufgabe der Heiligung hineinzustellen. Nirgends sollte die Prosa des Lebens, bis zu der des Essens und Trinkens hin, ein ausschlieûliches Gebiet haben; çberallhin sollte sich ein Gottesdienstliches, eine Weihe und Andacht und damit ein Geistiges ausbreiten. Dadurch wurde die Religion mehr noch als anderwårts die bestimmte Form des Lebens. Fræmmigkeit bedeutete zugleich den bewuûten Lebensstil, dem allerdings die Gefahr, die jedem Stil zu folgen pflegt, nicht immer fern blieb, daû aus dem Persænlichen schlieûlich ein bloû Øuûerliches, aus einem Lebendigen ein Ûberliefertes und Gewohntes wurde. Aller Unterricht, der die Religion befaûte, war so in einem Wesentlichen Lebensunterweisung. Sein Ziel war die Hinwendung und Hinfçhrung zu dieser charakteristischen Form des Lebens, zu dieser Beziehung alles einzelnen, nicht also nur der »Werterlebnisse«, 1 son1.
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Spranger, Lebensformen 3, S. 52 u. 81.
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dern der Handlungen und Vorkommnisse jedes Tages, | auf das Ganze, auf den totalen Sinn und Wert, der dem Leben in seiner Universalitåt sowohl wie in seinem Individuellen zukommt. Der Religionsunterricht ist also hier vor allem die Erziehung zu einem Stil oder, wie von jedem Stil auch gesagt werden kann, zu einem Rhythmus des Lebens. Diese Rhythmik erhålt dadurch hier ihr Kennzeichnendes, daû zu dem Gedanken der Werktagsheiligung immer der des Sabbatlichen tritt. Der rhythmische Gegenton gegen den Alltag ist hier nicht sowohl das Heilige ± denn dieses soll ihn und seine Prosa durchdringen ± als vielmehr die Ruhe, die ja nichts bloû Physisches, nicht die Rast nur ist, sondern etwas Religiæses bedeutet. Diese Ruhe ist ein Atemholen der Seele, ein Sicherholen und Sichzurçckholen aus den Werktagen mit ihrer Mçhe und Last; sie ist damit eine innerliche Wiedergeburt, etwas, was zur Sphåre des Geheimnisses, des Gættlichen hinweist. Das Heilige in besonderem Sinne ist hierin gegeben. In dem Werte und der Aufgabe der Heiligung finden das Werktågliche und das Sabbatliche ihre gemeinsame Beziehung und ihren Zusammenhang. So wird der Religionsunterricht Erziehung zu diesem Zwiefachen mit seinem Rhythmus: zur Heiligung des Alltags und zur Heiligung des Sabbats. Es kænnte scheinen, als habe damit der Religionsunterricht eigentlich sich selber aufgehoben. Einem Lebensunterricht, so kænnte man meinen, kann ein besonderer Platz als Unterricht, auch als Religionsunterricht nicht gegeben sein. Eine Unterweisung, durch die ein Lebensstil erhalten und immer wieder erneuert, also nicht nur »ein ideeller Kulturbesitz çbertragen« 2 werden soll, scheint doch çber die Grenzen des Fachlichen und Unterrichtlichen und selbst aller Schule weit hinauszutreten. Denn die Schule bezeichnet, sosehr sie in mancher Hinsicht zur Gemeinschaft fçhren kann und soll, eine Gesellschaft, das heiût einen fçr bestimmte Zwecke und wesentlich fçr das Nebeneinander geschaffenen Verband. Der Lebensstil kann aber seine Einheit und Beståndigkeit gewinnen nur in einer wahren Gemeinschaft, das heiût in einem Verbande, der nicht hergestellt worden, sondern gewachsen ist und wesentlich seine geschichtliche Linie hat, und dem der einzelne so mit der Ganzheit seines Lebens und Wesens angehært. | Erziehung zum religiæsen Lebensstil erfordert in der Tat nicht zuerst das Unterrichtliche und seinen Ort, sondern die religiæse Gemeinschaft, in der die Generationen verbunden sind. Sie erfordert 2.
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Paulsen, Pådagogik 7, S. 6f.
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zunåchst die Familie, diese erste, natçrliche Gemeinschaft, und sodann die Gemeinde, »diesen letzten und hæchsten Ausdruck, dessen die Idee der Gemeinschaft fåhig ist«. 3 Dieser Bereich muûte um so mehr der maûgebende sein, da in ihm ein Wichtiges alles Lebensstils, die Sitte, bewahrt und weitergegeben wird. In der Sitte spricht ± wåhrend alles Technische und alle Mode Ausdruck der Gesellschaft sind ± die Gemeinschaft mit ihrer Reihe der Generationen, in ihr beginnt das Tun des einzelnen seine Haltung und die Gewiûheit seiner selbst und schlieûlich sein Leben den Stil zu erlangen. Auch der Gedanke des Heiligen kann von ihr seinen Ausgang nehmen, indem sie ihr Gebotenes und Symbolisches, ihr auf Gott Bezogenes erhålt und so zu einem Stile der Heiligung wird. In der Erziehung durch die jçdische Religion und zu ihr hat die Erziehung durch die jçdische Sitte und zu ihr daher immer den weiten, wichtigen Platz gehabt. Die Erziehung zu der Lebensform wurde auch dadurch Erziehung in der Gemeinschaft und zu ihr. 2. Die Gemeinschaftserlebnisse Die Familie zunåchst war im Judentum seit altem und mit dem steten Bewuûtsein dieser Bedeutung die Schule der religiæsen Unterweisung. Es galt als die bestimmte Forderung eines religiæsen Unterrichts, schon in den frçhesten Erklårungen so gefaût, wenn die Bibel gebot (Deut 11, 19): »Lehret sie ± die Worte Gottes ± eure Kinder, indem du davon sprichst, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.« Lehre und Beispiel sollten hier zu dem Lebensstil in seinem Werktåglichen und Sabbatlichen hinfçhren. In das Haus stellte zudem das »Gesetz« seine Symbole hinein, diese »Zeichen«, die aus dem Endlichen ins Unendliche, aus der Stunde zum Ewigen hinçberdeuten. Das Empfinden, in dem der Stil seine Seele besitzt, erhielt in ihnen seine religiæse Anregung, diesen Beginn religiæser Erfahrung; sie weckten und nåhrten die Kinderphantasie, die das Geheimnis in das Tågliche ein | treten sieht, und damit dieses Dichterische, Kçnstlerische, in dem alles Religiæse sich regt und webt. Das Haus wurde zum religiæsen Erlebnis. Dazu kam das Erlebnis der Gemeinde. Sie ist hier ein Besonderes, weil das Judentum nicht kirchlich, sondern kongregationalistisch verfaût ist, nicht die im Ûbernatçrlichen gestiftete Kirche zu eigen 3.
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Tænnies, Gemeinschaft und Gesellschaft 3, S. 19.
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hat, sondern nur diese von Menschen seelischer Gemeinschaft bereitete Gemeinde. Sie ist dem einzelnen darum sein Persænliches, zumal es hier keine Scheidung von Priester und Volk, von Geistlichen und Laien gibt; der einzelne steht unmittelbarer, intimer in ihr. Sie ist ihm das Haus, dessen Grenzen sich dehnten, weshalb ja auch das Gotteshaus ganz eigentlich das groûe Familienhaus ist, auch mit seiner Håuslichkeit und Intimitåt. Die Gemeinde als solche wird zur Schule, auch sie durch all das Symbolische, Bedeutsame, durch den Rhythmus von Werktag und Sabbat, in dem auch sie lebt, durch alle die Worte und Klånge, die Bilder und Gestalten in ihr, die zum Hæren, zum Schauen, zum Fragen fçhren. Durch das Haus wie durch die Gemeinde konnte so das Religiæse, als Sitte und Lebensform, den heranwachsenden Menschen erfassen; er wurde im eigentlichen Sinne, ohne doch zunåchst dessen besonders bewuût zu werden, zum Schçler des Hauses und der Gemeinde. Er erlebte eine Unterweisung, die nie als Absicht an ihn herantrat und darum immer bei ihm stehen konnte, ein Erziehen, das nie als ein Erziehenwollen auf ihn eindrang und darum das wirksamste Erziehen war. Er erlebte Religiositåt als Sphåre und Atmosphåre, als eine Umwelt, die nach und nach zu seinem inneren Besitztum, zu seiner Welt wurde. Dieses Erleben war dann in diesem Bereiche von Haus und Gemeinde zum Leben auch hingeleitet, zum geforderten Leben, zur betonten Aufgabe jedes Tages. Dem Lebensstil wurde eine Aktivitåt zugeteilt. Eine Fçlle des Gebotenen, ein Bereich der Sitte, des Sinnbildlichen, der Bråuche wurde, zumal von der Zeit des ersten Lebenseinschnittes, der beginnenden Jugend an, dem Tåtigkeitsbedçrfnis dieser Zeit entgegenkommend, jedem einzelnen als persænliche Ûbung und persænliche Haltung, als das Priestertum seines Daseins anvertraut. Das Erlebnis des Kindes wurde jetzt zum zugewiesenen Leben. Von jedem sollte der Stil | des Lebens immer neu im Werktåglichen und Sabbatlichen geschaffen werden. Um so bestimmter machte sich diese Daseinsfçhrung durch das Individuum geltend, da ein nicht Geringes in dem allen eine Askese war, die von jedem verlangt wurde und die nicht im Auûerordentlichen der seltenen Stunde blieb, sondern, wie zum Beispiel die alten Speisevorschriften, das Tågliche und Gewæhnliche erfaûte. Der werdende Mensch lernte, wie er selbst seine Tage heiligte. Ein anderes noch, was der Askese seelisch nahe war, trat in sein Bewuûtsein ein. Das Judentum war alle die Jahrhunderte eine ecclesia pressa, eine Minderheit, die sich immer wieder in der Minderung ihrer Rechte und Daseinsbedingungen, nicht selten in Krånkung 360
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und Verfolgung als solche erfuhr. Der einzelne erlebte es in ihr als ein wesentliches Stçck seiner Zugehærigkeit zu ihr. Der Gedanke, zu den wenigen zu gehæren, das »Ertrage und Entsage«, das darin gefordert war, wurde ein Bestandteil der Religiositåt. Die ganze Umwelt, von der her sich die innere Welt bildete, formte es so; Gemeinde und Haus standen in einem eindringlichen geschichtlichen Kreise. Die geschichtliche Situation wurde in einem stårkeren Maûe als anderwårts empfindbar und wirksam. Zu dem Erlebnis von Schule und Gemeinde kam ebenso unmittelbar das Erlebnis der Geschichte hinzu, der Geschichte zudem als Gebot, ja als Mårtyrertum. Sie war nicht nur etwas, was, aus Vergangenheit und Dichtung hervorleuchtend, vor der Bewunderung stand, sondern sie gehærte als seine stete Bestimmtheit jedem Dasein zu. Etwas von dem, was Carlyle der Religion als »heldenmåûige Form des Daseins« zuspricht, wurde hier eine kennzeichnende Linie der Lebensform. 3. Das religiæse Wissen In diesem dreifachen Gemeinschaftserlebnis von Haus, Gemeinde und Geschichte war das Wesentliche der religiæsen Heranbildung so sehr gegeben, alle Heranfçhrung zur Gesamtaufgabe der Heiligung so sehr bewirkt, daû alles Unterrichtliche, alles Eingerichtete fçr die Religiositåt nur geringere Bedeutung haben konnte. Durch eines war diesem trotzdem der Platz bereitet. Es hatte sein wichtiges und auch weites Gebiet als der Unterricht in der he | bråischen Sprache und dem hebråischen Schrifttum. Als heilige Sprache und heiliges Schrifttum gehærten diese dem Bereiche der Religion und der Religionsgemeinschaft an. Schon die Teilnahme am Gottesdienst forderte diese Sprache. Sie war die Sprache des Gebetes, und zwar nicht nur eines priesterlichen, wie die lateinische im katholischen Gottesdienst, sondern des Gemeindegebetes. Sie war die Sprache auch der Schriftvorlesung, und auch diese war nicht dem Geistlichen, sondern im Prinzip einem jeden zugewiesen; auch fçr ihn sollte die Bibel die alte hebråische Bibel sein. Der gesamte Gottesdienst war, da ja eine Scheidung von Geistlichen und Laien nicht bestand, Gemeindegottesdienst im vollen, uneingeschrånkten Sinne; jeder einzelne war sein Tråger und sollte darum seine Sprache, die hebråische, zu eigen haben. So ergab sich das Eigentçmliche, daû der eigentliche Religionsunterricht ein Unterricht sprachlicher und literarischer, fast wissenschaftlicher Art war. Wenn auch die Inhalte, an denen die Sprache 361
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erlernt und geçbt wurde, die der Religion waren, alle die Gebete, die Heilige Schrift und das an sie sich anschlieûende Schrifttum, so stand in diesem Unterricht doch als ein Unentbehrliches, Wesentliches die Einfçhrung in die Sprache, die zwar eine Sprache der Gemeinschaft, aber nicht die Muttersprache, eine Sprache fçr alle, aber nicht die des Alltags war. Diesen Charakter behielt er, auch als zum Beispiel in Deutschland und den æstlichen Nachbarlåndern, nach denen deutsche Juden im Mittelalter auswanderten, sich eine Sprache, die jçdisch-deutsche, bildete, die unter dem Einflusse des Hebråischen Bestandteile aus diesem in das Deutsche einfçgte, die Alltagssprache also hebråisierte. Das Hebråische blieb trotzdem eine zweite, eine andere Sprache, und der Religionsunterricht hatte, nach wie vor, seinen literarischen Zug. Dieser Zug wurde durch ein anderes verstårkt. Der Gedanke des Anteils aller am Priestertum war schon frçh zu dem des Anteils aller auch am religiæsen Wissen geworden. Den Prophetensatz (Jes 54, 13) »alle deine Kinder Jçnger Gottes!« hatte schon die alte palåstinensische Bibelçbersetzung wiedergegeben mit den Worten: »Alle deine Kinder unterrichtet in der Lehre Gottes!« Das Eindringen in das religiæse Schrifttum wurde eine Forderung, die sich an jeden richtete. Mit ihr wurde in so hohem Maûe Ernst ge | macht, daû zum Beispiel selbst die jçdische Religionsphilosophie und auch die Mystik des Mittelalters so tief in die Gesamtgemeinde eingedrungen sind, daû sie in ihr zu einem Besitztum wurden. Kennzeichnend ist schon, daû selbst das Wort »Lernen«, das im Judentum gemeinhin von der Aneignung des religiæsen Schrifttums gebraucht ist, in dem Ton und Gehalt, den es hier gewann, mehr unserem Wort »Studieren« nahe ist, als unserem Worte »Lernen«. Es war in der Tat ein Studium, das der religiæse Unterricht bedeutete, allerdings auch mit der Einseitigkeit mittelalterlichen Studiums, daû, mit seltenen Ausnahmen, nur das månnliche Geschlecht den Weg zu ihm hatte. Der eigentliche Religionsunterricht war ein Unterricht, der ihm allein gewåhrt war. Wie dem heranwachsenden Mådchen der Lebensstil auch schon im wesentlichen durch das Erlebnis des Hauses allein bestimmt sein konnte, so beschrånkte sich der Unterricht, der ihm zuteil wurde, im groûen und ganzen auf die Einfçhrung in die håuslichen Satzungen und in das Gebetbuch. Aber in ihren Månnern wurde die Gemeinde dafçr fast eine Gemeinde von Theologen; in dem Erlebnis, das die Gemeinde bot, war auch das Erlebnis dieser Gelehrsamkeit aller.
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4. Die neue Zeit und der Konflikt Diese Lage und diese Aufgabe der religiæsen Erziehung blieben die gleiche çberall in den jçdischen Gemeinden, bis am Ausgang des 18. Jahrhunderts die neue Zeit fçr die Juden Mittel- und Westeuropas anhob. Es war eine durchaus neue Zeit, bezeichnet durch den Auszug aus dem Ghetto, der alten »Judengasse« mit ihrer Lebensgemeinschaft. Die Lage fçr die religiæse Erziehung wurde jetzt eine durchaus andere. Die Aufgabe jedoch beharrte vorerst in ihrem Ûberkommenen, schon vermæge der konservativen Kraft, die allem Religiæsen innewohnt, dann aber auch vermæge des Bedçrfnisses nach religiæser Kontinuitåt, das sich sehr bald bei der Besinnung nach der ersten Umwålzung regte. So muûte ein Widerspruch zwischen Lage und Aufgabe entstehen und sich immer neu dartun; er wurde zum inneren Konflikt der religiæsen Erziehung, zu ihrem Problem, das bis in die Gegenwart hineingreift. | Die Lage war eine andere, weil die Kindheits- und Jugenderfahrungen, von denen die religiæse Erziehung bisher ausgegangen war, sich mehr und mehr abschwåchten und hier und dort sogar schwanden. Allmåhlich und unwiderstehlich læste die neue Zeit jene geschlossene Einheitskultur auf, die dem jçdischen Wesen und Leben bis dahin das Eigene, den Stil gegeben hatte. Der Jude trat aus seinem bald gegen ihn, bald durch ihn abgegrenzten Sonderdasein heraus und trat in die europåische Gesamtkultur ein; sie beanspruchte jetzt einen Teil seines åuûeren wie vor allem seines inneren Daseins. Das Religiæse, das Jçdische konnte nicht mehr wie bisher den ganzen Bezirk seines Geistigen, Seelischen, sondern nur ein mehr oder weniger bestimmendes Stçck desselben erfassen. Die Erlebnisse von Haus, Gemeinde und Geschichte vermochten nicht mehr in der alten Weise wirksam zu werden; aus dem Erlebnis wurde bloûe Anregung und zuletzt vielleicht eine bloûe Kunde von vergangenen Tagen. Das Haus stand nicht mehr innerhalb einer einheitlichen gleichgearteten Welt. Es hatte seinen Platz jetzt neben den Håusern anderen Wesens, und diese neue, die andere Welt drang in sein Innenleben ein. Ebenso, und wohl noch mehr, erfuhr es die Gemeinde. Sie, die bisher sowohl im Råumlichen wie im Geistigen ein in sich geschlossenes Gebilde, gewissermaûen eine Polis gewesen war, verlor in jener wie in dieser Hinsicht ihre Grenzen und damit ihre Bestimmtheit; sie umfing den einzelnen nicht mehr. Am meisten wohl begann die geschichtliche Situation ein anderes zu bedeuten. Das neue Jahrhundert brachte, wie çberhaupt dem Dissenter, so der 363
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jçdischen Minderheit die Anerkennung und damit die Aufnahme in den Staat, die Teilnahme an ihm; der Jude erhielt das neue Gebiet der Geschichte fçr sein Bewuûtsein wie fçr seine Aufgabe. Das alte einfache religiæse Erlebnis und der alte Lebensstil hærten auf, zum mindesten in ihrer alten Natçrlichkeit und Selbstverståndlichkeit. Aus dem Naiven wurde, oft bestenfalls, ein Sentimentales. Aus dem, was die Gemeinschaft gegeben hatte, wurde zumeist etwas, was nur noch in einem Gesellschaftlichen, Schulischen gegeben sein konnte. Die Verwirklichung des Lebensstils wurde sehr oft aus einer werdenden, wachsenden Lebenserfahrung zu einem Unterrichtsgegenstand mit einigen Stunden. Die Zeit des eigentlichen Unterrichts in der Religion begann und in ihm, | da die festgehaltene Bestimmung nun der verånderten Situation gegençberstand, nur zu håufig ein Konflikt mit Haus, Gemeinde und Geschichte. Er wurde dadurch vertieft, daû er zugleich zum Konflikt mit dem alten »Gesetz« und dem Sabbat wurde. Das Prinzip des »Gesetzes« war die Durchdringung und Heiligung des ganzen Lebens und damit eine Abgrenzung gewesen; mit dem Schwinden der bisherigen Grenzen verlor es daher viel von seiner lebendigen Geltung. Den Sabbat wiederum stellte der Eintritt in die bçrgerliche Gesamtheit je långer desto mehr gegen den bçrgerlichen Ruhetag hin; er muûte diesem gegençber den Kampf um den Daseinsraum fçhren. Der alte Rhythmus des Lebens hærte mehr und mehr auf. Ein Zwiespåltiges bedeutete auch die Stellung des Hebråischen im Religionsunterricht. Dieser hatte bisher seinen kulturellen Charakter gerade durch das Hebråische gehabt, da dasselbe, åhnlich dem Lateinischen im christlichen Mittelalter, fçr die Gemeinde die Sprache der Wissenschaft und auch der Bildung gewesen war. Die Einfçgung in die europåische Kultur lieû ihm hier allein den Platz eines Historischen. Eine Gegenwart behielt es nur noch im Gottesdienste, und auch hier wurde sein Gebiet beengt und angezweifelt. Auch die Kontinuitåt der religiæsen Bildung war so vielfach unterbrochen. Ein Geringeres war es demgegençber, daû die neue Zeit eine Auflæsung des alten Welt- und Lebensbildes gebracht hatte. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse haben in die jçdische Gemeinde kaum je wesentliche Erregungen hineingetragen; schon das kopernikanische System war ohne eigentlichen Widerspruch von ihr aufgenommen worden. Da das Judentum den Wert auf die Heiligung und den Lebensstil, also auf das Tun und die Verwirklichung legte, so konnte es den Glaubensgedanken eine græûere Freiheit gewåhren und fçhlte sich daher in den Fragen der Wissenschaft kaum maûgebend gebunden. Um so weniger brauchte dies der Fall zu sein, da 364
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der jçdischen Gemeinde, ihrer geschichtlichen Eigenart gemåû, einerseits das kirchliche Dogma, die in endgçltigen Begriffen ausgeprågte Glaubensformel, anderseits die konstituierte kirchliche Autoritåt, die eingesetzte Glaubensobrigkeit, fehlt. So haben die Auseinandersetzungen, die anderwårts den Glaubensbereich zu bedrohen schienen, hier weniger bedeu | tet. Der andauernde Konflikt trat von jener anderen Seite her ein, und fçr die religiæse Erziehung kommt alles darauf an, ihn zu çberwinden. 5. Milieufræmmigkeit und Individualfræmmigkeit Von einem ist hier vorerst auszugehen, von der Anerkennung der verånderten Lage und dem daraus folgenden Erfordernisse einer neuen Grundlinie der religiæsen Erziehung. Wo diese gegeben ist, zeigt sich an einer Unterscheidung zweier, in ihrer Eigentçmlichkeit wesentlicher Fræmmigkeitsformen, der Milieufræmmigkeit und der Individualfræmmigkeit. Sie sind durch die Verschiedenheit ihrer psychologischen Wurzel gekennzeichnet. Fçr die Gestaltung der ersteren ist ein Primåres das vorhandene oder zu schaffende Milieu, die Umwelt also und die Gemeinschaft. Fçr die Gestaltung der anderen ist ein Primåres die Erfahrung und das Erlebnis des Individuums, die Innenwelt also und die Persænlichkeit. In beiden ist der Wert sowohl von Innenwelt wie von Umwelt begriffen und betont, aber die Bestimmtheit des Werdens und Beginnens ist hier eine andere als dort. Die herkæmmliche jçdische Fræmmigkeit ist in ihrem Charakteristischen unverkennbar eine Milieufræmmigkeit. Sie hatte als solche ihr Natçrliches, Gewachsenes, ihr Selbstverståndliches und Naives. Aber es liegt in ihrem Wesen, daû sie nur auf ihrem einmal gegebenen Boden und in ihrer besonderen Atmosphåre gedeiht. Sie kann in ihrer Art schwer umgepflanzt werden, zumal in ein Gebiet anderen geistigen Klimas. Abgesehen von den dargetanen anderen Grçnden hat darum schon die Freizçgigkeit, die das Jahrhundert brachte, mit den Wanderungen vor allem aus der kleinen in die groûe Stadt ihr viel von dem Platze ihrer Wirklichkeit genommen. Wie sehr sie im Grunde oft nur ein Stçck Heimat ist, das dann zurçckgelassen wird, lassen Beobachtungen in der Gegenwart immer wieder sehen. Demgegençber hat die Individualfræmmigkeit nur wenig Bodenståndiges und Urwçchsiges, wenig einfach Gewordenes und gradlinig Gestaltetes. Das ist ihr Mangel, ist aber auch ihr Vorzug. Sie hångt von den schwankenden, wechselnden Voraussetzungen ab, aus denen sich 365
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das Individuelle oft unruhvoll hervorentwickelt; aber sie ist dafçr dann unabhångig | von der Bestimmtheit des Gebietes und der Beziehungen. Einmal geworden und gestaltet, bleibt sie zumeist, auch in anderer Umgebung und in anderer Zeit; sie vermag »unterwegs« zu sein. Sie kann mehr, als jene andere, den Konflikten mit Menschen und Verhåltnissen gewachsen sein, ja sie wird in ihnen oft nur noch mehr ihrer selbst gewiû. Es ist kein Zweifel, daû jene erstere Form der Fræmmigkeit, sosehr manche Sehnsucht sich ihr zuwendet, nicht zurçckzuholen ist, um die der Gegenwart wieder zu werden. Wie sehr manches Haus und manche kleine Gemeinde sie bis heute bewahrten und sie weiter zu bewahren bereit sind, auf das Ganze gesehen, bleibt es ihr versagt, fernerhin das lebendige Gestaltungsprinzip zu sein. Die gesamten Bedingungen und Mæglichkeiten stehen dem, wie gezeigt, zu stark entgegen. Das Erfordernis ist deshalb unabweisbar, den Weg zu beschreiten, welchen diese andere Fræmmigkeitsform aufzeigt, das heiût nicht davon auszugehen, daû die Heiligung des einzellebens gewåhrleistet werde durch die erzieherische Heiligkeit des bestehenden Hauses und der bestehenden Gemeinde, sondern davon, daû im Erzieherischen die Heiligung des einzelnen bewirkt werden solle, um dann in Haus und Gemeinde weiterzuwirken. Diese Form bezeichnet im Judentum nichts Neues, sondern nur das Hervorheben einer hier schon gegebenen Richtung. Das Judentum hat den entschiedenen voluntaristischen Zug; es verkçndet die Gewiûheit dessen, daû die Fåhigkeit des Guten einem jeden, als dem Menschen Gottes, innewohnt, so daû sich an den Willen jedes einzelnen auch das Gebot wenden soll, dem Guten ein Dasein zu bereiten. Dem Menschen, dem von Gott Geschaffenen, ist hier das Schæpferische, die Gabe, schaffen zu kænnen, und die Aufgabe, schaffen zu sollen, zuerkannt; er ist als einer, der erfçllen und verwirklichen soll, vor seinen Gott hingestellt. Dieser Glaube an die Gottesebenbildlichkeit oder, was dasselbe besagt, an die Genialitåt jedes einzelnen ist eine der deutlichen, maûgebenden Voraussetzungen des Judentums. In ihr erhålt ein religiæser, sittlicher Individualismus seinen Bereich; jeder Menschenseele sind ihr eigener Wert und ihr eigenes Recht zugesprochen und damit ihre Pflicht, das Gebot in seiner Ganzheit und Gesamtheit zu eigen zu nehmen. Dieser anderen Fræmmigkeitsform | und der dadurch bestimmten religiæsen Erziehung ist so die sichere Grundlage im Wesen der jçdischen Religion gewåhrt. Eine neue Bedeutung gewinnt aber nun der eigentliche Religionsunterricht. Hatte er bisher, da die Umwelt das Wesentliche der Erzie366
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hung bereitet hatte, im groûen und ganzen einen literarischen Charakter gehabt, so wird das Religiæse jetzt zu seinem Gegenstande. Er soll die religiæse Innenwelt, die religiæse Persænlichkeit gestalten, er soll der religiæsen Bildsamkeit des Zæglings zur Struktur, zur Erfçllung verhelfen. Nicht nur das Wissensmåûige soll er nun darbieten, sondern das Menschliche in seiner religiæsen Totalitåt umfassen. Und noch mehr ist jetzt dem Lehrer in ganz anderer Weise seine Aufgabe und auch seine Eigenart zugeteilt. Da ihm jetzt die Ausbildung der religiæsen Individualitåt anvertraut ist, so wird damit seine eigene individuelle Religiositåt zur wesentlichen Vorbedingung; die Milieufræmmigkeit kann also auch fçr ihn nicht genug sein. Erst von seinem Individuellen aus kann die Wechselwirkung eintreten, in der jeder Unterricht, der nicht im Realen, Wissensmåûigen bleibt, sich vollzieht. Nur durch seine persænliche Religiositåt wird der Lehrer dazu befåhigt, die des Schçlers zu suchen und zu ergreifen, um dann an dem Religiæsen des Schçlers seines eigenen wieder klarer bewuût zu werden. Inmitten der alten Milieufræmmigkeit konnte der Religionsunterricht ein bloûes Unterrichten sein, er konnte ein Gençge darin haben, in die Kenntnis und das Verståndnis eines bestimmten Stoffgebietes, des religiæsen Schrifttums, einzufçhren. Jetzt tritt das Wissensmåûige ganz hinter das Erzieherische zurçck. Man kænnte mit einem Gegensatz der Begriffe sagen: Der alte Lehrer muûte Religion besitzen, dem neuen Lehrer muû Religiositåt zu eigen sein. Nicht der weiterzugebende Stoff, die weiterzugebende Kulturhabe, sondern der sich selbst gebende Mensch ist jetzt das Entscheidende. Damit tritt eines als ein Wesentliches hervor, das Kçnstlerische der Persænlichkeit. Die Wirkung, welche das Milieu ausçbte, war die objektive, ruhige eines Gesamtkunstwerkes. Die Einwirkung, die der Zægling jetzt erfåhrt, ist die subjektive, bewegte, in der sich der Kçnstler betåtigt. Religiositåt und Erziehungskraft kommen in ihr zusammen. Alles Erziehen ist ein Kçnstlerisches, der Versuch, einem individuell Gegebenen, einer menschlichen Seele die | ihr gemåûe Form zu schaffen, sie zu bilden und zu gestalten. Und alle Religiositåt ist ebenso ein Kçnstlerisches, ein Suchen und Mçhen, daû das eigene gegebene Leben geprågt und verwirklicht werde. Religiositåt ist eine nach innen, zu sich selber hingewiesene Erziehung, und Erziehung ist eine sich nach auûen, zum anderen Menschen hin, wendende Religiositåt. Einer Verwechslung ist hierbei, im Erzieherischen wie im Religiæsen, allerdings zu begegnen, daû nåmlich ein Østhetisierendes fçr das Kçnstlerische gehalten, daû eine Beziehung zu etwas, was das Leben begleiten oder schmçcken kann, fçr 367
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die innerliche Verbindung mit dem genommen wird, was ihm seinen letzten Sinn geben will. Selbst durch das echte Verhåltnis zur Kunst kænnte dieses Erzieherische und Religiæse nicht ersetzt sein. Fçr das Judentum gilt das ganz besonders, nicht nur deshalb, weil hier um des Geistigen willen jeder Versuch eines anschaubaren »Ausdrucks« des Gættlichen abgelehnt wird, sondern deshalb vor allem, weil der Kunst das Endgçltige und Kategorische, das unbedingt Gebietende abgeht, das hier in der Religion spricht. Selbst das Kunstwerk, welches ± in gewissem Sinne gilt dies ja von jedem wahren Kunstwerk ± ein religiæses Empfinden und Ahnen wecken kann, mçûte hier zunåchst zurçcktreten; denn vor ihm will hier das Symbol stehen, dieses »Zeichen«, das zu dem Unendlichen mahnend hinweist. Aber das Entscheidende ist, daû es hier nicht auf das Erlebnis des Kunstwerkes, sei es selbst der Poesie in der Bibel, ankommt, sondern auf das Kçnstlerische, das Sichoffenbarende der Persænlichkeit. Das, was religiæs sich im erwachenden und erwachsenden Menschen entfalten soll, wird zur Aufgabe im Religionsunterricht nur vermæge dieser Religiositåt des Lehrers. 6. Die Unterrichtsaufgabe
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Wenn das, was sich aus der verånderten Lage ergibt, derart anerkannt ist, so vermag die alte Aufgabe, die der Lebensgestaltung, der Heiligung des gesamten Lebens, unveråndert zu bleiben. Sie bleibt die gewiesene, weil sie, fern von aller Zeitbedingtheit, die wesentliche im Judentum ist. Die Lehre von dem einen Gotte, der beginnende und bestimmende Satz im Judentum, ist in ihm keine Doktrin und kein Philosophem, sondern eine Lebens | bedeutung, eine Lebensforderung. Religion ist hier nicht darin schon gegeben, daû Menschen erkennen und glauben, daû der eine Gott ist, er, der Schaffende und Gebietende, und keiner neben ihm. Menschen haben sie vielmehr ± das ist hier das Kennzeichnende ± nur dann, wenn ihr Leben in allem, was zu ihm kommt und von ihm geht, sich mit dem einen Gott verbunden und an ihn gebunden weiû, so daû er ihnen in allem Erfahren und allem Tun ihr Gott ist. Nicht darin also, daû der eine, heilige Gott verkçndet worden und zum geistigen Besitze der Gemeinde geworden ist, sondern darin erst, daû er zum entscheidenden Mittelpunkt fçr alle Stunden des Lebens wird, daû sie alle auf ihn bezogen werden, in diesem Theozentrischen des ganzen Lebens liegt das Eigentçmliche des Judentums. Zu dieser Bedeutung des Lebens, seiner Heiligkeit, zu dieser Aufgabe des Lebens, der an ihm zu verwirk368
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lichenden Heiligung, wollen hier alle religiæsen Erlebnisse hinleiten. Aller Religionsunterricht ist darum hier Lebensunterricht, Unterricht vom Werte und Gebote des Lebens. Das Wort vom religiæsen Stile des Lebens kann dafçr auch wieder gebraucht werden. Der Unterricht erhålt damit seine Zentrierung, seine innere Geschlossenheit. Von dem Grundgedanken des Einen kann hier alles ausgehen, und auf ihn kann alles zurçckgefçhrt werden. In ihm spricht zunåchst das Eine, um dessentwillen der Mensch da ist, das Eine, das allein nottut, das Gebotene, das Gute, das in aller Fçlle der Aufgabe und Pflicht immer das Eine ist. Er spricht sodann von dem einen Gotte, von dem alles, was wirklich ist, seinen Ursprung hat, der dem Menschen das Leben und das Gebot gegeben hat, damit er das Leben durch das Gebot heilige, das Gebot durch das Leben verwirkliche. Und er spricht endlich von dem einen Menschenleben, von dieser Einheit und Ganzheit, die der einzelne Mensch erlangt, wenn er das Eine, das Gebot des einen Gottes, mit ganzem Herzen zu erfçllen sucht, von dieser Einheit und Ganzheit, zu der die Menschheit hingefçhrt wird, wenn sie sich in dem einen Gott und in dem einen Gebote findet. Einheit, die erfaût, und Einheit, die verwirklicht werden soll, darin schlieût sich hier alles zusammen. In dem Gedanken der Einheit ist dann zugleich ein anderer gegeben, der der Gemeinschaft. Sie ist die Gemeinschaft mit Gott, | dieser Glaube an ihn, das heiût die Gewiûheit, in ihm Grund und Ziel des Lebens immer zu haben, und dieses Vertrauen auf ihn, das heiût die Gewiûheit, Sinn und Gebot des Lebens immer wahren zu kænnen. Sie ist die Gemeinschaft mit sich selbst, die der Mensch festhålt, die Gemeinschaft jeder seiner Stunden mit seinem wahren Ich, mit dem Gættlichen in ihm, dieser sein Glaube an sich, dieses sein Festhalten an seiner Reinheit, der Gewiûheit des Ursprungs und Geheimnisses seiner Seele, an seiner Freiheit, der Gewiûheit des Weges und Zieles in seinem Leben, an seiner Kraft, der Gewiûheit immer erneuten Anfangs in seinen Tagen, immer erneuter Umkehr aus Irrtum und Fehl. Und sie ist schlieûlich die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen, dieser Glaube an den Mitmenschen und an die Menschheit, diese Gemeinschaft aller im Lebensrechte und im Lebensraum, so daû keiner den anderen bedrçckt oder verdrångt, jeder den anderen neben sich weiû und »seine Seele erkennt«, diese Gemeinschaft ± nicht Gleichheit ± in den Gçtern des Lebens, so daû der Mitmensch sein Anrecht, seinen Anspruch gewinnt auf unsere Hilfe, seinen Anteil an unserer Habe, diese Gemeinschaft im Geistigen, so daû von unserer Erkenntnis und unserem Wissen dem anderen das Seine zukommen soll, diese Gemeinschaft im Sittlichen, so 369
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daû unser Beispiel und unsere Weisung zum Rechten dem anderen zur Seite steht, diese Gemeinschaft im Empfinden, so daû unser Verstehen, unser Begreifen, unser Verzeihen, unsere Gçte sich ihm zukehrt, und endlich diese Gemeinschaft an der Zukunft, die Arbeit fçr das, was das Wirkliche ist, fçr das Gute, damit es das Reich aller Menschen einst werde. Aller Glaube, alle Gemeinschaft bedeutet aber auch Verantwortlichkeit. Es ist die Verantwortlichkeit gleichsam des Menschen fçr Gott und fçr die Religion: der Mensch soll, wie ein altes jçdisches Wort es benennt, »den Namen Gottes heiligen«, er soll in allem seinen Tun eine lebendige Bekundung des Gættlichen, ein Zeugnis von Gott sein, er soll durch sein Leben dem Heiligen, dem Gottesreiche eine Ståtte auf Erden bereiten. Es ist danach die Verantwortlichkeit des Menschen fçr sich selbst: er soll die Aufgabe, die Entscheidung erfassen, vor die er immer gestellt ist, und vermæge deren der Weg, welchen er geht, sein Weg, die Sçnde, deren er schuldig wird, seine Sçnde ist. Es ist die Verantwortlichkeit | schlieûlich fçr den Mitmenschen, fçr sein Dasein wie fçr seine Seele, und fçr die Menschheit und ihre Zukunft: der Mitmensch soll, wie die Bibel sagt, »mit uns leben«, wir sollen ihn achten und ihn lieben »wie uns«, es wissen und bewåhren, daû jeder Mensch uns zugehært; wir sollen gegençber keinem Unrecht und keinem Leide gleichgçltig sein oder uns unbeteiligt meinen, auch wenn es das fernste ist, es erkennen und dartun, daû die Zukunft aller die unsere ist, das Reich Gottes das ist, welches alle eint. Der Unterricht hat so die klare Einheitlichkeit des Themas; alles Einzelne und Sonstige in ihm wird dessen Darstellung und Erlåuterung. Er kann zu allen Inhalten in der Natur, der Geschichte und der Kunst hinfçhren, zu allem Wirklichen des Lebens und der Welt, und behålt doch seine Einheit. Er hat seinen Stil und darin seine innere Gesetzlichkeit und Logik. 7. Die Darstellung Der Stoff, mittels dessen das Thema darstellbar wird, kann nur der historisch gegebene sein: vor allem die Bibel und dann das nachbiblische Schrifttum, sodann das Gebetbuch und die Geschichte des Judentums in ihrem heroischen Zuge. Alles Literarische und nur Geschichtliche muû hierbei allerdings hinter das rein Religiæse zurçcktreten. Es ist nicht bloû der sehr wesentliche Pietåtswert, der zumal im jçdischen Religionsunterricht zu diesem Stoffgebiete 370
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hinfçhrt, auch nicht allein das wichtige Verlangen, die Eltern- und Kindergeneration, welche die Religion seelisch einen will, auch durch die Beziehung zu ihm zu verbinden, hier die gemeinsame religiæse Bildungsheimat zu geben. Das Entscheidende ist der religiæse Gehalt, der ihm ganz allgemein und fçr das Judentum im besonderen eignet. Wie unersetzlich er ist, haben alle nach anderer Richtung hin unternommenen Versuche nur immer wieder erwiesen. Es ist selbstverståndlich, daû dieser Stoff nicht ein darzureichender, sondern ein darzustellender ist; persænliche Religiositåt soll ihn gestalten. Und es ist ebenso selbstverståndlich, daû er gemåû der Psyche dessen, fçr den er bestimmt ist, gemåû dem Aufwachen und Aufwachsen des Zæglings entwickelt und verpersænlicht werden soll. Zwei Grundlinien sind hier gewiesen: die des | Kindes, welches, im besonderen Sinne dieser Worte, einerseits gebildet und erzogen, anderseits unterrichtet und unterhalten werden will, und sodann die des jungen Menschen jenseits der ersten Zåsur im Leben, der weniger erzogen als vielmehr gefçhrt, weniger unterrichtet als vielmehr belehrt werden soll. Das Thema ist hier und dort, wenigstens in seinem Eigentlichen, das gleiche, auch die Stoffgebiete sind nicht, wenigstens nicht wesentlich, gesondert. Aber das Organ der Aufnahme ist bei beiden nicht dasselbe, und die Art der Darstellung, die Formung des Stoffes muû dementsprechend eine verschiedene sein. Das dem Kinde Eigentçmliche ist, ± und darin liegt seine Naivitåt, seine Ursprçnglichkeit, sein dichterisches Vermægen ± daû es unmittelbar mit der Welt verbunden, in sie einfach hineingestellt ist, sie ohne jede Brechung in sich aufnimmt. Den bestimmten Unterschied von Innenwelt und Auûenwelt und damit auch von Kunst und Wirklichkeit, von Spiel und Ernst und ebenso den Gegensatz von Nåhe und Ferne hat das Kind noch nicht erlebt. Es greift in die Welt hinein, in die der Menschen und Dinge, um zu finden, es sucht nach der Tiefe und Weite hin, nach dem Verhçllten und Geheimen, es sinnt çber das Warum und Wozu. Sein Organ ist die Phantasie, die die Ferne zur Nåhe und die Nåhe zur Ferne, das Verborgene zum Vertrauten und das Vertraute zum Verborgenen macht. In dieser Kraft der Einbildung ist ihm sein Reichtum gegeben; sie durch Sorge und Mçhen oder durch Ûberfluû und Ûbertreibung einengen, wçrde Verkçmmerung des Besten, der Kindheit, bedeuten. Ein Entscheidendes ist, was dieser Phantasie gegeben wird, und hier beginnt die Aufgabe des Religionsunterrichts. Nicht zuerst ein Lernen, sondern vorerst ein Sehen ist hier das Mægliche und Erforderliche; eine Welt soll daher dem Blicke erschlossen werden, eine Welt voller Bestimmtheit und Deutlichkeit und doch voll des Weiten 371
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und Ungeahnten. Das ist es, was in unvergleichlicher Weise die sogenannte biblische Geschichte zu geben vermag. Sie fçhrt Bilder von Menschen und Geschehnissen vor das Auge und, ohne alles Zauberische, nur im Wunderbaren, vor die Phantasie des Kindes hin, so daû sie von dem Wundersamen und zugleich doch von seinem eigenen Leben ihm erzåhlen, so daû sein Leben sich dehnt, Nåhe und Ferne sich ihm einen. Die Poesie wird hier | wahrste Geschichte. Das Leben und in ihm der Mensch und sein Haus beginnen etwas zu sagen, çber sich hinaus etwas zu bedeuten; das Verborgene, das Geheimnis, dieser Quell aller Religion, gelangt zu dem Kinde hin. Das Gefçhl der Demut, welches ein ursprçngliches in allem Religiæsen ist, regt sich nun, dieses Empfinden fçr das, was çber das Enge und Alltågliche hinausreicht, fçr das Unwiûbare, Unendliche, inmitten dessen der Mensch seinen Platz hat. Verstårkt und vertieft wird es dadurch, daû diese Erzåhlungen zu der Gemeinschaft mit dem einen Gotte hinfçhren und auch darin die Nåhe zur Ferne, die Ferne zur Nåhe werden lassen. Das Kind erfåhrt nun von dem Geheimen und Verborgenen, aber erfåhrt zugleich, wie dieses zum Menschen spricht und der Mensch zu ihm sprechen darf. Die Frage, die die eigentliche des Kindes ist, die nach Anfang und Ende, gewinnt ihre Antwort, die zu ihm hinschaut und zu ihm redet, und das »Du sollst« fångt zugleich an, dem Kinde vernehmbar zu werden, von Gott her und von den Menschen und Ereignissen dieser Erzåhlungen her. Seine Phantasie wird zur Phantasie des Weges, den es gehen soll und auf dem es »mit Gott geht«. Wie dem Kinde diese Kraft der Einbildung eigen ist, so dem jungen Menschen, in der zweiten Periode, das Verstandesmåûige und das Empfindsame, diese durch das Intellektuelle beeinfluûte Empfindung. Zwischen den Menschen und die Welt tritt hemmend und trennend seine Vorstellung von der Welt. Nåhe und Ferne sondern sich, ihr Ineinander hat aufgehært. Die Welt ist jetzt etwas, womit sich der Mensch wollend, fçhlend, denkend auseinandersetzt, was fçr oder gegen ihn ist; er will sie aufsuchen oder sich von ihr trennen. Dafçr verweben sich nun die Erlebnisse; Zeiten der Freude und des Leides an der Welt wechseln. An dem Platz des kindlichen Suchens steht darum das Grçbeln, an dem Platz des Fragens der Zweifel; das Naive wird durch das Sentimentale beengt und verdrångt. Das Leben wird damit ein doppeltes, das in der bestimmten Wirklichkeit und das in der mehr oder weniger empfindsamen Sehnsucht, und ebenso wird das Ich ein zwiefaches, das Ich des Raumes und das der Zeit, das Ich inmitten der gegebenen, daseienden und das Ich inmitten der gedachten, erhofften Wesen und Ereignisse. 372
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Sein Leben und sein Ich hat jetzt der Mensch sowohl in der Tatsåchlichkeit wie im, hohen | oder niedrigen, Bilde. Das Verhåltnis zwischen beiden wird ein Entscheidendes seines Daseins. Diese Beziehung zu beeinflussen oder zu bestimmen, wird auf der zweiten Stufe die Aufgabe des religiæsen Unterrichts. Der Weg, den er allein beschreiten kann, ist, wie vorher der kindlichen Frage, so jetzt dem Zweifel sein freies Recht zuzugestehen, ja ihn anzuregen, ihn zum Instrument des Unterrichts werden zu lassen. Das Ziel ist, diesem zweiten Leben, diesem zweiten Ich den sittlichen Inhalt zu geben und dadurch die sittliche Kraft zu wecken, dazu zu helfen, daû es sich zum individuellen religiæsen Ideale forme und der religiæse Wille sich festige. Das andere Groûe, was die Bibel neben ihren Menschen gewåhrt, die Idee des Guten und des Gebotes, diese Idee des Unbedingten und des Kategorischen gewinnt nun die erzieherische Bedeutung. Der Gedanke der sittlichen Freiheit des religiæsen Menschen, dieser Gedanke der Entscheidung, der Verwirklichung und Erfçllung tritt hervor, der Gedanke der Zukunft gestaltet sich. Was bisher Bild gewesen, wird nun Richtung und Ideal. Das andere Grundgefçhl der Religion, die Ehrfurcht kann jetzt aufwachsen, dieses Gefçhl des sittlich empfindenden, des freien Menschen, der dessen gewiû wird, daû ein Hohes, Heiliges weisend und bestimmend vor ihm aufgerichtet ist. Er erfåhrt nun, wofçr er lebt, welches der gebietende Sinn und Wert alles Menschendaseins ist. Das Prophetische der Bibel mit der Græûe seiner Forderung, mit der Stårke seines Pathos, mit seinem »Und dennoch« kann nun in den Vordergrund treten und ebenso die Geschichte des Juden und des Judentums mit ihrem Heroischen, mit ihrem Martyrium, mit ihrer steten Treue gegen den Geist. Diese Geschichte kann nun auch als Aufgabe aufgezeigt werden, und sie erhålt damit ihre deutliche Linie, ihre Richtung innerhalb der Gesamtkultur. Der vielfåltige Gedanke der Einheit und Gemeinschaft, der Gedanke von der Menschheit, das Soziale und Messianische des Judentums gewinnt seine Bedeutung und doch auch ebenso der von der jçdischen Lebenslinie und dem Eigenwerte des Judentums, von dem Rechte und der Pflicht, an sich festzuhalten. | 8. Das Besondere Das, was aus der Demut des Kindes mit seinem Kçnstlerischen und aus der Ehrfurcht des jungen Menschen mit seinem Ideale, was aus dieser Bildsamkeit sich hier gestalten soll, ist der jçdische religiæse 373
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Lebensstil, das Menschliche in dieser besonderen, jçdischen Ausprågung. Diese alte Aufgabe bleibt; von der individuellen Fræmmigkeit her wird sie jetzt erfçllbar. Auch auf diesem Wege behålt das Besondere, und selbst manches Sondertçmliche, aus der alten, geschichtlich gewordenen Lebenssphåre seine erzieherische Bedeutung. Es wird nun oft vom Unterricht her zum Hause, von den Kindern zu den Eltern hingelangen. Zunåchst bleibt so die Wirksamkeit des »Gesetzes«, vorerst in dem, was sein Eigentlichstes ist, in seinem steten Hinweise auf das Heilige, auf das Ernste und Geheime, in seinem Streben, zu jedem Alltag das hinzufçhren, was ihn immer wieder çber sich hinaushebt. Zu der Phantasie des Kindes und zu seinem Fragen kann das Bild aller der alten sinnvollen Bråuche sprechen, zu dem Erwachsenen das Symbolische, das in ihnen ist, ihr Hindeuten auf das Jenseitige. An beide, hier gestalthaft, dort ideell, wendet sich das Verbietende und Asketische des »Gesetzes«, seine Mahnung, Herr zu werden çber das Verlangen des Augenblicks. Ebenso behålt die stetige Beziehung zur Gemeinde den formenden Wert. Dem Kinde erschlieût sich in dem Bilde des Gotteshauses und des Kreises der Betenden ein Neues, eine Welt fçr sein Dichten. Ein Zwiefaches wird davon her allmåhlich in ihm lebendig: die Andacht als Eindruck, als Stimmung und Gefçhl ± von diesem Stimmungsmåûigen fçhrt meist der Weg zum Beten, selten umgekehrt ± und sodann die Empfindung, mit anderen in einem Besonderen zusammenzugehæren. An den jungen Menschen wiederum vermag das Gemeindegebot heranzutreten, als die Aufgabe, die ihm gestellt ist, in der Gemeinde zu leben, in ihr den bestimmten Platz zu haben, und als Ideal, welches ihm die neue, bessere Gemeinde zeigt, fçr deren Werden er arbeiten soll. Auch dem Hebråischen bleibt seine Geltung gewahrt, nun in dem besonderen Sinne der »heiligen Sprache«, der Sprache im Gotteshause und der Sprache der groûen jçdischen Gesamtheit. Dem Kinde ist sie wiederum Gebiet seiner Phantasie, Bild und Klang von einem | Fernen, Wundersamen, Sakralen, das zu ihm hintritt. Dem jungen Menschen ist sie die Sprache, in der ein Ideal, »eine neue Erde und ein neuer Himmel«, offenbart ward, die Sprache einer unvergleichlichen Geschichte, einer Eigenart um der Menschheit willen. Das Kind wie den jungen Menschen kann sie aus dem Alltag herausfçhren in eine Sphåre des Poetischen hinein. Wie dem Hebråischen sein Platz im Religionsunterricht in und neben dessen anderem, eigentlichem Gebiete zu geben ist, wird die Aufgabe seiner Methodik; fçr sie wird der Gedanke des Einheitsunterrichts, hier also der Einheit, zu der die beiden Stoffgebiete zusammenzufçgen sind, bestimmend sein mçssen. 374
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Ein Problem von eigenem Ernst ist das des Sabbats. Er bezeichnete nicht nur ein Wesentliches des alten Milieus, er ist ebenso wesentlich in der Individualfræmmigkeit. Ihr vor allem ist er ein Aufatmen der Seele, ein Heimweg aus dem in Arbeit und Rast, in Tåtigkeit und Vergnçgen herrschenden Profanen; gerade sie hat seine Idee hervortreten lassen. Aber die Spannung zwischen Idee und Tatsåchlichkeit wird hier besonders groû durch die wirtschaftliche Lagerung der Gegenwart, die dem jçdischen Sabbat immer mehr den Raum beengt. Der Konflikt zwischen dem Unterricht, der die Idee darstellen will, und dem Hause, das von der Tatsåchlichkeit umschlossen ist, wird hier vor allem unvermeidbar. Durch eines, und es ist nicht ein zu Findendes, sondern ein Bestehendes, kann er gemindert werden. In der Eigenart des jçdischen Sabbats und ebenso des Feiertags ist es ein Besonderes, daû sein erster starker Ton auf dem ihn beginnenden Vorabend liegt. Der Freitag-Abend gibt gewissermaûen das Thema des Sabbats. Er kann, als eine Zeit, die jedem gewåhrt ist, von jenem Konflikte frei bleiben. Ein, fçr die Gegenwart zumal, religiæs Wichtiges erhålt zudem durch ihn seinen Nachdruck, der Gedanke nåmlich, wie das Innerliche, das Seelische des Menschen in seinen Abenden lebt und an seinen Abenden stirbt. Der Abend, durch den das Sabbatliche anhebt, offenbart das Heilige, die Weihe und Wçrde, von der das Haus lebt, das Priesterliche und Poetische von Vater und Mutter, vermæge dessen sie ihrem Kinde Vater und Mutter bleiben, die Wçrde der Freiheit und die Weihe der Ruhe, an denen der Unterschied aufgeht zwischen Vergnçgen und Freude. Dem Kinde zeigt es sich so als ein Bild, das nicht | vergessen wird, dem jungen Menschen als ein anderes, hæheres Leben, dessen Sinn ihm dann spåterhin ganz bewuût wird. Ein Lebensstil wird hierin sichtbar und begreifbar. 9. Der Wiederaufbau Was der Kindheit und der Jugend religiæs zuteil wird, dient der dritten, der langen Periode des Lebens. Ihr kann Religion den seelischen Zusammenhang wahren mit Kindheit und Jugend, mit der Poesie der einen und dem Ideal der anderen, mit der Demut und der Ehrfurcht. Haus und Beruf legen in dieser dritten Lebenszeit die Grenzen um das Dasein. Kindheit und Jugend mit ihrem Zuge zum Weiten und zum Hohen scheinen beendet, in die endgçltige Enge scheint das Dasein hineingestellt. Darum gilt es jetzt, die Welt des Daseins neu zu schaffen, ihm den Sinn, die Bedeutung wieder zu 375
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verleihen, ihm trotz aller Schranken die Weite und Hæhe zu bereiten. Es ist die Zeit des Wiederaufbaus kraft dessen, was Kindheit und Jugend erfahren haben, kraft der Religiositåt, durch die sie beide fortdauern. Das ist ja die Kraft des Religiæsen, Kindheit und Jugend im Menschen weiter lebensfåhig zu erhalten. Alle Lebensgestaltung ist im letzten eine Auseinandersetzung zwischen Poesie und Prosa, zwischen der Heiligung und der Alltåglichkeit. Die Religiositåt, die im werdenden Menschen entwickelt werden will aus dem hervor, was die Reihe der Generationen in ihn gelegt hat, und was als seine Individualitåt darein gepflanzt ist, will die Poesie in die Prosa hineindringen lassen, immer wieder sie offenbar machen. Sie will damit den lebendigen Menschen ihren Lebensstil geben. Ihn zu formen und zu bilden, dazu will das Erzieherische, Unterrichtliche helfen, in dem jçdische Religiositåt sich selbst zu geben sucht.
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Indices
a) Sachen Abendland: 55, 147, 148, 232 Abendmahl: 69 Abhångigkeit, gottgewollte 60; schlechthinnige: 58, 67, 83, 96, 103, 108, 111, 114; Empfinden der schlechthinnigen: 111; Verzweiflung erster seelischer Ausdruck: 114 Absolute, Das: 64; Religion: 30; Unverbrçchlichkeit der Naturgesetze: 315; -r Staat: 121; -r Mensch 95 f. Absolutheit: 37 Absolution, Leichtigkeit der: 102; Eigentlichstes in der Taufe: 103; Abstand: 38 Abweichung vom Bekenntnis: 79 Abwendung vom irdischen Streben und Sorgen: 99 Adam Kadmon: 248 Adoniskult: 48, 51 Øgypten: 169, 194, 228 Østhetik: 113, 120 Aktivismus: 119 Aktivitåt, religiæse: 58, 63, 136, 248 Alenu-Gebet s. Gebet Aleph und Beth ± Mensch und Segen gehæren zusammen: 279 All: 278, 281; Entstehung durch freien Akt des gættlichen Schæpfers: 330 Allbewuûtsein: 31 Allegorese: 291, 293 Allegorische Auslegung von Tatsachen der Mythologie: 292; Erklårung: 125, 126; Form: 125 Alleinherrschaft der einen Kirche: 63, 74
Alleinseligmachende Kirche: 71, 107 Allglauben, -kunst: 62; -leben: 31; -staat: 62 Altertum: 38, 49, 144; romantisches: 78 Altes Testament: 28, 93, 113; Moralismus des: 103; dem Judentum abgesprochen und fçr Christentum in Anspruch genommen: 125; fçr Paulus: 125; wærtlichste Erklårung verlangt: 126, 127; buchståbliches Verståndnis jçdischer Irrtum, Werk des Satans: 125 Altkirchliche Lehre: 30 Alttestamentlich-gesetzliche Elemente im paulinischen Glauben: 112; -gesetzlicher Zug in calvinistischer Fræmmigkeit: 59; -Gesetzliches in tåuferischen Kirchen: 118 Alttestamentliche Gedanken, Streit um Raum in werdender Kirche: 117; und romantische Idee in Paulus: 115; Wurzeln des Bekehrungswillens und messianischen Hoffens: 116 Amerika: 137, 139 Amt, des Priesters: 70, 73; verurteilendes: 107 Anachoreten: 113 Anbetung, romantische Impression des Augenblicks: 94; Menschen der: 96 Andacht: 308 Anderssein: 38 Anempfindung: 46, 96 Anerkennung der Glaubenslehren: 22; des Gesetzes: 82; menschlicher Arbeit und Aktivitåt: 63
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Indices Antike s. Altertum Anthropomorphismus im Judentum: 234 Anthropozentrischer Standpunkt: 332 Antinomismus, religiæser: 92, 137, 138 Antwort, Glauben an die letzte: 50 Apokalypse: 164, 171; des Daniel: 188; des Johannes 115, 190 f., 192; Wesen der: 193 Aporieen: 272 Apostel: 53, 73, 88 Apostelgeschichte: 19 Apotheose: 44, 48 Arajot s. Syzygien Arbeit: 60, 63 »Arme der Ewigkeit«: 120 Armut: 99 Aseitåt Gottes: 300 Asch'ariten: 212 Asien s. a. Kleinasien: 142 Askese, Asketentum, Asketismus: 111, 112, 127, 128, 135, 365 Astralreligion: 212 f. Astrologie: 150, 315 Astronomie: 212 Attiskultus: 48, 51 Aufbau, Idee vom: 32 Auferstandene: 51 Auferstehung: 23, 48, 112 Aufgabe des Lebens: 45, 57, 59; des inneren Lebens: 109; des menschlichen Schaffens: 64; Gerechtigkeit keine ± mehr: 82; soziale: 62, 113, 119 Aufklårung: 32, 55, 120; Romantik im Widerspruch zur: 119; -sjahrhundert: 63 Augenblick: 60 Augsburger Konfession: 74, 116 Augustinismus: 85, 133 Ausdrucksform, geprågte: 272 Auserkorene: 47 Ausersehung, çberirdische: 104 Auslese: 22, 34 Ausruhen in der erfçllten Zeit: 65 Auûenstehenden, Die: 73 Autarkie Gottes: 305 Autoritåt: 20, 21, 23, 24, 25, 75, 78, 80, 96, 102, 117, 118, 120, 369; åuûere: 102, 103, 119; eingesetzte notwendige, Ergånzung zum romantischen Glauben: 75; des Wortes: 119; Ordnung
der: 75; Unterordnung unter die: 80; Zwang: 90 Averroismus: 291 Awoda s. Gottesdienst Awot (Mischnatraktat): 159, 252 Axiom: 55 Babel: 208, 228 Babylon: 19, 174 Bann: 17 Barnabasbrief: 88, 125 Batlajusischer Beweis: 307 Bedingtheit des Menschen: 359, 382 Befreiung von der Tat: 54 Begehren, keinerlei Recht des eigenen: 121 Begeisterung, Selbstzweck: 42, 43 Beginn, Geheimnis des: 65 Begnadete: 72 Begrçndungen der Gesetze: 15 Bekehrungswille: 116, 118, 119 Bekenntnis: 72, 78; tritt vor die Liebe: 72 Bekenntniseifer: 79 Beracha in der Unmittelbarkeit Gottes: 281; Prinzip alles Werdens: 275 f., 280 f., 282 Bereschit, (»Am Anfang«) Wort vom Segen: 278 Beruf, bçrgerlicher: 60; des Erlebnisses: 73; Scheidung von irdischem und himmlischem: 60 Besinnung, kritische: 41 Besitz: 55, 78, 79 Bestimmung des Menschen: 279 Bet ha-knesset s. Synagoge Bet ha-midrasch s. Lehrhaus Bet, Buchstabe, bezeichnet Ståtte Gottes: 275; Zeichen fçr Haus: 278 Beugung unter irdisches Joch: 61 Bewåhrung: 79, 114; Auffassung des Calvinismus: 136; Bewåhrungsethik: 59 Bewertung des Tuns: 81 Bewuûtsein, religiæses, vom Subjekt: 114, 116 Bibel: 5, 8, 22, 93, 115, 122, 123, 124, 178, 180, 182, 187, 194, 232, 242, 244, 290, 345, 376, 379; griechische, s. a. Septuaginta: 240; -exegese s. Exegese; -kommentar: 291; -çbersetzer, griechische: 153; -wort, und materiale Richtigkeit: 290
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Sachen Bild: 9, 95 Bildung: 32; griechische: 148; religiæse: 369 Binden und Læsen: 201, 202 Blut, Legende vom ungesçhnten: 220 Bæses, s. Erbsçnde, Gutes und Bæses Antimessias Ûbel; kein absolut: 274 Bohu: 273 ff. Boten, des Dienstes: 268; Gottes: 211 Botschaft, vom Gottesmenschen: 96 Bråuche: 24 Briefe, an die Epheser: 167, 171, 248; an die Hebråer: 164, 234; an die Kolosser: 164, 171, 172, 248; an die Korinther: 164, 167; an die Ræmer: 105, 107, 167; des Barnabas: 88, 130, 192, 197; des Ignatius: 192, 197; des Jakobus: 131; Galaterbrief: 93, 105, 166, 167; paulinische: 157, 178, 192 Buch, Fiktion des einen Buches (s. a. Monobiblismus): 245 Buddhismus: 111, 113, 143, 246 Bçrger: 143, 144, 145 Bçrgschaft der Gewiûheit: 120 Bund, Gesetz als ± zwischen Gott und Israel: 125, 185; Idee des Bundes: 38, 136, 261, 263; zwischen Gott und Menschen: 120 Buûsakrament: 83, 103 Cåsarea, Schule von: 165, 166, 192 Calvinismus: 28, 59, 60, 116, 119, 136, 137 Causa causarum: 300 Chajjot s. Wesen Chaldåische Orakel: 264 Chanukka-Fest: 157, 169 Chaos, Epoche des: 122 Chassidim s. Assidåertum China, Religion in: 142, 143 Chochma: 162, 277; Erschaffung der Welt durch: 164; identisch mit Torah: 163 f. Christentum: 30 ff., 42, 43, 70, 77, 97, 108, 111; abendlåndisches: 102; als kosmische Theologie: 164; Anfånge des: 125, 248; Entstehung und Geschichte im Talmud: 157; Lehre von der erlæsenden Gnade des Christus: 97; Mystik des: 246; ohne Judentum Gnostik: 89; romantische Religion: 47; Sieg des: 49; und Haggada: 178,
185; und Judentum: 116, 125, 158, 164, 166; und jçdische Predigt: 162 f.; unzweideutiges: 126; Wesen des: 29 ff. Christliche Kultur: 62 Christologie: 139; Polemik gegen: 158, 192: der Gemeinde: 198 Christusmythe: 157 Coge intrare: 118 Concupiscentia: 104 Creator mundi: 324 credo, quia absurdum: 56 custos utriusque tabulae: 89 Dåmonen: 65, 87, 184 Darbietung des Wortes: 69 Demiurg: 183 Demut: 378 Denken: 55, 265, 267, 304; und Forschen im Mittelalter: 133; und Glauben im Judentum: 234; und Handeln: 235 Denkendes und Gedachtes zugleich in Gott: 304 Depositum fidei: 21 Determinismus: 315 Deutschland: 34, 366 Diaspora s. a. Exil: 40 Dienst, kultischer: 131 Diesseits s. Welt Dionysische Religion: 47 Dispute: 166 Dogma: 12 ff., 79, 117; das alte kirchliche im neuen Protestantismus: 139; Geschichte des: 117, 132; und Recht im abendlåndischen Christentum: 102 Dogmatische, Gewiûheit: 77; Philosophie: 296 Drang, ethischer: 44; sozialer: 59 Dreieinigkeit im neuen Protestantismus: 139; Lehre von der: 132; Stellung des Tåufertums zur: 138 Dualismus, Erlebnis des: 356, 359, 378; kirchlicher: 60, 73, 74, 85, 86, 126, 140; religiæser: 225 Ebenbild s. Mensch ecce homo: 95 ecclesia possidentium: 72 eda s. Gemeinde Egoismus der Glçckseligkeit: 114; religiæser: 59, 111, 112
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Indices Ehrfurcht: 23, 114, 235, 379 »Eidos«: 38 Eigentçmliche, Das: 88 Eingesetzte Autoritåt: 75 Einheit der Lehre: 32; des Glaubens und der Glåubigen: 73; des Rechts, der Lebensrichtung: 40; Gottes: 262, 265, 374; historische des Judentums: 38, 39; kirchliche: 62; kulturelle: 48; Zurçckfçhrung der Vielheit zur: 261 Einheitskultur: 32, 48, 368 Einsiedler: 68, 111 einzelne, Der: 37, 77 Ekstase: 253 Elohim: 331 Emanation: 280, 323, 334, 339 Empfinden: 45, 119 Engel: 36; immateriell: 304; Metatron ± Erdgeist: 302; und Prophet, gleicher Name in Bibel: 312; -kult, Verbot des: 314 England: 137, 138, 139 Entsagung: 99 Entwicklung aus dem Urgrunde: 259; des religiæsen Denkens, Geschichte der: 302; und Tradition: 33, 34; geistige, der Menschheit: 46; Gesetz der: 260; Recht auf: 62; triadische: 258, 259 f.; universalgeschichtliche: 32; zur sittlichen Persænlichkeit: 348 Epikuråer: 23, 144 Erbsçnde: 47, 54, 84, 96, 133, 134, 138 Erde in der jçdischen Mystik: 248, 281, 284 Erfçllung der Gebote und Pflichten: 88; des Ideals: 98; des Wissens: 77; letzte: 65; Zeit der: 173 Ergriffenheit, religiæse: 58 Erhabenes: 66 Erkenntnis: 14, 35, 41, 45, 54, 76, 77, 79, 261, 297; durch Glauben: 261; Gesetz der: 260; letzte: 273; offenbarende: 265 Erkenntniskritik, Kants: 92; Maimunis: 327 Erkenntnisweg: 263 Erlebnis, religiæses: 364 ff.; romantisches: 88 Erlæsung: 26, 47, 53, 68, 82, 86, 108, 114, 116, 127; aus dem Glauben: 135; des Nichtgetauften: 132, 134; erfçllte: 50, 123; Geschehnis: 109; Heilstatsache,
die am Menschen vollzogen wird: 109; Tag der: 229; und messianische Idee: 137; Verheiûung der griechischen Mysterien: 144; vom Willen: 54, 248 Erlæsungsglaube, romantischer: 110, 115 Erlæsungsidee: 113, 119 Erlæsungslehre, egoistische: 112, 113 Erlæsungsreligion: 26, 110 Erneuerung, sittliche: 109 Erwåhlung: 54, 56; Auffassung des Calvinismus: 136; Auffassung Israels: 270 f. Ethik, s. a. Tun: 19, 28, 38, 83, 84, 87, 89, 90, 95, 100, 103, 104, 114; des Evangeliums: 100; energistische: 340; heroische: 95; im System des Paulus: 88, 130; im System Luthers: 135; in der Bewegung des Tåufertums: 138; in der Lehre des Calvinismus: 136; Kants: 92; oder Religion: 88, 103; philosophische: 235; Romantik Gegensatz zur: 104; und Glaube: 93, 130; und Mystik: 248 Eudåmonismus: 92, 113 Europa s. a. Abendland: 139, 142; Mittel- und West-: 367 Evangelien: 19, 25, 29, 72, 96, 97, 98, 99, 105, 115, 123, 126, 127; Niederschriften: 21, 39; synoptische: 157; çber den »Menschensohn«: 191; griechisches Evangelium: 187; anonyme Haggada in den: 207 Evangelische Ideale: 99 Evangelisch-soziale Bewegung: 62 Ewigkeit: 51; der Materie: 327; hæchste Potenz des Lebens: 325; Religion wird zur Gewåhrleistung der: 110; sphårischer Gesetze: 336 ex opere operato: 67, 69 Exegese: 165, 166, 199, 240; religionsphilosophisch-rationalistische: 290; schlichte, von Rationalisten nicht endgçltig anerkannt: 290; jçdische, im Gegensatz zum Christentum: 292 Exil: 142; babylonisches: 218 Existenz des Menschen durch Gott bestimmt: 37; irdische, mit Gesetz zu beseitigen (Marcion): 128; der Welt, Art der: 323
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Sachen Familie: 363, 368 Fasten: 128 Fatalismus, astrologischer: 151 Fatum: 54, 84, 85, 109 Fertiger Mensch: 55, 56, 72, 77, 85; Bewuûtsein des: 75; fçr ihn ist Gesetz aufgehoben: 82 Feuer, stoische Lehre vom: 268 fides explicita: 78; implicita: 22, 78; qua creditur ± quae creditur: 73 Forderung: 38, 59, 89, 95, 97, 102 Form: 66; emaniert aus Gott: 306; reine: 318; Verwirklichung der Materie: 274 Forschung: 26, 27, 33, 91 fortiter pecca: 90 Fragmenten-Targum: 164, 201 Freier Wille: 320 Freiheit: 38, 45, 58, 75, 87; frei von Entscheidung und innerer Verpflichtung: 119; sittliche: 87, 109, 279, 379 Fremder: 144 Friede, ewiger: 137 Fræmmigkeit: 72 ff., 137; alte, in Verbindung zum Unendlichen: 40; Askese und Selbstvernichtung: 128; auûerhalb der Kirche: 106; calvinistischtåuferische: 59; der Prophetenreligion: 247; egoistische: 115; evangelische: 98, 99; individuelle: 380; Israels: 285; Lehrbarkeit der: 145; Milieu- und Individual-: 370 ff.; passive: 44; reinste in romantischem Sinn: 111; romantische: 59; und Gebot: 350; undogmatische: 139; vælkerverbindende: 49; wahre, nicht Beobachtung der Zeremonien: 71 Gan Eden: 284 Gebet: 245, 309; fçr die Kranken: 217; -buch: 376; Mystik: 253; Ûbersetzungen: 237 Gebot: 59, 105, 110, 114, 116, 119, 120, 127, 128, 134, 135, 136, 138, 208, 312; und Individuum: 349; und messianische Idee: 137 Gebote, der Mystik: 254; Jesu: 98; und Fræmmigkeit: 277, 350; Tatsache der, Grenze fçr jçdische Exegeten: 292; Appendix der Religion: 89 Gefallsucht, religiæse: 59 Gefçhl, an sich Lebenswert: 42; das alles besagt, schlieûlich im Wesenlosen:
119; der Ratlosigkeit: 61; der Sçndigkeit: 112; des Zwiespalts: 61; Raum und Grenze der Romantik: 46 Gegebene, Das vorher: 55 Gegenkåmpfer Gottes: 86 Gegensåtze, Zusammenfçgung durch Gott: 274 Geheimkulte, alte: 112 Geheimnis: 58, 308, des Beginns: 65; vom Anfang, vom Segen, von der Torah: 278; Geheimnisse der Bibel: 291 Gehorsam, freier, schaffender: 44; gegen Autoritåt der Kirche: 98; Forderung des allgemeinen: 118 Geist, unendlicher: 31, 33, 56, 264, 265, 274; der Heilige ± im neuen Protestantismus: 139; bæser: 80; klassischer des Griechentums: 48; kirchlicher: 116; Laplacescher: 254 Gemara: 24, 160, 191, 244 Gemeinde, als Voraussetzung religiæser Erziehung: 363, 364, 380; der Religion und des Glaubens: 25, 51, 116; freie: 137; jçdische: 178; Kirche als »wahre±«: 223; palåstinensische und ågyptische: 147; als Polis: 365; und Prediger: 145 Gemeinschaft, als Voraussetzung der Erziehung: 362 f.; Einheit und: 374 f. Gerechtigkeit, bekommt neuen Inhalt: 81, 82; neue: 84, 85, 88; durch neue Ethik aufgehoben: 87; Verlangen nach der ganzen: 107; von Entwicklung erfaût: 120; gegeneinander: 122; gættliche: 343 Geschichte: 8, 14, 31, 32, 37, 59, 64, 65, 112, 120, 121 f.; der Seele ist Drama zwischen Himmel und Hælle: 86; klassische, sittliche Idee der: 63; biblische: 151, 377; im Talmud: 157; der Mystik: 254; Erlebnis der: 34, 365, 379 Geschichtliches Judentum: 37 Geschichtsgedanken: 31, 34, 35, 92 Gesetz, s. a. Sittengesetz, Gebot: 38, 40, 59, 122, 123, 380; alttestamentliches und Naturrecht: 129; Auffassung des Paulus: 88, 123, 130; biblisches: 131; geoffenbarte Gesetzgebung: 12 f., 13: Konflikt mit dem: 369; tiefer Grund im Irrationalen: 120; Stellung des Calvinismus zum: 136; unbedingtes ±
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Indices der Evangelien: 97; zur Bestimmung des Lebensstils: 361 Gesetze, keine ewigen, unter dem Mond: 346 Gesetzes, Ende des, in erwarteter Zeit: 81; Verwerfung des: 75, 82, 83, 108, 128 Gesinnung: 93; und Tun: 355 Gestirne: 149 f., 314 f. Gewalt, Recht der unumschrånkten: 121 Gewissen: 67, 102, 109; entscheidende Geltung abgesprochen: 102 Gewiûheit, Bçrgschaft der: 120; dogmatische: 77; greifbare: 75; letzte: 50 Glåubige: 58, 69, 72, 76, 81; Gleichheit aller ± in der Kirche: 105 Glauben: 50, 58, 65, 75, 103, 106, 112, 114, 233; an Jesus: 96; abhångig von historischer Beglaubigung: 65; der Kirche: 69, 77; katholischer: 114; romantischer: 70, 108, 110, 111, 112, eingesetzte Autoritåt notwendige Ergånzung zum: 75; der Propheten: 75; an die Gnade: 18, 69, 77, 108, 134, 135; als Verantwortlichkeit: 375, 376; in der biblischen Sprache: 233; und Ethik: 93, 130, 131, 132, 138; Wortsinn: 232 Glaubensartikel: 24, 27 Glaubensdasein: 67, 70 Glaubenserlebnis: 58, 68, 70, 75 Glaubensgehorsam: 73, 81 Glaubensgerechtigkeit: 130 Glaubenslehre: 22, 76; Luthers: 135; des Calvinismus: 136 Glaubenswissenschaft des Origenes: 165 Gleichheit aller Glåubigen: 74, 105; kirchliche: 62 Glorie, ewige, Tehilla: 275 Glçckseligkeit: 113 f. Gnade: 38, 45, 47, 53, 58, 59, 64, 77, 83, 85, 107, 114; çbernatçrliche Bedeutung der: 110, 133; und Gesetz: 132, 138; und Werke: 104, 134; System von der: 56, 97; Wille oder: 88; lossprechende: 103 Gnadenmittel: 48, 66, 67, 74; Bestandteil des romantischen Glaubens: 70; Wort als: 69 Gnadenwunder: 65; Gerechtigkeit Werk
des: 82, 84; Kraft zum sittlichen Handeln: 106 Gnosis: 79, 89; Abgrenzung der Kirche von der: 197, 198; Annahme von den zwei Gottheiten: 183, 289; Gegensatz zur Torah: 146; Judentum und ±: 174, 289 Gnostiker: 89, 92, 115; Lehre der: 127 Gnostizismus und katholische Kirche: 128, 129; und jçdische Mystik: 249, 289; und Judentum: 126 Gætter als kosmische Kråfte: 152, 213 Gætzendienst: 181, 312 Gott, creator mundi: 324; der auferstandene, erlæsende: 51; der Propheten: 131; des Alten Testaments fçr Paulus auch Gott Christi: 127; des Judentums und des Christentums: 126, 127, 128; erkennen, Grenzen der Mæglichkeit: 296; Treue gegen: 45, 50; und Mensch: 307, 349; und Seele, Inhalt der Religion: 110; und Welt in der Mystik: 249, 260, 302, 304, 307; Ursprung des Seins: 280 Gottes, Boten: 211 f.; Einheit: 22, 50, 114, 116, 214, 262, 270, 373; Erkenntnis, Gegensatz zur Astrologie: 150; Gerechtigkeit: 339; Herrlichkeit: 72; Providenz: 316, 317, 336; Reich: 65, 71, 116, 238; Sein: 323; Verhåltnis zur Welt: 332; Widersacher der Teufel: 85; Verehrung: 22, 308 Gottesangst: 114 Gottesdienst: 71; der Gemeinde: 366 Gottesebenbildlichkeit s. Mensch Gottesfurcht: 114, 118; Versæhnen Voraussetzung der: 322; freie Willenshandlung ist ±: 322 Gottesstaat: 118 Gottmensch: 95 Grausamkeit: 72 Griechenland: 142 Griechentum: 25, 48, 143; und Judentum: 146, 314; religiæse Sprache des: 154 Grundbegriffe: 263; romantische: 68 Grundproblem, religiæses: 40 Gute, Das: 65, 86; Entscheidung des Menschen als freies Subjekt fçr: 84; Erlæser ist çberirdisches Subjekt fçr: 86; ist in die Welt gelegt: 277; Ringen um das: 82
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Sachen Gutes und Bæses, s. a. Ethik: 128, 132, 275, 288 Haggada: 24, 27, 33; amoråische: 160, 172, 215; Anerkennung der: 176; anonyme: 207; »Månner der ±«: 181; palåstinische: 149; haggadische Methode Akiwas: 182, 183; tannaitische: 159; und Christentum: 178, 185; und Targum: 173 Hagiographen: 201, 244 Halacha: 24, 40, 159; als Mysterium: 180; Reinheitsvorschriften als Besonderes: 182; Schule von Tiberias Sammlerin der: 159 Handeln, menschliches, s. Tun und Denken Hechalot: 253, 254 Heidentum: 50, 52, 130, 151, 225 Heil, ewiges: 26, 59, 104, 114; des Menschen: 79; in Sakramenten: 68, 82; Lehre vom ± des Ich: 110; neues: 109; Substanz çbersinnlicher Art: 68; -sbesitz: 107; -sereignisse: 48; -skraft im Wort: 69; -slehre: 55, 88, 97; -sstand: 68 Heiland: 47, 49, 50, 51, 85, 100; Mittlergedanke vom 73 f. Heilige: 69, 73, 95, 111, 120 Heiliger Geist: 264 Heiligkeit, Begriff der: 69; Gottes: 29 Heiligung, des Alltags: 358, 361, des Individuums: 371; des Lebens: 373; des Menschen: 29 Heiligtum: 194, 262, 284; und Schechina: 172, 173; Wiederaufbau des: 221 Heilstatsache, verliehene: 59; Erlæsung als: 109 Heilsvermittlung: 25 Heilsvorgang: 52 Heilswahrheiten: 13 Hellenismus s. Griechentum; jçdischer: 151 Henotheismus: 302 Heroen: 95, 100 Herrscherkult s. Kultus Heteronomie des Daseins: 67; des Erlebnisses: 73; der Geschichte: 65; des Lebens: 54, 62, 73; der Religion: 78 Hierarchie: 74, 121 Himmel: 72, 86, 107 Hingebung: 59, 112
Historie: 64, 65 Historisierung des Judentums: 32 Historismus: 28, 30, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 39, 41, 99 ff.; Krisis des: 41 Hælle: 72, 86, 107, 114 Hoffen, religiæses: 110 Homilie s. Rede Homilienmidraschim s. Midrasch Humanismus: 104, 106; Zeitalter des: 138; jçdisch-hellenistischer: 217 Humanitåt: 72, 104 Hypostasierung des gættlichen Waltens: 315 Ich, Mittelpunkt alles Religiæsen in der Romantik: 110 ff., 112, 113, 115, 120 Ideal: 99, 105, 120; vom guten Menschen: 104 Idealismus, romantischer: 95 Idee: 18, 37, 44, 46; des sittlichen Gesetzes: 104; des Werdens: 63; der Erwåhlung Israels: 270; soziale: 122; universelle, des Judentums: 41; vom Menschenbruder: 122; vom Vollendeten: 38; messianische: 22, 50, 115, 116, 136 f., 149, 194, 225, 237; der Mystik: 246 f.; der Geschichte, klassische: 63 Immanenz: 38, 318 Imperativ, kategorischer: 102 Impression: 57; romantische: 94 Inbrunst: 94, 96 Indien: 66, 142 Individualismus: 179, 370 f. Individualitåt: 37, 39, 45, 86, 121, 350, 355; weltgeschichtliche, des Judentums: 41; Recht der romantischen: 101 Individuation: 307 Individuelle Sçnde, Lehre von der: 84 Individuum, s. a. Mensch und Persænlichkeit: 144; und Gebot: 349; und Gemeinde: 271; Stellung in der Gesetzmåûigkeit des Seins: 339 Intellektuell-Intilligible, Das: 265 ff. Ironie, romantische: 78, 80, 81, 90, 99, 101, 120 Irrationale, Das: 30, 120 Irrglåubige: 79 Islam: 251, 212, 246 Israel, das wahre: 51; das wahre ± der Kirche: 125; Erez: 284; Erfçllung des
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Indices Menschentums: 280; keinem planetischen Einfluû unterworfen: 317; -s Aufgabe: 288, 289 Jansenismus: 106 Jenseits s. Welt Jerusalem: 220 Jesuitenorden: 103 Jetzt, Das: 50 Joch des Gesetzes: 88 Judenchristentum: 117 Judentum: 42, 117, 122, 128; Anthropomorphismus im: 234; als Minderheit: 365; des Mittelalters: 292; historisches: 33, 37: keine Kirche: 27; klassische Religion: 47, 50; Kampf um die religiæse Eigenart: 212 f.; Mystik des: 246 f., 270; und Christentum: 63, 121, 123, 124, 126, 157, 158, 164, 166, 221; und Griechentum: 146, 293; und Heidentum: 52; palåstinensisches: 173 Jçnger: 61; Jesu: 98; des Paulus: 126 Jçngster Tag: 51 Kabbala: 244 f. Kampf, mit Aufgabe: 38; um das Recht: 108 Kanon: 198 Kant's Ethik: 92, 93 Karåertum: 34 Kasuistik: 94, 100 ff. Kategorischer Imperativ: 102 Katholizismus: 19, 54, 70, 78, 89, 98, 103, 111, 117, 118 Kawwana: 248 Kindheit, Phantasie der: 353; Religionsunterricht der: 377; Unbewuûtheit der: 352 Kirche: 25 f., 27, 36, 37, 38, 63, 71, 80, 105, 110, 112, 117, 122; als wahre Gemeinde: 223; als das wahre Israel: 125; Christologie der: 192; des Socianismus: 139; geschichtliche Anfånge: 98, 99, 157; Glaubensansprçche: 71, 72, 178; innere Entwicklung der: 70, 74, 77, 86, 131; katholische ± und Protestantismus: 37, 68, 83, 98, 106, 113, 118, 199; und Altes Testament: 113, 129, 131; und Ethik: 87, 89, 93; und Gnade: 133; und Judentum: 158; und messianische Idee: 137; und Naturrecht: 129; und Schechina: 173; und
Staat: 129, 135, 185; und Gnostizismus: 129, 197, 198 Kirchenbegriff: 71, 77, 104 Klassik: 49, 120 Klassische Religion: 47, 59, 75, 113, 120 Kleinasien, s. a. Asien: 49 »Kænig«, Bezeichnung fçr Prophet und Engel: 313; der Juden: 51 Kænigtum Gottes, s. a. Theokratie: 137 Kofer ba-ikkar: 17 Kommentaridealismus: 99 Konfession: 26, 72 Konstanz, der Individuen: 340; der Naturordnung: 340 Korrelat von Bæsem und Gutem: 274; Mensch und Beracha: 279, 280 Kosmogonie: 168, 278 Kraft: 67, 106, 112; dreifache gættliche: 282; erlæsende, vom Gesetz kommend: 92; geistige: 37; sittliche: 60 Kreatçrlichkeit: 38 Kritik der reinen Vernunft: 80, 297 Kultur, s. a. Einheitskultur: 59, 61 ff., 120, 128 Kultus: 78; alter und neuer: 144; der schænen Form: 146; heroischer- und Heroenkultus: 154, 225; mystischer: 145, Sakraments-: 74 Kyniker: 146 Leben, erfçlltes: 113; ewiges: 15, 82; fertiges: 80; im Ewigen: 22; von Gott gesetzte Aufgabe: 113 Lebensaufgabe: 46; -fremdheit: 102; -garantie: 110; -gebot: 57; -gehalt: 57, 88; -geschick: 79; -gestaltung: 31, 32, 359 f., 380; -richtung: 40; -wert: 42; -zusammenhang: 59 Legalitåt: 90, 102 Lehre, s. a. Torah: 97, 110, 115, 127; esoterische: 246; des Judentums seine Geschichte: 27, 38; in Predigt und Unterricht: 119; katholische und Judentum: 131; kirchliche: 67, 79; und Mystik: 251 Lehrer: 77, 127, 372; Legitimierung des: 39 Lehrhaus: 25; Bet ha-midrasch: 208; als Ståtte der Schechina: 172, 252 Lehrordnung: 102 Lernen: 367 Libertinismus: 127, 135, 137
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Sachen Licht, immaterielles: 268 Liebe: 72, 122 List der Idee: 113 Literatur, jçdische: 96; haggadische: 176; klassische religiæse: 142 Liturgie: 16, 253 Loci comunes: 106 Logik: 31, 80, 81 Logos: 36, 38, 164 f., 314; identisch mit Torah und Chochma: 166; und Offenbarung: 36 Logosvolk: 173 Lçge: 79, 80 Luthertum: 55, 77, 106, 107, 112, 118, 119, 135 maaûe bereschit: 246 Macht: 54, 63, 74, 118, 119 Magisches Werk: 71 Maimunisten: 293, 295 Martyrium: 118 massa perditionis: 105 Massoreten: 241 Materie: 274, 327 Mensch, s. a. Individuum, Persænlichkeit, Angehæriger der Welt: 144; dogmatischer Begriff: 87, 95; als kosmisches Wesen: 247, 321; geistlicher und bçrgerlicher: 121, 135; glåubiger: 145; junger: 377, 378; und Gott: 349; Gottes Ebenbild: 153, 277, 314, 350, 371; Objekt: 58, 65, 67, 70, 81, 83, 92, 109; Subjekt: 58, 84, 86, 118, 122 Menschen, Aufgabe des ± zur Herbeifçhrung des Gottesreiches: 239; fertiger: 55, 56, 72, 75, 77; Philosophie vom kosmischen: 253, 319; Unmittelbarkeit Gott: 214 Menschenbruder, Idee vom: 122 Menschengeschlecht: 128, 188 Menschenliebe: 58 Menschensohn, Bedeutungswandel des Wortes: 192 f. Menschentum: 104 f. Menschheit, fertige: 72, 75; Begriff der einen: 37, 72, 105 Merkawa: 246; ± Kapitel des Ezechiel: 258, 259; Jorde ±: 253 Messianisches Hoffen: 116 Messias: 50, 51, 96, 98, 123, 187, 194, 195, 196, 221, 248 Messiasglaube: 51
Metaphysik des Aristoteles: 303; jçdischer Religionsphilosophie: 291 Metatron: 183, 302 Methodistische Fræmmigkeit: 68 Middat ha-ddin: 282 Middat ha-rachamim: 282 Midrasch: 8, 33, 147, 158, 174 f.; -Haggada: 182; zum Buch Daniel: 189; Wesen des: 147; Literatur: 345; tannaitischer: 159 Mikrokosmos: 262, 319 Minderheit, Judentum als: 365, 368 Minhag: 40 Minim: 15, 185 Mischna: 23, 24, 27, 159; = Gesetzesniederschrift: 244; als Mysterium: 180; haggadische: 160 Mission: 107, 116, 117, 118, 119 Mithraskult: 48, 51 Mitmensch: 110, 122, 375 Mittelalter: 48, 55, 62, 63, 129, 133, 137, 212, 240, 366, 367 Mittler: 47, 73; des Heils: 74; in geweihtem Priester: 73; persænlicher: 72 Mænchtum: 60, 68, 69, 73, 99, 111, 113 Monobiblismus: 174, 245 Monotheismus, ethischer: 350; jçdischer: 140, 174, 245 Moral: 90, 99, 101, 103, 109, 135 Morgenland: 147, 148 Mutasiliten: 212 Mystagoge, Christus als: 167 Mysterienglauben: 38, 54, 61, 67, 76, 112 Mysterium, s. a. Wunder: 38, 48, 49, 50 f., 58, 76, 82, 87, 88, 94, 130, 144 f., 180, 247 Mystik: 31, 38, 77, 244 f., 254, 270, 271, 289; ekstatische und spekulative: 249 f.; Gebets-: 253; Geschichte der: 254; theosophische: 253 Mythologie: 95, 151, 212, 292 Mythos, griechischer: 84; romantischer: 52; vom erlæsenden Heiland: 49, 50 f. Nachfolge Christi: 97 Nåchstenliebe: 105 Namen: 188; Gottes: 302 Nationale Religion: 47 Naturphilosophie, mystische: 256 Neues Testament s. Testament Neuplatonismus: 111, 246, 314
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Indices Niederlande: 139 Nizåanisches Konzil: 20, 117 Noachiden: 15 Nominalisten: 144 Objekt: 53, 58, 115; Mensch nur -: 67, 81, 83, 102, 109 Obrigkeit: 20, 75, 89, 102 Ofannim: 268 Offenbarung: 12 f., 13, 22, 31, 36, 37, 38, 50, 56, 123, 125, 149, 167; in der jçdischen Mystik: 249; und Gegenwart: 155 Offenbarungsinhalt: 20, 21; -kunde: 49; -moment: 58; -philosophie, alexandrinisch-griechische: 194; -religion, geschichtliche: 65; -wunder: 58 Olam waed: 282 Opfer: 62, 99, 111, 112 Optimismus, kosmischer: 289 opus supererogationis: 98 Orientalische Mysterien: 48 Orphische Religion: 47; Geheimkunde: 84 Orthodoxie: 77, 78, 79, 294 Palåstina: 148, 149, 158, 165, 173, 174, 185, 194, 244, 249 Pananthropismus: 249 Pankosmismus: 270 Pantheismus: 249, 270, 334 Papsttum: 107, 132, 199 Partikularismus, der Kirche: 115; des sittlichen Gutes: 106 Passivitåt: 54, 58, 59, 60, 62, 67, 70, 81, 96, 108; religiæse: 134; romantische: 94, 110 Paulinismus: 25, 52, 54, 55 f., 61, 62, 73, 78, 85, 87, 88, 90, 103, 107, 110, 112, 117, 124 f., 126, 134, 138 Pelagianismus, s. a. Semi-Pelagianismus: 85, 138 Peripatetiker: 328 Persien: 19, 142, 208 Persænlichkeit, s. a. Mensch und Individuum: Entwicklung von Wertbeziehungen: 351, 354; Geschichte der: 348, 349; Krisis der: 352, 355; religiæse: 372; romantische: 45; sittliche: 95, 348 ff. Persænlichkeitskultus: 96 Pessimismus: 24, 35, 57
Peticha, s. Proæmium Pflicht: 79, 81 f., 92, 98; Spannung zwischen Neigung und: 81, 82 Phantastik in der Romantik: 119 Philosophie: 8, 17, 19, 24, 31, 36, 55, 75, 103, 112, 144, 290, 293, 334; Beziehung zur jçdischen Predigt: 148; dogmatischer Charakter der: 145, 296; griechische: 36, 103, 314; maimunische: 344; mystische des Ssefer Jezira: 256 f.; neupythagoråisch ± neuplatonische: 254; Offenbarungs-: 194; des Proklos: 263, 264; Religion und: 164; vom kosmischen Menschen: 253 Pietismus: 68, 69, 98, 112, 119 Plage, ågyptische: 183, 184 Planetarische Prådestination: 315 Platonische Philosophie: 121 f., 149 f. Pleroma: 249 Pneuma: 56, 128 Polen: 139 Polytheismus: 151, 233, 302 Praescienz, gættliche: 320 Pråexistenz, der Torah: 166; des Volkes Israel: 194 f. Predigt, s. a. Peticha; als Mittel der Selbstbehauptung: 161 ff.; amoråische: 169; anonyme: 207, 223; der Schule von Tiberias: 210; in Palåstina und Babylon: 174; religions-geschichtliche Stellung der: 162; Stil der: 154 Presbyterianer: 137 Priester, s. a. Priestertum: 73, 74 Priestertum, s. a. Priester: 74, 76, 134; des Volkes: 361 Prinzip: 27, 38, 71, 275, 282, 323; des strengen Rechts ± middat ha-din: 282; romantisches: 61 Proæmium: 158 ff. Propheten: 49, 127, 131, 142, 143, 187, 293; als Boten Gottes: 337; Namen der: 188, 312 Prophetismus: 38, 56, 265; und Apokalypse: 193 Proselyten: 126, 239 Protestantismus: 21, 26, 28 f., 61, 64, 89, 98, 103, 106, 108, 111, 112, 140, 199; moderner: 95, 99, 139, 140 Providenz, gættliche: 316, 317, 339 f. Pseudepigraphen: 196 Puritaner: 137
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Sachen Rationalismus: 120, 290; dogmatischer: 41; kein System ± Methode: 293 Recht: 32, 34, 40, 88, 108; der unumschrånkten Gewalt: 121; des bçrgerlichen Berufs: 60; des Mitmenschen: 122; Prinzipien des strengen: 282; und Dogma: 102 Rechtglåubigkeit: 22, 77 Reform: 14, 17, 26, 41 Reformation: 63, 84 f., 88, 134, 139 Reich, Gottes: 115, 116, 237 f.; tausendjåhriges: 137 Reinheitsvorschriften: 182 Religion, als Form des Lebens: 361 f.; antike: 151; Astral-: 212; dogmatische: 47; Einheit der jçdischen: 147; Epikurs: 78; Erfçllung der: 65, 71, ethischer Charakter der Prophetenreligion: 247; geoffenbarte, absolute: 22, 30, 33, 42, 59, 65, 72, 75; getragen vom Sakrament: 69, 70; griechische und ræmische: 143, 144; klassische: 75; kynisch-stoische: 145; des Calvinismus: 136; des Luthertums: 145; des neuen Protestantismus: 125, 139, 140; Lernbarkeit der: 146; Mysterien-: 247; mystische und philosophische: 144, 145; neuplatonische: 111; ordentliche und auûerordentliche: 98; orphische: 47; Sprache und Schrifttum im Bereich der: 366; Suchen einer neuen: 142; staatliche: 48; und Astronomie: 212; und Ethik: 87, 88, 104, 139; und Gegenwart: 155; und Philosophie: 164; wissenschaftliche ± des Poseidonios: 151; Materialisierung der ±: 67 f., 76; Melancholie der ±: 101 Religionsphilosophie: 27, 33, 155,290; der hellenistischen Zeit: 164; des Mittelalters: 367; jçdische: 334 Religiositåt: 41; diesseitige: 58; klassische: 42; romantische: 42 Renaissance: 39, 63, 106, 151; humanistische ± des Christentums: 139 Reschit, Lehre vom: 162 ff.; Prinzip der Welt: 275 Ræmerreich: 48 f. Rom: 184, 208 Romantik: 46 ff.; antike: 67; neue: 106; fçhrt zum Autoritåtszwang: 90; im Gegensatz zur Ethik: 104; jçdische: 61; Sieg der: 49
Romantische Religion: 42 ff.; Dogmatik der: 78; gegen Idee des sittlichen Gesetzes: 104; gegen Kultur: 61 Sabbat, in der religiæsen Erziehung: 381; in der Mystik: 255; Konflikt mit dem: 369 Sabbatarier: 139 Sabbatjahr: 211 sacrificium intellectus: 56, 62 Sakrament: 26, 38, 48, 51 f., 66 f., 68, 69, 70, 72, 77, 78, 81, 87, 89, 101, 103, 109, 114, 133; -sreligion: 70, 71; -stheologie: 77 Samaria: 218 Seele, besonderes Vermægen çber Vernunft: 264; Unsterblichkeit der: 337 Segen: 275, 278 f., 287, 288 Seiende, Das: 31, 120, 262 Selbstbehauptung, ideelle: 58, 147, 154; Predigt als Mittel der: 161-174 Selbstbewuûtsein: 351, 356 f. Seligkeit: 48, 66, 79, 113 Semi-Pelagianismus, s. a. Pelagianismus: 133 Septuaginta, s. Bibel, griechische Serapis: 48, 51 Sinai: 123, 173, 242 Sittengesetz, s. a. Gesetz: 45, 89, 102 f. Sittenlehre, Lehre von Fall zu Fall: 102; mit Charakter des bloûen modus vivendi: 102; im mittelalterlichen Katholizismus: 60 Sittliche, das, ohne religiæse Bedeutung: 90; zweideutig: 100; Erneuerung: 109; Leistung: 110, 119; Pflicht: 44 f., 79, 92, 95, 108 Sittlichkeit: 119, 128; aus dem geschenkten Glauben: 106; hæhere: 100 Sozianismus: 138, 139 »sola fide«: 54, 70, 83, 91 Sozialismus: 61, 85, 122, 138 Sphårengeist: 314, 323 Sprache, hebråische: 366, 369, 380; jçdisch-deutsche: 326 Ssefirot: 263 ff., 323 Sserafim: 268 Ssofer, Ssofrim s. Schriftgelehrter Sçnde, s. a. Erbsçnde: 26, 84, 85, 86, 87, 109, 134; des ersten Menschen: 171 Sçndhaftigkeit: 86, 103, 111 f., 114 Sufi: 66
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Indices Supranaturalismus: 30, 84, 86, 295 Syllogistik: 80 Symbol: 67, 70, 76, 120, 262 Synagoge: 16; als Ståtte der Schechina: 172, 252; und mçndliche Lehre: 185; und Tempel: 208; kosmische Bedeutung der: 252 Synhedrion: 23, 24 Synkretismus: 62 Syrien: 165 System, kopernikanisches: 369; maimunisches: 327; triadisches: 259 Syzygien: 246, 249 Schechina: 169, 170 f., 283; und jçdisches Volk: 172; und Torah: 252 Schicksal: 45, 60, 84 f., 288; der Welt in Israels Entscheidung gelegt: 288 Schæpfer: 120, 128, 259 ff. Schæpfung: 18, 28, 52, 56, 273, 323, 324, 326, 338; als Ziel der Mystik: 249 Scholastik: 55, 63, 77, 103, 296 Schrifterklårung: 159 f., 175, 290, 293 Schriftgelehrter (Ssofer, Ssofrim): 196; besondere Befugnisse der Schriftgelehrten: 202 Schrifttum, apokryphisches und pseudepigraphisches: 151, 167; talmudisches: 157 Schuld: 84 f. Schulen (Schçlerschaften), des Elijahu: 228; des Bar Kappara: 165; des Jischmael: 182; des Jochanan: 160; des Origenes: 165; philosophische: 145, 149; von Cåsarea: 166; von Tiberias: 159, 210 Schwårmerei: 74, 94, 96, 103, 116 Staat und Kirche: 102, 121, 122, 129, 135, 185; und Religion in der Antike: 144; Verhåltnis des Tåufertums zum: 137, 138 Staatsreligion: 74, 143 Stiftszelt: 171, 173 Stoische Philosophie: 268, 291
Tat, sittliche: 54, 81, 88, 312; durch Anbetung ersetzt: 94; und romantisches Erlebnis: 88, 104; Ursprung der guten: 104 Taufe: 66, 69, 87, 103, 108, 123, 130, 133 Tefilla, s. Gebet Tehilla = ewige Glorie: 275 Tempel: 262; Wachtråume des: 200; Zerstærung des: 207, 250 teschuwa = Umkehr und Vergebung: 282, 286 Testament, Altes, Kanonisierung des: 129; Stellung des ± im Calvinismus: 136; und Sittengesetz: 131 Testament, Neues: 83, 97, 99; Einheit des Alten und des Neuen: 129, 132 Tetragrammaton: 283, 284, 300, 301, 307 Theodizee: 343 Theokratie, s. a. Gottesreich: 137; Gebet um das Reich Gottes: 238 Theologie: 19, 28 ff.; Bedeutung fçr Kirche: 36; des Judentums: 35 ff.; des Origenes: 166, 167; des Paulus: 81; kosmische: 164; physikalische ± des Poseidonios: 151, 212, 213; praktische: 36; scholastische: 63; protestantische, moderne: 95 Theophanie Ex.: 33, 13 f., 297 Tiberias, Schule von: 159, 210 Tod, Aufhæren in der messianischen Zeit: 225 Tohu: 122, 266, 267, 273 ff. Torah, s. a. Lehre: 14, 23, 123; Gegensatz zur Gnosis: 146; identisch mit Cochma: 163 f.; Pråexistenz der: 166 f. Tradition, s. Ûberlieferung Triadisches Gesetz: 259, 260, 263 Tritheismus: 132 Tugend: 80, 105, 106, 121, 133; Lehrbarkeit der: 145; Pflicht zur: 92 Tun, s. a. Ethik, Denken und ±: 235; sittliches: 122, 247; und Gesinnung: 355; Wert des: 134, 369
Tåufertum: 59, 62, 68, 70, 118, 137 f. Talmud: 14, 148, 159; geschichtlicher Stoff des: 157; Niederschrift des: 244 Tannaiten: 160, 184 Taoismus: 246 Targum: 173, 193, 196, 201, 216, 226, 228, 240, 299
Ûbel: 341, 342 Ûberlieferung: 19 ff., 32 ff., 244; der mçndlichen Lehre: 166, 174; haggadische: 160 Unanfechtbarkeit, logische: 296; metaphysische: 296 Unendlichkeit s. Welt Unfehlbarkeit der Kirche: 71, 76
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Sachen Unitarismus: 138 f. Universalismus: 34, 37, 104 Universum: 323, 330 Unsterblichkeit: 109, 337 Untertan: 22, 61, 78, 118 f. Unvergånglichkeit des Stoffes: 335 Urlicht: 280 Ursegen: 288 Ursprung: 34, 68, 104, 261; der sozialen Bewegung: 121 Urschrift: 278 Urzeugung: 337 Verborgene, Das: 38, 58, 273 Verdammnis: 24, 53, 97, 126, 133 Vergebung: 282 Vergottung: 118 Vernunft: 56, 81, 120, 264, 309, 316, 317 Versæhnung: 22, 109, 322 Vision: 193, 246, 252 vita relÓgiosa: 68 Volk Israel: 25, 125, 194, 226, 284, 288; und Schechina: 172 Vorherbestimmung: 136 Vorsehung, gættliche; s. Providenz Wahrheit: 17, 30, 46, 50, 56, 65, 70, 76, 81, 120, 261 = Erkenntnis: 261; Gewiûheit der: 50, 155; Lehre von der doppelten: 81, 102, 144, 292; neue: 116; philosophische: 319 Weg des Heils: 116; zur Verdammnis: 79 Weisheit: 50; jçdische und griechische: 51; identisch mit Torah: 275 Welt: 144; und Gott in der Mystik: 249, 280, 282, 288, 323, 328, 330; und Le-
bensanschauung: 121, 144, 293; sublunarische: 301, 304; diese und jene: 41, 53, 81, 86, 246 f.; Vorstellung von der kommenden: 194 Weltewigkeit: 330, 334 Weltgeschichte: 37 f., 52, 122, 123 Weltkirche: 72 Weltschæpfung: 331 Werktagsheiligung: 362 Wesen, der hæheren Welt: 211 f., 268, 311, 317, 318, 320, 337; Mensch als kosmisches: 247; der Geschichte: 65; der Gottheit: 112; der Religion: 79 Wille Gottes: 13, 81, 136, 331, 338 Wissenschaft: 33, 35, 331; romantische Beziehung zur: 62; Judentum und: 369 Wollen, menschliches: 103; supranaturales: 104; und Sollen, Spannung zwischen: 81; Religion des sittlichen 114; Erlæsung vom: 54, 248 Wunder, s. a. Mysterium: 44, 53, 56, 66, 67, 68, 69, 71, 72, 83, 88, 109, 110, 337 Yoga: 66 Zahlen (mystische): 257 f., 262 Zelotentum: 218 Zeremonialgesetz: 123 Zionismus: 35 Zælibat: 111, 128 Zusammenhang, geschichtlicher: 32; innerer ± des Gebotenen: 102 Zweck der Schæpfung: 326; des Daseins: 113; immanenter und transzendenter: 38, 318, 333
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Indices
b) Namen Abba bar Kahana: 169 Abel: 216 Abraham: 149, 150, 152, 169, 170, 173, 178, 188, 232, 238, 261, 302 Abraham ben Dawid; Abraham ibn Daud, Abraham ibn Esra siehe unter Awraham Abulwalid: 301, 3131 Acha: 215, 221 Adam: 171, 173 Agesilaos: 105 Aharon ben Ascher: 263 Akiwa: 23, 126, 168, 182, 183, 204 Akylas: 126, 225 Albo, Josef: 3347, 335 Anm. Aldabi, Meir: 2941 R. Alexander: 206 Alfarabi: 317 Amos: 188 Amram: 170 Anatoli, Jaakow: 294, 2959, 3026, 303, 3042, 3191, 3232 u. 3243 u. 4 Andokides: 144 Aristoteles: 146, 291, 2992, 303, 3053, 3252, 3275, 328, 329 Arnheim: 236 Asarja: 168, 223 Augustinus: 75, 84, 85, 86, 100, 105, 106, 107, 110, 120, 132, 133, 134 Aurelian: 208 Averroes: 300, 3002, 3351, 3362 Awahu: 166, 192, 193 Awin: 178, 185 Awraham ben Dawid: 3223 Awraham ibn Daud: 27, 3033, 307, 3115, 314, 3141, 3332 Awraham ibn Esra: 212, 240, 262, 295, 298, 300, 3001 u. 2, 3012 u. 8, 3032, 3048 u. 9, 3053 u. 4, 306, 3061 34 5, 3072, 3113 45, 3122, 313 Anm., 3133, 314, 315, 3161 u.7, 3171 34, 319, 3243 4, 3321, 3341, 3375 Bacher, W.: 158, 2842, 2901, 2911 u. 4, 2921, 2942, 3017, 313 Anm. Bachja ben Ascher: 2604, 277, 295, 2982, 3024, 3081, 3134, 3175, 3243, 3273 Bachja ibn Pakuda: 295, 3074 Bahir, Autor des Ssefer: 272, 2731, u. 2, 3234
Arnheim: 236u, 3234 Bariskaios siehe Berachia Bar Kappara: 165, 166, 168, 213 Bar Kochba: 208, 220 Barth, Karl: 281, 296, 37, 241 BatlajÞsi: 295, 3071 u. 2, 321, 3213, 324 Anm., 3245, 3311, 3321 Baur, Ferdinand Christian: 254, 1272 Behr, Alexander: 236 Berachja bzw. Bariskaios: 216 Bernays, Isaac: 40 Anm. Betar, Stadt: 220 Bileam: 187 Binstock, L: 162 Bloch, Philipp: 257, 258, 2602, 2633 Bousset, Wilhelm: 1261 Brunner, Emil: 291 Buber, Salomon: 2741, 2771 Buddha: 142 Bultmann, Rudolf: 37 Busembaum: 94 Carlyle, Thomas: 365 Cassel: 303, 3376 Chananja: 223 Chanina bar Chama: 213 Channing: 139 Christus: 50, 51, 115, 123, 124, 126, 127, 130, 138, 139, 154, 164, 165, 166, 167, 171, 172, 173, 192, 218, 248 Chrysipp: 103, 292 Cicero: 19, 192 Clemens, Alexandrinus: 222, 2678 Cohen, Hermann: 29, 33 Constantin: 185 Constantius: 185 Cromwell: 138 Daniel: 183, 188, 190, 191, 192193, 195, 201 Dante: 156, 272 Dawid: 181, 183, 193, 276 Derenbourg bzw. Dernburg, Joseph: 35 Dibelius, Martin: 29 Diogenes: 105 Diokletian: 208 Dionysius Areopagita: 2731 Dalmann, Gustaf: 236 Duns Scotus: 86, 133
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Namen Eckehart, Meister: 77 Eden, Garten: 170 Edom: 184, 208 Einhorn, David: 14, 237 Elasar ben Arach: 226, 250 Elasar ben Asarja: 182, 183, 239 Elbogen, Ismar: 362, 2711 Elert, W.: 291 Elieser: 310 Elihu: 341 Elija: 142, 188 Empedokles: 264 Enosch: 169 Epaminondas: 105 Ephodi: 3051, 313 Anm., 3162, 3171, 3351, 3381 Epikur: 78 Esra: 187, 190 Ezechiel: 188, 219, 220, 258
Hadrian: 208, 220 Hai, Geron: 253 Hatzer, Ludwig: 138 Harnack, Adolf von: 21, 233, 252, 29, 75, 1252, 1262, 164, 222 Hase, Karl: 195, 365 Hatch: 1221 Hegel: 30, 43 Heidenheim, Wolf: 236 Henoch: 189, 195 Heraklit: 146 Herrmann, Wilhelm: 213 Herz, Elkan: 14 Anm. Hieronymus: 165 Hiob: 188, 340 Hirsch, S. R.: 237 Hiskia: 316 Hoennicke, G.: 125 Holdheim, Samuel: 15 Hoschaja rabba: 162, 165, 166 Hosea: 178
Feuerbach, Ludwig: 95 Fichte: 95 Fiebig, Paul: 236 Da Fiore, Joachim: 99 Formstecher, Samuel: 33 Frankel, Zacharias: 35 Franz von Assisi: 98 Freudenthal: 1431, 162 Fçrstenthal: 236
Iddo: 216 Ignatius von Antiochia: 192 Irenåus von Lyon: 198 Isaak: 170 Israel: 172, 173, 178, 179, 180, 194, 224, 226, 227, 239
Gabirol, Schlomo Ibn: 3321 Ibn Ganach siehe Abulwalid Gazzali: 321 Geffcken, Johannes: 125 Geiger, Abraham: 17, 27, 35, 361 23, 237, 2942 Gerschom ben Schlomo: 2941 Gersonides (Lewi ben Gerschom): 2961, 3024, 315, 316, 3171, 326 Anm., 3275, 3351, 3362, 3385 Gesenius, Wilhelm: 2981 Goethe: 45, 56 Gogarten, Friedrich: 37 Goldschmidt, Lazarus: 257 ff. Goldziher Ignaz: 251 Gths (des Avesta), Schrift: 142, 143 Graetz, Heinrich: 34 Gregor von Nyssa: 19 Grotius: 218 Gçdemann, Moritz: 125, 2921 Guttmann, Jakob: 17 Anm.
Jakobus: 83, 131 Jansen, Cornelius: 106, 133 Jehoschua ben Karcha: 220 Jehoschua ben Sirach: 167, 207 Jehuda ben Schalom: 179, 185 Jehuda ben Schlomo ben Matka: 2941 Jehuda: 2771 Jehuda ha-Lewi: 2612, 334 Jakob: 170 Jeremija: 188 Jesaja: 152, 176, 181, 187, 188, 196, 323 Jeschua ben Jehuda: 3312 Jesus siehe Christus Jischmael: 168, 182 Jizchak: 170, 211 Joasch (Kænig): 215 Jochanan bar Nappacha: 160, 204, 2771 Jochanan ben Sakkai: 207, 226, 251 Jol, M.: 161, 17, 149, 162, 237, 3252, 3351 Johannes: 70, 81, 115, 184, 194 Jojada: 215 Josephus: 218, 220
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Indices Joûe ben Chanina: 218 Joûe ha-Galili: 183 Joûef ha-Kohen: 226 Juda ben Schimon: 168, 172, 173, 227 Judan: 215 Julianus Apostata: 221 Kain: 169 Kalonymos: 3321 Kant: 92 Kappara, Bar, siehe Bar K. Kaufmann, David: 2601, 2912 5, 2921, 295, 3071, 3112, 3171, 3193, 3211, 3243, 3253, 3314, 3321, 3332, 3343, 3351, 3376 Kehat: 170 Kierkegaard, Særen: 99 Kimchi, David: 295, 3051 3, 3124, 3131, 3223, 3244 Kingsley: 122 Kleanthes: 292 Koch, Hugo: 2664 Kohelet: 223, 226 Krçger, Gerhard: 291 Kung-tse 142 Lange, Friedr. Albert: 142 Lao-tse: 142 Lessing: 43, 65 Lewi: 170 R. Lewi: 180, 185, 205 Lewi ben Awraham: 290 ff. Lobstein, P.: 195 Læw, Leopold: 15, 16 Longfellow: 139 Luther: 222, 53, 54, 56, 60, 61, 63, 68, 69, 70, 74, 80, 83, 86, 87, 90, 91, 92, 95, 105, 107, 110, 111, 112, 114, 116, 134 f. Lysias: 144 Maimonides (Rambam): 26, 27, 290, 291, 293, 295, 296, 297, 298, 3055, 306, 308, 3122, 314, 315, 322, 3222, 3242, 327, 3275, 3301, 332 f., 334, 339, 340, 344 Manasse: 148 Marcion: 126, 128, 129, 140 Martensen, Hans Lassen: 86 Martineau, James: 139 Marx, Karl: 122 Matthåus, Evangelium: 199 Maybaum, S. : 17 Anm.
Maybaum, Ignaz: 331 Melanchthon: 80, 89, 90, 106, 107 Menasche (Kænig): 217 Mendelssohn, Moses: 12 f., 22, 241, 27, 40 Anm. Meros: 181 Milton: 139 Mischael: 223 Moses: 130, 149, 170, 178, 179, 188, 212, 275, 300, 301 Mçller, Julius: 363 Munk, Salomon: 3311, 3321, 3351, 3371 Nachmanides: 240, 2732, 3053 u. 4 Natorp, Paul: 364 Naumann, Friedrich: 62 Nebukadnezar: 223 Nestle, E.: 217 Neubauer, A: 2942 Nietzsche: 59 Niûim ben Jaakow: 3001 Niûim von Marsaille: 2921 Nitzsch, C. I.: 363 Novalis: 43, 80, 100, 119 Numenius aus Apamea: 267, 2677 Onkelos: 201, 240, 299, 3021 Origenes: 70, 165, 166, 167, 178, 192 Otto, Rudolf: 30 Parker, Theodore: 139 Parmenides: 265 Paulus: 49, 51, 52, 53 f., 56, 66, 67, 70, 71, 81, 82 f., 86, 87, 88, 89, 92, 97, 98, 100, 109, 110, 112, 115, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 130, 131, 134, 135, 137, 192 Pelagius: 132, 133 Perles, Felix: 183 Petrus: 199, 200, 202 Phådros: 149, 150 Philo Judaeus: 241, 144, 149, 152, 163, 165, 234, 249, 269, 2693, 291 Pindar: 146 Plato: 121, 122, 146, 149, 152, 267, 269, 325, 3252 Plotin: 1536, 258, 262, 2627, 267, 269, 2693, 3293 Pomis, David de: 3175 Pontius Pilatus: 95 Port-Royal, Kloster: 133 Pråger: 236 Priestley: 139
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Namen Proklos: 254, 256, 257, 259 f., 260, 261, 2613, 262, 263, 264, 2652 u. 3, 266, 267, 3234 Ptolomåus, Kænig: 154 Pumbedita, Stadt: 253 Pythagoras: 146 Rade, Martin: 20, 20 Anm., 21 Ranke, Leopold von: 34, 63 Raschi: 2732, 301 Rawed (Awraham ibn Daud): 27 Renan, Ernest: 240, 2942, 3285 u. 6 Ritschl, Albrecht: 30 Ssaadja, Gaon: 212, 263, 290, 301, 319, 3241 Sachs, Michael: 237 Saint Simon: 122 Salomo siehe Schlomo Samuel siehe Schmuel Saul aus Tarsus siehe Paulus Savonarola: 99 Schaeder, Erich: 29, 292 Schechter, S. : 163 Scheftelowitz, I.: 22, 231 Schemaja: 310 Schemtow ben Falaquera: 2941, 313 Anm., 3171, 3212, 3286, 3351, 3364 Schiller: 82 Schimon ben Jochai: 172, 238, 252 Schimon ben Joûe: 169, 170 Schimon ben Jona: 199 Schimon ben Lakisch: 208 Schimon ben Netanel: 226 Schlegel, Friedrich: 42, 53, 60, 95 Schleiermacher, Friedrich: 35, 44, 54, 87, 94, 119 Schlomo: 152, 167, 249, 322 Schmoller, Gustav von: 34, 341 Schmuel: 188 Schmuel bar Nachman: 208, 284 Schmuel ha-Nagid: 3053 Schmuel ibn Matot: 2601 Schoeps, Hans Joachim: 33 Anm. Scholem, Gerhard: 2131, 2841, 2852 Schopenhauer, Arthur: 57 Schreiner, M.: 183, 3192, 3254, 3312, 335 Anm. Schubert-Christaller, Else: 236 Schçrer, Emil: 1262
Schwenckfeld, Kaspar: 70 Secharja: 188, 215, 224, 227 SeÒra: 177, 182, 185 Sepphoris: 213 Ibn Sina: 3351, 337 Sirach siehe Jekoschua ben Sirach Sokrates: 109, 145 Spinoza: 87, 3163 Steinschneider, Moritz: 2941 u. 2, 3062 Steinheim, Ludwig: 33 Anm. Steinthal, Heymann: 18 Anm. Stephan, Horst: 213 Stern, E. M.: 3322 Steuernagel, Karl: 240 Stoa: 96, 100, 148 Sulzbach, A.: 200 Suttanipato, Buch: 143 Tanchuma bar Chanilai: 210 Tertullian: 114 Theodor, J.: 158 Thomas von Aquino: 77, 80, 133 Tibbon, Schemuel ibn: 3332 Tillich, Paul: 29, 294 Titus: 220 Tofail, Ibn: 3371 Tolstoi, Leo: 99, 110 Troeltsch, Ernst: 20, 203, 30, 301-3, 31, 31 Anm. Upanishad, Schrift: 142 Urija: 217 Varro: 144 Vendidad, Buch: 143 Vilmar, August: 86 Vincentius von Lerinum: 193 Virgil: 156, 272 Wellhausen, Julius: 202, 217, 240 Wendt, H. H.: 20, 201 Zeller, Eduard: 1221, 2591, 2627, 2652, 2664, 2672, 2683 67, 2702 Zarathustra: 142 Zenon: 106, 148 Zeus: 154 Zunz, Leopold: 33, 263, 2633 Zwingli: 70
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Indices
c) Bibelsåtze und Stellen der mçndlichen Lehre Bibel Gen 1, 1 : 3235 1, 15 : 3191 1, 26 : 154 2, 4 : 323, 3235 2, 8 : 2811 2, 22 : 2781 4, 10 : 216 5, 9 : 154 6, 5 : 2983, 299 6, 6 : 298, 2983 6, 12 : 2983, 299 9, 6 : 154 14, 19.22 : 3254 15, 7 : 303 15, 16 : 232 18, 19 : 2983 18, 24 : 2983 20, 13 : 311 22, 1 : 188 24, 7 : 312 25, 21 : 3096 28, 15 : 319 29, 31 : 2983, 299 48, 16 : 312 Ex 3, 2 : 241 3, 14 : 303 3, 15 : 3001 4, 22 : 196 6, 2 : 303 6, 3 : 302, 338 Anm. 9, 12 : 3223 14, 31 : 233 17, 16 : 340 Anm. 20, 5 : 3022, 303 20, 24 : 252 23, 21 : 3002, 312, 3125, 3134 23, 26 : 3203 24, 1 : 3024 33, 12 : 2983, 299 33, 13 f. : 297 33, 15 : 3182 33, 16 : 3182 33, 21 : 299 34, 1 : 3203 34, 6 : 297, 300 39, 19 : 3157 Lev 1, 1: 210 17, 13 : 219
Num 14, 18 : 301 23, 9 : 188 34, 7 u. 8 : 2732 Deut 4, 19 : 311, 317, 3182 10, 17 : 304 10, 19 : 363 12, 5 : 2802 18, 5 : 312, 3125 28, 6 : 233 29, 18 : 322 30, 15 : 321 31, 16 : 3143 32, 8 : 311, 317, 3182 32, 9 : 317, 3182 32, 15 : 3073 33, 5 : 313 33, 6 : 240 33, 23 : 275, 277, 2771, 278 33, 27 : 336 Anm. Josua10, 12 : 3163 13, 22 : 177 I. Sam1, 3 : 3073 3, 10 : 188 4, 4 : 305, 3052 15, 29 : 3062 II. Sam.6, 2 : 3052 6, 21 : 196 19, 3 : 298, 299 Anm. 21, 6 : 196 I. Reg2, 45 : 2751 5, 26 : 2751 II. Reg17, 26 f.: 3153 20, 6 : 3165 Jes 1, 13 : 3333 52, 8 : 2592 7, 9 : 233 7, 14 : 197 9, 1 :181 9, 5f. : 197 11 ff. : 197 13, 6 : 3062 19, 27 : 224 26, 4b : 3231 28, 16 : 233 30, 18 : 304 43, 10 : 196 43, 20 : 196 44, 1 : 196
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Bibelstellen und Stellen der mçndlichen Lehre 45, 4 : 196 45, 7: 274 45, 23 : 2751 48, 9 : 276, 2761 49, 6 : 196 50, 10 : 196 51, 1 : 299 52, 13 ff. : 196 54, 13 : 366 55, 8 : 3304 59, 2 : 309 60, 21 : 172, 196 61, 1 : 196 65, 9 : 196 65, 15 : 196 65, 22 : 196 66, 15 : 2592 Jer1, 11 : 188 1, 14 : 286 Anm. 10, 2 : 3182 10, 7 : 312 10, 8 : 312 23, 5 : 197 30, 10 : 209 31, 10 : 298 49, 8 : 188 49, 33 : 188 50, 40 : 188 51, 19 : 3182 51, 43 : 188 Ez 1, 13 : 2595 1, 14 : 2594 2, 1 : 188 2, 8 : 188 8, 3f., 9, 2 : 2871 31, 11 : 3154 34, 23 : 197 Hosea 8, 2 : 179 8, 12 : 179 Joel 1, 15 : 306 Amos 7, 8 : 188 Obadja 4 : 209 Micha 7, 5 : 233 Hab 1, 13 : 2983, 3333 4, 2 : 188 Sech 12, 1 : 3254 13, 8f. : 224 Mal 1, 11: 312 3, 6 : 3377 Ps 1, 6 : 2983 2, 7 : 196 8f. : 3202
8, 5 : 188 15, 4 :180 16, 8 : 310 24, 7 : 2862 33, 6 : 324 Anm. 3333 37, 29 : 170, 196 40, 9 u.11 : 298 55, 20 : 336 Anm. 76, 11 : 177 80, 8 : 188 87, 2 : 286 89, 3 : 196 89, 9 : 304 91, 7 : 310 93, 2 : 334 Anm. 103, 20 : 210, 336 Anm. 104, 2 : 284 106, 23 : 196 111, 20 : 276 115, 16 : 3304 118, 19 : 2871 121, 4 : 328 130, 4 : 3124, 322 145, 1 : 2761 145, 13 : 239 146, 3 : 188 148, 5 : 3254 Prov2, 7 : 180 3, 19, 3204 8, 15 : 313 8, 24 : 324 Anm. 8, 27 f. : 2654 8, 30 : 2802, 2812 10, 25 : 336 Anm., 3376 24, 3 : 2791 24, 21a : 223, 313 25, 3 : 313 25, 25 : 332 31, 3 : 3131 Hiob 10, 8 : 298, 2983 11, 11 : 3333 15, 16 : 3202 16, 21 : 188 18, 21 : 2333 22, 21 : 309 25, 2 : 2741 25, 5 : 3202 25, 6 : 188 26, 7 : 286 Anm. 35, 13 : 2983, 3333 Hohes Lied 5, 1 : 169 5, 2 : 204
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Indices Threni 2, 1 : 284, 2851 3, 44 : 309 5, 19 : 334 Anm. Koh 1, 9 : 336 Anm. 3, 7 : 3333 3, 8 : 3155 6, 2 : 181 7, 13 : 238 12, 9 : 238 Dan 2, 11 : 304, 3052 2, 13 : 191 3, 10 : 191 3, 12 : 191 7, 9 : 195 7, 13 : 189 7, 14 : 195
7, 22 : 195 7, 26 f. : 195 8, 15 : 189 8, 16 : 189 8, 17 : 188 10, 5 : 189 10, 11 : 188 10, 16 : 189 10, 18 : 189 10, 20 f. : 311, 3121 12, 4 : 188 12, 6 : 189 12, 7 : 3073 12, 9 : 188 Chron II 15, 8: 238 24, 22 : 216
Apokryphen und Pseudepigraphen Sirach 24, 8-11 u. 23 : 163 Esra IV 8, 53 : 225
Baruch 59, 11 : 2685 Henoch 39, 7 : 2685
Tannaitische Schriften Ssanhedrin X, 1 : 234 AwatI, 1 : 221 I, 5 : 205 III, 2f. : 172, 252 III, 6 : 172 IV, 11 : 3123 V, 1 : 3735 V, 22 : 177 VI, 10 : 163 Ssofrim XVI, 10 : 177 Edujjot I : 232 Mechilta zu 15, 3 : 181 15, 26 : 176 16, 31 : 176 29, 2 : 183
Mechilta Bachodesch: 208 Ssifre zu Deut 6, 6 : 176 11, 22 : 176 15, 3 : 238 32, 14 : 176 Ssifer zu Deut 32, 25 : 244 32, 30 : 3021 33, 16 : 242 Awot de Rabbi Natan IV, 5 : 212 VI, 7 : 160 XXXI, 2 : 3191 Megilla 228, 1 : 253 IV p. 238 : 184
Talmud Jer. Berachot 8c : 2626 11d : 2771 III, 7 : 3103 IX, 1p. zu 12d u. 13a : 184 Jer. Pea II 6 p. 17a : 178 Jer. Maaûrot III, 10 p. 51a : 177 Jer. Maaûer scheni 56c : 160 Jer. Rosch ha-schana 57a : 205
58a : 2685 Jer. Mo'ed katan II, 5 p. 81b : 182 Jer. Chagiga 77a : 227, 2676 77c : 235, 168, 2676, 2771 I 8 p. 76d : 178 II : 3231 Jer. Nedarim I 1 p. 36c : 182 Jer. Ssota VII, 3 p. 21c : 179
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Bibelstellen und Stellen der mçndlichen Lehre Jer. Megilla 70d : 1231 Jer. Joma V, 3 S. 42c : 193 Jer. Schabbat XVI, 1 p. 15c : 177 Jer. Ssanhedrin 28b : 172 X, 1 p. 28a : 182 Jer. Bawa kama 4c etc. : 165 Jer. Horajot III, 9 p. 48c : 181 Berachot 6b : 3191 8b : 3095 Berachot 13b : 3094 29b : 3103, 3111 31b : 182 32b : Mçnch. Cod. Dikd. Sofr. : 318 Anm. 33b : 3221 34a (V, 3) : 3125 58a : 3142 63b : 160 Schabbat 12b : 3095 30b : 3191 87a : 176 151b : 1233 156a : 152, 3182 Eruwin 13b : 24 64a : 160 Peûachim 56a : 174 Rosch ha-schana 31a : 3352 32a : 3235 Joma 36b : 3016 53b : 3102 Ssukka 45a (IV, 4) : 304 45b : 3134 Taanit 20b : 3091 25b : 239 Megilla 10b : 161 11a : 161 13a : 160 21b : 3235 29a : 172 IV, 9 : 3125
Chagiga 11b : 2792 12a : 3062 12b : 336 Anm. 14a : 176, 182, 183 15a : 183 Chagiga 77a : 250 77b : 251 IIa : 182 II, 1 : 235, 251 XVa : 2741 Jewamot 16b : 3024 102b : 178 Kidduschin 49a : 184 Gittin 60b : 177, 178, 179 Ssota 2a : 16042b u. Parall. : 2831 Bawa batra 10a zu Prov 21, 21 : 176 145b : 176 Ssanhedrin 26 : 3021 38b : 182, 183, 3023 67b : 182, 183 68a : 160 97a : 1231 228 99b : 185 Awoda sara 4a : 174 9a : 228 27b : 185 54b : 336 Anm. Nidda 30b : 2751 61b : 1233 Chullin 59a : 2604 60b : 182, 3024 91b : 154 95b : 338 Anm. Menachot 29b : 3231 Jadajim IV, 6 : 182 Toûaphot zu Megilla 25a : 3125 Rosch ha-schana 17b : 3001
Midrasch und Targum Bereschit rabba cp. I: 2802, 2851 I, 5 : 1663 I, 7 : 235 I, 10 : 2831 I, 13 : 168 II 5f. : 2676 III : 3352
V : 3377 VIII, 2 : 166 XII: 3235 XVII, 1 : 2831 XVII, 5 zu 2, 21 : 153 XXI, 5 zu 3, 22 : 2624 XXXIII : 3046 XLII, 4 : 172
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Indices XLIII : 3241 XLIV, 12 zu 15, 5 : 149, 150 XLIV, 17 zu 15, 12 : 153 LXVI : 239 LXVIII : 3062, 336 Anm. LXVIII, 1 : 2685 S. 83 : 180 zu 1, 1 : 3233 zu 1, 2 : 208 zu 1, 3 : 163 zu 2, 21 : 163 zu 3, 8 : 168 zu 17, 5 : 206 zu 19, 1 (50 3) : 205 zu 28, 2 : 180 Schmot rabba cp. X: 183 XIX : 180 XV, 7 Anfg. : 2675 XV, 22 : 2685 XXV : 2851 Wajjikra rabba cp. XI, 9 : 171 XXXVI, 4 : 173 Bemidbar rabba cp. XIII : 173 XIV : 179, 180 XIV zu 7, 80 : 275 Anm. Dewarim rabba cp. I : 180 II : 185 II, 24 : 224, 227 II, 3 : 227 VII, 2 : 172 Schir ha-schirim rabba Einleitung § 10 : 160 zu 1, 1 (I, II) : 204 1, 3 : 225 1, 9 : 239 2, 7 : 180 3, 1 : 206 5, 2 : 204 7, 3 : 180 Echa rabbati zu 19 : 160 Kohelet rabba zu 14 : 2851 3, 11 : 2782 9, 9 : 197 Midrasch Schmuel XIX : 226 Midrasch Ps 1, 1 Abschn. 8 : 181 2, 12 : 180 3, 6 : 205 4 : 3074 5, 2 : 239 17, 7 : 153
22, 4 : 177 28, 5 : 176 90, 1 : 172 92, 1 : 285 103, 20 : 210 121, 3 : 206 Jalkut zu Gen 17, 1 : 3062 Jes 26, 2 : 1233 Hiob 26, 7 : 2771, 286 Anm. Ps cp. 762 : 3226 Prov 3, 9 : 163 Ez cp. 358 : 3226 Tanchuma zu Gen 1, 1, § 1 : 162 1 § 3 : 173 1, 31 : 228 6, 9 : 181 17, 2 : 180 18, 17 : 180 20, 12 : 209 27, 9 : 204 27, 28 : 173 Ex 19, 1 : 227 38, 21 : 169, 172 cp. IX : 3133 Num 7, 1 : 168 10, 1 : 185 Deut 16, 19 : 228 Targum zu: Hos 6, 2 : 228 Micha 5, 1 : 154 4, 8 : 167 Sech 4, 7 : 166 Ps 24, 7 u. 9 : 2851 39, 7 : 154 72, 12 : 166 Targum Jonathan zu : Gen 28, 12 : 180 Num 16, 26 : 180 Peûikta de-Raw Kahana p. 2b : 277 3a : 274 5a : 171 6a : 172, 239 20a : 171 29b : 2624 50a : 1233 68 : 184 102b : 209, 238 112b : 3095 152a : 171 165b : 207
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Bibelstellen und Stellen der mçndlichen Lehre Peûikta rabbati p. 14b : 178, 179 18b u. 19b : 169 70a : 204 90a : 184 99b : 228 100b : 184 109a : 168 152b : 208
Otijot de-Rabbi Akiwa (ed. Jellinek) p. 19 u. 55 : 2751, 2761, 2792 20, 56, 58 : 2802 14 u. 22 : 2832, 2861 24 : 2852 36 : 287 Anm. 50 f. u. 56 : 286 Anm.
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DAS EVANGELIUM ALS URKUNDE DER JÛDISCHEN GLAUBENSGESCHICHTE
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Meiner Frau l«g
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Vorwort
Auch die viel umstrittene Frage, wie aus der alten Botschaft von Jesus, dem Messias, die Evangelien, die im Neuen Testamente stehen, geworden sind, kann ± ganz wie die Frage nach dem anfånglichen Sinn dieser Verkçndigung ± nur von einem aus beantwortet sein: von dem Bereiche her, in dem all dieses Geschehen hervorgewachsen ist. Von dort allein, aus seinem Raum und seiner Zeit kann das alles fçr uns deutlich werden. Erst wenn die Weise der mçndlichen Ûberlieferung, wie sie im Judentum Palåstinas damals lebte, in ihrem Seelischen, in ihrem dichtenden Erzåhlen und Vernehmen, verstanden ist, kann auch Zusammenklang wie Zwiespalt in unseren Evangelien begriffen sein. Nicht um Quellenschriften, aus denen sie zusammengefçgt seien, handelt es sich, sondern um Tradition, in der sie entstanden sind. Im folgenden ist es unternommen worden, die Furchen dieser Ûberlieferung aufzuzeigen. Wenn man ihnen folgt, ist es mæglich, zu dem Ursprçnglichen, zu der alten Botschaft hinzugelangen. In ihnen allein ist auch der Weg, der zu den Anfången des Christentums hinfçhrt. Ein Leben Jesu kann geschrieben werden, insoweit das vermocht wird, nur wenn das erschlossen ist, was einst das Geschlecht nach Jesus erzåhlt und weitergetragen hat. Diese erste Ûberlieferung wieder herzustellen, ist in dem anderen Teil dieser Schrift versucht worden. Es ist kein Herbeigerufenes, sondern ein Erschienenes, wenn damit das Evangelium als ein Stçck jçdischer Geschichte, und kein geringes, als ein Zeugnis jçdischen Glaubens hervortritt.
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Ûberlieferungen
Seit Beginn des dritten Jahrhunderts sind in der Kirche siebenundzwanzig in griechischer Sprache geschriebene Schriften als apostolisch und kanonisch anerkannt; sie sind als die Schriften des »Neuen Bundes«, des »Neuen Testaments« vor die Kirche hingestellt, und sie treten als solche zu den Bçchern des »Alten Bundes« hinzu. Sie sind als apostolisch angesprochen ± das will sagen, daû, sie auf den Kreis der Apostel Jesu zurçckgefçhrt werden. Sie haben den kanonischen Charakter ± das will sagen, daû sie eine fçr die gesamte Kirche verbindliche Geltung besitzen und zur Verlesung im Gottesdienste bestimmt sind. Ihren Anfang bilden vier Evangelien oder, wie in der Mitte des zweiten Jahrhunderts der Verteidiger der Kirche Justinus dieses Wort genauer çbertragen wollte: »Denkwçrdigkeiten der Apostel, welche Evangelien genannt werden.« Ûberschrieben sind sie: Evangelium nach Matthåus, nach Markus, nach Lukas, nach Johannes. »Evangelium«, »gute Botschaft« heiûen sie, nach einem biblischen, prophetischen Worte, das dann aber auch der hellenistischen Sprache zugehærte, weil sie Jesus als den Messias, den Christus verkçnden wollen. In der Zahl von vier stehen sie hier, nach der Deutung des Irenåus von Lyon aus der zweiten Hålfte des zweiten Jahrhunderts, so wie der Himmelsrichtungen und wie der wundersamen Tiergestalten, die Ezechiel am Firmament geschaut hatte, vier sind. Sie alle, diese vier, sind gleicherweise mit dem Worte »Evangelium« bezeichnet. Aber gegençber dem vierten, dem des Johannes, stellen die drei ersten zusammen doch ein Eigenes dar. Trotz mannigfacher Unterschiedenheit stimmen die drei untereinander in wesentlichen Teilen und Zçgen çberein, so daû sie eine gemeinsame Be| trachtung, eine »Synopsis« gestatten; als »synoptische Evangelien« werden sie demgemåû, seit Johann Jakob Griesbach (17451812), zusammen benannt. Daû sie dem vierten vorangehen dçrfen, 405
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erweist im Sprachlichen wie im Sachlichen jeder Vergleich. Aber auch sie, so wie sie uns vorliegen, stammen erst aus einer verhåltnismåûig spåteren Zeit, aus einer Zeit, die von der, welche sie schildern wollen, durch Generationen und durch Katastrophen geschieden ist. In dem geschichtlichen Stoff, den das verfaûte Werk dieser drei Evangelien enthålt, ist allerdings Frçheres geborgen. Sie gehen auf eine ursprçngliche mçndliche Ûberlieferung zurçck, welche von Jçngern weitergetragen worden war. Alle alten Zeugnisse kommen hierin çberein. Das Lukasevangelium hat einen einleitenden Satz, den einzigen literarischer Art in den Evangelien. Er spricht davon, daû »schon manche versucht haben, eine Erzåhlung von den Begebenheiten zu verfassen, die bei uns zur Vollendung gekommen waren, so wie uns die sie çberliefert haben, welche von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen waren« (Lukas 12). Ein Zweifaches ist hier gesagt: zunåchst, daû es eine Tradition von Zeitgenossen Jesu her gab, und sodann, daû es mehrfach unternommen wurde, diese Tradition schriftstellerisch zu bearbeiten. Auf sie beruft sich auch Paulus; er erklårt: »Ich habe vom Herrn her çberkommen, was ich euch çberliefert habe«; »ich habe euch çberliefert, was ich selbst çberkommen habe« (I. Kor. 11, 23 und 15, 3). Von mçndlicher Ûberlieferung spricht auch der zweite Thessalonikerbrief: »Haltet an der Ûberlieferung unserer Lehren fest, die ihr, sei es mçndlich oder brieflich, von uns empfangen habt« (2, 15). Noch eingehender und bestimmter wird das, was jener Satz | des Lukas sagt, von dem phrygischen Bischof Papias, im zweiten Drittel des zweiten Jahrhunderts, geschildert. Er erzåhlt von sich: »Ich pflege mich nicht wie die vielen an denen zu freuen, die das viele sagen, sondern an denen, die das Wahre lehren ¼ Wenn irgendwo ein Anhånger der Alten kam, so forschte ich nach den Worten der Alten: Was hat Andreas oder was hat Petrus gesagt oder was Philippus oder was Thomas oder Jakobus oder was Johannes oder Matthåus oder irgendein anderer von den Schçlern des Herrn, oder was sagen Aristion und Johannes, der Alte, die Schçler des Herrn. Denn ich bin immer der Meinung, daû das aus Bçchern Gelesene mir nicht so viel nçtze wie das von der lebendigen und standhaltenden Stimme Kommende.« Er berichtet dann auch im Namen Johannes, des Alten, çber Markus, dieser habe, »als er ein Dolmetscher des Petrus geworden sei, so viel er von den Worten oder Taten des Herrn im Gedåchtnis bewahrt hatte, genau, aber nicht nach einer Ordnung aufgeschrieben; Markus habe selbst nicht den Herrn vernommen; noch auch sich ihm angeschlossen, sondern spåter dem Petrus, welcher nach 406
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dem Bedarf die Lehrvortråge hielt«. Auch çber Matthåus gibt Papias eine Nachricht: er habe »in hebråischer Volkssprache die Sprçche (Logia) zusammengestellt, und jeder habe sie dann, so gut er imstande war, çbersetzt«. (Die Apostolischen Våter, herausgegeben von Bihlmeyer, Seite 134 und 136.) Aus dem, was Papias mitteilt, ist schon, in gewissen Grenzen, ein klares Bild zu gewinnen. Es zeigt folgendes. Zur Zeit des Papias, also mehr als ein Jahrhundert nach dem Tode Jesu, waren Niederschriften des Evangeliums vorhanden, aber daneben gab es auch damals noch eine lebendige mçndliche Ûberlieferung. Die Ûberlieferung wie die Schriften umfaûten zwei Bestandteile, die Worte | und die Taten Jesu. Matthåus hatte allerdings nur die Worte Jesu niedergelegt; er hatte sie in der Sprache Jesu, in »hebråischer Volkssprache«, das heiût aramåisch, zusammengefaût, und seine Schrift ist dann mehrfach und mannigfaltig ins Griechische çbertragen worden. Die Zuverlåssigkeit der Ûberlieferung wie auch der Maûstab fçr sie war ungleich. Sie suchte hier sich im Sorgsamen und Genauen zu halten, dort wieder schweifte sie hinaus. Der Geschmack schien sich mehr dieser letzteren Art zuzuwenden; viele erzåhlten und hærten gern vieles, auf Kosten der Zuverlåssigkeit. Papias rçgt dies; wie aber auch er davon nicht ganz frei geblieben ist, beweist die Tatsache, daû er selbst eine Reihe von Såtzen, die wir in der Apokalypse des Baruch, einer nach der Zerstærung des zweiten Tempels verfaûten apokryphen Schrift, lesen kænnen, als Worte Jesu anfçhrt, »welche die Alten von seinem Jçnger Johannes gehært zu haben sich erinnerten« (Bihlmeyer a. a. O., Seite 133). Der Weg, der von der Botschaft der Jçnger Jesu seinen Anfang nahm und bis zu den kanonischen Evangelien hingelangte, wird so schon erkennbar. Er ging von mçndlicher Ûberlieferung aus und durch mçndliche Ûberlieferung hindurch. Diese Ûberlieferung hat sich zwischendurch hier und dort schriftlich, mit dem Besonderen jedes Autors, festgelegt. Ihr Fluû hat dann schlieûlich an einer Reihe der Bçcher, zu denen sie geworden war, eine Schranke gefunden, als diese Reihe fçr kanonisch erklårt wurde. Damit ist er dann bald endgçltig gestaut worden. Wåren aber auch nicht diese alten Zeugnisse, in denen die alte Kirche selbst von dieser mçndlichen Ûberlieferung berichtet, so språche davon ebenso entscheidend die | geistige Art der Menschen, in deren Mitte das Evangelium entstanden ist. Das geistige religiæse Leben im Judentum war damals in seiner Besonderheit ganz wesentlich durch eine eigentçmliche stetige Tradition bestimmt. Sie war 407
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zuerst und vornehmlich in die biblischen Bçcher eingetreten. Die heiligen Schriften waren niedergeschrieben, und sorgsamste Peinlichkeit umgab jede Rolle und umhegte jeden Satz, ja jeden Buchstaben, der darin stand. Die Bibel war im jçdischen Volk, wie das Wort der Torah es gesagt hatte, »Erbgut in der Gemeinde Jakobs«, und man hatte hier stets das starke und dankbare Bewuûtsein dieses Erbes und seines Reichtums. Aber man war doch zugleich auch in der Sorge, man kænnte ein bloûer Hçter einer Hinterlassenschaft, nur Nachkomme einer Habe sein. Bezeichnend ist, was ein Lehrer des ersten Jahrhunderts, Josse, der Priester, gegençber dem Erbe, gegençber dem, was geschrieben stand, gesagt hatte: »Lerne die Torah, denn sie ist dir kein Erbe.« Er hat damit nur ausgesprochen, was damals und seit langem der Besitz der Bibel im Volke bedeutete. Sie war das Buch, neben dem es im Grunde kein anderes geben sollte; sie war damit weit mehr als nur ein Buch, als alles, was sonst immer geschrieben war. Sie verlangte darum auch mehr als nur gelesen und gekannt zu sein, sie sollte in jedem ihrer Worte immer wieder entdeckt, immer neu zu eigen genommen werden. Aus der Idee des geistigen Erbes erwuchs das Gebot, in der Bibel zu suchen und zu forschen, damit sie immer wieder wahrhaft zu sprechen und aufzuzeigen beginne. Man suchte und forschte, was das Wort, das geschrieben steht, verkçnde, was es lehre (maggid ha-katuw, melammed ha-katuw). Das Wort, das man las, konnte nie nur ein geschriebenes, fertiges Wort sein, sondern es war immer ein redendes, ein sich bewegendes, weiterschrei | tendes. Es besagte immer von neuem etwas. So hatte die Bibel gleichsam die doppelte Weise: Sie war das geschriebene Buch, die »schriftliche Lehre«, die man immer wieder las und abschrieb, und sie war das durch Menschen erschlossene und gepredigte Buch, die »mçndliche Lehre«, die man immer wieder verkçndete und vernahm und weiter çberlieferte. In der Bibel lebte zugleich nie aufhærend, niemals schweigend die Tradition. Wenn aus der Bibel so ein religiæses Wort aufgetan, von einem wahren Lehrer dargeboten war, so wurde es damit fast zu einer Offenbarung von Gott. Es kam ja aus dem Worte Gottes hervor, von einem der Meister, von einem der Frommen und Weisen daraus hervorgeholt. Jeder sollte daher es erfahren und hçten. Besonders in der Treue des Schçlers sollte es bewahrt sein, durch seinen Willen, es weiterzutragen, sollte es verbreitet werden und fortleben. Es war mçndliches Wort, und es sollte doch auch gewissermaûen wieder ein geschriebenes sein, eingeschrieben in das Gedåchtnis des Jçngers. Eine innerliche Bindung des Jçngers an den Lehrer, die sich 408
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an jedes folgende Geschlecht zur »Kette der Ûberlieferung« weitergeben sollte, eine Ehrfurcht, eine Fræmmigkeit wollte sich darin bewåhren. Es hat etwas von dem Ton einer heiligen Verpflichtung, wenn der Ausdruck, mit dem die Bibel das prophetische Vernehmen benannt hatte, schemua, auch von dem gebraucht wird, was der Schçler von seinem Lehrer gehært hat. Jeder Schçler sollte, wie damals gesagt wurde, der »Zeuge« des Lehrers sein, reines, echtes Zeugnis von dem, was dieser gesprochen, ablegen kænnen. In den Jçngern sollte der Lehrer weiter leben, »seine Lippen sollten«, um es wieder mit einem Satze jener Zeit zu sagen, gleichsam »noch im Grabe reden«. Wie eine groûe | Tradition, die Jahrhunderte hindurch, erschien die Geschichte der Religion im Volke Israel: »Mose hat die Torah vom Sinai empfangen und sie Josua çberliefert und Josua den Alten und die Alten den Propheten, und die Propheten çberlieferten sie den Månnern der groûen Versammlung.« Wenn Paulus sagt: »Ich habe empfangen, was ich euch çberliefert habe«, so bedient er sich, nicht zufållig, der nåmlichen Worte, wie sie dieser Satz hat, welcher die »Kapitel von den Våtern« einleitet. Tradition, wie sie im jçdischen Volke damals der groûe Bçrge war, will Paulus sich damit zuerkennen. Ein geprågtes Wort ist es auch, wenn Papias sich auf »die Alten« beruft; in der Sprache des Judentums dieser Tage ist dieses Wort ein Begriff, durch den erste, klassische Tråger der Ûberlieferung benannt sind. Nichts anderes als der charakteristische Inhalt jçdischer Tradition ist dort auch bezeichnet, wo Papias von Markus berichtet, er habe »das von dem Herrn Gesagte oder Getane niedergeschrieben«; das umfaûte in der Tat alle jçdische Ûberlieferung: Worte und Taten (amar rabbi ¼, maaûe be-rabbi) ¼). Schon der Sprachgebrauch weist hier deutlich die Gemeinschaft und die Gleichheit auf. Alle Tradition hat ihre Schicksale, und im Judentum jener Tage sind sie an ihr ganz eigentçmlich aufgezeigt. Sie ist Menschen anvertraut, und sie geht damit durch menschlichen Geist, durch menschliche Individualitåt, an der sie sich bricht, hindurch. Ungewollt und unbewuût gibt der Ûberliefernde von dem Persænlichen, Eigenen, dem Kleinen oder Groûen, das in ihm ist, von seinen Hoffnungen, seiner Sehnsucht und seinem Glauben in das hinein, was er als Wort oder als Erlebnis des Meisters in seiner Erinnerung trågt. Bisweilen besitzt das Ûberlieferte | in sich eine gewisse Geschlossenheit und Widerstandskraft, so in Såtzen des Gesetzes mit ihrem strengen Gefçge, in feierlichen Sprçchen mit ihrem Ebenmaû, in kurzen Gebeten mit ihrem Rhythmus. Aber wo diese Schranken nicht stehen oder wo 409
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auch sie im Gange der Generationen von ihrer Bestimmtheit verlieren, dort hat nur zu leicht die Seele des Ûberliefernden hinzugefçgt und hinweggenommen und umgeformt. In seiner Liebe empfindet sich zudem der Schçler, und danach des Schçlers Schçler, so eins mit dem Lehrer, daû ihm das, was er selber meint und wçnscht, mehr und mehr zu dem werden kann, was der Meister gesagt und gewollt hat, und das, was ihm selbst fremd oder befremdlich dçnkt, nach und nach aus den Worten und Wegen des Meisters entschwinden will. Desto mehr kann es sich so verlagern und durchsetzen, je mehr das Ûberlieferte sich in den letzten und endgçltigen Fragen des Lebens und damit zu dem Entscheidenden und Persænlichsten des Ûberliefernden hin bewegt. Was ihm innerlich begegnet, was seiner Seele zur Wahrheit und zum Glauben geworden, das muû der Meister doch auch besessen und auch verkçndet haben; Wissen und Weitergeben wird hier zur Schicksalsfrage. Dazu zieht immer die fromme Phantasie zugleich ihre Bahnen. In unwillkçrlichem Dichten schreibt sie immer neue Zçge und Linien ein, gibt sie immer neue Farben, immer neuen Glanz und Reichtum. Der Drang zum Verknçpfen von Gedanken, zum Verbinden von Bildern, wie er sich in jedem Geiste ungewollt regt, und wie er dem jçdischen Denken damals besonders eigen war, wirkt seine Gewebe. Worte, die im Volksmunde leben, Aussprçche, Geschehnisse und Taten, die man von Månnern der Vergangenheit erzåhlt, Wunder, die man | von ihnen berichtet, sie alle kænnen, mit dem Zuge der Tage und der Geschlechter, in das Bild des geliebten Meisters, dem nichts Hohes und Schænes fernbleiben soll, dauernd eingehen. Schon das Bibelwort æffnete mannigfache Wege zu alledem hin. Es wurde in eigener Weise gelesen. Einerseits trachtete man danach, auch wenn es von keinem einzelnen Menschen und keinem einzelnen Ereignis sprach, es dennoch in eine gekennzeichnete Zeit und Lebenslage hineinzustellen. Man dichtete die Situationen. Vor einem namenlosen Gebete des Psalters oder einem Spruche der Weisheit pflegte man zu fragen, wer das wohl gesprochen habe oder von wem das språche, und man antwortete dann etwa: Adam oder Abraham ist es gewesen, Jakob oder Moses. Das Individuelle, das ganz Persænliche wollte man aus dem Bibelworte erfahren. Aber andererseits, mit einer bemerkenswerten Paradoxie, wurde das, was die Schrift verkçndete, doch auch wieder çber das einzelne und çber den Tag, dem es zugehærte, ins Zeitlose und Seiende, ja ins Pråexistente und Ideale hinausgehoben. Auch wenn es von dem sprach, was sich irgendeinmal, an einem bestimmten Menschen in einer bestimmten Stunde, begeben hatte, vernahm man aus ihm das, was 410
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immer ist. Nunmehr erzåhlte alle Geschichte in der Bibel nicht nur etwas, sondern sie bedeutete etwas; sie sagte nicht, was einmal gewesen, was gekommen und gegangen war, sondern sie verkçndete nun ein Stetes, ein Seiendes, etwas, was damals gewesen, aber doch immer wieder in allem Wechsel der Schauplåtze und Begebenheiten geschieht und immer dasselbe ist. In der Einzelgeschichte offenbarte sich gewissermaûen ein grandioses Drama, das sich immer von neuem abspielt; wie sehr die Masken wechseln, die Gestalten, die Spieler und Gegenspieler, sind stets die gleichen.| So konnte die Scheide der Zeiten, der Unterschied der Tage versinken; Einst und Heute begannen zusammenzuleben. Alles Drången und Treiben, von dem man selber ergriffen war, die Sorgen und Næte des eigenen Daseins, die Øngste und Hoffnungen des eigenen Gemçtes verwoben sich mit dem, was einst geschehen war, was einst erlebt worden, wovon die Geschichte oder Ûberlieferung aus vergangenen Jahren berichtete. Ein Mensch, der einst gewesen war, ein Tag, der in der Ferne lag, fing an von dem zu sprechen, was man selber war, selbst erduldete und ersehnte. Und umgekehrt, was damals gewesen war, erhielt Atem und Blut, Gestalt und Farbe durch das, was man in sich trug und in sich durchkåmpfte oder harrend und bangend vor sich sah. Im Heute formte sich die alte Kunde; in dem Tag, durch den man schritt, gewann das, was die Bibel erzåhlte oder was man durch frçhere Geschlechter gehært hatte, seinen Sinn und seine Zeichnung. Vergangenheit wurde zur Gegenwart, Gegenwart zur Vergangenheit, die Jahrhunderte waren çberbrçckt. In Gedanken und Menschen von einst erlebte man die eigenen und in den eigenen die von ehedem. Vor allem in Zeiten des Kummers und des Leids, wenn das, was das Heute zeigte, nur sinnlos, nur gottlos erscheinen konnte, hob man den Tag gleichsam auf, damit das, was immer dasselbe bleibt, was jenseits alles Wandels ist, hervortråte. Was die Phantasie begonnen hatte, hat der Glaube vollendet. Das alles war hier mæglich, weil die Bibel im jçdischen Volke ihr Gebietendes hatte. In ihr war der letzte Gerichtsstand fçr alles Verstehen und Wissen geboten. Sie war doch nicht ein Werk, bloû von Menschen verfaût; das Wort des lebendigen Gottes wollte sich in ihr offen | baren. Sie muûte, wenn sie das Gotteswort war, immer voller Gegenwårtigkeit sein und voll von Zukunftsgeltung, hier muûte die Erwiderung auf das Heute und Morgen gegeben sein. Denn »die Rede unseres Gottes bestehet fçr immer«. Gegençber jedem Tage und jeder Frage hatte damit das Bibelwort etwas Zwingendes. Was immer geschah, was immer gesprochen wurde, es stand unter dem Bi411
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belwort. Es wurde an ihm gemessen, von ihm bestimmt, an ihm in seiner Echtheit oder seinem Schein aufgezeigt. Das Bibelwort allein konnte dartun, was wirklich und wahrhaft gewesen war. Nicht was die Augen gesehen oder nicht gesehen, nicht was Menschen berichtet oder bestritten hatten, gab die entscheidende Antwort, sondern das allein, was das Gotteswort verkçndete, was als seine Bedeutung gepredigt und çberliefert worden war. Man dachte und hoffte nicht nur im Schriftwort, man erfuhr und wuûte auch in ihm und oft nur in ihm. Darum ist im Evangelium so oft der Schluûsatz, der alles besagen soll: »Damit erfçllt werde, was der Herr durch das Wort des Propheten gesprochen hat.« Darum wird fçr Paulus der Glaubenssatz, der fçr ihn alles trågt, der von dem Opfertode und der Auferstehung Jesu, bewiesen, so daû alles damit entschieden, alles damit beschlossen ist, allein und vællig durch das eine nachdrçckliche Wort »nach der Schrift«: »Ich habe euch çberliefert ¼, daû Christus gestorben ist um unserer Sçnden willen nach der Schrift, daû er begraben wurde und auferweckt ist am dritten Tage nach der Schrift« (I Kor. 15, 3 u. 4). Das Wort der Bibel war der letzte Maûstab alles Wirklichen, aller Geschichte. Von hier aus wird es noch mehr begreiflich, daû in biblischen Gestalten so lebendig, so persænlich Gestalten der Gegenwart erlebt werden konnten. Freunde und Feinde von ehedem wurden ganz unmittelbar zu Freunden und | Feinden von jetzt und die von heute zu denen von einst. Es war nicht etwa nur so, daû die Namen biblischer Personen in gefåhrdeten Tagen Deckworte sein sollten, unter denen der Verstehende den erkennen wçrde, welcher gemeint war. Es war vielmehr eine Wesenseinheit, die hier den Leser der Bibel ergriff. Er las von Esau, von Edom, und er war gewiû, daû von Rom gesprochen sei; er meinte es nicht nur, und er glaubte es nicht bloû angedeutet, sondern er wuûte, daû es so war. Er las von Bileam und wuûte, daû das alles, Wort um Wort, den verschlagenen Berater seiner eigenen Feinde, den falschen Propheten vor seinen Toren meinte. Wenn so in der Apokalypse des Johannes zu der Gemeinde in Pergamon gesagt ist: »du hast dort Leute, die zu der Lehre Bileams halten« (2, 14), oder wenn der zweite Petrusbrief vor denen warnt, »die den geraden Weg verlassen und irre gehen, dem Wege des Bileam folgend« (2, 15), so waren die Månner, die das schrieben, und wer immer es damals las, dessen gewiû, daû es der alte Bileam sei, der jetzt wieder erschienen wåre, um zu verfçhren. Oder man hærte von der Zerstærung des ersten Tempels und wuûte, daû damit zugleich und ebenso von dem Untergang des zweiten Tempels berichtet wurde; man hærte von Nebukadnezar und wuûte, daû man von Titus auch erfuhr. Die Reden 412
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der Propheten wurden wahrhaft erlebt, weil sie nicht nur von der Gegenwart, sondern in der Gegenwart sprachen. Sie kçndeten und zeigten, was jetzt wirklich geschehen war, und was das, was geschehen, zu bedeuten hatte. Alles, was der Tag gebracht hatte, und was dann weiter çberliefert wurde, war so durch das Bibelwort bestimmt; die eigentliche Linie des Erkennens und Predigens war | in ihm vorgezeichnet. Aber darçber hinaus hat in ihm selbst der Zug zum Dichten und Sagen sich Wege geæffnet und zu Weiterem hingefçhrt. Wie aus dem Bibelwort hervor immer neu die Erzåhlung geworden war, so ist diese auch immer wieder in die Bibel eingetreten. Wo Lçcken zu sein schienen, wollte sie, da dem Bibelwort doch nichts fehlen durfte, diese ausfçllen. Wo das, wonach jetzt die Sehnsucht hinzog, nicht gesagt war, wollte sie es hinzufçgen, damit das Bibelwort ein vollståndiges sei. Wo etwas unklar sein konnte, wollte sie klåren, verdeutlichen und erlåutern. Da das Bibelwort, wie es alles bedeutete, so auch alles enthalten muûte, da ihm die Mahnung galt, die ein Mann aus jener Wende der Zeiten, Ben Bagbag, ausgesprochen hat: »Befasse dich mit ihm von çberall her, denn alles ist in ihm«, so wurde es fast ein Erfordernis, in ihm und mit ihm mehr noch zu sagen. Jedes Geschlecht war versucht, wenn es in der geschriebenen oder çberlieferten Kunde sein Eigenes, Neues hærte, sie dann so fortzubilden und umzuformen, fortzusetzen und weiterzuleiten, daû in ihr dieses Eigene, Neue genau und mit allem einzelnen vernommen wurde. Im Fluû solches Sinnens und Dichtens zog die Bibel ihren Weg durch die Generationen. Schon innerhalb des Ganzen der Heiligen Schrift hatte die biblische Erzåhlung es so erfahren. Man braucht nur die Bçcher Samuels und der Kænige mit den Bçchern der Chronik zu vergleichen, um zu sehen, wie nahe es lag, dem alten Stoff eine neue Gestalt zu geben. Als ein Beispiel sei einander gegençbergestellt, was das Samuelbuch und was die Chronik von dem Wunsche Davids, dem Herrn ein Heiligtum zu erbauen, berichtet: | II. Sam. 7, 8-14 Also spricht der Ewige der Heerscharen: »¼ Wenn deine Tage voll sein werden und du bei deinen Våtern liegst, will ich deinen Nachkommen nach dir aufstehen lassen, der aus deinem Leibe hervorgegangen ist, und will sein Kænigtum grçnden; er wird ein Haus 413
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meinem Namen bauen, und ich werde den Thron seines Kænigtums fçr immer festgrçnden. Ich werde ihm zum Vater sein, und er wird mir zum Sohn sein.« I. Chron. 22, 7-9 Es erging çber mich das Wort des Ewigen also: »Blut hast du viel vergossen, und groûe Kriege hast du gefçhrt; du sollst kein Haus meinem Namen bauen, denn viel Blut hast du vor mir zur Erde vergossen. Siehe, ein Sohn wird dir geboren, er wird ein Mann der Ruhe sein, und ich werde ihm Ruhe schaffen vor all seinen Feinden ringsum; denn Schelomo (Friedensmann) wird sein Name sein, und Frieden und Ruhe werde ich çber Israel in seinen Tagen geben. Er wird ein Haus meinem Namen bauen, und er wird mir zum Sohne sein, und ich werde ihm zum Vater sein, und ich werde den Thron seines Kænigtums çber Israel fçr immer grçnden.«
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Es ist hier deutlich, was der spåtere Erzåhler gewollt hat. Wåhrend der frçhere nur die Tatsache mitgeteilt hatte, hat er nun nach dem Grunde gefragt und hat auch ihn darlegen wollen: da David Blut vergossen habe, sei es ihm verwehrt geblieben, den Tempel zu erbauen; das sei erst Schelomo, da er ein Mann des Friedens war, zuteil geworden. So, wie dies hier geschieht, ist es eine der håufigsten Weisen: die Erneuerung des Berichtes wird zugleich zu seiner Ergånzung und Erlåuterung. Wer weiter erzåhlte, dichtete weiter. Noch zahlreicher und mannigfaltiger begegnet es uns so in der alten talmudischen Ûberlieferung, in der sogenannten mçndlichen Lehre. Ein Beispiel statt vieler sei wieder gegeben. Neben den Pirke Awot, den Kapiteln der Våter, | besitzen wir die Awot de-Rabbi Natan, das ist eine dem Rabbi Natan, aus der zweiten Hålfte des zweiten Jahrhunderts, zugeschriebene Tradition wesentlicher Teile des gleichen Stoffes, ± ein Nebeneinander, das in mancher Hinsicht dem der Evangelien entspricht und dieses denn auch vielfach erlåutern kann. Diese beiden Traditionen seien fçr einen, schon einmal erwåhnten, Satz zueinander gestellt, unter Fortlassung der zahlreichen Bibelsåtze, welche die zweite noch besonders zum Belege beibringt:
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Awot I, I Mose hat die Torah vom Sinai empfangen und hat sie dem Josua çberliefert und Josua den Alten und die Alten den Propheten, und die Propheten haben sie den Månnern der groûen Versammlung çberliefert. Awot de-Rabbi Natan I, 2 u. 3 Mose ward geheiligt durch die Wolke gættlicher Gegenwart und empfing die Torah vom Sinai. Durch Mose ist die Torah vom Sinai gegeben worden. Die Torah, die der Heilige, gelobt sei er, Israel gegeben hat, ist nur durch Mose gegeben worden; es ist Mose zuteil geworden, der Bote zu sein zwischen den Kindern Israel und dem Allgegenwårtigen. Josua empfing von Mose, die Alten empfingen von Josua, die Richter empfingen von den Alten, die Propheten empfingen von den Richtern, Haggai, Secharja und Maleachi empfingen von den Propheten, die Månner der groûen Versammlung empfingen von Haggai, Secharja und Maleachi. Øhnlich, wie es jener Satz der Chronik zeigte, macht hier, in den Awot, im Gange der Ûberlieferung sich der Wunsch, zu erklåren und zu belehren, geltend. Der Tradent ist zum Kommentator geworden: die unvergleichliche Bedeutung des Mose wird mit absichtsvollem Nachdruck, in feierlicher Wiederholung betont; den Richtern sodann, die doch die eigentlichen Nachfolger des Josua gewesen waren und die der frçhere Tradent nicht ge | nannt hatte, wird hier ein Platz zwischen den Alten und den Propheten gegeben; in der Reihe der Propheten schlieûlich wird der Einschnitt, den das babylonische Exil bezeichnet hatte, erkennbar gemacht, indem den drei Propheten, die nach dieser Zeit lebten, ihre eigene Ûberlieferungsaufgabe noch zugesprochen wird. Eigentçmliche und mannigfache Wege dieses Weiterlesens und Weitergestaltens zeigt das sogenannte apokryphe und pseudepigraphische Schrifttum, welches den Raum zwischen der Bibel und der mçndlichen Lehre ausfçllt. Hier hat dieses Denken und Dichten, das, von der Bibel angezogen, sich immer wieder um sie bewegt, zahlreiche neue Erzåhlungen und Darstellungen geschaffen. Wenige Beispiele sollen es erlåutern. Das zweite Buch der Chronik (33, 18 u. 19) hatte erzåhlt, daû der sçndhafte Kænig Manasse sich gedemçtigt und in seiner Reue zu Gott gebetet habe, und daû das alles 415
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aufgeschrieben worden sei in alten Bçchern der Geschichte. Es liegt nahe, daû das Suchen, welches um die Bibel kreiste, sehr bald auch fragte, was also wohl Manasse in diesem seinem Flehen gesprochen habe, und so hat denn ein Mann jener Zeit in Anschluû an die Såtze der Chronik ein »Gebet des Manasse« gedichtet. Im Buche Jeremija ist gesagt (29, 1), daû der Prophet eine Schrift von Jerusalem nach Babel zu den Verbannten geschickt habe, und die Worte der Mahnung und des Trostes, die er darin sprach, sind dort aufgezeichnet. Aber eine forschende Frage muûte sich wieder einstellen: Sollte Jeremija nicht auch, wovon in dem Buche des Propheten geschwiegen ist, vor dem Gætzendienst gewarnt haben, der die Weggefçhrten in Babel lockend umgab? Und so ist denn ein »Brief des Jeremija« verfaût worden, der das enthielt, was der fromme Leser vermiût hatte: Im Buche Jeremija ist ferner des æfteren | von Baruch ben Nerija, dem vertrauten Jçnger des Propheten, erzåhlt. Sollte er, der dem Propheten innerlich so nahe war, nicht auch selber in den Tagen des Unheils, die damals hereinbrachen, dem Volke Lehre und Zuspruch gewåhrt haben? Månner, die hinzudenkend die Bibel lasen, haben diese Lçcke ausgefçllt; verschiedene Baruch-Schriften sind entstanden. Besonders dafçr bietet dieses nachbiblische Schrifttum auch die Zeugnisse, wie sich in ernsten, drohenden Tagen, in denen ja das Wort der Heiligen Schrift am eindringlichsten, am ergreifendsten zu sprechen begann, ein eigener Drang und Zwang zum Weiterdichten regte. Wenn das Unglçck schwer herniederhing, wenn so manche Stunde aufzeigen wollte, daû ein Wandel der Zeiten sich vorbereite, wenn der Blick sich dann, Antwort heischend, den alten Tagen zuwandte und die Seele aus dem, was einst gewesen und was einst gesprochen worden, die Verkçndigung fçr heute und morgen vernehmen wollte, dann muûte es zur Voraussetzung werden, von der so viel an Gewiûheit und Trost abhing, daû den alten Gottesmånnern auch das, was jetzt geschah und jetzt bevorstand, erschlossen worden sei. Sie muûten es vorausgeschaut haben, ihnen muûte es offenbart worden sein. Vor der Sintflut hatte Henoch, »der mit Gott gewandelt, und den Gott genommen hatte«, gelebt ± hatte er nicht von der neuen Sintflut, die jetzt herankam, auch erfahren? Baruch hatte den Fall des ersten Tempels nahen und sich vollenden sehen ± hatte sein prophetischer Geist nicht auch eine neue Zerstærung Jerusalems, einen neuen Brand des Tempels vorausgeschaut? Esra hatte eine Wende der Jahre vom Untergang zum Aufbruch hin durchlebt ± sollte ihm nichts von dem neuen Unheil und der neuen Gewiûheit kundgetan gewesen sein? Sollten diese Mån | ner nicht an 416
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den Tagen, durch die sie schritten, den Gang der zukçnftigen erfaût, sollten sie nicht den Sinn aller Zeiten, den Ablauf von Urzeit zu Endzeit prophezeit haben? So sind alle die Apokalypsen entstanden, die einen wesentlichen Teil des nachbiblischen Schrifttums ausmachen, diese Offenbarungsbçcher, die den Månnern der Bibel zugeschrieben wurden, und die in wundersamer Dichtung von den Råumen und den Zeiten der Geschlechter, von dem Auf und Nieder des Geschehens, von dem Ende und dem letzten Gerichte erzåhlen. Alles, was aus dunklen Bibelworten, die hier verhçllten und dort andeuteten, hervorzudåmmern schien, alles, was im Volke als Ûberlieferung und Sage von Beginn und Ziel lehte, was in ihm als Sehnsucht sich regte und als Zuversicht bestand, sammelte sich hier. Eine tiefe Ûberzeugtheit sprach ihr Wort; Tråume und Gesichte, Verzçckungen und Visionen hatten den Månnern, die diese Bçcher verfaûten, all das Geheimnisreiche wirklich werden lassen. Stets ist darum das Bild hier mehr als der Satz, das Geschaute mehr als das Erkannte. Fçr die Art, in der sich dieses vielfåltige Dichten und Weiterdichten dartun und ausdrçcken konnte, gewåhrte vor allem die Bibel selbst, dann aber auch das ihr folgende Schrifttum gewisse Formen und feste Gepråge und auch manche Umrisse und vorhandene Zieraten. Es gab so hier den wundersamen, wunderreichen Lebensweg mit seinen Verlockungen und seiner Standhaftigkeit, mit seinen Krankheiten und seinen Heilungen; die Erzåhlungen von Daniel, von Judit und Tobit boten ihn. Es gab die Mårtyrergeschichten im Danielund im zweiten Makkabåerbuch. Man hatte die Ahnentafeln, die Geschlechtsregister in den Bçchern der Chronik. Man be | saû die Fçgung von Sprçchen im Spruchbuch sowie im Kohelet- und Sirachbuch; man hatte die Gebete und die Hochgesånge, die Lobpreisungen des Gotteswortes und der Weisheit in den Psalmen. Man wuûte um Reihen von Gleichnissen und um Såtze, in denen Grundgehalte der Bibel zusammengefaût wurden; durch die mçndliche Ûberlieferung waren sie dem Volke bekannt und gewohnt. Eine Abfolge und Weise fçr kurze Gebete war allenthalben vertraut und ebenso auch das apokalyptische Bild, das Gemålde von Geschehnissen letzter Tage, wie es vor allem das Buch Daniel vorgezeichnet hatte. Was immer gesagt und gedichtet, was immer dargestellt wurde, es trat, bei aller Besonderheit und Verschiedenheit, in einer çberkommenen Fassung, in Linien eines alten Musters hervor. Der Stil war der gegebene. Aber ebensosehr und weit mehr noch befand sich alles Individuelle von vornherein innerhalb einer inhaltlichen Bestimmtheit. Alle 417
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entscheidenden Vorstellungen, Gedanken und Hoffnungen, die ein neuer Tag erwachen lieû, waren gleichsam Kinder der biblischen Mutter. Ihr wesentlicher Kern stand von vornherein und von alters her fest. Welches der Weg von der Schæpfung zur Endzeit ist, wie sich Beginn und Schluû auf dieser Bahn zueinander finden, was Verkçndigung des gættlichen Willens und was seine Erfçllung ist, was alles Leid und alles Martyrium, was Versuchung und Prçfung bedeuten kænnten, um wechselvolles Menschendasein zu sinnvoller, ewiger Wahrheit werden zu lassen, welches das Leben und Dulden, das Bleiben und Siegen des Messias sein werde, wenn er eines Tages kåme, in welchen Geschicken sich eine letzte Zeit vollenden werde, wie es dann sein werde, wenn die obere Welt in diese niedere eintrete, wenn das Reich des Wunders mit seinen Boten zu dieser | Erde herniedersteige, das alles wuûte Geschlecht um Geschlecht; denn die Heilige Schrift hatte es ein fçr alle mal gesagt. Jede neue Zeit konnte das nur wiederholen, so viel sie auch mit eigenen Linien und Farben aufzeigen und darbieten mochte. Man durfte die Antwort aussprechen, schildern und ausschmçcken, man durfte sie vielleicht auch deuten, aber man vermochte nicht und war nicht befugt, sie zu erteilen; sie war seit altem und endgçltig vor die Menschen hingestellt. Was Glaube, Gewiûheit und Hoffnung jeweils zu befassen und zu besagen hatten, es war klar hingeschrieben, es stand fest, es war ein gegebener, çberlieferter, abschlieûender Inhalt. In ihn war jeder Tag, war jedes Erlebnis hineinzusetzen, in ihn alle Besonderheit und Neuheit des Gegenwårtigen, alle augenblickliche Erfahrung einzufçgen. Niemals aber konnte das Geschehende diesen Inhalt bestimmen. Was war das, was der Tag sehen oder nicht sehen lieû, gegençber dem, was das Gotteswort offenbarte? Was konnte das, was man zu erkennen meinte oder widerlegen wollte, gegençber dem bedeuten, was der Ewige von Urbeginn an verordnet hatte, daû es fçr immer gelte, was konnte jemand zu dem hinzutun oder von dem fortnehmen, was die Heilige Schrift gesagt hatte? Wenn Geschichte wurde, konnte sie nur so sich vollziehen, daû erfçllt wçrde, was dort geschrieben war. Die Bibel mit der von ihr ausgehenden und zu ihr zurçckkehrenden Ûberlieferung lenkte und fçhrte den Sinn und die Kunde von allem, was sich ereignete, den Weg von allem, was çber Gott und den Menschen und die Welt zum Volke gesprochen wurde. Da so die Heilige Schrift der Kosmos war, der alle Bedeutung in sich befaûte und in dem jedes einzelne den sinnvollen Platz hatte, so konnte sich hier eine besondere Art gedanklichen Suchens und Findens, fast mæchte man sagen, | eine besondere Logik entwickeln. 418
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Es war ein Denken, das sich nicht im Auseinandersetzen nur, im Analytischen, noch auch nur im Zusammensetzen, im Synthetischen, sondern in einem Nebeneinandersetzen, einem Assoziativen gestaltete; die Øhnlichkeit, die Analogie wurde sein Bestimmendes. Ein Wiedererkennen war hier die psychologische Grundlage: ein Erlebnis erinnerte an einen Bibelvers und der eine Bibelvers an den anderen. Und so kamen Gedanken, Worte, Ereignisse, die fern voneinander zu liegen schienen, zusammen und vergesellschafteten sich, Schlçsse wurden von hier nach dorthin gezogen. Einem Menschen, der vor einem stand, einem Geschehnis, das zu ihm hintrat, gab jetzt ein Bibelsatz, dem sie nahe schienen, an den sie gemahnten, die entscheidenden Linien. Eine Øhnlichkeit wurde zur Unmittelbarkeit, zu einem Sichdecken. »Er ist es, von dem gesagt ist« (Matth. 3, 3). Ein groûes Wiedererkennen geschah immer wieder, Wege von Wort zu Wort der Bibel und von der Welt zu ihr hin wurden erfahren. Die bestimmende Idee war, daû es in der Heiligen Schrift nichts Zufålliges gebe, nichts, was der Bedeutung und des Wertes entriete. Es waltete hier ein gleicher Satz, wie der, mit welchem Aristoteles den Analogieschluû rechtfertigte: »Der Gott und die Natur tun nichts unnçtz.« Dieses Prinzip, das vom zureichenden Grunde, wendet sich hier auf die Bibel an: in ihr ist Gottes Verkçndigung, und Gott hat nichts, und sei es das Einzelste und Geringste, unnçtz, ohne Bedeutung und ohne Zweck gesprochen. Um Gottes Wort handelt es sich, um Worte, deren jedes die Tiefe des Inhalts, ja das Geheimnis in sich schlieût. Beziehungen zwischen ihnen und zu ihnen sind darum Verbindungen in der Sphåre letzter Erkenntnis. Menschen und Vorkommnisse des Lebens in der Bibel wiederzufinden, das Werdende und Geschehende | der Welt neben das Seiende der Schrift zu setzen, das erst war hier ein Hindringen zur Wirklichkeit. Dieses Wiedererkennen wurde so zu einer Aufgabe und einem Inhalt der Tradition. Weil sie das Entscheidende, das Ganze gewåhren sollte, darum wollte sie das Geschick und die Geschichte, von denen sie erzåhlte, in der Bibel aufzeigen. Auch damit war alles, was çberliefert wurde, in die Bibel hineingestellt. In dieses eigentçmliche jçdische geistige Leben und in die Art und Weise dieser jçdischen Tradition gehært die alte Evangeliumsçberlieferung hinein. Sie hat an all diesem Charakteristischen ihren vollen Anteil, sie ist nichts anderes als ein Stçck davon. Ihr Gang und ihr Geschick werden an diesem groûen Ganzen, in dessen Mitte und mit dessen Besonderheit sie geworden ist und sich gestaltet hat, erst 419
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verståndlich und erst deutlich. Auch sie kam davon her, daû Schçler die Worte des Lehrers vernommen haben ± als Lehrer steht ja Jesus vorerst da ±, und daû sie sein Tun und sein Erleiden miterlebt hatten. Das weiter zu çberliefern, was sie gehært und was sie gesehen, war ihnen schon eine fromme Verpflichtung gegençber dem Meister. Auch hier umfaûte die Tradition Worte und Geschehnisse, und auch hier wurde das alles in die çberkommenen festen Formen, in den alten gegebenen Rahmen eingetragen. Auch hier zog die Ûberlieferung durch Individualitåten hindurch und brach sich immer wieder in ihnen; jeder Jçnger und jedes Jçngers Jçnger hatte sein Ohr, seinen Sinn, seine Sorge und seine Sehnsucht, seine Anfechtung und seinen Kampf. Auch hier hat die Phantasie geschaut und gedichtet, der Gestaltungswille erlåutert und ergånzt. Auch fçr diese Menschen stand alles, was vor ihnen geschehen war und was sie erfahren hatten, | unter der Bibel, unter dem Lenkenden und Gebietenden, unter dem innerlich Zwingenden des Schriftwortes. Auch fçr sie war ein bestimmter Inhalt, der bestimmte religiæse Lehrsatz, von vornherein da, und er war die eigentlichste Wirklichkeit und die ganze Wahrheit. Auch fçr sie und fçr die, die von ihnen empfingen, bedeutete das, was ihrem Meister zu teil geworden und auferlegt worden war, ein von Anbeginn an Verordnetes, ein seit je Offenbartes. Auch sie wuûten, daû diese alte Verkçndigung und Verheiûung noch weit mehr war als alles, was die Augen gesehen oder nicht gesehen hatten, auch sie waren dessen gewiû, daû jedes groûe Geschehen eine seit langem gegebene Antwort, die Erfçllung der Prophezeiung war. Die Evangeliençberlieferung ist mit diesem allen zunåchst nichts anderes als alle Ûberlieferung in der jçdischen Welt jener Tage. Nur ein Beispiel soll hier besonders angefçhrt werden, weil es zeigt, wie das fçr die mçndliche Tradition charakteristische Weiterdichten und Gestalten in der christlichen Gemeinde selbst Såtze umgeformt hat, fçr die eine einheitliche Ûberlieferung eines genauen Wortlautes eigentlich vorausgesetzt werden sollte; es ist das Vaterunser-Gebet. Wir kennen es in drei Fassungen: zweien in den synoptischen Evangelien, in denen es enthalten ist ± das Markusevangelium wie ja auch das des Johannes hat es nicht ± und einer dritten im Evangelium des Marcion; sie seien nebeneinander gestellt: Die Wandlungen, die sich im Fortschreiten der Tradition hier vollzogen haben, sind deutlich zu erkennen. Sie bestehen, neben kleineren Abweichungen, die wohl auf eine Verschiedenheit der griechischen Ûbersetzung zurçckgehen, in folgendem Wesentlichen. Das Matthåusevangelium hat ein dreifaches, das im Lukasevangelium 420
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Ûberlieferungen Matth. 6, 9 ff.
Lukas 11, 2 ff.
Unser Vater, der du bist in den Himmeln! Geheiligt werde dein Name. Es komme dein Reich. Es geschehe dein Wille wie im Himmel so auch auf der Erde. | Unser Brot, das bestimmte, gib uns heute. Und erlaû uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unseren Schuldnern. Und trage uns nicht in Anfechtung hinein, sondern errette uns vor dem Bæsen. (Denn dein ist die Herrschaft und die Macht und die Ehre in die Ewigkeiten.)
Vater, geheiligt werde dein Name. Es komme dein Reich. Unser | Brot, das bestimmte, gib uns tåglich. Und erlaû uns unsere Sçnden; denn auch wir erlassen jedem, der uns schuldet. Und trage uns nicht in Anfechtung hinein.
Marcion ed. Harnack p. I 89*
Vater, es komme dein heiliger Geist auf uns und reinige uns. Es | 31 komme dein Reich. Dein Brot, das bestimmte, gib uns tåglich. Und erlaû uns unsere Sçnden. Und 31 laû uns nicht hineingetragen werden in Anfechtung.
fehlt: den Nebensatz im Beginn »der du bist in den Himmeln« sowie die dritte und die siebente Bitte. Der Schluûsatz, der sich hier noch als Doxologie, als Lobpreisung Gottes findet, ist in den åltesten Handschriften dieses Evangeliums nicht vorhanden, er ist wahrscheinlich aus der Liturgie des Gemeindegottesdienstes in das Gebet çbernommen worden; wie frçh er hier schon seinen Platz hat, bezeugt ein christlicher Katechismus aus der ersten Hålfte des zweiten Jahrhunderts, die »Apostellehre«, in der unter geringer textlicher Abweichung das Vaterunser bereits diesen Schluûsatz hat (8, 2). Schlieûlich weist die Fassung des Gebetes, die Marcion, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, und andere nach ihm vorlegen, und die im groûen und ganzen mit der des Lukas çbereinstimmt, als Anfangssatz nicht auf: »geheiligt werde dein Name«, son|dern: »es komme dein heiliger Geist und reinige uns«, eine Form, die gewiû auf das gnostische Glaubensstreben dieses Mannes zurçckzufçhren ist. Das Gebet, das schon der alten Christenheit ein so bedeutungsvolles war, hat also nur in zwei von den kanonischen Evangelien eine Stelle, und in jedem dieser beiden in anderer Gestalt, und hat dann sein noch weiter Abweichendes in einem, nicht anerkannten, Evangelium des zweiten Jahrhunderts. Aber das, was durch dieses Beispiel verdeutlicht werden soll, ist nichts, wodurch die christliche Tradition mit ihrer Art aus dem allgemeinen Kreise und Charakter der jçdischen heraustråte. Allein 421
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çber all das Gemeinsame hinaus kommt ihr doch ein Besonderes noch zu, etwas, was nur ihr zugehært und wodurch sie in unterscheidender Weise gestaltet und auf eigene Wege gelenkt worden ist. Es war vorerst eines. Der Mann, dessen Leben und Worte die Ûberlieferung umfassen wollte, war schon bald im Glauben der Jçnger ± und an sich schlieûlich auch glaubend, als sie an ihn glaubten ± aus dem Lehrer zum Messias, zum Christos geworden. Das war er nun in der Lehre der Gemeinde. Wenn er der Messias war, dann muûte seinem Bilde, seinem Wesen mehr und mehr das alles zuwachsen, was in der Bibel und im Sinnen der Jahrhunderte an ihm, dem Gesalbten des Herrn, dem Sohn Davids, auf dem der Geist Gottes ruht, dem Helfer und Befreier, erschaut, çber ihn prophezeit worden war, all das auch, was aus dem Leide der Zeiten hervor zum Gedichte von seinem Dulden, aus ihrem Sehnen und ihrem Ideal zur Verkçndigung von seiner Kraft und seinem Wege geworden war. Dazu war seine Gestalt seit langem von der Fçlle der Zuversicht çber die menschlichen Grenzen hinaus ins Ûbergeschichtliche und Ûberirdische emporgehoben worden. Mit dem Leuchten des Droben war er | ausgestattet, ins Himmlische hinein war er verklårt. Die Apokalypsen zumal hatten erzåhlt, wie er im Reiche des Jenseitigen, von Gott seit Anbeginn erkoren, seinen Platz habe, damit er zu seinem Tage dann herniedersteige. Das Wunder umzog seinen Wuchs. Des allen war man im Volke gewiû, es stand fest, und das bedeutete, daû in dieses geheimnisreiche Bild, in dem sich Hienieden und Droben verwoben, in seine Fåden und Linien alles, was vom Leben Jesu çberliefert war, hineingefçgt wurde. Nicht aber konnten und durften seines Daseins Vorkommnisse fçr die Ûberlieferung das allein Bestimmende sein und ihr den ausschlieûlichen Inhalt geben. Mit diesem Jenseitigen war dem frommen Glauben zugleich eine dunkle Wand enthçllt. Von unten her, aus den Abgrçnden des Niedrigen und Bæsen, stieg sie vor dem Sinnen und Fragen auf. Das Erscheinen und Wirken des Messias hob sich davon ab. Seit langem hatte die Volksphantasie hinter den Messias und gegen ihn, als seinen Widerpart und seinen Widersacher, den Geist des Verworfenen, den Versucher und »Anklåger«, den »Satan« gestellt: er war der Antimessias, der Antichrist. Ihn hatte so mancher in Stunden der Anfechtung zu spçren gemeint. Man lebte ja damals, besonders im einfachen Volke, nicht im Bezirke der Menschen nur, der freundlichen und der feindlichen, sondern ganz so in dem der Geister, der guten und, vielleicht noch mehr, aller der argen, schlimmen, deren Herrscher der Satan ist. Mit ihm zu kåmpfen, seine Verlockungen zu 422
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çberwinden und ihn endgçltig zu besiegen, dazu auch ist der Messias gesandt. War Jesus der Messias, dann muûte dieses groûe Drama zwischen Hienieden und Droben in seinem Leben den Schauplatz haben. Sein Triumph çber die dunklen, un | reinen Måchte ± es ist bemerkenswert, daû von ihnen im Neuen Testament stårker gesprochen ist als von den Engeln ± gehærte als ein Entscheidendes zu dem Glauben an ihn. Mit dem Glauben an ihn trat darum das alles in die Ûberlieferung ein. Was immer diese Menschen gesehen hatten oder was immer ihnen berichtet worden war, es erhielt fçr sie die letzte Bedeutung und den ganzen Gehalt erst dadurch, daû ihnen zugleich erzåhlt wurde oder sie zugleich auch wuûten, was hinter allem sich dehnte, wie im Unsichtbaren der Messias den Kampf durchkåmpfte, der zum Siege fçr das Menschengeschlecht, zur Befreiung von seinen Bedrohern fçhren sollte. Alles çberhaupt, was die Ûberlieferung hier in sich schloû, griff doch weit çber dieses Dasein hinaus. Was diese Menschen vernahmen und was ihre Seele in sich bergen wollte, war fçr sie kein Ereignis eines Tages nur, wie groû er auch dastand, kein Wort der Stunde bloû, wie ernst sie sein mochte. Das, worum es sich hier handelte, war doch das Letzte, der Sinn und das Ziel alles Lebens. Um das Heil und die Erlæsung, um das, was kommen werde, daû es dann endgçltig sei, um das Reich Gottes handelte es sich doch. Aber von dem her allein, was jetzt gewesen, was sich in den geschichtlichen Jahren ereignet hatte, da der Messias durch das jçdische Land zog, konnte sich die innere Sicherheit herleiten fçr das, was demnåchst, wenn die Tage erfçllt seien, dasein werde. Es galt daher, in allem davon zu wissen, was geschehen war und was es bedeutete, was vollbracht und gesprochen worden, und was es besagte, von dem allen zu erzåhlen und daran festzuhalten. Auf denen, welche berichteten, und auf denen, welche hærten, lastete so die ganze Verantwortung, die Verantwortung fçr eine Wahrheit, von der fçr jeden von ihnen alles abhing, Errettung oder Untergang, ewiges Leben | oder ewiger Tod. So muûte die Ûberlieferung mehr als nur Ûberlieferung sein, sie muûte zur Losung, zur Bezeugung des Glaubens, zum Bekenntnis werden, ja zur Verpflichtung, den rechten Weg zu fçhren. Jeder Irrtum, woher er immer kam, muûte abgewendet, jeder Zweifel, wer immer ihn hegte, muûte abgewehrt sein. Man konnte darin nicht geduldig sein, denn man lebte in der bestimmten Erwartung eines Tages, der vielleicht morgen hereinbrechen werde wie ein Blitz, um alles zu beståtigen, was gewesen war. Es war eine Gemeinde von Erweckten und Erregten, in der die erste Tradition gehegt und weitergegeben wurde. Sie alle atmeten in einer 423
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Spannung, sie harrten unruhevoll und doch glåubig, ausschauend und doch getrost des jçngsten Tages, da der wiederkommen werde, der gekommen war, erscheinen werde zum Gericht und zum Urteil çber alle. Die nie loslassende Erwartung der Parusie, der Wiederkehr des Messias, mit all dem Fragen und Wissen, das darin war, pochte in den Gemçtern. Wenn der Tag auch zægerte, man zweifelte nicht an ihm. Man bedachte sich nicht, fortzugeben, was man besaû ± was war Besitz jetzt, wo alles neu werden sollte! Man schwankte nicht, sich abzuwenden von Land und Haus und Acker ± was waren Heimat und Heim jetzt, wo baldig alles umgewandelt sein wçrde! Diese Sehnsucht und dieser Glaube standen darum auch vor der Ûberlieferung, um sie zu fçhren, in ihrer Mitte, um sie zu gestalten. So manches, was geschehen war, so manches, was gesprochen worden, so war man im tiefsten çberzeugt, muûte doch auf diese Wiederkehr hingewiesen, muûte einen »Anfang der Wehen« (Markus 1, 3.8), muûte den Beginn des Endes vorhergesagt haben. So vieles gewann nun nachtråglich den apokalyptischen Ton, den apokalyptischen Zug, und in allem Apokalyptischen | ist zudem der Anreiz zum weiteren Sinnen und Dichten. Wenn Gewitterschwçle herniederlastete, sollte sie nicht in der Seele des Messias schon empfunden worden, daraus schon hervorgeklungen sein? In der groûen Erwartung, in dieser Gewiûheit, daû Jesus als der »Sohn Davids«, als der Messias durch sein kurzes Leben geschritten sei und seine Wiederkunft bevorstehe, waren alle eins. Aber in dem, was davon ihnen gesagt worden war und in ihrer Erinnerung fortlebte, und dem, was unter ihnen nun gesprochen wurde, gab es die Stufen und die Farben. Jesus hatte Jçnger gehabt, aber nicht alle waren fçr ihn dieselben gewesen. Es gab den weiteren und den engeren Kreis. Die einen hatten sich ihm frçher oder spåter angeschlossen und waren mit ihm gezogen, und andere, einige wenige, die man mit Namen nannte, waren ihm immer nahe gewesen, sie galten als die Vertrauten seines Geistes und seines Herzens. Aber auch unter ihnen gab es die Verschiedenheit der Gaben und der Kråfte, die Verschiedenheit auch sowohl der Zuneigung wie der Geltung und des Ansehens. Wir kænnen es in den Evangelienschriften deutlich sehen, wie hier der eine, dort der andere dieser Jçnger in den Vordergrund gestellt ist, hier Petrus und dort Johannes und dort Jakobus, der Bruder Jesu. Es konnte nicht anders sein. Ein jeder erzåhlte in seiner Sprache aus seiner Liebe und Treue, aus seinem Glauben hervor von dem Meister, und die Sprache und Ûberzeugung des einen gewann hier, die des anderen gewann dort das Ohr und Gemçt der Menschen. Jeder hatte so die, die um ihn standen, hatte die, die sich 424
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ihm neu anschlossen, und diese fanden dann wieder die, welche von ihnen vernehmen wollten. In der alten Christenheit schon entstanden derart die einzelnen Gruppen und Richtungen, diese Gemeinden in der | Gemeinde der Harrenden. In jeder einzelnen wohnte und lebte ihre Ûberlieferung, die ihr das Besitztum war und die ihr die Wahrheit bedeutete, welche sie vor Schådigung oder Entstellung bewahren, gegen jeden Eingriff schçtzen wollte. Schon frçh ist auch dadurch die Ûberlieferung zu Ûberlieferungen, das Evangelium zu Gemeindeevangelien geworden; die Zahl und die Besonderheiten der Evangelien sind daraus auch zu erklåren. Je långer »der Herr verzog zu kommen« (Lukas 12, 45), und der Tag ausbleiben wollte, der alle Meinungen beenden wçrde, desto mehr konnten sich diese dann versteifen und sondern und sich gegeneinander stellen. An die Frage der Parusie selbst war zudem in dem zweiten Geschlecht eine neue Antwort, die aufhorchen lieû, herangefçhrt worden. In den Kreis derer, die im jçdischen Lande auf die Wiederkunft des Messias harrten, war ein Mann aus der griechisch-orientalischen Welt Kleinasiens eingetreten, Saul aus Tarsus, mit ræmischem Namen Paulus genannt. Dort in Kleinasien waren Ost und West in einem Bereich der Mystik und Gnostik, des wunderreichen Mysteriums und Sakraments zusammengeflossen, des Mysteriums von dem Gotte, der jung gestorben und wiedererstanden war, des Sakraments von Wasser und Blut, von Brot und Wein, das alle, die es glåubig empfången, mit diesem Gotte eine, um ihnen damit ewiges, gættliches Leben zu verleihen. Bilderreiche Kunde von all dem hatte den jungen Paulus in seiner Heimat umgeben und ihn dann auch in dem jçdischen Lande, wohin er, um zu lernen, gezogen war, sicherlich nicht verlassen; ein Verlangen nach dem, was in jenen Geheimnisbezirken verheiûen war, nach diesem Sieg çber den Tod, nach dieser Erfçllung mit gættlicher Kraft konnte ihm in | mitten seines jçdischen Hoffens bewegen. Auch ehe der Messias wiederkåme, kænnte doch durch den Glauben an ihn, durch ein Sakrament, das mit ihm verband, alles schon zuteil werden, was das Mysterium seinen Geweihten gewåhren wollte, ein Harren und Erwarten nicht nur, sondern ein Haben und Besitzen, das Erlæstsein in dieser Stunde schon, dieses Jetzt und Hier des Sakraments und seines Wunders. Konnten nicht Vorstellungen von hier und von dort aufeinander hinweisen? Das heidnische Mysterium verkçndete den, der in der Blçte der Tage dahingegangen und zu neuem Leben emporgestiegen sei. Erzåhlte die Ûberlieferung der Gemeinde nicht auch von dem, der jung am Kreuze gestorben war, und war es nicht der Glaube 425
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des Judentums, daû der Tote wieder erweckt werde, sprach nicht das Prophetenwort von einem Auferstehen am dritten Tage, das Prophetenwort, in welchem doch mehr Wahrheit und Wirklichkeit, mehr Gewiûheit ist als in allem Sehen der Augen, als in allen Eindrçcken der Sinne? Das heidnische Sakrament verhieû mit der heiligen Speise von Brot und Wein, mit dem heiligen Taufbrauch von Wasser und Blut eine Weihe und ein ewiges Leben, eine Vergottung. Zeigten nicht auch die alten ehrwçrdigen Sitten des Judentums die Taufe des Wassers und den Bund des Blutes, die Heiligung von Brot und Wein? Kamen hier nicht Judentum und Heidentum zusammen? Sollte nicht auch die Gegenwart des Heilands, die Parusie, nach der man ausschaute, schon in der glåubigen Stunde geheimnisvollen Sakraments beschieden sein? War damit nicht das geschenkt, was alle Gebote der Bibel nie geben konnten, das Erreichen des letzten Ziels, die Erlæsung, die Gnade? Wie immer man die Frage beantworten mag, welcher | Generation die einzelnen Briefe, die als paulinisch bezeichnet sind, zugehæren, ohne Zweifel ist, daû dieser Mann Paulus aus Tarsus eines Tages zu der Gemeinde der Anhånger Jesu gekommen war, daû er dann eines Tages seine neue Glåubigkeit und seine neue Theologie, die ihr den biblischen Grund bereiten wollte, eifervoll, beredt und ungeduldig neben der alten und gegen sie gepredigt und verbreitet hat, und daû die Briefe, die seinen Namen tragen, schlieûlich als Glaubensschriften der Kirche in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden sind. Und es ist unverkennbar, daû in diesen Briefen etwas ganz anderes gekçndet ist als das, was in den Evangelien befaût sein will, etwas, was ganz unterschieden ist von dem, was gemåû dieser Ûberlieferung Jesus getan und gesprochen hat. Nicht die Lehre Jesu, sondern eine Lehre von ihm, nicht der Glaube, den er in sich getragen und der aus ihm zu seinen Jçngern strahlte, sondern der Glaube an ihn hat hier den Platz. Nicht das Gebot und der Trost, mit denen sich Jesus an die Bedrçckten, die Leidenden und Irrenden gewendet hat, sondern das Sakrament, das in seinem Namen glåubig empfangen wird, nicht sein Leben und Wirken und Dulden, sondern seine Menschwerdung, sein Sterben und Auferstehen, nicht sein Gottesdienst an den Menschen, seine Verkçndigung des Gottesreiches, sondern ein Heil, das dem Menschen, welcher an ihn glaubt, damit zukommt, nicht eine Aufgabe und eine Zuversicht, sondern eine erfçllte Gnade, nicht ein fordernder Glaube, sondern eine Erlæsungslehre steht hier im Mittelpunkt und bestimmt hier alles. Es war, wie immer man einzelnes beurteilen mag, etwas ganz anderes als die in den Evangelien noch deutlich hervortretende Ûber426
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lieferung, als die Kunde und die Predigt von Jesus, dem Messias, wie die, welche ihm treu gefolgt | waren, sie bewahrt und weitergetragen hatten, auf daû man seiner Wiederkunft gewårtig sei. Es war ein Neues, etwas, was den Streit in der Gemeinde und zwischen den Gemeinden notwendig weckte. Als es sich durchzusetzen begann, als es nun neben dem Frçheren stand, muûte es, ob man so wollte und beabsichtigte oder nicht, die Ûberlieferung des Evangeliums beeinflussen, die Gedanken und Worte in ihm lenken. Wenn auch, begreiflicherweise, die eigentçmliche Beweisdialektik der paulinischen Briefe der Darstellung der Evangelien fernblieb, da diese ja nicht beweisen, sondern berichten und verkçnden wollen, so hat der paulinische Glaube doch auf die Tradition und die schlieûliche Niederschrift der Evangelien eingewirkt. Es låût sich mannigfach erkennen, wie er ihnen hier und dort sein dogmatisches Gepråge aufgedrçckt hat. Aber auch noch von einer anderen Seite her wirkte nunmehr ein Umformendes. Ein Wort an die Juden vorerst hatte die gute Botschaft von Jesus, dem Messias, sein sollen; zu seinem Volke sei er als der Befreier gesandt worden. Aber das jçdische Volk besaû sein geistiges Gebiet, seine Gemeinden weit çber die Grenzen des jçdischen Landes hinaus, vor allem çber das ræmische Reich hin, dem es eingeordnet war, und besonders diese Gemeinden in Ost und West waren zugleich Ausgangs- und Stçtzpunkte einer religiæsen Ausdehnung geworden. Eine lebendige und stetige Mission wollte Menschen aus allen Vælkern zum Judentum hin oder ins Judentum hineinfçhren. Die jçdische Religion war damals bereit, die Arme auszubreiten, um Proselyten zu empfangen; aus dem alten Bibelworte (Deut. 10, 18), daû Gott den Fremdling liebt, hærte man gern auch heraus: Gott liebt den Proselyten. Vornehmlich das Mittelmeer | entlang, in dem hellenistisch-ræmischen Kulturbereich, hatte die Predigt vom Judentum die Geister angezogen und die Gemçter gewonnen. So manches war ihr hier in der inneren Entwicklung des Denkens und Empfindens schon entgegengekommen. Wenn die Richtung hier zu einem Wissen von Einheit und Geistigkeit des Gættlichen, zu einem sozialen Streben, zu einem Verståndnis alles Menschlichen hinlenkte, so war das ein Weg zum Judentum hin. Der alte Segen des Noah wollte damals bedeuten, und schien so sich zu erfçllen, daû »Japhet in den Zelten Sems wohnen solle«. Im Vorwårtsschreiten hatte diese Mission, ihrer selbst gewiû, sich alte Formen und Hilfen nutzbar gemacht und neue bereitet. Sie besaû ihre 427
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Sendboten, die Apostel, sie hatte, wie einen fçhrenden Apostel, ihre griechische Bibelçbersetzung, die Septuaginta, sie bildete ihre Methoden aus, sie schuf ihre Katechismen und ihre belehrenden Bçcher, sie erlangte ihre eigenen Darstellungsweisen, gewissermaûen ihre eigene Sprache. Aus vielen Urkunden oder auch aus den Werken des Philo und des Josephus, die ja in gewissem Sinne ebenfalls Missionsschriften waren, kænnen wir ersehen, wie es so unternommen wurde, jçdisches Erkennen in griechisches Denken zu çbertragen. Die Bibel erscheint hier als das Buch universellster Weisheit, der Prophet als der ideale Denker, der Lehrer des Judentums als der Philosoph, die Offenbarung Gottes im Menschen als der Logos, die Fræmmigkeit als der hæchste Tugendbesitz. Im Judentum sollte sich der Mensch der griechisch-ræmischen Bildungswelt wiederfinden. In dieses Erbe ± das Erbe der Wege und des Ausdrucks, vom Judentum aus, und der Erschlossenheit, vom Heidentum her ± trat eine christliche Missionspredigt, um den Messias zu verkçnden, ein. Sie wåre ohne diesen vor | bereiteten Besitz nicht mæglich gewesen, und sie hat zu ihm zunåchst auch kaum etwas im allgemeinen hinzufçgen kænnen. Aber fçr ihr ganz Besonderes, fçr ihr Neues, fçr die Botschaft von der Erscheinung und Wiederkunft des Messias, hat sie doch zugleich bei den heidnischen Menschen, zu denen sie hinzog, so manches vorgefunden. Wenn der Apostel zu Griechen und Ræmern von dem Messias sprach, dann war es ihm gewåhrt, ob er es wuûte und wollte oder nicht, es ihnen mit ihrer eigenen Sprache und in ihrer eigenen Anschauung zu erzåhlen, ihnen von seinem Glauben aus das neu zu sagen, was unter ihnen als ein Geistiges und Religiæses bereits wohnte. Doch damit kam auch eine Gegenwirkung von daher. Schon in der eigentlichen jçdischen Mission hatte es sich bisweilen so gefçgt, daû Begriffe von hier und dort ineinander çbergingen und das echte Jçdische veråndert und beeintråchtigt wurde. Ebenso und noch stårker hat dies die Predigt vom Christos erfahren, als sie nun auch zur griechisch-ræmischen Welt hinçberzog. Ihre Fassung, ihr Ausdruck hat so manches von dort aus empfangen. Vorstellungen und Bilder von drçben begannen auf das, was man bringen wollte, ihre Einflçsse zu çben, ihm Farbe und schlieûlich Inhalt zu geben. Der Schçler konnte zum Lehrer werden. Vor allem war es dem Gedanken und dem Worte vom Heiland so beschieden. Sie waren dem Jçnger Jesu von der Bibel her vertraut; Gott, und nur er, ist hier der Heiland. Aber der Weg konnte von hier fortfçhren, zu der griechisch-ræmischen Welt hin. In einer Inschrift aus dem Jahre 9 vor Chr., welche den Beschluû der kleinasiatischen 428
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Griechenstådte verkçndet, den julianischen Kalender einzufçhren und den Jahresbeginn auf den Geburtstag des Augustus zu verlegen, ist çber diesen Kaiser also zu lesen: »Die Vorsehung, die alles im Leben bestimmt, ¼ hat uns | den Erhabenen gegeben, den sie zum Heile der Menschen mit Vollkommenheit erfçllt hat, daû sie uns und denen nach uns ihn als Heiland ± Soter ± gesandt hat, ihn, der jeden Krieg beenden und alles ordnen wird ¼ Der Tag seiner Geburt hat fçr die Welt die frohen Botschaften (Evangelien) anheben lassen, die durch ihn wirklich werden.« Auf einem Denkstein in Harlikarnaû, aus dem Jahre 2 vor Chr., ist der Kaiser benannt: »Heiland des ganzen Menschengeschlechts, dessen Walten die Gebete aller nicht nur erfçllt, sondern çbertroffen hat.« Und wenn dann zum Beispiel im Lukasevangelium Jesus als der Heiland ± Soter ± verkçndet wird: »euch ist heute der Heiland geboren«, und so ein Prådikat, das die Bibel Gott allein beilegt, hier dem Messias zugeleitet ist, dann ist es unverkennbar, wie die Gedanken- und Ausdrucksform des Kaiserkultus hier spricht, wie die Begriffe von dort nicht nur denen von hier begegneten, sondern sie auch bestimmen konnten. Was aus der griechisch-ræmischen Welt entgegenkam, verlockte nur zu leicht zum Umdichten und Nachdichten; man war versucht, zu den Griechen und Ræmern hin zu dichten. Eine åhnliche Anziehung konnten die Erzåhlungen von dem heiligen Wundertåter ausçben, wie sie damals in der Welt des Mittelmeeres verbreitet waren. Das mannigfach gezeichnete Bild des in der zweiten Hålfte des ersten Jahrhunderts lebenden und vielgepriesenen Pythagoråers Apollonius von Tyana kann es mit einer Fçlle von Zçgen erlåutern. Schon vor seiner Geburt wird Apollonius durch eine himmlische Erscheinung als »gættlicher Mensch« verkçndet, und Wundersames umklingt dann seine ersten Erdenstunden. Jung weilt er gern im Tempel des Gottes, wo seine Worte alle in Staunen setzen. Lehrend zieht er umher, in knappen, oft nur andeutenden Sprçchen Weis | heit und Gebot verkçndend; vertraute Jçnger umgeben ihn. Er weissagt, er treibt Dåmonen aus, heilt Kranke und weckt Tote auf; er verwirkt die blutigen Opfer und rçhmt die wahre Gerechtigkeit, er çbt und fordert die Selbstverleugnung. Die Øhnlichkeit mit den Evangeliumsberichten ist so vielfåltig, daû man frçher einmal meinte, die Erzåhlung von Apollonius sei als ein Gegenstçck zu ihnen verfaût worden. In Wirklichkeit bezeugt es sich hier nur, welche Vorstellungsgruppen und Wunschgebilde im weiten griechisch-ræmischen Bereiche damals lebten und umherwanderten. Durch sie konnte die Missionspredigt von dem »gættlichen Menschen«, vom Christos, wenn sie sich dorthin wandte, recht bald 429
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entweder unwillkçrlich beeinfluût oder auch zu absichtsvoller Darstellung hingefçhrt werden. Das Missionswort »den Griechen ein Grieche« konnte bisweilen anders, als es gemeint worden, wahr werden.
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Zu alledem, womit so eine Welt, die man gewinnen und bekehren wollte, bald selber mannigfach das Denken und Sprechen gewonnen und durchsetzt hat, traten dann, noch gewichtiger und noch mehr bestimmend, die Geschehnisse und Erlebnisse einer schweren, ernsten Zeit. Die Jahre des Lebens Jesu und die Jahrzehnte nach seinem Tode, diese Jahre, in denen das Land der Juden zum Gebiete ræmischer Untertanenschaft geworden war, hatten etwas Bedrçckendes bald und bald etwas Erregendes. Mochte das Gefçhl der Wehrlosigkeit, der Sinnlosigkeit alles Widerstandes, ja alles Tuns çberhaupt die einen ausfçllen, der Wunsch des Trotzes, das Verlangen nach dem Kampf die anderen bewegen, fçr die einen wie fçr die anderen war das Heute nur ein Ûbergang. So wie es war, kænne es doch nicht bleiben; es mçûte doch eine Zeit be | schlossen sein und eine neue, die verheiûene Zeit anheben. Die zerrende Stimmung des Vorlåufigen ergriff viele. Jeder Tag schien vom Messias zu sprechen, zu den einen, daû er nun komme, zu den anderen, die daran glaubten, ihn in Jesus gesehen oder erfahren zu haben, daû er jetzt wiederkomme. Solche Tage mit ihrem Auf und Ab zwingen fast zum Sinnen und Dichten, den vor allem und den am meisten, der etwas, was schon gewesen ist und schon begonnen worden, vor dem Geiste sieht, der das Leben und Wirken und Sterben eines Menschen, der ihm alles bedeutet, stets vor sich erblickt. Die geheimnisschwangere Zeit mit ihren »Zeichen« (Matth. 24, 3) hat die Evangeliumsçberlieferung immer wieder geformt und geåndert, hat ihr Eigenes in sie hineingelegt. Aber am entscheidendsten hat ein groûes geschichtliches Begebnis eingewirkt, die Zerstærung des Tempels im Jahre 70. Sie hat in dem jçdischen Bereich die Gemçter im Innersten erschçttert nicht nur als die gewaltige Katastrophe, die sie war, sondern als ein apokalyptisches Ereignis, als das viele sie empfinden muûten. Ein Einbruch vom Jenseits her schien sich vollzogen zu haben, und die aufrufende, erschreckende Frage, die darin sprach, verlangte ihre Antwort. Fçr die Gemeinde, die es als das Gewisseste ihres Lebens besaû, daû in Jesus der Messias geschaut und vernommen worden war, konnte sie eine nur sein. Fçr sie waren die Trçmmer des Tempels der groûe Beweis ihres Glaubens. Wenn der Tempel, das Heiligtum Gottes, in Flammen aufgegangen war, dann hatte Gott selber 430
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geredet. Die Hand des Ræmers hatte die Brandfackel geschleudert, aber sie war doch nur das Werkzeug gewesen. Gott hatte geurteilt, er hatte in dem verzehrenden Feuer vor den Augen aller es bezeugt sein lassen, daû die Zeit beendet, die Wende der Tage gekommen | sei. Er hatte çber die, welche das nicht hatten begreifen wollen, seinen Spruch gefållt. Er hatte so, daû jedes Auge es nun schauen und es in jedem Ohre jetzt klingen muûte, entschieden, wider alle die entschieden, die den Messias, als er unter ihnen war, nicht hatten sehen noch hæren wollen, die, als er ihnen gepredigt wurde, nicht geglaubt hatten. In die Ûberlieferung des Evangeliums hat das tief eingeschnitten, so tief, daû es bis zur Vergangenheit hinuntergriff, daû alles, was gewesen, was berichtet war, nun nachtråglich hierzu die Beziehung gewann. Es war so fast eine seelische Notwendigkeit fçr den Glaubenden. Denn was Gott jetzt hatte vollbracht sein lassen, darum muûte sein Gesalbter doch gewuût haben. Wenn irgendein Wort, so muûte das auch auf seinen Lippen gewesen sein, daû der Tempel stçrzen werde. So sind in die Tradition Såtze, die Jesus in den Mund gelegt sind, hineingelangt: »Euer Haus wird euch dahin sein, verwçstet« (Matth. 23, 38). »Siehst du diese gewaltigen Bauten? Auch nicht ein Stein soll auf dem anderen gelassen werden, daû er nicht abgebrochen werde« (Mark. 13, 2). »Wenn ihr Jerusalem von Heerlagern ringsum eingeschlossen seht, dann erkennt, daû seine Verwçstung nahe ist« (Luk. 21, 20). In der apokalyptischen Stimmung konnten das Jetzt und das Einst so leicht ineinander çbergehen. Eines war es besonders, was hier in die Vergangenheit zurçckgetragen wurde. Gott hatte durch die Katastrophe sein Urteil çber das jçdische Volk verkçndet, das nicht hatte glauben wollen. Sollte nicht schon aus dem Munde des Messias dieses Wort gekommen sein, das Wort, durch das die Juden, diese vielen, diese meisten unter ihnen, verworfen wurden, die ihn nicht hatten erkennen wollen, die ihn geleugnet hatten? Muûte es nicht so ge | wesen sein, daû er nach der Mahnung und Træstung sehr bald Worte der Verdammnis gesprochen hat? Die Schuld, die das jçdische Volk auf sich geladen, dringt jetzt als Thema in die Ûberlieferung ein. Zu den Berichten vom Messias gehært jetzt die Anklage gegen das »bæse Geschlecht« (Matth. 12, 45), das als Widersacher dem Gesalbten des Herrn gegençbergestanden. Daû sich Gott von ihm abgekehrt habe, ist jetzt Glaubenssatz der Gemeinde. In einer Erzåhlung, die der Talmud aufbewahrt hat (Chagiga 5 b), steht dem Rabbi Jehoschua ben Chananja, einem Lehrer aus dem Geschlechte nach der Zerstærung des Tempels, ein Christ gegençber, und der bedeutet dem Rabbi feier431
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lich, das jçdische Volk sei nun »das Volk, von dem der Herr das Antlitz abgewendet habe«. Es ist in dieser selben Linie, wenn eine spåtere Zeit dann berichtete, die Gemeinde Jesu sei, ehe noch die Belagerung begann, aus Jerusalem nach Pella, im Lande jenseits des Jordan, ausgewandert (Eusebius, hist. III, 5, 2ff.); die alte Gemeinde der Jçnger Christi sollte von dem jçdischen Volke losgelæst gewesen sein und in Sicherheit gebracht, ehe das Verhångnis hereinbrach.
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Wie vom jçdischen Volk wollten viele nun auch vom Judentum abgegrenzt sein. Den letzten Schritt, wie ihn die radikale gnostische Richtung tat, welche den Glauben des Alten Testaments in den Bereich des Bæsen verwies, hat die Kirche dann allerdings entschieden abgelehnt und erfolgreich abgewehrt. Aber der, zwar nicht in den Kanon aufgenommene, doch kirchlich anerkannte Barnabasbrief, aus der Zeit Hadrians, hebt das Alte Testament im Grunde auf, indem er es weitgehend allegorisiert. Und von den Juden will sein Autor vællig getrennt sein. Fçr ihn besteht ein Bund Gottes mit den Juden seit | langem nicht mehr (46 f., 14, 1f.), er benennt sie mit dem abweisenden, in die Ferne rçckenden Worte: »jene« (2, 9; 3, 6; 4, 6; 8, 7; 13, 1), und er legt ihnen Benennungen bei, die den Heiden damals galten. Eine åhnliche Stimmung gegençber dem Judentum spricht schon aus dem kanonischen Brief »an die Hebråer«, der in der Zeit nach dem Falle des Tempels geschrieben worden ist. Das Gesetz des Judentums ist hier bloû ein »von Engeln geredetes Wort« (2, 2), seine Gebote erfassen nur das Fleisch und kænnen nicht wahrhaft heiligen (7, 16 ff.), das jçdische Priestertum hat aufgehært, und erst in Jesus ist der echte Hohepriester gekommen (5, 5ff.; 7, 11 f.), er erst hat das Heil, das wahre Wort Gottes verkçndet (2, 3ff.); und wenn zum Schluû dann von den Glåubigen hier gefordert wird, »aus dem Lager hinauszugehen« (13, 13), so ist klar, was damit gemeint ist. Den gleichen Ton aus gleicher Zeit, den Ton dieses Wunsches der Geschiedenheit, vernehmen wir im Johannesevangelium. Nur ist er in ihm noch ein hårterer, ja ein feindlicher, mag hier auch einmal das Wort stehen, daû »das Heil von den Juden ist« (4, 22). Das »Gesetz« heiût hier im Munde Jesu »euer Gesetz« (8, 17; 10, 34) ± ganz also, wie Pontius Pilatus, der ræmische Landpfleger, hier von ihm spricht (18, 31) ± oder gar »ihr Gesetz« (15, 25). Wie von einem fremden Volke wird von den Juden geredet, der çbliche Ausdruck, um von ihnen zu erzåhlen, ist: »die Juden« (1, 19; 26 und 18 ff.; 5, 10 und 15 f. und oft). So weit sind sie abgeschieden, daû die zçrnende Anklage zu ihnen sagen darf: »ihr habt zum Vater den Teufel« (8, 44). Nicht um den Platz Jesu in seinem jçdischen Volke, nicht um ein Neues im 432
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Judentum, wie in der alten Ûberlieferung der Gemeinde, handelt es sich jetzt, sondern ausschlieûlich um ein Neues gegen das Judentum, und die Stellung Jesu gegen das jçdische Volk. | Der ganze Unterschied zu dem Frçheren, der tiefe Einschnitt, den das Jahr 70 bezeichnet, wird deutlich, wenn man gegen alle diese Såtze des Johannesevangeliums das hålt, was noch der Ræmerbrief des Paulus zu den Heiden çber die Juden gesprochen hatte: »Hat Gott sein Volk verstoûen? Nimmermehr. Denn auch ich bin ein Israelit, aus Abrahams Samen und Benjamins Stamm. Gott hat sein Volk, das er erkannte, nicht verstoûen ¼ Ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige. Wenn aber einige der Zweige ausgebrochen wurden, und du, der du vom wilden Úlbaum warst, bist darauf eingepfropft worden und hast teil bekommen an der Wurzel und der Fruchtbarkeit des Úlbaums, so çberhebe dich nicht çber die Zweige. Aber auch wenn du dich çberhebst: du trågst doch nicht die Wurzel, sondern die Wurzel dich ¼ Ich mæchte, daû ihr Brçder um dieses Geheimnis bestimmt wisset, damit ihr nicht klug vor euch selber seiet: Verstockung ist zu einem Teil çber Israel gekommen, bis daû die Fçlle der Vælker wird eingegangen sein. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jes. 59, 20 f.): »Kommen wird aus Zion der Erlæser und wird wegtun die Gottlosigkeiten aus Jakob, und dies ist ihnen der von mir aus geschlossene Bund: daû ich wegnehmen werde ihre Sçnden« (Ræmer II I und 17 f. und 25 f.). Der ganze Wechsel im Denken und Empfinden beginnt sich darzutun, wenn man diese Såtze und dann die liest, welche von »den Juden« reden. Es wird erkennbar, wie sich in der Zeit, die zwischen dem Ræmerbrief und dem Johannesevangelium liegt, ein vælliger Wandel in der Einstellung zu Juden und Judentum vollzogen hat. Wåhrend die Gemeinde der alten Apostel eine Gemeinde im jçdischen Volke hatte sein wollen und gewesen war, ihre Botschaft, die sie çberlieferte, eine | Botschaft im Judentum, in ihm und nicht etwa nur neben ihm ± und auch von ihm her hatte eben diese Zusammengehærigkeit gesprochen ± stehen jetzt Gemeinde und Ûberlieferung durchaus gegen das jçdische Volk, gegen das Judentum, nicht nur neben ihm. Das hat begreiflicherweise, zumal ihm jetzt in den Juden ein åhnliches Empfinden des Gegensatzes gefolgt ist, seinen beståndigen Einfluû auf die Art der Tradition ausgeçbt und sie mehr und mehr, bis zu ihrer schlieûlichen Niederschrift, ausgestaltet und umgewandelt. Diese Richtung der Abkehr und des Fortgehens ist dann durch das Politische noch verstårkt und weitergefçhrt worden. Der Niederwerfung des Aufstandes waren Maûregeln Roms gegen die Juden gefolgt. Wåhrend diese bis dahin die gleichen, ja manche besonderen 433
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Rechte im Ganzen des Ræmischen Reiches besessen hatten, wurden jetzt gegen sie bedrçckende oder beschrånkende Bestimmungen erlassen. Fçr die Christen, fçr die zumal, die auûerhalb Palåstinas lebten, konnte und muûte es nun zu einer politischen Frage auch, ja bisweilen zur Frage ihrer bçrgerlichen Geltung werden, ob sie zu den Juden gerechnet werden sollten oder nicht. Und mit dieser Frage war zugleich unabweisbar die andere gestellt, ob sie auf die Seite Roms treten sollten. Alle Erwågung, zu welcher der Ausschlag der Zeit hintrug, fçhrte dahin, daû die Antwort eine bejahende wçrde. Die meisten haben denn in der Tat damals die Entscheidung fçr Rom und gegen das jçdische Volk getroffen. Noch dem Verfasser der Apokalypse des Johannes, in dem Geschlecht der Zerstærung des Tempels, wåre solche Antwort eine Antwort des Satans gewesen. Aber den nachfolgenden Generationen war sie fast eine selbstverståndliche. Sie war es um so mehr, als damals weitere Bedrçckungen in besonderen Aus | nahmegesetzen auf das jçdische Volk gelegt wurden, denen man selbst entzogen zu sein wçnschte. Eine Rechtfertigung dieser Trennung schien sich zudem darin darzubieten, daû sich nun auch im Judentum der Gegensatz gegen die neuen Gemeinden herausgebildet hatte. Der antijçdische und proræmische Zug gråbt sich jetzt in die Ûberlieferung ein. Er ist fçr die schlieûliche Darstellung der Geschicke und der Worte Jesu, fçr die schriftstellerische Fassung der Evangelien bestimmend geworden. Die Folge von dem allen ist gewesen, daû sich das Gesicht wie die Absicht aller Ûberlieferung fast ausschlieûlich den Heiden zugekehrt hat. Sie sind jetzt die Nahen und die Guten, und sie sollen gewonnen werden; die Juden sind in die Ferne oder zum Angriffsziel hin gerçckt. Alle Verkçndigung und alle Niederschrift spricht fortan von dieser Wandlung. Der groûen ræmischen Welt wenden sich die Wçnsche und die Hoffnungen zu. Sie bot jetzt auch alle Mæglichkeiten; sie lag, als sich das Judentum im zweiten Drittel des zweiten Jahrhunderts, nach dem unglçcklichen Ausgang des Bar KochbaAufstandes, von jeder Mission zurçckzog, als Gebiet der Bekehrung, das nun nicht mehr strittig gemacht wurde, vor dem ausschauenden Blicke. Mit ihr, ihrem Staat und ihren Menschen wollte man in Frieden sein, um zu ihnen hinzugelangen. Von ihnen wird daher gern und mit unverkennbarem Wohlwollen gesprochen. Besonders wenn man vom Tode Jesu erzåhlte, wollte man sie entlasten, um dafçr das jçdische Volk zu belasten. Welches seit långerem die Richtung der Bahn gewesen war, zeigt am sichtlichsten der, wohl gegen Ende des zweiten Jahrhunderts verfaûte, apokryphe Pilatusbrief; in ihm erscheint der Richter Jesu, Pontius Pilatus, fast wie ein Jçnger 434
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Jesu und wie ein Heidenapostel. Doch auch schon in den | Evangelien sind diese Wegweiser der Zeit deutlich zu erkennen. Im Matthåusevangelium ist Pilatus fast als einer der Frommen und Reinen der Bibel dargestellt, er wåscht seine Hånde in Unschuld, und fçr des Pilatus Frau ist Jesus »der Gerechte« (27, 19 ff.). Die fçhrende Linie ist festgelegt. In ihr ist die letzte Gestaltung der Evangelien vollzogen worden. Die Niederschrift des Evangeliums, die schlieûlich erfolgt ist, hier etwas frçher, dort spåter, ist eine mannigfache gewesen. Diese Mannigfaltigkeit entspricht der der Gemeinden in den verschiedenen Låndern, inmitten der verschiedenen Vælker, und all dem Besonderen sonst in den Verhåltnissen und den Glaubenspfaden. Wir wissen durch die Kirchenvåter und aus Papyrusfunden von zahlreichen Evangelien: von dem Ebioniten-, dem Nazaråer-, dem Hebråer-, und dem Øgypterevangelium, von dem Evangelium des Petrus, des Thomas und dem Erstevangelium des Jakobus. Soweit wir sehen kænnen, sind Art und Maû der Kråfte, welche in ihnen wirkend und formend gewesen waren, und auch der Geltung, welche jedes erlangt hat, recht ungleich. Gewiû hat aber jedes von ihnen seinen Kreis gehabt, in dem es die wahre Ûberlieferung und Offenbarung bedeutete, und sicherlich ebenso seine Gegner, die in ihm den Irrtum, die Entstellung, wenn nicht gar die Lçge fanden. Die Evangelien standen vielerwårts einander gegençber. Man braucht nur auf die Stimmen jener Tage zu achten, um das zu wissen. Der Polykarpbrief, aus der ersten Hålfte des zweiten Jahrhunderts, klagt, man »fålsche die Aussprçche (Logia) des Herrn nach den eigenen Wçnschen« (VII I ed. Bihlmeyer p. 117). Die Timotheusbriefe, die etwa der gleichen Zeit entstammen, sagen dasselbe. Es wird hier gemahnt: »Das | Muster der gesunden Sprçche (Logia) halte fest, die du von mir hærtest« (II, 1, 13); es wird gewarnt vor dem, »der anders lehrt und sich nicht den gesunden Sprçchen unseres Herrn Jesus Christus und der durch die Ehrfurcht gebotenen Lehre zuwendet« (I, 6, 3); es wird davon gesprochen, daû »man die gesunde Lehre nicht ertrågt, sondern nach den eigenen Begehrnissen sich Lehrer ansammelt, so wie das Ohr gerade gekitzelt wird, und von der Wahrheit das Ohr abkehrt und sich zu den Fabeln fortwendet« (II, 4, 3). Und man darf annehmen, daû von der anderen Seite der nåmliche Ton zurçckklang. Wenn Worte von solcher Schårfe mæglich waren, dann ist es erkennbar, wie sehr die Mannigfaltigkeit der Tradition schlieûlich zu einer Gegensåtzlichkeit geworden war. Sie konnte unzweifelhaft die Einheit der Gemeinden und die Einheit des Glaubens bedrohen. 435
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Eine solche Einheit hatte sich nach und nach angebahnt. In vielen Gemeinden hatte sich, durch Verhåltnisse ermæglicht und durch Persænlichkeiten bestimmt, eine allgemeine Richtung herausgestaltet, welche als maûgebend auftreten durfte. Es gab ein Bewuûtsein dessen, was ein wesentlich Gemeinsames geworden war, eine »katholische« Ûberzeugung. Eine Kraft der Kirchenbildung begann sich damit geltend zu machen. Jetzt wurde es notwendig und auch erreichbar, eine Gesamtheit der neuen Heiligen Schriften, ein Ganzes des Neuen Testaments çberhaupt und der Evangeliumsçberlieferung im besonderen festzulegen. Die Linien dafçr waren gegeben. Die Kirche muûte einerseits gegençber dem Judentum, von dem sie hergekommen war, geschichtlich und gedanklich ihr Neues und Eigenes dartun, und sie muûte sich auf der anderen Seite von Lehren, die von ihr selbst ausgegangen waren und die ihr ketzerisch und gefåhrlich er|schienen, vor allem von denen Marcions und der radikalen Gnosis abgrenzen. Die rechte Glåubigkeit, die »gesunde Lehre« war es, die den Kanon erforderte. Sie verlangte die Bibel, die neben die der Juden, neben »die Schriften« treten kænnte. Wie die Kirche selbst war der Kanon begreiflicherweise ein Kompromiû, eine mittlere Linie. Es war so auch ein Kompromiû, sowohl nach dem Inhalt wie in der Zahl, wenn die vier Evangelien, die nach Matthåus, Markus, Lukas und Johannes, fçr die beglaubigten, die wahren und echten erklårt wurden. Von ihnen ist in der Gestalt, in der sie vor uns liegen, sicherlich keines frçher verfaût worden als in dem Geschlecht nach der Zerstærung des Tempels. Zwei von ihnen weisen auf eine noch spåtere Generation hin, in das zweite Jahrhundert also hinein. So sehr und so erkennbar altes Ûberlieferungsgut in ihnen aufbewahrt ist, so zeigen sie alle, jedes in seinem Gesamtinhalt, doch nicht vorerst das auf, was Jesus gesagt, gehofft und erlebt hatte. Was jedes in seinem Ganzen vor den Blick fçhrt, ist weit mehr das, was in der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert christliche Gemeinden, geleitet von maûgebenden Lehrern, glaubten, dachten, ersehnten und erstrebten, und worin fçr sie zugleich, wie sie sich, gegençber allen Gegnern, fçr vergewissert hielten, die Wahrheit des Lebens und des Wortes Jesu befaût war. Nicht sowohl Religion und Geschick Jesu als vielmehr Ûberzeugung und Weg der Gemeinden jener Zeit sprechen zuerst und am deutlichsten aus unseren Evangelien. Nicht zunåchst und nicht allein eine Ûberlieferung, sondern ebenso und besonders eine Absicht hat sie bestimmt und gelenkt. Man sah die Vergangenheit mit den Augen der eigenen Tage und malte sie in dem Licht der eigenen Erfahrungen, mit den Farben der eigenen 436
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Hoffnungen und | Begriffe. Von sich selber, von dem, was der Christus ihnen selbst bedeutete und allen immer bedeuten sollte, von dem, was allein in Predigt und Unterweisung gelten dçrfte, von ihrem eigenen Glauben wollten die Månner, welche diese Evangelien niedergeschrieben haben, ein echtes und bleibendes Zeugnis ablegen. Eine Lehrschrift fçr die Gemeinde sollten die Evangelien sein, damit der rechte, »gesunde« Glaube weitergetragen werde. So vielfach die synoptischen Evangelien inhaltlich und sprachlich zusammengehæren, so hat doch jedes von ihnen innerhalb dieses Gemeinsamen, innerhalb dieses Gesamtcharakters seine ausgeprågten besonderen Zçge. Unter den dreien ist, wie heute allgemein angenommen wird, die Evangeliumsschrift des Markus die verhåltnismåûig frçheste. Sie gehært wohl den Jahren nach der Zerstærung des Tempels an; vielleicht hat der Umbruch, den diese Katastrophe in der christlichen Gemeinde bewirkte, den entscheidenden Anlaû zu einer ersten Niederschrift der Ûberlieferung gegeben, was seine Parallele dann darin håtte, daû im Judentum die mçndliche Lehre nach dem Bar Kochba-Kriege zuerst niedergeschrieben worden ist. Verfaût ist das Markusevangelium mit dem Blick auf die heidnische Welt. Es wendet sich zu denen, welche hier Christen geworden waren, um sie zu erbauen und sie in ihrem Glauben zu stårken, und zu denen, welche hier vor den Toren standen, um sie hineinzufçhren und zu bekehren. In seiner Abzielung ist es bereits gegen das jçdische Volk und gegen das Judentum gekehrt. Das jçdische Volk ist ihm das verstockte, das darum von dem Heiland verworfene; die Zeit des Judentums ist beendet, sein Gesetz und seine Lehrer sind durch die Worte Jesu gerichtet. Schon darin spricht auch ein | paulinischer Einfluû. Aber darçber hinaus sind Gedanken, die von dort kommen, hier vielfach bestimmend geworden. In den Bereich des Ûberirdischen ist Jesus hier hinaufgehoben: er ist nicht sowohl der Messias als der Mittler des neuen Bundes, den er durch sein Blut, das er vergossen, gestiftet hat (10, 45; 14, 24); durch ihn ist der neue Tempel errichtet, der Tempel derer, die an ihn glauben; durch die Wunder seines Lebens, die nicht menschliche, sondern gættliche Wunder sind, durch die Wunder seines Todes, seine Verklårung und Wiedererweckung ist er als der Gottessohn offenbart. Nicht was er gesagt und getan, sondern was von oben auf ihn herniederreicht, und nicht sein Erdengang, sondern sein Sterben und Auferstehen ist der vornehmliche Sinn seines Lebens. Deshalb sind hier die Wunder aneinandergereiht. Das Markusevangelium ist ganz eigentlich das Wunderevangelium, was ja auch der griechisch-ræmischen Welt gemåû 437
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war, die solches zur Bezeugung des Groûen und Befreienden zu hæren begehrte. In kunstlosen Såtzen, in der griechischen Sprache des einfachen Volkes des Ostens, aber darin mit einer lebhaften, bisweilen erregten Darstellungsart ist das alles erzåhlt; man merkt dem Verfasser an, wie er weiû, daû er vom Heile der Welt kçndet. Das Evangelium des Lukas, das aus dem Anfang des zweiten Jahrhunderts stammen dçrfte, ist in seinem Stil ein ganz anderes Buch. Sein Autor schreibt es als gebildeter Mann, und er wendet sich mit ihm an gebildete Leute wie den »hochgeehrten Theophilus«, dem er es zueignet. Er besitzt eine schriftstellerische Gewandtheit, und unter ihr wohnt eine kçnstlerische Anlage. Er ist eine dichterische Natur mit der Lust am Erzåhlen, mit der Freude am Ausmalen und Ausschmçcken. Die Sprache der griechischen Bibelçbersetzung, der Septuaginta, ist ihm ver | traut, und er versteht es auch, in ihr mit warmem Ton Gebete nach biblischen Vorbildern und mit biblischen Såtzen nachzudichten. Aber er weiû ganz ebenso die damalige religiæse Sprache der Griechen zu gebrauchen und sie, besonders wenn er vom Heiland spricht, seiner Darstellung nutzbar zu machen. Wenn der Stil beweist, ist von ihm auch ein Teil der Apostelgeschichte verfaût. In seiner literarischen Absicht ist er sehr wesentlich Apologet und Polemiker; er will verfechten und bekåmpfen, erbauen und bekehren. Auch er ist zur ræmisch-griechischen Welt hingewandt; er schreibt im Hinblick auf sie und nicht selten in der Rçcksicht auf sie. Vor ihr will er Art, Geschichte und Weg seines Glaubens in das richtige Licht stellen, vor ihr die Rechtlichkeit und Zuverlåssigkeit der neuen Gemeinde aufzeigen. Von den Juden ist er abgekehrt, sie sind die Schlechten, die nicht hæren noch sehen wollen. Ihnen gegençber sind die Heiden hier die Guten, die Wohlgefålligen (4, 25 f.). Zu ihnen ist der neue Glaube hier von Anfang an hingelenkt gewesen: siebzig Sendboten, nach der Zahl der »siebzig Vælker« der Heiden, sind hier von Jesus abgesandt (10, 1f.). Fçr diese Menschen, fçr die er schreibt, legt auch der Verfasser unseres Evangeliums um alles herum das Wunder. Besonders hat er auch Geburtsdichtungen und -legenden, wie sie seit langem vom Osten nach dem Westen gewandert waren, in seine Erzåhlung hineingewoben. Die Gestalt Jesu ist von ihm darin und ebenso in allem sonst noch mehr, als es von Markus geschehen war, zum Jenseitigen emporgehoben. Die groûe Welt, gegen die der Messias kåmpft und die er çberwindet, ist die des Satans und der Dåmonen; um çberall gegen die bæsen Geister zu streiten, werden hier die siebzig Jçnger ausgesandt, wie bei Markus die zwælf. Die çberirdischen Sphåren | sind es, in denen das Leben des Heilands die eigentliche Herkunft und 438
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den eigentlichen Bereich hat. Dem entspricht dann in dem Urteil çber das Hienieden, in der Predigt an die Menschen bisweilen eine gewisse pessimistische und asketische Linie, wie sie in dem hellenistischen Denken gerade damals nicht selten hervortrat. Verglichen mit dem dichterischen Zuge der Lukasschrift ist das Matthåusevangelium mehr prosaisch. Aber in dieser seiner Art hat es etwas Volkstçmliches, etwas, was zu dem schlichten Sinne spricht. Es ist denn auch im Gange der Zeiten wohl das am meisten und am liebsten gelesene Evangelium gewesen. In der Reihenfolge der synoptischen Evangelien steht es als das erste da, nach der Zeit seiner Abfassung ist es aber sehr wahrscheinlich das letzte. Sein Kennzeichnendes hat es darin, daû in ihm der Versuch gemacht ist, weniger eine neue Evangeliumsschrift zu gehen als vielmehr die Ûberlieferungen aus den verschiedenen Zeiten, den gewesenen und den gegenwårtigen, und aus den verschiedenen Kreisen, die sich gebildet und gesondert hatten, zueinander zu bringen. In ihm spricht schon die Kirche, die ihrer katholischen Aufgabe bewuût wird und sich zu formen beginnt, die Kirche mit ihrem Dogma, das die Widersprçche zusammenfçhren und einen will, diese Widersprçche von dem Davidsohn und dem Gottessohn, von dem alten und dem neuen Gesetz, vom Reiche Gottes und der Kirche (16, 18; 18, 17), vom Enthusiasmus der Harrenden und von der Moral des friedsamen Volkes, von den zwælf Jçngern, die dem Meister anhangen, und den erkorenen Nachfolgern, denen die Schlçssel, die æffnenden und verschlieûenden, çbergeben sind. Alles, das Frçhere wie das Spåtere, das Gewesene wie das Gewordene und darum ja auch das Judenfreundliche wie das Judenfeindliche, hat | seinen Anteil am Platze in diesem Evangelium; es sagt gern beides. Das ist sein Eigentçmlichstes, daû es so das Vermittlungsevangelium ist, gewissermaûen eine Evangeliumsharmonie sein will. Es will ausgleichen, nicht in der Art, daû es das Verschiedene zu einer Einheit, einer historischen oder dogmatischen, zusammenzuschmelzen suchte, sondern indem es das Auseinandergehende und das Aufeinanderfolgende zusammen hinzustellen trachtet. Ein gleiches Prinzip waltet also in ihm wie das, welches den Kanon der neutestamentlichen Bçcher geschaffen hat, und von daher kænnte man verstehen, weshalb es an deren Anfang gesetzt worden ist. Obwohl das jçngste der eigentlichen Evangelien, enthålt es derart in seiner Weise nicht weniges von dem alten Traditionsgut. Es ist eine Frage, ob irgendwelcher Ûberlieferungsstoff auch im vierten Evangelium enthalten ist, dem nach Johannes benannten, das wohl aus der Zeit nach dem hadrianischen Kriege stammt, aus 439
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einer Zeit also, in der die Christengemeinde am wenigsten mit dem Judentum verwechselt zu werden wçnschte. Dieses vierte ist nicht eigentlich ein Evangelium, sondern, weit mehr noch als die anderen, eine Lehrschrift. In einer feierlichen Monotonie, bald mit Allegorien und abstrakten Begriffen, bald mit wundersamer sittlicher Mystik will dieses Buch gebildeten Griechen den Satz verkçnden, daû der Messias, der Christus, er, der »einziggeborene Sohn Gottes«, von Anfang an gewesen ist als ein Mittler der Schæpfung, als Leben und Licht der Welt, und daû dieser gættliche Logos in Jesu Fleisch geworden ist, in ihm wahrhaft gewohnt hat. Diesem Menschen Jesus dann, seinem Handeln und Reden, gibt das Evangelium gern etwas von der Wesensart und Haltung des griechischen Weisen, des Herrschers | im Reiche des Wahren und Guten. Bezeichnend dafçr ist zum Beispiel, daû Jesus hier vor seiner Verurteilung ein Zwiegespråch mit seinem Richter Pontius Pilatus fçhrt. So ist es begreiflich, daû in diesem Evangelium, wenn çberhaupt etwas von der alten Ûberlieferung, so nur ein Geringes und Ungewisses gefunden werden kænnte. Aufs Ganze hin spricht in ihm jedenfalls nicht die Tradition von Jesus, sondern die Apotheose Jesu ± »mein Herr und mein Gott!«, sagt hier zu ihm der unglåubige Thomas, als er glåubig wird (20, 28). Fçr die Erkenntnis des werdenden Dogmas und ebenso der sich in der Gemeinde entwickelnden Glaubenssprache hat dieses Evangelium seine sehr groûe religionsgeschichtliche Bedeutung; kaum aber ist in ihm ein Zugang zu dem, was von den Worten und Taten Jesu einst çberliefert worden ist. Diese Tradition kænnen wir wesentlich nur in den drei ersten Evangelien erschlieûen. Sosehr auch in ihnen sich vor allem der wachsende und sich gestaltende Inhalt des Erlebens und des Glaubens der alten Christenheit vor uns ausbreitet, so kann doch aus ihnen hervor auch die Geschichte Jesu vor den suchenden, prçfenden Blick gefçhrt werden. Denn eine Geschichte, nicht einen Mythos, daran kann kein Zweifel sein, bedeutet das Persænliche wie das Leben Jesu. Sie liegt hier jedoch unterhalb von mannigfachen, oft dichten Ablagerungen. Schon der Generationswandel und schon der Wechsel der Geschehnisse, sodann jene Katastrophe, die çber Land und Volk der Juden hereinbrach und so vieles auseinanderbrechen lieû, und schlieûlich das Ineinander und Gegeneinander von manchen neuen Bildungen und Formen, zu denen durch das alles der Glauben gefçhrt war, hatten nach und nach | Schicht um Schicht çber Zeit und Acker der Jçnger Jesu gelegt. Die Aufgabe ist, diese Formationen zu erfassen und durch sie hindurchzudringen. Ein 440
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Ausgrabungswerk ist gewissermaûen zu leisten, um dadurch zu der alten, ursprçnglichen Ûberlieferung, zu den Teilen und Stçcken von ihr, die erkennbar unter allem ruhen, hinzugelangen. Bisweilen sind die Schichten leicht und eindeutig festzustellen. Im Matthåus- wie im Lukasevangelium ist zum Beispiel eine groûe Strafrede gegen »die Pharisåer und Schriftgelehrten« enthalten, die sich zum Weheruf çber Jerusalem erhebt; es wird hier »diesem Geschlecht« die Vergeltung angekçndigt: »auf daû çber euch komme alles auf der Erde vergossene unschuldige Blut vom Blute Abels, des Gerechten, an bis zum Blute des Zacharias, des Sohnes des Berachja, den ihr getætet habt zwischen Tempel und Altar« (Matth. 23, 35; Luk. 11, 50). Wenn von diesem Zacharias, dem Sohne des Bariskaios, ± so heiût Berachja hier in einer gråzisierten Form des Namens ± im »Jçdischen Krieg« des Flavius Josephus erzåhlt ist (IV, 5, 1f.), daû ihn im Jahre 68 die Zeloten zwischen Tempel und Altar niedergestochen haben, so ist die Zeit klargelegt, welcher jene Såtze des Straf- und Weherufes zugehæren. Sie kænnen nicht von Jesus gesprochen sein, sondern sie sind ihm in den Mund gelegt. Sie entstammen erst der christlichen Gemeinde, welche die Zerstærung des Tempels erlebt und in ihr das groûe Zeichen erblickt hat. Sie zeugen also nicht von dem Wesen und Wollen Jesu, sondern von Stimmungen und Absichten innerhalb der christlichen Gemeinde dieser weit spåteren Zeit. Oder wenn im Matthåus- und im Markusevangelium Jesus, von den Jçngern çber die Zeichen seiner Wiederkunft und des damit beginnenden Endes dieser Welt befragt, zu ihnen spricht: »So ihr sehet den Gråuel der Ver | wçstung, von dem gesagt ist durch den Propheten Daniel, stehen an heiliger Ståtte ± der Leser merke auf ±, dann mægen die in Judåa fliehen zu den Bergen« (Matth. 24, 15 f.; Markus 13, 14 f.), so ist es wiederum deutlich, daû diese Worte nicht in den Tagen Jesu ihren Platz haben kænnen. Sie kænnen nur ± schon die Zwischenbemerkung »der Leser merke auf« ist bezeichnend ± aus dem Bangen und Sinnen von Tagen hervorgekommen sein, in denen abermals, so wie einst durch Antiochus Epiphanes, von dessen Frevel das Danielbuch zum Volke sprach, ein »Gråuel der Verwçstung« (Daniel 11, 31 und 12, 11) im Heiligtum aufgestellt werden sollte. Diese Zeit ist geschichtlich bekannt. Es ist die des wahnsinnigen Caligula, der sein Standbild auch im Tempel zu Jerusalem aufrichten lassen wollte. Daû es sich hierum handelt, tritt noch gewisser hervor, wenn man sieht, wie hierauf mit åhnlichen Worten und noch erkennbarer in einer jçngeren neutestamentlichen Schrift, in dem zweiten der dem Paulus zugeschriebenen Thessalonikerbriefe hin441
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gewiesen ist. Auch hier ist von dem Zeichen der »Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus« geredet, und als deren erstes ist bezeichnet »der Widersacher, der sich erhebt çber alles, was Gott (Dan. 11, 36) oder Heiligtum heiût, so daû er sich wie ein Gott in den Tempel Gottes setzt, sich selbst darstellend, daû er ein Gott sei« (II Thess. 2, 4). Ein bestimmtes, historisch feststehendes Geschehnis spricht also sowohl dort, im Thessalonikerbrief, wie hier im Evangelium. Wir wissen durch geschichtliche Berichte, wie tief und wie beångstigend das Vorhaben des Kaisers damals, als es drohte, an die Gemçter griff und welche Entschlossenheit zum Widerstand es in den Juden wachrief. In den christlichen Gemeinden hat es sicherlich die Stimmung geweckt, daû das Ende der Tage jetzt heranbreche. Man darf annehmen, daû da | mals, im Jahre 40, hier eine apokalyptische Schrift nach der Art des Danielbuches verbreitet wurde, um die Gewiûheit und die Kraft zu festigen, und daû aus ihr die Såtze stammen, die dann sowohl in den zweiten Thessalonikerbrief wie in die beiden Evangelien aufgenommen wurden. Jedenfalls sind es nicht Worte Jesu zu seinen Jçngern, sondern Worte eines Unbekannten aus einem spåteren Geschlecht, die hier zu uns sprechen. Diese zwei Zeugnisse jçngerer Schichten in den Evangelien sind zugleich eigentçmliche Beispiele fçr ein »vaticinium ex eventu«, das heiût fçr die Art, wie etwas Eingetretenes oder Eintretendes in eine Weissagung aus alten Tagen umgewandelt ist. Eine erfçllte Zukunft ist in eine gepredigte, vorhergesagte zurçckentworfen worden. In den Evangelien zeigt es sich so nicht selten. Ein Beispiel dafçr tritt bald am Beginn entgegen, dort, wo von der Taufe Jesu durch Johannes erzåhlt werden soll. Von Johannes ist dort gesagt: »Und er verkçndete: Es kommt nach mir, der stårker ist als ich, dessen Schuhriemen zu læsen ich nicht gut genug bin« (Markus 1, 7; åhnlich Matth. 3, 11 und Luk. 3, 16). Es liegt nahe, daû dem Tåufer, welcher doch starb, ehe Jesus seinen Weg begonnen hat, hier etwas auf die Lippen gelegt ist, was eine spåtere Zeit aus der Geschichte zu vernehmen wçnschte. Allen denen, fçr deren Glauben Jesus nicht nur der Christus, sondern auch der Sohn Gottes war, muûte es selbstverståndlich sein, daû Johannes kein Eigenes und Besonderes gesprochen hatte, nichts Eigenes und Selbståndiges gewesen war. Die alte Ûberlieferung, die wir noch zu erkennen imstande sind, hatte in ihm einen Groûen, den Elijahu erblickt, den der Ewige nach dem Worte des letzten Propheten, des Maleachi, »schickt, ehe denn kommt der Tag des Ewigen, | der groûe und gewaltige, um zu wenden die Herzen der Våter zu den Kindern« (Luk. 1, 17; Math. 11, 14); sie hatte in 442
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ihm den Wegbereiter und Bahnbrecher gesehen, den Jesaja prophezeit hat (Matth. 3, 3; Mark. 1, 2; Luk. 3, 4), und der deshalb mit Fug und Grund der Anfang des Evangeliums ist. Im Werden des Evangeliums ist er dann der geworden, welcher nur eben auftritt. Begreiflicherweise, denn der Sohn Gottes, der vom himmlischen Bezirke her kraft des Wunders und zum Wunder in das Irdische herabsteigt, kann keinen Vorlåufer gehabt haben, keinen, der vor ihm und fçr ihn die Herzen geæffnet hat. Das Wirken des Johannes verliert jetzt seine Geltung. Er ist nur noch einer der Glaubenden. Er ist gleichsam nur noch dazu da, daû er die Hand ausstrecke und auf den hinweise, der jetzt und immer sein wird. Wåhrend in der alten Ûberlieferung Jesus aus Galilåa herbeikommt, um von Johannes getauft zu werden (Matth. 3, 13; Mark. 1, 9) und sich ihm anzuschlieûen (Mark. 1, 14), spricht dieser nun zu ihm: »Ich habe nætig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir!« (Matth. 3, 14). Der Gemeinde, die in Jesus ihren »Herrn« besaû, konnte Johannes nichts anderes als dieses Kleinere bedeuten. Dieselbe Erzåhlung von Johannes bietet auch einen Beweis dafçr, wie der Glaubensausdruck und die Glaubensform einer spåteren Zeit in eine frçhere zurçckgetragen werden, wie die frçhere Zeit mit christlichen Zçgen schon ausgestattet wird. Wenn Markus (1, 8) und åhnlich jedes der beiden anderen synoptischen Evangelien den Tåufer sagen lassen, als er auf den hinweist, der nach ihm kommen soll: »Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit heiligem Geiste taufen«, so sind ihm christliche Worte aus jçngeren Tagen in den Mund gelegt. Denn es ist paulinischer religiæser Stil, in welchem Johannes hier | spricht, wenn er von der Taufe mit heiligem Geiste redet. Daû ein çbernatçrliches Leben im Geiste das ist, was dem durch Christus Erlæsten verliehen wird, so hat erst Paulus gelehrt, und das vierte Evangelium hat das dann auch aufgenommen. Fçr Paulus und fçr die nach ihm ist dieser Geist das Unterpfand des ewigen Lebens, die Gottesmacht im Glåubigen; als die Kraft der zukçnftigen Welt, als die himmlische Gabe wird er mit dem Sakrament der Taufe gegeben. Diese Lehre låût das Evangelium hier durch den Tåufer schon verkçndet sein. Wenn dann Matthåus (3, 11) und Lukas (3, 16) noch ein weiteres Wort hinzufçgen, das vom Feuer: »er wird euch mit heiligem Geist und Feuer taufen«, so spricht bei ihnen neben der paulinischen Theologie noch das Erlebnis der alten Gemeinde der Harrenden. Fçr diese hatte es die Beglaubigung ihres Messianischen sein sollen, daû ihr das zuteil wurde, was einst Joel prophezeit hatte (3, 1 f. und Apostelgesch. 2, 16): »Es wird alsdann sein, da gieûe ich meinen 443
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Geist aus çber alles Fleisch, und es werden eure Sæhne und eure Tæchter weissagen, eure Greise Tråume tråumen, eure Jçnglinge Gesichte sehen, und auch çber die Knechte und çber die Mågde in jenen Tagen gieûe ich meinen Geist aus.« Die Pfingsterzåhlung in der Apostelgeschichte, diese erste Erzåhlung von der Gemeinde, schildert es so. Dieser Geist von Gott, dieser heilige Geist, oder, wie er in der Sprache des Judentums damals auch bezeichnet wurde, der Geist der Prophetie, ist von der jçdischen Dichtung æfters mit dem Bilde des Feuers dargestellt worden. So berichtet denn auch die Pfingstgeschichte es wieder: »Es kam plætzlich ein Brausen vom Himmel, wie wenn ein Sturmwind daherfåhrt, und erfçllte das ganze Haus, wo sie saûen, und Zungen wie von Feuer wurden ihnen sichtbar, die sich verteilten, und es setzte | sich auf jeden einzelnen von ihnen, und sie wurden alle voll des heiligen Geistes« (Apostelgesch. 2, 2f.). Wenn jene beiden Evangelien von der Taufe mit heiligem Geist und Feuer reden, so tragen sie damit in die Person des Tåufers auch das Erlebnis der alten Christusgemeinde hinein; sie geben es ihm, daû er wie einer spricht, der an diesem Pfingsttage, dem Offenbarungstage der Gemeinde, teilhatte. Die Lehre vom Heiligen Geiste, die so in die alte Tauferzåhlung hineintritt, hat dann in sie noch ein Weiteres eingefçgt. In ihr ist, da Jesus getauft wurde, gesagt: »Alsbald, da er aufstieg vom Wasser, sah er die Himmel sich spalten und den Geist wie eine Taube auf ihn herabfahren, und es ward eine Stimme aus dem Himmel: Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe« (Mark. 1, 10; Math. 3, 16; Luk. 3, 22). Es ist sehr wahrscheinlich, daû hier eine alte Ûberlieferung erkennbar wird, eine wundersame Erzåhlung der Jçnger. Fçr sie begann mit der Taufe die messianische Sendung Jesu, diese seine Sendung, Helfer und Befreier des Volkes Israel zu sein. In der jçdischen Dichtung war damals die Taube, die im griechischen Volksglauben der Seelenvogel war, ein Sinnbild und Wahrzeichen, worin die Gemeinde Israels dargestellt wird. Sie schwebt daher çber dem Manne, dessen Weg zur Rettung des Volkes anhebt, und die Stimme vom Himmel spricht: »mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden«; denn das, der Erwåhlte Gottes, sein Sohn, ist in der dichterischen Sprache der Propheten das Volk Israel und der auch, in dem das Volk sich verpersænlicht, sein Kænig, sein Messias. Der spåteren Zeit, die vom jçdischen Volk fortging, konnte dieses Symbol so nicht mehr gelten. Von ihr wurde es zu etwas umgeformt, was es in der jçdischen Welt, in der Jesus gelebt hatte, nie ge | wesen ist; es wurde als Bild des Heiligen Geistes in den christlichen Kreis und zu christlichem Begriffe hinçbergefçhrt. 444
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Es ist nicht immer so leicht wie hier, die oberen çberdeckenden Schichten alsbald zu erkennen. Die Ûberlieferung ist bisweilen vællig der Darstellung gewichen. Dort besonders auch ist es geschehen, wo Gelegenheiten, Situationen mannigfach gedichtet wurden, um die »Sprçche«, die Logia Jesu mit seinen Lebenswegen, seinen »Taten« zu verbinden. Manches in den Evangelien bietet das Bild eines Palimpsestes, çber die alte Kunde ist Neues gleichsam hinçbergeschrieben worden. Aber im ganzen ist es doch mæglich, zu dem Ursprçnglichen hindurchzugelangen. Wenn die Eigenart eines jeden der drei Autoren beachtet, wenn sie gewissermaûen abgelæst worden ist, kann das weitere Verfahren, der weitere Weg deutlich aufgezeigt sein. Alles das zunåchst, was den Erlebnissen, den Hoffnungen und den Wçnschen, den Vorstellungen, dem Glaubensbezirk und den Glaubensbildern erst der spåteren Generationen gemåû ist, das auch, worin sich die Geburt des Geschehnisses aus dem Bibelsatz oder die Symbolik und das werdende Dogma bekunden, das sodann, was im Hinblick auf die griechisch-ræmische Welt oder auf die ræmische Obrigkeit erzåhlt oder gesprochen ist, was eine gewollte Hinwendung zu ihnen erkennen låût oder von dem Verlangen zeugt, vor ihnen nicht mir dem jçdischen Volke in eins gesetzt zu sein, das ferner, was sich in der hellenistischen Art, in der Weise hellenistischer Propheten und Wundertåter bewegt, das schlieûlich, worin sich die Zeit der Katastrophe, die Zeit nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstærung des Tempels bezeugt, das alles erweist sich als spåtere Schicht. Es gehært in die | Geschichte des Glaubens der Kirche hinein, aber es gehært nicht dem alten Evangelium zu. Umgekehrt, das, was ganz anders ist, als Richtung oder Ziel der Geschlechter war, die nach der ersten Jçngergeneration kamen, das, was den Formen, zu denen diese Spåteren ihren Glauben weitergebildet haben, widerspricht, das, was von der geistigen, seelischen und politischen Welt, in welche sie nach und nach eintraten, unterschieden ist oder sogar im Gegensatz zu ihr steht, das also, was vielmehr in Lebensweise und gesellschaftlicher Gestalt, in Stimmung und Denkart, in Sprechcharakter und Stil den Bereich und die Tage aufweist, in denen Jesus gelebt hat, das alles trågt damit die Zeichen des Ursprçnglichen, Alten. In ihm treten Worte und Taten Jesu vor uns hin. So, allerdings auch nur so, erschlieût sich dann aber in der Tat etwas, was weithin ein Einheitliches, ein Ganzes und Eigenes ist und von einer Persænlichkeit, einem Leben Zeugnis ablegt. Vor uns steht dann das, was auch den Såtzen vællig entspricht, in welchen der Petrus der Apostelgeschichte die alte Ûberlieferung von dem Le445
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benswege und Tode Jesu kurz zusammenfassen will ± Såtzen, in welchen çbrigens auch das Wort »Heiliger Geist« in seiner alten, jçdischen Bedeutung: »Geist der Inspiration«, »Geist der Prophetie« gebraucht ist ±: »Ihr wiût um das, was durch ganz Judåa hin, nachdem es von Galilåa her begonnen, geschehen ist, nach der Taufe, welche Johannes verkçndet hat, um Jesus von Nazaret nåmlich, wie Gott ihn gesalbt hat mit heiligem Geist¬ und Kraft (Jesaja 61, 1), so daû er umherzog wohltuend und alle vom Satan Bewåltigten heilend, da Gott mit ihm war; und wir sind Zeugen von allem, was er getan hat im Lande der Juden und in Jerusalem. Den sie am Holze aufgehångt und getætet haben, den hat Gott am dritten Tage aufge |weckt¬ (Hosea 6, 2) und hat ihn, zwar nicht allem Volke, aber den von Gott vorherbestimmten Zeugen, uns nåmlich, die mit ihm zusammen gegessen und getrunken hatten, sichtbar werden lassen, nachdem er auferstanden war von den Toten.« (Apostelgesch. 10, 37 ff.) Das war den Jçngern Gehalt des Lebens und Sterbens ihres Meisters gewesen. In dem alten Evangelium, das sich derart auftut, steht mit edlen Zçgen ein Mann vor uns, der wåhrend erregter, gespannter Tage im Lande der Juden lebte und half und wirkte, duldete und starb, ein Mann aus dem jçdischen Volke, auf jçdischen Wegen, im jçdischen Glauben und Hoffen, dessen Geist in der Heiligen Schrift wohnte, der in ihr dichtete und sann und der das Wort Gottes kçndete und lehrte; weil ihm Gott gegeben hatte, zu hæren und zu predigen. Vor uns steht ein Mann, der in seinem Volke seine Jçnger gewonnen hat, die den Messias, den Sohn Davids, den Verheiûenen suchten und in ihm dann fanden und festhielten, die an ihn glaubten, bis daû er an sich zu glauben begann, so daû er nun in die Sendung und das Geschick seiner Tage, zu der Geschichte der Menschheit hin, eintrat. Diese Jçnger hat er hier besessen, die çber seinen Tod hinaus an ihn glaubten, so daû es ihnen die Gewiûheit ihres Daseins wurde, daû er, wie der Prophet gesprochen, »am dritten Tage von den Toten auferstanden sei.« Einen Mann sehen wir in dieser alten Ûberlieferung vor uns, der in allen den Linien und Zeichen seines Wesens das jçdische Gepråge aufzeigt, in ihnen so eigen und so klar das Reine und Gute des Judentums offenbart, einen Mann, der als der, welcher er war, nur aus dem Boden des Judentums hervorwachsen konnte und nur aus diesem Boden hervor seine Schçler und Anhånger, so wie sie waren, erwerben konnte, einen | Mann, der hier allein, in diesem jçdischen Bereiche, in der jçdischen Zuversicht und Sehnsucht, durch sein Leben und in seinen Tod gehen konnte ± ein Jude unter Juden. Die jçdische Geschichte, das jçdische 446
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Nachdenken darf an ihm nicht vorçberschreiten noch an ihm vorbeisehen. Seit er gewesen, gibt es keine Zeiten, die ohne ihn gewesen sind, an die nicht die Epoche herankommt, die von ihm den Ausgang nehmen will. Wenn so diese alte Tradition vor den Blick tritt, dann wird das Evangelium, dieses jçdische, welches es ursprçnglich war, zu einem Buche, einem nicht geringen, im jçdischen Schrifttum. Es wird dazu nicht oder nicht nur, weil in ihm Såtze stehen, wie sie uns gleich oder åhnlich in den jçdischen Ûberlieferungen jener Zeit begegnen. Es wird dazu auch nicht, und noch viel weniger, weil aus der griechischen Ûbersetzung in Wortgebilden und Satzformen immer wieder das Hebråische oder Aramåische hervordringt. Es ist ein jçdisches Buch vielmehr deshalb, durchaus und ganz deshalb, weil die reine Luft, die es erfçllt und in der es atmet, die der Heiligen Schrift ist, weil jçdischer Geist, und nur er, in ihm waltet, weil jçdischer Glaube und jçdische Hoffnung, jçdisches Leid und jçdische Not, jçdisches Wissen und jçdische Erwartung, sie allein, es durchklingen ± ein jçdisches Buch inmitten der jçdischen Bçcher. Das Judentum darf an ihm nicht vorçbergehen, es nicht verkennen, noch hier verzichten wollen. Auch hier soll das Judentum sein Eigenes begreifen, um sein Eigenes wissen.
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Das ist es, was geschrieben steht im Buche des Propheten Maleachi und im Buche des Propheten Jesaja: »Siehe, ich sende meinen Boten, er wird den Weg vor mir bahnen, und plætzlich kommt zu seiner Halle der Herr, den ihr sucht. Ja, der Bote des Bundes, nach dem ihr verlangt, siehe, er kommt, so spricht der Ewige der Heerscharen.« »Stimme eines Rufenden: In der Wçste bahnet einen Weg des Ewigen, ebnet in der Stoppe eine Straûe fçr unseren Gott; alles Tal soll sich heben, aller Berg und Hçgel sollen sich niedern, und es soll das Krumme zum Geraden werden und das Gerade zur Senke, daû sich offenbare die Ehre des Ewigen, und alles Fleisch das Heil Gottes sehe; wahrlich, der Mund des Ewigen hat es geredet.¬« So geschah es, daû Johannes (Jochanan), der Sohn des Secharja, sich taufte und in der Steppe von Judaea eine Taufe und eine Umkehr ausrief. Er sprach: »Kehret um, denn nahe gekommen ist das Reich Gottes!« Johannes hatte sein Gewand von Kamelhaar und einen ledernen Gçrtel um seine Lende, seine Nahrung waren Heuschrecken und wilder Honig. Es kamen zu ihm hinaus Jerusalem und das ganze jçdische Land, und sie tauften sich vor ihm im Jordanfluû, und sie bekannten ihre Sçnden. 1 1. Matth 3, 1-7; Mk 1, 2-7; Luk 3, 1-7. Lukas hat noch eine wundersame Geburtsgeschichte des Tåufers nach der Art griechischer Geburtslegenden. ± Das hebråische Wort tawol, das dem baptizein der griechischen Ûbersetzung zugrunde liegt, ist intransitiv und bedeutet »untertauchen«, »sich taufen«. Die Glåubigen »tauften sich«, die Anhånger Johannes' taten es vor ihm, auf seine Veranlassung; eine richtige Lesart enopion ist Luk 3, 7 erhalten. In Matthåus und Lukas steht eine Strafrede gegen die Juden hier noch, in allen drei Evangelien noch ein Hinweis auf den, der nach Johannes kommt; vgl. S. 63. Die Taufe »zur Vergebung der Sçnden«, die unsere Evangelien hier haben, ist Hinzufçgung aus paulinischer Zeit. ± Die beiden angefçhrten Bibelverse sind Maleachi 3, 1 und Jesaja 40, 3ff., der letzte Vers in der alten Lesart der Septuaginta.
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Es geschah, daû in jenen Tagen Jesus aus Nazaret in Ga|lilåa kam und sich vor Johannes in den Jordan hinein taufte. Und da er aus dem Wasser aufstieg, sah man den Himmel sich spalten, und die Gestalt einer Taube stieg herab, çber ihn hin, und es war eine Stimme vom Himmel: »Siehe, mein Knecht, an dem ich festhalte, mein Erwåhlter, an dem ich Wohlgefallen habe, ich habe meinen Geist auf ihn gegeben, Gericht wird er den Vælkern hervorfçhren. 2 Jesus war nun »voll des Geistes« Gottes. Er blieb dort in der Steppe viele Tage lang. 3 Jesus war, als sich das zu Beginn zutrug, ungefåhr dreiûig Jahre alt. Dies ist die Erzeugung Jesu. David zeugte den Salomo von der Frau des Uria, Salomo zeugte Rehabeam. Rehabeam zeugte Abia. Abia zeugte Assa. Assa zeugte Josaphat. Josaphat zeugte Joram. Joram zeugte Usia. Usia zeugte Jotam. Jotam zeugte Ahas. Ahas zeugte Hiskia. Hiskia zeugte Manasse. Manasse zeugte Amon. Amon zeugte Josia. Josia zeugte Jechonja und seine Brçder um | die Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jechonja Schealtiel. Schealtiel zeugte Serubabel. Serubabel zeugte Abiud. Abiud zeugte Eljakim. Eljakim zeugte Asor. Asor zeugte Zadok. Zadok zeugte Eliud. Eliud zeugte Eleasar. Eleasar zeugte Matthan. Matthan zeugte Jakob. Jakob zeugte den Joseph, der Mann der Maria (Mirjam), von welcher Jesus, welcher Messias genannt ist, geboren worden ist. Und als acht Tage voll waren, daû das Kind beschnitten wurde, da wurde sein Name Jesus (Jeschua) genannt, welches bedeutet, »er wird seinem Volke helfen von seinen Sçnden.« 4 2. Matth 3, 13 ff., Mk 1, 9ff., Lk 3, 21 f. In dem angefçhrten Bibelvers Jes 42, 1, der Stimme vom Himmel, ist in unseren Evangelien der Anfang durch das Wort der Gottessohnschaft ersetzt. Der Vers ist einer der alten messianischen Såtze. Vgl. S. 66. 3. Matth 4, 1-12; Mk 1, 12 f., Lk 4, 1-14. Vgl. Deut 34, 9. Dieser Abschnitt ist ein bezeichnendes Beispiel fçr das Weiterdichten in der Ûberlieferung. Die alte Ûberlieferung hatte gesagt, daû Jesus, nachdem er sich vor Johannes getauft hatte, dort, d. h. bei ihm in der Steppe, vierzig Tage ± der Ausdruck »vierzig« bezeichnet in der biblischen Sprache unbestimmt viele ± blieb. Die spåtere Zeit legte sich die Frage vor, was Jesus in dieser Zeit getan und erlebt håtte. Markus erzåhlt kurz in einem Satz: »er wurde versucht vom Satan, und er war bei den Tieren, und die Engel brachten ihm zu essen«, so wie die Bibel von Elija erzåhlt hatte (Kæn 17, 3ff. u. 19, 5ff.). Lukas und Matthåus dichten die Versuchung in ausfçhrliche Einzelheiten weiter und lassen ihn vierzig Tage und vierzig Nåchte, so wie Moses auf dem Sinai (Exod 34, 28), fasten. Die Ereignisse der groûen Månner der Vorzeit werden in sein Leben hineingestellt. ± Zu dem Satan vgl. S. 33. 4. Matth 1, 1-21; Lk 2, 21 u. 3, 23-38. In beiden Evangelien ist noch eine wunder-
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Es geschah danach, daû Herodes, der Tetrarch, den Johannes festnehmen lieû und ihn im Gefångnis gefesselt hielt wegen Herodias, der Frau seines Bruders, die er geheiratet hatte. Denn Johannes hatte zu Herodes gesagt: »Du darfst die Frau deines Bruders nicht haben«. Und er sandte hin und lieû den Johannes im Gefångnis enthaupten. Als seine Schçler es hærten, kamen sie herbei und holten seinen Leichnam und bestatteten ihn in einem Grabe. 5
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Als Jesus gehært hatte, daû Johannes verhaftet war, zog er fort, nach Galilåa hin; er verlieû aber Nazaret und er ging, um in Kapernaum (Kfar Nachum) zu wohnen, das am See liegt im Gebiete von Sebulon und Naphtali, damit erfçllt wçrde das, was durch den Propheten Jesaja gesprochen ist, der da sagt: »Land Sebulon und Land | Naphtali, am See hin und jenseits des Jordan, das Galilåa der Ståmme ± das Volk, das im Finstern wandelt, sah ein groûes Licht, und çber die, die im Schattendunkel sitzen, ist ein Licht aufgegangen.« Von da an begann Jesus zu predigen, indem er sprach: »Kehret um, denn die Zeit ist erfçllt, und das Reich Gottes ist nahe!« 6 Als er am galilåischen See entlang wandelte, sah er Simon und Andreas, den Bruder Simons, im See Netze auswerfen, denn sie waren Fischer. Und Jesus sprach zu ihnen: kommt hierher, mir nach; ich will machen, daû ihr Menschenfischer werdet. Und sie lieûen alsbald die Netze und folgten ihm nach. Und als er dort ein wenig weiterging, sah er Jakob, den Sohn des Sabdai, und seinen Bruder Johannes, auch sie im Schiffe, die Netze ausrichten, und alsbald rief er sie, und sie lieûen ihren Vater Sabdai im Schiffe mit den Tagelæhnern und zogen hinter ihm her. 7
same Geburtsgeschichte beigefçgt. Die Genealogie, welche Jesus als ben Dawid, als Nachkommen Davids erweisen soll, ist von Matthåus bis Abraham zurçckgefçhrt, um Jesus als Erben der Verheiûung Abrahams darzutun, von Lukas bis auf Adam, um Jesus als den neuen Adam erkennen zu lassen; beides ist paulinischer Gedanke; vgl. Gal 3, 16 bzw. Ræmer 5, 14 u. I. Kor 15, 22. Geburtsgeschichte und Genealogie fehlen bei Markus. 5. Matth 14, 1-13, Mk 6, 14 u. 17-30, Lk 3, 19 ff. u. 9, 7ff., Matthåus und Markus haben die Hinrichtung des Johannes noch novellistisch ausgeschmçckt. 6. Matth 4, 12-17; Mk 1, 14 f., Lk 4, 14 f. und des. 8, 23 f. Zu dieser Predigt Jesu, welche dieselbe ist wie die des Tåufers, hat Markus aus spåterer Zeit noch hinzugefçgt: »glaubt an das Evangelium«. 7. Matth 4, 18-23; Mk 1, 16-21, Lk 5, 1-12. Lukas hat die Erzåhlung in seiner Art dichterisch ausgestattet. Matthåus hat das Bild vom Menschenfischer dann noch zu einem besonderen Gleichnis weitergedichtet (13, 47 ff.).
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Sie wanderten nach Kapernaum hinein, und sogleich am Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte, und sie waren betroffen çber seine Lehre; denn er war einer, der belehrte sie wie jemand, dem es von Gott gegeben ist, und nicht wie einer der Schriftgelehrten. 8 Als sie aus der Synagoge hinausgingen, ging er in das Haus des Simon und des Andreas, mit Jakob und Johannes. Die Schwiegermutter Simons lag am Fieber darnieder, und sie sagten ihm von ihr. Er ging zu ihr, nahm sie bei | der Hand und richtete sie auf. Da verlieû das Fieber sie, und sie wartete ihnen auf. Als die Sonne untergegangen und es Abend geworden war, brachte man zu ihm alle, die ein Leiden hatten, und er heilte viele und trieb viele bæse Geister aus. 9 Sein Ruf verbreitete sich çber das ganze Gebiet von Galilåa. 10 Manche sagten von ihm: er ist Elija, andere sagten: er ist einer der Propheten. 11 Frçh des anderen Morgens, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus; er ging an einen einsamen Ort, und daselbst betete er. Und es eilten ihm nach Simon und seine Genossen. Da sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: »Alle suchen Dich.« Aber er sprach zu ihnen: »Laût uns anderwårts in die Ortschaften gehen, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich ausgegangen.« Und er ging und predigte in den Synagogen, in ganz Galilåa. In manchen Gleichnissen redete er zu den Leuten, so, wie sie es verstehen konnten. 12 | 8. Mk 1, 21 f.; Lk 4, 31 f. Markus, und dann nach ihm ein wenig erweiternd Lukas, fçgt daran, in griechischer Art, die Austreibung eines unreinen Dåmons aus einem Menschen in der Synagoge. 9. Matth 8, 14 ff., Mk 1, 29-35; Lk 4, 38-41. Markus låût in einer bei ihm beliebten Weise die ganze Stadt sich vor der Tçr zusammendrången. Er und ihm folgend Lukas und Matthåus fçhren noch die Dåmonenaustreibung weiter aus. In allen drei Evangelien folgt danach eine Reihe von Wunderheilungen. Es ist kein Zweifel, daû die alte Ûberlieferung von der heilenden Kraft Jesu erzåhlte. In der spåteren, durch griechische Art beeinfluûten Zeit werden diese Heilungen einerseits in das Ståndige, Berufsmåûige, andererseits ins Allmåchtige emporgesteigert. Es ist nicht schwer, hier das Alte von diesem Spåteren zu unterscheiden. ± Mk 2, 5 bzw. Matth 9, 2 u. Lk 5, 20 erscheint Jesus bereits als der Sçnden vergebende Christus. 10. Mk 1, 28; Lk 4, 37. Es ist hier nicht, wie die meisten Ûbersetzungen sagen, von der »Umgegend Galilåas«, sondern von dem »Gebiete Galilåas« gesprochen; das hier gebrauchte griechische Wort ist schon in der Septuaginta die çbliche Ûbersetzung fçr das hebråische kikar, »Gebiet«. 11. Mk 6, 15; Lk 9, 8. 12. Mk 1, 35-40; Lk 4, 42 ff.; Matth 4, 23 ff., sowie Matth 13, 34 und Mk 4, 33. Markus fçgt in seiner Art noch hinzu: »und trieb Dåmonen aus«. Zu beachten ist, daû Matthåus und Markus hier wie auch sonst sagen: »in ihren Synagogen«; vgl. S. 48.
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Auf diesem Wege kam er nach seiner Vaterstadt. Als dann Sabbat war, begann er in der Synagoge zu lehren, und die vielen, die ihn hærten, waren betroffen und sagten: »Woher hat er das, welche Weisheit ist ihm verliehen! Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns Joseph und der Maria und der Bruder von Jakob und Jose und Juda und Simon, und sind nicht seine Schwestern hier bei uns!« Und sie nahmen Anstoû an ihm. 13
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Dann wieder ging er den See entlang, und Leute von çberallher kamen zu ihm, und er lehrte sie. Im Vorbeiziehen sah er Mattai, den Leviten, den Sohn des Chilfai, an der Zollståtte sitzen und sagte zu ihm: »Folge mir«, und er stand auf und folgte ihm. Er saû in seinem Hause dann zu Tische, und viele Zolleinnehmer, schuldhafte Menschen, saûen zusammen mit Jesus und seinen Schçlern; es waren nåmlich viele, die ihm gefolgt waren. Als die Pharisåer ihn sahen, daû er mit Zolleinnehmern, schuldhaften Menschen, aû, sagten sie zu seinen Schçlern: »Mit Zolleinnehmern, schuldhaften Menschen iût euer Lehrer!« Da Jesus das hærte, sagte er zu ihnen: »Es bedçrfen nicht die Starken des Arztes, sondern die Schwachen. Ich bin nicht hergegangen, Gerechte zu rufen, sondern Schuldhafte.« 14 Sie kamen auch an das andere Ufer des Sees in das Land der Gadarener, welches gegençber von Galilåa liegt. Als | Jesus von dort zurçckgekehrt war, da kam einer von den Vorstehern der Gemeinde, mit Namen Jair, und da er ihn sah, fiel er ihm zu Fçûen, bat ihn sehr und sagte: »Mein Tæchterchen liegt in den letzten Zçgen, komm doch und leg deine Hånde auf sie, damit sie gerettet werde und lebe. Und er ging mit ihm. Und er faûte das Kind an der Hand und sprach: »Talitha kumi« ± das heiût çbersetzt: Mådchen, steh auf! ± und das Mådchen stand auf und ging auf und ab. 15 Er zog auch in den Dærfern umher, und er rief zwælf Schçler, daû
13. Matth 13, 53 ff.; Mk 6, 1ff.; Lk 4, 16-23; unsere Evangelien fçgen hier das griechische Sprichwort noch an: »Ein Prophet ist nirgends unwert auûer in seiner Vaterstadt und in seinem Hause.« Bei Markus ist, aus dogmatischem Grund, nur die Mutter genannt. 14. Matth 9, 9-14, Mk 2, 13-18; Lk 5, 27-31. Im Matthåusevangelium ist der Personennamen Mattai, in den beiden anderen der Stammesname Levi enthalten. ± Es ist hier nicht, wie die Ûbersetzungen sagen, von »Zællnern und Sçndern« gesprochen, die zugrundeliegende hebråische Wendung besagt: »Menschen, die Zolleinnehmer und schuldhaft sind.« 15. Matth 8, 28 u. 9, 18-26; Mk 5, 1 u. 22-43; Lk 8, 26 u. 41Ð56. Die Erzåhlung ist spåter mannigfach ausgeschmçckt und durch eine andere Wundererzåhlung unterbrochen worden.
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sie mit ihm wåren, und daû er sie aussendete zu predigen: Simon, genannt Kepha, und Andreas, seinen Bruder, Jakob, Sohn des Sabdai, und Johannes, seinen Bruder, die er »Bne regos«, Zornige hieû, Mattai, den Leviten, den Sohn des Chilfai, des Zolleinnehmers, und Jakob, seinen Bruder, Philippos und Bartalmai, Taddai und Tejoma, Simon, den Eiferer, und Juda aus Kerijot, der ihn spåter verriet. Diese zwælf sandte er aus, und er befahl ihnen also: »Gehet nicht auf eine Straûe der Heiden ab, und gehet nicht in eine Stadt der Samariter hinein. Ziehet zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel und predigt also: »Das Reich Gottes ist nahe.« 16 Es sammelten sich aber viele wieder an, so daû sie nicht einmal Brot essen konnten. Es kamen auch seine Mutter | und seine Brçder; sie standen drauûen und lieûen ihn rufen, es saûen nåmlich viele um ihn herum. Und man sagte ihm: »Deine Mutter und deine Brçder sind drauûen und suchen dich.« Und er antwortete: »Wer ist meine Mutter und meine Brçder?« Und er blickte zu den rings um ihn Sitzenden und sprach: »Diese sind meine Mutter und meine Brçder!« 17 Von dort zog er in das Gebiet von Tyrus hinaus. Ein kanaanåisches Weib aus jener Gegend, deren Tochter einen bæsen Geist hatte, hærte von ihm; sie kam alsbald und warf sich ihm zu Fçûen, und rief: »Herr, hilf mir!« Er aber antwortete: »Es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hçndlein hinzuwerfen.« Aber sie sagte: »Ja, Herr, auch die Hçndlein essen von den Brocken, die von den Tischen ihrer Herren fallen.« Da sagte er zu ihr: »Es geschehe dir dein Wunsch!« Und geheilt war ihre Tochter von dieser Stunde. 18 16. Matth 9, 35 u. 10, 1-8; Mk 6, 7 u. 3, 13-20; Lk 6, 13-17. Vgl. Apostelgesch 1, 13. Die Namen der zwælf Apostel sind ungleich çberliefert. Mattai und Jakob, die beide »Sæhne des Chilfai« heiûen, sind wahrscheinlich Brçder; unter »Lebåus« verbirgt sich wohl der Name Lewi, der Levite. Der »Eiferer«, der Kannai ist ein zur Gruppe der Zeloten, der den Kampf gegen Rom fordernden Aktivisten, Gehærender. Es ist mæglich, daû fçr Isch kerijot, »der Mann aus Kerijot«, zu lesen ist: siccarius, der Dolchmann; die »Dolchmånner« waren die Extremsten unter den Zeloten; vgl. Apostelgesch 21, 38. ± Der Widerspruch der spåteren Anschauung gegen den letzten Satz bezeugt seine Echtheit. 17. Mk 3, 20 u. 31Ð35; Matth 12, 46-50; Lk 8, 19 ff. Die Erzåhlung wird hier, gemåû der spåteren Stellung der Kirche, durch Auseinandersetzung mit den Pharisåern unterbrochen. An den Schluû unserer Erzåhlung ist dann auch der kommentierende Satz gesetzt worden: »Jeder, der den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.« ± »Brot essen« ist biblischer Ausdruck fçr Mahlzeit. 18. Matth 15, 21Ð28; Mk 7, 24-30. Die paulinische Zeit hat dann hinzugefçgt, daû der Frau, weil »ihr Glaube groû war«, geholfen ward. Die Erzåhlung ist wieder ein Beispiel dafçr, wie die Echtheit sich an dem Widerspruch zu spåteren Zeiten kundtut.
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Aus dem Gebiete von Tyrus ging er wieder an den See von Galilåa in das Gebiet der Zehn Stådte, und sie brachten ihm einen, der taub war und kaum sprechen konnte, und baten ihn, daû er ihm die Hand auflegte. Und er nahm ihn bei Seite von den Leuten und legte ihm seine Finger in die Ohren und berçhrte ihm mit Speichel die Zunge, blickte zum Himmel auf und flehte tief und sprach: »Ephata« ± das ist: »æffne dich« ±. Da waren seine Ohren | aufgetan, und das Band seiner Zunge war gelæst. Er mahnte sie, daû sie es keinem sagten. Wie sehr er sie aber mahnte, sie verkçndeten es weiter und weiter. Ûber die Maûen waren sie erregt, so daû sie sagten: »So hat er alles gemacht, die Tauben macht er hæren und Sprachlose sprechen. 19 « Es begab sich, daû er an einem Sabbat durch Kornfelder ging, und seine Schçler rupften im Vorbeigehen Øhren. Einige Pharisåer sahen es und sagten zu ihm: »Siehe, sie tun am Sabbat, was nicht erlaubt ist!« Und er sagte zu ihnen: »Habt ihr nicht in der Schrift gelesen, was David tat, da es ihm not war, als es ihn und seine Gefåhrten hungerte, wie er in das Haus Gottes eintrat und die Schaubrote aû, die zu essen nur den Priestern erlaubt ist, und auch seinen Gefåhrten davon gab. Ihr wiût doch auch, daû gesagt worden ist: Der Sabbat ist um des Menschen willen gegeben worden und nicht der Mensch um des Sabbats willen.¬« 20 Jesus ging mit seinen Schçlern weiter nach den Ortschaften bei Cåsarea Philippi. Auf dem Wege befragte er seine Jçnger: »Was sagen die Menschen, daû ich sei?« Sie sagten zu ihm: »Elija ± und andere: einer der Propheten.« Da befragte er sie selber: »Ihr aber, was sagt ihr, daû ich sei?« Petrus antwortete und sagte ihm: »Du bist der Messias.« Und er gebot ihnen streng, daû sie zu keinem von ihm språchen. Und sie befragten ihn: »Die Månner der Schrift | sagen doch, daû Elija zuerst kommen muû.« Und er sagte zu ihnen: »Elija kommt zuerst und fçhrt alles zurçck. Und Elija ist schon gekommen, und sie
19. Mk 7, 31Ð36. Die spåtere Ûberlieferung hat dann wieder weitere Wunder und Auseinandersetzungen mit den Pharisåern angefçgt. 20. Match 12, 1-9; Mk 2, 23-28; Lk 6, 16. Der Schluûsatz ist Anfçhrung eines Wortes der alten Weisen, vgl. Mechilta zu 31, 13. Die Erzåhlung von David steht I. Sam 21, 2. Matthåus fçgt in seiner Art noch weitere Beweise an. Unsere Evangelien fçgen auch noch hinzu: »Der Menschensohn ist Herr çber den Sabbat«, wodurch der eigentliche Sinn der Erzåhlung aufgehoben wird.
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haben ihm alles getan, was sie wollten.« Danach verstanden die Schçler, daû er von Johannes, dem Tåufer, zu ihnen sprach. 21 Sie brachen von da auf, und sie zogen durch Galilåa, und er wollte nicht, daû jemand es wçûte, und zogen dann weiter in das Gebiet von Judåa jenseits des Jordan. Und sie brachten Kinder zu ihm, daû er die Hand auf sie legte. Aber die Jçnger verboten es ihnen. Doch Jesus sprach: »Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, daû sie zu mir kommen. Denn derer, die wie sie sind, ist das Reich Gottes.« Und er legte die Hånde auf sie und segnete sie. 22 Als er auf die Straûe hinauskam, lief einer herzu und sagte zu ihm: »Lehrer, du Guter, was soll ich tun, daû ich das Leben der Ewigkeit erlange?« Jesus sprach zu ihm: »Was nennst du mich den Guten. Weiût du nicht, was gesagt worden ist: Niemand ist der Gute als der eine Gott allein¬. Und die Gebote kennst du: Du sollst nicht morden, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis aussagen, du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« Der aber sagte zu ihm: »Das habe ich alles gehalten von Jugend auf.« Da sah Jesus ihn an, und er faûte Liebe zu ihm und sprach zu ihm: »Eines fehlt dir noch: Geh, verkauf, was du hast, und gib es den Armen ± | du wirst dann einen Schatz im Himmel haben¬ ±, und dann komm und folge mir!« Der aber war betrçbt ob des Wortes und ging bekçmmert davon, denn er hatte viele Gçter. Jesus schaute ihm nach, und er sagte dann zu seinen Schçlern: »Wie schwer wird einer, der die Gçter hat, in das Reich Gottes eingehen. Leichter ist es, daû ein Kamel durch ein Nadelæhr hindurchgeht¬, als daû ein Reicher in das Reich Gottes eingehe.« 23
21. Matth 16, 13-20 u. 17, 10-14, Mk 8, 27-31 u. 9, 11-14; Lk 9, 18-22. Matthåus sagt hier, dem Dogma gemåû, »du bist der Messias der Sohn des lebendigen Gottes«, er fçgt dann auch, fçr die Kirchenlehre in den ersten Teil die Erzåhlung von Petrus als dem Herrn der Kirche ein. Neben Elija und den Propheten ist, entsprechend der Dichtung vom Tode des Johannes ± Mk 7, 14 ff. ±, von den Evangelien noch Johannes, und von Matthåus dazu noch Jeremija hinzugefçgt. Unsere Evangelien knçpfen dann hier Verkçndigungen von Tod, Auferstehung und Wiederkunft sowie eine Verklårungserzåhlung an. 22. Mk 9, 30 u. 10, 1-13 ff.; Matth 19, 13 ff.; Lk 18, 15 ff. Es folgen hier einige Zeugnisse spåterer asketischer Anschauungen. 23. Matth 19, 16-28; Mk 10, 17-24; Lk 18, 18-26. Der Satz: »Niemand ist der Gute als der eine Gott allein«, ist wieder Anfçhrung eines alten, im jçdischen Schrifttum jener Zeit des æfteren erwåhnten Weisheitswortes; das gleiche gilt von dem Satz: »Du wirst dann einen Schatz im Himmel haben« und dann auch von den Worten: »ein Kamel durch ein Nadelæhr«.
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In dieser Zeit traten einige Pharisåer herzu und sagten ihm: »Gehe fort, zieh weg von hier: denn Herodes Antipas will dich tæten.« 24 Da sie des Weges hinzogen, trat ein Schriftgelehrter herzu und sagte zu ihm: »Lehrer, ich werde dir folgen, wohin immer du gehst.« Und Jesus sagte zu ihm: »Die Fçchse haben Gruben und die Vægel des Himmels Nester, ich aber habe nicht, wo ich mein Haupt hinlege.« 25 Sie waren nun auf dem Wege, daû sie nach Jerusalem hinaufzogen. 26 Unterwegs kamen sie in ein Dorf von Samaritern; aber die nahmen ihn nicht auf, weil er in der Richtung nach Jerusalem zog. Da das die Schçler Jakob und Johannes gewahr wurden, sagten sie: »Lehrer, wenn wir sprechen | dçrfen, willst du nicht, daû Feuer vom Himmel herunterkommt und sie verzehrt, so wie Elija getan hat.« Er aber wandte sich um und wies sie zurecht. Und sie zogen in ein anderes Dorf. 27 Es geschah, als er irgendwo betete, sprach zu ihm, als er geendet, einer seiner Schçler: »Lehrer, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Schçler gelehrt hat.« Da sagte er ihnen: »Wenn ihr betet, sprecht: Unser Vater, der du bist im Himmel, es werde geheiligt dein Name, es komme dein Reich, es geschehe dein Wille wie im Himmel so auch auf der Erde, unser Brot, das bestimmte, gib uns heute, und erlaû uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unseren Schuldnern, und trage uns nicht in eine Anfechtung hinein.« 28 Sie kamen dann nach Jericho. Und als er von Jericho weiterzog und mit ihm seine Schçler und vieles Volk, saû ein Blinder am Wege und bettelte, und als er hærte, es sei Jesus von Nazaret, schrie er: »Jesus, erbarme dich mein!« Jesus blieb stehen und sagte zu ihm: »Was willst du, daû ich dir tun soll?« Der Blinde sagte: »Rabbuni ± das ist: mein Lehrer ±, daû ich sehend werde.« Und alsbald ward er sehend und folgte ihm auf dem Wege. 29 24. Lk 13, 31. Die meisten Ûbersetzungen haben hier zu Beginn: »In derselben Stunde«, das betreffende griechische Wort hora entspricht aber schon in der Septuaginta dem hebråischen Worte: et = Zeit. ± Dieser ganz isolierte Satz, fçr dessen Alter vieles spricht, scheint in einem Zusammenhang mit der oben damit verbundenen Erzåhlung (Lk 9, 57) zu stehen. 25. Matth 8, 19 f.; Lk 9, 57 f. 26. Mk 10, 32, vgl. Matth 20, 17 u. Lk 18, 31. Der isolierte Satz ist eine Art von Ûberschrift. 27. Lk 9, 52, nur bei Lukas erhalten und in seiner Art ein wenig ausgeschmçckt. Die Worte der Schçler sind çberall ungenau çbersetzt. 28. Matth 6, 9-14; Lk 11, 1-5; Mk 11, 25. Vgl. S. 30. 29. Matth 20, 29-34; Mk 10, 46-52; Lk 18, 35-43. Matthåus låût das Wunder an zwei
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Als sie dann in die Nåhe von Jerusalem kamen, nach Bethphage und Bethania an dem Úlberge, schickte er zwei seiner Schçler und sagte zu ihnen: »Gehet in das Dorf vor euch und bringet ein Eselsfçllen.« Und sie brachten das Fçllen zu Jesus und legten ihre Måntel darauf, und er setzte sich darauf. Dies geschah, damit erfçllt werde, was | durch das Wort des Propheten gesagt ist: »Frohlocke sehr, Tochter Zions, juble, Tochter Jeruschalajims, siehe, dein Kænig kommt zu dir, er ein Gerechter und Heilvoller, ein Demçtiger, und reitet auf dem Esel, auf dem Fçllen, dem Jungen der Eselin!« Viele breiteten ihre Måntel auf den Weg, andere aber grçne Blåtter, die sie von den Feldern abschnitten, und sie gingen voraus und hinterdrein und riefen: »Hoschia-nu« ± das heiût: Hilf doch! ±, »Gesegnet, der da kommt im Namen des Ewigen!« So zog er nach Jerusalem hinein und zu dem Tempel hin. Als es spåt geworden war, ging er mit den Zwælf nach Bethania hinaus in das Haus Simons, des Aussåtzigen. Und sie gingen von dort am Tage nach Jerusalem. Es war aber noch zwei Tage bis zu dem Pessachopfer und dem Fest der ungesåuerten Brote. 30 Am Beginne des Festes der ungesåuerten Brote, an dem Tage, da man das Pessachopfer opferte, sagten zu ihm seine Jçnger: »Wo willst du, daû wir hingehen und zurichten, daû du das Pessach iût?« Er aber sprach: »Gehet zu irgendeinem in der Stadt.« Und die Jçnger taten, wie ihnen Jesus aufgetragen, und richteten ihm das Pessach zu. 31 |
Blinden geschehen, Markus nennt einen Namen Bartimai, Markus und Lukas fçgen in paulinischem Gedanken noch den Satz zu: »Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.« 30. Matth 21, 1-10; Mk 11, 1-11; Lk 19, 29-38; Matth 12, 12; Mk 11, 15; Lk 19, 45. Matth 26, 1ff.; Mk 14, 1; Lk 22, 1. In die Erzåhlung vom Eselsfçllen ist dann ein wundersames prophetisches Zeichen eingefçgt. Die Bibelstelle, auf die sie sich bezieht, ist Secharja 9, 9. Die Begrçûungsworte sind Psalm 118, 25 u. 26. Das Ausbreiten der Kleider auf dem Wege, von dem unsere Evangelien hier sprechen, ist eine Erinnerung an II. Kæn 9, 2. Da Bethphage »Feigenståtte« bedeutet, ist eine Wundergeschichte vom Feigenbaum angeschlossen, sodann wird der Besuch im Tempel mit einer bestimmten Tendenz ausgeschmçckt, und schlieûlich wird, um die Frage zu beantworten, was Jesus wåhrend dieser Tage auf seinen Wegen und im Tempel und im Hause getan habe, eine Reihe von Gleichnisreden, von Auseinandersetzungen mit Pharisåern und Sadduzåern und Ankçndigungen des Untergangs des Tempels, eine Art Apokalypse, eingefçgt. 31. Matth 26, 17-20; Mk 14, 12-17; 22, 7-14. Markus und Lukas haben hier, åhnlich wie bei der Erzåhlung von dem Fçllen, die Wundergeschichte eines Zeichens,
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Als es Abend geworden war, setzte Jesus sich mit den zwælf Schçlern zu dem Mahle nieder. Er nahm einen Becher und sprach den Segensspruch, gab ihn den Schçlern, und sie tranken. Und er nahm Brot und sprach den Segensspruch, brach es und gab ihnen. Nachdem sie das Mahl gehalten, nahm er wieder den Becher und sprach den Segensspruch, und sie sangen die Lobpsalmen. Danach gingen sie wieder hinaus zum Úlberge hin, und sie kamen zu einer Flur, die Gatschemani genannt ist, und er sagte seinen Schçlern: »Bleibt hier, indes ich bete.« Er nahm aber den Petrus und Jakob und Johannes, die Sæhne Sabdais, mit. Er zitterte und zagte, und er sagte zu ihnen: »Meine Seele ist betrçbt zum Sterben, bleibt hier und wachet!« Er ging eine kleine Strecke vor, warf sich auf sein Angesicht und betete: »Abba ± das heiût: Vater ±, alles ist dir mæglich, laû diesen Kelch an mir vorçbergehen, doch nicht was ich will, sondern was du«. 32 Wåhrend er noch sprach, da kam Juda, der eine von den Zwælf, und mit ihm ein Haufe mit Schwertern und Stæcken von dem Hohepriester. Er, der ihn verraten, hatte | ihnen ein Zeichen gegeben: »den ich kçssen werde, der ist es, ihn greifet«. Und wie er kam, trat er alsbald zu Jesus und sagte: »Rabbi« ± das heiût: Lehrer ±, und kçûte ihn. Da legten sie Hand an ihn und griffen ihn. Einer von denen, die bei ihm standen, aber zog das Schwert und schlug einem Knechte des Hohenpriesters das Ohr ab. Da begann Jesus und sprach zu ihnen: »Wie gegen einen Aufrçhrer seid ihr ausgezogen, mit Schwertern und Stæcken, mich zu fangen!« Die Schçler lieûen ihn alle und flohen. Ein Jçngling folgte ihm nach, der trug ein Leinengewand auf
durch das die Ståtte des Pessachmahls gezeigt werden soll. ± Es war damals Vorschrift, daû die in Jerusalem Wohnenden den Fremden ein Zimmer fçr das Pessachmahl zur Verfçgung stellten. 32. Matth 26, 20 u. 26 ff., 30 u. 36 ff., Mk 14, 17 u. 22 f., 26 u. 32 ff.; Lk 22, 14 ff., 39 u. 40 ff. Vgl. I. Kor 11, 23 ff. Matthåus und Markus schieben hier zunåchst eine Bezeichnung des Verråters ein, alle drei Evangelien die Deutung des letzten Mahles sowie eine Erzåhlung vom Gottesreiche und eine Vorhersage der Verleugnung des Petrus. ± Der Tag dieser Geschehnisse ist genau bezeichnet: Es ist der Rçsttag des Pessachfestes, der 14. Nissan, an dem in der Abenddåmmerung das Pessachopfer geopfert wurde ± nach dem alten Bericht damals ein Donnerstag. Am Abend, mit dem der 15. Nissan anhebt, wird das Pessachmahl gemeinsam eingenommen. Es ist eingeleitet durch den Segen çber Wein und Brot und beschlossen durch den Segen çber Wein und den Gesang der sogenannten Hallelpsalmen. Diese Reihenfolge ist noch deutlich erkennbar, wenn auch um der Formel »Leib und Blut« willen dann der Wein nach dem Brote stand.
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dem bloûen Kærper, und sie griffen ihn, da lieû er das Gewand fahren und floh nackend. 33 Sie fçhrten Jesus ab zu dem Hohenpriester Kaiapha, wo die Schriftgelehrten und die Øltesten zusammengekommen waren. Petrus war ihm von weitem gefolgt bis hinein in den Hof des Hohenpriesters, und er setzte sich zu den Dienern und wårmte sich am Feuer. Der Hohepriester aber und das Synedrion suchten Zeugnis gegen Jesus und fanden keines; denn ob viele ein falsches Zeugnis gegen ihn vorbrachten, so waren die Zeugnisse nicht gleich. Und Petrus war unten im Hofe. Da kam eine von | den Mågden des Hohenpriesters, und als sie Petrus sah, wie er sich wårmte, blickte sie ihn an und sagte: »Auch du warst mit Jesus, dem aus Nazaret.« Er aber leugnete und sprach: »Ich weiû nicht und versteh nicht, was du sprichst«. Und er ging hinaus und weinte bitterlich. 34 Am frçhen Morgen, nachdem der Hohepriester und das Synedrion beraten hatten, nahmen sie Jesus fest und çberlieferten ihn dem
33. Matth 26, 47-57; Mk 14, 43-53; Lk 22, 47-53. Dem Bericht ist, zu einer Darstellung der Einsamkeit Jesu, eine Erzåhlung vorangeschickt, wie Jesus betete und die Schçler schliefen, obwohl er zu ihnen gesprochen: wachet. Ebenso war der Verrat des Juda vorher mannigfach ausgedichtet und Jesus das Wort des Vorherwissens in den Mund gelegt worden. Auch die Antwort Jesu an die Håscher ist weiter ausgefçhrt, und Lukas låût ihn noch das Wunder der Heilung des abgeschlagenen Ohres vollbringen. ± Das griechische Wort lestes, das in der Regel mit »Råuber« çbersetzt wird, bezeichnet hier in Wirklichkeit den »Aufrçhrer«, den Zeloten; schon die Septuaginta gibt mit ihm das hebråische pariz wieder; es ist in dieser Bedeutung auch als griechisches Fremdwort in das Hebråische bzw. Aramåische çbergegangen, und der »eifernde« Priester Pinchass wird so Pinchass Lestes genannt. ± Ûber die damaligen Hohenpriester klagt ein im Talmud ± Pessachim 57a ± erhaltenes Wort: »ihre Diener schlagen das Volk mit Stæcken.« 34. Matth 26, 57-75; Mk 14, 53-72; Lk 22, 54-71. Fçr den Beschluû des Synedrions suchen die Evangelien dann den weitesten Kreis verantwortlich zu machen. Daher sagt Matthåus: »die Schriftgelehrten und die Øltesten«, Markus, darçber hinausgehend: »alle die Hohenpriester und Øltesten und Schriftgelehrten«, dann beide: »die Hohenpriester und das Synhedrium.« Danach sind es dann die »Massen« und schlieûlich »das ganze Volk«, die den Tod Jesu fordern. ± Hoherpriester war damals Joseph ben Kaiapha, der auf seiten der Ræmer stand. Nach jçdischem Recht war eine Verurteilung mæglich nur auf Grund einer çbereinstimmenden Aussage zweier Zeugen. Das Verhær ist dann spåter weitergedichtet worden auf Grund von Glaubensanschauungen einer spåteren Zeit, der vom »Sohne Gottes« und der von dem Zeugnis des zerstærten Tempels. Ebenso ist die Verleugnung des Petrus dichterisch ausgestaltet worden. Das Wort, das hier mit »binden« çbersetzt zu werden pflegt, bedeutet, wenn es allein steht, nur »festnehmen«.
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Prokurator Pilatus. Pilatus befragte ihn: »Bist du der Kænig der Juden?« Er antwortete: »Du sagst es.« Da lieû er den Jesus geiûeln und çberlieferte ihn, daû er gekreuzigt werde. 35 Da Juda, der ihn verraten hatte, nun sah, daû er verurteilt war, reute es ihn, und er ging hin und erhångte sich. 36 Die Soldaten des Prokurators aber fçhrten Jesus ab, hinein in den Hof, der zum Pråtorium gehært. Und sie riefen die ganze Kohorte zusammen, und sie zogen ihm ein rotes | Gewand an, flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf seinen Kopf und gaben ihm ein Rohr in die rechte Hand. Und, indem sie das Knie vor ihm beugten, fingen sie an ihn zu begrçûen: »Heil dir, Kænig der Juden!« Dann spieen sie ihn an und nahmen das Rohr und schlugen ihn auf den Kopf. Nachdem sie so ihren Spott mit ihm getrieben, zogen sie ihm das rote Gewand aus und seine Kleider wieder an und fçhrten ihn dann hinaus, um ihn zu kreuzigen. 37 Da sie hinauszogen, trafen sie einen Mann, der von drauûen kam, mit Namen Simon von Kyrene, den Vater des Alexander und des Rufus; den zwangen sie, sein Kreuz zu tragen. Sie brachten ihn nach dem Platze Golgolta, das heiût çbersetzt »Schådelplatz«. Man reichte ihm Wein mit Myrrhen gemischt, aber er nahm es nicht. Dann kreuzigten sie ihn. Es war die dritte Stunde, da sie ihn kreuzigten. Und es war die Inschrift seiner Schuld angeschrieben: »Jesus, der Kænig der Juden.« Und mit ihm kreuzigten sie zwei Aufrçhrer, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken. 38 35. Matth 271 f., 11 f. u. 26; Mk 15, 1ff. u. 15; Lk 22, 66 u. 23, 2f. und 24. Vgl. Josephus, Jçd. Krieg II 14, 9: »Die ræmischen Soldaten nahmen viele rechtschaffene Bçrger in Jerusalem fest und fçhrten sie vor den Prokurator Florus, der sie geiûeln und sie dann kreuzigen lieû.« 36. Matth 27, 3ÐII. Die Erzåhlung ist dann durch die Dichtung von den dreiûig Silberlingen ausgeschmçckt worden, um aufzuzeigen, wie ein Prophetenwort (Secharja 11, 12 ff.) erfçllt worden sei. 37. Matth 27, 27-33; Mk 15, 16-21. Vorangeschickt ist eine spåtere Erzåhlung von Barabbas ± Barabbas ist ein nicht bezeichnender håufiger Name ±, dessen Freilassung »das Volk«, »die Hohenpriester und die Øltesten« verlangen, wåhrend sie die Kreuzigung Jesu fordern; die Erzåhlung soll Pilatus entlasten und das jçdische Volk belasten; vgl. Seite 52. Lukas 23, 6-16, hat hier noch eine besondere Erzåhlung: Pilatus und Herodes; ihr kænnte irgendein Historisches zugrunde liegen, vgl. Lk 13, 31 u. Apg 4, 27. 38. Matth 27, 33-39; Mk 15, 21-28; Lk 23, 26-32 f. Unsere Evangelien lassen hier auch die Vorçbergehenden sowie »die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Øltesten« und schlieûlich selbst die Mitgekreuzigten spotten. Lukas hat in seiner Weise alles poetisch weiter ausgefçhrt. Eingefçgt ist noch, damit das Wort des Psalms 22, 19 erfçllt werde, eine Erzåhlung von der Verlosung und Verteilung der Kleider Jesu. ± Matthåus låût den Wein, damit Psalm 69, 22 erfçllt sei, mit Galle gemischt sein.
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Um die neunte Stunde schrie Jesus laut auf: »Eli, Eli, lama sabachtani«, das heiût çbersetzt: »Mein Gott, mein Gott, | warum hast du mich verlassen!«, und einige, die dabei standen, meinten, daû er den Elija rief. Jesus tat wieder einen lauten Schrei und verschied. 39 Es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, darunter Maria von Magdala, Maria, die Mutter des jçngeren Jakob und des Jose, und Salome, die ihm, als er in Galilåa war, gefolgt waren, und andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgegangen waren. 40 Als es schon Abend wurde, es war Rçstzeit, Zeit vor dem Sabbat, kam Joseph von Ramatajim, ein angesehener Ratsherr, einer, der auch des Reiches Gottes harrte; er faûte sich ein Herz und ging zu Pilatus hinein und bat um den Kærper Jesu. Da befahl Pilatus, daû er ihm çbergeben werde. Joseph nahm den Kærper und hçllte ihn in reine Leinwand und setzte ihn in seiner Grabkammer bei, die in den Fels gehauen war, und er lieû einen Stein vor die Tçr der Grabkammer rollen. Maria von Magdala und die andere Maria sahen dort zu, wo er beigesetzt wurde. 41 | Als der Sabbat vorçber war, kauften Maria von Magdala und die andere Maria und Salome wohlriechende Gewçrze, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sehr frçh, am ersten der Woche, als die Sonne aufging, kamen sie an das Grab, und wie sie aufblickten, sahen 39. Matth 27, 45-54; Mk 15, 33-39; Lk 23, 44-48. Unsere Evangelien schlieûen alles in Wundererzåhlungen ein: eine dreistçndige Finsternis, mit Bezug auf Amos 89, vor dem Tode und nach ihm ein Zerreiûen des Vorhangs des Tempels und, bei Matthåus, ein Erdbeben und ein Auferstehen aus Gråbern. Dazu tritt wieder bei Matthåus ein Verspotten durch die Juden sowie eine Bekehrung der ræmischen Soldaten. ± Die angefçhrten letzten Worte sind der aramåische Wortlaut von Psalm 22, 2; Lukas hat dafçr, in eigener Dichtung, da er an diesen Worten Anstoû nahm, die des Psalms 3, 16: »In deine Hand befehle ich meinen Geist.« Dazu haben unsere Evangelien, um eine Erfçllung des Psalmworts 69, 22 aufzuzeigen, die Erzåhlung, daû Jesus ein mit Essig getrånkter Schwamm hinaufgereicht wurde. ± Der Tag des Todes war der 15. Nissan, der erste Pessachtag, nach dem alten Berichte ein Freitag; um den Juden besonderen Schimpf anzutun, hat Pontius Pilatus an diesem Tage des Festes den »Kænig der Juden« ans Kreuz schlagen lassen. Gegen Abend dieses Tages, vor Sonnenuntergang, ehe der Sabbat anhob, war die Grablegung. 40. Matth 27, 55 f.; Mk 15, 40 f.; Lk 23, 49. Die beiden ersten lassen die drei Frauen auch Jesus gedient, »Diakonie« geleistet haben; es ist damit die Gemeindeeinrichtung einer spåteren Zeit in die frçhere zurçckgefçhrt. 41. Matth 27, 57-61; Mk 15, 42-47; Lk 23, 50-56. Matthåus macht den Joseph von Ramatajim zu einem Schçler Jesu. Lukas låût ihn an der Entscheidung des Synedrions unbeteiligt gewesen sein. Matthåus låût die »Hohenpriester und Pharisåer« bei Pilatus eine Wache fçr das Grab erwirken und den Stein versiegeln, damit die »Schçler den Kærper nicht stehlen und dem Volk sagen: Er ist von den Toten auferweckt«.
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sie, daû der Stein fortgerollt war ± er war aber sehr groû. Und als sie in die Grabkammer eintraten, erblickten sie einen Jçngling zur Rechten sitzen, angetan mit weiûem Gewande, und sie erschraken. Er aber sprach zu ihnen: »Erschrecket nicht, ihr sucht Jesus, den von Nazaret, der gekreuzigt worden; er ward erweckt, er ist nicht hier, seht da den Platz, wo sie ihn hingelegt haben.« Und sie gingen hinaus und flohen fort von dem Grabe, denn Zittern und Staunen hatte sie erfaût, und sie sagten keinem etwas, denn sie fçrchteten sich. 42 Er ward am dritten Tage erweckt, und er erschien dem Simon. 43
42. Matth 28, 1-10, Mk 16, 1-8, Lk 24, 1-11. Markus låût im Anschluû an eine biblische Erzåhlung ± Gen 2, 8 ± die Frauen fragen, ob sie den Stein werden fortrollen kænnen, und låût dann den Jçngling zu den Frauen noch sprechen: »Aber geht hin, sagt seinen Schçlern und dem Petrus: Er geht euch nach Galilåa voraus, dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat« ± wozu dann der Schluû: »sie sagten keinem etwas« im Widerspruch ist. Matthåus låût unter einem Erdbeben einen Engel vom Himmel herabkommen und den Stein fortrollen und die Wåchter von der Erscheinung betåubt sein. Lukas låût zwei Månner erscheinen. Im Matthåusevangelium erscheint dann Jesus den Frauen und spåter den Schçlern. Hier geben auch die Hohenpriester und die Øltesten den Wåchtern Bestechungsgeld, damit sie verbreiten, daû die Schçler den Kærper gestohlen håtten. Lukas schmçckt die Wiedererscheinung ausfçhrlich dichterisch aus. Ein Øhnliches ist spåter an das Markusevangelium angefçgt worden. 43. Luk 24, 34. Vgl. I Kor 1, 5 5.
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Was fçr eines ist das erste Gebot von allen in der Torah? Das erste ist: »Hære, Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einer. Und du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit allem, was in dir ist.« Ein zweites ist dies: »Du sollst deinen Nåchsten lieben wie dich selbst.« Ein græûeres anderes Gebot als diese gibt es nicht. 1 Alles, was immer ihr wollt, daû euch die Menschen tun, tut so ihr auch ihnen¬ ± denn das ist die Torah und die Propheten. 2 Glaubt nicht, daû ich von der Torah oder den Propheten abbrechen will. Ich will nicht abbrechen¬, und ich will nicht hinzutun.¬ Denn ich sage euch: ehe denn vergehen der Himmel und die Erde, 1. Matth 22, 36 ff.; Mk 12, 28 ff., Lk 10, 25 ff. Die Sprçche sind, um sie in die Erzåhlung einzufçgen, in gedichtete Situationen eingekleidet, sehr oft in die von Fragen, die an Jesus von Pharisåern oder Sadduzåern gerichtet werden. Hierbei sind zwei Richtungen der Ûberlieferung zu erkennen, die åltere, die eine Gemeinsamkeit des Denkens zwischen Jesus und den Juden aufzeigt, und die spåtere, die einen Gegensatz zwischen ihnen dartun will. ± Die beiden angefçhrten Bibelsåtze sind: Deut 6, 4f. und Levit 19, 18. Im ersten çbersetzen Matthåus und Lukas, dem hebråischen Text folgend, dessen Pråposition be¼ sowohl »in« wie »mit« bezeichnet, ganz wærtlich: »in deinem ganzen Herzen, und so weiter«, Markus ganz wie die Septuaginta dem griechischen ek kardias nachgehend: »von deinem ganzen Herzen.« Das letzte Wort, das hebråische meodecha ist mit dem griechischen dianoia wiedergegeben, das in der Septuaginta zur Wiedergabe des hebråischen kerew »Inneres« dient; ein gelehrter Abschreiber des Markusevangeliums hat dann, um die çbliche Ûbersetzung auch zu geben, hinzugefçgt: »von deiner ganzen Kraft.« ± Lukas hat hier noch die Erzåhlung vom guten Samariter ± wohl eine jçdische Volkserzåhlung ± angefçgt. Wie kçnstlich die Anfçgung ist, zeigt sich daran, daû in ihr »der Nåchste« nicht wie in dem Bibelsatze, den sie erklåren soll, das Objekt, sondern das Subjekt ist. 2. Matth 7, 12; Lk 6, 31. Der Satz: »Alles, was immer ihr wollt usw.«, diese »goldene Regel«, ist Zitat, in den Apokryphen und dem alten talmudischen Schrifttum mannigfach angefçhrt.
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soll wahrlich nicht ein Jota oder ein Håkchen von der Torah vergehen. Wer also eines von diesen Geboten, von den geringsten, bricht und so die | Menschen lehrt, wird ein Geringster heiûen im Reiche Gottes. Wer aber tut und lehrt¬, der wird ein Groûer heiûen im Reiche Gottes. 3
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Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz dumpf wird, womit soll gesalzen werden!¬ Ihr seid das Licht der Welt. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten. 4 Gebt nicht das Heilige den Hunden, noch werfet eure Perlen vor die Schweine, daû sie nicht sie mit ihren Fçûen zertreten und sich gegen euch kehren und euch zerreiûen. 5 | Heil den Armen, denn ihrer ist das Reich Gottes. Heil den Trauernden; denn sie werden des Trosttages teilhaft sein. Heil den Demçtigen, denn »sie werden das Land erben«. Heil denen, die hungern und dçrsten; denn »sie werden gesåttigt werden«. Heil den Barmherzigen, denn ihnen wird Erbarmen werden. Heil denen, die »rein im 3. Matth 5, 17 ff. und Luk 16, 17; vgl. Matth 24, 35, Mk 13, 31; Lk 21, 33. Der erste Satz ist, ausdrçcklich als Zitat aus dem Evangelium bezeichnet, in der genaueren alten, aramåischen Form im Talmud, Schabbat 116b, erhalten; vgl. Deut 13, 1. Der Satz ist, der spåteren Lehre entsprechend, dann abgewandelt worden: »nicht abbrechen, sondern vollmachen.« Das Anfangswort, das gewæhnlich çbersetzt wird: »ich bin gekommen«, hat, als das aramåische »ateti«, in Verbindung mit dem Infinitiv, nur die Bedeutung: »wollen«. An Vers 18 ist spåter paulinisch angefçgt worden: »bis alles geschehen sei«, d. h. bis der Messias gekommen ist, nach paulinischer Lehre hært mit seinem Kommen das »Gesetz«, die Torah, in der Geltung auf. Entsprechend ist dann ein Vers ± Vers 20 ± von der paulinischen besseren Gerechtigkeit hinzugefçgt worden. Demgemåû ist dann spåter auch korrigierend hinzugefçgt worden ± Lk 16, 16 u. Matth 11, 13 ±: Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes; von da an wird die frohe Botschaft vom Reiche Gottes verkçndet«. ± Das Wort »tut und lehrt« ist ebenfalls Zitat, ein çbliches Wort jener Zeit. 4. Matth 5, 13 ff.; Mk 9, 50; Lk 14, 34 f. Dieser Ausspruch, ganz wie der folgende, wendet sich an das jçdische Volk, nicht, wie die Kommentare meinen, an die Schçler. Das jçdische Volk wird im alten Schrifttum jener Zeit mit dem Salz verglichen, und es ist schon von den Propheten als das Licht der Welt bezeichnet. Die Worte »Wenn das Salz dumpf wird usw.« waren damals eine sprichwærtliche Redensart; siehe Bechorot 8b. Die weitere Ûberlieferung hat in diesen Spruch dann kommentierende Såtze eingefçgt, die sich zum Teil vielleicht gegen das jçdische Volk wenden wollen. 5. Matth 7, 6. Der Satz warnt, in der Sprache der Zeit und wie andere damalige Aussprçche, die Juden davor, ihre Lehre vor die Heiden hinzustellen. Das Wort »Perle«, das in seiner griechischen Form in die hebråische und aramåische Sprache des Landes çbergegangen ist, bezeichnet in ihr einen religiæsen Spruch. Die Vermutung, daû, parallel zu dem Worte »Perle«, fçr das Wort kadisch = »heilig« ursprçnglich das aramåische Wort kadascha = »Ohrring« gestanden habe, verkennt den Sinn des Spruches.
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Herzen« sind; denn »sie werden Gott schauen«. Heil denen, welche Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heiûen. Heil denen, die verfolgt werden, denn ihrer ist das Reich Gottes. 6 Sammelt euch nicht Schåtze auf der Erde¬, wo Wurm und Fraû vernichten, und wo Diebe durchgraben und stehlen. Sammelt euch Schåtze im Himmel¬, wo weder Wurm noch Fraû vernichtet, und wo Diebe nicht durchgraben noch stehlen. Denn wo dein Schatz ist, dort ist auch dein Herz. 7 Niemand kann zwei Herren dienen; entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird einem anhangen und den anderen verachten. Ihr kænnt nicht Gott dienen und dem Mammon. 8 | Ihr habt gehært, daû den Vorfahren gesagt worden: »Du sollst nicht morden«, »wer mordet, wird dem Gericht verfallen sein«. Und ich sage euch: Jeder, der seinem Bruder zçrnt, wird dem Urteil verfallen sein. Und wer zu seinem Bruder sagt Reka ± das ist Taugenichts¬ ±, der wird dem Synedrion verfallen sein. Und wer sagt: More ± das ist Abtrçnniger¬ ±, der wird an das Gehinnom des Feuers verfallen sein. Daher, wenn du dein Geschenk zum Altar bringst und du dort dich erinnerst, daû dein Bruder gegen dich etwas hat, so laû deine Gabe dort vor dem Altar, und geh hin, versæhne dich zuerst mit deinem Bruder, und dann komm und bringe deine Gabe dar. 9 Ihr habt gehært, daû gesagt worden: »Du sollst nicht ehebrechen.« 6. Matth 5, 3ff.; Lk 6, 20 ff. Alle die Verheiûungen sind hier Variationen fçr die messianische Zeit. Eine Bezeichnung fçr sie war »Trost«, nechama ± vgl. Lk 2, 25 und Paraklet = menachem ±, desgleichen »das Land erben« ± vgl. Ps 37, 11±, ebenso »gesåttigt werden« ± vgl. Jes 66, 11, sowie Ps 22, 27 und 17, 15 ±. »Gott schauen« war ein håufiger Ausdruck jener Zeit fçr die kommende Welt. Zu dem Worte »Kinder Gottes heiûen« vgl. Jes 61, 6 und 62, 12. Matthåus hat hier Armut abgeschwåcht, indem er hinzufçgt »im Geiste«, und Hunger und Verfolgung, indem er paulinisch hinzufçgt: »nach Gerechtigkeit« bzw. »um der Gerechtigkeit willen«. Lukas hat: »die jetzt hungern«. Zu »reinen Herzens« vgl. Psalm 24, 4. 7. Matth 6, 19 ff., Lk 12, 33 ff. Parallelen im talmud. Schrifttum. 8. Matth 6, 24; Lk 16, 13. Mammon ist das hebråische Wort jener Zeit fçr das Geld. 9. Matth 5, 21 ff. In diesen Såtzen haben unsere Ûbersetzungen: »ich aber sage euch«. Das betreffende griechische Wort bezeichnet im Griechischen des Evangeliums durchgångig nicht einen Gegensatz, sondern eine Verknçpfung. Alles, was hier ausgesprochen ist, will nicht ein Widerspruch gegen die Torah, sondern ihre Erlåuterung sein; es ist »mçndliche Torah«, und es hat dementsprechend seine mannigfachen Parallelen im talmudischen Schrifttum. ± Das hebråische Wort more = »Abtrçnniger« ist damals bisweilen, wegen des Gleichklanges, mit dem griechischen Wort moros = »Tor« ± Vokativ: more ± gleichgesetzt worden; siehe Tanchuma zu Num 20, 10. ± Matthåus låût hier,
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Und ich sage euch: Jeder, der ein Weib ansieht, sie zu begehren, hat schon an ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Es ist weiter gesagt worden: »Wer sein Weib wegschickt, soll ihr einen Scheidebrief geben.« Und ich sage euch: Jeder, der sein Weib wegschickt, es sei denn wegen Unzucht, der macht, daû an ihr die Ehe gebrochen worden ist, und zwar, wer die Weggeschickte heiratet, bricht die Ehe. Von dem Beginne der Schæpfung her ist es: »Månnlich und weiblich hat er sie geschaffen.« »Deswegen verlåût ein Mann seinen Vater und seine Mutter und hangt seiner Frau an, und die zwei werden zu einem | Fleisch« ± so daû sie nicht mehr zwei sind, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefçgt hat, soll der Mensch nicht trennen. 10 Ferner habt ihr gehært, daû den Vorfahren gesagt worden: »Du sollst nicht falsch schwæren.« »Du sollst dem Ewigen deine Schwçre abtragen.« Und ich sage euch: Schwært gar nicht: auch nicht bei dem Himmel ± »er ist Gottes Thron«, auch nicht bei der Erde ± »sie ist der Schemel seiner Fçûe«, auch nicht nach Jerusalem hin ± »es ist die Stadt des groûen Kænigs«. Auch nicht bei deinem Kopfe sollst du schwæren ± du kannst nicht ein einziges Haar weiû oder schwarz machen. Euer Wort soll sein: ja, ja; nein, nein.¬ Was darçber ist, ist vom Bæsen. 11 Ihr habt gehært, daû gesagt worden: »Liebe deinen Nåchsten, ich bin der Ewige.« Und ich sage euch: Liebet eure Feinde und betet fçr die, die euch verfolgen, auf daû ihr werdet Kinder eures Vaters im Himmel¬ ± da er ja seine Sonne herauffçhrt çber Bæse und Gute und Regen gibt çber Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebt, nach Lukas 12, 57 ff., eine weitere Ausfçhrung folgen, die aus dem Stil und dem Zusammenhang fållt. 10. Matth 5, 27 f. und Matth 5, 31 ff.; 19, 9; Mk 10, 11; Lk 16, 18 sowie Matth 19, 4ff.; Mk 10, 6ff. Vgl. I. Kor 7, 10 sowie Gen 1, 27 und 2, 24. Die Ûbersetzungen sagen hier »¼ macht, daû sie die Ehe bricht«; die genaue, richtige Ûbersetzung ist die obige, der Mann, der, ohne den Grund der Unzucht, sich von der Frau scheidet, hat sie, die nun einen anderen heiraten kann, damit zum Ehebruch gebracht. ± Eingeschoben sind hier Såtze asketischer Weltanschauung aus spåterer Zeit, solche folgen dann auch der letzten Matthåusstelle. 11. Matth 5, 33 ff. vgl. 23, 16 ff. Es sind hier, wie auch bisweilen in der haggadischen Ûberlieferung, mehrere Bibelverse ± Lev 19, 12; Ps 50, 14 bzw. Num. 30, 3 und Deut 23, 22 ± ineinander geschoben. Die anderen angefçhrten Bibelsåtze sind Jes 66, 1 und Ps 48, 3. Der Sinn des Ausspruchs ist: Schwur bei Himmel, Erde, Jerusalem oder bei deinem Kopfe ist zwar eigentlich kein Schwur, er gilt nicht als solcher; aber du sollst auch dem fern bleiben, denn Himmel, Erde und Jerusalem sind Gottes, und auch dein Haupt ist nicht dein. Daû »dein Ja ja und dein Nein nein sein soll«, ist ein mannigfach çberliefertes jçdisches Volkswort.
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die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht | auch die Zolleinnehmer das nåmliche? Und wenn ihr Frieden wçnscht euren Brçdern allein, was tut ihr Ûbriges? Tun nicht auch die Heiden das nåmliche. »Du sollst vollkommen sein, wie der Ewige, dein Gott vollkommen ist.« 12 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet; denn in dem Gericht, in welchem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Maûe, mit welchem ihr messet, wird euch gemessen werden¬. Und warum siehst du den Splitter in dem Auge deines Bruders¬, und den Balken in deinem Auge wirst du nicht gewahr?¬ Oder wie darfst du deinem Bruder sagen: Laû mich den Splitter aus deinem Auge herausnehmen¬, und siehe, der Balken ist in deinem Auge.¬ Heuchler, nimm zuerst aus deinem Auge den Balken¬, und dann magst du sehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders¬ herauszunehmen. 13 Wie oft soll ich, so mein Bruder gegen mich fehlt, ihm vergeben! Bis siebenmal? Nicht bis siebenmal, sondern bis »siebzig mal sieben«! 14 Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen erlaût, | wird auch euch euer Vater im Himmel erlassen. Wenn ihr aber den Menschen nicht erlaût, wird auch euer Vater im Himmel nicht eure Verfehlungen erlassen.¬ 15 Habt acht, daû ihr euer Wohltun nicht vor den Menschen çbet, damit es von ihnen beschaut werde. Wenn anders, so habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wann du ein Liebeswerk çbst, posaune nicht vor dir her, wie es die Heuchler in den Gemeindehåusern und 12. Matth 5, 43 ff., Lk 6, 27 f. und 32 ff. sowie Lev 19, 18. Eine spåtere Zeit hat dem Bibelworte »Liebe deinen Nåchsten« das der Bibel fremde und entgegengesetzte Wort »und hasse deinen Feind« angefçgt. Dieses angehångte Wort, das zudem auch hier ganz aus dem Zusammenhang fållt, wçrde dem Ausspruch seine klare Richtung nehmen, die sich auf den Sinn der Nåchstenliebe bezieht. Dafçr hat unser Evangelium offenbar das Schluûwort des Bibelsatzes fortgelassen: »ich bin der Ewige.« Aber dieses Schluûwort gibt erst den notwendigen Auftakt fçr den Satz »daû ihr werdet Kinder eures Vaters im Himmel«. Der letzte Satz »Du sollst vollkommen sein usw.« ist, in haggadischer Auffassung, Deut 18, 13. 13. Matth 7, 1ff.; Lk 6, 37 f. und 41 f. Lukas hat einige kommentierende Zwischensåtze. Das Wort vom Maûe, mit dem ihr messet, und ebenso das vom Splitter und vom Balken sind mannigfach çberlieferte jçdische Volksworte. 14. Matth 18, 21 f., in eine Situation hineingestellt. »Siebzigmal sieben« ist Zitat aus Gen 4, 24, gemåû der alten Ûbersetzung. 15. Matth 6, 14 f., Mk 11, 25. Das Wort ist ein Volkswort. Siehe Sirach 28, 2ff.; Schabb 151b.
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auf den Gassen çben, damit sie von den Menschen gerçhmt werden. Ich sage euch: sie sind ihres Lohnes quitt. Wenn du ein Liebeswerk çbst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut, damit dein Liebeswerk im Verborgenen¬ sei, und dein Vater, der im Verborgenen¬ blicke, wird dir wiedergeben. 16 Dem, der dich bittet, gib, und von dem, der von dir leihen will, wende dich nicht ab. 17 Die arme Witwe legt zwei Pfennige in die Armenbçchse, und sie hat mehr hineingelegt als alle Reichen. Denn die alle haben aus dem, was ihnen Ûberfluû ist, hineingelegt, sie aber hat aus ihrem Mangel hineingelegt. 18 | Ihr habt gehært, daû gesagt worden: »Auge fçr Auge und Zahn fçr Zahn.« Und ich sage euch: Ihr sollt euch dem Bæsen nicht widersetzen. Sondern einem solchen, der dich auf die rechte Backe schlågt, ± wende ihm auch die andere zu. Und dem, der mit dir rechten und deinen Rock nehmen will ± laû ihm auch den Mantel. Und mit einem solchen, der dich fçr eine Meile Weges preût ± geh mit ihm zwei. Und von dem, der dir das Deine wegnimmt, fordere nicht zurçck. 19 Darf man dem Cåsar den Census geben? Auf dem Denar hier ist doch des Cåsars Bild und Aufschrift. Gebt denn das, was des Cåsars ist, dem Cåsar wieder, aber auch das, was Gottes ist, Gott¬. 20 16. Matth 6, 1ff. Die beiden griechischen Worte, die hier gebraucht sind, dikaiosyne und eleemosyne entsprechen hier den hebråischen zedaka und gemilut chessed. Wenn unsere Ûbersetzungen hier das erste Wort mit »Gerechtigkeit« wiedergeben, so ist der innere Zusammenhang des ersten Satzes mit dem zweiten zerrissen, abgesehen davon, daû der erstere dann einen wohl kçnstlichen Sinn erhielte. In der Sprache der Zeit gehæren zedaka und gemilut chessed zusammen. Man braucht hier nur ins Hebråische bzw. Aramåische zurçckzuçbersetzen, um das Richtige zu sehen. ± Der Begriff »im Verborgenen« ist ein ståndiger Ausdruck der damaligen hebråischen Sprache. 17. Matth 5, 42; Lk 6, 30. 18. Mk 12, 43 ff.; Lk 21, 1ff. Zu diesem Satze ist eine kçnstliche Situation hinzugedichtet worden, die Jesus im Tempel die arme Witwe beobachten låût, unter Umstånden, die der damaligen Wirklichkeit fremd sind. Statt der Armenbçchse steht zudem dann hier »die Schatzkammer« des Tempels. Den Schluû bildet dann noch: »sie hat alles, was sie hat, ihr ganzes Leben hineingelegt.« 19. Matth 5, 38 ff., Lk 6, 29 f. sowie Ex 21, 24, Lev 24, 20; Deut 19, 21. Der erste Satz der Antwort ist eine Variation von Jes 50, 6. Der letzte Satz ist nur bei Lukas erhalten und dort mit dem Teil eines bei Matthåus folgenden Satzes, der aber zu unserem Ausspruch nicht mehr gehært, verbunden. Seinen Sinn erhålt unser Ausspruch wie der folgende erst, wenn man erkennt, daû sie beide gegen die Zeloten gerichtet sind. 20. Matth 22, 15 ff.; Mk 12, 13; Lk 20, 20 ff. Unser Ausspruch ist çberall in eine gedichtete Situation hineingestellt. Unsere Ûbersetzungen haben: »gebt dem Cåsar usw.«, anstatt wie der Text ± apodote ± verlangt: »gebt dem Kaiser wieder
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Sorget nicht fçr euer Leben, was ihr esset, noch, fçr euren Leib, was ihr anziehet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als das Kleid? Blickt auf die Vægel des Himmels hin, wie sie nicht såen noch ernten noch sammeln in Scheunen, und euer Vater im Himmel nåhrt sie. Geltet ihr nicht mehr als sie, Schaut die Rosen des | Feldes an, wie sie aufwachsen; sie mçhen sich nicht, und sie spinnen nicht. Und ich sage euch, daû auch Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht angetan war wie eine von ihnen. Wenn aber Gott die Pflanze des Feldes, die heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so bekleidet, um wie viel mehr euch, ihr Kleinglåubigen?¬ Darum sorget nicht also: was sollen wir essen!¬ oder: was sollen wir trinken!¬ oder: was sollen wir anziehen!¬ Nach alledem suchen die Heiden. Es weiû euer Vater im Himmel, daû ihr all dessen bedçrft. Sorget nicht zu morgen hin¬, morgen wird fçr sich selber sorgen. Genug fçr den Tag ist seine Plage.¬ 21 Bittet, und euch wird gegeben werden. Suchet, und ihr werdet finden. Klopfet an, und euch wird geæffnet werden. 22 Wenn ihr betet, sollt ihr nicht wie die Heuchler sein; denn sie lieben, in den Gemeindehåusern und an den Ecken der Straûen zu stehen und zu beten, damit sie den Menschen sichtbar seien. Ich sage euch: sie sind ihres Lohnes quitt. Wenn du betest, »geh in deine Kammer und schlieûe deine Tçr hinter dir« und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen¬ ist, und dein Vater, der im Verborgenen¬ schaut, wird dir wiedergeben. 23 Wenn ihr betet, sollt ihr nicht wie die Heiden plappern; sie meinen nåmlich, daû sie in ihrem Vielreden erhært | werden. Werdet nicht ihnen gleich. Euer Vater weiû, wessen ihr ein Bedçrfen habt, ehe ihr ihn bittet. 24 usw.« Erst durch dieses »wieder« erhålt unser Ausspruch seine eigentliche Pointe. Der letzte Teil des Ausspruches ist Anfçhrung eines Volksspruches ± siehe Awot 3, 7 ±, und vielleicht hatte die alte Ûberlieferung hier auch den Schluû dieses Spruches noch angefçhrt: »Denn du und was dein ist, sind Gottes.« 21. Matth 6, 25 ff.; Lk 12, 22 ff. In den Ausspruch sind kommentierende Zwischensåtze eingefçgt. Die erste Hålfte des vorletzten Satzes und der letzte Satz und ebenso der Ausdruck Kleinglåubige¬ sind Volksworte. Siehe Ssanh 100b sowie Ber 9b. Das Wort Leben¬ am Beginn entspricht dem hebråischen Worte nefesch, das sowohl die Seele als auch das Leben bezeichnet. 22. Matth 7, 7; Lk 1, 19. Es ist eine Reihe kommentierender Såtze angefçgt. 23. Matth 6, 5 f. Das Wort »gehe in deine Kammer usw.« ist Zitat aus Jes 26, 20. 24. Matth 6, 7 f. Es folgt auch ein Wort çber das Fasten, das seine spåte und fremde Herkunft durch ein griechisches Wortspiel, das keinerlei Grundlage im Hebråischen hat, aufweist.
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Gehet hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit ist der Weg, der zur Sçnde hinzieht, und eng ist das Tor und bedrångt ist der Weg, der zum Leben hinzieht. 25 Sucht zuerst das Reich Gottes, und alles wird euch hinzugefçgt werden. 26 Wer hat, dem wird mehr und mehr gegeben werden, und wer nicht hat, von dem wird auch, was er hat, genommen werden. 27 Was dçnkt euch? Wenn ein Mensch hundert Schafe erworben hat, und es verirrt sich eines von ihnen, låût er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das verirrte? Und wenn es geschieht, daû er es findet, dann wahrlich freut er sich mit ihm mehr als mit den neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. Also wird Freude im Himmel sein çber einen Sçnder, der um | kehrt, mehr als çber neunundneunzig Gerechte, die der Umkehr nicht bedçrfen.¬ 28 Die Toten werden erweckt. Ihr habt doch gelesen, was Gott am Dornbusch zu Mose gesprochen hat: »Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.« Nicht ist er Gott von Toten, sondern von Lebenden. 29 Der Schriftgelehrte gleicht einem Eigentçmer, der aus seinem Besitze »Neues und Altes« schenkt. 30 25. Matth 7, 13 f.; Lk 13, 23 f. In den Matthåussatz sind kommentierende Bemerkungen eingefçgt. Unsere Ûbersetzungen sagen hier: »der Weg, der zum Verderben hinfçhrt.« Das betreffende griechische Wort gibt aber schon in der Septuaginta die »Sçnde« wieder. Sçnde und Leben sind alte biblische Gegensåtze. Ebenso ist hier nicht, wie in der Regel çbersetzt ist, von dem »schmalen« Wege gesprochen, sondern das griechische bzw. das zugrunde liegende hebråische Wort bedeutet: »bedrångt, von Bedrångnis heimgesucht.« 26. Matth 6, 33; Lk 12, 31. Der Satz ist in den Ausspruch çber das Sorgen und damit in einen falschen Zusammenhang nachtråglich hineingestellt, in Matthåus ist zudem zu dem Reiche Gottes paulinisch die Gerechtigkeit hinzugesetzt worden. 27. Matth 13, 12 und 25, 29; Mk 4, 25; Lk 8, 18. Dieser Ausspruch hat denselben Sinn wie der vorangehende: Wer das Reich Gottes hat, hat alles, und wer es nicht hat, dem wird alles, was er hat, zu nichts. 28. Matth 18, 12 ff.; Lk 15, 4ff. Der letzte Satz steht nur bei Lukas, er ist ein jçdisches Volkswort, siehe Ssanhedrin 99a. 29. Matth 22, 31 f.; Mk 12, 26 f.; Lk 20, 37 f. und Exod 3, 6. Diese Deutung des Bibelsatzes hat zahlreiche Parallelen im alten jçdischen Schrifttum. Der Sinn ist: Die Stammvåter sind gestorben, aber Gott nennt sich noch immer ihren Gott; denn sie werden wieder leben. 30. Matth 13, 52. Das Wort »Eigentçmer« ist das hebråische baal habbajit, das den bezeichnet, der eine Habe, vor allem Haus und Feld, besitzt. Unser Evangelium hat aus der allgemeinen Tendenz gegen die Schriftgelehrten heraus hier,
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Jeder, der »die Worte Gottes hært und sie tut«, gleicht einem verståndigen Manne, der sein Haus auf den Felsen gebaut hat. Und es fållt der Regen herab, und es kommen die Gieûbåche, und es wehen die Winde und fallen gegen jenes Haus, und das fållt nicht, denn es war auf den Felsen gegrçndet. Und jeder, der »die Worte Gottes hært und sie nicht tut«, gleicht einem tærichten Manne, der sein Haus auf den Sand gebaut hat, und es fållt der Regen herab, und es kommen die Gieûbåche, und es wehen die Winde, und schlagen gegen jenes Haus, und das fållt, und sein Fall ist groû. 31 Ein Mensch hatte zwei Kinder. Er kam zu dem ersten und sprach: »Geh heute und arbeite im Weinberg.« Der antwortete: »Ja, Herr«, und ging nicht hin. Und er kam zum zweiten und sprach ebenso. Und der antwortete: »Ich will nicht«, und nachher bereute er es und ging hin. Wer von den zweien hat den Willen des Vaters getan? 32 Das Reich Gottes gleicht einem Senfkærnchen, das einer nimmt und in seinen Acker såt. Es ist kleiner als aller Samen; wenn es dann aber wåchst, so ist es græûer als alle | Kråuter und wird ein Baum, so »daû die Vægel des Himmels kommen und in seinen Zweigen wohnen«. 33 Das Reich Gottes gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nimmt und mitten hineintut in drei Sea Weizenmehl, und zuletzt ist von ihm alles durchsåuert. 34 Das Reich Gottes ist so, wie ein Mensch die Saat auf die Erde wirft, mit einem dem Denken und Sprechen jener Zeit fremden Ausdruck, zu dem Worte Der Schriftgelehrte¬ noch das einschrånkende Attribut hinzugefçgt: »der unterrichtet ist fçr das Reich des Himmels.« Das Wort »Neues und Altes« ist Zitat aus dem Hohenliede 7, 14; dieser Vers wurde damals auf die Deutung der Heiligen Schrift, die Haggada angewandt. 31. Matth 7, 24 ff.; Lk 6, 47. »Hært und tut« ist biblisches Zitat ± Deut 6, 3; 27, 10 und sonst ± und stets auf das Wort Gottes bezogen. Hier hat eine spåtere Zeit es dann von dem Worte Jesu ausgesagt. 32. Matth 21, 28 ff. Spåter ist ein Gleichnis vom Weinberg angeschlossen worden, das den Tod Jesu und die Verwerfung des jçdischen Volkes ankçndigen soll. 33. Matth 13, 31 f.; Mk 4, 30 ff.; Lk 13, 18 f. Der Schluûsatz ist Zitat aus Daniel 4, 18. Voran geht bei Matthåus ein Gleichnis vom Weizen und Unkraut. Es stammt wohl aus spåterer Zeit und spiegelt wohl Streitigkeiten in der jungen Kirche wider; es ist im Stil und in der Richtung anders als die çbrigen. Øhnliches gilt von dem angeschlossenen Gleichnis vom Fischfange. ± Das Wort »Himmel« im griechischen Text ist in Verbindung mit dem Wort »Reich« immer Benennung Gottes. 34. Matth 13, 33 f.; Lk 13, 20 f. Ein Sea war ein groûes Maû, drei Sea waren etwa vierzig Liter. Die Richtung dieses wie des vorigen Gleichnisses ist: die åuûerlich kleine Kraft und die groûe Wirkung. Der Sauerteig ist ein hierfçr håufiges Gleichniswort jener Zeit.
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und er schlåft dann des Nachts und wacht des Tages, und die Saat sprieût und wåchst in die Hæhe, und er merkt es nicht. 35 Siehe, es geht hinaus der Sående, um zu såen. Und indem er såt, fållt manches neben den Weg, und die Vægel, welche kommen, fressen es auf. Und anderes fållt auf das Steinige, wo es nicht viele Erde hat, und es sprieût schnell auf, weil es nicht eine Tiefe von Erde hat; wenn dann die Sonne aufgeht, wird es verbrannt, und weil es keine Wurzel hat, verdorrt es. Und anderes fållt auf die Dornen, und die Dornen gehen auf und ersticken es. Und anderes fållt auf das gute Land und gibt Frçchte, hier hundert, dort sechzig, dort dreiûig. 36 Das Reich Gottes gleicht dem, daû ein Schatz in dem Acker verborgen ist. Findet ihn ein Mensch, so verbirgt er ihn | wieder, und in seiner Freude geht er sogleich hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker. 37 Das Reich Gottes gleicht dem, daû ein Kaufmann schæne Perlen sucht. Findet er eine einzige Perle von vielem Werte, so geht er hin und veråuûert alles, was er hat, und kauft sie. 38 Das Reich Gottes gleicht dem, daû ein Mensch seinem Sohn die Hochzeit ausrichtet, und er schickt seine Knechte, die zu laden, die zur Hochzeit geladen worden. Und sie wollen nicht kommen. Und er schickt wieder andere Knechte: »Sagt den Geladenen: Siehe, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und meine Mastlåmmer sind geschlachtet, und alles ist bereit. Kommt zur Hochzeit.« Die aber verachten es und gehen fort, der eine auf den Acker, der ihm gehært, der andere zu seinem Geschåfte. Da wird der Mann zornig, und er sagt zu seinen Knechten: »Geht auf die Durchgånge der Straûen und wie viele ihr findet, ladet zur Hochzeit.« 39
35. Mk 4, 26 f. Die Konstruktion des Satzes ist ganz hebråisch. Es ist dann spåter ein kommentierender Satz sowie ein Schluûsatz nach Joel 4, 13, angefçgt worden. 36. Matth 13, 3ff.; Mk 4, 3ff.; Lk 8, 5ff. Auf das Gleichnis folgt dann eine långere kommentierende Ausfçhrung. ± Unsere Ûbersetzungen haben in diesen Gleichnissen immer die Zeit der Vergangenheit, das Imperfektum, was weder der Bedeutung des griechischen Tempus noch des zugrunde liegenden hebråischen ganz entspricht. 37. Matth 13, 44. Das Bild vom Schatze ist ein håufiges Gleichnis jener Zeit. 38. Matth 13, 45 f. Vgl. zu diesem und dem vorigen Gleichnis die Gottesreichsprçche von dem, dem »alles« gegeben wird, S. 101. 39. Matth 22, 1ff.; Lk 14, 16 ff. Bei Matthåus ist zu »Mensch« am Beginn das Wort »Kænig« hinzugefçgt worden und dieses ist dann Subjekt geblieben. In beiden Evangelien ist das Gleichnis danach, besonders im Sinne des Jçngsten Gerichts, erweitert worden.
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Das Reich Gottes gleicht dem Feigenbaum. Wenn er junge Zweige ansetzt und die Blåtter hervorbrechen, dann erkennt ihr, daû nahe ist die Ernte. 40
40. Matth 24, 32. Das Gleichnis grçndet sich auf den Bibelvers, Hoheslied 2, 13, der damals messianisch gedeutet wurde. Es liegt auch wahrscheinlich das Wortspiel zwischen kez = »Ende, messianische Zeit« und kajiz = »Ernte, Sommer« hier zugrunde. Vgl. Hosea 6, 11. Vgl. auch die Erzåhlung Matth 21, 18 ff. und Mk 11, 12 f. sowie S. 84 Anm. 1.
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LEO BAECK AUS DREI JAHRTAUSENDEN Wissenschaftliche Untersuchung und Abhandlungen zur Geschichte des jçdischen Glaubens
SCHOCKEN VERLAG ´ JÛDISCHER BUCHVERLAG ´ 1938
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Quellenverzeichnis von »Aus Drei Jahrtausenden« aus dem Jahre 1938
Die Beitråge dieses Buches sind in ihrer ursprçnglichen Gestalt zuerst an den folgenden Stellen erschienen: Hat das çberlieferte Judentum Dogmen? Zwei Beispiele midraschischer Predigt, Der Menschensohn, Simon Kefa, Sacharja ben-Berechja, Der im Dornbusch Wohnende, Ssefer Jezira, Mittelalterliche Popularphilosophie: in der Monatschrift fçr Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Jahrgang 70, 69, 81, 80, 76, 46, 70 bzw. 76 und 44; Judentum in der Kirche (bisher nur englisch): Im Hebrew Union College Annual 11; Theologie und Geschichte, Griechische und jçdische Predigt, Die Pharisåer: in den Jahresberichten der Berliner Lehranstalt fçr die Wissenschaft des Judentums 1932, 1914 und 1922, der letzte Beitrag in erweiterter Form in der Bçcherei des Schocken Verlags (Nr. 6); Das Evangelium: Bçcherei des Schocken Verlags (Nr. 87); Romantische Religion (auûer den letzten drei bisher noch unveræffentlichten Kapiteln): in der Festschrift der Lehranstalt fçr die Wissenschaft des Judentums (1922); Der alte Widerspruch gegen die Haggada, Drei alte Lieder, Gerechte und Engel, Glauben, Das Reich Gottes: in den Festschriften fçr S. Maybaum (1914), Jakob Freimann (1932), Cåsar Seligmann (1930), Max Dienemann (1933) und Claude C. Montefiore (1928); Das dritte Geschlecht: in der Gedenkschrift fçr George A. Kohns (1935); Ursprung der jçdischen Mystik: in dem Sammelband »Entwicklungsstufen der jçdischen Religion« (1927); Die religiæse Erziehung: in der »Religionspsychologischen Reihe«, ed. Joh. Neumann, II (1931); Die Entwicklung zur sittlichen Persænlichkeit: im Handbuch der Pådagogik III (1930). Ssefer ha-Bahir erscheint hier zum ersten Mal im Druck.
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Einfçhrung in die Neuauflage von »Aus Drei Jahrtausenden« aus dem Jahre 1958
Zur Einfçhrung I. Im Jahre 1938 veræffentlichte Leo Baeck auf Anregung Dr. M. Spitzers, der damals Leiter des Schockenverlags in Berlin war, einen Sammelband religionswissenschaftlicher Aufsåtze, dem er den Titel »Aus drei Jahrtausenden« gab. Er erscheint nun in einem Neudruck. Schon Ort und Datum der ursprçnglichen Veræffentlichung geben einen Hinweis, daû hier die wissenschaftliche Erkenntnis unmittelbar in den Dienst des Lebens gestellt ist, und die Lektçre des Buches beståtigt diese Annahme. Der hæchste Amtstråger des deutschen Judentums wollte mit seinen Interpretationen alter Texte den Lesern des Werks die Mæglichkeit geben, dem eigenen Existenzkampf aus den geistigen Erfahrungen vieler Generationen einen Sinn zu finden. Die sofortige Beschlagnahme und Zerstærung der ganzen Auflage durch Hitlers Staatspolizei, deren zuståndige Organe den Druck vorher zugelassen hatten, beståtigte, daû die Gedanken des auf der Oberflåche vællig unpolitischen Buches als lebendige Kraft von der Gegenseite empfunden wurden. Solche Verbindung von wissenschaftlichem Denken und Lebensgestaltung war fçr Leo Baeck selbst nicht erst das Ergebnis der Notzeit, die ihn zum Fçhrer seiner Gemeinschaft gemacht hatte. Er hatte es sich nie erlaubt, Berufsgelehrter im engeren Sinn des Worts zu sein, obwohl Begabung, Bildungsgang und Neigung ihn schon frçh zu historischen und philosophischen Studien gedrångt hatten. Leo Baeck (1873-1956) war der Sohn und Enkel von Rabbinen, und als Tråger einer verpflichtenden Tradition trat er im Jahre 1897 sein erstes Amt im schlesischen Oppeln an, das er 1907 mit Dçsseldorf vertauschte. Von Ende 1912 bis 479
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Januar 1942 war er Gemeinderabbiner in Berlin. Bei seiner Ankunft war die groûe Synagoge in der Fasanenstraûe gerade errichtet worden. Dieser Bau, mit dem die Judenheit der Hauptstadt ihre Verbundenheit mit Wirtschaft und Stil jener Epoche deutschen Aufstiegs zum Ausdruck gebracht hatte, wurde eine der Hauptståtten seiner Predigttåtigkeit. 1922 wåhlte ihn der Allgemeine Rabbinerverband in Deutschland zu seinem Vorsitzenden, und 1924 wurde er das Haupt der Bnai-Berith- | Logen des Landes, jener weitverzweigten karitativen Organisation, die im gesellschaftlichen und geistigen Leben der Gemeinden, der groûen wie der kleinen, eine erhebliche Rolle spielte. Diese wenigen Daten mægen gençgen, um die Fçlle der praktischen Aufgaben anzudeuten, die Baecks Arbeitskraft wåhrend seiner Berliner Zeit in Anspruch nahm. Aber hinter dem Aufstieg eines Mannes, in dessen Charakterbild Ehrgeiz zu fehlen schien, stand der Glaube der Kollegen und Mitarbeiter an seine geistige und moralische Ûberlegenheit, der alle Parteigegensåtze çberbrçckte. Und fçr ihn selbst war es die Aussicht auf eine akademische Lehrtåtigkeit, die ihn veranlaûte, seinen rheinischen Wirkungskreis mit Berlin zu vertauschen. II. Er hatte immer die Ûberzeugung vertreten, daû der Prediger, welcher seiner Gemeinde die alte Lehre in einer aufs tiefste gewandelten Zeit zu verkçnden hat, in aller Bescheidenheit ein wissenschaftlicher Arbeiter sein mçsse, fåhig, den klassischen Quellenschriften ihren Sinn in selbståndigem Studium abzugewinnen: nur so wçrde er imstande sein, das eigene Wort auf der Kanzel und im Schulraum zu finden. Mit dieser Ûberzeugung stand Baeck in der groûen Tradition des deutschen Judentums, wie sie sich in der ersten Hålfte des neunzehnten Jahrhunderts gebildet hatte. Damals hatte der deutsche Idealismus starke Antriebe zu einem erneuten Geschichtsbild gegeben, das Sprache und Recht, Politik und Religion umfaûte, ein Prozeû, der das Erlæschen der poetischen und philosophischen Produktivitåt der klassischen Zeit çberdauerte. Fçr die Månner, die zu Grçndern der »Wissenschaft des Judentums« wurden, erschien die »Historische Schule« mit ihren Fragestellungen und Methoden als das gegebene Werkzeug zur Læsung eines dringenden Problems: Das spåte Ende des jçdischen Mittelalters, die vergleichsweise rasche Auflæsung der Trennungswand zwischen Judenheit und Umwelt hatte fçr Mitteleuropa einen Gegensatz zwischen weltlicher Bil480
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dung und religiæser Tradition entstehen lassen. Die neuen Wege geschichtlichen Studiums gaben der christlichen Welt tiefere Einsichten in das Wesen der Religion und ihres Zusammenhangs mit der Entwicklung der Kultur. So schien auch fçr das Judentum eine geistige Wiedergeburt, eine neue Harmonie von Glauben und Wissen in dieser Richtung zu liegen. Die beiden Anstalten, an denen Leo Baeck als Student seine judaistische Ausbildung auf der vom Vater frçh gelegten Grundlage empfing, das »Jçdisch-Theologische Seminar« in Breslau und die »Lehranstalt fçr die Wissenschaft des Judentums« in Berlin, hatten beide in diesem Gedankenkreis ihren Ursprung. Als Baeck kurz vor dem Ende | des Jahrhunderts seine Studien abschloû, schienen manche Voraussetzungen solcher geistigen Grundlegung ein wenig fraglich geworden zu sein. Schon die åuûeren Bedingungen des rabbinischen Amtes begannen sich in einer Weise zu wandeln, die jener Verbindung von Forschung und Lehre in seiner Ausçbung nicht gçnstig war. In wachsender Angleichung an das Leben der Allgemeinheit war die Arbeit in den jçdischen Gemeinden im Begriff, vielfåltiger zu werden. Daû Organisation und Routinearbeit das stille Werk der Studierstube zurçckdrången wçrden, erschien als notwendige Folge. Leo Baeck gehærte von Anfang an zu der Gruppe derjenigen, fçr die das alte Ideal des Gelehrten auf der Kanzel in Kraft blieb. Darçber hinaus kam von ihm, wie wir nun rçckblickend sagen dçrfen, ein wichtiger Beitrag zur Eræffnung eines neuen Kapitels in der Geschichte der Wissenschaft des Judentums. Er war zuerst weiteren Kreisen bekannt geworden durch sein 1905 erschienenes Buch »Das Wesen des Judentums«, in dem er sich mit der Stellung auseinandersetzte, die das Geschichtsbild des liberalen Protestantismus seinem Glauben zugewiesen hatte. Ausgangspunkt waren die berçhmten und viel umstrittenen Berliner Universitåtsvorlesungen Adolf Harnacks, »Das Wesen des Christentums«; doch vermied Baecks Buch in charakteristischer Weise offene Polemik, die er in einem Zeitschriftenartikel vorausgeschickt hatte. Der groûe Kirchenhistoriker hatte das Wesen des Christentums in der religiæsen Entwicklung der westlichen Welt gezeichnet, mit dem klassischen, vor die Folie des Pharisåismus gestellten Glauben der Evangelien als Ausgangspunkt, zu dem nach langem Umweg die Moderne mit der vollen Entwicklung ihrer Erkenntniskråfte zurçckzukehren imstande ist. Baeck sieht demgegençber sein Bild des Judentums nicht als einen Prozeû, der mit einer schæpferischen Periode anfångt und dann durch Perioden der Verbildung geht, um im Denken des wissenschaftlichen Zeitalters wieder zur ursprçnglichen Reinheit 481
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zurçckgefçhrt zu werden ± seine Vorgånger, die Vertreter liberaler jçdischer Theologie im neunzehnten Jahrhundert, hatten unter dem Einfluû des Protestantismus åhnliche Konstruktionen versucht ±. Der Kern von Baecks Antwort war eine Herausarbeitung der Idee der jçdischen Tradition, die das biblische Erbe ohne Bruch durch die Kette der Generationen gehen låût, die zum Lehren berufen sind. Diese Ûberwindung der Zeit repråsentiert das Wesen, kein groûer einzelner und keine begrenzte Zeit der klassischen Blçte. Diese Fragestellung nach dem Wesen des Judentums im Flusse der Geschichte ist fçr Baecks Tåtigkeit als akademischer Lehrer und Forscher bestimmend geblieben. Seine Arbeit an der Berliner Lehranstalt galt der Homiletik und ihren | traditionellen Textsammlungen. Er verband damit von Anfang an Vorlesungen und Ûbungen aus dem Gebiet der Religionsgeschichte, was fçr ihn mehr als einen åuûerlichen Zusatz bedeutete. In der Auslegung der Bibel im Midrasch, wie sie sich im Zeitalter der Entstehung des Christentums in Palåstina als Reaktion zum Hellenismus ausgebildet hatte, sah er die Rabbiner am Werk, in der Predigt den wesentlichen Gehalt der biblischen Tradition und ihre Autoritåt dem Wandel der Zeit gegençber sicherzustellen. Sie hatten, ohne der doppelten Wahrheit zu bedçrfen, den Kontakt mit der Umwelt aufrechterhalten, in welcher mit dem Synkretismus aus griechischer Kosmologie und dualistischem Mythos von Persien und Babylon Elemente der kommenden Weltzeit zusammengebracht waren. Baecks Antrittsrede çber »Griechische und Jçdische Predigt« umreiût das Programm der auf diese Probleme gerichteten Lehrund Forschungsarbeit und zeigt seine enge Fçhlung mit der zeitgenæssischen Altertumswissenschaft, fçr die die hellenistische Kultur in den æstlichen Provinzen des ræmischen Reiches in ihrer Bedeutung fçr die Religionsgeschichte ein wichtiger Studiengegenstand geworden war. Nordens Buch zur Formengeschichte religiæser Rede, das in Diskussionen von Theologen und Philologen an der Berliner Universitåt çber die Pauluspredigt in Athen seinen Ursprung hatte, war damals gerade erschienen. Baeck ergriff die Fragestellung und die Ergebnisse der philologischen Religionswissenschaft fçr die Interpretation der rabbinischen Predigt; aber er vergaû niemals das letzte Ziel seiner Arbeit, die Erforschung des Wesens des Judentums. Sein eigentliches Thema blieb die Selbstbehauptung des Eigenen in der Auseinandersetzung mit dem Neuen und Fremden. So kam er zur Entstehungsgeschichte des Christentums, in der er das Ûberwiegen der synkretistischen Elemente bei Paulus als den entscheidenden Faktor sah, und dann 482
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weiterhin zur jçdischen Mystik, wo verwandte Motive durch die Stårke des ursprçnglichen Gedankengefçges im Rahmen jçdischer Tradition gehalten wurden. Ûberall ist Baecks Interesse an der geschichtlichen Welt mit ihren Wandlungen faûbar, aber seine eigentliche Sympathie gehærte dem Bleibenden in der Erscheinungen Flucht. In der »Durchdringung« von Bibel und Umwelt, wie der Leistung der rabbinischen Exegese, fand er das lebendige Vorbild fçr die Arbeit, die seine Studenten vor sich hatten, die Darstellung einer alten Tradition in Denkform und Sprache der Gegenwart. Die Fragestellung von 1913 gibt den Textanalysen wie den umfassenden Erærterungen religiæser Krisen in Vergangenheit und Gegenwart, die der vorliegende Band bietet, ihre innere Einheit. | III. Baeck ist sich bewuût gewesen, daû seine eigene Deutung der Tradition von Voraussetzungen und Erfahrungen ausging, die bei seinen Vorgångern im neunzehnten Jahrhundert noch nicht bestanden hatten. Wo er diesen Wandel unmittelbar zum Thema macht, wie in dem Aufsatz »Theologie und Geschichte«, erwåhnt er den Zusammenhang mit den Diskussionen der frçhen zwanziger Jahre, wie sie durch das Zuendedenken des Historismus bei Troeltsch und durch die radikale Antwort darauf in Karl Barths dialektischer Theologie angeregt wurden. Aber Baeck macht es dabei ganz klar, daû fçr ihn die Stellung des Judentums und damit sein Verhåltnis zur Zeit und Geschichte etwas Eigenartiges bleibt. Harnack und die historische Theologenschule hatten das Christentum als einen wesentlichen Teil des groûen europåischen Entwicklungsprozesses gesehen; die dialektische Theologie verneinte diese Position als eine Verflçchtigung der çbernatçrlichen Offenbarung. Das Judentum aber besitzt nichts in seiner Struktur, was der Kirche als Trågerin des offenbarten Erlæsungsglaubens wirklich entspricht. Und wir kænnen unsererseits hier vielleicht mit einer weiterfçhrenden Beobachtung, die Franz Rosenzweig 1919 niederschrieb, hinzufçgen: Das Judentum, wie es sich auf seiner biblischen Grundlage durch die Arbeit der Schriftgelehrten ausgebildet hatte, war als Ganzes kein Teil jener Entwicklung gewesen, die zur Moderne hinfçhrte; es war seiner Natur nach besonderer Weise zeitlos 1 . Auch im neunzehnten Jahrhundert hatte die Wissenschaft des Ju1. F. Rosenzweig, Geist und Epochen der jçdischen Geschichte, in: Kleinere Schriften, 1919, S. 12-25.
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dentums die Aufgabe verfolgt, durch die kritische Erfassung der Vergangenheit der Gegenwart zu dienen. Aber sie hatte sich dabei, wie Baeck hervorhebt, mehr und mehr auf den Nachweis von Quellen und zeitgenæssischen Zusammenhången beschrånkt, wie sie in etwa der liturgischen oder midraschischen oder philosophischen Literatur vorliegen. Die Frage nach dem Wesen hinter den Wandlungen der Erscheinungen, die allein Vergangenheit und Gegenwart wirklich håtte verbinden kænnen, war drauûen geblieben. Diese Kritik macht es deutlich, wie sehr bei Baeck der Ton vom Werden auf das Sein gerçckt ist, das nur im Strom der Zeiten erkannt werden kann und doch allein das wahre Ziel der Erforschung des Glaubens ist: »Das Volk, welches in seiner Religion und durch sie lebt ¼ und die Religion, welche zu allen Menschen spricht und als allgemeine Wahrheit fçr alle Menschen da sein will und doch allein durch dieses Volk da ist« 2 . | Wenn man so çber die Grenzen historischen Denkens spricht, die Baeck fçr sich entdeckte, ist es vielleicht notwendig, ebenso die tiefgewurzelte Sympathie fçr die Historie zu erwåhnen, die ihn durch sein Leben begleitet hat und die er gern in nachdrçcklichen Bekenntnissen zu Ranke aussprach. Als er schon çber achtzig war, schrieb er in einem Brief wåhrend seiner Lehrtåtigkeit am Hebrew Union College in Cincinnati: »Was mich immer wieder an Ranke ergreift, ist sein frommes Streben gerecht zu sein, beide Seiten an sich herantreten zu lassen, alle erreichbaren Zeugen und Sachverståndigen zu befragen und dann den Mut zum eigenen Urteil zu haben. Der Gesetzeskodex, an den er in seinem Urteil gebunden ist, ist der seiner religiæsen und politischen Ûberzeugungen, beides fçr ihn ja in der Wurzel eins.« Man mæchte glauben, daû der tiefste Grund fçr diese Sympathie mit dem Historiker der Groûen Måchte in dem letzten Satz sichtbar wird. Ranke konnte die Vælker »Gedanken Gottes« nennen 3 , das Miteinander von Bibel, Antike und Germanentum, als das sich ihm die abendlåndische Kultur darstellte, war fçr ihn ein Kunstwerk und ein Symbol der gættlichen Vorsehungen hinter den irdischen Erscheinungen. Solche Betrachtungen sind fçr ihn sehr viel mehr als bloûes Rahmenwerk. Es låût sich zeigen, daû wirklich, wie Baecks Bemerkung andeutet, Rankes historisch-politische Urteile letztlich auf solche Ûberzeugungen zurçckgefçhrt werden kænnen: die Weltgeschichte, der Abschluû seines Lebenswerks, ist 2. Leo Baeck, Lebensgrund und Lebensgehalt, in: Wege im Judentum, 1933, S. 137. 3. Politisches Gespråch, Sonderausg. v. Fr. Meinecke, 1924, S. 39.
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in Absicht und Ausfahrung das groûe Dokument fçr diese Zusammenhånge. Baeck schåtzte die Weitråumigkeit von Rankes Geschichtsbild, die Deutung der einzelnen Nationalgeschichte aus europåischen Zusammenhången; das Epitheton »fromm«, das er auf dessen Forschungsmethode mit ihrer Akribie sorgfåltigen Vergleichens mæglichst vielseitiger Zeugenberichte anwendet, zeigt wieder deutlich, wo er sich ihm verwandt fçhlt. Baeck sah in der Ideenwelt des Berliner Historikers die lebendige Wirkung der prophetischen Deutung der Weltgeschichte, von der er auch die eigene Interpretation von Schicksal und Aufgabe des jçdischen Volkes ableitete. Andererseits ist auch der Grund, der zwischen beiden Månnern strittig bleibt, nicht unwesentlich fçr das Verståndnis von Baecks geistiger Haltung. Ihm fehlte das Interesse an den Machtkåmpfen der Staaten, an ihrer Græûe und ihrem Fall. Dieser unerschæpfliche Stoff Rankes hatte fçr ihn keine positive Bedeutung. Mit Renan wandte er darauf Worte des Jeremias an 4 : »So mçhen sich die Vælker um ein Nichts und die Nationen um ein Entschwindendes und vergehen.« Die religiæsen und | ethischen Erfahrungen der Menschheit sind es, die fçr ihn das Wesentliche der Weltgeschichte bilden. Der Kern dieses Gegensatzes kommt sehr gut in einer Einwendung heraus, die Ranke zu Beginn seiner Reifezeit in dem Dialog »Das politische Gespråch« gegen die eigene Position formuliert hat: »Du nimmst einen so ungeheuren Teil der Lebenskråfte fçr den Staat in Anspruch; womit vergçtest du das, was gibst du ihnen dafçr?« 5 Baeck hat immer Religion als eine Ståtte der Freiheit des individuellen Gewissens verstanden, wo es von dem Einfluû der bestehenden Måchte unabhångig sein darf und soll. Die Stellung der Synagoge an der Auûenseite des Lebens blieb fçr ihn zeitlebens ein religiæses Positivum. Der Glaube an die Zukunft der Menschheit schloû ein gewisses Abseitsstehen in der Gegenwart ein. Die theologische Grundlage seiner Haltung war stark beeinfluût durch die kantische Interpretation des Messianismus, die seit der Jahrhundertwende in Hermann Cohen einen geistesmåchtigen Sprecher hatte. Hinter dieser Haltung war bei Baeck sowohl als bei Cohen ein tiefes Miûtrauen gegen die wachsende Bedeutung des Emotionellen in Politik und Ethik, eine Erscheinung, die wir heute rçckblickend im Zusammenhang mit der Entwicklung zur Massenzivilisation vielleicht deutlicher, aber schwerlich mit geringeren Bedenken sehen. Dieser zeitgeschichtliche Zusammenhang ist nicht ohne Be4. Weltgeschichte, Wege im Judentum, S. 191. 5. Pol. Gespråch, S. 43.
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deutung fçr das Verståndnis der geistesgeschichtlichen Studien dieses Bandes. Die voluntaristischen Elemente, die auf Lebensgestaltung zielen, sind bei Baeck wertbetont gegençber der Sphåre des reinen Gefçhls, der Calvinismus steht seiner Sympathie nåher als das Luthertum. In der Antithese »Klassizismus und Romantik«, die er mit der Typenlehre der Diltheyschule teilt ± Wilhelm Dilthey selbst war in den neunziger Jahren sein Lehrer gewesen ± und als religionsgeschichtliche Kategorie verwendet, fållt bei ihm ein starker Schatten auf die Romantik. Diese Haltung hat wiederum ihre Vorgeschichte in der jçdischen Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Graetz hatte, obwohl nicht unbeeinfluût von der »Historischen Schule«, doch solche Ideen, deren romantischer Charakter ihm deutlich blieb, entschieden abgelehnt. Ein Begriff wie »Volksgeist« fand keinen Platz in seinem Geschichtsbild, auch die entschiedene Ablehnung des Chassidismus, der fçr ihn kabbalistischer Aberglaube bleibt, kommt aus dieser Haltung. Der Rationalismus der Aufklårungszeit, der so deutlich in der Emanzipation der Juden wirksam gewesen war, blieb eine beherrschende Kraft in seinem Geist. Das zwanzigste Jahrhundert brachte hier eine Wendung. Der Nationalismus von Bubers »Reden çber das Judentum« konnte die alten Gegensåtze angesichts der neuen Pro | bleme çbersehen: ihr Verfasser verhehlte nicht, was er der Romantik verdankte. Baecks Anerkennung des nationalen Elements im jçdischen Glauben und sein Interesse an der Geschichte der jçdischen Mystik zeigt seinen Zusammenhang mit dieser neuen Haltung, die bei Buber die Deutung des Chassidismus als einen Teil der jçdischen Glaubensgeschichte mæglich gemacht hatte. Aber der Einfluû solcher letztlich romantischer Denkmotive bei Baeck bleibt begrenzt durch die Erneuerung des rationalen Idealismus Hermann Cohens. Wenn schlieûlich das stårkste Pathos in der Darstellung der Ergebnisse seiner gelehrten Forschung bei Baeck aus dieser Richtung her bestimmt bleibt, mag das auch bei ihm, wie eine Generation frçher bei dem Marburger Philosophen, nicht ohne Zusammenhang mit der politischen Entwicklung der Zeit sein. Die vielen Menschen, die Leo Baeck wåhrend seines letzten Lebensjahrzehnts ihre Verehrung entgegenbrachten, wuûten in der Regel wenig çber seine geschichtliche Stellung als Denker und Forscher. Aber sie kannten den Mann, der in seinem siebenten Jahrzehnt sein Leben riskiert hatte, weil er die Opfer hemmungsloser Brutalitåt in verzweifelter Lage nicht hatte verlassen wollen und nun von den Groûen der Erde dafçr geehrt wurde, und sie sahen, daû er einen guten Teil seiner Kraft und seiner Zeit darauf verwand486
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te, jedem als Freund zu begegnen, der ihn um Rat und Hilfe aufsuchte. All das, sein lebenslanges Bemçhen um die Interpretation der jçdischen Glaubensurkunden, der schweigende Heroismus seines Widerstandes und die Demut in der Menschenfreundlichkeit seiner letzten Jahre, hat ein gemeinsames Motiv, die Verteidigung der Humanitåt und ihrer tiefsten Antriebe. London, September 1958
Hans Liebeschçtz
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LEO BAECK DAS EVANGELIUM ALS URKUNDE DER JÛDISCHEN GLAUBENSGESCHICHTE
Berlin 1938 SCHOCKEN VERLAG ´ JÛDISCHER BUCHVERLAG