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German Pages 262 [264] Year 2017
Nora Gädeke / Wenchao Li (Hg.)
Leibniz in Latenz Überlieferungsbildung als Rezeption (1716–1740)
Philosophie Franz Steiner Verlag
Studia Leibnitiana – Sonderhefte 50
Leibniz in Latenz
studia leibnitiana sonderhefte Im Auftrage der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, Wenchao Li, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok † In Verbindung mit Stefano di Bella, Francois Duchesneau, Michel Fichant, Emily Grosholz, Nicholas Jolley, Klaus Erich Kaehler, Eberhard Knobloch, Massimo Mugnai, Pauline Phemister, Hans Poser, Nicholas Rescher und Catherine Wilson Band 50
Nora Gädeke / Wenchao Li (Hg.)
Leibniz in Latenz Überlieferungsbildung als Rezeption (1716–1740)
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Leibniz-Stiftungsprofessur der Leibniz Universität Hannover
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11474-5 (Print) ISBN 978-3-515-11481-3 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS
WENCHAO LI (Hannover/Potsdam) Vorwort ........................................................................................................ 7 NORA GÄDEKE (Hannover) Einführung „und werden sich eine Menge von gelehrten Geheimnissen unter seinen Sachen finden“: Zur Frühzeit der Leibniz-Rezeption und ihrer Quellenbasis ................................................................................. 9 SABINE SELLSCHOPP (Potsdam) Versprengte Überlieferung von Leibnitiana. Ein Überblick auf der Basis des Arbeitskatalogs der Leibniz-Edition .............................. 33 FRITZ NAGEL (Basel) Leibniz-Briefe in Basel. Handschriftliche Textzeugen außerhalb des Bernoulli-Briefcorpus .......................................................................... 47 CHARLOTTE WAHL (Hannover) Zur Provenienz der Gothaer Leibnitiana Chart. A 448–449 und zum umstrittenen Leibnizbrief ............................................................ 63 STEPHAN WALDHOFF (Potsdam) Das Warschauer Material: Quellen und Rezeptionsspuren ........................ 85 STEFAN LUCKSCHEITER (Potsdam) Joachim Friedrich Feller (1673–1726) als Leibniz-Herausgeber............. 117 NORA GÄDEKE (Hannover) Edition im Netzwerk – Christian Kortholts Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad diversos und die Sammlung seines Vaters Sebastian Kortholt ............................................................. 135 MALTE-LUDOLF BABIN/ANJA FLECK (Hannover) Johann Daniel Gruber und sein Projekt einer Leibniz-Edition ................ 163
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Inhaltsverzeichnis
STEFAN LORENZ (Münster) „[…] quelques objections […] par un celebre Protestant Lutherien illustre & du premier ordre entre les Sçavans“ Naudé, Löscher und Leibniz: eine Debatte über die Vollkommenheit Gottes im Vorfeld der Theodizee (1707–1709) .................................................. 185 URSULA GOLDENBAUM (Atlanta) Eine frühe Rezeption von Leibniz’ Dynamik oder Was wir von der Korrespondenz zwischen Louis Bourguet und Jacob Hermann lernen können ........................................................................................... 223
ANHANG Personenregister ....................................................................................... 255
VORWORT Die im vorliegenden Band gesammelten Beiträge gehen auf eine internationale Fachtagung der Leibniz-Stiftungsprofessur der Universität Hannover und der Landeshauptstadt Hannover (LSP) zurück, die vom 23.–24. Mai 2014 in der Leibniz Universität Hannover stattfand. Der Zeitraum von Gottfried Wilhelm Leibniz’ Tod (1716) bis zum Herrschaftsantritt des roi philosophe Friedrich des Großen (1740) war, mit wenigen Ausläufern, eine der spannendsten, geheimnisvollsten und prägenden Zeitphasen der Leibnizforschung; es war der Zeitraum, in dem Leibniz’ Bild noch von seinen Zeitgenossen mitbestimmt wurde, in dem neben der fixierten schriftlichen Überlieferung (nicht zuletzt in Form der erscheinenden Briefeditionen) noch die lebendige, volatile Erinnerung von Korrespondenten und Gesprächspartnern in der öffentlichen Fama stand: Leibniz in Latenz! Die genannte Tagung hatte es zum Ziel, erstmals diese stark durch Überlieferungsbildung des Leibniz-Materials gekennzeichnete, unmittelbare Zeit nach Leibniz’ Tod zu beleuchten. Die Initiative der Tagung geht auf die Mitherausgeberin Dr. Nora Gädeke (Hannover) – gegenwärtig wohl die beste Kennerin des Briefwechsels von Leibniz und dessen Netzwerkes in der europäischen Gelehrtenrepublik – zurück. Ihr Mitherausgeber des vorliegenden Bandes und der Unterzeichnende dieses Vorwortes hatte auf der Tagung einen Vortrag unter dem Arbeitstitel „[M]ühsame Zusammensammlung so vieler und mannigfaltiger nützlicher Nachrichten“ über C. G. Ludovicis Historie der Leibnitzischen Philosophie1 gehalten; Michael Kempe (Hannover) sprach über Naturtheodizee und Alpendiskurs. Leibniz-Rezeption bei J. J. Scheuchzer (1672–1733)2. Eine Verschriftlichung ihrer Beiträge sind beiden Referenten bis zum Redaktionsschluss nicht gegönnt. Dies sei hier mit Bedauern und Bitte um Nachsicht vermerkt. Für die Erteilung der Druckerlaubnis aus ihren Beständen sei der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover gedankt. Die redaktionelle Betreuung und das Lektorat lagen dankbar in den Händen von Esther-Maria Errulat (Hannover/Kiel). Wenchao Li Hannover/Potsdam/Berlin, am 23. Oktober 2016.
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Siehe C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie zum Gebrauch seiner Zuhörer, Leipzig 1738; Nachdruck: Hildesheim 1966. Siehe jedoch M. Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie (= Frühneuzeit-Forschungen 10), Epfendorf (bei Tübingen) 2003.
EINFÜHRUNG „und werden sich eine Menge von gelehrten Geheimnissen unter seinen Sachen finden“: Zur Frühzeit der Leibniz-Rezeption und ihrer Quellenbasis* Von Nora Gädeke (Hannover) Leibniz’ gigantischer schriftlicher Nachlass ist bekanntlich immer noch nicht vollständig publiziert. Editionen und Editionsprojekte gibt es seit über 300 Jahren; sie sind bereits selbst Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Untersuchungen1. Auch der vorliegende Band mit seinem etwas kryptischen Titel handelt von der Beschäftigung mit unveröffentlichten Leibnitiana – in der Frühzeit noch vor oder bald nach 1716, bis ungefähr zur Jahrhundertmitte, also in etwa der ersten Generation nach Leibniz’ Tod. Edition spiegelt immer, darauf hat Stefan Lorenz hingewiesen2, auch Rezeption; dieser Aspekt steht hier im Mittelpunkt. Das heißt: es werden Beispiele früher Leibnizrezeption behandelt, aus einer Perspektive, die vor allem
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Allen Referentinnen und Referenten sei herzlich gedankt für das große Engagement in den verschiedenen Phasen des Bandes, jetzt zum Abschluss für die Diskussion dieser Einführung, die Hinweise und die förderliche Kritik. Dank geht auch an Joachim Bahlcke, der als Diskussionsleiter terminologische Klärung angestoßen hat. Dass eine Idee, die vor über 15 Jahren aufkam und zunächst im kleinen Kreis, vor allem mit Sabine Sellschopp, Herbert Breger und Stephan Waldhoff sowie mit Ursula Goldenbaum, Rüdiger Otto, Arnaud Pelletier und Alexander Schunka, besprochen wurde, aus dem Latenzstadium in das der Manifestation treten konnte, ist der Leibniz-Stiftungsprofessur Hannover und ihrem Inhaber Wenchao Li zu verdanken. Er hat das Projekt aufgegriffen, getragen, vorangetrieben und es auf mannigfaltige Weise unterstützt – nicht zuletzt in der Betreuung durch sein Team, vor allem Ute Beckmann, Simona Noreik und in der Redaktionsphase Esther-Maria Errulat. Ihnen gilt besonderer Dank. E. Ravier: Bibliographie des œuvres de Leibniz, Paris 1937; zu den großen Editionen des 19. Jahrhunderts vgl. A. Heinekamp (Hrsg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz (= Studia Leibnitiana, Supplementa 26), Wiesbaden 1986; zur Geschichte der Akademie-Ausgabe vgl. W. Li (Hrsg.): Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition, Berlin 2012. Einen kurzen Überblick über die Geschichte der Leibniz-Editionen gibt St. Lorenz: „‚Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind‘: Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe“, in: A. Sell (Hrsg.): Editionen – Wandel und Wirkung (= Editio – Beihefte 25), Tübingen 2007, S. 65–92. St. Lorenz: „Leibniz-Renaissancen“ (wie Anm. 1), v. a. S. 69.
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Nora Gädeke
biobibliographisch, nämlich prosopographisch und bibliotheksgeschichtlich bestimmt ist: Rezeption im Spiegel von Handschriftensammlungen und frühen Editionen bzw. Editionsplänen. Eine Rezeption, die auf Multiplikation, auf Leibniz’ Positionierung im Buchmarkt ausgerichtet war (auch wenn sie nicht immer dort ankam), oder eben das gerade nicht, da von vorneherein auf einen kleinen Kreis beschränkt. Rezeption in einem abgegrenzten Zeitraum, unter ganz besonderen, einzigartigen Bedingungen; insbesondere deshalb, weil noch viele Zeitgenossen am Leben waren, die ihre persönliche Erinnerung einbringen konnten, für die Leibniz Gesprächsstoff war – und von denen einige aktiv an seiner säkularen Memoria arbeiteten3. Ein auf Zeitzeugen basierendes Gedächtnisbild ist lebendiger und nuancenreicher als jede spätere Traditionsbildung oder Rekonstruktion4; aber es ist auch volatil und in verschiedener Hinsicht vom Entschwinden bedroht; Basis für Nachhaltigkeit ist ein schriftliches Substrat. Dieses war bei Leibniz auch in überreichem Maße vorhanden – aber es war noch kaum in Erscheinung getreten; es ruhte im Nachlass in Hannover und anderswo, über ganz Europa verstreut, insbesondere bei den Korrespondenten. Und sein Hervortreten war nicht immer unumstritten. Für uns gehört Leibniz zu den kanonisierten Gestalten der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte. Martin Mulsow findet in seinem Werk Prekäres Wissen (das eben gerade die andere Seite, das Abseits, behandelt) hierfür den Ausdruck „Wissensbourgeoisie“5. Die Untersuchung Detlef Dörings zur frühen Leibniz-Rezeption in Leipzig6 legt freilich den Schluss nahe,
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Dazu am Beispiel eines Kreises junger Leibniz-Anhänger, der sich um den Berliner Hofbibliothekar und Orientalisten Mathurin Veyssière La Croze gruppierte, N. Gädeke: „‚… daß die Nachwelt von seinen Meriten und grossen Capazität nicht viel mehr als ein blosses Andencken von seiner Gelehrsamkeit aufweisen kann‘. Zur frühen Leibnizrezeption nach 1716“, in: „Für unser Glück oder das Glück anderer“. Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, Nachtragsband, hrsg. von W. Li u. a., Hildesheim/Zürich/New York 2017, S. 129–149. Beispiele für diese ‚lebendige‘ Erinnerung bilden Aussagen Ernst Christoph Graf von Manteuffels in der Korrespondenz mit Johann Christoph Gottsched und Christian Wolff. Manteuffel ist nicht als Leibniz’ Korrespondent bezeugt, muss mit diesem jedoch oft in Berlin und auch in Leipzig zusammengetroffen sein; vgl. Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel, Bd. 6: Juli 1739–Juli 1740. Unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, hrsg. von D. Döring, F. Menzel, R. Otto und M. Schlott, Berlin 2012, Brief Manteuffels an Gottsched vom 23. Februar 1740 (Nr. 133), hier S. 379, sowie Der Briefwechsel zwischen Christian Wolff und Ernst Christoph von Manteuffel 1738 bis 1748, Transkriptionen aus dem Handschriftenbestand der Universitätsbibliothek Leipzig (Signaturen MS 0345, MS 0346, MS 0347), Open-Access-Publikation des DFG-Projekts Historisch-kritische Edition des Briefwechsels zwischen Christian Wolff und Ernst Christoph Graf von Manteuffel (http://www.qucosa.de/recherche/frontdoor/?tx_slubopus4frontend[id]=10647 [eingesehen am 11.12.2016]), hier die Briefe Wolffs an Manteuffel Nr. 194 (16. November 1744), Nr. 244 (17. Juli 1746), Nr. 294 (19. Dezember 1746), Nr. 408 (19. Dezember 1747) sowie der Brief Manteuffels an Wolff Nr. 245 (17. Juli 1746). M. Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, S. 19. D. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse 74/4), Stuttgart/Leipzig 1999.
Einführung
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dass Leibniz nicht von Anfang an dazu gehörte; nicht so sehr wegen des prekären Zustands des handschriftlich überlieferten Nachlasses als vielmehr, weil eine lebenspraktische Vorsicht ein öffentliches Bekenntnis – wie es mit einer Edition gegeben ist – in den 1720er/1730er Jahren nicht immer opportun erscheinen lassen mochte. Der bekennende Leibnizianer Gottsched zum Beispiel gerät ins Fadenkreuz konzentrierter Polemik und obrigkeitlicher Maßnahmen gegen die „Leibniz-Wolffsche Philosophie“7. Ohne sogleich Schlüsse zu ziehen, muss man dem zur Seite stellen, dass aus dieser Zeit neben ein paar (meistens kleineren) Editionen8 vor allem Editionsprojekte überliefert sind, die nicht zum Druck kamen; wenn nach den Gründen für das Scheitern zu fragen ist (wobei sich für die einzelnen Fälle ganz unterschiedliche Antworten einstellen mögen), sind auch derartige ‚klimatische‘ in Betracht zu ziehen. Gleichwohl war diese Zeit eine Phase intensiver Beschäftigung mit Leibniz – aber nicht immer sichtbar für das Lesepublikum des Buchmarktes. Dem war auf der Tagung nachzugehen, davon handelt dieser Band. Mit der in den 1730er Jahren einsetzenden Rehabilitierung Wolffs9, vor allem seit den 1740er Jahren, ändern sich die Bedingungen für die Veröffentlichung von Leibniz’ Œuvre: mit dem Auslaufen der Skepsis gegen seine Rechtgläubigkeit, mit dem Herrschaftsantritt Friedrichs II., der ihm in vielen Äußerungen einen Spitzenplatz unter den europäischen Gelehrten zuweist10, aber auch mit den ersten Säkularfeiern 174611, mit 7
Ebd., v. a. S. 47–82 (zu Gottsched S. 60–82), sowie R. Otto: „Gottscheds Leibniz“, in: F. Beiderbeck/St. Waldhoff (Hrsg.): Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 191–263, hier v. a. S. 211 f. 8 Etwa E. Ravier: Bibliographie (wie Anm. 1), Nr. 334, Nr. 339, Nr. 345. Eine Ausnahme bildet M. G. Hansch: Godefridi Guilielmi Leibnitii Principia philosophiae, more geometrico demonstrata, Frankfurt a. M./Leipzig 1728, Reprint Hildesheim 2016, mit einem Vorwort von St. Lorenz (= Christian Wolff: Gesammelte Werke, III. Abt., Bd. 146: Materialien und Dokumente) mit Auszügen aus dessen Korrespondenz mit Leibniz; dazu jetzt auch A. Pelletier: „La réception perdue: la monadologie démontrée de Michael Gottlieb Hansch“, in: M. Fichant/A. Pelletier (Hrsg.): Leibniz après 1716: comment (ne pas) être leibnizien? (= Les Études Philosophiques 2016/4), Paris 2016, S. 475–493; Cl. Schwaiger: „Der Streit zwischen Michael Gottlieb Hansch und Christian Wolff um die Aneignung des Leibniz’schen Erbes“, in: „Für unser Glück oder das Glück anderer“. Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, Bd. 2, hrsg. von W. Li u. a., Hildesheim/Zürich/New York 2016, S. 87–97. 9 Zum Verlauf der Affäre bis zu Wolffs Rehabilitation vgl. A. Beutel: „Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen. 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie“, in: U. Köpf (Hrsg.): Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Festschrift für Rolf Schäfer, Tübingen 2001, S. 159–202 sowie C. Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 389–441. 10 So etwa im Brief an Voltaire vom 22. November 1738, gedr. in: Correspondance de Frédéric II, roi de Prusse, Bd. 6: Correspondance de Frédéric avec Voltaire 1 (= Œuvres de Frédéric le Grand 21), Berlin 1853, S. 274–277, hier S. 275 (Textstelle auch unter http://friedrich.unitrier.de/de/oeuvres/21/275/text/ [eingesehen 11.12.2016]). Zahlreiche weitere Belege bei Eingabe von „Leibniz“ unter http://friedrich.uni-trier.de/de/oeuvres/23/id/001000000/meta/ (eingesehen am 11.12.2016). 11 Zu den Säkularfeiern in Leipzig vgl. D. Döring: Philosophie (wie Anm. 6), S. 9–14; zu einer Säkularfeier in Königsberg ebd., S. 11, Anm. 12.
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Nora Gädeke
dem publizistischen Wirken Gottscheds12, mit dem Erscheinen größerer Briefeditionen13. Daraus erklärt sich die ungefähre Abgrenzung unseres Zeitraums. Die Kennzeichnung dieser Phase mit dem Begriff „Latenz“ war zunächst nur im Sinne eines Arbeitstitels gedacht, in Anlehnung an dessen Verwendung im medizinisch-psychologischen Bereich14. Aber dann zeigte es sich, dass dieser Begriff auch für die Kulturwissenschaften geeignet ist. Wird in einem Sammelband von 2007 Latenz generell charakterisiert „als spezifischer Modus des Verborgenseins und der Wirksamkeit aus dem Verborgenen“15, so hat Hans Ulrich Gumbrecht16 2011 „als Verkörperung von und Metapher für Latenz“ das Bild des „blinde[n] Passagier[s]“ evoziert, der sich auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffs unter die Passagiere mische, sich zeige und wieder verschwinde. „Einer Situation von Latenz gehen nicht notwendig Akte der Unterdrückung oder Verdrängung voraus […]. Was latent ist, das kann aus vorausgehender Gegenwärtigkeit verschwunden, aber auch nie wahrnehmbar gewesen sein“17. Dass Leibniz nie wahrnehmbar gewesen sei, kann man nun wirklich nicht behaupten. Er war zu Lebzeiten wirklich „der berühmte Herr Leibniz“18, das „Haupt der Gelehrten in Teutschland“19 – eine Persönlichkeit, über die man sprach. Er selbst war sich dieses guten Namens wohl bewusst, den er auch gepflegt hat; er dürfte für ihn, laut Heinrich Schepers, auch notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung seines zentralen Lebensprojektes der Scientia generalis gewesen sein20. Nachhaltigkeit über den Tod hinaus war damit aber noch nicht impliziert. Es ist hinlänglich bekannt, dass Leibniz einem dauerhaften öffentlichen Interesse an 12 Dazu R. Otto: „Gottscheds Leibniz“ (wie Anm. 7), v. a. S. 223–243. 13 Neben der (hier außer Acht bleibenden) Edition von P. Desmaizeaux: Recueil des diverses pièces, sur la philosophie, la religion naturelle, l’histoire, les mathématiques etc. par Mrs. Leibniz, Clarke, Newton, et autres Autheurs célèbres, Amsterdam 1720, sind vor allem zu nennen die Viri illustris Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad diversos, die Christian Kortholt, Leipzig, 1734–1742 herausbrachte (vgl. dazu den Beitrag von Nora Gädeke in diesem Band), die Sammlung einiger vertrauten Briefe, welche zwischen […] G. W. von Leibniz und […] Daniel Ernst Jablonski […] gewechselt worden sind, von Johann Erhard Kapp, Leipzig, 1745 herausgebracht (vgl. dazu den Beitrag von Stephan Waldhoff in diesem Band) sowie das Virorum celeberr. Got. Gul. Leibnitii et Johan. Bernoullii commercium philosophicum et mathematicum, Lausanne/Genf 1745. 14 Vgl. Art. „Latent, Latenz“ von H. Janssen/K.-H. Brune in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, hrsg. von J. Ritter und K. Grüber, Darmstadt 1980, Sp. 43–47. Catharina Salamander danke ich für Hinweise dazu. 15 Th. Khurana/St. Diekmann: „Latenz. Eine Einleitung“, in: St. Diekmann/Th. Khurana: Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 9–13, hier S. 9. 16 H. U. Gumbrecht/Fl. Klinger: Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011. 17 H. U. Gumbrecht: „Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie. Dimensionen von Latenz“, in: H. U. Gumbrecht/Fl. Klinger: Latenz (wie Anm. 16), S. 9–19, Zitate S. 10 bzw. S. 10 f. 18 E. Chr. Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biographie, München 2000, überarbeitete Neuauflage ebd. 2016. 19 Vgl. das Zitat aus Neuer Büchersaal, LVII. Öffnung (1716), bei D. Döring: Philosophie (wie Anm. 6), S. 29. 20 Einleitung zu A VI, 4, Teil A, v. a. S. XLIX.
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seiner Person wenig Nahrung gegeben hat. Das „Verschwinden unter Deck“ hat er gern und oft praktiziert21. Seine Briefschaften hat er zwar über Jahrzehnte gehortet und sorgsam verwahrt, aber auf Anfragen, ob daraus etwas publiziert werden könne, eher ablehnend reagiert; wenn das trotzdem erfolgte, war er definitiv ‚not amused‘22. Gelegentliche Überlegungen, selbst Stücke aus seinen Korrespondenzen zu veröffentlichen, blieben zumeist unausgeführt23. Erst in den letzten Lebensjahren scheint er sich, auch mit seinen Briefen, stärker einem breiteren Lesepublikum zuzuwenden24. Diesem war auch sein immenses Œuvre weitgehend unbekannt geblieben, von dem Leibniz das wenigste selbst in die Öffentlichkeit gegeben hat25. Es fehlt nicht an Erklärungen hierfür: sie reichen vom vorzeitigen Tod26 über „Verzettelung“ und kreatives Chaos, in dem der Entwurf Vorrang vor dem Abschluss hat27, bis zur übermäßigen Beanspruchung durch Reisen und Korrespondenzen28 oder die dienstlichen Aufgaben29. Zu berücksichtigen wäre aber auch hier wieder, dass Leibniz in vielen Lebensphasen bei seinem Schaffen nicht in erster Linie den Buchmarkt im Auge hatte. Auch wenn das, was zum Zeitpunkt seines Todes gedruckt vorlag, über 300 Nummern in der Bibliographie Raviers umfasst (freilich größtenteils Zeitschriftenaufsätze, und unter den Schriften etliche anonym erschienene Texte)30, war den Zeitgenossen die Gefahr des Verschwindens „aus vorausgehender Gegenwärtigkeit“ bewusst: 1718 wird in einem Leipziger Journal befürchtet, von Leibniz’ „Meriten“ und „Capazität“ werde der Nachwelt „nicht viel mehr als ein blosses Andencken“ bleiben (da er eben den größten Teil seines Lebens mit Reisen und Korrespondenzen zugebracht habe)31.
21 Dazu jetzt der Sammelband von W. Li/S. Noreik (Hrsg.): G. W. Leibniz und der Gelehrtenhabitus. Anonymität, Pseudonymität, Camouflage, Köln/Weimar/Wien 2016. 22 Zu Leibniz’ verärgerter Reaktion, als Paul Pellison-Fontanier ihre Korrespondenz veröffentlichte, vgl. A I, 8, Einleitung, S. XXXVI f. Eine vorsichtige Distanzierung von der Edition seiner Briefe an Oldenburg durch John Wallis, die er, auf dessen Bitte hin, genehmigt hatte, findet sich in A I, 17 N. 357. 23 Vgl. St. Lorenz: „Leibniz-Renaissancen“ (wie Anm. 1), S. 70. 24 Manifest ist das vor allem an der von Leibniz initiierten Publikation aus seinen sprachwissenschaftlichen Korrespondenzen, den Collectanea Etymologica, Hannover 1717, postum von J. G. Eckhart herausgegeben, sowie der von ihm intendierten Veröffentlichung A Collection of Papers, Which passed between the […] late Mr. Leibniz and Dr. Clarke, […], Relating to the Principles of Natural Philosophy and Religion, London 1717. 25 Es genügt hier der Hinweis auf sein bekanntes Diktum von 1697 gegenüber Jacob Bernoulli: „Scripsi innumera et de innumeris sed edidi pauca et de paucis“ (A III, 7 N. 88). 26 Vgl. das Zitat bei D. Döring: Philosophie (wie Anm. 6), S. 34. 27 Zum Topos der Verzettelung vgl. ebd., S. 30. 28 Vgl. das bei Anm. 31 erwähnte Diktum. 29 So etwa R. Doebner: „Leibnizens Briefwechsel mit dem Minister von Bernstorff und andere Leibniz betreffende Briefe und Aktenstücke aus den Jahren 1705–1716“, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen (1881), S. 205–380, hier S. 226. 30 Leibniz’ eigene Publikationen umfassen bei E. Ravier: Bibliographie (wie Anm. 1), Nr. 1–251; hinzu kommen die Publikationen von Leibnitiana durch die Zeitgenossen bis 1716 (ebd., Nr. 254–324). 31 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, auf das Jahr MDCCXVIII, Leipzig 1718, S. 62, Zitat bei D. Döring: Philosophie (wie Anm. 6), S. 29.
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Nora Gädeke
Gleichzeitig war Leibniz aber eben doch nicht nur mit seiner von Verflüchtigung bedrohten Fama (oder in der Transformation der „Leibniz-Wolffschen Philosophie“32) in der Öffentlichkeit präsent. Auch wenn wir von den zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen oder auch seinen Editionen absehen: in den letzten Lebensjahren war er mit der Théodicée an die Öffentlichkeit getreten. Bald nach seinem Tod erschienen die Collectanea Etymologica und vor allem der Clarke-Dialog, 1720 die Monadologie-Übersetzung und der Recueil Pierre Desmaizeaux’ mit einigen bereits gedruckt vorliegenden Stücken aus Leibniz’ Korrespondenzen33. Von den erst Jahrzehnte später gedruckt erscheinenden Nouveaux Essais muss zumindest Kenntnis im kleinen Kreis vorhanden gewesen sein: 1704/1705 hatte Leibniz das Manuskript einigen Gesprächspartnern aus dem Berliner Refuge zugänglich gemacht34. Schließlich – davon handelt der Beitrag Stefan Luckscheiters in unserem Band – hatte der einstige Amanuensis Joachim Friedrich Feller seinen früheren Dienstherrn dem Publikum präsentiert, in Briefauszügen schon zu dessen Lebzeiten (und nicht geringem Ärger) und verstärkt, zudem mit einer anekdotenhaften biographischen Skizze, bald nach seinem Tod35. Dem zur Seite zu stellen wären die auf Informationen eines anderen Amanuensis, nämlich Johann Georg Eckharts, beruhenden Elogen Fontenelles und Christian Wolffs mit weiteren biographischen Informationen36 sowie weitere Elogen und kleine Lebensbeschreibungen insbesondere in Leipziger Journalen37. Aus all dem mochte das Publikum nicht nur neue Texte und Informationen erhalten, sondern auch bereits das erfahren, was heute quasi Gemeingut ist, dass Leibniz zwar wenig publiziert, aber ungeheuer viel geschrieben und mit zahlreichen gelehrten Kapazitäten sowie Angehörigen europäischer Fürstenhäuser korrespondiert hatte38 – und dass hier veritable Schätze zu entdecken sein mochten39: Leibniz’ Nachlass als ‚Wundertüte‘. Das Zitat, das meiner Einführung vorangestellt ist – es stammt aus einem Brief Eckharts an Sebastian Kortholt – spricht für sich40. 32 Vgl. ebd., S. 35–43. 33 E. Ravier: Bibliographie (wie Anm. 1), Nr. 67 sowie 344, 348, 349; N. 328; Nr. 327, 351; Nr. 352, N. 354. 34 Von diesen ist insbesondere Alphonse Des Vignoles aus dem Kreis um La Croze zu nennen, der den Text im Januar 1705 einer kritischen sprachlichen Revision unterzogen hatte (vgl. A I, 24, Einleitung, S. LXXXV). 35 J. F. Feller: Monumenta varia inedita variisque linguis conscripta, Jena 1–12, 1714–1718 und vor allem ders.: Otium Hanoveranum, sive Miscellanea, ex ore et schedis […] Godofr. Guilielmi Leibnitii, Leipzig 1718. 36 B. Le Bovier de Fontenelle: „Eloge de M. Leibnitz“, in: Histoire de l’Académie Royale des sciences Année 1716 (1718), S. 94–128; Chr. Wolff: „Elogium Godofredi Guilielmi Leibnitii“, in: Acta Eruditorum (Juli 1717), S. 322–336. 37 Dazu N. Gädeke: „Zur frühen Leibniz-Rezeption“ (wie Anm. 3), mit Anm. 61–65. 38 So von Wolff: „Elogium“ (wie Anm. 36), S. 336: „Prolixum nimis foret, si nomina virorum illustrium ac eruditorum, immo etiam Principum, recensere vellemus, cum quibus ipsi commercium epistolicum intercessit“. 39 Ebd.: „Multa adhuc praeclara in MSC ac schedis ejus latent, quae in Bibliotheca Regia Hanoverana nunc servantur“. 40 Eckhart an Kortholt vom 6. April 1717; gedr.: Chr. Kortholt (Hrsg.): Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad diversos, Bd. 4, Leipzig 1742, S. 116–118, hier S. 117. Vgl. dazu den Beitrag von Nora Gädeke im vorliegenden Band.
Einführung
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Dass es Eckhart ist, der den Leibniz-Nachlass als Hort von Geheimnissen bezeichnet (was durch die Veröffentlichung dieses Briefes durch Christian Kortholt auch der Allgemeinheit zur Kenntnis kam), spricht ebenfalls für sich. In Hannover, als Leibniz’ Nachfolger, befand er sich in bevorzugter Position: an der Quelle. Oder eher: vor den Toren einer Schatzkammer. Laut seiner Aussage (wieder gegenüber Sebastian Kortholt) war diese aber auch ihm, der selbst Editionspläne hegte, zunächst zumindest teilweise verschlossen. Aber neben dieser einen Wundertüte mit dem Material aus Hannover (pointiert kann man wohl sagen „von Leibniz’ Schreibtisch“41) gab es ja noch eine zweite: die Briefe, die er seinen zahlreichen Korrespondenten geschickt hatte und die zu einem guten Teil bei diesen noch vorhanden waren. Und sie öffnet sich in unserem Zeitraum, trotz des nicht immer günstigen Klimas, bereits ein bisschen. Das kann ein kurzer Blick in Raviers Kapitel zu den Leibniz-Editionen ab 1717 zeigen (dem eine instruktive Darstellung der frühen Editionsgeschichte vorangestellt ist). Bis einschließlich 1740 sind das immerhin fast 90 Nummern42; vor allem Leibniz’ eigene Briefe, im Wesentlichen außerhalb von Hannover überliefertes Material. Es zeigt auch der Zedler-Artikel von 1737, dessen Liste der bekannten Leibnizwerke schon über 13 Spalten umfasst43. Dem zur Seite zu stellen ist die im selben Jahr erscheinende Biobibliographie Carl Günther Ludovicis; dieser später dem Zedler’schen Universal-Lexicon eng verbundene Autor kennt bereits knapp 190 Korrespondenten44 (und druckt selbst gelegentlich Brieflisten einzelner Korrespondenzen und sporadisch auch einen Brief ab45). Stellt man die Kenntnis von Leibniz’ Briefpartnern in diesem Werk (gegen Ende unseres Zeitraums) der von Feller (zu Beginn) gegenüber46, so ist der in diesen etwa 20 Jahren zutage tretende Unterschied immens. Leibniz und sein Œuvre, vor allem seine Korrespondenz, treten im Laufe dieser Zeit schon etwas mehr hervor „an Deck“. Diese Veröffentlichungen wurden zum Teil durch die Korrespondenten selbst initiiert, basierten auf deren eigenen Leibnizbriefen oder standen zumindest in engem Zusammenhang damit; das ist der Fall z. B. bei Driesch, Hansch, La Loubère, Leeuwenhoek, Michelotti oder auch beim Commercium epistolicum Johann Bernoullis47. Andere beruhen dagegen auf Sammlertätigkeit; und das ist es, was uns im Folgenden vorrangig interessieren wird.
41 Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Sellschopp, v. a. S. 34. 42 E. Ravier: Bibliographie (wie Anm. 1), Nr. 326–414, Einführung S. 159–180. 43 Art. „Leibnitz, (Gottfried Wilhelm, Baron von)“ in: J. H. Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste […], Bd. 16, Leipzig 1737, Sp. 1517–1553, hier Sp.1539–1553. 44 C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie, Thl. [1.] 2., Leipzig 1737, hier 2, S. 99–212 (§ 112–304). 45 C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 44), 2, etwa S. 141–148, S. 205 f. 46 Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Luckscheiter. Für Korrespondentennamen und -zahl ist aufschlussreicher als die eigentliche Edition Fellers vorangestelltes Supplementum Vitae Leibnitianae, das insgesamt fast 80 Korrespondenten nennt. 47 E. Ravier: Bibliographie (wie Anm. 1), Nr. 334, 339, 345, 359, 381.
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Dahinter steht, darauf hat Detlef Döring hingewiesen, ein generelles Interesse an Gelehrtennachlässen in der res publica litteraria48. Es stand in der Tradition der säkularen Memorialpflege der virorum illustrium – aber auch unter dem Ziel des Dienstes am Fortschritt der Wissenschaften. Was ein Gelehrter veröffentlicht hatte, war in seinem Schaffen oft nur die Spitze eines Eisbergs. Gründe für die NichtPublikation mochte es zuhauf geben – vom vorzeitigen Tod über das Scheitern einer Veröffentlichung an fehlenden Druckmöglichkeiten bis zur intendierten Zurückhaltung; für das Letztere hat Martin Mulsow kürzlich zahlreiche Beispiele gegeben49. Sein dafür eingebrachter Ausdruck „prekär“ beschreibt die Fragilität von solch nur handschriftlich existierendem Wissensgut – und die war den Zeitgenossen bewusst, bei denen zudem auch so etwas wie gelehrte Neugier, curiosité, am Werk sein konnte: und so wurde eifrig gesammelt (nicht unbedingt zum Zweck der Edition). Leibniz selbst ist dem ja auch in großem Stil nachgegangen50. Schriftliche Hinterlassenschaften aus seiner Feder waren also keinesfalls die einzigen, für die sich die Gelehrtenrepublik interessierte51. Aber doch scheint ihnen ein besonderes Interesse gegolten zu haben – warum? Die Antwort liegt nahe: weil es sich eben um Leibniz handelt. Aber stimmt sie auch? * Das Interesse, das hinter der Sammlung von ihm hinterlassenen handschriftlichen Materials stand, zu erklären, war ein Punkt, der für die Tagung zur Debatte stand und der in mehreren Beiträgen des Bandes thematisiert wird – wobei die Antworten nicht eindeutig ausfallen. Ein weiterer, zentraler Punkt war die im Zuge solcher Sammelaktivitäten einsetzende Überlieferungsbildung. Hiermit beginnen wir. Die Leibniz-Überlieferung hat ihren Schwerpunkt bekanntlich in Hannover, insbesondere in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (GWLB); hier (sowie im Niedersächsischen Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover) wird sein Nachlass im eigentlichen Sinn (das, was auf „seinem Schreibtisch“ lag) verwahrt52. Dass sich Leibnitiana daneben auch in großer Zahl in Bibliotheken und Archiven ganz Europas finden, war angesichts der Ausdehnung seines Korrespondentennetzes zu erwarten.
48 D. Döring: „Leibniz-Editionen in Leipzig. Der Druck der Schriften von G. W. Leibniz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Leipziger Kalender, Leipzig 1998, S. 69–95, hier S. 70 f. 49 M. Mulsow: Prekäres Wissen (wie Anm. 5), v. a. S. 197–219. 50 Bekannt ist vor allem seine Aneignung der Zettelsammlung Martin Fogels, dazu jetzt M. Marten/C. Piepenbring-Thomas: Fogels Ordnungen: aus der Werkstatt des Mediziners Martin Fogel (1634–1675) (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderbände 115), Frankfurt a. M. 2015. Sein (an zahlreichen Beispielen belegbares) Interesse an den Collectanea Robert Boyles kommt etwa zum Ausdruck in A I, 24 N. 434, zu dem am Nachlass von Joachim Jungius vgl. die editorische Vorbemerkung zu A II, 3 N. 41. 51 D. Döring: „Leibniz-Editionen“ (wie Anm. 48), S. 70 f. 52 Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Sellschopp, unten, S. 33–46.
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Doch entsprechen die heutigen Bibliotheksorte längst nicht immer den Adressatenorten. Es müssen also Verlagerungen von Handschriften stattgefunden haben, von einem Ort zu einem anderen, in den meisten Fällen zudem aus privatem in öffentlichen Besitz53. Und auch die einfache Gleichung: all das, was Leibniz nicht aus der Hand gegeben hat oder was bei ihm ankam (seine Konzepte ebenso wie die an ihn adressierten Korrespondentenbriefe), also das, was zu seiner Arbeitsumgebung gehörte, sollte in Hannover überliefert sein, geht nicht ganz auf. Daraus ergab sich unsere Fragestellung: Wenn Handschriften aus dem Leibniz-Kontext heute an bestimmten Bibliotheksorten sind: weshalb sind sie dort, wie und wann kamen sie dorthin, und durch wen? Hinter Bibliothekssignaturen können sich bekanntlich Geschichte und Geschichten verbergen, mitunter auch politische und gesellschaftliche Verwerfungen. Auch in der Leibniz-Überlieferung hat die große Politik Spuren hinterlassen, aber eher am Rande54; die bereits im 18. Jahrhundert in großem Stil einsetzende sekundäre Überlieferungsbildung scheint vor allem im Rahmen der gelehrten Welt stattgefunden zu haben. Manches ist hiervon bereits aus der Literatur bekannt; vor allem zu nennen wäre der Aufsatz Paul Schreckers von 193455, dessen Resultate Stephan Waldhoff hier erneut unter die Lupe genommen hat (unten, S. 85–116). Wenn wir uns zunächst mit bestimmten Bibliotheksorten befassen, so sollte die Frage nach dem Hintergrund der Überlieferungsbildung systematisch wie exemplarisch angegangen werden, weitgehend konzentriert auf das Material, das von „Leibniz’ Schreibtisch“ stammt – aber sich eben nicht in Hannover befindet56. In ihrem grundsätzlichen Beitrag „Versprengte Überlieferung von Leibnitiana. Ein Überblick auf der Basis des Arbeitskatalogs der Edition“ hat Sabine Sellschopp dafür einen griffigen Ausdruck gefunden. Die Suche nach der „versprengten Überlieferung“ bedeutete die Herkules-Aufgabe, den gesamten elektronischen Arbeitskatalog der Akademie-Ausgabe (mit seinen circa 60.000 Datensätzen)57 abzusuchen nach außerhalb von Hannover überlieferten Zeugnissen, die man eigentlich dort vermutet hätte: abgefertigte Korrespondentenbriefe an Leibniz ebenso wie seine eigenen Briefkonzepte. Es ergaben sich um die 200 Textzeugen, die sich auf etwa 20 Bibliotheksorte verteilen. „Die Beschäftigung mit solchen unvermuteten Überlieferungen kann […] zu Einblick […] verhelfen, welche Faktoren die Überlieferungsbildung im 18. Jahrhundert beeinflusst haben“ (S. 35). Das Spektrum reicht dabei von Überlieferungsorten, die aus Leibniz’ Itinerar resultierten, wie etwa Clausthal, 53 Dies gilt für die meisten Leibnizbriefe. Nur in sehr wenigen Fällen befinden diese sich noch in privater Hand bei den Nachfahren der Korrespondenten. 54 Vor allem im Kontext des Zweiten Weltkrieges; so zählen zu den Kriegsverlusten des Hauptstaatsarchivs Hannover nicht wenige Leibnitiana, die bereits für die Akademie-Ausgabe katalogisiert waren; nur gelegentlich liegt der Text jetzt noch als Transkription vor. 55 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger 118 (1934), S. 5–134. 56 Entsprechende Verlagerungen von Briefen, die Leibniz an die Korrespondenten gesandt hatte (hier wäre etwa an die Leibnitiana in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen zu denken), konnten deshalb außer Acht bleiben. 57 http://www.leibnizedition.de/hilfsmittel.html (eingesehen am 14.12.2016).
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Wolfenbüttel, Wien (und, mit Sonderrolle, auch Berlin), wo von Verlagerung nur insofern gesprochen werden kann, als sie durch Leibniz selbst stattfand, bis zur Spiegelung früher Sammlertätigkeit; von einzelnen Handschriften bis zu umfangreichen Konvoluten, an erster Stelle den berühmten Leibniz-Konvoluten in Warschau und Gotha58. Verlagerung muss sowohl von Hannover als auch von Leibniz’ „zweitem Schreibtisch“ in Berlin aus stattgefunden haben. Im Falle des letzteren, der sich im Haus des Sozietäts-Astronomen Gottfried Kirch, später bei dessen Sohn Christfried befunden haben muss, geschah dies in mehreren Stufen und wohl mit Verlusten. In mehreren Fällen lässt sich dahinter ein Editionsprojekt ausmachen; in anderen erscheinen Leibnizhandschriften einer Autographensammlung (wie etwa der Goethes) inkorporiert. Dabei zeigt sich, dass noch im späteren 18. oder gar 19. Jahrhundert Leibnitiana aus dem Besitz einer staatlichen Institution durch Schenkung in andere Hände übergehen konnten. So bilanziert Sellschopp: „Aufbewahrung in einer hoheitlichen Einrichtung bot keine Gewähr für ungestörte Überlieferung“ (S. 45). Und am Schluss steht Skepsis hinsichtlich des Narrativs vom seit 1717 gesicherten Leibniz-Nachlass: „Dass ursprünglich in Hannover aufbewahrte Leibniz-Dokumente heute andernorts überliefert sind, kann […] die Frage aufwerfen, ob dort womöglich […] mehr Textzeugen hinausgegeben oder herausgeholt worden sein mögen, als uns überliefert ist“ (S. 46). Von einer auf andere Weise versprengten Überlieferung, einer Sonderform, handelt der Beitrag von Fritz Nagel: „Leibniz-Briefe in Basel. Handschriftliche Textzeugen außerhalb des Bernoulli-Briefcorpus“. Er untersucht eine (bisher kaum beachtete) in Basel überlieferte Briefsammlung ungeklärter Provenienz mit Abschriften von Leibnizbriefen aus der von 1705 bis 1715 geführten Korrespondenz mit Johann Jakob Scheuchzer. In dessen Nachlass in Zürich sind die Abfertigungen dieser Leibnizbriefe überliefert, in einem Sammelband, der auch andere Gelehrtenbriefe an Scheuchzer enthält. Von diesem Band wurden die Abschriften genommen, wohl von Scheuchzers Schüler und Nachfolger Johannes Gessner, der Zugang zum Nachlass hatte. Den Weg nach Basel könnten sie gefunden haben durch Ausleihe an Johann II Bernoulli – und dort verblieben sein, nachdem Gessner und Bernoulli rasch nacheinander verstarben. Was den Basler Sammelband in unserem Kontext besonders bemerkenswert macht, ist das hinter dieser Überlieferungsbildung stehende Interesse: Leibniz ist hier „nur ein Autor unter anderen“ (S. 59), nach Jean Paul Bignon, dem Präsidenten der Académie des Sciences, und vor englischen Gelehrten. Damit ist die Basler Handschrift als Zeugnis nicht so sehr der Leibniz-Rezeption im 18. Jahrhundert als vielmehr der Scheuchzer-Memoria zu sehen: „Leibniz ist dabei einer der prominenten Korrespondenten, dessen […] Briefe das internationale Ansehen Johann Jakob Scheuchzers noch Jahre nach beider Tod in einer […] Briefsammlung bezeugen sollen“ (ebd.); eine sozusagen ‚kollaterale‘ Überlieferung. Während bei dem Basler Sammelband kein Editionsvorhaben anzunehmen ist, lag ein solches den beiden großen außerhalb Hannovers überlieferten LeibnitianaKonvoluten zugrunde, die in den beiden folgenden Beiträgen untersucht werden. 58 Diese beiden erfahren in unserem Band zudem eine detaillierte Untersuchung durch Charlotte Wahl (unten, S. 63–83) und Stephan Waldhoff (S. 85–116).
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Charlotte Wahl behandelt in „Zur Provenienz der Gothaer Leibnitiana Chart. A 448–499 und zum umstrittenen Leibnizbrief“ ein zentrales Beispiel versprengter Überlieferung: Dieses Gothaer Konvolut mit (insgesamt 74) Konzepten und Aufzeichnungen von Leibniz’ Hand oder von ihm korrigierten Abschriften, Korrespondentenbriefen, Drucken mit Marginalien von seiner Hand, „besteht zum Großteil aus Stücken, die eindeutig aus Leibniz’ Besitz stammen und die man daher in seinem Nachlass in Hannover vermuten würde“ (S. 66), hinzu kommen spätere Abschriften zumeist von Leibnizbriefen. Der vor allem mathematische Inhalt (mit den Schwerpunkten Infinitesimalkalkül, Dyadik, Zahlentheorie) lässt es als sicher erscheinen, „dass der Sammler nicht von einer dem Zufall unterworfenen Sammeltätigkeit abhängig war, sondern aus einem großen Bestand, vermutlich eben Leibniz’ Nachlass selbst, auswählen konnte“ (S. 67). Dass einige (wenige) Texte erst aus den 1720er/1730er Jahren stammen, erlaubt den Schluss, dass das Konvolut erst nach Leibniz’ Tod zusammengestellt wurde. Prominentestes Stück der Gothaer Sammlung ist eine Abschrift des in seiner Echtheit umstrittenen Leibnizbriefs angeblich an Jacob Hermann zum Prinzip der kleinsten Wirkung. Dieser Brief, von Samuel König 1752 veröffentlicht, wurde, als Fälschung diskreditiert, zum Stein des Anstoßes in der großen Kontroverse König-Maupertuis, die über die beiden Kontrahenten hinaus die gesamte Berliner Akademie der Wissenschaften und das Verhältnis von Friedrich II. und Voltaire tangieren und europaweit Wellen schlagen sollte59. Mit der Einbeziehung der Gothaer Überlieferung durch Willy Kabitz etwa 150 Jahre später schien diese Debatte neue Argumente für die Echtheit zu erhalten, freilich mit dem Manko einer ungeklärten Provenienz60. Wahls Untersuchung dieser Frage im Rahmen unseres Bandthemas, der Überlieferungsbildung, leistet damit auch einen Beitrag zu dieser auch jetzt noch kontroversen Debatte61. Die bisher im Raum stehende These, das Konvolut sei im Zuge einer Auktion aus dem Besitz Johann III Bernoullis nach Gotha gekommen, wird mit einem ganzen Bündel von Argumenten entkräftet. Statt dessen ist es eben Samuel König, der als spiritus rector der Sammlung erscheint62: Er, für den Pläne zu einer Edition von mathematischen und philosophischen Schriften Leibniz’ bezeugt sind, hatte nachweislich Zugang zu den Leibnitiana in Hannover, die er zum Teil abschreiben ließ, zum Teil – Widerspiegelung der inzwischen eingetretenen, in der Jahrhundertmitte evidenten (kurzfristigen) Öffnung des Nachlasses in der Ära des Bibliotheksdirektors Christian Ludwig Scheidt – ausleihen konnte. Um welche Handschriften genau es sich handelte, bleibt unklar; doch lassen Äußerungen Königs zu einzelnen Dokumenten in seiner Hand sich mit Stücken des Gothaer Konvoluts in Verbindung bringen. Die nach Königs Tod (1757) in die Hand seines Amanuensis Rudolf Samuel Henzi gelangten Leibnitiana wurden nach dem Tode Scheidts (1761) im Zuge allgemeiner Restitutionsbestrebungen von der Königlichen Bibliothek zu Hannover zurückgefordert; in der Tat langte 1762 dort ein Koffer mit Leibnizhandschriften an. Ob das 59 60 61 62
Unten, S. 63 passim, mit Hinweis auf den neuesten Stand der Debatte in Anm. 4. Ebd., mit Anm. 8 und 9 zu den Untersuchungen Willy Kabitz’ und Herbert Bregers. Vgl. dazu die bei Wahl (S. 63 f., Anm. 4) zitierte neueste Arbeit Ursula Goldenbaums. Dies war bereits 2001 von Malte-Ludolf Babin vermutet worden; vgl. Wahl, S. 67, Anm. 21.
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eine 1:1-Restitution war, ist allerdings fraglich; ein – geplantes – Verzeichnis der ausgeliehenen Dokumente war nie erstellt worden. Wenn Henzi ein solches mit dem Argument anforderte, Königs Leibnitiana seien aus verschiedenen Quellen gekommen, muss die Rücksendung unter dem Zeichen der Unsicherheit gestanden haben. Daher das Fazit: „Die These über die Provenienz des Gothaer Konvoluts beruht somit auf der plausiblen Annahme, dass Henzi nicht den gesamten von König entliehenen Bestand zurückgesandt hat“ (S. 71). Über Henzi jedenfalls dürfte das Konvolut dann nach Gotha gelangt sein – als Agent dieses Hofes war er auch mit Anschaffungen für die herzogliche Bibliothek betraut. Wenn die Abschrift des umstrittenen Briefes mit den anderen Gothaer Leibnitiana also in Königs Hand gewesen sein muss, wird aber auch ein zentrales Argument für die Echtheit – unabhängige Überlieferung von dessen Publikation des Textes – hinfällig. Dies bekräftigt Wahl mit ihrer textkritischen Gegenüberstellung der beiden Überlieferungen mit einer dritten (einer von König für Maupertuis angefertigten Abschrift). Im Kontext von Königs geplanter Edition, die in der schon früher zwischen ihm und Maupertuis eskalierenden Auseinandersetzung über Leibniz dessen Position im Prioriätsstreit verteidigen sollte (ein Beispiel einer „engagierten Edition“63) könnte die Entstehung der Fälschung zu suchen sein. Die Untersuchung der Überlieferungsbildung kann also nicht nur im übertragenen Sinne zur Frage ‚whodunit‘ führen. Auch Stephan Waldhoff: „Das Warschauer Material: Quellen und Rezeptionsspuren“ handelt von einem Codex (Warschau Biblioteka Narodowa III. 4879), der längst nicht nur als Überlieferungsträger, sondern auch in seiner Zusammensetzung Gegenstand der Forschung ist. Mit Korrespondentenbriefen an Leibniz sowie Konzepten von dessen Hand enthält er eindeutig Material von dessen (Berliner) Schreibtisch – allerdings vermischt mit anderem, darunter auch Abschriften von in diesem Konvolut enthaltenen Stücken. Bereits 1934 hatte Paul Schrecker64 die Entstehungsgeschichte der über 400 Blatt umfassenden Sammelhandschrift und ihrer weiteren Überlieferung (vom Berliner Nachlass über die Leibnitiana-Sammlung Charles Etienne Jordans und den Leibniz-Editor Johann Erhard Kapp bis zu der Sammlung Joseph Andreas Zaluskis und schließlich zum Übergang in die polnische Nationalbibliothek) nachgezeichnet und vor allem die früheste Berliner Schicht abgegrenzt. Waldhoff unterzieht das Konvolut einer erneuten Untersuchung, in deren Zentrum eine differenziertere Abschichtung der einzelnen Teile steht, um hinter Stücken unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Zeitstellung den Schreibtisch-Bestand genauer zu fassen. Damit tritt eine Gestalt in den Vordergrund, der eine große Bedeutung für die Überlieferungsbildung, insbesondere die Entstehung versprengter Überlieferung zukommt. Charles Etienne Jordan, Refugié der zweiten Generation in Brandenburg, Vertrauter des Kronprinzen Friedrich in der Rheinsberger Zeit, nach 1740 unter anderem Vizepräsident der neu organisierten Berliner Akademie der Wissenschaften, ist im Leibniz-Zusammenhang vor allem bekannt als Sammler von Leibnitiana, die Grundlage von – teils Projekt bleibenden (Jordan, 63 Diese Formulierung hat Stefan Lorenz („Leibniz-Renaissancen“ [wie Anm. 1], S. 74–76) für Leibnizeditionen mit apologetischer Absicht eingebracht. 64 P. Schrecker: „Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 55).
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Bourguet), teils zur Publikation kommenden (Kapp, Kortholt) – Editionsvorhaben wurden65. Die umfangreiche Sammlung lässt sich bisher nur teilweise rekonstruieren; im Zentrum steht das Warschauer Material. Dieses umfasst allerdings weit mehr als Jordans Leibnitiana, nämlich vor allem Stücke, die der Nachbesitzer Kapp hinzufügte. Umgekehrt wissen wir von Stücken aus Leibniz’ Berliner Nachlass, die außerhalb des Warschauer Konvoluts überliefert sind66. Waldhoffs Detailanalyse dieser komplizierten Gemengelage gelingt es nicht nur, die Schichten chronologisch genauer abzugrenzen, sondern dem „Berliner Kern“ auch einen zusätzlichen Bestand zuzuordnen, der erst im Laufe der weiteren Überlieferungsgeschichte davon abgespalten wurde und sich heute in der Russischen Nationalbibliothek zu Sankt Petersburg befindet. Ebenfalls dem Berliner Schreibtisch bzw. Jordans Kollektion wären bekanntlich die Stücke zuzuweisen, die Kapp in seine 1745 publizierte Sammlung einiger Vertrauten Briefe, welche zwischen […] Gottfried Wilhelm von Leibnitz und […] Daniel Ernst Jablonski, auch anderen Gelehrten […] gewechselt worden aufnahm, sowie die Leibnizbriefe an den Helmstedter Theologen Johann Fabricius, die über Kapp an Christian Kortholt zur Edition weitergegeben und von diesem 1734 zum Druck gebracht wurden67. Damit nimmt der Schreibtisch schärfere Konturen an: „Bezieht man in die Rekonstruktion von ‚Leibniz’ Berliner Schreibtisch‘ in stärkerem Maße, als dies Schrecker möglich […] war, die außerhalb Warschaus zerstreut überlieferten Fragmente des von Jordan gesammelten Materials ein, wird man seine Interpretation […] neu akzentuieren müssen“ (S. 110). Wohl stellt Waldhoff zusammenfassend fest: „die Zusammensetzung der Papiere“ sei „im Ganzen […] ziemlich kontingent“ (S. 111) gewesen. Jedoch scheinen neben ephemeren Themen drei Schwerpunkte auf: Unionsverhandlungen, Sozietät, politisch-dynastische Belange – in denen man wohl Dossiers sehen kann, die Leibniz zum Teil aus Hannover nach Berlin gebracht hatte. Damit fällt neues Licht auch auf die Sammlung, deren thematische Ausrichtung auf den Unionsdialog sich nun neu erklärt: „weniger aus Kapps besonderem Interesse als vielmehr aus dem Material, das er zur Publikation zur Verfügung gestellt bekommen hatte“ (S. 114). Das Warschauer (und Sankt Petersburger) Material hatte Kapp für eine Fortführung seiner Briefedition vorgesehen. Hätte er dieses Vorhaben verwirklicht, so wäre mit diesen 65 Dazu neben P. Schrecker („Lettres et fragments inédits“ [wie Anm. 55]) J. Häseler: Ein Wanderer zwischen den Welten. Charles Etienne Jordan (1700–1745), Sigmaringen 1993, v. a. S. 91–93; ders.: „Leibniz’ Briefe als Sammelgegenstand – Aspekte seiner Wirkung im frühen 18. Jahrhundert“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1994, S. 301–308, hier S. 305–308; F. Nagel: „Schweizer Beiträge zu Leibniz-Editionen des 18. Jahrhunderts. Die Leibniz-Handschriften von Johann Bernoulli und Jacob Hermann in den Briefwechseln von Bourguet, König, Kortholt und Cramer“, in: Ebd., S. 525–533; N. Gädeke: „Der Unmut der Königin über die Krönung. Zugleich eine Miszelle zur LeibnizÜberlieferung“, in: F. Beiderbeck/St. Waldhoff (Hrsg.): Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 175–188, hier S. 183–188. 66 Nicht in den Kontext unserer Fragestellung gehören aber die im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften überlieferten Leibnizbriefe an La Croze, die dieser Jordan vererbte. 67 Vgl. dazu den Beitrag von Nora Gädeke in diesem Band (S. 135–162).
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Stücken wohl das geschehen, was den Vorlagen der Sammlung widerfuhr: Vernichtung nach der Drucklegung. So aber sind sie nicht nur als Texte erhalten geblieben, sondern auch handschriftlich, mit vielen Spuren der Bearbeitung. „Dadurch erhalten wir manche Einblicke, die nach einem erfolgreichen Abschluss dieser frühen Editorentätigkeit wohl so nicht mehr möglich wären. Allerdings um den Preis, dass die Mehrzahl der in diesem Konvolut überlieferten Briefe und Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz länger latent geblieben sind als manche andere“ (S. 116). ** Die bisher vorgestellten Handschriftensammlungen und Editionsprojekte bildeten den Hintergrund der Untersuchung versprengter Überlieferung; Ausgangspunkt waren die Überlieferungsorte. In den folgenden Beiträgen rücken nun jene selbst in den Vordergrund, mit Blick auf dem Akt des Sammelns und Edierens. Eigentlich auf zwei Akte: Sammeln und Edieren, wenngleich eng verbunden, sind nicht zwangsläufig zwei aufeinander folgende Vorgänge, sondern können verschiedene Seiten einer Medaille sein, Ausdruck eines Interesses, das in die Öffentlichkeit gehen, aber sich auch auf einen privaten, manchmal sogar clandestinen Rahmen beschränken kann. Und so werden wir neben dem Buchmarkt immer auch einen anderen Kommunikationsraum im Blick haben müssen, den kleinen Kreis von Vertrauten, in dem Werke kursierten, die der großen Öffentlichkeit (und damit auch jeder Art von politischer und kirchlicher Zensur) entzogen waren. Zu diesem Thema liegen bereits einige summarische Darstellungen oder Spezialuntersuchungen vor68; insbesondere zu den Projekt bleibenden Editionsplänen Jordans und, eng damit verbunden und an dessen Sammlung partizipierend, Louis Bourguets. Wenn es hier erneut aufgegriffen wurde, so sollten einerseits diese Editionsvorhaben wieder zu Befunden aus der Handschriftenüberlieferung in Beziehung gesetzt werden, andererseits war nach den Rahmenbedingungen, den Leitlinien und deren Umsetzung zu fragen. Zuvorderst nach der Materialbeschaffung, nach deren Wegen und Irrwegen; nach den Kanälen der Beschaffung von Handschriften (bzw. noch im Vorfeld der Information über potentielle Besitzer), nach dem Einsatz von Korrespondentennetzen zur Unterstützung editorischer Pläne – aber auch (insbesondere angesichts von so manchem unausgeführt gebliebenem Projekt) nach der Kehrseite: nach Konkurrenz, der Verweigerung oder Aufkündigung von Zusammenarbeit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, nach Vorbehalten gegen die 68 Neben den oben Anm. 65 genannten Arbeiten vgl. an neuerer Literatur M.-L. Babin: „Anecdota Leibnitiana. Christoph Gottlieb Murr und seine Leibnizsammlung“, in: Nihil sine ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, hrsg. von H. Poser in Verbindung mit Ch. Asmuth, U. Goldenbaum u. W. Li, Berlin 2001, S. 50–56; D. Döring: „Leibniz-Editionen“ (wie Anm. 48); U. Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? Plädoyer für seine Authentizität (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur 6), Hannover 2016; W. Li: „Christian Kortholts Edition des Discours von Leibniz“, in: Einheit in der Vielheit. VIII. Internationaler Leibniz-Kongress, Vorträge 1, hrsg. von H. Breger, J. Herbst und S. Erdner, Hannover 2006, S. 457–466; St. Lorenz: „Leibniz-Renaissancen“ (wie Anm. 1).
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Veröffentlichung bestimmter Briefe, nach allgemein retardierenden Elementen, auch jenseits von persönlichen Faktoren. Und wir begegnen unterschiedlichen editorischen Vorstellungen, in den Leitlinien des jeweiligen Werks wie in der Bewertung handschriftlicher Vorlagen und im Umgang damit. So hat (um ein Beispiel außerhalb unseres Bandes zu nennen) Rüdiger Otto kürzlich für Johann Christoph Gottsched festgestellt, dessen Interesse an Leibniz (und einer – Projekt gebliebenen – Leibnizedition) habe weniger der Erschließung von dessen Denken als dessen Monumentalisierung gegolten, deshalb habe er auf die Veröffentlichung neuen Materials verzichten können69. Auch hier war exemplarisch vorzugehen, konzentriert auf eine Auswahl aus den in unserem Zeitraum tätigen Editoren von Leibnizbriefen70. Mit den hier behandelten Personen, die wir mit dem Sammeln von Leibnitiana, vielleicht auch deren Kommunikation, vielleicht auch der Edition beschäftigt finden, und einigen weiteren ihnen verbundenen, tritt uns ein kleines Cluster entgegen, Personen, die in vielfältiger Weise miteinander in Beziehung standen. So gehören Naudé und Jordan zusammen mit dem im Hintergrund erscheinenden La Croze dem Berliner Refuge an, kommuniziert Bourguet, Konkurrent Christian Kortholts um die Bernoulli-Korrespondenz, mit Hermann, Scheuchzer und Jordan; vom La Croze-Schüler Jordan geht an Bourguet Material, vielleicht auch an Ludovici, auf jeden Fall an Kapp und über diesen an Kortholt; diese beiden kommunizieren miteinander; Christian Kortholts Vater Sebastian korrespondiert neben vielen anderen mit La Croze sowie dessen Hamburger Freunden. Dieses Netz lässt sich zunächst einmal geographisch beschreiben: Berlin – Kiel – Leipzig – Schweiz (mit Neuchâtel, Zürich und auch Basel)71. Damit tritt uns hier ein Leibniz-Kommunikationsraum jenseits des Buchmarktes entgegen – der sich nicht nur in Editionen bzw. den Projekten dazu spiegelt72. Den Anfang dieser Sektion macht der Beitrag Stefan Luckscheiters über einen Außenseiter: „Joachim Friedrich Feller (1673–1726) als Leibniz-Herausgeber“. Der Archivar in Weimar Joachim Friedrich Feller gehörte gerade nicht diesem 69 R. Otto: „Gottscheds Leibniz“ (wie Anm. 7), S. 250 f. 70 Andere frühe Editoren (vgl. oben, S. 15) wie Driesch oder Leeuwenhoek können unberücksichtigt bleiben, da bei ihnen, die sich auf ihre eigene Korrespondenz mit Leibniz beschränken, der Akt des Sammelns nicht zum Tragen kommt. Zur Nicht-Berücksichtigung Desmaizeaux’ vgl. oben Anm. 13. 71 Hinzuzählen könnte man zudem, eher von außen, Hamburg (mit den La Croze-Vertrauten Johann Albert Fabricius und Wolf) und vielleicht auch am Rande Helmstedt (mit Johann Fabricius sowie dem Mathematiker Frobesius und dessen gemeinsam mit Ludovici betriebenem Editionsprojekt; dazu D. Döring: „Leibniz-Editionen“ [wie Anm. 48], S. 72–78). Während der Padua- und Venedig-Aufenthalte Hermanns und Bourguets findet eine kurzzeitige Ausweitung nach Italien statt. Hannover dagegen, dessen Leibnizbestände Außenstehenden zunächst verschlossen blieben, ist trotz Korrespondenz Eckharts mit Sebastian Kortholt und La Croze nicht dazu zu rechnen. 72 Vgl. dazu die Beiträge von Stefan Lorenz und Ursula Goldenbaum. Dazu auch N. Gädeke: „Zur frühen Leibniz-Rezeption“ (wie Anm. 3). In aller Vorsicht ließe sich hierfür wohl der Terminus „Konstellation“ erwägen; vgl. dazu M. Mulsow/M. Stamm (Hrsg.): Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2005.
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Cluster an. Aber mit seinen Veröffentlichungen, den Monumenta varia inedita und dem Otium Hanoveranum, steht er am Anfang der öffentlichen Präsentation von Leibnitiana. Mit einem Hautgout: Feller, der von 1696 bis 1698 in Leibniz’ Auftrag mit Vorarbeiten zur Welfengeschichte beschäftigt war (und, wie bei den Amanuenses üblich, auch mit der Postübermittlung an den Dienstherrn auf Reisen) gilt unter Leibniz’ Mitarbeitern als der ungetreue Diener par excellence, insbesondere deshalb, weil er sich immer wieder Zugang zu Leibniz’ Papieren verschaffte und Abschriften davon anfertigte, was nach mehrfacher Ermahnung zu seiner Entlassung führte. Genau diese Abschriften (von Briefen wie von Leibniz’ Aufzeichnungen) wurden zur Grundlage von Fellers Veröffentlichungen (für das eine oder andere Stück jetzt die einzige Textgrundlage; mit dem heutigen Editoren hochwillkommenen terminus post quem non 1698), alles in allem etwa 380 Stücke in Exzerptform. Die Auswahl scheint, so Luckscheiter, „mehr oder weniger zufällig“ (S. 127), bestimmt wohl vor allem von den Zugriffsmöglichkeiten, jedoch mit einer gewissen Vorliebe für die Historie und Historia litteraria. Während sich die Abschriften dort, wo Vergleiche möglich sind, als zuverlässig erweisen, ist die Stückkonstitution äußerst fehlerhaft; mit falscher Korrespondentenzuordnung, mit der Verteilung eines Briefes auf mehrere Nummern, mit Kollagen aus mehreren Briefen. Zeitgenössischen Rezensenten fiel wohl der Ana-Charakter der Zusammenstellung auf, aber nicht im negativen Sinn. Vielmehr wurde das Otium Hanoveranum zunächst begrüßt als ein Beispiel, dass „Excerpta aus Briefen und Discoursen gelehrter Leute in der Historia litteraria und arcana vieles Licht geben können“73. Allerdings erfolgte schon bald ein kritischer Rückzug: Feller habe „Piecen hineingesetzt, von denen Hr. Leibnitz vielleicht nicht würde zugegeben haben, daß sie wären gedruckt worden“74. Weitere kritische Stimmen – auch von Seiten des Feller-Nachfolgers Eckhart – folgen. Dennoch kann Luckscheiter resümierend feststellen, das Otium sei „breit rezipiert und recht wohlwollend aufgenommen [worden] – freilich mit gewissen, nur zu berechtigten Zweifeln an der Qualität der Auswahl“ (S. 133). Fellers Publikation auf der Basis einer hinter Leibniz’ Rücken zustande gekommenen Sammlung von dessen Schreibtisch aus ist teilweise eingegangen in eine ungleich umfangreichere Edition, hier behandelt von Nora Gädeke: „Edition im Netzwerk – Christian Kortholts Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad Diversos und die Sammlung seines Vaters Sebastian Kortholt“. Der Titel bringt es bereits zum Ausdruck: Sammeln und Edieren sind zwei verschiedene Akte mit jeweils eigenem Gewicht, hier sogar (weitgehend) auf mehrere Schultern verteilt – und zeitlich voneinander nicht unerheblich getrennt. Statt der in vier Bänden 1734 bis 1742 in Leipzig herausgekommenen Epistolae (an die 500 Briefe aus etwa 60 Korrespondenzen)75, seinerzeit die umfangreichste Edition von Leibniz’ Korrespondenz, 73 Deutsche Acta Eruditorum oder Geschichte der Gelehrten, 51. Theil, 1717, S. 179; vgl. Luckscheiter, unten, S. 131. 74 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 26. Februar 1718, S. 132; vgl. Luckscheiter, unten, S. 132. 75 Unmittelbar vor dem ersten Band brachte Christian Kortholt eine weitere Auswahl aus Leibniz’ Briefen heraus, den Recueil de diverses Pieces sur la Philosophie, les Mathematiques, l’Histoire
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durch die manche Briefe, die sonst heute verloren wären, wenigstens im Druck auf uns gekommen sind, und Basis für weitere Grundlagenwerke zu Leibniz76, hätte am Ende ebenso, wie wir es in anderen Fällen gesehen haben, eine Sammlung handschriftlichen Materials übrig bleiben (oder auch zerstreut werden) können. Christian Kortholt, der junge Abkömmling einer Kieler Gelehrtendynastie, selbst ganz am Anfang einer gelehrten Karriere, konnte für seine Edition neben einigen gedruckten Werken (wie eben dem Otium Hanoveranum) sowie dem, was er selbst in Leipzig zusammentrug (darunter etliche von Jordans Leibnitiana), vor allem auf eine Sammlung ungedruckter Briefe zurückgreifen, die etwa ein Jahrzehnt lang brachgelegen hatte. Angelegt worden war sie bereits in den ersten Jahren nach 1716 von seinem Vater, Professor für Rhetorik in Kiel und selbst Leibniz-Korrespondent, als Grundlage für eine Vita oder Briefedition. Anders als andere Zeitgenossen wollte Sebastian Kortholt sich dabei nicht auf seine eigene Leibniz-Korrespondenz beschränken. Damit setzt der eigentliche Akt des Sammelns ein. Christian Kortholt wird später im ersten Band der Epistolae den Adressaten von Leibnizbriefen eine aktive Rolle zuschreiben, sie hätten seinem Vater ihre Materialien übergeben, „usui rei publicae eruditae ut inservirent“77. Die hier vorgeführte (Teil-)Analyse des Zustandekommens der Epistolae erbringt freilich: Der aktive Part dürfte bei dem Sammler selbst gelegen haben. Denn seine Korrespondenz zeigt: Sebastian Kortholt legte beträchtliches Engagement an den Tag, um an Briefe heranzukommen, wobei er auch manchen Fehlschlag erlitt. Das beginnt in Hannover, an Leibniz’ Nachfolger Eckhart adressiert – und bringt eine nur minimale Ausbeute. Es setzt sich fort mit tastenden Anfragen an La Croze (mit der Bitte um Berliner Material) und Johann Fabricius (der als Mittelsmann für Helmstedt angesprochen wird); beide werden zwar eine Fülle eigener Leibnizbriefe liefern, für andere Korrespondenzen aber eine negative Auskunft geben. In diesen und weiteren Briefwechseln entfaltet sich ein Panorama, das vom bereitwilligen Geben über Einschränkungen und Bedingungen (wie etwa Wahrung von Diskretion in Bezug auf genannte Personen) und der Lieferung vereinzelter Stücke bis zur Verweigerung (wie dem – für uns leicht falsifizierbaren – Argument, es lägen keine Briefe vor, oder aber, der Inhalt sei banal) reicht; als explizites Motiv für die Bereitstellung von Material kommt neben dem Interesse der gelehrten Welt die Sorge um die Leibniz-Memoria ebenso wie gelehrte générosité zum Ausdruck. Es entfaltet sich aber auch ein veritables Netzwerk zur Unterstützung von Sebastian Kortholts Materialsuche, mit dem Leibniz-Anhänger Christian Goldbach als Zentrum, über den die Akquisition einer größeren Zahl von Leibnizbriefen erfolgte. Dass diese mit so viel Aufwand zustande gekommene Sammlung erst einmal ruhte, wird von Christian Kortholt später
etc., Hamburg 1734, den er der britischen Königin Caroline widmete. Die meisten Stücke des kleinen, bald vergriffenen Werkes wurden später erneut in den Epistolae gedruckt. 76 Die ersten Bände der Epistolae sind stark rezipiert bei C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 44). Wenige Jahrzehnte später diente das Gesamtwerk als Grundlage für L. Dutens’ Leibnitii opera omnia (Genf 1768), die zu über einem Drittel darauf beruhen. 77 N. Gädeke, unten, S. 148 f., mit Anm. 104.
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mit Zeitmangel seines Vaters erklärt. Dessen Briefnachlass lässt freilich etwas anderes erkennen: Nach der spektakulären Vertreibung Christian Wolffs aus Halle, die auch die Leibniz-Rezeption tangierte, ließ Sebastian Kortholt sich wohl überzeugen, dass das in einer Edition zu sehende Bekenntnis zu Leibniz derzeit ein zu großes Wagnis sei. Die Briefsammlung, die sein Sohn nach zehnjähriger Unterbrechung dann doch herausbringen wird, könnte man wieder als „engagierte Edition“ bezeichnen78; das zeigt vor allem Christian Kortholts Leibniz-Apologie im Kontext der Anschuldigungen gegen Wolff, mit der Band 4 beginnt. „Engagiert“ zeigen sich die Epistolae auch in anderer Hinsicht. In der Praefatio zum ersten Band wird als Leitgedanke formuliert, die Briefsammlung solle Leibniz’ Universalität aufzeigen. Dem entsprechen vor allem in Band 1 Thematik und Aufbau: von der Theologie über Jurisprudenz, Medizin, Philosophie zu Mathematik/Physik und Historie/Philologie. Die Kehrseite dieses Programms ist eine gewisse Selektion; der eine oder andere zur Verfügung stehende Brief, dessen Inhalt zu sehr von Alltagsfragen bestimmt erscheint, wird aussortiert. Auch bei den Drucken lassen sich dort, wo die Vorlagen noch vorhanden sind, Kürzungen feststellen; etwa wenn eher praktische Fragen verhandelt werden – aber auch zur Wahrung der Diskretion. Einschränkungen dieser Art sind einem anderen Unternehmen fremd, das mit einer (für diese Zeit ungewöhnlichen) philologischen Orientierung am Text und dem Ziel von dessen vollständiger Wiedergabe vorgeht, dem nur wenig späteren Editionsprojekt aus dem Hannoveraner Material, das von Malte-Ludolf Babin und Anja Fleck vorgestellt wurde: „Johann Daniel Gruber und sein Projekt einer Leibniz-Edition“. Gruber, seit 1729 Hofhistoriograph und Bibliothekar zu Hannover, ein Nachfolger von Leibniz auch insofern, als auch er mit der Fertigstellung der Annales Imperii betraut war (und damit scheitern sollte), gehört zu dem Personenkreis, der schon früh Zugang zu den für die Außenwelt noch verschlossenen Leibnitiana in Hannover hatte. Bereits 1730 bringt er gegenüber den Geheimen Räten die Bedeutung von Leibniz’ hinterlassener Korrespondenz („in welcher ein unvergleichlicher Schatz der Gelehrsamkeit und eine vollständige Historia literaria von einem halben saeculo als in einem Bergwerk verborgen lieget“ [S. 166]) für die Weiterarbeit am opus historicum zur Sprache. Mit Grubers früher Einsicht in den Briefnachlass dürften seine Ordnungsversuche einhergegangen sein (die bleibenden Niederschlag gefunden haben in seinen mitunter am Kopf eines Briefes zu findenden Vermerken). Wann daraus ein Editionsprojekt erwuchs, ist bislang nicht bekannt. Verwirklicht werden konnte dieses jedenfalls nur in den zwei Bänden eines Prodromus79, der überwiegend nicht Leibniz, sondern der Korrespondenz Johann Christian von Boineburgs und Hermann Conrings gewidmet ist. Durchaus den Intentionen des Herausgebers entsprechend: „Grubers Interesse gilt […] weniger Leibniz’ Person als der ‚historia litteraria‘ überhaupt“ (S. 168); dies lässt bereits das Titelblatt des Prodromus erkennen. In der Praefatio wird der Inhalt der beiden 78 St. Lorenz: „Leibniz-Renaissancen“ (wie Anm. 1), S. 74–76. 79 J. D. Gruber: Commercii epistolici Leibnitiani, ad omne genus eruditionis, praesertim vero ad illustrandam integri propemodum seculi historiam literariam apprime facientis […] prodromus, Hannover 1745.
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(Leibniz-bezogenen) Folgebände skizziert, die eine Auswahl aus etwa 80 Korrespondenzen bringen sollten. Es dominieren Theologie und Historie; andere Gebiete treten nur vereinzelt auf, die Philosophie ist stark unterrepräsentiert. Hier kommt eine Leitlinie Grubers zum Tragen: die Edition sollte nur bisher Ungedrucktes bringen. Aufschlussreich für die weiteren geplanten Bände ist nicht nur der Prodromus, sondern mehr noch die umfangreiche Materialsammlung, über 350 Abschriften, die heute in der GWLB Hannover sowie in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen verwahrt werden. Daraus und auch aus dem Vergleich mit den Vorlagen ergibt sich ein Unternehmen auf bemerkenswert hohem Niveau: „Im Unterschied zu allen Zeitgenossen und den meisten seiner Nachfolger bemüht Gruber sich um die originalgetreue Wiedergabe der Brieftexte“ (S. 171). Unter seiner Regie (und Kontrolle) bringen die von den Bibliotheksschreibern erstellten Abschriften den jeweiligen Text inclusive Anrede und Schlusskurialien vollständig, ohne Auslassungen und ohne die (nicht nur bei Feller zu beobachtende) Zusammenziehung mehrerer Briefe zu einem Stück. Eine inhaltliche Erschließung liegt nur teilweise vor (jeweils sprachlich angepasst an den Brief). Anmerkungen sind – explizit aus Prinzip – spärlich, wohl aber gibt es Bemerkungen, die die Korrespondenzstruktur erhellen. Ganz selten findet sich ein interpretierender Kommentar. Als Gruber im Frühjahr 1748 verstarb, waren die vorbereitenden Arbeiten noch nicht abgeschlossen (wenn auch der Oldenburg-Briefwechsel bereits Anweisungen an den Drucker enthält). Wie üblich wurde das in seinem Nachlass aufgefundene gesamte Briefmaterial vom Hof gesichtet und, angesichts der Herkunft aus Besitz des Hauses, versiegelt und in der Königlichen Bibliothek deponiert. Bald aber erging Ordre, die Abschriften sukzessive freizugeben (freilich unter dem Vorbehalt: „in so weit darin nichts Verfängliches vorkomt“ [S. 173]) an die Witwe, die gebeten hatte, die bereits erteilte Druckerlaubnis bestehen zu lassen. Auch wurde die Fortführung des Projekts insgesamt, unter Weiterarbeit der Bibliotheksschreiber, von der Regierung befürwortet. Für die Herausgabe stand an der neu gegründeten Georgia Augusta ein Helfer zur Verfügung. Dadurch kam ein Teil der Abschriften nach Göttingen; Spuren weiterer Bearbeitung zeigen veränderte Editionsrichtlinien. Erschienen sind die weiteren geplanten Bände jedoch nie; auch dieses „in mancher Hinsicht fortschrittliche[] Editionsprojekt[]“ (S. 175) blieb in den Vorarbeiten stecken – und so mancher Brief, der durch Gruber in die Öffentlichkeit gekommen wäre, ist erst in den letzten Jahren durch die Akademie-Ausgabe ediert worden oder harrt immer noch der Edition. *** Nach diesen Beispielen von (projektierten oder zum Abschluss gebrachten) Leibnizeditionen, die, selbst Zeugnisse früher Leibnizrezeption, mit ihrem Erscheinen Einfluss auf die weitere Wirkungsgeschichte gehabt oder durch ihr Nicht-Erscheinen diese für bestimmte Bereiche erschwert haben, handeln die beiden Beiträge der letzten Sektion von einer Form der Rezeption in Latenz, die sich vor allem, vom
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Buchmarkt abgewandt, im Austausch über unveröffentlichtes Material widerspiegelt. Stefan Lorenz führt in: „‚[…] quelques objections […] par un celebre protestant Lutherien illustre & et du premier ordre entre les sçavants‘. Naudé, Löscher und Leibniz: Eine Debatte über die Vollkommenheit Gottes im Vorfeld der Theodizee (1707–1709)“ wieder in das Berliner Refuge; zu Philipp Naudé dem Älteren, seit 1701 Mitglieder der Sozietät der Wissenschaften und „Mathematicien de profession, mais Théologien de goût & d’inclination“ (S. 195). Dessen zahlreiche Schriften widmeten sich fast ausschließlich theologischen Themen, insbesondere der Verteidigung der reformierten Prädestinationslehre auf der Basis eines rigiden Supralapsarianismus. In seinem 1708 erschienenen Hauptwerk La Souveraine perfection de Dieu vertritt er diesen „in unnachgiebiger Härte, wobei er gleich an mehreren theologischen Fronten kämpft“; sowohl gegen die „Disjunktion von Glaube und Vernunft, wie sie Pierre Bayle […] propagiert hatte, als auch gegen mildere, rationalistische Tendenzen im theologischen Lager des Calvinismus“ (S. 199). Leibniz, der mit Naudé korrespondierte, in Berlin persönlich mit ihm verkehrte und ihn schätzte (er hatte ihm auch die Nouveaux Essais zur Lektüre anvertraut), war „zu dieser Zeit […] noch nicht bereit […], sich eigens und vor allem öffentlich mit den religionsphilosophischen Ansichten Bayles auseinanderzusetzen und sich auf die hierüber laufenden Diskussionen, an denen auch Naudé teilnimmt, einzulassen“ (S. 200). Doch erhielt er die Souveraine perfection de Dieu zugesandt; das Handexemplar in der GWLB Hannover zeugt von seiner Beschäftigung damit. Auch bei Naudés nächster Schrift, einer Replik auf die zahlreichen Einsprüche von Theologen unterschiedlichster Richtungen, dem 1709 herausgebrachten Recueil des objections qui ont été faites […] contre le traité de la Souveraine Perfection de Dieu, spiegelt Leibniz’ Handexemplar die Lektüre. Hier findet sich auf S. 75 bis 99 eine Auseinandersetzung mit einem anonym bleibenden Kontrahenten: Reponse à quelques objections qui m’ont été faites par un celebre Protestant Lutherien illustre & et du premier ordre entre les Sçavans. Die zehn Einwände des berühmten Lutheraners, die von Naudé wiedergegeben und ausführlich beantwortet werden, charakterisiert Lorenz als „Antwort eines Autoren […], der – zwar auf dem Boden eines gemäßigten Luthertums stehend – von einer durchdachten, rationalen Religionsphilosophie her argumentiert“ (S. 202); er beziehe „deutlich theologisch und philosophisch Stellung für einen konsequenten Rationalismus und Essentialismus“, alle Elemente seiner Argumentation ließen „einen Denker erkennen, dessen Einwände […] in einem durchdachten metaphysischen Konzept gründen“ (S. 206). Die Identität des berühmten Lutheraners scheint den Zeitgenossen verborgen geblieben zu sein. Dass es niemand anderer als Leibniz war, ergibt sich bereits aus dessen Brief an Naudé von Ende 1707, in dem sich Formulierungen der objections finden. Auch enthalten die Kommentare im Handexemplar Verweise darauf. Damit bleibt Leibniz im Status des „blinden Passagiers“ und geht doch „an Deck“: „[D]ie Zeitgenossen konnten mit dem anonymen Abdruck von […] wesentlichen Passagen des Leibniz’schen Briefs an Naudé […] [im] Recueil von 1708 durchaus in nuce die zentralen Positionen Leibnizens in der Theologie, der natürlichen Theologie und der Metaphysik, wie er sie dann in den Essais de Théodicée ausführlich darlegen wird, inhaltlich zur Kenntnis nehmen, ohne diese jedoch ihrem wirklichen Autor
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zuordnen zu können“ (S. 208). Als Anonymus trifft ihn alsbald die vehemente Kritik des orthodoxen Lutheraners Valentin Löscher, die sich zwar primär gegen Naudé richtet, aber auch dessen Gegenüber nicht ausspart, indem er Naudé vorwirft, er setze sich mit Positionen auseinander, die nur dem Schein nach lutherisch seien. „Auch hier haben wir eine ‚latente‘ Wirkung Leibnizens vor uns, die alsbald in den ‚akuten‘ Zustand übergehen wird: Löscher wird schon im Erscheinungsjahr der Essais de Théodicée diese […] kritisieren und just die Punkte ausführlich ansprechen, die er hier bereits in nuce vorgebracht hat“ (S. 214). Auch Naudés Absicht war es gewesen, „seine Kritik am metaphysischen Optimismus Leibnizens von einer ‚latenten‘ in eine ‚manifeste‘ Form übergehen zu lassen“ (S. 215). Dies ergibt sich aus familiären Papieren – und aus einem druckfertigen Manuskript, dessen Auseinandersetzung mit der Théodicée bereits aus dem Titel hervorgeht. Zu der von Naudé erhofften Veröffentlichung kam es nicht. „So ist das Manuskript ein ‚latentes‘ Wirkungsmoment der Leibniz’schen Theodizee geblieben“ (S. 216). Der Beitrag von Ursula Goldenbaum: „Eine frühe Rezeption von Leibniz’ Dynamik oder Was wir von der Korrespondenz zwischen Louis Bourguet und Jacob Hermann lernen können“, handelt ebenfalls von der Rezeption Leibniz’schen Gedankengutes, das vorerst weitgehend unveröffentlicht blieb: der Dynamik. Dieses Thema war ein (hier detailliert nachgezeichneter) Schwerpunkt im brieflichen Dialog zwischen Leibniz und seinem Protegé Jacob Hermann. Nicht zuletzt in der Hoffnung, einen mathematischen Bündnispartner für seine Kritik an Newtons These einer Anziehungskraft der Materie zu finden, ließ Leibniz in einer zum Teil dichten Folge von Briefen den Bernoulli-Schüler an seinen „inventa dynamica“, insbesondere der Entwicklung seiner alternativen Erklärung der Planetenbahnen teilhaben, und er ermunterte ihn zu eigenen Publikationen. Ein von ihm vorgeschlagenes Opus dynamicum Hermanns kam freilich nie zur Ausführung. Aber die Dynamik wurde Thema im brieflichen und mündlichen Dialog zwischen Hermann und Louis Bourguet, den beiden Schweizern, die sich 1710 bis 1713 gemeinsam in Padua und Venedig aufhielten und auch danach durch (nur noch in Hermanns Briefen überlieferter) Korrespondenz verbunden waren. Durch den Kontakt zu dem Adepten der neuen Mathematik erhielt Bourguet Zugang zum Infinitesimalkalkül und zur Dynamik. Dadurch veränderte sich sein – bisher vor allem von antiquaristisch-philologisch-theologischen Fragestellungen geleitetes – Interesse an Leibniz, das sich seitdem vor allem auf dessen Metaphysik richtete, „auf der Grundlage von dessen Dynamik im Zusammenhang mit der natürlichen Theologie“ (S. 241). Widerspiegelung findet diese neue Orientierung in Bourguets Korrespondenz mit Leibniz, in Hermanns Briefen an ihn – und in seinem (gescheiterten) Projekt einer Leibnizedition, in deren Zentrum die Dynamik stehen sollte. Bourguets besonderes Interesse an dieser Thematik zeigt sich auch an den in seinem Nachlass in Neuchâtel überlieferten Abschriften von Leibnizschriften. „Diese inhaltliche Ausrichtung unterscheidet […] seinen Editionsplan grundlegend von anderen Leibnizrezeptionen jener Jahre“ (S. 244). War diese Ausrichtung Frucht der intensiven Diskussionen mit Hermann und von dessen Unterweisung, so spiegeln Hermanns Briefe an Bourguet andererseits die gemeinsame Auseinandersetzung mit der Théodicée, die ihm
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einen veränderten Zugang zu Leibniz’ Dynamik eröffnet zu haben scheint. „Bourguets metaphysisches Interesse scheint dabei […] die Rolle mindestens eines Katalysators gespielt zu haben“ (S. 253). Beide Schweizer, in deren brieflichem Austausch Leibniz sehr präsent ist, die ihre jeweilige Korrespondenz mit ihm auch gegenseitig einander zur Kenntnis gebracht zu haben scheinen, stellen mit ihrer intensiven Auseinandersetzung mit einem zentralen, aber lang in der Latenz verbleibenden Leibnizthema ein Beispiel für Rezeption auch außerhalb des Buchmarktes dar. **** Es liegt auf der Hand, dass der vorliegende Band seine Thematik – Überlieferungsbildung ebenso wie Latenz – allenfalls anreißen konnte. Viele Fragen mussten unbeantwortet bleiben, viele Materialgruppen harren weiterhin der Bearbeitung. Eine Frage sei hier wenigstens noch angeschnitten: die nach der Kehrseite der Überlieferungsbildung, den Verlusten. Dass es diese gegeben hat (und zwar nicht nur aus den Korrespondentennachlässen, sondern auch vom Schreibtisch), kommt in mehreren Aufsätzen des Bandes zur Sprache. Sammeln kann Konservieren bedeuten, aber auch Versprengen (und Aussortieren). Zur Illustration soll erneut ein Sammler herausgegriffen werden, der hier bereits Gegenstand eines Beitrags war, Charles Etienne Jordan. In seiner Gestalt erscheinen noch einmal viele Aspekte dieses Bandes gebündelt. Als Zögling von La Croze und in dessen Umkreis befand er sich in den 1720er Jahren in einem Zentrum clandestiner Gelehrsamkeit in Berlin, in dem Texte außerhalb des Buchmarktes kursierten. Dieser Kreis, in dem das Kommunizieren nicht nur von Büchern, sondern auch von Handschriften üblich war80 und dem etliche von Leibniz’ Korrespondenten angehörten, die im Besitz seiner Briefe waren oder Zugang zu solchen in Händen anderer hatten, bot einen guten Nährboden für eine nicht-öffentliche LeibnizMemoria81. Dass Jordan bereits in jungen Jahren eine beträchtliche Kollektion von Leibnitiana zusammengetragen haben muss, vor allem aus Berlin, insbesondere von Leibniz’ dort verbliebenen Papieren, wissen wir aus den Arbeiten Paul Schreckers, Jens Häselers und jetzt Stephan Waldhoffs82. Diese Sammlung, die, noch im Aufbau, 1726 bereits über 400 Stücke umfasste, steht am Anfang einer Überlieferungsbildung von beträchtlicher Dynamik – im positiven wie im negativen Sinn. Denn auf sie gehen nicht nur die (teils originalen, teils abschriftlichen) Handschriftenkonvolute in Berlin, Warschau, Sankt Petersburg sowie in Krakau83 und die Drucke von 80 Dazu M. Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739), Tübingen 2001. 81 Vgl. J. Häseler: Jordan (wie Anm. 65), S. 305, sowie oben Anm. 3. 82 Vgl. die oben in Anm. 55 und Anm. 65 genannten Arbeiten sowie den Beitrag Stephan Waldhoffs in unserem Band. 83 Bei den Stücken in Sankt Petersburg und in Krakau handelt es sich freilich um wesentlich spätere Verlagerungen.
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Leibnitiana durch Kapp, Kortholt und, sehr vereinzelt, Jordan selbst84, vielleicht auch Ludovici85, zurück; es lassen sich auch Verluste erahnen. Gut bezeugt ist Jordans Aussage, in seinem Besitz befänden sich etwa 30 Briefe aus der Korrespondenz zwischen Leibniz und der preußischen Königin Sophie Charlotte; von diesen haben sich allenfalls vereinzelte, schwache Spuren erhalten86. Material, das er für Bourguets Editionsprojekt zur Verfügung gestellt hatte, forderte er zwar zurück, aber auch hier hat es, vergleichbar mit den Verleihungen aus Hannover an König, den Anschein, als habe keine 1:1-Restitution stattgefunden87. Und Jordans für Bourguet erstellte Auflistung von Korrespondenzen in seinem Besitz findet ihre Entsprechung in einem Befund, den es eigentlich gar nicht geben dürfte: in Überlieferungslücken bei den Briefen von Leibniz’ Berliner Korrespondenten – deren Namen in eben dieser Liste auftauchen88. Noch vor der Kooperation mit Bourguet stehen eigene Editionspläne Jordans89, unter dem Titel Leibniziana nova mit Auszügen aus Briefen, wohl eher anekdotenhaft, eben als Ana90. Die Arbeit daran muss, wie Eintragungen im vorhandenen Material zeigen, fortgeschritten gewesen sein91; das spiegelt sich auch in Informationen zu einzelnen Texten, die an Bourguet gehen92. Aber auch dieses Unternehmen ist nicht zum Abschluss gekommen; über die Gründe kann man nur spekulieren. Jordan selbst führt das Desinteresse der brandenburgischen Verleger an93 – vielleicht haben wir es hier wieder mit dem für Leibniz ungünstigen Klima zu tun. Jens Häseler vermutet allerdings, Jordan habe eine Publikation nie wirklich in Angriff genommen: „Er begnügte sich damit, Editionen anzuregen und das von ihm gesammelte Material zur Verfügung zu stellen“94. Also edieren lassen statt edieren – das ist uns bereits an anderer Stelle in diesem Band begegnet. In einem Kreis von Gelehrten beheimatet, dem einst auch Leibniz, persönlich und brieflich, verbunden gewesen war, in dem er nach seinem Tode immer noch sehr präsent war, in dem Leibnitiana in Fülle zugänglich waren, verkörpert Jordan damit ein Interesse an Leibniz, das intensiv ist, aber weitgehend „unter Deck“ bleibt: Leibniz-Rezeption in Latenz. 84 In seinem Recueil de littérature, de philosophie et d’histoire, Amsterdam 1730. 85 Bei dem bei C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 44), 2, S. 204, erwähnten „Durchreisende[n]“, der ihn „mit einem von dem Hrn. Leibnitz eigenhändig geschriebenen und an die Königin von Preussen übermacheten Briefe beschenckete“, könnte es sich um Jordan gehandelt haben. Der im Anschluss (ebd., S. 205 f.) gedruckte Brief dürfte allerdings an Sophie Charlottes Mutter Sophie gerichtet gewesen sein (A I, 8 N. 19). 86 J. Häseler: „Leibniz’ Briefe“ (wie Anm. 65), S. 305 f.; N. Gädeke: „Der Unmut der Königin“ (wie Anm. 65), passim. 87 Ebd., S. 186 f. mit Anm. 88. 88 Ebd. sowie S. 184 mit Anm. 72. 89 Zum Editionsprojekt J. Häseler: „Leibniz’ Briefe“ (wie Anm. 65), S. 306. 90 Von dieser Art sind die wenigen Proben, die Jordan in seinem Recueil (wie Anm. 84) bringt. 91 Das zeigen Kommentare in den Abschriften von Stücken aus Leibniz’ Korrespondenz mit dem Berliner Oberzeremonienmeister Johann von Besser in einem Konvolut, das sich nachweislich in Jordans Besitz befand (Berlin Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Ms. Gall. qu. 93); vgl. die Überlieferungsbeschreibung in A I, 19 N. 157, N. 186, N. 267. 92 N. Gädeke: „Der Unmut der Königin“ (wie Anm. 65), S. 185. 93 J. Häseler: „Leibniz’ Briefe“ (wie Anm. 65), S. 306. 94 J. Häseler: Jordan (wie Anm. 65), S. 93.
VERSPRENGTE ÜBERLIEFERUNG VON LEIBNITIANA Ein Überblick auf der Basis des Arbeitskatalogs der Leibniz-Edition* Von Sabine Sellschopp (Potsdam) Der zu Anfang des 20. Jahrhunderts für die Akademie-Ausgabe angelegte Zettelkatalog der Fundorte von Leibnitiana besteht aus sechs Kästen mit jeweils Hunderten von Karteizetteln mit den Basisangaben zu den erfassten Dokumenten. Die Zettel zu „Archive und Bibliotheken“ im „Ausland“ füllen gut die Hälfte eines Kastens, die zu „Deutschland“ einen weiteren Kasten ganz. Darin fehlt aber der Fundort „Hannover“: ihn repräsentieren vier eigene Kästen, stark gefüllt. Das bereits macht die Bedeutung Hannovers für die Leibniz-Überlieferung augenfällig: hier lagert der größte Teil der ca. 65.000 Leibniz-Dokumente1, die auf etwa 200.000 Blätter verteilt sind. „Hannover“ bedeutet: Niedersächsisches Landesarchiv (NLA – Hauptstaatsarchiv) und Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek, die Nachfolger des kurfürstlichen-königlichen Archivs und der kurfürstlichen-königlichen Bibliothek. In diese Einrichtungen gelangten bald nach Leibniz’ Tod die in seiner Wohnung vorhandenen Papiermassen in einer Aufteilung, durch die sein „gesamter handschriftlicher Nachlass, soweit es sich nicht um amtlichen Schriftverkehr handelt, der Bibliothek zur Verwahrung übergeben
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Die Vortragsform wurde beibehalten. Für Auskünfte danke ich der Universitätsbibliothek Basel, dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin, dem Stadtarchiv Braunschweig, der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, der Universitätsbibliothek der TU Bergakademie Freiberg, dem Stadtarchiv Göttingen, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle, der Universitätsbibliothek Leipzig, der British Library in London, der Klassik-Stiftung Weimar sowie der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Joachim Bahlcke, Charlotte Wahl, Stephan Waldhoff und Friedrich-Wilhelm Wellmer sage ich Dank für weiterführende Hinweise und Austausch. Für klärende Gespräche mit Nora Gädeke bin ich in besonderem Maße dankbar. Vgl. H. Poser: „Die Frühphase der Leibniz-Edition“, in: W. Li (Hrsg.): Komma und Kathedrale. Tradition, Bedeutung und Herausforderung der Leibniz-Edition, Berlin 2012, S. 23–55, hier S. 24.; Abbildungen von Katalogzetteln S. 29 f.
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wurde“2. Amtliches kam ins Archiv. Dass die hannoversche Regierung die Papiere ihres Geheimen Justizrats einzog, war ein Glücksfall, denn so blieben der Nachwelt die von Leibniz lebenslang angesammelten Papiere im Wesentlichen erhalten, ein in Größe, Geschlossenheit und Reichhaltigkeit einmaliger Nachlass. In der digitalisierten Version des Zettelkatalogs verweisen etwa 40.000 Datensätze von rund 60.000 auf den Fundort Hannover; davon beziehen sich etwa 3.500 Datensätze auf Archivalien im NLA – Hauptstaatsarchiv, die Mehrzahl jedoch entfällt auf die GWLB3. Sie hütet das Gros der Papiere, die Leibniz in seiner Wohnung bei und um sich hatte: eigene Notizen, Entwürfe, zurückgehaltene Ausarbeitungen, Exzerpte, Abschriften – alles, was er für eigene Zwecke geschrieben bzw. für seinen Gebrauch festgehalten hatte oder nicht aus der Hand geben wollte, dazu alles, was an ihn gelangt war, insbesondere die Schreiben seiner wohl mehr als 1.200 Korrespondenten. Für diese Materialien hat sich im Kollegenkreis die Wendung ‚Leibniz’ Schreibtisch‘ verfestigt. Das ist sicherlich verkürzend, denn Leibniz’ Papiere waren ja über mehrere Räume verteilt4 – die Chiffre ‚Schreibtisch‘ signalisiert, dass Papiere der eben umrissenen Art gemeint sind; Papiere solchen Charakters sollte man in Leibniz’ schriftlichem Nachlass, in Hannover, überliefert erwarten. Nun finden sich derartige Papiere aber auch an anderen Orten. Abfragen an den elektronischen Arbeitskatalog nach außer-hannoverscher Überlieferung von Textzeugen, für die Leibniz als Urheber verzeichnet ist – mit Ausnahme all der von ihm selbst abgefertigten Briefe –, sowie nach Briefen, für die er als Adressat genannt ist, erbringen zunächst mehr als 9.000 Ergebnisse. Darunter sind freilich viele Angaben zu Textzeugen, deren auswärtige Überlieferung nichts Überraschendes hat, da sie nicht seinem ‚Schreibtisch‘ zuzurechnen sind,5 etwa: 2 3
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W. Totok: „Die Niedersächsische Landesbibliothek. Ein Überblick“, in: W. Totok/K.-H. Weimann (Hrsg.): Die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover, Frankfurt a. M. 1976, S. 3–13, hier S. 12. Der digitalisierte Arbeitskatalog ist zugänglich unter: http://www.leibnizedition.de/hilfsmittel.html. Bei der Vorbereitung dieses Beitrages 2013/2014 wurde eine editionsinterne Version benutzt. Bei den Abfragen wurden neben den Fundortangaben, in denen „Hannover“ in Verbindung mit Siglen wie „HstA“, „NLB“ oder „Ms“ (für: Hannover Hauptstaatsarchiv – heute NLA Hannover, Hannover Niedersächsische Landesbibliothek – heute GWLB, oder deren Bestand an Manuskripten) kombiniert ist, die ohne lokalen Zusatz verwendeten Kurzbezeichnungen „LBr.“ und „LH“ (für die großen Gruppen der Leibnizbriefe und Leibnizhandschriften in der GWLB) berücksichtigt. Für das Stadtarchiv Hannover finden sich zwei Datensätze. Im Folgenden geschieht die Bezugnahme auf einzelne Dokumente unter Angabe ihrer Katalognummer (Kat_Nr); bei Stücken, die in der historisch-kritischen Leibniz-Ausgabe ediert sind, wird die Druckangabe hinzugesetzt, bei den anderen wird die Jahresdatierung beigefügt, sofern sie nicht im Text erwähnt ist. Zu den von Leibniz benutzten Räumen vgl. G. Scheel: „Leibniz als Historiker des Welfenhauses“, in: W. Totok/C. Haase (Hrsg.): Leibniz. Sein Leben – Sein Wirken – Seine Welt, Hannover 1966, S. 227–276, hier S. 228; M. Palumbo: „Das schöne supplementum. Die Privatbibliothek von Leibniz“, in: Studia Leibnitiana 38/39 (2006/2007), S. 19–41, hier S. 22, 33. Der Arbeitskatalog enthält etwa 25.000 Datensätze für Dokumente, die Leibniz selbst geschrieben hat oder unter seiner Aufsicht durch einen Schreiber verfertigen ließ, um sie wegzugeben: die zahllosen von ihm versandten Briefe, eigenhändig verfertigte und als Beilagen versandte
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Von Leibniz selbst angefertigte und als Beilagen versandte Abschriften von Dokumenten oder Auszüge aus bei ihm eingegangenen Briefen6. Von Korrespondenten angefertigte Auszüge aus Leibnizbriefen oder ihre Konzepte zu Briefen an ihn. Konzepte, Auszüge oder Abschriften von Leibniz’ Hand an Orten, an denen sie kein Erstaunen erregen müssen, weil er selbst sie weggab, wie in Wien überlieferte Textzeugen zu seiner Tätigkeit als Reichshofrat7 oder die Dokumente, die er dem Prinzen Eugen geschenkt hatte8.
Bereinigt man die Abfrage-Resultate um derartige Positionen sowie um eine Anzahl nicht aussagekräftiger Ergebnisse9, so verbleiben circa 200 Textzeugen an etwa zwanzig Fundorten. Um diese im Vergleich zur Gesamtmenge der Leibnitiana bescheidene Anzahl soll es im Folgenden gehen. Die Beschäftigung mit solchen unvermuteten Überlieferungen kann, so ist zu hoffen, zu Einblick darein verhelfen, welche Faktoren die Überlieferungsbildung im 18. Jahrhundert beeinflusst haben. Einige der Fundorte außerhalb Hannovers von Dokumenten, die Leibniz im Rahmen seiner Arbeiten erhielt oder zu eigenen Zwecken verfertigte, finden sich an Stätten, mit denen er durch seine Arbeit eng verbunden war. Das gilt für Clausthal, wo seine jahrelangen Bemühungen um den Bergbau im Harz sich in einem reichen Dokumentenbestand niedergeschlagen haben. Dass sich darunter auch für ihn bestimmte oder an ihn gerichtete Stücke befinden, etwa Herzog Johann Friedrichs Ratifikation des Vertrages zwischen Leibniz und dem Bergamt von 167910, ist auf ihren Zusammenhang mit den Harzer Arbeitsvorhaben zurückzuführen. Mit der sächsischen Berg-Stadt Freiberg hatte Leibniz nichts zu tun. Die dortige Universitäts-Bibliothek aber besitzt ein Manuskript mit der Aufschrift
Abschriften oder Auszüge sowie Ausarbeitungen etwa für die Höfe in Wolfenbüttel und Berlin. Ihre Fundorte sind geradezu folgerichtig weit verstreut. 6 Vgl. z. B. Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 42509 (Beilage zu A I, 18 N. 381), 56585 (Beilage, 1715), 11771 (in A I, 5 N. 208). 7 Vgl. Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 55311 (1714), 55309 (1714), 55310 (1714) und M. Faak: Leibniz als Reichshofrat, Diss. Humboldt-Universität (Berlin 1966), hrsg. von W. Li, Berlin/Heidelberg 2016, S. 165, 167. 8 Vgl. Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 54863 (1714), 54864 (1694), 54866 (1696), 54867 (1696) und A. Lamarra: „When Leibniz Edited Leibniz – The Case of the Collected Essays for Eugene of Savoy“, in: W. Li: Komma und Kathedrale (wie Anm. 1), S. 303–312. 9 Sie betreffen, wie z. B. Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 34688 (1714), Abschriften von Leibnizbriefen oder Auszüge aus Briefen an ihn, bei denen nicht ersichtlich ist, dass er selbst sie anfertigte oder anfertigen ließ; in anderen Fällen ist wie bei Kat_Nr 32804 (1694) oder 56002 (1698) Leibniz als Adressat fraglich. 10 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 43976 (A I, 2 N. 281), ferner etwa 43722 (A I, 3 N. 127), 43778 (A I, 4 N. 52).
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„Leibnitz und der Harz“11, das in vielleicht als abgeleitet zu nennender Weise mit dem Clausthaler Bestand zusammenhängt. Es enthält in fast 200 Positionen zumeist Abschriften, Auszüge oder Inhaltsangaben von Dokumenten zu Vorgängen im Harzbergbau der Jahre 1677–1686, aber auch Originale wie eine an Leibniz gerichtete Abfertigung12 und zahlreiche Eingaben von seiner Hand. Das Manuskript geht zurück auf Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra, der – nach schnellem Aufstieg in der sächsischen Bergverwaltung – seit 1780 anderthalb Jahrzehnte lang als Vizeund später Berghauptmann in Clausthal in welfischen Diensten stand und 1801 Oberberghauptmann wieder in seinem heimischen Sachsen wurde. Er wird während seiner Clausthaler Amtszeit die Sammlung mit den eingegliederten Originalen angelegt haben. Für seine 1789 veröffentlichte Darstellung Des Hofraths von Leibnitz misslungene Versuche an den Bergwerksmaschinen des Harzes. Aus Archivsnachrichten mitgetheilt13 scheint er auf diese Sammlung nur vereinzelt, überwiegend jedoch auf die in Clausthal verwahrten Dokumente zurückgegriffen zu haben14. Das von Trebra zusammengestellte Manuskript gelangte aus seinem Nachlass an die damalige Bergakademie. Dem Befund in Clausthal vergleichbar sind gewisse Stücke in Wolfenbüttel, wo Leibniz jahrzehntelang regelmäßig gearbeitet hat. Sein dortiges Wirken ist durch an ihn gerichtete Dokumente im Staatsarchiv Wolfenbüttel15 und der Herzog August Bibliothek16 belegt, Konzepte von seiner Hand finden sich dort nicht. Überraschend scheint die Überlieferung eines Briefes des Pariser Dominikaners Michel Lequien17 an Leibniz von Anfang September 1701 in der Herzog August Bibliothek. Wenn die Übermittlung dieses Schreibens – so wie die des zuvor an den Mönch geschickten Leibnizbriefs – über den französischen Gesandten in Wolfenbüttel und dessen Bruder, einen Ordensbruder Lequiens, lief, dann kann es Leibniz bei seinem Wolfenbüttel-Aufenthalt Ende September 1701 erreicht haben; dann aber könnte es über seiner Weiterreise nach Berlin und den Verwicklungen um Wolfenbüttel, von denen auch er sich absorbieren ließ, in Vergessenheit geraten sein. Auffällig ist jedenfalls, dass mit diesem Brief Lequiens die überlieferte Korrespondenz abbricht. Nicht geklärt werden konnte, warum ein von Leibniz korrigierter Druckbogen des 1706 erschienenen sogenannten Gwynne-Briefes18, dessen
11 Freiberg Bergakademie Ms. XVII 134; das Manuskript scheint seit einigen Jahren nicht auffindbar zu sein (E-Mail-Mitteilung der Universitätsbibliothek der TU Bergakademie Freiberg vom 28. Januar 2014). Die Angabe zur Aufschrift beruht auf der Notiz von 1925 „nach den Originalien“ im Zettelkatalog der Fundorte der Leibniz-Edition, Blatt 1871. 12 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 42928 (1682). 13 In: I. von Born/F. W. H. von Trebra (Hrsg.): Bergbaukunde, Bd. 1, Leipzig 1789, S. 305–324; Bd. 2, Leipzig 1790, S. 299–315. 14 Bei stichprobenartiger Überprüfung von zwölf der von Trebra herangezogenen Dokumente erscheint Ms. XVII 134 nur in einem Falle als Quelle. 15 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 56332 (A I, 24 N. 354). 16 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 32947 (1716). 17 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 56754 (A I, 20 N. 257). 18 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 33006 (1706).
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Urheberschaft er lebenslang verschwiegen hat, in der Herzog August Bibliothek liegt. Mit Berlin war Leibniz in besonderer Weise verbunden durch die von ihm mitbegründete Sozietät der Wissenschaften, die Vorläuferin der heutigen Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. In deren Archiv werden zahlreiche Konzepte, Aufzeichnungen und korrigierte Reinschriften von seiner Hand verwahrt, dazu auch an ihn gerichtete Schreiben, lauter Materialien, die man eher im Kontext seiner eigenen Unterlagen erwarten würde. Diese Dokumente beziehen sich nicht allein auf die Sozietät betreffende Themen, sondern auch auf andere Zielsetzungen, die Leibniz in Berlin verfolgte, wie die Kirchenunion oder sein Engagement für politische Ziele des Herrscherhauses, etwa das oranische Erbe19. Fertige Ausarbeitungen zu derartigen Fragen, die Leibniz an den Kurfürsten bzw. König und dessen leitende Mitarbeiter richtete, liegen – erwartungsgemäß – im Archiv des Hauses, dem heutigen Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Im Arbeitskatalog der Leibniz-Edition sind für die Bestände des kurfürstlich-königlichen Archivs jener Zeit Textzeugen der hier interessierenden Art nicht verzeichnet,20 was nicht verwundert. Hingegen kann es doch überraschen, dass sich im Archiv der Akademie Dokumente wie die zuvor genannten überliefert finden. Wir wissen kaum, wie Leibniz während seiner Berlinreisen und danach mit seinen Unterlagen umging. Von einem mutmaßlichen Dauerquartier erfahren wir erst, als er im Sommer 1708 auf das Angebot eingeht, in dem gerade beziehbar gewordenen Arbeits- und Wohnhaus für Gottfried Kirch, den Astronomen der Sozietät, ein Zimmer mit Nebenraum und Unterstellmöglichkeiten zu nutzen. Dort hat er vermutlich gewohnt, als er Anfang 1709 in Berlin war und wohl auch bei späteren Reisen. Und dort ließ er irgendwann nach 1708 unter Kirchs Obhut auch verschiedene Gegenstände zurück, die er bei einer Erkundigung 1716 beschrieb als „[e]ine Kiste, einen coffer, einen poststuhl und noch einige Kleinigkeiten“21; er verlor diese Dinge aber wohl spätestens nach seinem letzten Berlinbesuch 1711 weitgehend aus dem Blick, und sie gerieten – trotz seiner Nachfrage von 1716 – bis weit über seinen Tod hinaus in einen dornröschenschlafartigen Zustand. Wenn Charles Etienne Jordan 1730 Leibnizbriefe veröffentlichte, die er von Kirchs Sohn erhalten hatte22, so lässt das den Schluss zu, dass Leibniz’ Fundus im
19 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 35105 (A I, 15 N. 247), 35106 und 35107 (A IV, 7 N. 58); Kat_Nr 35092 (1707), 35093 (1707), 35108 (1707), 35109 (1707), 35117 (1707). Kat_Nr 35123 (A IV, 8 N. 40); betrifft eine Hochzeit im Fürstenhaus. 20 Eine Ausnahme bildet Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 52701, eine für Leibniz bestimmte Quittung von 1712, überliefert unter Unterlagen zur Sozietät. Ob hier ein Sachzusammenhang besteht, wird sich vielleicht erst im Laufe der Editionsarbeiten herausstellen; der Aussteller Borchward ist der Leibniz-Edition bislang nicht bekannt. 21 J. Kvačala (Hrsg.): Neue Beiträge zum Briefwechsel zwischen D. E. Jablonsky und G. W. Leibniz, Jurjew 1899, Nr. 151, S. 138, Brief vom 26. April 1716. 22 Vgl. P. Schrecker (Hrsg.): „G.-W. Leibniz: Lettres et fragments inédits sur les problèmes philosophiques, théologiques, politiques de la réconciliation des doctrines protestantes (1669–1704)“, in: Revue philosophique 118 (1934), S. 5–131, hier S. 9 f.
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Observatoriumsgebäude zugänglich geworden war. Es ist offen, unter welchen Voraussetzungen das geschah, für wie viele Beteiligte und in welchem Grad. Deutlich ist, dass Materialien aus dem Depot in jedenfalls zwei Richtungen verlagert wurden; und es scheint dabei, ähnlich wie 1716/1717 in Hannover, eine Unterscheidung zwischen dienstlichen und anderen Papieren angestrebt worden zu sein23. Ein Teil gelangte in das Archiv der Sozietät. Deren Sekretär Johann Theodor Jablonski hatte es fast drei Jahrzehnte lang in seinem Hause betreut; nach seinem Tod 1731 wurde es in das Observatoriumsgebäude, inzwischen Hauptsitz der Sozietät, verlegt24. Die Vermutung liegt nahe, dass die Überführung der Dokumente aus Leibniz’ Depot auf demselben Grundstück hiermit zusammenhängt. Ein anderer Teil gelangte zunächst an den Handschriftensammler Jordan, der Pläne für eine größere LeibnizEdition verfolgte, jedoch nicht verwirklichte. Er übergab vor 1733 einen Teil der Papiere, über die er verfügte25, an den Leipziger Johann Erhard Kapp; und durch diesen kam, vielleicht noch vor Mitte der 1750er Jahre, ein durch Kapps eigene editorische Tätigkeit sowie die Weitergabe von Briefen durch ihn an andere Editoren einerseits reduzierter wie andererseits durch seine eigene Sammeltätigkeit wieder vermehrter Bestand in die Autographensammlung des Grafen Załuski, die an die Warschauer Nationalbibliothek überging. Paul Schrecker hat diese Wege aufgedeckt und nachgewiesen, dass die von Leibniz in Berlin gelagerten Materialien zum einen vor allem Schriftstücke der Jahre 1698 bis 1704, insbesondere zu den Themen Kirchenunion und Sozietätsgründung, enthielten, die er bis 1704 nach Berlin mitgenommen hatte, sowie zum anderen Papiere, die während seiner Aufenthalte in Berlin entstanden waren26. Leibniz’ Auswahl aus seinen hannoverschen Dokumenten und die Papiere, an oder mit denen er in Berlin arbeitete, repräsentieren für ein knappes Jahrzehnt seinen dortigen ‚Schreibtisch‘. Darin, dass nach seinem Tod 1716 eine Rückführung dieses Nachlassbestandes nach Hannover unterblieb, lag die Voraussetzung dafür, dass die Papiere in der Folgezeit in Bewegung gerieten. Textzeugen von Leibniz’ Hand ohne Bezug auf die Sozietätsthematik, die im heutigen Akademiearchiv überliefert sind, werden einst in Gemengelage mit den zahlreichen sozietätsbezogenen Dokumenten unter seinen Papieren in das Archiv der Sozietät verbracht worden sein; das erklärt ihren heutigen Fundort27. Gleiches gilt für die im Kernbestand des 23 Vgl. H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften. 1697–1716, Berlin 1993, S. XII. 24 Vgl. http://archiv.bbaw.de/archiv/archivgeschichte (zuletzt eingesehen am 2.4.2014). 25 Zu Jordans Sammeltätigkeit vgl. zuletzt N. Gädeke: „Der Unmut der Königin über die Krönung. Zugleich eine Miszelle zur Leibniz-Überlieferung“, in: F. Beiderbeck/St. Waldhoff (Hrsg.): Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 175–188, hier S. 183 f. 26 Vgl. P. Schrecker: „Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 22), hier S. 10–13. 27 Einzelne dieser Textzeugen sind als nicht zum dienstlichen Schriftgut des Archivs gehörig in den 1952 neu gebildeten Bestand „Nachlaß Leibniz“ umsigniert worden. Das gilt etwa für Dokumente zur Kirchenunion (Arbeitskatalog [wie Anm. 3], Kat_Nr 35105 [A I, 15 N. 247], 35106 und 35107 [A IV, 7 N. 58]), zur oranischen Erbschaft (Kat_Nr 55416 [1702]), oder zu seiner Korrespondenz
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Warschauer Konvoluts überlieferten Leibnizkonzepte und an ihn gerichteten Briefe. Auch in St. Petersburg sind Konzepte von Leibniz’ Hand mit Berlin-Bezug überliefert, darunter Entwürfe zu Medaillen auf die preußische Krönung und zu einem Huldigungsgedicht für die neue Königin Sophie Charlotte28, alle 1701 während Leibniz’ Aufenthalt in Berlin entstanden. Auf diese und die Warschauer Überlieferung gehe ich nicht ein, sie hat ihren Ort in Stephan Waldhoffs Tagungsbeitrag. Ein Fortschreiten der Dispersion von Papieren von Leibniz’ Berliner Schreibtisch wird signalisiert durch drei heute in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz überlieferte eigenhändige Briefkonzepte und eine Aufzeichnung, die in einem aus Christoph Gottlieb von Murrs Sammlungstätigkeit hervorgegangen Konvolut enthalten sind29. Murr hatte die Dokumente 1774 von Johann III Bernoulli geschenkt bekommen; sie sind in den ältesten Aktenverzeichnissen der Akademie mit kennzeichnenden Angaben und alter Nummerierung aufgeführt, in ergänzenden Vermerken ist die Schenkung durch Bernoulli festgehalten30. Eines dieser Konzepte gilt einem Brief an Gerhard Wolter Molanus vom Dezember 1698 über die Natur des Übels, ein Thema aus dem Problemfeld der Kirchenunion; das spricht dafür, dass der in Hannover entstandene Entwurf zu den nach Berlin mitgenommenen Papieren gehörte. Mit welcher Berechtigung Johann III Bernoulli, Akademiemitglied und Direktor der Sternwarte, über Dokumente aus dem Archiv der Akademie verfügte, muss vorerst offen bleiben. Auf Streuung von Berliner Leibniz-Papieren können auch Leibniz’ Auszug aus seinem Brief an Kurfürstin Sophie vom 13. Juli 1700 und sein wohl im Februar 1705 entstandenes Konzept zu einer Versinschrift auf die verstorbene Königin Sophie
mit den Geheimen Räten in Hannover (Kat_Nr 35122 [A I, 17 N. 76], 35098 [A I, 18 N. 12], 35116 [A I, 17 N. 101]). 28 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 55181 sowie 55182 und 55185 (drei Textzeugen zu A I, 19 N. 287), 55184 (1701), 55186 (1701). 29 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 40603 (an einen nicht genannten Minister, undatiert), 36032 (A I, 16 N. 193), 36033 (an Rømer, 5. März 1700), 36026 (betr. Kalenderreform, Observatorium, auf 1700 zu datieren). Für das undatierte Konzept Kat_Nr 40603 vermutet Murr eine Entstehung im Jahr 1706 in Zusammenhang mit Leibniz’ Einsatz für territoriale Ansprüche König Friedrichs I. (vgl. C. G. v. Murr [Hrsg.]: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur, 1, Nürnberg 1775, Anm. S. 264 f.); die Datierung im Rahmen der Akademie-Ausgabe steht noch aus. – Murr erhielt von Bernoulli 1774 ebenso das Konzept zu einem auch astronomische Fragen berührenden Leibnizbrief an J. A. Schmidt, Kat_Nr 15410 (A I, 18 N. 261); vgl. C. G. v. Murr, ebd., S. 257, Anm. *; in den ältesten Verzeichnissen der Akademie ist es nicht aufgeführt. 30 Vgl. bei Kat_Nr 40603, 36032, 36033, 36026 die Angaben in den Feldern „Bemerkungen“ bzw. „Note“. Bernoullis Vermerk in den Akten der Akademie zur Schenkung von Kat_Nr 36026 beginnt mit den Worten: „Ein defektes Blatt von Leibnizens Hand [...]“. Für ein weiteres „defektes Blatt [...] von Leibnizens Hand“ (Kat_Nr 36028) sowie mehrere eigenhändige Konzepte oder Aufzeichnungen von ihm (Kat_Nr 36027, 36022, 36023, 36038, 36034) – den Angaben zum Betreff nach alle aus der Gründungszeit der Sozietät – steht in den ältesten Verzeichnissen der Akademie der Vermerk „nicht mehr vorhanden“; welchen Weg sie genommen haben, lässt sich nicht erkennen.
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Charlotte im Berliner Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz hindeuten31. Ihre Entstehung fällt in Zeiten, zu denen Leibniz sich in Berlin aufhielt; man wird sie somit seinen dort gelagerten Papieren zurechnen können. Über den Weg dieser Dokumente ist freilich nur bekannt, dass sie im Archiv des Geheimen Kabinetts verwahrt worden waren, bevor sie dem 1849 geschaffenen Brandenburg-Preußischen Hausarchiv zugewiesen und in eine dem Prinzen Heinrich zugeordnete Personalrepositur eingegliedert wurden; nähere Umstände sind infolge kriegsbedingter Verluste in der Registratur des Geheimen Staatsarchivs nicht mehr zu ermitteln. Im Stadtarchiv Göttingen werden rund 20 Leibnitiana verwahrt, die dorthin in den 1980er Jahren nach einer „Bestandsbereinigung“ im Städtischen Museum abgegeben worden sind; wie sie dahin gelangt waren, ist nicht bekannt. Es handelt sich um undatierte Aufzeichnungen, Exzerpte aus Briefen anderer, ferner Briefe, die zwischen 1697 und 1712 an Leibniz gerichtet oder an ihn weitergegeben wurden, und ein Briefkonzept von seiner Hand32. Fünf Aufzeichnungen und einer der Briefe an Leibniz entsprechen Beiträgen, die dieser im ersten Band der Miscellanea Berolinensia 1710 veröffentlichte33. Das legt die Vermutung nahe, diese Textzeugen könnten die von Leibniz für den Druck zur Verfügung gestellten Vorlagen gewesen sein, die anschließend anderswohin gelangt und in Umlauf gekommen sind. Wenn das durch die noch ausstehende Textkollationierung bestätigt wird, dann haben diese Dokumente Leibniz’ Berliner Schreibtisch schon zu seinen Lebzeiten verlassen. Charlotte Wahl vermutet auch für die meisten der anderen Aufzeichnungen im Göttinger Stadtarchiv einen Zusammenhang mit den Miscellanea; Klarheit kann erst die Edition bringen. Das in Berlin entstandene Konzept zu Leibniz’ Brief an Ole Rømer34 vom 27. Januar 1703 kann aus den in Berlin gelagerten Leibnizpapieren in das Archiv der Sozietät gekommen sein, zusammen mit anderen Textzeugen zu Leibnizbriefen an Rømer, die im ältesten Verzeichnis der Sozietät registriert wurden und mit dem Vermerk „nicht mehr vorhanden“ versehen worden sind35. Den gleichen Überlieferungsweg mag der 31 E-Mail-Mitteilung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz vom 24. März 2014 zu Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 70140 (weiterer Textzeuge zu A I, 18 N. 106) und 70137; Stefan Luckscheiter hat sie bei Arbeiten an A IV, 8 aufgefunden. 32 E-Mail-Mitteilung des Stadtarchivs Göttingen vom 24. Februar 2014. Im Arbeitskatalog sind davon erfasst, jedoch nicht mit Kat_Nr versehen: Göttingen Stadtarchiv MSL Nr. 1–14, fol. 1–23; von den an Leibniz übersandten Briefen im Besitz des Göttinger Stadtarchivs waren vier (P. Dangicourt, vor dem 3. Januar 1703; J. Bernoulli, 8. April 1711; G. B. Zanovello, 8. Dezember 1711; E. Schenck, 24. Mai 1712) bei Vorbereitung dieses Beitrages ohne Signatur; im Arbeitskatalog der Leibniz-Edition sind sie nicht erfasst. 33 Vgl. Miscellanea Berolinensia 1 (1710) mit den Aufzeichnungen S. 1–16 (zu MSL fol. 1–3), S. 131–133 (zu MSL fol. 4), S. 160–165 (zu MSL fol. 5), S. 170–173 (zu MSL fol. 6a, 6b), S. 186–187 (zu MSL fol. 7) sowie S. 188–196 dem Brief D. Guglieminis, 5. Juni 1697 (zu MSL fol. 21–23). 34 MSL fol. 8. 35 Vgl. Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 36035 (19. Januar 1700) und 36034 (18. März 1700); es wird sich um Konzepte gehandelt haben, da zu beiden Textzeugen Abfertigungen überliefert sind. Leibniz’ Konzept zu seinem Brief an Rømer vom 5. März 1700, Kat_Nr 36033, gehört zu den oben erwähnten Dokumenten, die Johann III Bernoulli verschenkte.
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Brief des älteren Johann Bernoulli vom 11. April 1711 gehabt haben, der bei Leibniz noch vor dessen letzter Abreise aus Berlin in der ersten Maihälfte eingetroffen sein kann und dort zurückgelassen worden sein mag36. Bernoullis Brief und das Konzept an Rømer waren einige Jahrzehnte später in der Hand desselben Besitzers37. Korrespondentenbriefe im Besitz des Göttinger Stadtarchivs, die nach Anfang Mai 1711 bei Leibniz eingegangen waren, können nicht aus den in Berlin gelagerten Papieren stammen; sie müssen über noch weniger erahnbare andere Wege nach Göttingen gelangt sein. An einigen außerhannoverschen Fundorten liegen Leibnitiana der hier interessierenden Art, die sich ursprünglich wohl in Hannover befunden haben. Die Forschungs- und Landesbibliothek Gotha besitzt in Chart. A 448–449 einen Sammelband mit, wie es in Hans-Joachim Rockars Beschreibung heißt, „Briefen und Schriften von Leibniz und einigen seiner Zeitgenossen“38. Tatsächlich enthält der Band jedoch keine von Leibniz abgefertigten Briefe, sondern dessen Konzepte zu einundzwanzig Schreiben und dreizehn Aufzeichnungen sowie siebzehn an ihn gerichtete Briefe. Hinzu kommen Dokumente, die durch seine Hände gegangen waren, wie auch solche, die nicht von ihm stammen, teils erst nach seinem Todesjahr 1716 entstanden sind39. Die Textzeugen aus Leibniz’ Lebenszeit datieren von 1674 bis 1716, zumeist aber nach der Jahrhundertwende und 1711. Rockar bringt dieses Material in Zusammenhang mit dem 1793 vollzogenen Verkauf großer Teile von Johann Bernoullis Nachlass durch dessen Enkel Johann III nach Gotha und vermutet, dass „in dieser Zeit [...] wohl auch die Stücke der Handschrift Chart. A 448–449 erworben worden sein [werden]“40. Dabei bleibt freilich unerörtert, wie Dokumente, die Leibniz für sich notiert hatte oder die für ihn bestimmt waren, aus hannoverscher Aufbewahrung hinausgelangt und in bernoullische Verfügung gekommen wären. Einen Hinweis auf ihren möglichen Weg zu Johann III Bernoulli hat Malte-Ludolf Babin mit seiner Bemerkung gegeben, es dränge „sich die Annahme förmlich [...] auf, dass diese Materialien aus Samuel Königs Nachlass stammen“41. Charlotte Wahl wird uns in ihrem Beitrag Aufschluss geben, wie es sich damit verhält, und welche auswählende und ordnende Hand dabei am Werk war. 36 Das gilt vermutlich auch für das vor Januar 1703 entstandene Schreiben P. Dangicourts. 37 Nach freundlicher Mitteilung von Charlotte Wahl tragen sie von derselben Hand notierte Bibliotheksvermerke. 38 H.-J. Rockar: Leibniz und sein Kreis. Handschriften von Gottfried Wilhelm Leibniz und einigen seiner Zeitgenossen in der Forschungsbibliothek Gotha, Gotha 1979, S. 18–30, hier S. 18. 39 Es handelt sich um für Leibniz bestimmte mathematische Aufzeichnungen, von ihm annotierte mathematische Drucke sowie einige nicht von ihm stammende Dokumente und schließlich zwei Texte von 1726 und 1734. 40 H.-J. Rockar: Leibniz und sein Kreis (wie Anm. 38), S. 9. Der Inhalt des Chartulars war ursprünglich auf sieben Faszikel verteilt, die erst in Gotha zu einem Band vereinigt wurden. 41 M.-L. Babin: „Anecdota Leibnitiana. Christoph Gottlieb von Murr und seine Leibnizsammlung“, in: Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G. W. Leibniz. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, hrsg. von H. Poser in Verbindung mit Ch. Asmuth, U. Goldenbaum und W. Li, Berlin 10.–14. September 2001, S. 50–56, hier S. 52.
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Erklärungsbedürftig ist, auf welche Weise eine Abfertigung von Wilhelm Ernst Tentzel an Leibniz42 in das Gothaer Chartular B 199, einen Sammelband aus dem Nachlass dieses Leibnizkorrespondenten, gelangt ist. In der Universitäts- und Landesbibliothek Halle wird die Sammlung Johann Friedrich Pfaff verwahrt, die auf dem schon in den 1730er Jahren von Carl Günther Ludovici erwähnten „ziemlichen Vorrath von Leibnitzischen Briefen im Manuscripte“43 des Helmstedter Professors Johann Nikolaus Frobesius beruht44. In Gruppe C dieser Sammlung (mit vermischten Briefen anderer und Abschriften von Leibnitiana) liegt eine undatierte Aufzeichnung45 von Leibniz zu einer technischen Frage und provoziert die Vermutung versprengter Überlieferung; wenn sich aber Bezug zu einem der in Gruppe A (mit Abfertigungen von Leibniz) überlieferten Leibnizbriefe an Rudolf Christian Wagner, seinen wichtigen Korrespondenten gerade für technische Dinge, feststellen ließe, dann könnte ein durch Verlegen innerhalb der Sammlung verdunkelter ursprünglicher Zusammenhang bestehen46 – vielleicht wird die Edition Klärung bringen. Ähnliche Fragen wie der Gothaer Sammelband Chart. A 448–449 wirft der in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen aufbewahrte Cod. Ms. philos. 138 auf. Er enthält 53 Briefe an Leibniz und 16 Konzepte und Auszüge von seiner Hand, entstanden – bis auf vier Stücke von 1703 bis 1713 – zwischen 1714 und 1716. Das verweist auf einen Ursprung in Hannover und wirft die Frage auf, wie diese Stücke nach Göttingen gekommen sind. Die Anordnung stammt von Abraham Gotthelf Kästner, der, wie er in einer dem Codex vorgebundenen Liste festhielt, die Briefe „nach den Nahmen ihrer Verfaßer gelegt“ hat. Kästner, seit 1756 Professor für Mathematik in Göttingen, stammte aus Leipzig, einem Zentrum der Leibniz-Rezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts47. Er hatte dort Gottscheds und Ludovicis (ergebnislose) Editionsabsichten verfolgt und
42 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 9150 (A I, 15 N. 228); bei H.-J. Rockar: Leibniz und sein Kreis (wie Anm. 38), S. 39, Nr. 152, als Brief von Leibniz verzeichnet. 43 C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie, Leipzig 1737, § 268, S. 301. 44 Vgl. L. Stein: „Die in Halle aufgefundenen Leibnitz-Briefe im Auszug mitgetheilt“, in: Sonderabdruck aus dem Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 1, [Berlin] 1888, S. 78–91, 231–240, 391–401. 45 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 36651 (1716). 46 Ähnliche Überlegungen könnten für die auf den beiden vorausgehenden Blättern stehende Aufzeichnung (Arbeitskatalog [wie Anm. 3], Kat_Nr 36650 [1698]) mit technischen Erwägungen gelten, sofern die Korrekturen in diesem als „verb. Reinschr.“ bezeichneten Textzeugen von Leibniz’ Hand stammen. In der Übersicht zur Sammlung Pfaff im Internet (http://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/nachlaesse/pfaff/samm.htm, [zuletzt eingesehen am 2.4.2014]) sind Kat_Nr 36650 und Kat_Nr 36651, die unter der Signatur Yg 8° 23 C fol. 1–4 erfasst sind, summarisch als „Mathematische Notizen von Leibniz’ Hand“ bezeichnet. 47 Vgl. D. Döring: „Leibniz-Editionen in Leipzig. Der Druck der Schriften und Briefe von G. W. Leibniz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Leipziger Kalender, hrsg. von der Stadt Leipzig, Leipzig 1998, S. 69–95.
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Kontakt mit Kapp gehabt48, der einen Teil seines Editionsplanes realisieren konnte. In Göttingen bekam Kästner selbst Zugang zu Leibniz-Papieren: Wohl in Zusammenhang mit Rudolf Erich Raspes Angebot von 1762, an der von diesem geplanten (nicht verwirklichten) Leibniz-Ausgabe mitzuarbeiten, waren ihm bei einem Besuch in Hannover von Hofrat Strube „einige Packen leibnizische Mscpte mitgegeben“49 worden. Es ist nicht anzunehmen, dass sich darin Briefe befanden, denn Kästner differenziert in seinen Mitteilungen stets zwischen Briefen und Manuskripten. Er äußerte sich Raspe gegenüber auch skeptisch über „die unzähligen Briefe die Leibniz geschrieben hat“ und die ihm „auch nicht mehr für uns alle lehrreich“ vorkamen50. Kästner hat sich aber – der Göttinger Codex zeigt es – mit zumindest einem Stapel von Briefen befasst. Könnte es sich dabei um die private Sammlung des LeibnizVerehrers gehandelt haben? Immerhin könnte man in der großen Vielfalt der Leibniz nahegebrachten oder von ihm behandelten Inhalte dieser Briefe51 die Breite des Wissens reflektiert sehen, mit Kästners Wort „das Ganze“ „der Gelehrsamkeit“, das er 1769 in seiner Lobschrift auf Leibniz als dessen hervorragende Leistung pries52. Dass Kästner Leibnitiana besaß, belegt ein wohl in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschriebener Vermerk in der Autographensammlung der hannoverschen Familie Kestner, die in der Universitätsbibliothek Leipzig verwahrt wird. Darin wird zu einem Brief des Bartholomaeus Des Bosses an Leibniz vom 4. November 171053 und zu einer Abfertigung von Leibniz von 1716 an Jacob Hermann54 mitgeteilt, dass sie „Aus des Hofr. Kaestner in Göttingen hinterlassenen Papieren von Herrn Dr. Oppermann angekauft“55 worden waren. In den Zugangsbüchern der Göttinger Bibliothek, die aus Kästners Nachlass viele Werke erwarb, findet sich freilich für Kästners Todesjahr 1800 und das folgende Jahr keine Eintragung für den Kauf einer Briefsammlung. Es bleibt im Dunkeln, auf welche Weise die Auswahl der Briefe des Codex’ zustande kam und wie sie nach Göttingen gelangten. Ebenso ungeklärt ist es, auf welchem Weg der erwähnte Des Bosses-Brief von Hannover nach Göttingen in Kästners Besitz gelangte. Bei den weiteren Leibnitiana 48 Vgl. A. Le Sueur (Hrsg.): Maupertuis et ses correspondants, Montreuil-sur-Mer 1896, S. 308, Kästners Brief vom 5. April 1752. 49 A. G. Kästner: Briefe aus sechs Jahrzehnten. 1745–1800, Berlin-Steglitz 1912, S. 53, Brief vom 15. Mai 1762 an Raspe. 50 Ebd. 51 Die Briefe betreffen Themen aus Medizin, Mathematik, Philosophie, Technik-Naturwissenschaft, Bitten um Protektion, Bücherbeschaffung, historische, mathematische und naturwissenschaftliche Arbeiten von Leibniz, Literatur, Wissenschaftsorganisation, Zeitereignisse. 52 A. G. Kästner: Lobschrift auf Gottfried Wilhelm Freyherrn von Leibniz: in der königlich deutschen Gesellschaft zu Göttingen den 10. Juni 1769 vorgelesen, Altenburg 1769, S. 24. 53 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 25298. 54 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 25295. 55 Deckblatt zu Leipzig Universitätsbibliothek Kestner II A IV 1031 Convol. 6 Nr I, 2a. Von derselben Hand wurde auf dem Textzeugen Kat_Nr 25298 neben der Adresse notiert: „Aus Kästners Nachlaß“. Ebd. folgt auf Kat_Nr 25298 ein weiteres Blatt von Des Bosses’ Hand mit Mitteilungen und einem Auszug aus einem an Des Bosses gerichteten Brief zu China betreffenden Dingen, das von diesem als Beilage an Leibniz geschickt worden sein wird (Kat_Nr 25299 und 25300).
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der Sammlung Kestner deuten die Entstehungszeit nach Frühjahr 1711 und ihre Form als Konzept oder Aufzeichnung56 bzw. andere Charakteristika57 auf Leibniz’ hannoversche Materialien hin; offen ist wieder, auf welche Weise sie dort herausgelöst worden sind. Die gleiche Unklarheit besteht für einen von Leibniz annotierten Brief von 171158, der in Goethes Autographensammlung in Weimar überliefert ist. Dokumentiert ist die Verlagerung der in Leibniz’ Pariser Zeit entstandenen Aufzeichnung „de vita beata“ aus den Beständen der damaligen „königl. & Provinzialbibliothek zu Hannover“ durch Schenkung in die Wiener Hofbibliothek 184359. Eine letzte Gruppe bilden Fundorte von Textzeugen unklarer Herkunft und Zuordnung. Ich breche den Überblick jedoch ab, denn zu diesen Textzeugen in der Universitätsbibliothek Basel60, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin61, dem Stadtarchiv Braunschweig62, der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze63, der Biblioteca Communale di Forlí64, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen65, 56 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 25292 (1712) und 25294 (1712) sowie Kat_Nr 25296 (1714). 57 Nicht im Arbeitskatalog verzeichnet sind zwei in der Sammlung als „Visitenkarten“ benannte kleine Papiere mit Leibniz’ eigenhändigen Initialen sowie zwei Druckblätter juristischen Inhalts, von Leibniz markiert mit „Kestneri“ (Leipzig Universitätsbibliothek, wie Anm. 55, Convol. 3); sie gelangten 1849 als Geschenk des „Herrn Dr. Mejer aus Goslar“ in die Sammlung. Leibniz’ Vermerk gilt seinem Korrespondenten, dem Rintelner Professor Heinrich Ernst Kestner, aus dessen 1707 erschienenem Compendium Juris Universi die Blätter stammen. 58 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 55127 (1711). E-Mail-Mitteilung der Klassik Stiftung Weimar vom 10. April 2014. 59 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr K10025 (A VI, 3 N. 89). Das Stück wird zusammen mit den thematisch nahen, doch zeitlich nicht eingrenzbaren Aufzeichnungen von Leibniz’ Hand Kat_Nr 50024 (A VI, 4 N. 469) und 50025 (A VI, 4 N. 468) am gleichen Fundort der Österreichischen Nationalbibliothek als „alter Bestand“ verwahrt; Näheres ist nicht mehr zu ermitteln (E-Mail-Mitteilung der Österreichischen Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, vom 7. April 2014). 60 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 44705 (A I, 20 N. 250). Für Kat_Nr 14387 (A I, 16 N. 226), 14876 (A I, 16 N. 255), 14882 (A I, 16 N. 276) ist deutlich, dass sie 1936 durch Verkauf aus Gotha nach Basel gelangt sind (vgl. M. Steinmann: Die Handschriften der Universitätsbibliothek Basel, Basel 1987, S. 24); unklar ist freilich, auf welche Weise sie an Johann III Bernoulli gekommen waren. 61 Leibniz’ mathematische Aufzeichnung (Arbeitskatalog [wie Anm. 3], Kat_Nr 12666 [1697]), seine Briefkonzepte (Kat_Nr 12660 [A I, 1 N. 303], 32563 [A I, 20 N. 399]) und ein weiteres Konzept ohne Kat.-Nr. (A II, 1 N. 95) sowie die an Leibniz gerichteten Briefe (Kat_Nr 12562 [A I, 1 N. 177], 12563 [A I, 1 N. 191]) wurden 1906 und 1915 auf Auktionen erworben (E-MailMitteilung der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz vom 24. März 2014). 62 Der an Leibniz gerichtete Brief (Arbeitskatalog [wie Anm. 3], Kat_Nr 21158 [1712]) wurde „wahrscheinlich [...] angekauft“. E-Mail-Mitteilung des Stadtarchivs Braunschweig vom 7. April 2014. 63 Auszug aus einem eigenen Brief, Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 47125 (A I, 3 N. 139). E-Mail-Mitteilung der Biblioteca Nazionale centrale di Firenze, Settore Manoscritte e Rari, vom 4. April 2014. 64 Aufzeichnung, Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 50464 (1680). 65 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 33464 (1705, überliefert in einem Sammelband mit Briefen des 16.–18. Jahrhunderts).
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der Österreichischen Nationalbibliothek66 sowie Hinweisen auf Leibniz-Konzepte oder -Auszüge in Antiquariatskatalogen67 habe ich nicht mehr als allenfalls den Zeitpunkt ihrer Erwerbung in Erfahrung bringen können. Wenn bereits für Dokumente, die noch im 18. Jahrhundert aus Leibniz’ Arbeitsumfeld herausverlagert worden sind, kaum zu erkennen ist, wie sie an ihren heutigen Aufbewahrungsort gelangten, kann die zunehmende Undurchschaubarkeit nicht verwundern. Zum Schluss noch einige Bemerkungen: Die Entstehung versprengter Überlieferung von Schriftstücken, die Leibniz zur Aufbewahrung unter seinen Papieren vorgesehen hatte, lässt sich für die von ihm in Berlin aufbewahrten Unterlagen in Ansätzen erkennen; für seine in Hannover angesammelten Papiere kann lediglich festgestellt werden, dass eine Anzahl von Dokumenten an andere Orte gelangt ist, Ursachen kann ich nicht benennen. Der Umgang mit Dokumenten aus Leibniz’ Berliner Fundus, die nicht in das Archiv der Sozietät der Wissenschaften gelangten, wurde anscheinend zunächst von der Absicht geleitet, Material für eine umfangreiche Edition zu sammeln. Dabei konnte es eine Rolle spielen, im Sinne gelehrter générosité auch anderen Interessenten Zugang zu den Papieren zu ermöglichen; das führte vorerst zu fluktuierender Aufbewahrung und auch zu Schwund des Vorhandenen. Die Überlieferung scheint sich erst verfestigt zu haben, nachdem die Erreichbarkeit von Originaldokumenten in größerer Zahl vermutlich weitgehend erschöpft war und sich in ihrer Einschätzung auch Akzente verlagert hatten: in den späteren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts scheinen umlaufende Leibnitiana nicht mehr primär als Gegenstand für eine umfassende Edition fungiert zu haben, sondern vor allem als Dokumente aus der Hand des großen Mannes gewürdigt und Sammlungen inkorporiert worden zu sein, eine Zielsetzung in der Tradition des fast zwei Jahrhunderte zuvor aufgekommenen Zusammentragens von Autographen68, die von Einzelpersonen wie Institutionen weiterhin verfolgt wird. Aufbewahrung in einer hoheitlichen Einrichtung bot keine Gewähr für ungestörte Überlieferung. Bernoullis Schenkungen aus dem Archiv der Berliner Akademie oder Trebras Umgang mit Clausthaler Dokumenten hatten deren Übergang in neue Zusammenhänge zur Folge. Ich weiß nicht, ob die Verlagerung von Manuskript-‚Packen‘ aus Hannover an Kästner in Göttingen ein ähnliches Ergebnis gehabt hat wie die Überstellung von Manuskripten an Samuel König in Holland, die, wie Malte-Ludolf Babin konstatiert, „zu dauerhaften Verlusten“69 führte. In anderen Fällen mag für die Entstehung neuer Überlieferungszusammenhänge neben Zufällen oder Versehen auch der Grad von Sorgfalt eine Rolle gespielt haben, die zur 66 Mathematische Aufzeichnungen von Leibniz und ein zugehöriges Briefkonzept vom Sommer 1713 in Wien, Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 56738–56745, 1961 antiquarisch erworben (E-Mail-Mitteilung der Österreichischen Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, vom 7. April 2014). 67 Arbeitskatalog (wie Anm. 3), Kat_Nr 40536 (A I, 4 N. 260), 35157 (1709), 57306 (1715), 55193 (1712), 53947 (undatiert), 53422 (undatiert). 68 Vgl. D. Döring: „Leibniz-Editionen“ (wie Anm. 47), S. 71. 69 M.-L. Babin: „Anecdota“ (wie Anm. 41), S. 50.
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Verfügung gestellten Materialien seitens ihrer Benutzer wie ihrer Hüter zuteilwurde. Wenn Murr und Schläger über Restriktionen beim Zugang zu Leibniz’ Papieren seit Münchhausens Tod 1770 klagten70, so lässt das vermuten, dass zuvor eine liberalere Praxis geherrscht hatte. Charlotte Wahls Beitrag kann uns Einblick darein geben, wie in den ersten Jahrzehnten nach Leibniz’ Tod die Benutzung der in der Bibliothek verwahrten Leibniz-Handschriften gehandhabt wurde. Es muss freilich auch bedacht werden, dass die uns Heutigen geläufige Vorstellung dauerhafter Aufbewahrung von Dokumenten um der Bedeutung ihres Erzeugers willen dem 18. Jahrhundert nicht vertraut war71. Das belegt in drastischer Weise Murrs Charakterisierung des Leibniz-Nachlasses als „einige Millionen kleiner Zettel [...] unter denen wohl mehr als die Hälfte unnütz seyn mag“, von denen Leibniz selbst „ganze Arme voll ins Feuer geworfen haben“ würde72. Dass ursprünglich in Hannover aufbewahrte Leibniz-Dokumente heute andernorts überliefert sind, kann schließlich auch die Frage aufwerfen, ob dort womöglich durchaus mehr Textzeugen hinausgegeben oder herausgeholt worden sein mögen, als uns überliefert ist. Auch das muss ich offen lassen.
70 Vgl. C. G. v. Murr (Hrsg.): Journal (wie Anm. 29), 3, 1777, S. 196 f., 198, und ebd., 7, 1779, S. 226. 71 Vgl. E. G. Franz: Einführung in die Archivkunde, Darmstadt 2007, S. 1, 11. 72 C. G. v. Murr (Hrsg.): Journal (wie Anm. 29), 7, 1779, S. 126.
LEIBNIZ-BRIEFE IN BASEL Handschriftliche Textzeugen außerhalb des Bernoulli-Briefcorpus Von Fritz Nagel (Basel) Die Universitätsbibliothek Basel besitzt bekanntlich zahlreiche Briefe, die Leibniz an die Mitglieder des Basler Bernoulli-Kreises gerichtet hat, sowie viele Konzepte von Antwortschreiben dieser Adressaten1. Daneben findet sich jedoch in Basel auch eine Handschrift mit Leibniz-Brieftexten anderer Provenienz, die bisher wenig beachtet worden ist und erst im Zusammenhang mit der Basler Online-Edition der Korrespondenz von Johann I Bernoulli2 mit den beiden Brüdern Scheuchzer in den Fokus geriet. Der vorliegende Beitrag möchte diese Briefsammlung des 18. Jahrhunderts vorstellen. Sie enthält nämlich neben den Abschriften von zahlreichen an Johann Jakob Scheuchzer (1662–1733) in Zürich gerichteten Briefen verschiedener Autoren auch die Texte von 16 Briefen von Leibniz. Während die Briefe Leibnizens 1844 erstmals ediert wurden3, sind die Gegenbriefe Scheuchzers bisher unpubliziert. Einen ausführlichen Überblick über den Inhalt dieser Korrespondenz gab 1997 Michael Kempe4. Dennoch mag ein Blick auf die Briefe und auf die Sonderüberlieferung ihrer Texte außerhalb der großen Leibniz-Sammlungen von einem gewissen Interesse sein, zumal die Briefkopien erst lange nach dem Tod Leibnizens angefertigt wurden. Für die Geschichte der Rezeption Leibniz’scher Ideen spielt die 1
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Vgl. dazu F. Nagel: „Der Briefwechsel zwischen Johann Bernoulli und Leibniz. Zur Geschichte der Basler Handschriften“, in: Der Ausbau des Calculus durch Leibniz und die Brüder Bernoulli, Symposion der Leibniz-Gesellschaft und der Bernoulli-Edition der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, 15. bis 17. Juni 1987 (= Studia Leibnitiana, Sonderhefte 17), hrsg. von H.-J. Hess und F. Nagel, Stuttgart 1989, S. 167–174. Die edierten Texte der im Folgenden lediglich mit Datum nachgewiesenen Briefe können in dieser Basler Edition der Bernoulli-Briefwechsel im Internet unter folgender Adresse eingesehen werden: http://www.ub.unibas.ch/bernoulli/index.php/Hauptseite. G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe (= Programm der Zürcherischen Kantonsschule), hrsg. von J. J. Horner, Zürich 1844, S. 1–24 (Digitalisat unter https://books.google.ch/books?id=IbRSAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false). M. Kempe: „‚Schon befand ich mich in Gedanken in Russland…‘. Johann Jakob Scheuchzer im Briefwechsel mit Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: H. Holzhey/S. Zurbuchen (Hrsg.): Alte Löcher – Neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert, Zürich 1997, S. 283–297. Vgl. auch S. Boscani Leoni: „Johann Jakob Scheuchzer und sein Netz. Akteure und Formen der Kommunikation“, in: Kommunikation in der Frühen Neuzeit, hrsg. von K.-D. Herbst und St. Kratochwil, Frankfurt a. M. 2009, S. 47–68.
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Basler Kopiensammlung allerdings eine eher untergeordnete Rolle, da es sich um eine persönliche geprägte Auswahl von Briefen handelt, in denen Leibniz nicht im Zentrum steht, sondern lediglich ein Autor unter vielen ist. DIE KORRESPONDENZ VON JOHANN JAKOB SCHEUCHZER MIT LEIBNIZ Als Johann Jakob Scheuchzer am 14. Oktober 1705 seine Korrespondenz mit Gottfried Wilhelm Leibniz begann, hatte er sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten bereits hohes Ansehen erworben5. 1662 in Zürich geboren hatte er sich 1692 in Altdorf vor allem bei Johann Christoph Sturm mit den Elementen der Mathematik und der Technik des Experiments vertraut gemacht. 1694 wurde er dann in Utrecht zum Doktor der Medizin promoviert. Danach begann er mit der Erforschung und Vermessung der Schweizer Alpen. Durch diese Pioniertat, deren Resultate er in Publikationen und einer ausgedehnten Korrespondenz verbreitete, erwarb er sich internationalen Ruhm. So wurde er 1694 zum Mitglied der Akademie der Naturforscher und Ärzte Leopoldina und 1704 zum Mitglied der Royal Society in London gewählt. Seine berufliche Stellung in Zürich entsprach jedoch keinesfalls seiner internationalen Reputation. 1695 war er zum zweiten Stadtarzt gewählt worden. 1710 erhielt er die schlecht besoldete und wenig geachtete Professur für Mathematik an der Züricher Hohen Schule „Carolinum“. Und erst wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1733 übertrug man ihm die endlich frei gewordene Stelle des ersten Stadtarztes. Neben seiner beruflichen Tätigkeit wirkte Scheuchzer ab 1697 als Aktuar der gelehrten „Gesellschaft der Wohlgesinnten“. Auch versuchte er 1713 als einer der Anführer der Zünfte ohne großen Erfolg eine Änderung der Züricher Verfassung zu erreichen. Zudem brachte ihn sein öffentliches Eintreten für das kopernikanische Weltsystem, seine Interpretation der Fossilien als Überbleibsel der Sintflut und seine naturwissenschaftlich orientierten Kommentare zur Bibel immer wieder in Konflikt mit den Züricher Vertretern der Orthodoxie. Das offizielle Zürich sah in Scheuchzer daher eher einen gefährlichen Aufklärer und war von seinem internationalen Ansehen als Forscher wenig beeindruckt. Außerhalb von Zürich, und das heißt bereits in Basel, sodann in Paris, Berlin und London wurden Scheuchzers Forschungen und Publikationen viel beachtet und waren hoch geschätzt. Dies spiegelt sich auch in Scheuchzers Briefwechsel mit Leibniz wider. Der Briefwechsel wurde 1705 von Scheuchzer begonnen und endet mit dessen Brief an Leibniz vom 30. November 1715. Diese Korrespondenz ist vollständig überliefert. Sie umfasst 20 Briefe von Scheuchzer an Leibniz und 16 Briefe von Leibniz an Scheuchzer. Die jeweiligen handschriftlichen Abfertigungen und Entwürfe finden sich einerseits in der Zentralbibliothek Zürich6, andererseits in der 5 6
H. Marti: Art. „Scheuchzer, Johann Jakob“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11, Basel 2012, S. 52–53. Zentralbibliothek Zürich, Ms 309, S. 3–37 (Briefe von Leibniz) sowie Ms H 150b und Ms 150c (Briefentwürfe Scheuchzers).
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Gottfried Wilhelm Leibniz-Bibliothek zu Hannover7. Hinzu kommen drei Briefe Scheuchzers an Leibniz in der Universitätsbibliothek Göttingen8 sowie einige Abschriften von Briefen Leibnizens in Rom9, Den Haag10, Amsterdam11 und Basel12. Den Basler Kopien der Briefe Leibnizens an Johann Jakob Scheuchzer gelten die Ausführungen des vorliegenden Beitrags. Der Inhalt des Briefwechsels von Scheuchzer und Leibniz ist bei Kempe ausführlich beschrieben worden13. Wenn hier nochmals darauf eingegangen wird, so deshalb, weil die zentralen Themen auch in der gleichzeitigen Korrespondenz von Scheuchzer mit Johann I Bernoulli in Basel und in dessen Korrespondenz mit Leibniz ebenfalls und mit gleichem Gewicht behandelt werden. Die ScheuchzerBernoulli-Leibniz-Korrespondenzen sind daher als eine Korrespondenzen-Trias zu verstehen, die ihrerseits in das Gesamtnetz aller Scheuchzer-Korrespondenzen ebenso integriert ist wie in die jeweiligen Netzwerke der Briefpartner. Wir haben hier also ein weiteres Beispiel vorliegen, welches zeigt, wie solche Teilnetzwerke, hier ein Korrespondenten-Dreieck, zwar durch die Bedürfnisse ihrer Partner individuell geprägt sind, aber gleichzeitig auch integrierende Bestandteile des übergeordneten Kommunikationssystems bilden, welches die république des lettres im 18. Jahrhundert in ihren Briefwechseln aufgebaut und eifrig genutzt hat. Welches sind nun die Themen, die sowohl in Scheuchzers Leibniz-Korrespondenz als auch in der Korrespondenz von Scheuchzer mit Johann I Bernoulli diskutiert werden? Selbstverständlich sind beide Partner an Scheuchzers Alpenforschungen interessiert. Leibniz ermutigt Scheuchzer, darin fortzufahren, denn diese Arbeiten könnten zum Vorbild für die Erforschung anderer europäischer Gebirge werden14. Vor allem ermutigt Leibniz Scheuchzer, mit seinen Höhenmessungen fortzufahren. Scheuchzer habe ja durch Vergleich barometrischer Daten mit direkt gemessenen Höhen Tabellen entwickelt, die auch anderswo nützlich sein können. Einige dieser Vergleichstabellen liegen denn auch den Briefen Scheuchzers an Leibniz bei15. Leibniz stellt in diesem Zusammenhang einen Kontakt zwischen 7 8 9 10 11 12 13 14
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Hannover, GWLB, LBr. 809, fol. 1r–94r (Briefe von Scheuchzer mit Beilagen und Entwürfe der Gegenbriefe von Leibniz). Göttingen, UB, Hschr. Philos. 138, Bl. 93–96 u. 98. Roma, Biblioteca Vaticana, Cod. Vat. Lat. 9067, fol. 85r/v. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 121 D 6. Amsterdam, UB, Diederichs 77 Cij 1. Basel, UB, Handschriften G2 II 49, S. 25–36. M. Kempe: „Johann Jakob Scheuchzer im Briefwechsel“ (wie Anm. 4). Leibniz weist im Gegenzug Scheuchzer auf die Entdeckung einer ergiebigen Salzquelle in der Schweiz hin, die ihm von Franciscus Mercurius van Helmont mitgeteilt worden war. Weiter interessierten Leibniz die Forschungen Scheuchzers zu den Kristallen, deren Entstehung er dem Gletschereis zuschreiben möchte. Über Scheuchzers Alpenreisen informierte Leibniz die Öffentlichkeit in einer „Recensio itineris alpini anni 1706“, in: Miscellanea Berolinensia, t. 1, Berlin 1710, S. 139–143. LBr. 809, fol. 24v–29r enthalten eine Abschrift von „Observationes Barometricae“, welche Scheuchzer 1709 an die Pariser Académie des sciences gesandt hat. Fol. 30r–39r enthalten Scheuchzers Arbeit „Maniere Barometrique pour mesurer les montagnes“. Auf fol. 40v findet sich eine Abbildung von Scheuchzers Wanderstock mit eingebautem Quecksilberbarometer.
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Scheuchzer und Etienne Gouffier de Bonnivet, Seigneur de Villiers her, der im Harz nach Scheuchzers Anleitung analoge Messungen ausführen soll16. Eindringlich fordert Leibniz Scheuchzer auf, nicht nur seine Messresultate zu publizieren, sondern auch die aus diesen zu gewinnenden Folgerungen zu formulieren, um so „experientia“ mit „solida doctrina“ zu verbinden17. Er zögert daher noch eine Weile, bevor er die Messresultate Scheuchzers in den Miscellanea der Brandenburgischen Sozietät18, zu deren Mitglied Scheuchzer auf Vorschlag Leibnizens 1706 gewählt worden war, publiziert und rezensiert. Ein bloßes Zusammentragen von experimentellen Befunden ist zwar wichtig, doch legt Leibniz ebenso großen Wert auf die Erarbeitung einer die Einzelphänomene übergreifenden Theorie, die erst eine saubere mathematische Beschreibung der Phänomen erlaubt. Mit diesem Anliegen trifft er sich auch mit Johann Bernoulli, wenn er wie dieser eine physikalisch und mathematisch korrekte Beschreibung z. B. des von Scheuchzer beobachteten Phänomens eines ringförmigen Regenbogens wünscht19. Ein weiteres gemeinsames Thema der Korrespondenzen Scheuchzers mit Leibniz und Johann Bernoulli ist das Vorkommen, die Entstehung und die Nutzung von Torf, der als Heizmaterial in jenen Jahren auch in den Städten wachsendes Interesse gefunden hatte20. Übereinstimmend fällt das Urteil von Leibniz und Bernoulli über das Buch des Lyoner Abbés Philippe Villemot aus, der im Rahmen der cartesischen Physik eine von wenigen Prinzipien ausgehende mathematische Beschreibung aller Planetenbewegungen versucht hatte21. Bereits Scheuchzers Bruder Johannes hatte Villemots Ausführungen nicht verstanden und Johann Bernoulli um Hilfe gebeten22. Dieser hatte jedoch ebenfalls große Mühe, Villemots Beweisführungen wegen dessen eigenwilligen Bezeichnungen der mathematischen Variablen nachzuvollziehen23. Leibniz, dem Scheuchzer das Buch gesandt hatte, lobt einerseits Villemots Begabung und Absichten, bekennt aber gegenüber Scheuchzer, dass er abgeschreckt von der Dunkelheit der Ausführungen des Autors bei der Lektüre gleich am Anfang stecken geblieben sei24.
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Fol. 57r–58v enthalten einen Bericht über „Experimenta barometrica“, die Scheuchzer in der Schweiz gemacht hat. In LBr. 809 findet sich denn auch auf fol. 51–52 ein Brief Scheuchzers an Etienne Gouffier und auf fol. 53–54 dessen Antwort. Leibniz an J. J. Scheuchzer, 12. Januar 1711 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 10–11). J. J. Scheuchzer: „Excerpta ex observationibus meteorologis perpetuis anni 1706 Tiguri habitis“, in: Miscellanea Berolinensia, t. 1, Berlin 1710, S. 144–149. Leibniz an J. J. Scheuchzer, 15. März 1708 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 8–9). Leibniz an J. J. Scheuchzer, 26. Dezember 1709 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 9–10) und 12. Januar 1711 (Ebd., S. 10–11) sowie J. J. Scheuchzer an Johann I Bernoulli, 18. Mai 1710. Ph. Villemot: Nouveau système, ou, nouvelle explication du mouvement des planètes, Lyon 1707. Johannes Scheuchzer an Johann I Bernoulli, 15. Juli 1708. Johann I Bernoulli an Johannes Scheuchzer, 1. August 1708. Leibniz an Johann Jakob Scheuchzer, von 26. Dezember 1709 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 9).
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Mit Interesse hat Leibniz auch die Züricher Auseinandersetzungen über das kopernikanische Weltsystem verfolgt. Dort hatte Salomon Hottinger in einer Dissertation25 seine Ansichten dazu durch zwei völlig inkompetente Studenten verteidigen lassen, was zu heftigen Protesten Scheuchzers geführt hatte, der um das Ansehen der Züricher Hohen Schule fürchtete26. Leibniz wundert sich, dass Hottinger, den er schätzt, sich so unklug verhalten habe27. Bei allen mit der Astronomie vertrauten Gelehrten sei das kopernikanische System längst akzeptiert. Er selbst habe zwar auch davon gesprochen, dass die Sonne auf- und untergehe und sich bewege, doch dies sei eine bloße Sprechweise, die sich auf die optischen Erscheinungen beziehe. Und auch die Heilige Schrift hätte nicht anders, als wir darin lesen, sprechen können, auch wenn ihre Verfasser Kopernikaner gewesen wären. In diesem Zusammenhang weist Leibniz dann noch den Vorwurf zurück, er habe behauptet, es gäbe auf den Planeten Lebewesen, die den Menschen ähnlich seien. Er wage aber auch nicht zu negieren, dass irgendwelche Lebewesen dort existieren könnten. Über die göttlichen Schöpfungswerke könne man nämlich nie zu gering denken. Es sei für ihn daher wenig wahrscheinlich, dass ratio und sapientia bei Geschöpfen nur auf unserem Globus anzutreffen seien28. Hohes Lob zollt Leibniz Scheuchzers Physica, Oder Natur-Wissenschaft, deren erste oder zweite Auflage er bereits 1706 gelesen hatte29. Es handelt sich bei diesem Werk um eines der ersten einführenden Lehrbücher zur Physik in deutscher Sprache30. Scheuchzer widmete daraufhin 1711 die 3. Auflage dieses Werkes Leibniz und Johann I Bernoulli. Johann Bernoulli akzeptierte die Widmung31. Als er Leibniz das Erscheinen von Scheuchzers Physica ankündigte, bezeichnete er dessen Darstellungsweise zwar als „more geometrico ad mentem Modernorum“, doch sei das Werk eklektisch aus den Werken der besten Autoren zusammengebaut worden. Zugleich konnte er es nicht unterlassen, seine Zweifel an Scheuchzers Kenntnissen der „geometria profundior“ auszudrücken32. Als er selbst ein Exemplar erhalten hatte, bedankt er sich dafür, weist aber gleichzeitig auf den unkorrekten Titel Leibnizens in Scheuchzers Widmung hin33. Leibniz hingegen lobte Scheuchzers knappes
25 S. Hottinger: Liber naturae ex Psalmo XIX, V. 1–7 propositus […], Zürich 1711. 26 Beilage zum Brief von Johann Jakob Scheuchzer an Johann I Bernoulli, 1. Februar 1711. 27 Leibniz an J. J. Scheuchzer, 28. März 1711 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 12). 28 Leibniz an J. J. Scheuchzer, 28. März 1711 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 12). 29 J. J. Scheuchzer: Physica, Oder Natur-Wissenschafft, Zürich 1701, oder Zürich 21703. Leibniz an J. J. Scheuchzer, 14. Oktober 1706 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 7). 30 Vgl. dazu H. Marti: „Naturphilosophische Eklektik. Das Beispiel der ersten Auflage von Johann Jakob Scheuchzers ‚Physica‘ (Zürich 1701)“, in: U. Leu: Natura sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), Zug 2012, S. 33–56. 31 Johann I Bernoulli an Johann Jakob Scheuchzer, 14. März 1710 und 3. August 1710. 32 Johann I Bernoulli an Leibniz, 12. August 1710; GM III, 852. 33 Leibniz sei nicht „Consiliarius Electoris Hanov.“, sondern „Consularius intimus“. So Johann Bernoulli an J. J. Scheuchzer, 18. März 1711.
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Lehrbuch der Physik sehr, weil es als eines der ersten die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in deutscher Sprache verbreite und so dem Vorbild von Frankreich, England und Italien folge, wo wissenschaftliche Publikationen in der jeweiligen Volkssprache schon lange üblich seien34. Nach der Lektüre dieser dritten Auflage von 1711 kritisiert er jedoch, dass Scheuchzer die Lehren der Cartesianer von den „causae occasionales“ billige und stellt diesen seine Auffassung von einer prästabilierten Harmonie von Körper und Seele gegenüber. Ebenso lehnt er die Annahme okkulter Qualitäten hinsichtlich der Anziehung der Körper ab. Andererseits zieht er hinsichtlich des Vakuums die Vorstellungen des Aristoteles und des Descartes denen des Demokrit und Isaac Newtons vor35. Derartige kritische Reflexionen über die jeweiligen Positionen der Briefpartner innerhalb der zeitgenössischen Philosophie fehlen in der Korrespondenz von Scheuchzer mit Bernoulli im Unterschied zu der mit Leibniz fast ganz. Im Gedankenaustausch zwischen Zürich und Basel überwiegen eindeutig naturwissenschaftliche Themen sowie Informationen und Stellungnahmen zum aktuellen politischen Geschehen in der Schweiz. Einen größeren Raum nimmt in beiden Korrespondenzen der sogenannte zweite Villmerger oder Toggenburger Krieg von 1712 ein, welchen das reformierte Zürich und Bern gegen die katholischen Innerschweizer Orte und die Fürstabtei St. Gallen führten. Johann Jakob Scheuchzer und sein Bruder Johannes waren Augenzeugen der Geschehnisse, da sie als Militärärzte und bei der Artillerie an diesen kriegerischen Auseinandersetzungen aktiv teilnahmen. Während dieses Krieges wurde das Kloster St. Gallen von den reformierten Truppen besetzt und große Teile der mobilen Klostergüter, darunter der berühmte Globus, Teile der Bibliothek und des Archivs weggeführt36. Leibnizens Sorge gilt nun vor allem dem Schicksal dieser Kulturgüter, von denen er einige Codices ausdrücklich nennt. Mehrfach bittet er Scheuchzer, sich um die Handschriften zu kümmern und dafür zu sorgen, dass insbesondere die Bibliothek nicht zerstreut werde. Zudem möge er ihm einen Katalog der St. Galler Handschriften verschaffen37. Ab Ende 1712 bestimmt dann fast nur noch ein Thema die Korrespondenz, nämlich die Bemühungen Leibnizens, für Scheuchzer eine seinen außerordentlichen Fähigkeiten angemessene Stelle zu besorgen. Nachdem er ihm Anfang 1712 34 Leibniz an J. J. Scheuchzer, 14. Oktober 1706 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 7). 35 Leibniz an J. J. Scheuchzer, 14. Januar 1712 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 13 f.). 36 Ein großer Teil der weggeführten Kulturgüter wurde von Zürich bereits nach dem Badener Frieden von 1718 an St. Gallen zurückgegeben. Doch um 1990 kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen den Kantonen Zürich und St. Gallen um die Rückgabe von Handschriften und vor allem um die des berühmten Globus. Der Konflikt endete erst nach Vermittlung der Schweizer Bundesregierung im Jahr 2006 mit einem Vergleich. Die letzten verbliebenen Handschriften gingen als Dauerleihgaben an die Stiftsbibliothek St. Gallen. Der originale Globus verblieb hingegen als Leihgabe im Landesmuseum in Zürich, während für St. Gallen eine genaue Kopie des Instruments angefertigt wurde. 37 Leibniz an J. J. Scheuchzer, 6. Juli 1712 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 15 f.), 18. Oktober 1712 (Ebd., S. 16) und 6. November 1712 (UB Basel, Handschriften G2 II 49, S. 33).
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abgeraten hatte, eine schlecht bezahlte Stelle in Duisburg anzunehmen, setzt er nun seine Hoffnung auf Peter den Großen, den er in Karlsbad persönlich kennengelernt hat und dem er danach nach Dresden gefolgt ist38. Peter der Große hatte gerade einen seiner Ärzte verloren, worauf ihm Leibniz Scheuchzer als höchst kompetenten Kandidaten empfahl. Der Generalfeldzeugmeister des Kaisers, Jacob Daniel de Bruce39, und der Leibarzt Robert Erskine (Areskine)40 hätten Leibnizens Vorschlag zugestimmt. Erskine habe ihm bereits am folgenden Tag die Bedingungen zur Übernahme der Stelle mitgeteilt. Leibniz sendet Scheuchzer einen Entwurf für ein Antwortschreiben an Erskine und unterstreicht die finanzielle Großzügigkeit des russischen Kaisers, die er selbst gerade erfahren habe. Doch bleibt eine Antwort von russischer Seite so lange aus, dass Scheuchzer, den zudem William Sherard, englischer Konsul in Smyrna, wegen der Schwierigkeiten eine Erlaubnis zur Rückkehr aus Russland zu erhalten, gewarnt hatte, ängstlich zu zögern beginnt und Leibniz sich selbst Leichtgläubigkeit hinsichtlich der russischen Versprechungen vorwirft. Die Situation klärt sich schließlich, als die Züricher Behörden angesichts der ehrenvollen Berufung Scheuchzer eine beträchtliche Gehaltserhöhung gewähren, um ihn zum Bleiben zu veranlassen. Leibniz begrüßt selbstverständlich diese Geste der Züricher. Doch meint er, es sei für diese vielleicht ruhmvoller gewesen, wenn Scheuchzer am Hof eines großen Monarchen auf einer größeren Bühne hätte wirken können. Scheuchzer und sein Bruder Johannes wären dort zudem eine Zierde für die reinere Religion („purior religio“) gewesen. Leibniz letzter Brief an Scheuchzer endet mit der Bitte, er solle Erskine in dem Sinn schreiben, dass er nicht kommen könne, da seine Arbeit in der heimischen Republik nötig sei41. Soweit der Überblick über die in den Leibniz-Scheuchzer- und ScheuchzerBernoulli-Korrespondenzen behandelten Themen. Nun wenden wir uns der Beschreibung der Basler Handschrift zu, welche die Abschriften der Briefe Leibnizens aus dieser Korrespondenz enthält. BESCHREIBUNG DER BASLER HANDSCHRIFT G2 II 49 Dass sich neben den Briefen und Briefentwürfen der Leibniz-Bernoulli-Korrespondenzen in der Universitätsbibliothek Basel auch die Abschriften aller 16 Briefe finden, die Leibniz an Johann Jakob Scheuchzer gerichtet hat, ist bisher kaum beachtet worden. Sie finden sich in einer Papierhandschrift des 18. Jahrhunderts mit der Signatur G2 II 49. Dabei handelt es sich um einen Band, dessen Pappumschlag mit 38 Vgl. W. Guerrier: Leibniz und seine Beziehungen zu Russland und Peter dem Grossen. Eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften, Petersburg 1873, und M. Kempe: „Johann Jakob Scheuchzer im Briefwechsel“ (wie Anm. 4), S. 283–297. 39 Jacob Daniel de Bruce (1669–1735). 40 Zu Erskine vgl. J. H. Appleby: „Robert Erskine-Scottish pioneer of Russian natural history“, in: Archives of Natural History 10 (1982), S. 377–398. 41 Leibniz an J. J. Scheuchzer, 14. April 1714 (G. W. Leibniz: Sechzehn ungedruckte Briefe [wie Anm. 3], S. 20–21).
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zeitgenössischem marmoriertem Papier beklebt ist. In ihm sind Abschriften von Briefen versammelt, die verschiedene Autoren an Scheuchzer gerichtet haben. Die 140 mit Tinte beschriebenen und nachträglich mit Bleistift paginierten Seiten auf einheitlichem Papier haben alle die Maße 19 x 23 cm. Sie weisen alle einen breiten linken Rand auf, der für die Aufnahme der Datumsangaben der Briefe, für Ergänzungen und Korrekturen sowie für kurze Zusätze bestimmt ist. Die Doppelblätter sind in einzelnen Lagen faden-geheftet und dann lagenweise zusammengebunden worden, wobei eine Korrespondenz oftmals auf zwei aufeinander folgende Lagen verteilt ist. Die mit Tinte geschriebenen Texte lassen zunächst zwei Schreiberhände vermuten. Doch mag dieser Eindruck täuschen, da bis S. 42 lateinische Brieftexte, danach aber vor allem französische, englische und deutsche Texte kopiert sind, was die Verwendung verschiedener Schriften erklärt. Die Schrift ist nicht diejenige eines Basler Bernoulli oder die von Johannes Scheuchzer, dem jüngeren Bruder von Johann Jakob. Die Vermutung, die Handschrift könne aus dem umfangreichen Nachlass des Bernoulli-Schülers Daniel Huber (1768–1829) stammen, ist ebenfalls nicht zu bestätigen, da dessen regelmäßig verwendeter Besitzstempel „DH“ fehlt. Auf S. 1 findet sich hingegen der Abdruck des alten Stempels „BIBL. PUBL. BASILEENSIS“. Er wurde ab dem Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von der Universitätsbibliothek Basel zum Eigentumsnachweis benutzt. Weitere Provenienzvermerke fehlen. Im sogenannten Zwinger-Katalog der UB Basel, welcher im 17. Jahrhundert begonnen und bis ins 19. Jahrhundert weitergeführt wurde, finden sich ebenfalls keine Einträge zu unserer Handschrift. Da unter der Signatur G2 II ein ziemlich heterogener Bestand von alten Briefhandschriften vom 16. bis zum 18. Jahrhundert katalogisiert wurden, gehört unsere Handschrift wahrscheinlich zu einem Corpus lange unkatalogisierter Altbestände. Als ein „terminus post quem“ kann das Datum „Danzig d. 26. maj 1736“ angenommen werden, das sich auf S. 114 bei einem Brief von Johann Philipp Breyne an Johannes Scheuchzer findet. Der Inhalt unserer Handschrift ist wie folgt gruppiert. Eine erste Gruppe auf den Seiten 1–24 bilden Abschriften von Briefen Abbé Bignons an Scheuchzer. Dieser schließen sich auf S. 25–36 die sechzehn „Epistolae Leibnitii“ an. Es folgen auf S. 27–88 unter der Überschrift „Anglorum Epistolae“ Briefe englischer Partner von Scheuchzer. Danach finden sich auf S. 89–94 Kondolenzschreiben zum Tod von Scheuchzers Sohn Johann Caspar, der 1729 erst 27-jährig in London verstorben war. Die Seiten 95–96 sind leer. S. 97 enthält Briefe Pieter van der Aas, denen auf S. 98 und 99 Briefe von Moritz Anton Kappeler und Albert Seba folgen; Seite 100 ist leer. Auf S. 101–114 finden sich „Epistolae Boerhavianae“ und zuletzt der bereits erwähnte Brief Johann Philipp Breynes. Die Seiten 115–120 sind wiederum leer. Auf den letzten paginierten Seiten 121–140 finden sich dann noch Abschriften von Briefen, die Scheuchzers Sohn Johann Caspar in den Jahren 1722–1729 aus
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England an den Vater gerichtet hat, vermischt mit einigen wenigen Briefen an andere Adressaten42. Der Band schließt dann mit 3 unpaginierten Blättern43. DIE VORLAGE DER BASLER HANDSCHRIFT IN DER ZENTRALBIBLIOTHEK ZÜRICH MS 309 Wenden wir uns nun der Frage nach der Vorlage der Basler Kopien der Briefe von Leibniz an Johann Jakob Scheuchzer zu. Wüssten wir nicht, dass die Abfertigungen der 16 Briefe von Leibniz im Scheuchzer-Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt sind, so gäben uns zwei Einträge in der Basler Handschrift der Kopien einen deutlichen Hinweis auf ihre Vorlage. Auf S. 1 des Basler Sammelbandes findet sich nämlich am linken Rand über dem Basler Bibliotheksstempel der Eintrag „Vol. […] Epistolarum Leibnitii, Cuperi, Bignonii.“ Einen analogen Hinweis finden wir dann zusätzlich am Beginn der Kopien der Leibniz-Briefe auf S. 25 am linken Rand. Dort heißt es: „Volum. […] Epistolar. Leibnitii Cuperi Bignonii“. Die Vorlagen der Basler Kopien befanden sich also in einem Band, der Briefe von Gottfried Wilhelm Leibniz, Gisbert Cuper und Jean Paul Bignon enthält. Ein solcher Band ist nun die Handschrift H 309 der ZB Zürich. Das handschriftliche Titelblatt dieses Bandes lautet: „Lettres de M.rs Cuper, Leibnitz et l’Abbé Bignon“ und auch das alte Rückenschild weist die gleich Aufschrift auf. Auf S. 2 des Bandes ist dann dessen Inhalt noch weiter spezifiziert: M.rs Leibnitz de Hannovre, Berlin, Vienne etc. A.o 1706–1714, Lettre de M.r Ogilvy a M.r le General Bürckli A.o 1708, Couper de Deventer A.o 1707–1718 L’Abbé Bignon de Paris A.o 1708–1718.
Bis auf den einzelnen Brief von Georg Benedikt von Ogilvy an Johann Heinrich Bürckli finden wir hier also alle Schreiber, deren Briefe laut der Basler Handschrift in deren Vorlage vorhanden sind. Die autographen Briefe von Leibniz an Johann Jakob Scheuchzer finden sich in der Züricher Handschrift auf den Seiten 3–38.44 Es handelt sich um 16 autographe Schreiben, meist auf Doppelblättern und je nach Absendeort auf Papier unterschiedlichen Formats (19 x 15 cm; 20 x 16 cm; 16 x 9,5 cm). Oft finden sich Siegelspuren. Der Brief vom 14. Januar 1712 weist zusätzlich noch die Adress-Seite auf, welche anzeigt, dass er über den Augsburger Kaufmann Caspar Schröck an
42 Es fällt hier auf, dass die Überschrift zu dem auf S. 139 kopierten Briefauszug von Scheuchzers Sohn Johann Caspar an den Vater lautet: „A Mr. Jean S. son oncle“. Johann Caspar Scheuchzer spricht hingegen in seinem Brief von „mon oncle“. Dies lässt darauf schließen, dass der Kopist kein Mitglied des engeren Familienkreises von Johann Jakob Scheuchzer war. 43 Ein Inhaltsverzeichnis des Basler Bandes und eine Liste der darin vertretenen Briefschreiber finden sich im Anhang. 44 Digitalisat unter http://dx.doi.org/10.7891/e-manuscripta-41277.
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Scheuchzer nach Zürich gesandt wurde45. Die Texte sind in den Basler Abschriften einschließlich der Marginalien, der PS und der Schlussformeln vollständig vorhanden. Dort fehlen lediglich die jeweiligen Anreden und die jeweilige Unterschrift Leibnizens. Hingegen fehlt vom Brief Leibnizens an J. J. Scheuchzer vom 6. November 1712 in der Züricher Handschrift nach S. 30 eine Seite. Deren Text, der bereits bei Horner fehlt46, ist wiederum in der Basler Abschrift erhalten47. Folgende Tabelle gibt eine Synopsis von Abfertigungen und Kopien: Nr. Datum
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
6.10.1714 25.1.1707 15.3.1708 26.12.1709 12.1.1711 28.3.1711 3.12.1711 14.1.1712 9.3.1712 6.7.1712 18.10.1712 6.11.1712
13 14 15 16
7.12.1712 21.1.1713 10.1.1714 14.4.1714
Absendeort
ZB Zürich Ms H 309, S. Hannover 3–4 Hannover 5–6 Hannover 7–8 Hannover 9–10 Hannover 11–12 Berlin 13–16 Hannover 17–18 Hannover 19–22 Braunschweig 23–24 Hannover 25–26 Hannover 27–28 Karlsbad, dann 29–30 Dresden Dresden 31–32 Wien 33–34 Wien 35–36 Wien 37–38
UB Basel, Ms G2 II 49, S. 25 25–26 26–27 27 28 28–29 29 29–31 31 31–32 32 32–34 34–35 35 35–36 36
Hinzuzufügen ist, dass die Texte der Abfertigungen von Gisbert Cuper an Johann Jakob Scheuchzer, die sich in Zürich auf den Seiten 43–306 finden, nicht für die Basler Handschrift kopiert wurden. In dieser finden sich aber Kopien der Briefe von Bignon, deren Abfertigungen im Züricher Sammelband auf den Seiten 307–505 anzutreffen sind. Da die Basler Kopiensammlung noch weitere Korrespondenz-Auszüge enthält, muss der Kopist neben dem Sammelband ZB Zürich Ms H 309 auch 45 Caspar Schröck, der Bruder des Mediziners und Leopoldina-Präsidenten Lukas Schröck, vermittelte auch andere Postsendungen an und von Leibniz, so einen jüngst aufgefundenen Brief von Nicolaus I Bernoulli vom 2. Mai 1712 (Veste Coburg, Autograph A. IV, 980, 1,1) oder Briefe von Jacob Bernoulli (Vgl. A. Weil/C. Truesdell/F. Nagel [Hrsg.]: Der Briefwechsel von Jacob Bernoulli, Basel/Boston/Berlin 1993, S. 147–150). 46 Der von Horner edierte Brieftext endet auf S. 17 wie in der Züricher Handschrift S. 30 mit „Unum addo ex ore Areskini, si placeas magno Principi, et ut spero non parum satisfacias, augendi salarii spem non exiguam fore“. 47 Die Handschrift UB Basel G2 II 49 enthält auf den Seiten 33 und 34 eine weitere Passage, die mit „Dabam in Thermis Carolinis 6. Nov: 1712“ datiert ist, sowie ein PS. Das eigenhändige Konzept dieses Briefes findet sich in Hannover, GWLB, LBr 809 Bl. 62–63 (= 37013).
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noch weitere Züricher Vorlagen zur Verfügung gehabt haben48. Damit wenden wir uns der Frage nach dem Kopisten und dem Zweck der Basler Kopien der LeibnizBriefe an Johann Jakob Scheuchzer zu. VERMUTUNGEN ÜBER SCHREIBER UND DEN ZWECK DER BASLER BRIEFKOPIEN Betrachtet man die Handschrift des Basler Sammelbandes, so fällt auf, dass zwischen der Schreiberhand der Leibniz-Briefkopien und anderen Texten, vor allem zu denen des zweiten Teils ab S. 43 Unterschiede bestehen. Dies ist vielleicht teilweise darauf zurückzuführen, dass es sich bei den Leibnizbriefen um lateinische Texte handelt, während viele der übrigen Texte in französischer, englischer und deutscher Sprache verfasst sind. Hat etwa Johann Jakob Scheuchzer die Briefe Leibnizens selbst kopiert und ein anderer dann den zweiten Teil der Sammlung geschrieben? Andererseits scheint die Hand der französischen Bignon-Briefe identisch mit derjenigen der lateinischen Leibniz-Briefe. Waren also zwei Hände beim Abschreiben am Werk oder erklären sich die Unterschiede der Schriftzüge durch die unterschiedlichen Sprachen der Vorlagen oder einen zeitlichen Abstand beim Kopieren? Und wer kommt überhaupt als Kopist der Leibniz-Briefe in Frage? Nach dem Tod von Johann Jakob Scheuchzer im Jahr 1733 war dessen schriftlicher Nachlass an seinen jüngeren Bruder Johannes gelangt. Als Johannes Scheuchzer dann 1738 starb, hütete seine Witwe Dorothea, geborene Zoller, diesen Schatz bis zu ihrem Tod im Jahr 1778. Was Scheuchzers Briefhandschriften betrifft, die sich heute in der ZB Zürich befinden, so wurden diese erst um 1760 von einem Neffen Scheuchzers, Johannes (1738–1815), teilweise in Bände gebunden49. Ich gehe nun davon aus, dass der erste Teil des Basler Sammelbandes, der sich ja ausdrücklich auf ein „volumen Epistolarum Leibnitii, Cuperi, Bignoni“ bezieht, nach 1760 abgeschrieben wurde. Dann käme als Schreiber der Basler Kopien der besagte Neffe Johannes oder ein anderer in Frage, der Zugang zu den streng gehüteten Handschriften hatte. Ein solcher war aber vor allem Johannes Gessner (1709–1790). Gessner hatte in Basel und dann in Leiden bei Boerhaave Medizin sowie später in Basel zusammen mit Albrecht von Haller bei Johann Bernoulli Mathematik studiert50. Er stand auch mit weiteren der in unseren Kopien vertretenen Autoren in persönlicher Verbindung. Als früherer Schüler von Johann Jakob Scheuchzer wurde er nach dessen Tod 1733 dessen Nachfolger als Professor der Mathematik 48 Für die „Epistolae Anglorum“ enthalten vielleicht die Briefbände 6 bis 9 (ZB Zürich, Ms H 293–296) die Vorlagen. Briefe der Luzerner Moritz Anton Kappeler und Karl Nikolaus Lang finden sich in den Bänden 44–46 (ZB Zürich Ms H 331–333), Briefe Boerhaaves in Bd. 27 (ZB Zürich Ms H 314). 49 R. Steiger: Verzeichnis des wissenschaftlichen Nachlasses von Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) (= Beiblatt zur Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 21/78), Zürich 1933, S. 47. 50 M. Triet/P. Marrer/M. Sieber (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Basel, Bd. V, Basel 1980, S. 2, Nr. 7.
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am Züricher Carolinum. Nach dem Tod des Bruders Johannes Scheuchzer übertrug man ihm dann 1738 auch dessen Lehrstuhl für Physik. Gessners Beziehungen zur Familie Scheuchzer waren also außerordentlich eng51. Wie kein zweiter kannte er auch den Nachlass seines Lehrers Johann Jakob Scheuchzer. Über diesen schreibt er z. B. am 5. Januar 1749 an Carl von Linné: During his lifetime he [Johannes Scheuchzer] had gathered into his possession all his brother’s writings, together with his library and herbarium, leaving only the collection of fossiles to the heirs. […] The remainder is so jealously preserved by his widow that one is scarcely permitted to inspect, let alone to make use of the material52.
Die Handschrift mindestens des zweiten Teils des Basler Sammelbandes lässt sich nun eindeutig als die von Johannes Gessner identifizieren53. Aber auch die Kopie des von Leibniz auf Französisch verfassten Entwurfs des Antwortschreibens Scheuchzers an Erskine verglichen mit einem französischen Text von Gessners Hand des zweiten Teils des Basler Kopienbandes weist größere Gemeinsamkeiten mit diesen auf. Ich glaube daher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten zu können, dass die Leibniz-Briefe in ZB Zürich Ms H 309 zusammen mit anderen an Scheuchzer gerichteten Briefen von Johannes Gessner nach 1760 kopiert und zum heutigen Handschriftenband UB Basel G2 II 49 zusammengebunden worden sind. Wie kam aber dieser Band nach Basel? In den Bernoulli-Korrespondenzen ist nirgends von solchen Kopien die Rede. Über den Weg der Kopien von Zürich nach Basel lassen sich also nur Vermutungen anstellen. Johannes Gessner stand mit Johann I und noch mehr mit Johann II Bernoulli im Briefwechsel. In dieser Korrespondenz ist nicht selten von Buchnachlässen und Buchauktionen die Rede, was auch zu einem Austausch von Büchern und Buchkatalogen zwischen Zürich und Basel führte54. So findet sich in Basel ein Handschriftensammelband mit Verzeichnissen der Sammlungen Johannes von Muralt und Johannes Escher und der bereits erwähnte Katalog der Bibliothek von Johann Jakob Scheuchzer, der von ihm nach dem Tod von Dorothea Scheuchzer im Jahr 1778 angelegt wurde, bevor diese Büchersammlung zerstreut wurde55. Es ist möglich, dass Gessner auch seine Sammlung der Kopien der Scheuchzer-Briefe Johann II Bernoulli zur Einsicht übergeben hat. Da beide fast gleichzeitig im Jahr 1790 starben, Gessner am 6. Mai und Johann II Bernoulli am 17. Juli, sind Gessners Leihgaben vielleicht nicht mehr nach Zürich 51 U. Boschung: „Erkenntnis der Natur zur Ehre Gottes und zum Nutzen des werten Vaterlandes. Der Naturforscher Johannes Gessner (1709–1790)“, in: H. Holzhey/S. Zurbuchen: Alte Löcher – Neue Blicke (wie Anm. 4), S. 299–318. 52 G. R. de Beer: „The correspondence between Linnaeus and Johann Gessner“, in: Proceedings of the Linnaean Society of London 161 (1949), S. 233 53 Ich danke Herrn Dr. Urs Leu von der Zentralbibliothek Zürich für die Prüfung und Bestätigung meiner Vermutung. 54 Z. B. Briefe von Johann II Bernoulli an Johannes Gessner vom 9.4.1749 (Basel, UB, Handschriften. G VI 2, 149), oder vom 17. November 1750 (Basel, UB, Handschriften, Autogr. Brüderlin 5). 55 U. Leu: „Johann Jakob Scheuchzers Privatbibliothek“, in: Ders.: Natura sacra (wie Anm. 30), S. 211–240.
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zurückgegeben worden, sondern mit dem Nachlass von Johann II Bernoulli, in dem sich auch die Leibniz-Briefe an seinen Vater Johann I befanden56, in die UB Basel gelangt. Das würde erklären, warum der Band mit den Kopien unserer LeibnizBriefe als ein Altbestand ungeklärter Provenienz erst spät von der Basler Bibliothek mit einer Signatur versehen wurde. Nun bleibt noch die Frage, zu welchem Zweck die Basler Kopien der Briefe von Leibniz an Scheuchzer angefertigt wurden. Auch hier bleibt es für mich bei Vermutungen. Eine geplante Verwendung für eine Edition der Briefe kann ich nicht erkennen. Offenbar traf der Schreiber aber eine gezielte Auswahl aus dem umfangreichen Schatz der Scheuchzer-Briefe. Alle ausgewählten Autoren standen in einer sehr engen persönlichen und wissenschaftlich produktiven Verbindung mit Scheuchzer. Die Briefe der beiden prominentesten Autoren Bignon und Leibniz stehen dabei am Anfang, wobei auffällt, dass die Leibniz-Briefe im Unterschied zur Züricher Vorlage erst an zweiter Stelle rangieren und Kopien der Cuper-Briefe ganz fehlen. Auffallend ist auch die hohe Anzahl englischer Autoren. Ihre Briefe sind voll von Nachrichten aus Großbritannien. Dazu zählen dann auch die Kopien der Briefe des seit 1722 in London lebenden Scheuchzer-Sohnes Johann Caspar. Dass auch die Kondolenzbriefe an den Vater anlässlich des Todes des 27-jährigen Sohnes kopiert wurden, beweist ein enges emotionales Verhältnis des Schreibers zur Familie Scheuchzer. Dies würde wiederum auf Johannes Gessner als Kopisten hindeuten. Was nun die Leibniz-Briefe betrifft, so ist in der Basler Handschrift Leibniz nur ein Autor unter anderen. Dem Kopisten ging es also nicht in erster Linie um eine Bewahrung des Erbes dieses großen Mannes. Die Aufnahme in den Auswahlband erfolgte wohl eher wegen der Prominenz Leibnizens und wegen seiner engeren Verbindung mit Johann Jakob Scheuchzer und dessen wissenschaftlicher Karriere. Dies trifft in gleicher Weise für die meisten der anderen Briefschreiber zu. Sie alle haben Scheuchzer auf seinem Lebensweg und bei seiner Arbeit mit Wohlwollen begleitet und wertvolle wissenschaftliche Informationen im Netz ihrer Korrespondenzen ausgetauscht. Die Basler Handschrift, von der ich hier berichtet habe, ist also weniger als Beitrag zur Leibniz-Rezeption in den ersten fünfzig Jahren nach seinem Tod zu sehen. Sie ist vielmehr ein pietätvolles Zeugnis für die Vernetzung der Person und des Werkes von Johann Jakob Scheuchzer mit der europäischen république des lettres. Leibniz ist dabei einer der prominenten Korrespondenten, dessen inhaltsreiche Briefe das internationale Ansehen Johann Jakob Scheuchzers noch Jahre nach beider Tod in einer persönlich zusammengestellten Briefsammlung bezeugen sollen.
56 Die Abfertigungen der Leibniz-Briefe an Johann I Bernoulli gehörten ebenfalls zum Altbestand der UB Basel, waren also weder Teil der Gothaer noch der Stockholmer Bernoulli-Nachlassbestände. Dies bezeugt der entsprechende Eintrag im sogenannten Zwinger-Katalog, der von Prof. Franz Dorotheus Gerlach zwischen 1829 und 1875 weitergeführt wurde.
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ANHANG Inhaltsübersicht zur Basler Handschrift G2 II 49 S. 1: S. 1–24: S. 25–36: S. 25: S. 27: S. 29: S. 37–40: S. 37: S. 37–38: S. 39–40: S. 41–42: S. 43–52: S. 53–67: S. 68–72: S. 73: S. 74:
S. 75–76: S. 76: S. 76–88: S. 89–94: S. 89–90: S. 91:
S. 91–92: S. 92–93: S. 94: S. 95–96: S. 97:
Am linken Rand: „Vol. […] Epistolar. Leibnitii, Cuperi, Bignonii“ Darunter der alte Bibliotheksstempel „BIBL. PUBL. BASILEENSIS“. „Epistolae Bignonii ab a.o 1708–1717“ (Überschrift) „Epistolae Leibnitii ab A. 1706–1714“ (Überschrift) Am linken Rand: „Volum. […] Epistolae Leibnitii, Cuperi, Bignonii.“ Beim Brief von Leibniz an J. J. Scheuchzer vom 14.10.1706 ist das PS. am linken Rand nachgetragen. Am Rand nachgetragen „punctis notatur“. Am linken Rand mit Einfügungszeichen nachgetragen: „tam dignum Gloriae suae“ „Anglorum Epistolae“ (Überschrift) „Martini Listeri“ „Gulielmi Derhami“ „Epistolae Gulielmi Cantuariensium Episcopo“ „Litterae Areskini“ „Epistolae Guil. Sherardi ab a.o 1703–1717“ „Epistolae Woodwardianae Ex Collegio Greshamensi Febr. 1701–1717“ „Commercium Slonianum“ „Epistolae Petiverianae“ „Epistolae D. R. Hales“ „Joh. Harris“ „Ch. Kinnard“ „Henr. (de Nova Villa) Newton“ „Dr. H. Stanyan“ „A. Stanian“ „J. Manning“ „Commercium Woolhousianum“ „Epistolae de obitu J. Casp. Scheuchzeri med. D. Coll. Medici Londinensis et Soc. Reg. Londin. Collegae: nat. 1702“ (Überschrift) Briefe von Sloane, Noguez und Passionei „Mr. Jean Bernoulli à Bâle ce 18. Maj.“ Es handelt sich um einen Auszug aus dem Brief von Johann I Bernoulli an Johann Jakob Scheuchzer von 18.5.1729 (Dessen Abfertigung in ZB Zürich Ms H 321, S. 175–176). „Woolhouse“ „Le Conseillier Seigneur de Lausanne“ „Literae Sloanei“ [datiert 20.05.1729]. leer „Epistolae van der Aa“
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S. 98: S. 98: S. 99: S. 100: S. 101–108: S. 109–114: S. 114: S. 115–120:
S. 121–140: S. 135: S. 135: S. 139:
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„Medicamenta“ „Dr. Kappeler à Lucerne“ „Literae Sebae“ leer „Epistolae Boerhavianae“ „Epistolae Kleinianae“ „Epistola Breynii ad Joh. S.“ [datiert „Danzig d. 26 maj 1736“]. leer [An S. 120 ist ein Blatt mit den Seiten 301–302 einer Druck schrift (im Text als „theses“ bezeichnet) angebunden, das einen „§ 14“ enthält, in welchem Gleichnisse von Jesus interpretiert werden.] „Epistolae Casp. Scheuchzeri d. 18. Jul. 1722–17. Mart. 1729“ „Ad Cappelerum“ „Pour M. Le Dr. Lang“ „A Mr. Jean S. son oncle“. Es folgen 3 unpaginierte leere Blätter.
Die in der Basler Handschrift G2 II 49 versammelten Korrespondenten von J. J. Scheuchzer Bernoulli, Johann I (1667–1748); Professor der Mathematik in Groningen und Basel. Bignon, Jean Paul (1662–1743); Prediger und königlicher Bibliothekar. Boerhaave, Herman (1668–1738); Mediziner und Botaniker. Breyne, Johann Philipp (1680–1764); Botaniker, Paläontologe und Zoologe in Danzig. Cuper, Gisbert (1644–1716); klassischer Philologe und Universalgelehrter. Derham, William (1657–1735); englischer Geistlicher und Naturphilosoph. Erskine alias Areskine, Robert Karlowitsch (1674–1719); schottischer Leibarzt Peters des Großen. Hales, Stephen (1677–1771); Mitbegründer der Pflanzenphysiologie. Harris, John (1666–1719); Geistlicher und Mathematiker, Sekretär der Royal Society. Kappeler, Moritz Anton (1685–1769); Stadtphysikus in Luzern und Naturforscher. Kinnaird (Kinnard), Charles (1684–1758); weilte auf seiner Grand Tour in Zürich, Vermittler zwischen Scheuchzer und Sloane. Klein, Jakob Theodor (1685–1759); Stadtschreiber zu Danzig.
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Lang, Karl Nikolaus (1670–1741); Stadtarzt in Luzern. Lister, Martin (1639–1712); Arzt und Naturforscher, Erforscher von Schalenweichtieren. Manning, Francis; 1709 bis 1713 britischer Resident in Graubünden in Chur. Newton, Henry (1651–1715); britischer Gesandter in der Toskana. Noguez, Pierre (ca. 1685–?); französischer Arzt, Botaniker und Übersetzer in London, Santo Domingo und Paris. Passionei, Domenico (1682–1761); Kardinal und Gelehrter, Bibliothekar der Vaticana. Petiver, James (1693–1718); britischer Botaniker. Scheuchzer, Johannes (1684–1738); Arzt und Naturforscher, jüngerer Bruder von Johann Jakob Scheuchzer. Scheuchzer, Johann Caspar (1702–1729); Sohn von Johann Jakob Scheuchzer, Naturforscher. Seba, Albert (1665–1736); deutsch-holländischer Apotheker und Naturaliensammler. Sherard, William (1659–1728); britischer Botaniker, Konsul in Smyrna. Sloane, Hans (1660–1753); irischer Wissenschaftler, Mediziner und Botaniker, Präsident der Royal Society. Stanyan, Abraham, (1669–1732); englischer Gesandter in Bern, verfasste 1714 „An account of Switzerland“. Van der Aa, Pieter (1659–1733); niederländischer Stecher und Zeichner, Verleger in Leiden, Herausgeber von Karten. Woodward, John (1665–1728); Naturhistoriker, Geologe, Arzt, Sintfluttheorie. Woolhouse, John Thomas (1666–1734); königlicher britischer Augenarzt.
ZUR PROVENIENZ DER GOTHAER LEIBNITIANA CHART. A 448–449 UND ZUM UMSTRITTENEN LEIBNIZBRIEF* Von Charlotte Wahl (Hannover) Der von Samuel König 1752 veröffentlichte Leibnizbrief vom 16. Oktober 1707 sorgte bei Mathematikern und Naturhistorikern für Aufsehen. In ihm schien Leibniz Maupertuis’ Prinzip der kleinsten Wirkung vorwegzunehmen1. Außerdem wurde die Entdeckung von Lebewesen zwischen Pflanze und Tier vorhergesagt, die durch Abraham Trembleys 1744 veröffentlichte Untersuchung zu den Eigenschaften von Süßwasserpolypen verwirklicht wurde2. In dem Brief wird deren Existenz als Glied einer Kette der Wesen aus dem Leibniz’schen Kontinuitätsprinzip gefolgert. Charles Bonnet hatte die Polypen 1745 in seinem Traité d’insectologie ähnlich interpretiert, als Stufe einer Leiter, die die unbelebte Materie mit dem Menschen verbindet3. Während die Mathematiker Leonhard Euler und Pierre Louis Moreau de Maupertuis den Brief in einem Verfahren der Berliner Akademie der Wissenschaften als Fälschung verurteilen ließen4, freuten sich Bonnet und andere Naturhistoriker * 1
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Ich danke Ursula Goldenbaum für anregende Diskussionen und hilfreiche Hinweise. S. König (anon.): Appel au public, du Jugement de l’Académie royale de Berlin, sur un fragment de lettre de Mr. de Leibnitz, cité par Mr. Koenig, Leiden 1752, Appendice, S. 41–48. Ein Fragment des Briefs mit dem Prinzip der kleinsten Wirkung war von König schon 1751 veröffentlicht worden. A. Trembley: Mémoires, pour servir à l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce, Leiden 1744. Zu dieser Entdeckung und ihrem Kontext vgl. V. P. Lawson: Nature’s enigma: The problem of the polyp in the letters of Bonnet, Trembley and Réaumur (= Memoirs of the American Philosophical Society held at Philadelphia for promoting useful knowledge 174), Philadelphia 1987. Lawson diskutiert auch einen möglichen Einfluss von Leibniz auf Trembleys Entdeckung (S. 130–131). Ch. Bonnet: Traité d’insectologie, Bd. 1, Paris 1745, Preface, S. XXVIII. Einen Einfluss von Leibniz auf Bonnet zu diesem Zeitpunkt hält Lawson für unwahrscheinlich (V. P. Lawson: Nature’s enigma [wie Anm. 2], S. 171–172). Hier sei nur auf die neuesten Beiträge zur anhaltenden Debatte um die Echtheit des Briefes hingewiesen: H. Breger: „Über den von Samuel König veröffentlichten Brief zum Prinzip der kleinsten Wirkung“, in: H. Hecht (Hrsg.): Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Eine Bilanz nach 300 Jahren (= Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin 3), Berlin 1999, S. 363–381; U. Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? Plädoyer für
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nach ihm über die hinzugewonnene Tradition und bewunderten die Vorhersagekraft von Leibniz’ Metaphysik. So zitiert Bonnet in seinen Considerations sur les corps organisés ausführlich aus dem Brief und schließt: „Rarement la Métaphysique est aussi heureuse à deviner la Nature“5. Auch Heinrich Sander verweist bei der Diskussion der Polypen in seiner 1780 erschienenen populärwissenschaftlichen Schrift Ueber Natur und Religion für die Liebhaber und Anbether Gottes auf Leibniz: Aber grösser, als das alles, ist der Ruhm des deutschen Leibnitz, der die Bekanntmachung dieser Thiere nicht erlebte, aber sie, im vesten Vertrauen auf seine von der Natur selber gelernte Grundsätze, ehe er starb, weissagte6.
Die Singularität der beiden Vorwegnahmen in den (bislang erschlossenen) Schriften von Leibniz macht die Bedeutung des Briefes bis heute aus, lässt seine Authentizität allerdings nach wie vor zweifelhaft erscheinen – umso mehr, je weiter die systematische Erschließung des Leibniz-Nachlasses voranschreitet. Herbert Breger hat 1999 Aussagen des Briefes mit dem Leibniz-Korpus abgeglichen. Auf Grund einiger Unstimmigkeiten schloss er, dass der Brief eine Fälschung sei. Diese Unstimmigkeiten wurden vor Kurzem von Ursula Goldenbaum wieder in Frage gestellt7. Bis 1900 waren von dem Brief nur die Textzeugen bekannt, die von Samuel König verbreitet worden waren. Willy Kabitz untersuchte 1913 eine Abschrift des Briefes, die sich noch heute im Konvolut Chart. A 448–449 der Forschungsbibliothek Gotha befindet. Dieses Konvolut und weitere Gothaer Leibnitiana hatte Paul Ritter 1904 bei seinen Reisen zur Vorbereitung der Leibnizedition gesichtet und der Leibnizforschung bekannt gemacht8. Die Unterschiede zwischen der Abschrift und
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seine Authentizität (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur 6), Hannover 2016. Vor allem im letzten Beitrag finden sich ausführliche bibliographische Angaben. Außer im Anhang zu S. König: Appel (wie Anm. 1) finden sich Materialien zum Verfahren von Euler und Maupertuis vor der Berliner Akademie der Wissenschaften in Mémoires pour servir à l’histoire du Jugement de l’Académie, [Berlin, 1753 (?)], Appendice. Die dadurch hervorgerufene heftige öffentliche Auseinandersetzung, in die sich Friedrich II. und Voltaire einschalteten, wurde aufgearbeitet in U. Goldenbaum: „Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik. Die öffentliche Debatte über den Jugement de L’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz 1752–1753“, in: Dies. (Hrsg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Bd. 2, Berlin 2004, S. 509–651. Ch. Bonnet: Considerations sur les corps organisés, Bd. 1, Amsterdam 1762, S. 218–219, Zitat S. 219. H. Sander: Ueber Natur und Religion für die Liebhaber und Anbether Gottes, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1780, S. 203. Vgl. auch A. O. Lovejoy: The great chain of being, New York 1965 [Cambridge (Mass.) 11936], S. 232–233. Vgl. H. Breger: „Über den von Samuel König veröffentlichten Brief“ (wie Anm. 4) und U. Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? (wie Anm. 4). W. Kabitz: „Über eine in Gotha aufgefundene Abschrift des von S. König in seinem Streite mit Maupertuis und der Akademie veröffentlichten, seinerzeit für unecht erklärten Leibnizbriefes“, in: Sitzungsberichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1913, 2. Halbband, S. 632–638; P. Ritter: „Neue Leibniz-Funde. Reisebericht“, in: Abhandlungen der
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dem Druck des Briefes ließen Kabitz schließen, dass beide unabhängig voneinander seien. Dies sprach für die Echtheit des Briefes. Ungeklärt blieb allerdings die Provenienz des Konvoluts. Die Bedeutung dieser Frage für die Einschätzung des Briefes hob Breger hervor9, aber auch unabhängig davon ist sie von Interesse und das eigentliche Thema dieses Beitrags. Denn bei dem Konvolut handelt es sich um eines der prominentesten Beispiele dessen, was Sabine Sellschopp „versprengte Überlieferung“ nennt10. Damit charakterisiert sie Aufzeichnungen und Briefe, die ursprünglich in Leibniz’ Besitz waren und die man daher in seinem Nachlass in Hannover erwarten würde. Zu klären ist also jeweils, wie diese Handschriften ihren Weg in andere Bibliotheken gefunden haben. Kabitz sah es zwar als erwiesen an, dass das Gothaer Konvolut Teil der von Johann III Bernoulli in den 1790er Jahren nach Gotha verkauften Briefe und Schriften aus dem Familienbestand war. Wie dieser an die Leibnitiana gekommen war, ließ Kabitz jedoch offen. Von einer Provenienz über Johann III Bernoulli ging auch Hans-Joachim Rockar aus, der die Gothaer Leibnitiana 1979 detailliert beschrieben hat. Auf seine Ausführungen stützt sich zum Teil der folgende Abschnitt11. 1. BESCHREIBUNG DES KONVOLUTS Das Gothaer Konvolut Chart. A 448–449 besteht aus 74 Stücken – Briefen und Aufzeichnungen – und umfasst insgesamt 216 Blatt. Es ist unterteilt in acht Faszikel, die durch Deckblätter eingeleitet werden, auf denen sich grobe und unvollständige Inhaltsangaben finden12. Auf dem Deckblatt von Faszikel V wurde nachträglich vermerkt, die seltene Schrift Arithmeticus perfectus qui tria numerare nescit seu arithmetica dualis von Wenceslaus Joseph Pelican13 sei in der Bibliothek aufgestellt worden. Im Gemeinsamen Verbundkatalog sind nur zwei Exemplare dieser Schrift nachgewiesen, darunter ein Gothaer Exemplar mit der Signatur Math 8° 00056/0514. Trotzdem muss hier offenbleiben, ob dieses Exemplar, das keine Provenienzspuren aufweist, gemeint ist.
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königlich preussischen Akademie der Wissenschaften (1904), Phil.-hist. Abh. IV, zu Gotha S. 38–41. H. Breger: „Über den von Samuel König veröffentlichten Brief“ (wie Anm. 4), S. 380–381. Vgl. ihren Beitrag im vorliegenden Band, S. 33–46. H.-J. Rockar: Leibniz und sein Kreis. Handschriften von Gottfried Wilhelm Leibniz und einigen seiner Zeitgenossen in der Forschungsbibliothek Gotha, Gotha 1979, S. 8–9 (zur Provenienz) und S. 18–30 (Beschreibung der einzelnen Stücke des Konvoluts). Natürlich sind einige Informationen, insbesondere zur Datierung der einzelnen Stücke, inzwischen überholt. Die Deckblätter sind mitsigniert, sie werden daher bei der Blattzahl, nicht jedoch bei der Stückzahl mitgezählt. Es handelt sich um Bl. 1–2 (zu Faszikel I), 20–21 (II), 32–33 (III), 54–55 (IV), 81–83 (V), 121–122 (VI), 180 und 205. Dabei sind die letzten beiden Deckblätter vertauscht, d. h. Bl. 205 gehört zu Faszikel VII und Bl. 180 zu Faszikel VIII. W. J. Pelican: Arithmeticus perfectus qui tria numerare nescit seu arithmetica dualis, Prag 1712. Diese Bemerkung ist von anderer Hand als die Deckblätter selbst. Der Gemeinsame Verbundkatalog (GVK) umfasst die Bibliothekskataloge der Länder Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein,
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Das Konvolut besteht zum Großteil aus Stücken, die eindeutig aus Leibniz’ Besitz stammen und die man daher in seinem Nachlass in Hannover vermuten würde: eigenhändige Konzepte oder von ihm durchgesehene Abschriften seiner Briefe, eigenhändige oder durchgesehene Aufzeichnungen, Abfertigungen von Korrespondentenbriefen sowie drei Drucke mit Leibnizmarginalien. Unter den Aufzeichnungen befinden sich der Essay d’une nouvelle science des nombres15 zur Binärrechnung und eine längere Abhandlung zur cartesischen Philosophie16. Unter den Briefen stammen einige aus dem Jahr 1716. Leibniz’ Briefwechsel dieses Jahres ist inzwischen recht gut erschlossen17. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er in dieser Zeit größere Briefbestände aus der Hand gegeben hätte18. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass ein großer Teil des Konvoluts auf ein Leck nach Leibniz’ Tod zurückgeht. Neben diesen Stücken enthält das Konvolut unter anderem eine Abschrift der lateinischen Fassung des öffentlichen Briefs von Denis Papin an Christiaan Huygens von 169519. Leibniz wird in dem Brief erwähnt. Ob diese Abschrift aus Leibniz’ Besitz stammt, muss hier offenbleiben. Den Rest des Konvoluts machen spätere Abschriften meist von Leibnizbriefen und -schriften aus, darunter ein Heft mit Abschriften von Leibnizbriefen, das Kabitz untersucht und beschrieben hat und das auch den umstrittenen Brief enthält, sowie zwei weitere Abschriften, die im Zusammenhang mit Leibniz stehen: die Abschrift eines Briefes von Johann I Bernoulli an Willem Jacob ’s Gravesande von 1726, in dem es um den Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton und die Leibniz’sche Metaphysik geht, und die Abschrift von Rudolf August Noltes 1734 erschienener Schrift Gottfried Wilhelms Baron von Leibnitz mathematischer Beweis der Erschaffung und Ordnung der Welt20. Diese beiden Handschriften belegen, dass das Konvolut lange nach Leibniz’ Tod zusammengestellt wurde. Die Faszikel haben keine nachvollziehbare innere Ordnung, sie sind aber zum Teil in Hinblick auf bestimmte Themen zusammengestellt. Die Faszikel I und II enthalten einschlägige Stücke aus Leibniz’ Briefwechsel mit England in den Jahren 1715–1716 und den Prioritätsstreit mit Newton betreffend. Das Faszikel IV umfasst Stücke aus dem Austausch mit Johann und Nicolaus Bernoulli dieser Zeit zum selben Thema. Das Faszikel III betrifft die Auseinandersetzung um die Grundlagen der Infinitesimalrechnung vor der Académie des sciences im Jahr 1705. Faszikel V
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Thüringen und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er ist konsultierbar unter https://gso.gbv.de (Stand: 29.8.2016). Das zweite Exemplar befindet sich in der GWLB Hannover. Die Schrift liegt in mehreren Textzeugen vor in Bl. 102–106, 111, 114–117; gedr. H. J. Zacher: Die Hauptschriften zur Dyadik von G. W. Leibniz. Ein Beitrag zur Geschichte des binären Zahlensystems (= Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs 5), Frankfurt a. M. 1973, S. 250–261. Bl. 168–173; es handelt sich um einen weiteren Textzeugen von GP IV, 393–400. Vgl. die Transkriptionen unter http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen.htm (Stand: 6.4.2015). Vgl. dazu den Beitrag von Sabine Sellschopp im vorliegenden Band. Bl. 174–179. Die hier vorliegende lateinische Fassung des Papinbriefs wurde als öffentlicher Brief gedruckt in D. Papin: Fasciculus dissertationum, Marburg 1695, S. 68–93. Bl. 131–161; Bl. 72–80; Bl. 89–98. Die Schrift erschien in Leipzig und Wolfenbüttel.
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ist den mathematischen, philosophischen und sinologischen Aspekten der Dyadik gewidmet. Faszikel VI ist gemischter: Es enthält das Heft mit der Abschrift des umstrittenen Briefs und ist vor allem der Dynamik, aber auch der Philosophie und Technik gewidmet. Außerdem betreffen einige der Stücke des Konvoluts Probleme der Zahlentheorie. Auffällig ist, dass insbesondere die Faszikel I–V einschlägige Stücke zu den entsprechenden Themen enthalten. Allein aufgrund dieses Befundes ist davon auszugehen, dass der Sammler nicht von einer dem Zufall unterworfenen Sammeltätigkeit abhängig war, sondern aus einem großen Bestand, vermutlich eben Leibniz’ Nachlass selbst, auswählen konnte. 2. ZUR PROVENIENZ Die Frage nach der Provenienz lässt sich in zwei Teilfragen aufspalten: Wie haben die Handschriften aus Leibniz’ Nachlass Hannover verlassen? Wie ist das Konvolut nach Gotha gekommen? Zur ersten Teilfrage hat Malte-Ludolf Babin 2001 einen Vorschlag gemacht, der schon vom thematischen Schwerpunkt des Konvoluts her naheliegt: Die Leibnitiana könnten zu den von Samuel König in den 1750er Jahren aus Hannover entliehenen Handschriften gehört haben21. Der Vorgang ist in den Akten der früheren Königlichen Bibliothek gut belegt und 1974 von Hans Immel in einer längeren Fußnote aufgearbeitet worden22. Im September 1750 besuchte König die Bibliothek und fuhr dann nach Berlin23. Dort kam es zur Auseinandersetzung mit Maupertuis, die in einem offensichtlich die Sichtweise Maupertuis’ und der Akademie vertretenden Bericht im Neuen gelehrten Europa folgendermaßen beschrieben wird: Während seines Aufenthalts zu Berlin legte Herr König fleißige Besuche bey dem Herrn von Maupertuis ab. Eines Tages entstand ein Wortwechsel unter ihnen über die Erfindung des calculi transcendentalis. Der Herr von Maupertuis behauptete, Leibnitz habe auf das in England
21 M.-L. Babin: „Anecdota Leibnitiana. Christoph Gottlieb von Murr und seine Leibnizsammlung“, in: Nihil sine ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, hrsg. von H. Poser in Verbindung mit Ch. Asmuth, U. Goldenbaum und W. Li, Berlin 2001, S. 50–56. 22 P. Binder: „Das Tagebuch des Siebenbürgers Stephan Halmágyi über seine Reise nach Deutschland in den Jahren 1752/1753 unter besonderer Berücksichtigung Hannovers und seiner königlichen Bibliothek“, unter Mitarbeit von H. Immel und W. Totok, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46 (1974), S. 23–57, Anm. 103. Bei den Akten handelt es sich um Hannover, GWLB, V 22c und V 22d Bl. 11–31, die Gegenakten des Hofs sind Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover (im Folgenden: Hannover, NLA), Dep. 103 XXXV Nr. 245 Bl. 30–38 sowie Nr. 246. Ich danke Anne Picard vom Hauptstaatsarchiv für ihre Unterstützung bei der Lokalisierung dieser Akten. 23 Vgl. Maupertuis’ Brief an Johann II Bernoulli vom 12. September 1750, zitiert in P. Radeletde Grave: ,,La ,diatribe du Docteur Akakia, Médecin du pape‘“, in: Revue des questions scientifiques 169 (1998), S. 209–249, hier S. 219.
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Charlotte Wahl herausgegebene commercium epistolicum24 nie anders als mit Schimpfen und Schmälen geantwortet. Herr K. welcher bey allem, was den Leibnitzianismus betrifft, sehr empfindlich ist, faßte Feuer, und nachdem er einige schlechte Gründe beygebracht hatte, welche theils von der Todeszeit des Leibnitz, und von der Ausgabe des commercii hergenommen waren, aber beym Aufschlagen des Buches selbst, welches bey der Hand war, falsch befunden wurden, theils auf gewisse Handschriften, so er irgendwo sagte gesehen zu haben, beruheten, kam er zu Worten, welche dem Herrn v. M. allzugemein und nicht weit vom Schimpfen zu seyn schienen25.
Johann Heinrich Samuel Formey zufolge ging die Eskalation während des Berlinaufenthalts auf Maupertuis und nicht auf König zurück26. Wichtig ist hier allerdings nur, dass König ein Motiv hatte, sich für Briefe zum Prioritätsstreit zu interessieren. Auf dem Rückweg nach Den Haag machte König im Oktober erneut in Hannover halt, um den Leibniz-Nachlass einzusehen. Dass ihn die Auseinandersetzung antrieb, Leibniz zu seinem Recht zu verhelfen, geht aus einem Brief aus Hannover an Albrecht von Haller hervor: Pardessus toute chose l’histoire du calcul différentiel me tient à coeur; Maupertuis encore dernièrement l’attribua à Newton avec tant de hauteur et de mépris pour Leibnitz, que j’ai résolu, si on me veut communiquer les papiers, d’abolir ce scandale à jamais et de remettre l’Allemagne en pleine possession de cette gloire qui lui est due si justement27.
Die Idee einer Edition war jedoch älter: Schon 1745 hatte König Haller davon berichtet, Leibniz’ mathematische und philosophische Schriften herausgeben zu wollen. Er habe selbst eine große Zahl gesammelt, „même des manuscrits qui n’ont jamais paru“. Er hoffte auf Hallers Hilfe beim Zugang zum Nachlass in Hannover28. Bei seinen Besuchen in Hannover ließ sich König zum einen Handschriften abschreiben, wie aus einem Billet für den Bibliotheksdirektor Christian Ludwig Scheidt hervorgeht: Je ne puis partir sans vous importuner encore unes fois, Le Paquet 26 de ceux que j’ay ouvert, contient 4 ou 5 feuilles qui roulent sur l’histoire de L’algebre; ce ne sont que des lambeaux qui 24 Gemeint ist das Commercium epistolicum, London 1712 [1713], das Leibniz beschuldigende Gutachten der Royal Society im Prioritätsstreit mit Newton. 25 „Authentische Nachricht von den Streitigkeiten des Herrn Präsidenten von Maupertuis mit dem seligen Herrn Rath König und dem Hrn. von Voltaire“, in: Das neue gelehrte Europa, Theil 13, Wolfenbüttel 1758, S. 260–272, hier S. 261. Diese Schilderung des Streits baut wohl auf der etwas präziseren in Mémoires pour servir (wie Anm. 4), S. 148–149, auf: „M. Koenig soutint que M. de Leibnitz, prévenu par la mort, n’avoit pas eu le tems d’y faire une autre réponse; & pour appuyer sa these, il cita, sur le champ, des dates de la publication du Commercium Epistolicum & de la mort de Leibnitz, qui se trouverent démenties à l’ouverture du livre qu’on avoit sous la main. Après quoi, s’étant échauffé & emporté, il ajouta qu’il avoit vû les découvertes de Leibnitz apostillées par lui même avec les dates de ces découvertes. M. de Maupertuis lui répondit que de tels témoignages ne pouvoient avoir aucune force: puisqu’on pourroit dire que M. de Leibnitz auroit mis les dates comme il auroit voulu“. (Hervorhebung ebd.). 26 J. H. S. Formey (anon.): Souvenirs d’un citoyen, Bd. 1, Berlin 1789, S. 176–177. 27 Im Brief vom 3. Oktober 1750 (R. Wolf: „Auszüge aus Samuel Königs Briefen an Albrecht von Haller, mit litterarisch-historischen Notizen“, in: Mittheilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern 39–56 (1845), S. 33–47, 57–84, hier S. 45. 28 Im Brief vom 25. Mai 1745 (R. Wolf: „Auszüge aus Samuel Königs Briefen“ [wie Anm. 27], S. 39).
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à ce qui ma paru ne coherent point cependant je Vous prie de les en tirer et de me les faire copier aussi s. v. p.29.
Das PS zeigt, dass er sich nicht ausschließlich für Mathematica und Philosophica interessierte: „Souvenez Vous des pieces de Bibliotheca ordinanda, De Encyclopedia, et s’il y a quelque autre chose dans ce gout“30. Zum anderen legte König Pakete von Leibniz-Handschriften mit der Bitte beiseite, sie ihm später zuzuschicken: Voici le paquet que je pris avec moi hier, faites moi la grace de le remettre avec son compagnon en les liant ensemble avec la fisselle blanche, comme ils l’etoient, parce que ce sont ceux cy, que je pourrois Vous demander entre autres. Je crois que je partirai ce matin[:] ainsi je vous prie de ne pas vous donner la peine de venir icy31.
Als sein Vorhaben auf Widerstände stieß, schlug König Scheidt im Brief vom 17. Oktober 1750 sogar vor, den Hof zu übergehen: Je n’osois Vous faire faire ces reflexions, mais il me sembloit que Vous auriés bien pu prendre la chose sur vous, puisque Vous avés communiqué des leibnitiana à tant d’autres. Ce sont là des choses dont on ne prend pas notice quand elles se font, et qui donnent occasion a des deliberations sans fin, quand on les demande a des gens qui n’y entendent rien. J’ai tant de papiers de Leibnitz, est ce qu’un de vos conseillers de regence se seroit avisé de vouloir discerner si un papier d’algebre me vient de vous, où d’ailleurs […]32.
Offenbar bot Scheidt ihm an, statt ganzer Konvolute einen Katalog zu übersenden, anhand dessen König die ihn interessierenden Schriften auswählen könne. König hielt die Idee jedoch für nicht praktikabel: Ein Katalog reiche nicht aus, um zu entscheiden, welche Handschriften für sein Vorhaben relevant seien, da sich die Bedeutung vieler Aufzeichnungen erst nach längerer Beschäftigung mit ihnen offenbare. Er bat, einen ziemlichen Coffre voll auf einmahl zu sehnden, den ich dann durchgehen könne, und nach gethaner wahl, dann zu untersuchung eines andern schreiten, nach zurückschickung deß ersteren: Anderst sehe ich keine möglichkeit dieses meer durch zu schiffen, dann die kleinen blätter halten öfters so wichtige gedanken in sich als gantzen tractaten33.
Scheidt setzte sich für Königs Vorhaben im Brief vom 30. Oktober 1750 an die Hannoveraner Räte ein, aus dem auch hervorgeht, um welche Gebiete es vor allem ging: Es finden sich unter denen MSCtis Leibnitianis auff hiesiger königl. Bibliothec viele fürtreffliche Auffsäze dieses gelährten Mannes v. g. de arithmetica Diadica & analysi Diophantea, de 29 Hannover, GWLB, V 22d Bl. 12. (In den folgenden Zitaten sind nach den Regeln der LeibnizEdition zur besseren Lesbarkeit Akzente ergänzt). Bei dem erwähnten Stück handelt es sich wohl um De ortu, progressu et natura algebrae (LH XXXV 4,6 Bl. 1–4; GM 7, 203–216). Dieses wird in einem Brief Scheidts an die Hannoveraner Räte vom 30. Oktober 1750 (Hannover, NLA, Dep. 103 XXXV Nr. 245 Bl. 30–31; Konzept: Hannover, GWLB, V 22c Bl. 2–3) angeführt. 30 Hannover, GWLB, V 22d Bl. 12. 31 Ebd., Bl. 13. 32 König an Scheidt, Den Haag, 17. Oktober 1750 (ebd., Bl. 19–20, hier Bl. 20v). 33 König an Scheidt, Den Haag, 20. Oktober 1750 (ebd., Bl. 16–17, hier Bl. 17v).
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Charlotte Wahl historia analyseos, de calculo differentiali, de quadratura circuli und von andern dergleichen in die höhere Theile der Mathematic einschlagenden Materien34.
Die Räte erteilten eine Erlaubnis der Zusendung vor allem der mathematischen Manuskripte unter der Bedingung, dass ein Katalog darüber angefertigt würde. Im Brief vom 17. September 1753, als der Streit um die Echtheit des Briefes schon in vollem Gange war, skizzierte König seine weiteren Pläne und begründete, warum die Edition noch nicht weit gediehen war: J’aprens que Maupertuis fait imprimer encore un in 4to contre moi; je l’attens et dès qu’il aura parû, je lui lacherai ma Provocatio ad Philosophos et Geometras dans laquelle je traiterai cette matiere à fond, et ferai rendre à Leibniz la justice qui lui est duë sur bien des articles. Des que cette seconde partie de ma defense necessaire aura vû le jour, je dis manum de tabula; et je laisse là Mrs les Berlinois à perpetuité. Après cela je donnerai aussitot un echantillon des Opuscula posthuma de Leibniz que cette guerre n’en fera valoir que davantage; et dès que cela sera fait je vous renverrai tous les papiers que vous m’avés confié, et vous rendrai la justice qui vous est duë à cet egard. Il est facheux que tant de papiers soit transposés c. a. d. qu’une partie d’un meme ecrit se trouve dans tel cahier, et l’autre dans tel autre cahier, de sorte qu’il faut quelques fois chercher bien long tems avant que de pouvoir completer une piece. J’en vois d’incomplets dont les autres morceaux seront encore chez Vous indubitablement: cela m’a fait souhaiter Monsieur que Vous voulussiés avoir la bonté de m’envoyer encore les autres choses que Vous m’avés destiné, en comparant plusieurs ecrits j’en tire d’entiers qui meritent d’etre donnés au public. Car il y a parmi une infinité d’essais changés et rechangés vingt fois qu’on ne peut pas faire imprimer tous. Ainsi il faut choisir dans le grand nombre le mellieur et le plus parfait35.
1757 starb König, 1761 Scheidt. Weder war die Edition erschienen, noch waren die Handschriften zurück nach Hannover gelangt. Scheidts Nachfolger Johann Heinrich Jung setzte die nach Königs Tod begonnenen Rekuperationsbemühungen fort. Die Handschriften waren an Königs Amanuensis Rudolf Samuel Henzi (den Sohn
34 Hannover, NLA, Dep. 103 XXXV Nr. 245 Bl. 30–31, hier Bl. 30r. 35 König an Scheidt, Den Haag, 17. September 1753 (Hannover, GWLB, V 22d Bl. 29–30, hier Bl. 29; Hervorhebung ebd.). Bei der hier erwähnten Schrift Maupertuis’ handelt es sich wohl um die Mémoires pour servir (wie Anm. 4). Diese sind sehr selten. Der GVK verzeichnet als einziges Exemplar das der Staatsbibliothek Berlin mit der Signatur Al 5306 (Stand: 31.3.2015). Die umfangreiche Schrift legt unter anderem die Argumentation der Berliner Akademie gegen die Echtheit des Briefes dar, nachdem die Akademie 1753 aus Basel Briefe von Leibniz an Jacob Hermann erhalten hatte. König erwähnt die Schrift schon in seinem Brief vom 17. August 1753 an Haller: „On me mande de Berlin que Merian a composé un grand in-4.° contre moi; que toutes les feuilles vont à Paris et y reçoivent des changements et additions de la main de Maupertuis“ (R. Wolf : „Auszüge aus Samuel Königs Briefen“ [wie Anm. 27], S. 80). Offenbar wurde von einer Verbreitung der Schrift abgesehen, wie die „Authentische Nachricht“ (wie Anm. 25), S. 267, nahelegt: „Man hat nachher Entdeckungen gemacht, und man hat, dem Verlaute nach, eine Sammlung von Nachrichten und Beweisschriften, welche nach den richtigsten Regeln einer guten Kritik, einen vollkommenen Beweis wider die Aechtheit desselben ausmachen. Man füget hinzu, daß die Liebe zum Frieden, und das Stillschweigen, welches Herr K. seiner vielen Drohungen ohnerachtet, seit vier Jahren beobachtet, die Ausgabe derselben bisher verzögert habe“. Stattdessen erschienen nach Königs Tod nur die mit wenigen Kommentaren versehenen „Lettres de M. de Leibnitz à M. Herman“ in Histoire de l’Académie royale des sciences et belles lettres, Année 1757, 1759, S. 451–522.
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von Samuel Henzi, der 1749 in Folge der sogenannten „Henzi-Verschwörung“ hingerichtet worden war und der später noch eine Rolle spielen wird) übergegangen. Dieser verlangte von Hannover, man solle eine Liste übersenden, denn König habe auch aus anderen Quellen Leibnitiana erhalten. Allerdings muss der Zustand der Bibliothek nach dem Tod Scheidts chaotisch gewesen sein. Davon zeugt ein Aktenkonvolut „enthaltend den äußerst confusen, auch durch gedruckte Avertissements zum Theil bekannt gemachten Zustand, in welchem nach Ableben des Herrn Hofrahts und Bibliothecarii Scheidt, die Königliche Bibliothec befunden worden ist“36. Den von den Räten 1751 geforderten Katalog über die verliehenen Leibnitiana hatte Scheidt nicht angefertigt. Trotzdem konnte Jung im Mai 1762 einen Koffer mit Leibnizhandschriften in Empfang nehmen. Die These über die Provenienz des Gothaer Konvoluts beruht somit auf der plausiblen Annahme, dass Henzi nicht den gesamten von König entliehenen Bestand zurückgesandt hat. Neben den allgemeinen schon zitierten Äußerungen über Königs Interessen, die gut mit dem Inhalt des Gothaer Konvoluts übereinstimmen, gibt es nur wenige Aussagen über die Leibnitiana, über die König durch eigene Sammeltätigkeit und die Sendungen aus Hannover verfügte. Nach eigenen Angaben hatte er Briefabschriften von Samuel Henzi und aus dem Nachlass von Christiaan Huygens in Leiden erhalten37. Des Weiteren besaß er zumindest Abschriften, vielleicht sogar Originale des Briefwechsels zwischen Leibniz und Johann I Bernoulli aus Basel, der 1745 nur lückenhaft veröffentlicht worden war38. In einer Rezension von Königs Verteidigungsschrift gegen den Fälschungsvorwurf Appel au public in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen heißt es, er besitze „viele andre Handschrifften des Leibnizen, und ins besondre über die Schiffart der Alten“39. Ex negativo kann man vermuten, dass Königs sonstiger eigener Bestand jedenfalls an unveröffentlichten Leibnizschriften nicht so bedeutend gewesen sein kann. Die von Johann Daniel Schöpflin 1760 erwähnte Schrift Antiplagiarius stammte, wie Babin schon festgestellt hat, wohl aus Hannover40. Zum Glück lassen sich einige konkrete Äußerungen über seinen Bestand mit dem Gothaer Konvolut in Verbindung bringen. Im Appel au public schreibt König:
36 Hannover, GWLB, V 25. Vgl. auch R. Stuber: „Johann Heinrich Jungs Konzeption der Bibliothek als einer repräsentativen Raritätenkammer“, in: G. Ruppelt (Hrsg.): 350 Jahre Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (1665–2015), Hannover 2015, S. 123–145, hier S. 124–131. 37 S. König: Appel (wie Anm. 1), S. 86, Anm. (a) sowie zu Henzi ebd.: Appendice, S. 34. 38 Virorum celeberr. Got. Gul. Leibnitii et Johan. Bernoullii commercium philosophicum et mathematicum, Lausanne/Genf 1745. Vgl. F. Nagel: „Schweizer Beiträge zu Leibniz-Editionen des 18. Jahrhunderts. Die Leibniz-Handschriften von Johann Bernoulli und Jacob Hermann in den Briefwechseln von Bourguet, König, Kortholt und Cramer“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1994, S. 525–533, hier S. 529–531. 39 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, Bd. 1, 2. Stück, 1. Januar 1753, S. 14. Auch diese nicht weiter identifizierte Schrift hatte König über Henzi erhalten; vgl. S. König: Appel (wie Anm. 1), S. 99. 40 M.-L. Babin: „Anecdota Leibnitiana“ (wie Anm. 21), S. 52. Die Schrift wird erwähnt in J. D. Schöpflin: Vindiciae typographicae, Straßburg 1760, S. 2, Anm. (d).
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Charlotte Wahl Dans le VIII. Tome des Commentaires de l’Academie Imperiale de Petersbourg pag. 141. M. Euler a donné la demonstration d’une certaine propriété des nombres Prémiers, de laquelle il se croit seul & prémier Inventeur. Cependant, il existe un Ecrit non pas en copie mais en original, de la propre main de Leibnitz, où se trouve la même demonstration de cette propriété des nombres Prémiers, dont Mr. Euler s’attribue toute la gloire. Ce papier est actuellement entre les mains de Mr. Koenig, il est pret à le produire, dès qu’il en sera requis41.
Gemeint ist der heute so genannte Kleine Fermat’sche Satz, den Leibniz unter anderem in seiner Schrift Nova algebrae promotio entwickelt42. König nimmt offenbar auf eine aus Hannover entliehene Handschrift Bezug. Kein Exemplar von Leibniz’ Hand, aber doch ein Auszug, der auch das Resultat enthält, findet sich in dem Gothaer Konvolut43. Im Oktober 1750 bat König Scheidt um einen Gefallen: […] le point principal de ce que je voulois Vous demander, à savoir une copie de la lettre par Leibnits ecrite au Roi de Prusse pour l’engager à etablir une Academie des Sciences: et que Vous trouverés parmi les papiers que j’ay mis de coté pour me les faire copier. Comme je l’ai promise a Mr. de Maupertuis, pour qu’il la fasse inserer dans le Volume des Memoires de Berlin qui s’imprime à present. Je vous prie très fort d’avoir la bonté de me la faire copier par un de vos copistes et de me l’envoyer à la Haye, le 1er ordinaire qu’il se pourra, je Vous en serai infiniment obligé. Mais ne tardés pas. S. v. p. pour que l’impression du volume n’avance pas trop44.
Im Gothaer Konvolut befindet sich ein Promemoria zur Gründung einer Akademie der Wissenschaften von der Hand von Karl von Brink, der bis 1753 Schreiber an der Hannoveraner Bibliothek war45. Aus dem Stück geht nur hervor, dass der Adressat ein König war; dass es für August den Starken und nicht für Friedrich I. in Preußen bestimmt war, ist nicht offensichtlich. Für die erste Auflage der Histoire de l’Academie royale des sciences et belles lettres von 1750 kam es wohl zu spät. Es wurde abgedruckt in der erweiterten Auflage von 175246. Eine Fußnote weist auf die Herkunft hin: „M. le Conseiller Scheid, Bibliothequaire de S. M. Brit. à
41 S. König: Appel (wie Anm. 1), S. 104 (Hervorhebung ebd.). König bezieht sich auf L. Euler: „Theorematum quorundam ad numeros primos spectantium demonstratio“, in: Commentarii academiae scientiarum imperialis Petropolitanae 8 (1736, veröffentlicht 1741), S. 141–146. 42 Vgl. dazu D. Mahnke: „Leibniz auf der Suche nach einer allgemeinen Primzahlgleichung“, in: Bibliotheca mathematica, 3. Folge, 13, 1 (1912), S. 29–61, hier S. 51. 43 Bl. 181–195; die gesamte Schrift ist gedruckt nach Leibniz’ eigenhändigem Konzept LH XXXV 4,5 in GM VII, 154–189, der Satz befindet sich auf S. 180–181. Entgegen Rockars Ausführungen (wie Anm. 11) enthält die Gothaer Abschrift keine handschriftlichen Spuren von Leibniz. Der erste Teil der vielleicht erst nach Leibniz’ Tod fortgeführten Abschrift wurde von Leibniz’ Schreiber Johann Barthold Knoche angefertigt. 44 König an Scheidt, Den Haag o. D. (Hannover, GWLB, V 22d Bl. 15). Die Datierung lässt sich eingrenzen, denn König geht auf die Angelegenheit im Brief vom 17. Oktober (wie Anm. 32) erneut ein, da Scheidt zunächst eine falsche Aufzeichnung zur Einrichtung einer Akademie hatte abschreiben lassen. 45 Bl. 199–204. Zu Brink vgl. den Beitrag von Malte-Ludolf Babin und Anja Fleck im vorliegenden Band, S. 163–183. 46 J. H. S. Formey (anon.): Histoire de l’Academie royale des sciences et belles lettres, depuis son origine jusqu’à présent. Avec les pieces originales, Berlin 1752, S. 21–27.
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Hanover, a eu la bonté de nous communiquer cette Pièce en Original“47. Für eine Provenienz des Gothaer Konvoluts über König und Rudolf Samuel Henzi spricht außerdem, dass die Deckblätter von Henzis Hand sind. Sieht man es aufgrund dieser wenigen, jedoch präzisen Übereinstimmungen als belegt an, dass das Konvolut aus Königs Nachlass stammt, bleibt die Frage, wie es nach Gotha gelangt ist. Zunächst sei kurz Kabitz’ These rekapituliert, das Konvolut gehöre zu dem Teil des Familiennachlasses, den Johann III Bernoulli in den 1790er Jahren nach Gotha verkauft hat48. Kabitz bezieht sich auf mehrere Quellen, die diesen Bestand erwähnen. So warb Bernoulli in einer Anzeige im Archiv der Reinen und Angewandten Mathematik um einen Käufer49. Dass Leibniz dort nicht erwähnt wird, spricht allerdings gegen Kabitz’ These. Auch die anderen von Kabitz angeführten Quellen lassen nicht auf größere Leibniz-Bestände in Bernoullis Besitz schließen. Kabitz behauptet außerdem, das Konvolut gehe zum Teil auf den Nachlass von Johann I Bernoulli zurück. Die meisten Bernoulli-Stücke des Konvoluts, zum Beispiel Abfertigungen von Briefen von Johann I Bernoulli an Leibniz, stammen jedoch aus Leibniz’ Besitz. Vielleicht bezieht sich Kabitz auf Bernoullis Brief an ’s Gravesande. Eine Provenienz über Johann I Bernoulli, die sich auch hier nicht nachweisen lässt, wäre in jedem Fall leicht erklärbar, denn König hatte bei ihm studiert und dabei zum Beispiel die unveröffentlichte Schrift Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum, die Leibniz an Bernoulli geschickt hatte, eingesehen50. Gegen Kabitz’ These sprechen aber vor allem die Unterschiede, die die aus Gotha während der Nazizeit wieder nach Basel zurückgekehrten Bernoulliana und das Konvolut Chart. A 448–449 in ihrer Struktur aufweisen: Johann III Bernoulli hatte die Handschriften im Vorfeld seines Verkaufs geordnet und in einem noch heute benutzten Katalog detailliert beschrieben51. Sie sind unterteilt in Briefe und Manuskripte, die Briefe sind nach Absendern sortiert. Das zu einem Absender gehörende Faszikel wird durch ein Deckblatt von Bernoullis Hand eingeleitet. Unter dem Absender Leibniz führt der Katalog nur ein Autograph eines Briefes an Johann Andreas Schmidt von 1698, vier Abschriften von Briefen an Burchard de Volder aus den Jahren 1698–1699 und einen Beitrag für die Nouvelles de la république des lettres an52.
47 Ebd., S. 27 (Hervorhebung ebd.). 48 Die Geschichte des Familiennachlasses ist von Otto Spiess aufgearbeitet im Vorwort zu Der Briefwechsel von Johann Bernoulli, hrsg. von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel, Bd. 1, Basel 1955, insbes. S. 25–51. Ein weiterer Teil ging nach Stockholm. 49 Vgl. das Faksimile ebd., S. 28. 50 Vgl. S. König: Oratio inauguralis de optimis Wolfiana et Newtoniana, philosophandi methodis, Franeker 1749, S. 61, Anm. (a). 51 Basel, Universitätsbibliothek, L Ia 732*. Ich danke Fritz Nagel für seine Unterstützung bei meinen Basler Recherchen. Er ist schon vor mir aufgrund der Quellenlage zu dem Schluss gekommen, dass das Gothaer Konvolut nicht Teil des Bernoulli-Bestandes war. 52 Es handelt sich um A I, 16 N. 264; A II, 3 N. 194, 207, 214, 223; G. W. Leibniz: Remarque, in: Nouvelles de la republique des lettres, Nov. 1706, S. 521–528.
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Plausibler ist es, dass das Konvolut von Rudolf Samuel Henzi direkt nach Gotha gegeben wurde, denn Henzi war Agent des Gothaer Hofs in den Niederlanden. Er kümmerte sich auch um Anschaffungen für die Bibliothek des wissenschaftlich interessierten Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, unter dem auch die Bernoulliana angekauft wurden53. 3. DER UMSTRITTENE BRIEF – VERGLEICH DER TEXTZEUGEN Mit diesen Ergebnissen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Gothaer Abschrift des umstrittenen Briefes zum im Appel au public veröffentlichten Druck neu. Kabitz hatte aufgrund der Abweichungen „in der Interpunktion, der Schreibung und dem Wortlaute des Textes“54 argumentiert, dass keine direkte Abhängigkeit besteht, sondern beide auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. Für den Vergleich sei eine weitere Abschrift hinzugezogen: König hatte bekanntlich zunächst in seiner in den Nova acta eruditorum von 1751 erschienenen Kritik an Maupertuis’ Prinzip der kleinsten Wirkung ein Zitat aus dem Brief veröffentlicht55. Auf Maupertuis’ Nachfragen im Brief vom 28. Mai 1751 hatte König ihm mit seinem Brief vom 26. Juni 1751 eine Abschrift des ganzen Briefes zugesandt und dabei auch das Zitat korrigiert, das in den Nova acta eruditorum offensichtlich entstellt war56. Diese Abschrift, die sich noch in Maupertuis’ Nachlass befindet, sei im Folgenden mit A bezeichnet, die Gothaer Abschrift mit B und der Druck mit C57. Die Hände von A und B sind verschieden, A weist geringe Korrekturen auf. Die Unterschiede in der Orthographie zwischen allen drei Versionen fallen sofort ins Auge und seien an zwei Beispielen vom Anfang des Briefes illustriert: A: „Je suis charmé d’aprendre que vous soyes retabli […]“ B: „Je suis charmé d’aprendre que vous soyés retabli […]“ C: „Je suis charmé d’apprendre que vous soyiez rétabli […]“
53 R. Ehwald: „Ernst II. von Sachsen Gotha-Altenburg“, in: Mitteilungen für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (1904), S. 1–44, hier S. 20 u. Anm. 35. Briefe von Rudolf Samuel Henzi an den Herzog aus den Jahren 1795–1797 aus Basel befinden sich in Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B 845. Ich danke Cornelia Hopf von der Handschriftenabteilung der Forschungsbibliothek Gotha, die mich auf dieses Konvolut aufmerksam gemacht hat. In Johann III Bernoullis Nachlass gibt es Briefe von Henzi von 1784–1789 (Basel, Universitätsbibliothek, L Ia 695 Bl. 49–58). In beiden Fällen geht es jedoch nicht um Leibnitiana oder allgemeiner um Bibliotheksangelegenheiten. 54 W. Kabitz: „Über eine in Gotha aufgefundene Abschrift“ (wie Anm. 8), S. 636. 55 S. König: „De universali principio aequilibrii et motus, in vi viva reperto“, in: Nova acta eruditorum, März 1751, S. 125–135, 162–176. Das Zitat befindet sich auf S. 176. 56 Die Briefe sind veröffentlicht in Mémoires pour servir (wie Anm. 4), S. CV–CVI bzw. S. CVII–CVIII. 57 A: Paris, Académie des sciences, Fonds 43 J (Maupertuis) n° 49; B: Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. A 448–449 Bl. 152r–155v; C: S. König: Appel (wie Anm. 1), Appendice, S. 42–48. Die Textzeugen werden diplomatisch wiedergegeben.
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A: „N’aiant pas le tems […]“ B: „N’ayant pas eû le tems […]“ C: „N’aïant pas eu le tems […]“
Möglich ist, dass der jeweilige Schreiber seiner eigenen Konvention in französischer Orthographie folgte, zum Beispiel, weil der Brief diktiert wurde. Die Textzeugen weichen an einigen wenigen Stellen in der Wortwahl voneinander ab, wie im zweiten Beispiel. Diese Stellen werden im Folgenden aufgeführt, mit dem Ziel, eine Hierarchie zwischen den Textzeugen zu etablieren. Dabei wird aus A zitiert, relevante Varianten in B und C werden in eckigen Klammern angegeben. Relevant erscheinende Änderungen in A werden entsprechend den Konventionen des Variantenapparats der Leibniz-Edition angegeben. 1) La continuité estant donc un Requisitum necessaire, un charactere distinctif des veritables loix de la communication des mouvement [du mouvement B C]; peut on douter, que touts les Phenomenes n’y soient soumis, vû [soumis, vû B soumis, ou C] qu’ils ne deviennent intelligiblement explicables, qu’au moyen des veritables loix de la communication du mouvement?58 2) Dans les choses, qui existent à la fois il peut y avoir de la continuité, quoique l’imagination n’y apperçoive que des sauts, parce bien [parce que bien B C] des choses paroissent aux yeux entierement dissemblables |et desunies erg.| qu’on trouveroit neamoins parfaitement semblables |et unies erg.| dans leur interieur, si on pouvoit parvenir à le [à les B C] connoitre distinctement. A ne considerer que la (1) figuration (2) configuration externe des Paraboles des Ellipses et des Hyperboles, on seroit tenté de croire, qu’il-y-a une interruption immense d’une espece de ces courbes à l’autre. Cependant nous savons qu’elles sont liées intimement et essentiellement [et essentiellement fehlt C], de maniere […]59 3) […] autant d’ordonnées d’une même courbe, dont l’unité [l’union B C] ne souffre pas qu’on en place d’autres entre deux […]60 4) Ainsi l’existence de Zoophytes par exemple, ou comme Buddaeus [Buddeus B Buddeus C] les nomme de Plant-animaux n’a rien de monstrueux, (1) gestr. (2) et il [monstrueux, mais il B monstrueux; mais il C] est même convenable à l’ordre de la nature, qu’il y en ait61. 5) Mais l’action n’est point ce que vous penses, la consideration du tems y entre; elle est comme le produit de la masse par |celui de erg.| l’espace et |de erg.| la vitesse, où [par l’Espace et la Vitesse, ou B par l’espace & la vitesse, ou C] du tems par la force vive62. 6) […] je finis en vous priant de me |faire erg.| part [me donner part B C] le plus souvent que vous pourres de vos excellentes meditations, […]63.
In den Varianten stimmen also entweder A und B überein oder B und C. Übereinstimmungen zwischen A und C bei abweichendem B gibt es nicht. Durch die Auslassung 58 59 60 61
A S. 3; B Bl. 153r; C S. 44 (Hervorhebung ebd.). A S. 3; B Bl. 153; C S. 44. A S. 3; B Bl. 153v; C S. 44. A S. 4; B Bl. 154r; C S. 44 (Hervorhebung ebd.). Das gestrichene Wort „mais“ in A ist höchstens erahnbar und wurde hier aus B und C erschlossen. Gemeint ist hier Guillaume Budé (Budaeus). Der Begriff „plantanimalia“ wird erwähnt in seinen Annotationes priores in Pandectas, Köln 1527, S. 285. Mit ihm nicht zu verwechseln ist J. F. Buddeus, der Professor der Theologie in Jena und Korrespondent von Leibniz war. 62 A S. 6; B Bl. 155r; C S. 47. 63 A S. 6; B Bl. 155v; C S. 48.
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von „et essentiellement“ in C in Beispiel 2) wird bestätigt, dass C der jüngste der Textzeugen ist. Daher lässt sich annehmen, dass C auf B und B auf A zurückgeht. Auch die Tatsache, dass die sprachlichen Änderungen in A von Beispiel 2) in B und C übernommen sind, weisen auf A als ältesten Textzeugen hin. Die nicht übernommenen Änderungen in A von Beispiel 4) und 5) sowie die in A bzw. B und C abweichend vorgenommene Korrektur in 6) zeigen, dass in A noch Änderungen vorgenommen wurden, nachdem die Abschrift B erstellt wurde. Dabei ist die Änderung von Beispiel 5) besonders brisant. Auf sie hatte schon die Berliner Akademie hingewiesen, die dort Königs Hand zu erkennen meinte64. Denn dies ist die Stelle, die das Prinzip der kleinsten Wirkung betrifft und in den Nova acta eruditorum falsch wiedergegeben worden war. König hat also insgesamt drei Versionen dieser für den Streit zentralen Stelle verbreitet. Es ist allerdings schwer, aus der Änderung in A eindeutige Schlüsse zu ziehen: Einerseits würde man in einer Abschrift eines genuinen Leibnizbriefes keine stilistischen und schon gar nicht inhaltliche Änderungen (wie sie auch in Beispiel 2) bzw. 4) vorliegen) erwarten. Andererseits wäre König als Fälscher erstaunlich stümperhaft, würde er solche Auffälligkeiten in Kauf nehmen. 4. SPEKTAKULÄRER FUND ODER MEISTERWERK DER LEIBNIZ-PROPAGANDA? Falls der Brief echt ist, war sein Erwerb ein außerordentlicher Glücksfall für Königs Projekt, Leibniz zu seinem Recht zu verhelfen, wie die Berliner Akademie unter ihrem Präsidenten Maupertuis in ihrer ausführlichen Rechtfertigungsschrift Mémoires pour servir à l’histoire du Jugement de l’Académie zu Recht bemerkte: [La lettre] roule sur des matieres de Métaphysique, & notamment sur les matieres que M. de Maupertuis traite dans sa Cosmologie, dans une partie desquelles il se trouve en opposition ouverte avec Leibnitz. Si quelquun avoit voulu combattre M. de Maupertuis par Leibnitz, & faire honneur, en même tems, au second des spéculations du premier; il est sûr qu’il n’eut pas pû mieux trouver son fait que dans cette lettre65.
Die Anspielungen, die in dem Brief gesehen und von der Akademie gegen seine Echtheit eingewandt wurden, betrafen neben dem Prinzip der kleinsten Wirkung, Eulers Anwendung desselben auf das Zentralkräfteproblem66 und den Polypen Trembleys auch Maupertuis’ Ablehnung des Kontinuitätsprinzips in seinem Essay 64 Mémoires pour servir (wie Anm. 4), S. 96–99. 65 Ebd., S. 128. Zu den Anspielungen, die die Akademie in dem Brief sah, vgl. ebd., S. 128–129. 66 Im Brief heißt es: „[…] elle pourroit servir à déterminer les Courbes que décrivent les Corps attirés à un ou plusieurs Centres“. (S. König: Appel (wie Anm. 1), Appendice, S. 48). Ganz ähnlich hatte sich Euler ausgedrückt: „[…] j’ai découvert une semblable loi dans le mouvement des corps, qui sont attirés vers un, ou plusieurs centres de forces […]“ (L. Euler: „Recherches sur les plus grands et plus petits qui se trouvent dans les actions des forces“, in: Histoire de l’Academie royale des sciences et belles lettres, Année 1748, Berlin 1750, S. 149–188, hier S. 150).
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de cosmologie67. Die Mémoires vermuten daher, der Brief sei geschrieben „pour relever l’éclat de Leibnitz au dépens de Messieurs de Maupertuis & Euler“68. Einige andere oberflächliche Übereinstimmungen werden nicht angeführt: Maupertuis hatte die Kette der Lebewesen in seinem Essay erwähnt, die seiner Meinung nach früher einmal existiert habe, nun durch Naturkatastrophen allerdings unterbrochen sei69. Auch die im Brief erwähnte „formule d’une Caractéristique supérieure“70 zur Beschreibung des Universums konnte Maupertuis auf sich beziehen, hielt er doch sein Prinzip für eine Art Weltformel71. Ein wichtiges Thema des Briefes ist das Verhältnis von Mathematik und Metaphysik und ihre jeweilige Bedeutung für die Dynamik: Quant à mes Principes de Dynamique, que vous souhaitez de voir développés davantage, ils ont pris naissance dans la même Métaphysique, très-differente de celle qu’on enseigne dans les Ecoles, ce qui les rend inaccessible à bien des Géomêtres, qui méprisent toute Métaphysique, hormis celle, qui nait de l’imagination, que je méprise à mon tour […]72.
Als Weg zur Naturerkenntnis wird im umstrittenen Brief die „véritable Philosophie“ propagiert, „laquelle s’élevant au-dessus des sens & de l’imagination, cherche 67 P. L. M de Maupertuis: Essay de cosmologie, [o. O.] 1750, S. 62–73, insbes. S. 66–67. Wie der umstrittene Brief diskutiert Maupertuis das Kontinuitätsprinzip im Zusammenhang mit den Stoßgesetzen und erwähnt auch die falschen Gesetze Descartes’ und die korrekten von Huygens und Christopher Wren. Leibniz wird dabei nicht namentlich erwähnt. Allerdings kritisiert Maupertuis Leibniz’ Dynamik im Avertissement seines Essay. Zu Publikation, Verbreitung und kritischer Rezeption des Essay vgl. M. Terrall: The man who flattened the earth. Maupertuis and the sciences in the enlightenment, Chicago 2002, S. 279–292. Eine frühe, dort nicht erwähnte ironische Rezension, in der insbesondere auf das Prinzip der kleinsten Wirkung Bezug genommen wird, findet sich in Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und der Historie überhaupt, 21. Aug. 1750, S. 519–520. 68 Mémoires pour servir (wie Anm. 4), S. 129; vgl. auch S. 134 u. 141. Maupertuis hatte das Bild der Kette schon 1742 verwendet: „Il est bien vrai qu’il y a une connexion universelle entre tout ce qui est dans la nature, tant dans le physique, que dans le moral; chaque événement lié à celui qui le précede, & à celui qui le suit, n’est qu’un des anneaux de la chaîne qui forme l’ordre & la succession des choses: s’il n’étoit pas placé comme il est, la chaîne seroit différente, & appartiendroit à un autre Univers“. (J. L. M. de Maupertuis: Lettre sur la cométe, [o. O.] 1742, S. 6–7). 69 Mémoires pour servir (wie Anm. 4), S. 127–128. 70 S. König: Appel (wie Anm. 1), Appendice, S. 44. Der markante Begriff einer „Caractéristique supérieure“ ist dem Kumulierten Sachverzeichnis der Leibniz-Edition zufolge (http://telota.bbaw.de/leibniziv/Sachregister/sachreg_start.html; Stand 31.1.2015) bislang bei Leibniz noch nicht nachgewiesen. Ich danke Heinrich Schepers für seine Mitteilung, dass auch die Konkordanz aller erfassten Briefe und Schriften der Münsteraner Leibniz-Forschungsstelle diesen Begriff nicht enthält (Stand: 16.8.2014). Eine Weltformel hielt Leibniz nicht für möglich, denn Maschinen der Natur folgen keinem endlichen Gesetz: „Curvae quae libera manu ducuntur, se habent ut machinae naturales id est nulli possunt submitti legi finitae“. (A III, 8, 134). Im umstrittenen Brief werden die Konsequenzen einer „formule d’une Caractéristique supérieure“ betrachtet, eine Aussage über die Existenz wird jedoch nicht gemacht. 71 P.-L. Maupertuis: Essay (wie Anm. 67), S. 74–79. König merkt in Appel (wie Anm. 1), S. 8, ironisch an, das Prinzip sei in Maupertuis’ Augen „la grande Loi que l’Etre suprême a suivi dans la formation de l’Univers“. 72 S. König: Appel (wie Anm. 1), Appendice, S. 47.
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l’origine des Phénomènes dans les Régions intellectuelles“73. Breger hat angemerkt, dass diese Äußerungen im 18. Jahrhundert als Angriff auf Euler verstanden wurden. Tatsächlich fügen sie sich gut ein in die Auseinandersetzung um die Rolle von Metaphysik und Geometrie bei der Naturerkenntnis, die sich 1746 an Eulers kurzer anonymer Schrift Gedancken von den Elementen der Cörper gegen die Monadenlehre im Vorfeld des darüber von der Berliner Akademie ausgeschriebenen Preisverfahrens entzündet hatte74. In einem Artikel zum Prinzip der kleinsten Wirkung verteidigte Maupertuis die Sicherheit der Geometrie gegen ihren angeblichen Missbrauch durch die Wolff’sche Metaphysik. In einer Rezension des entsprechenden Bandes wird das Prinzip folgendermaßen kommentiert: Die guten Meßkünstler glauben alles allein zu verstehen, und schmählen bey aller Gelegenheit auf die metaphysische Erkenntniß: ohne welche doch Leibnitz, der große Leibnitz, selbst in der Natur und den Gesetzen der Bewegung keine Gewißheit fand. Dieses will man ihm nun hier zwar nachthun; kann doch aber den alten Groll nicht bergen, den man wider denjenigen hegt, der das meiste Licht in die neuere Metaphysik gebracht hat75.
Auf Eulers Schrift hatte Formey mit seinen 1747 erschienenen Recherches sur les elemens de la matiere reagiert. Die Gegenüberstellung von Sinneserfahrung und Imagination auf der einen und Vernunft und Überlegung auf der anderen Seite ist eines der dominanten Themen der Schrift und wird gleich am Anfang eingeführt: L’Entendement va beaucoup plus loin; il rend non seulement distinctes les idées que nous avons aquises par les sens, lors qu’elles sont susceptibles de distinction, mais encore il découvre par la voye du raisonnement des idées, qui échaperoient eternellement à toutes nos Observations, il parvient à la connoissance des verités universelles, qui sont inaccessibles aux sens & à l’imagination76.
Formey polemisiert gegen den schädlichen Einfluss der Geometer, die sich auf imaginäre Begriffe („notions imaginaires“) stützten, während die Metaphysik letzte 73 Ebd., S. 46–47. 74 L. Euler (anon.): Gedancken von den Elementen der Cörper, in welchen das Lehr-Gebäude von den einfachen Dingen und Monaden geprüfet, und das wahre Wesen der Cörper entdecket wird, Berlin 1746. Zu der sich anschließenden Diskussion vgl. H.-P. Neumann: „,Den Monaden das Garaus machen‘. Leonhard Euler und die ,Monadisten‘“, in: H. Bredekamp/W. Velminski (Hrsg.): Mathesis & Graphé. Leonhard Euler und die Entfaltung der Wissenssysteme, Berlin 2010, S. 121–155, sowie J. Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus (= Frühe Neuzeit 147), Berlin/New York 2010, Kap. 4. 75 Rezension zu Histoire de l’Academie royale des sciences et belles lettres, Année 1746, 1748, in: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 7, 2 (1748), S. 99–117, hier S. 116. Maupertuis’ Artikel „Les loix du mouvement et du repos déduites d’un principe metaphysique“ erschien im rezensierten Band S. 267–294. Der Rezensent wusste offenbar von Königs geplanter Kritik an Maupertuis’ Prinzip, denn sie scheint am Ende angekündigt zu werden: „Wer weis aber, ob nicht auch wider seine [d. h. Maupertuis’] Erfindung, noch stärkere Einwürfe statt haben, als er oben wider Neutons Beweise gemacht hat?“ (S. 117). 76 J. H. S. Formey (anon.): Recherches sur les elemens de la matiere, [Berlin] 1747, S. 7. An anderer Stelle schreibt Formey gegen „les personnes esclaves des sens & de l’imagination“, die nur die Vernunft vor ihren Irrtümern retten könne (S. 103). Zu dieser Schrift vgl. J. Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung (wie Anm. 74), S. 420–421.
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Gründe liefere.77 Euler sei nur ein Lehrling der Metaphysik, „attaché à ses sens & à son imagination“78. Gegen ihn bringt Formey die Leibniz–Wolff’sche Philosophie in Stellung. König teilte die Ideen dieser Schrift und nahm ihr Erscheinen zum Anlass, mit Formey in Briefwechsel zu treten79. Schon 1744 hatte er an Gabriel Cramer zur vis viva-Debatte geschrieben: Quoi qu’en pensent Mess. Bernoulli même, la plus grande partie de cette question depend de principes de Metaphysique, et il n’y a que Mr. Leibniz, qui paroit l’avoir bien saisie; mais bien des Mathematiciens se font gloire de n’y rien comprendre80.
Außerdem wird im Brief die schlechte Aufnahme von Leibniz’ Dynamik erwähnt. Schon 1740 hatte sich König öffentlich darüber beklagt81. Schließlich zeigt Königs eigene Argumentation, mit der er den Fälschungsvorwurf von sich wies, wie gut der Brief sich zu Königs Kritik an Maupertuis fügte: Comment pourrai-je attribuer à Mr. de Leibnitz une théorie à combattre ses principes les plus favorits et les plus généraux, comme celui de la force vive auquel Mr. de Maupertuis veut ôter l’universalité, et celui de la continuité qu’il déclare faux; item celui de l’impossibilité d’une dureté absolue, que Mr. de Maupertuis établit en croyant avoir donné les lois des corps parfaitement durs?82
Diese Anknüpfungspunkte, die sich vom Brief zu wichtigen Entdeckungen und Debatten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und zu Standpunkten, die König am Herzen lagen, ziehen lassen, können die unterschiedliche Aufnahme des Briefes erklären: Während Euler und Maupertuis sofort von einer Fälschung überzeugt waren83, hielten andere, die mit diesen Debatten weniger vertraut waren, den Brief ohne Weiteres für echt. Im Allgemeinen – sieht man von den strittigen Stellen ab – entsprechen diese Punkte allerdings Leibniz’schem Denken und lassen sich zum Teil
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J. H. S. Formey: Recherches (wie Anm. 76), S. 64. Ebd., S. 72, 93. J. H. S. Formey: Souvenirs (wie Anm. 26), 1, S. 174–175. P. Speziali: „Trois lettres inédites de Jean Samuel Koenig à Gabriel Cramer“, in: Swiss Journal of Economics and Statistics 111, 1 (1975), S. 23–34, hier S. 31. 81 Vgl. den Anfang von S. König: „De theoria virium vivarum“, in: N. Engelhard (Hrsg.): Viri illustris Godefr. Guil. Leibnitii epistolarum pentas, Groningen 1740, S. 271–293. 82 Im Brief vom 14. Dezember 1751 an Haller (R. Wolf: „Auszüge aus Samuel Königs Briefen“ [wie Anm. 27], S. 64–73, hier S. 69). 83 Dass Maupertuis in Hinblick auf diese Punkte eine weitere Beweisführung fast für überflüssig hielt, geht schon aus seinem Brief an Johann II Bernoulli vom 6. Juli 1751 (zitiert in P. Radeletde Grave: ,,La ,diatribe du Docteur Akakia, Médecin du pape‘“ [wie Anm. 23], S. 221–222), in dem er sich auf die von König erhaltene Abschrift bezieht, hervor: „Il m’envoye la copie entiere de celle cy ou je ne dois pas etre faché de trouver mon principe, puisque toutes les decouvertes faittes depuis la mort de Leybnitz s’y trouvent; M. Leybnitz par ex. avoit veu a priori les polypes de M. Trembley. Mon soupcon n’est presque plus un soupcon pour moy, ny je crois ne le seroit guerres pour tous les gens equitables. Mais comme je veux enfoncer König dans la boue autant qu’il le meritte, je veux rassembler toutes les preuves possibles de son imposture“.
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dadurch erklären, dass spätere Autoren wie Formey sich an Leibniz orientiert haben. Nur die Fülle der Anknüpfungspunkte ist bemerkenswert. Falls der Brief nicht echt ist, ist der Kreis der möglichen Fälscher klein, wie Goldenbaum ausgeführt hat84. Breger hat schon Rahmenbedingungen für ein Fälschungsszenario zusammengetragen. Die Möglichkeit, dass König den Brief gefälscht hat, war allerdings mit der von Kabitz angenommenen Unabhängigkeit der Textzeugen schlecht vereinbar und daher von Breger ausgeschlossen worden85. Im Folgenden soll untersucht werden, ob diese Annahme zu einem stimmigen Hergang führt. König hatte zwar nachgewiesen, dass er von Samuel Henzi, dem Vater seines Amanuensis, Abschriften von Leibnizbriefen erhalten hatte, die Henzi selbst angefertigt hatte. Dies betraf jedoch nicht die von König veröffentlichten Briefe, bei denen er die Provenienz über Henzi nur behauptete86. Er kommt also als Fälscher in Frage. Wenn man annimmt, dass der Brief tatsächlich eine Reaktion auf Maupertuis’ Essay de cosmologie ist, ergibt sich daraus das Jahr 1750 als Terminus post quem. Nahe liegt dann, dass der Anlass für die Fälschung die Auseinandersetzung mit Maupertuis während Königs Berlinaufenthalt im Herbst 1750 war. König hatte Maupertuis damals ein Konzept zu seinem Artikel vorgelegt, in dem er das Prinzip der kleinsten Wirkung kritisierte. Nach Maupertuis’ Angaben hatte König ihn weder über den Leibnizbrief informiert, noch befand sich das Zitat im Konzept. Maupertuis erfuhr davon erst durch die Veröffentlichung in den Nova acta eruditorum87. Auch dies macht es plausibel, dass eine eventuelle Fälschung nach dem Treffen erfolgte. Wie schon angeführt wurde, weisen die verschiedenen von König verbreiteten Versionen des umstrittenen Zitats zum Prinzip der kleinsten Wirkung nicht auf ein planvolles Vorgehen hin. Gegen eine längerfristige Planung spricht auch, dass König den Brief als vermutlich an Jacob Hermann gerichtet ausgab, aber offenbar in Hannover den Hermann-Briefwechsel nicht eingesehen hatte. Denn sonst hätte er wenigstens festgestellt, dass dieser auf Latein geführt wurde. Möglich ist, dass König sich, angeregt durch die Entdeckung von Leibniz’ umfangreichen Aufzeichnungen zur Dynamik mit seinen Ausführungen zum Wirkungsbegriff, einen impulsiven bösen Scherz erlaubte und die Reaktion Maupertuis’ unterschätzte, die der eigentlich privaten Auseinandersetzung sofort offiziellen Charakter verlieh88. Erst nach dem Urteil der Akademie, die den Brief für gefälscht erklärte, veröffentlichte König den gesamten Brief.
84 U. Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? (wie Anm. 4), S. 45 f. 85 H. Breger: „Über den von Samuel König veröffentlichten Brief“ (wie Anm. 4), S. 380, geht davon aus, dass König der gefälschte Brief von Samuel Henzi untergeschoben wurde und sieht damit als Terminus ante quem das Jahr 1749 an. 86 Vgl. seinen Brief an Haller vom 10. November 1752 (R. Wolf: „Auszüge aus Samuel Königs Briefen“ [wie Anm. 27], S. 78–79). 87 Vgl. Maupertuis’ Brief an König vom 9. Februar 1752 (Mémoires pour servir [wie Anm. 4], S. CXXII–CXXIV). 88 König hatte wenigstens das Mittel der öffentlichkeitswirksamen Satire in einem andere Zusammenhang schon angewandt, vgl. W. F. v. Mülinen: „Die Deutsche Gesellschaft in Bern und
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Schwerwiegende Argumente gegen Jacob Hermann als Adressaten des Briefs sind schon von der Berliner Akademie angeführt worden89. Wenn der Brief gefälscht ist, dann allerdings offenbar aufgrund der Kenntnis von Leibniz’ Briefwechsel mit Johann I Bernoulli als ein Brief an Hermann90: Der umstrittene Brief enthält Glückwünsche zu einer neuen Position. Glückwünsche zu Hermanns Wechsel nach Padua finden sich auch in Leibniz’ Brief an Bernoulli vom 12. Oktober 170791. Im umstrittenen Brief wird um Beiträge zu den Miscellanea Berolinensia der Sozietät der Wissenschaften gebeten. Im Brief vom 24. Juni 1707 an Bernoulli schlägt Leibniz vor, Hermann könne seine Arbeit zur Planetenbewegung dort veröffentlichen. Am 15. März 1708 berichtet Leibniz Bernoulli vom eingereichten Beitrag92. Hermann musste daher auch als plausibler Adressat für die Diskussion des Zentralkräfteproblems im umstrittenen Brief erscheinen. Hermanns Interesse an Dynamik ist außerdem durch seine 1715 erschienene Phoronomia belegt93. Falls ein Fälscher so vorgegangen ist, muss er auch die in Hannover liegenden Bernoullibriefe mit einbezogen haben: Im umstrittenen Brief wird auf eine überstandene Krankheit des Adressaten angespielt. Bernoulli schrieb Leibniz am 12. August 1707, Hermann habe sich seiner Kur angeschlossen94. Zu diesem Brief gibt es kein Konzept Bernoullis, daher war er auch nicht im 1745 von Cramer herausgegebenen Briefwechsel zwischen Leibniz und Bernoulli abgedruckt. Aus einem Brief Königs an Cramer von 1745 geht hervor, dass Cramer, dem König die Bernoullibriefe aus seinem Bestand geliehen hatte, ihn auf Lücken aufmerksam gemacht hatte und dass König diese Lücken füllen wollte95. Es liegt daher nahe, dass König sich in Hannover auch den fehlenden Brief vom 12. August 1707 besorgte. Die Annahme einer Fälschung führt also zu einem in sich schlüssigen Szenario. Die Forschungsgeschichte des Briefes lehrt jedoch, sich vor vorschnellen Schlussfolgerungen zu hüten. In den nächsten Jahren werden Leibniz’ Briefwechsel aus den relevanten Jahren weiter erschlossen werden. Vor allem wird sich herausstellen, ob der Brief in eine Korrespondenz eingeordnet werden kann. Außerdem wäre genauer zu untersuchen, wie die drei anderen (echten) Leibnizbriefe, die zusammen mit dem umstrittenen Brief im Appel au public veröffentlicht wurden, zu König gelangt sein könnten. Dazu können nun auch die entsprechenden Gothaer Abschriften herangezogen werden. Kabitz hatte festgestellt, dass diese Abschriften zumindest mittelbar auf
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ihre Nachfolgerinnen im 18. Jahrhundert“, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben 13, 3 (1904), S. 127–138, hier S. 135–136. Mémoires pour servir (wie Anm. 4), S. 115–121. Auf den Zusammenhang zwischen dem Brief und dem Bernoulli-Briefwechsel wurde in U. Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? (wie Anm. 4), S. 76–81, hingewiesen. Goldenbaum schlägt daher vor, Hermann als möglichen Adressaten (unter anderen) wieder in Betracht zu ziehen. Leibnitii et Bernoullii commercium (wie Anm. 38), 2, S. 180; GM III, 818. Ebd., S. 179, 182; GM III, 816, 822. J. Hermann: Phoronomia, sive de viribus et motibus corporum solidorum et fluidorum, Amsterdam 1716 [1715]. GM III, 817. P. Speziali: „Trois lettres inédites“ (wie Anm. 80), S. 32.
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Leibniz’ eigene Bestände zurückgehen. Es wäre also zum Beispiel zu überprüfen, ob Leibniz diese Briefe oder Abschriften davon selbst aus der Hand gegeben hat. Könnte man zeigen, dass der Druck im Appel au public auf Königs Ausleihaktion in Hannover zurückgeht, dann wäre König zumindest in einem Punkt der Falschaussage überführt96. Eine andere weiterführende Fragestellung, die sich schon aus Immels Recherchen ergibt, betrifft nicht den Brief, sondern den Leibniz-Nachlass: Es wäre interessant, dort Spuren von Königs Großausleihe auszumachen97. Rudolf Samuel Henzi konnte nach eigenen Angaben nicht zwischen den aus Hannover entliehenen und den von König auf andere Weise erworbenen Leibnitiana unterscheiden. Möglich ist also, dass er Bestände nach Hannover geschickt hat, die nicht von dort stammten, dann aber dem Leibniz-Nachlass zugeordnet wurden98. Zumindest Königs geplante Edition der Dynamica hat in den entsprechenden Konvoluten (LH XXXV 11,18A–C) reichen Niederschlag gefunden. Über sie schrieb Königs Verleger Elie Luzac am 1. August 1755 an Formey: „[…] actuellement j’imprime Leibnitzii Phoronomia et Dynamica. C’est un manuscrit que la bibliothèque de Hanovre a communiqué à M. Koenig qui l’enrichit des ses observations“99. Im Januar 1757 wollte König Luzac das Manuskript überreichen, als er
96 Ein Hinweis ergibt sich folgendermaßen: Im Gothaer Konvolut befindet sich eine längere Schrift zu Descartes (Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. A 448–449 Bl. 168–173). Das Konzept hat die Signatur LH IV 1,4k Bl. 15–16. Geht man davon aus, dass Konzept und Reinschrift ursprünglich beisammen lagen, so kann man schließen, dass König das Descartes betreffende Konvolut LH IV 1,4 eingesehen oder entliehen hatte. Dort befindet sich auch die Urschrift zu einem der Briefe, die er in seinem Appel (wie Anm. 1) abgedruckt hat (LH IV 1,4c; vgl. A II, 1 N. 219). Im selben Konvolut befinden sich übrigens auch die Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum; vgl. dazu Anm. 98. 97 So könnte die Beschriftung „Leibnitii Collectanea de ordinanda Bibliotheca“ von Scheidts Hand auf dem Umschlagblatt LH XL Bl. 128.146 in diesem Zusammenhang entstanden sein. In Erwägung zu ziehen ist außerdem die Möglichkeit, dass die (Un-)Ordnung des Konvoluts LH IV 2 zur Harmonie préétablie, dem Manuskripte zu Leibniz’ Auseinandersetzung mit Papin sowie weitere mathematische und technische Aufzeichnungen beiliegen, auf Königs Ausleihaktion und nicht, wie von Eduard Bodemann vermutet, auf Leibniz zurückgeht (vgl. E. Bodemann: Die Leibniz-Handschriften der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Hannover/Leipzig 1895, Fußnote S. 66). 98 So gehört das einzelne Blatt LH IV 1,4a Bl. 19/1 mit Figuren zu Leibniz’ sogenannten Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum von der Schrift her zu keinem der Hannoveraner Textzeugen, sondern zur Basler Abschrift (Basel, Universitätsbibliothek, L Ia 755a), wo das entsprechende Blatt fehlt. Diese war Gegenstand der Korrespondenz zwischen König und Cramer. Im Brief vom 20. Mai 1745 (P. Speziali: „Trois lettres inédites“ [wie Anm. 80], S. 32–34) bat König um die Übersendung der Schrift und machte im PS auf das Blatt mit den Figuren aufmerksam: „N’oubliez pas s. v. p. qu’il y avoit une figure avec les Remarques sur Descartes“. Die Vermutung liegt daher nahe, dass das Blatt über ihn und Henzi nach Hannover kam. 99 H. Bots/J. Schillings (Hrsg.): Lettres d’Elie Luzac à Jean Henri Samuel Formey (1748–1770). Regard sur les coulisses de la librairie hollandaise du XVIIIe siècle (= Vie des huguenots 15), Paris 2001, S. 274 (Hervorhebung ebd.).
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feststellte, dass ein Teil sich noch bei seinem Amanuensis Antonius Brugmans befand100. Ein Abschluss der Edition stand also zu Königs Tod kurz bevor. Noch 1801 wurden 543 Exemplare der ersten drei Lagen verauktioniert101. Von Brugmans’ Hand sind wohl die Inhaltsverzeichnisse der Konvolute A und B sowie weitere eingelegte Zettel. Außerdem weist die Bodenhausen’sche Abschrift der Dynamica (in LH XXXV 11,18C) Eingriffe durch ihn auf, aber auch eine Randbemerkung von König selbst102.
100 Dies geht aus Luzacs Brief an Formey vom 25. Januar 1757 (ebd., S. 306–309, hier S. 308) hervor. 101 R. van Vliet: Elie Luzac. Bookseller of the Enlightenment, Enschede 2014, S. 53, sowie Nr. 175510 in der auf der eingelegten CD zusammengestellten Liste der Drucke Luzacs. 102 Zahlreiche Eingriffe Brugmans’ finden sich zum Beispiel auf S. 179. Die Randbemerkung Königs betrifft S. 41. Die an den Konvoluten beteiligten Hände sind im Einzelnen noch zu analysieren.
DAS WARSCHAUER MATERIAL: QUELLEN UND REZEPTIONSSPUREN Von Stephan Waldhoff (Potsdam) Den Titel „Leibniz in Latenz“ kann man nicht nur auf die der Tagung und dem Tagungsband zugrunde liegende Weise verstehen, sondern auch auf eine andere, nämlich so, dass die frühe Leibnizrezeption selbst, die mit dieser Formulierung bezeichnet ist, in der Leibnizforschung des 19. und 20. Jahrhunderts gewissermaßen nur latent, nämlich nicht mit vollem Bewusstsein zur Kenntnis genommen worden ist. Ihre Ergebnisse in Form von Druckausgaben oder auch nur gesammelten und dadurch bewahrten Manuskripten wurden dankbar benutzt, hier und da wurde vielleicht noch nach der Herkunft ihrer Vorlagen gefragt, nicht jedoch nach den Gründen der Existenz dieser Sammlungen und Ausgaben, also der Motivation ihrer Sammler und Herausgeber, und erst recht nicht danach, wie die frühe Rezeption das Leibnizbild beeinflusst und vielleicht noch die spätere Forschung präformiert hat. Insoweit kann dieses Unternehmen eine Pionierrolle für sich beanspruchen. Dies gilt jedenfalls für die meisten der hier vorgestellten Fälle früher Leibnizrezeption. Für mein Thema gilt es nicht. Im Gegenteil: Das meiste, was ich hier vorstellen kann, ist bereits gesagt worden. Das Konvolut von Leibnizbriefen und -handschriften, das heute unter der Signatur III. 4879 in der Biblioteka Narodowa in Warschau liegt1, ist 1891/92 noch in seiner damaligen Bibliotheksheimat, der Kaiserlichen Bibliothek in Sankt Petersburg und unter der Nr. 179 von dem polnischen Gelehrten J. Korzeniowski für die Wissenschaft entdeckt worden. In den Jahren 1913 und 1914 hat Jan Kvačala erste Leibniztexte aus diesem Material veröffentlicht und dabei wichtige Erkenntnisse
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Das Konvolut ist komplett im Internet zugänglich: http://polona.pl/item/F735267/0/ (letzter Aufruf: 30.10.2015). Es ist dreimal foliiert worden, woraus drei unterschiedliche Blattzählungen resultieren. Hier wird die jüngste, derzeit gültige zugrunde gelegt, der auch die Internetpräsentation folgt. Diese letzte Foliierung bezieht auch leere Blätter (auch moderne) mit ein, so dass sie besser bestimmte materielle Gegebenheiten widerspiegelt. Die Akademieausgabe nennt in den Bänden der Reihe I zumeist die mittlere Foliierung mit Hinweis auf die erste (allerdings vereinzelt auch nur Letztere), in Reihe IV die jüngste (mit Hinweis auf die mittlere). Deshalb soll unter die digitalen Hilfsmittel zur Akademieausgabe auf der Website http://www.leibnizedition.de/startseite.html eine Konkordanz, welche die verschiedenen Foliierungen aufführt und die bereits gedruckten Stücke nachweist, eingefügt werden. Um die Fußnoten zu entlasten, werden die Blattangaben des Warschauer Konvoluts im Text angeführt.
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über die Herkunft des Konvoluts mitgeteilt2. Aber erst Paul Schrecker hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie-Ausgabe das Warschauer Konvolut katalogisiert und nach seiner Emigration nach Frankreich einen nicht unerheblichen Teil in der Revue Philosophique de la France et de l’Étranger 1934 publiziert3. Für mein Thema ist Schreckers ausführliche Einleitung zu den von ihm edierten Stücken, in der er Entstehung und Geschichte des Konvoluts ebenso umfassend wie überzeugend rekonstruiert hat, von besonderer Bedeutung4. Der Fortschritt der Forschung in den seither vergangenen rund 80 Jahren ermöglicht es, seitdem ans Licht gebrachte Details hinzuzufügen, Einzelnes anders zu gewichten oder kleinere Korrekturen anzubringen. Das von Schrecker gezeichnete Bild kann zudem unter zwei miteinander in Zusammenhang stehenden Aspekten schärfer konturiert werden. Zum einen durch eine konsequentere Einordnung der Warschauer Papiere – und vor allem ihres ‚Berliner Kerns‘ – in einen größeren Kontext. Damit kann zum anderen dieser ‚Berliner Kern‘ inhaltlich besser erfasst und gedeutet werden. In einem ersten Schritt möchte ich im Anschluss an Schrecker den Weg des Materials nach Warschau knapp schildern (I.). Diese Skizze soll die detailliertere Vorstellung des Konvoluts vorbereiten (II.). Sie wird von der Frage nach Herkunft und Abgrenzung der einzelnen Teile des Konvoluts ausgehen, also von der Frage nach dessen Quellen. Dabei gilt es, zunächst die aus sonstigen Quellen stammenden Stücke zu bestimmen (II.1), um so den ‚Berliner Kern‘ der Warschauer Überlieferung herauszuschälen (II.2) und zu beschreiben (II.3). Schließlich
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Leibniz’ „Considerationes pro archivo imperii redintegrando“ (Bl. 101–102, 254–257) erschienen in J. Kvačala: „Zu Bodin und Leibniz. Handschriftenstudien“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 34 (1913), S. 582–592, hier S. 589–592. Im folgenden Jahr veröffentlichte ders.: „Neue Leibnizsche Fragmente über die Erziehung eines Prinzen“, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 4 (1914), S. 79–83. Seine wichtigsten Erkenntnisse zum Thema finden sich allerdings in: Ders. (Hrsg.): Neue Beiträge zum Briefwechsel zwischen D. E. Jablonsky und G. W. Leibniz, Jurjew 1899, eine Edition, die zwar vor seiner Kenntnisnahme des Warschauer (damals Sankt Petersburger) Konvoluts entstanden ist, aber Punkte behandelt, die zahlreiche Überschneidungen mit dessen Kontext aufweisen, und die daher bereits manche Fragen im Voraus beantwortet hat. P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“, in: Revue Philosophique de la France et de l’Étranger 118, Jg. 59 (1934), S. 5–134. Zu Schreckers Biographie und Schicksal im Exil siehe P. Riley: „Paul Schrecker’s Defense of Leibniz’ Platonic Idealism Against the Dangers of Cartesian Voluntarism“, in: W. Li/H. Rudolph (Hrsg.): „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus (= Studia Leibnitiana, Sonderhefte 42), Stuttgart 2013, S. 171–183, hier S. 172–175. Zu Schreckers Schicksal im III. Reich, wie es sich in den Akten der Akademie widerspiegelt, siehe J. Thiel: „Leibniz-Tag, Leibniz-Medaille, Leibniz-Kommission, LeibnizAusgabe – die Preußische Akademie der Wissenschaften und ihr Ahnherr im ‚Dritten Reich‘“, in: Ebd., S. 41–73, hier S. 57–58, 71. An versteckter Stelle hat sich N. Gädeke („Der Unmut der Königin über die Krönung. Zugleich eine Miszelle zur Leibniz-Überlieferung“, in: F. Beiderbeck/St. Waldhoff [Hrsg.]: Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 175–188) mit dem Warschauer Konvolut auseinandergesetzt und konnte Schreckers Ausführungen in einigen Punkten ergänzen.
Das Warschauer Material
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möchte ich die Rezeptionsspuren zusammenstellen, welche die frühe Arbeit an Leibniz’ Überlieferung dokumentieren (III.). I. Zuerst also ganz knapp zur Geschichte des Warschauer Materials, wie sie vor allem von Paul Schrecker erhellt worden ist. In die heutige Biblioteka Narodowa in Warschau ist das Konvolut unter der Signatur III. 4879 nach dem Ersten Weltkrieg aus der ehemals Kaiserlichen Bibliothek in Sankt Petersburg zurückgekommen5. Nicht sehr lange vor dem Verlust der polnischen Staatlichkeit, welche die Verbringung des Konvoluts in die damalige russische Hauptstadt zur Folge hatte, war es von dem gelehrten Büchersammler und Kirchenmann Joseph Andreas Zaluski (1702–1774; seit 1759 römisch-katholischer Bischof von Kiew) als Teil seiner zusammen mit seinem Bruder Andreas Stanislaus Kostka aufgebauten bedeutenden Bibliothek der polnischen Nation hinterlassen worden6. Zaluski seinerseits hatte das Konvolut wohl 1758 aus dem Nachlass des zwei Jahre zuvor verstorbenen Leipziger Professors Johann Erhard Kapp (1696–1756) erworben7. Dieser hatte Briefe und andere kleine Manuskripte von Leibniz auf verschiedenen, bis heute nur teilweise geklärten Wegen erworben, um sie zu publizieren. Sowohl zu den Bezugsquellen seiner Sammlung wie zu seinen verwirklichten und nicht verwirklichten Publikationsplänen sind im Folgenden noch einige detailliertere Angaben zu machen. Schrecker hat vor allem die Geschichte des Kerns der Warschauer Überlieferung verfolgt, welche die spannendste und für unser Thema interessanteste ist. Dieser Kern geht nämlich, wie er nachweisen konnte, auf einen Teilnachlass von Leibniz zurück – treffend hat man von ‚Leibniz’ Berliner Schreibtisch‘ gesprochen8 – also 5 6 7
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P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 6–7. Ebd., S. 6. Zu Zaluski siehe C. von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 59, Wien 1890, S. 126–127. Ebd., S. 7–9. Zu Kapp siehe G. Lechler: Art. „Johann Erhard Kapp“, in: Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 15, Leipzig 1882, S. 105–106. G. Müller: „Johann Erhard Kapp als Professor an der Universität Leipzig“, in: Historische Untersuchungen. Ernst Förstemann zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum gewidmet von der Historischen Gesellschaft zu Dresden, Leipzig 1894, S. 105–117. Zu Kapp als Leibniz-Editor: D. Döring: „Leibniz-Editionen in Leipzig. Der Druck der Schriften und Briefe von G. W. Leibniz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Leipziger Kalender 1998, Leipzig 1998, S. 69–95, hier S. 81–82. Ebd., S. 89, Anm. 75, Hinweise auf einschlägige Artikel in den Gelehrtenlexika des 18. Jhs. Zudem ebd., S. 89, Anm. 77, der wichtige Hinweis auf Kapps handschriftliche Dissertatio de ineditis quibusdam schedis et epistolis autographis Godofredi Guilielmi Leibnitii et quorundam amicorum eius, die der Autor am 4. Mai 1746 den sächsischen Prinzen vorgetragen hat (Sächsische Landesbibliothek Dresden, Ms. F 149a, Bl. 40–72). Dieses Manuskript bestätigt eine Reihe von Annahmen, die bisher eher indirekt belegt oder nur erschlossen werden konnten. Vgl. den Beitrag von Sabine Sellschopp in diesem Band. H.-St. Brather (Hrsg.): Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften 1697–1716, Berlin 1993, S. XII: „In Berlin hatte Leibniz 1707 eigene Handakten zu Fragen der Sozietät und der kirchlichen Union zurückgelassen“. Vgl. auch ebd., Nr. 22, S. 193.
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auf Papiere, die bei Leibniz’ Tod in Berlin lagen und nicht nach Hannover zurückgefordert worden sind9. Kapp hat nach eigener Auskunft diese Berliner Papiere von Charles Etienne Jordan erhalten10. Jordan (1700–1745), Hugenotte, Theologe, seit 1736 Privatsekretär des Kronprinzen Friedrich und seit 1744 Vizepräsident der Berliner Akademie11, war 1733 durch Leipzig gekommen, wo er mit Kapp und Christian Kortholt (1709–1751)12 über die Herausgabe von Leibnizbriefen gesprochen und daraufhin den beiden Leipzigern die deutschsprachige Leibnizkorrespondenz in seinem Besitz, die er selbst nicht publizieren wollte, übersandt hat13. Jordan hatte die Manuskripte wiederum von Christfried Kirch, dem Sohn des Astronomen der Berliner Akademie, Gottfried Kirch, erworben14. In Gottfried Kirchs Dienstwohnung in der Dorotheenstr. 10 stand Leibniz bei seinen häufigen Aufenthalten in Berlin ein Raum zur Verfügung. Dort lagerte er auch Material, wie aus einem Brief an Daniel Ernst Jablonski hervorgeht, in dem Leibniz den Berliner Freund bat, nachdem Kirchs Nachfolger Johann Heinrich Hoffmann im April 1716 gestorben war, auf sein dort gelagertes Eigentum aufzupassen15. Das ist, ganz grob skizziert, 9 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 9–12. 10 „Cum enim variae schedae, et epistolae summi huius viri [= Leibniz], et nonnullae amicorum eius, nondum typis exscriptae, in manibus meis sint, a Carolo Stephano Jordano, Consiliario nuper intimo Borussico, [...] liberaliter mecum communicatae:“ (J. E. Kapp: Dissertatio [wie Anm. 7], Bl. 45r–v); vgl. auch P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 9. 11 Zu Jordan siehe J. Häseler: Ein Wanderer zwischen den Welten, Charles Etienne Jordan (1700–1745) (= Beihefte der Francia 28), Sigmaringen 1993. Speziell zu seinem Interesse an Leibnizbriefen: Ebd., S. 91–93, und ders.: „Leibniz’ Briefe als Sammlungsgegenstand – Aspekte seiner Wirkung im frühen 18. Jahrhundert“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1994, S. 301–308, hier S. 305–308, und N. Gädeke: „Unmut der Königin“ (wie Anm. 4), S. 183–188. 12 Zu Kortholt siehe den Beitrag von Nora Gädeke in diesem Band, S. 135–162. 13 „Dieser hochberühmte Herr geheimbde Rath Iordan hat im Jahr 1733 auf seiner gelehrten Reise [...] unter andern auch mir allhier die Ehre gethan, und mich besuchet, auch, nachdem er bey mir eine Hochachtung gegen den Herrn von Leibnitz und Liebe zur Kirchen- und GelehrtenHistorie verspühret, mir so fort seinen damahls in Händen habenden Vorrath Leibnitzischer und Jablonskischer Briefe aus eigener Bewegung versprochen, und richtig überschicken lassen“. (J. E. Kapp: Sammlung einiger Vertrauten Briefe, welche zwischen […] Gottfried Wilhelm von Leibnitz, und […] Daniel Ernst Jablonski, auch andern Gelehrten, besonders über die Vereinigung der Lutherischen und Reformirten Religion, über die Auf- und Einrichtung der Kön. Preuss. Societät der Wissenschaften etc. etc. gewechselt worden sind, Leipzig 1745, Vorrede, Bl. [b8]v–cr); vgl. J. Häseler: Wanderer (wie Anm. 11), S. 92–93, ders.: „Leibniz’ Briefe“ (wie Anm. 11), S. 307. 14 „Wenn ich mich anders recht entsinne, so hat mir damahls der Herr geheimbde Rath [= Jordan] gemeldet, daß er diese Briefschafften, von dem berühmten Astronomo, Herrn Christfried Kirchen [...] erhalten, bey dessen Vater, Herrn Gottfried Kirchen [...] der Herr von Leibnitz dieselben gelassen haben mag“. (J. E. Kapp: Sammlung [wie Anm. 13], Bl. cr); vgl. P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 9–10, J. Häseler: Wanderer (wie Anm. 11), S. 91, ders.: „Leibniz’ Briefe“ (wie Anm. 11), S. 306, und N. Gädeke: „Unmut der Königin“ (wie Anm. 4), S. 183–184. 15 J. Kvačala: Neue Beiträge (wie Anm. 2), S. 138; vgl. P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 10.
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das Wichtigste aus der Geschichte dieser Papiere, das zum Verständnis der folgenden Ausführungen notwendig ist. II. Die Manuskriptblätter, die unter der Signatur III. 4879 der Warschauer Biblioteka Narodowa in einem Band zusammengebunden sind, lassen sich zwar, wie der kurze Abriss ihrer Geschichte gezeigt hat, auf den Nachlass Kapps zurückführen, besitzen also insofern eine gemeinsame Herkunft, sie sind aber aus unterschiedlichen Quellen und nicht auf denselben Wegen in diesen Nachlass gelangt. Kann man also einerseits von einer gemeinsamen Provenienz sprechen, was für das Verständnis des Materials als Ganzem von entscheidender Bedeutung ist, lassen sich andererseits einzelne Manuskript-Gruppen nach ursprünglicher Herkunft und je eigener Tradierung voneinander abgrenzen. Im Folgenden möchte ich zunächst die einzelnen Gruppen vorstellen, also den Quellen, von denen der Titel meines Beitrags spricht, nachspüren, um abschließend das ganze Material mit seinen Rezeptionsspuren in den Blick zu nehmen. Unter den beiden Fragestellungen – Herkunft und Rezeption – werden sich dann auch hier und da Verbindungen zu anderen Leibniz-Überlieferungen aufweisen lassen. Den Kern des Warschauer Materials bilden nach Umfang und wohl auch als Anlass und Ausgangspunkt einer weiter ausgreifenden Sammlungstätigkeit jene Manuskripte, die zu der Zeit von Leibniz’ Tod in Berlin lagen. Allerdings ist die Abgrenzung dieser Gruppe nicht immer einfach und letztlich nicht in allen Fällen zweifelsfrei möglich. Deshalb werde ich versuchen, diesen Kern möglichst rein herauszuschälen, indem ich zunächst die übrigen Manuskript-Gruppen voneinander abgrenze und vorstelle und mich erst in einem zweiten Schritt dem ‚Berliner Kern‘ widme. Diese Arbeit wird durch die Händescheidung, vor allem der Schreiberhände, wie sie im Arbeitskatalog der Leibniz-Edition dokumentiert ist, erleichtert und gestützt16. II.1 Am leichtesten lassen sich jene Notizen isolieren, die Kapp selbst zur Vorbereitung seiner Ausgabe angelegt hat. Darauf wird zurückzukommen sein17. Ebenfalls leicht zu bestimmen sind jene Texte, die von Kapp selbst oder auf seine Anweisung aus bereits vorliegenden Drucken abgeschrieben worden sind18. Dies gilt jedenfalls 16 Der Katalog führt die unterschiedlichen Hände mit den Siglen W1 bis W15 an, wobei W13 doppelt vergeben ist, einmal für die Abschriften der Briefe an Muratori (siehe unten, S. 91 f.) und dann fälschlich für den Schreiber einer Briefabschrift, die sicherlich in Jablonskis Auftrag entstanden und von ihm an Leibniz gekommen ist (siehe unten, S. 101). Kapps Hand ist mit W2 bezeichnet. 17 Siehe unten, S. 115. 18 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 16.
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dann, wenn die gedruckte Vorlage vermerkt und eine andere ausgeschlossen ist. Mit einem weniger einfachen Fall werden wir uns noch beschäftigen müssen19. Diese Abschriften lassen sich nach inhaltlichen Gesichtspunkten wiederum in zwei Untergruppen differenzieren. Da sind zum einen jene, die thematisch und vom Entstehungskontext ihrer ursprünglichen Vorlagen her keine Verbindung mit dem Berliner Material aufweisen. Deshalb ist die Abgrenzung hier kein Problem. Dazu zählt etwa die Abschrift des letzten Briefes aus dem Briefwechsel mit Antoine Arnauld, den ein nur dieses eine Mal im Warschauer Konvolut nachweisbarer Schreiber aus der editio princeps kopiert hat (Bl. 260–266)20. Obwohl die Schreiberhand nur einmal begegnet, kann kein Zweifel daran sein, dass die Abschrift von Kapp veranlasst worden ist, denn er selbst hat den bibliographischen Nachweis des Drucks notiert und die Überschrift des Briefes begonnen, die der Schreiber bruchlos fortgesetzt hat. Ebenso wenig Bezug zu Berlin wie dieses Schreiben haben zwei Briefe von Leibniz an Henry Oldenburg und einer von Newton an Oldenburg für Leibniz, die Kapp aus John Wallis’ Opera entnommen hat (Bl. 277–292)21. Dasselbe gilt von drei Leibniz-Briefen an Wilhelm Ernst Tentzel und zwei weiteren Stücken, die Kapp aus verschiedenen Nummern von Tentzels Monatlichen Unterredungen hat kopieren lassen (Bl. 386–387. 391–392. 395–396)22. Auf die gleiche Art hat er aus dem Greifswaldischen Wochenblatt von 1743 fünf Briefe von Leibniz an Johann Friedrich Mayer gezogen (Bl. 306–311)23. Daneben hat Kapp das Berliner Material durch einzelne Ergänzungen aus frühen Drucken gewissermaßen abgerundet. Allerdings geschah dies in weitaus geringerem Umfang, als man vielleicht erwarten möchte. Vor allem sind es zwei, freilich gewichtige Schriften, durch die Kapp seine Handschriftenschätze vermehrt hat. Einmal handelt es sich um Leibniz’ „Tentamen expositionis irenicae“ aus dem Herbst 1698 (Bl. 80–89), zum anderen um Philipp Jakob Speners Gutachten zu dieser Schrift (Bl. 281–292). Die Vorlagen für beide Stücke hatte er in den 1709 postum erschienenen Consilia et judicia theologica Latina Speners gefunden, wo sie 19 Siehe unten, S. 102. 20 Vom 23. März 1690; A II, 2 N. 78. Die Abschrift folgt: Continuation des mémoires de Litterature de M. de Salengre, Bd. 8, hrsg. von P. N. Desmolets, Paris 1729, S. 211–229. 21 Der erste Brief vom 15. Juli 1674; A III, 1 N. 30. Der zweite vom 28. Dezember 1675; A II, 12 N. 121. Der Newton-Brief vom 3. November 1676; A III, 2 N. 38. Die Abschriften nach J. Wallis: Opera mathematica, Bd. 3, Oxford 1699, S. 617–618, 620–622, 634–645. 22 Leibniz an Tentzel, 18. Februar 1693; A I, 9 N. 174. Leibniz an Tentzel, um 1692 (Monatliche Unterredungen Januar 1695, S. 93–94). Leibniz an Tentzel, 26. Januar 1694; A I, 10 N. 132. Vor letztgenanntem Brief hatte Tentzel in deutscher Übersetzung einen Extrait d’une Lettre écrite au P. Chevigni aus dem Journal des sçavans vom 27. April 1693, den er von Leibniz erhalten hatte, abgedruckt (Monatliche Unterredungen Mai 1694, S. 400–401). Eine Abschrift dieses Abdrucks hat sich Kapp ebenfalls anfertigen lassen. Dazu kommt noch die Abschrift eines Briefes des Thülemarius an Tentzel vom 19. Mai 1692 (Monatliche Unterredungen Nov. 1695, S. 985–987). 23 Vom 23. Mai 1704 (Greifswaldisches Wochen-Blatt von allerhand gelehrten und nützlichen Sachen [1743], 1. Stück, S. 6–7; A I, 23 N. 276), 23. Juni 1704 (ebd., 2. Stück, S. 9–10; A I, 23 N. 327), 12. März 1705 (ebd., 3. Stück, S. 22; A I, 24 N. 252), 23. Juni 1705 (ebd., S. 23; A I, 24 N. 413) und vom 24. März 1699 (ebd., S. 23–24; A I, 16 N. 398).
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hintereinander abgedruckt sind24. Zu dieser Gruppe wird man auch den Auszug aus einem Leibnizbrief an den Genfer Theologen Jean-Alphonse Turrettini vom 12. Oktober 1707 rechnen dürfen, der jedenfalls die Union der protestantischen Kirchen zum Thema hat (Bl. 305)25. Soweit zu den Abschriften nach bereits gedrucktem Material. Um den ‚Berliner Kern‘ weiter einzugrenzen, gilt es nun, diejenigen Abschriften zu bestimmen, die auf handschriftliches Material zurückgehen, das nicht in Berlin gelegen hat. Zwei Gruppen lassen sich hier problemlos bestimmen. Die eine enthält vor allem zwei sehr frühe Schriftstücke, nämlich zwei Auszüge aus Briefen an den Bruder Johann Friedrich Leibniz aus dem Jahr 1669, die wiederum von Leibniz’ Schwager Simon Löffler kommentiert, um nicht zu sagen zensuriert worden sind (Bl. 3–21, 294–303)26. Wie drei ebenfalls im Warschauer Material überlieferte Schriftstücke zum Erbfall Gottfried Wilhelm Leibniz zeigen (Bl. 319–320, 322–323), müssen diese Stücke aus dem Besitz des Neffen und Erben Friedrich Simon Löffler an Kapp gelangt sein. Schrecker hat zu zeigen versucht, dass Kapp diese Schriftstücke nicht unmittelbar von Friedrich Simon Löffler erhalten habe, sondern über Christian Kortholt, der nach eigener Aussage mit Löffler in Kontakt gewesen ist und in seinem vierten Band Leibnizbriefe an Simon und an Friedrich Simon Löffler publiziert hat27. Die Schreiberhand begegnet jedenfalls nur in diesem Kontext, was Schrecker auf die Vermutung geführt hat, es handele sich hier um einen Schreiber Kortholts28. Wie dem auch sei, aus Berlin kam dieses Material jedenfalls nicht. Die zweite problemlos abgrenzbare Gruppe umfasst zwei Dutzend Briefe, die ganz überwiegend an den berühmten italienischen Historiker Lodovico Antonio Muratori († 1750) gerichtet sind (Bl. 138–150)29. Bereits die Entstehungszeit der Briefe, vom Februar 1709 bis zum Juli 1716, spricht gegen die Herkunft aus Berlin, 24 Das Tentamen jetzt in A IV, 7 N. 62. Die Abschrift folgt Ph. J. Spener: Consilia et judicia theologica Latina; opus posthumum ex ejusdem littris [...] collectum et in tres partes divisum, Frankfurt 1709, S. 105–110. Speners Gutachten ebd., S. 110–113. 25 Kapp gibt als Fundort „p. XV praefationis Nubi testium praemissae“. Die Angabe passt auf: J.-A. Turrettini: Nubes testium pro moderato et pacifico de rebus theologicis judicio, et instituenda inter protestantes concordia, Frankfurt/Leipzig 1720, Praefatio, S. XV. Ein Hinweis auf den Druck des Auszugs fehlt im Inventaire critique de la correspondance de Jean-Alphonse Turrettini, Bd. 2: Inventaire chronologique 1699–1713, bearb. von M.-C. Pitassi, Paris 2009, Nr. 1847, S. 411–412. 26 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), Nr. I–II, S. 57–83. 27 Ebd., S. 13–14. G. W. Leibniz: Epistolae ad diversos, Bd. 1, hrsg. von Chr. Kortholt, Leipzig 1734, Praefatio, Bl. [)( 7]r: „Vir doctissimus M. Loefflerus, ipsius Leibnitii sororis filius atque heres unicus, litteris ad me datis [...]“. Ebd., Bd. 4, Leipzig 1742, S. 241–245 (an Simon Löffler), S. 246–278 (an Friedrich Simon Löffler). 28 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 14. Dann müsste Kortholt allerdings nicht nur die Abschriften, sondern auch die Originale an Kapp gesandt haben, finden diese sich doch ebenfalls im Warschauer Material. Dass von Löfflers Briefwechsel mit der Justizkanzlei in Hannover keine Abschriften vorhanden sind, könnte eher dafür sprechen, dass die Abschriften der frühen Stücke im Rahmen der Druckvorbereitungen entstanden, also doch eher mit Kapp in Verbindung zu bringen sind. 29 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 16.
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das Leibniz in der ersten Hälfte des Jahres 1711 zum letzten Mal besucht hat30. Untypisch für den Berliner Kernbestand ist auch das Fehlen von Muratoris Gegenbriefen. In diesem Fall hat Kapp in einer Notiz zu den Briefen erfreulicherweise seine Quelle genannt: „Diese Briefe habe ich von dem H. HoffRath von Ohlenschlager kürtzlich erhalten, welcher solche in Italien abgeschrieben hat“ (Bl. 136)31. Die sonst in dem Warschauer Konvolut nicht nachgewiesene Schreiberhand und die eigenständige Foliierung des Faszikels sprechen dafür, dass es sich tatsächlich um die in Italien angefertigten Abschriften handelt. Die von der überwiegenden Mehrzahl der Abschriften abweichende Praxis, Brief auf Brief nur durch waagerechte Striche abgetrennt direkt aufeinander folgen zu lassen (statt für jedes Schriftstück ein neues Blatt oder einen neuen Bogen zu beginnen), und die noch erkennbare doppelte Faltung unterstützen diese Ansicht. Eine dritte Gruppe besteht aus Abschriften von 14 Briefen an den Helmstedter Orientalisten Hermann von der Hardt (Bl. 312–317)32, die bis auf drei ältere33 aus der ersten Hälfte und der Mitte des Jahres 1704 stammen34. Für sie fehlt leider eine explizite Aussage zu ihrer Herkunft. Allerdings lassen sich hier in Analogie zu den Briefen an Muratori mehrere Beobachtungen machen, die gegen ihre Zuordnung zum ‚Berliner Kern‘ der Warschauer Überlieferung sprechen: Sie sind ebenfalls von einer ihnen eigentümlichen Schreiberhand notiert, sie schließen ebenfalls direkt aneinander an, und der Faszikel besitzt zwar keine eigene Foliierung, aber die einzelnen Stücke tragen jeweils lateinische Nummern. Von den in diesem Faszikel enthaltenen Briefen existieren keine Ausfertigungen im Nachlass von der Hardts, der mit seiner Bibliothek 1786 in die heutige Badische Landesbibliothek Karlsruhe gelangt ist35. Die Vorlagen der Warschauer Abschriften müssen jedoch auf Empfängerseite gesucht werden, da, wie Paul Ritter bei der Katalogisierung bemerkte, „Anrede, Unterschrift etc. vollständig“ sind. Auch das spricht gegen die Herkunft aus Berlin. Dort hätten Leibniz’ Konzepte, nicht aber die Ausfertigungen gelegen haben können36. 30 K. Müller/G. Krönert (Bearb.): Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik (= Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs 2), Frankfurt a. M. 1969, S. 222. 31 Bei dem Genannten muss es sich um Johann Daniel von Olenschlager (auch Ohlenschlager u. ä.; 1711–1778) handeln. Nach dem juristischen Studium führte ihn eine Reise u. a. nach Italien. 1738 wurde er in Sachsen zum Hofrat ernannt, 1746 in den Reichsadelsstand erhoben; vgl. J. G. Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 10, Leipzig 1810, S. 219–221. 32 Der Arbeitskatalog der Leibniz-Edition zählt 15 Nummern, da er die im Warschauer Manuskript ohne eigene Nummer an den Brief Nr. V angehängte Liste von Helmstedter Kodizes in einem eigenen Eintrag führt. Auch die Edition hat zwei Stücknummern vergeben: A I, 23 N. 90 und N. 91. 33 A I, 13 N. 396 vom 26. März 1697(?); A I, 16 N. 460 vom [26. April 1699]; A I, 20 N. 210 vom 5. August 1701. 34 A I, 23 N. 90, 91, 105, 138, 223, 245, 264, 272, 372, 398, 403, 417. 35 Darauf macht bereits P. Schrecker („G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ [wie Anm. 3], S. 15–16) aufmerksam. 36 Dass lediglich von zwei Briefen, A I, 16 N. 460 und A I, 23 N. 138, ein Konzept überliefert ist (und von A I, 13 N. 396 eine verworfene Reinschrift), ist kein Gegenargument, denn gerade
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Es fällt ins Auge, dass Kapp in seiner unveröffentlichten Dissertatio über seine Leibniz-Autographen und die handschriftlichen Schätze aus dessen Umkreis aus dem Jahr 174637 von den bisher vorgestellten Manuskripten nichts erwähnt. Diese Beobachtung sollte jedoch nicht überbewertet werden, hat Kapp doch nirgends Vollständigkeit reklamiert, ja sogar explizit erklärt, Manches auszulassen38. Zudem besaß er von den beiden umfangreichsten Briefgruppen des Konvoluts, die nicht aus Berlin kamen, den Briefen an von der Hardt und an Muratori, lediglich Abschriften, anderes, wie die Briefe an den Greifswalder Johann Friedrich Mayer oder an Oldenburg und von Newton, war bereits publiziert. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Kapp zu diesem Zeitpunkt noch nicht über das ganze Material verfügte, das heute im Warschauer Konvolut überliefert ist. II.2 Nachdem jene Teile des Konvoluts, die Kapp von anderen Seiten erhalten oder aus Drucken übernommen hatte, identifiziert worden sind, komme ich nun zum Kern der Warschauer Papiere, zu den aus Berlin stammenden Briefen und sonstigen Manuskripten. Allerdings ist der Blick auf Leibniz’ Berliner Schreibtisch immer noch nicht völlig frei. Zwar sind die aus Berlin stammenden Stücke zumeist nicht nur in Abschriften, sondern auch im Original im Warschauer Konvolut überliefert, so dass sie weitergehende und besser gesicherte Rückschlüsse auf ihre Entstehung erlauben, als dies bei bloßen Abschriften möglich wäre. So lassen sich ohne Schwierigkeiten jene Eigenschaften der Überlieferung, wie sie für den Hannoveraner LeibnizNachlass typisch sind, im Warschauer Material wiederfinden: Leibniz’ eigene Briefe und Schriften liegen in der Regel im Konzept vor. Die an ihn gerichteten Briefe sind als Ausfertigungen überliefert, welche die materiellen Merkmale des postalischen Verkehrs wie Faltung, Versiegelung und Außenadresse zeigen. Aber in mancher Hinsicht ist die Aufgabe sogar schwieriger geworden. Zum einen gestaltet sich die Zuordnung der verbliebenen Zweifelsfälle als besonders diffizil, zum anderen kann sich die Untersuchung von Leibniz’ Berliner Hinterlassenschaft nicht auf das Warschauer Konvolut beschränken. Bereits Kapp hatte von Jordan mehr Material erhalten, als in Warschau überliefert ist. Sämtliche deutschsprachigen Texte dieser Provenienz hat er nämlich in seiner 1745 erschienenen Sammlung einiger Vertrauten Briefe, welche zwischen […] Gottfried Wilhelm von Leibnitz, und […] Daniel Ernst Jablonski, auch andern
Leibniz’ Briefe an Hermann von der Hardt sind nur recht selten im Konzept überliefert. Dies zeigt bereits ein Blick in E. Bodemann: Der Briefwechsel des Gottfried Wilhelm Leibniz in der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Hannover 1895; ND mit Ergänzungen und Register von G. Krönert und H. Lackmann, sowie einem Vorwort von K.-H. Weimann, Hildesheim 1966, S. 80, der lediglich 22 Leibnizbriefe an von der Hardt im Hannoveraner Bestand nachweist, denen 162 Briefe des Korrespondenzpartners gegenüberstehen. 37 Siehe oben Anm. 7. 38 Siehe unten Anm. 87.
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Gelehrten, […] gewechselt worden sind publiziert39. Seitdem müssen die Manuskripte der dort gedruckten Stücke als verloren gelten. Auf die Sammlung wird im dritten Abschnitt zurückzukommen sein. Mindestens ein Manuskript, auf das Kapp dort hinweist und das er in der „Lateinischen Collection“ veröffentlichen wollte, kann heute nicht mehr ermittelt werden40. Zudem war er nicht der einzige, der von Jordan mit einschlägigem Material aus Berlin versorgt worden ist. Hier sei nur an Louis Bourguet41 erinnert. Schließlich hat Kapp einen Teil des von Jordan erhaltenen Materials, nämlich die Stücke aus Leibniz’ Briefwechsel mit Johann Fabricius, zunächst an seinen Leipziger Freund Christian Kortholt weitergegeben, der sie auszugsweise im Anhang des ersten Bandes seiner Briefausgabe abgedruckt hat42. Schrecker hat, sicherlich mit Recht, die Herkunft eines Teils der heute im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrten Leibniz-Manuskripte ebenfalls auf den Berliner Teilnachlass zurückgeführt43. Ihr Charakter – es handelt sich vor allem um Konzepte – stützt diese Ansicht44. Eine ganze Reihe dieser Manuskripte steht thematisch mit der Akademie nicht in unmittelbarer Verbindung, sondern beschäftigt sich mit Projekten zur brandenburgisch-preußischen Wirtschaftspolitik, zur preußischen Königskrönung und zu hohenzollerschen Ansprüchen auf die Oranische Erbschaft und auf Neuchâtel45. Auch aus dem Material für die Unionsgespräche ist eine einschlägige Aufzeichnung dort überliefert46. Diese Beobachtungen gelten vor allem für Teile des Bestands ‚Nachlaß G. W. Leibniz‘, auf die Hans-Stephan Brather die Annahme Schreckers einschränken wollte47. Diese Einschränkung lässt sich aber nicht halten. Vielmehr lässt sich zeigen, dass die unter Nr. 1 des ‚Nachlasses G. W. Leibniz‘ archivierten Papiere und jene des 39 Siehe oben Anm. 13. 40 „Wir haben auch einen Frantzösischen Aufsatz von Herrn von Leibnitz von eben dieser Materie vom 21 Aug. A. 1700 in Händen, der in unserer Lateinischen Collection eine Stelle bekommen soll“. (J. E. Kapp: Sammlung [wie Anm. 13], S. 226). 41 Zu Bourguet (1678–1742), der selbst noch zu Leibniz’ Korrespondenzpartnern gehörte, s. J.-P. Schaer: „Louis Bourguet. Philosophe et naturaliste (1678–1742)“, in: M. Schlup (Hrsg.): Biographies neuchâteloises, Bd. 1: De saint Guillaume à la fin des lumières, Hauterive 1996, S. 16–22. Zu seinen Editionsplänen s. J. Häseler: „Leibniz’ Briefe“ (wie Anm. 11), S. 301–305 und F. Nagel: „Schweizer Beiträge zu Leibniz-Editionen des 18. Jahrhunderts. Die LeibnizHandschriften von Johann Bernoulli und Jacob Hermann in den Briefwechseln von Bourguet, König, Kortholt und Cramer“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1994, S. 525–533, hier S. 525–528. N. Gädeke: „Unmut der Königin“ (wie Anm. 4), S. 185–187. Besonders materialreich ist P. Bovet: „Louis Bourguet. Son projet d’édition des œuvres de Leibniz“, in: Revue de théologie et de philosophie 37 (1904), S. 366–379. 42 Siehe unten, S. 105. Zu Kortholt siehe den Beitrag von Nora Gädeke in diesem Band. 43 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 12. 44 Berlin, Archiv der BBAW, Nachlaß G. W. Leibniz Nr. 4, Bl. 18 ist die nicht abgesandte Reinschrift eines Promemoria. 45 Ebd., Nr. 1, Bl. 7–10, 71–73; Nr. 4, Bl. 17, 19–22 (Wirtschaftspolitik usw.); Nr. 1, Bl. 52–58 (Königskrönung), Bl. 3–6, 11–31, 79–80 (Oranische Erbschaft); Bl. 67–68, 74–75, 90 (Neuchâtel). 46 A IV, 7 N. 58. 47 Berlin, Archiv der BBAW, Nachlaß G. W. Leibniz Nr. 1; vgl. H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (wie Anm. 8), S. XII.
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Bandes I-I-2 aus dem Bestand ‚Preußische Akademie der Wissenschaften (1700–1811)‘ ursprünglich zusammengehört haben und in drei Konvolute aufgeteilt waren48. Ob diese Papiere den Weg über Jordan genommen haben, ist allerdings fraglich49. Dagegen spricht die Nachricht einer Aktennotiz, man habe Handschriften von Leibniz „sous l’escalier de l’observatoire“, also „unter der Treppe des Observatoriums“ aufgefunden. Zudem müsste erklärt werden, warum Jordan etwa die sechs Briefe von Johann Andreas Schmidt, die sich in PAW (1700–1811) I-I-2 finden, nicht an Kapp gegeben hätte50. Im Hinblick auf den Berliner Schreibtisch muss schließlich ein Bestand der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg (bis 1992: Saltykov-Shchedrin Bibliothek) angesprochen werden. Dort liegen etwa ein Dutzend Manuskripte, die auf einen Berliner Kontext verweisen, sei es, dass sie einschlägige Betreffe behandeln, sei es, dass dort Korrespondenten begegnen, die auch im Warschauer Konvolut vorkommen51. Tatsächlich zeigt ein genauerer Blick auf diese Sankt Petersburger Überlieferung, dass sie einmal zu dem Material aus Kapps Nachlass gehört haben muss. Dabei erweist sich dessen handschriftliche Dissertatio als ausgesprochen hilfreich, nennt sie doch für einzelne Korrespondenzpartner die Anzahl der an sie gegangenen und von ihnen gesandten Briefe in seinem Besitz. So berichtet Kapp von zwei Briefen des brandenburgischen Justizrates Johann Gebhard Rabener an Leibniz, einer von 1696, der andere von 1697, und einer Antwort von Leibniz52. Im Warschauer Konvolut ist jedoch nur Rabeners Brief vom 27. Oktober 1696 überliefert (Bl. 156–157)53. Ein Brief Rabeners, wohl aus dem Februar 1697 findet sich
48 Berlin, Archiv der BBAW, PAW (1700–1811) I-I-2, Bl. 1 und Bl. 16–17, bietet drei Verzeichnisse von Leibniz’ Papieren, die in zwei Konvoluten und einem (kleineren) Briefkonvolut gesammelt waren. Durch die recht präzisen Beschreibungen und die Nummerierungen lassen sich diese Konvolute weitgehend rekonstruieren: Das erste umfasst in dem genannten Band Bl. 18–102. Auf Bl. 103–123 und 126 schließen sich die Reste des Briefkonvoluts an, das bereits im 18. Jh. erhebliche Verluste verzeichnen musste. Die Papiere des zweiten Konvoluts sind ebenfalls schon im 18. Jh. zum großen Teil in die Manuskriptensammlung ausgegliedert worden. Nachdem diese in den 1950er Jahren aufgelöst wurde, bilden sie heute die Nr. 1 des ‚Nachlasses‘. Der verbliebene Rest befindet sich in PAW (1700–1811) I-I-2, Bl. 5–15. 49 Auf den ersten Blick könnte ein Band mit 44 Leibnizbriefen an Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739) im Archiv der BBAW (‚Nachlaß G. W. Leibniz‘ Nr. 7), der, wie sein Exlibris zeigt, ursprünglich in Jordans Besitz war, eine derartige Herkunft wahrscheinlich machen. Aber der Band ist dem Archiv erst 1843 geschenkt worden. Vgl. W. Knobloch: „Leibniziana im Akademie-Archiv“, in: Spektrum 6,1 (1975), S. 30–31, hier S. 31. 50 Die Zitate ebd., S. 30. Bei den Schmidt-Briefen handelt es sich um A I, 18 N. 151, N. 177, N. 184, N. 203, N. 223, N. 247. Auch A IV, 7 N. 58 könnte man bei Kapp erwarten. 51 Auf diese Überlieferung wies mich meine Hannoveraner Kollegin Nora Gädeke hin. Die folgenden Ausführungen zu der Sankt Petersburger Überlieferung können sich nur auf die Angaben in den Editionsbänden und im Arbeitskatalog der Leibniz-Edition stützen. Eine nähere Prüfung oder gar Autopsie war mir nicht möglich. 52 J. E. Kapp: Dissertatio (wie Anm. 7), Bl. 61r. 53 A I, 13 N. 201. Auf Bl. 157v hatte Leibniz begonnen, eine Antwort zu konzipieren, aber schnell wieder abgebrochen. Dieses Teilkonzept hat Kapp nicht mitgerechnet.
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jedoch in Sankt Petersburg, ebenso wie Leibniz’ Antwort vom 6. März desselben Jahres (allerdings als Abschrift von Schreiberhand)54. In seiner Dissertatio stellt Kapp ziemlich ausführlich Leibniz’ Brief über eine Kalenderreform an den römischen Gelehrten, Astronomen und späteren päpstlichen Beauftragten für die Kalenderreform, Francesco Bianchini (1662–1729), vor55. Im Warschauer Konvolut ist jedoch nicht das Originalmanuskript überliefert, sondern lediglich eine von Kapps Hauptschreiber angefertigte Abschrift (Bl. 382). Leibniz’ Konzept, das als Vorlage gedient hat, liegt in Sankt Petersburg56. Ein vergleichbarer, allerdings weniger eindeutiger Fall liegt mit einem Brief des Helmstedter Theologen Johann Fabricius vor. Aus dessen Briefwechsel mit Leibniz nennt Kapp neben zwölf Briefen des Fabricius lediglich vier Antwortkonzepte von Leibniz sein eigen57. Diese Angaben lassen sich anhand des Warschauer Konvoluts weder eindeutig bestätigen noch falsifizieren58. Was und wie Kapp hier gezählt hat, bleibt unklar. Wie dem auch sei, in Warschau liegt in der Abschrift eines für Kapp tätigen Schreibers ein Brief von Leibniz an Fabricius vom 30. Juli 1703 vor, nicht jedoch die Vorlage. Diese findet sich, wie im Falle des Briefes an Bianchini, in Sankt Petersburg59. Inhaltlich verweisen zudem drei Konzepte eines Medaillenentwurfs für die preußische Königskrönung auf Berlin, ebenso wie die „Monita bey dem Entwurff der Medaille“, die sich auch auf eine Krönungsmedaille beziehen60. Dazu kommen
54 Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Sammlung Dubrowski, Nr. 123, Bl. 191–192; A I, 13 N. 352, N. 367. 55 J. E. Kapp: Dissertatio (wie Anm. 7), Bl. 60r–v. 56 Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Sammlung Dubrowski, Nr. 62, Bl. 103; A III, 8 N. 134. 57 „[...] et Fabricii quidem duodecim autographa, Leibnitii autem nonnisi quatuor delineationes responsoriae ad eum habentur“ (J. E. Kapp: Dissertatio [wie Anm. 7], Bl. 63r). 58 Bei den Fabriciusbriefen kann man 11, 12 oder 13 zählen, je nachdem, ob man einen von Fabricius und Johann Andreas Schmidt gemeinsam verfassten Brief und ein isoliert überliefertes Postscriptum mitrechnet oder nicht. An eigenhändigen Konzepten, Teilkonzepten oder Auszügen von Leibnizbriefen an Fabricius finden sich tatsächlich fünf Nachweise, von denen allerdings nur zwei selbständig sind (Bl. 169; A I, 22 N. 447 und Bl. 403; A I, 17 N. 419), während die übrigen drei, zum Teil sehr kurzen Texte auf den eingelaufenen Fabriciusbriefen notiert sind (Bl. 197v; A I, 18 N. 212; Bl. 246v und Bl. 381v; A I, 18 N. 192). Von drei dieser Texte gibt es Abschriften von einem Kapp zuzuordnenden Schreiber (von A I, 18 N. 212 auf Bl. 198–199; von A I, 22 N. 447 auf Bl. 226–227 und von Bl. 246v auf Bl. 245). 59 Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Sammlung Dubrowski, Nr. 61, Bl. 101–102; A I, 22 N. 294. Der Fall ist noch etwas vertrackter, denn es handelt sich nicht um ein Konzept, sondern um die – wenngleich stark korrigierte – Ausfertigung, die Fabricius tatsächlich erreicht hat, wie dessen Unterstreichungen im Text und eine Teilabschrift von der Hand des Adressaten im Kopenhagener Fabricius-Nachlass verraten. Allerdings hatte Leibniz um die Rücksendung des Briefes gebeten (vgl. ebd., S. 500, Z. 8–9). Kapp kannte den Brief jedoch auch aus dem Druck von Kortholt; siehe unten, S. 105. 60 Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Sammlung Dubrowski, Nr. 64, Bl. 105–106. 107; Nr. 69, 116; A I, 19 N. 287.
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Monita an einem Entwurf für die Medaille zur Akademiegründung61. Eine Aufzeichnung über ein Gespräch mit dem Wolfenbütteler Herzog Anton Ulrich ist inhaltlich stark von ‚Berliner‘ Themen geprägt62. Dass ein Manuskript der „Fable de l’astre et du hibou“63 auf Leibniz’ Berliner Schreibtisch gelegen hat, liegt nahe, antwortete sie doch, wie er gegenüber dem brandenburgischen Oberzeremonienmeister Johann von Besser erklärte, auf einen Protest gegen die preußische Königskrönung64. Schwierigkeiten scheint zunächst Leibniz’ Brief an seinen Neffen Friedrich Simon Löffler vom 25. September 1703 zu bereiten65. Der Brief ist aus Hannover abgesandt worden, und in Sankt Petersburg scheint zudem die Abfertigung zu liegen66. Für Leibniz’ Schreibtisch als Herkunft dieses Manuskripts spricht also nicht viel. Allerdings hatten wir bereits gesehen, dass Kapp – wohl über Christian Kortholt – einschlägiges Material von dem genannten Leibnizneffen und -erben erhalten hat67. Dazu könnte nicht nur dieser Brief gehört haben, sondern auch das letzte Schreiben Antoni van Leeuwenhoeks an Leibniz. Es trägt das Datum des 17. Novembers 1716, ist also drei Tage nach dem Tod des Adressaten abgefasst68. So mag es in die Hände des Erben und von dort über Kortholt in den Nachlass Kapps gelangt sein. Schließlich ist noch ein Brief zu behandeln, der zwar auf den ersten Blick in den Berliner Kontext gehört, bei genauerer Betrachtung aber Probleme bereitet. Es geht um ein Schreiben an den Orientalisten Andreas Acoluthus69. Dieser ist als Briefautor (Bl. 162–163) wie -empfänger (Bl. 160) im Warschauer Konvolut präsent, wenn auch nur mit je einem Schreiben. Allerdings sprechen mehrere Beobachtungen auf den zweiten Blick gegen eine Berliner Provenienz dieses Briefes. Zum einen fällt er mit dem Datum vom 20. Oktober 1695 bereits zeitlich aus dem zu erwartenden Rahmen, zum anderen handelt es sich wiederum um eine Ausfertigung, die den Adressaten tatsächlich erreicht hat70. Nun haben sich Leibniz und Acoluthus jedoch in Berlin getroffen, wie aus einer Bemerkung des Ersteren zu seinem Abdruck des in Frage stehenden Briefes in seinen Collectanea etymologica hervorgeht71. Möglicherweise hat Acoluthus die Briefausfertigung bei dieser Gelegenheit an Leibniz zurückgegeben. 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Ebd., Nr. 68, Bl. 115; A IV, 8 N. 87. Ebd., Nr. 63, Bl. 104; A I, 18 N. 133. Ebd., Nr. 70, Bl. 117–118; Druck bei Pertz I, 4, S. 369 (nach LH V 5,2 Bl. 110). A I, 20, 218, Z. 23–24. Zuvor schon hatte sie Leibniz über Johann Casimir Kolbe Graf von Wartenberg dem neuen König übermitteln lassen; vgl. A I, 19 N. 340. Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Sammlung Dubrowski, Nr. 65, Bl. 108–109; A I, 22 N. 349. Die Editoren haben diese Angabe mit einem Fragezeichen versehen. Siehe oben, S. 91. Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek, Sammlung Dubrowski, Nr. 71, Bl. 119–121. Bei dem Manuskript handelt es sich um die eigenhändige Ausfertigung. Ebd., Nr. 66, Bl. 110–111; A I, 11 N. 493. Das zeigt schon der Eingangsvermerk: „Accepi d. 2. November. 1695.“ (ebd., S. 723, Z. 33). Die Bemerkung ist abgedruckt in A I, 11, 727, Z. 9–728, Z. 4; die Stelle zum Treffen in Berlin ebd., S. 727, Z. 11. Die Editoren vermuten in der Erläuterung zur genannten Stelle, dass dieses Treffen im Jahre 1701 stattgefunden hat.
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Wenn auch in diesem Fall die Berliner Provenienz unsicher bleiben muss, lässt sich die übrige Sankt Petersburger Überlieferung zu gut in den Warschauer Bestand einpassen, um die geschilderten Übereinstimmungen als zufällig abzutun. Demnach muss ein Teil des von Zaluski angekauften Kapp-Nachlasses nicht wieder an die Warschauer Biblioteka Narodowa zurückgegeben worden sein, vielleicht, weil er bereits in Sankt Petersburg von den übrigen Papieren abgetrennt worden ist72. Mit diesem Überblick über Papiere, die durch Jordan überliefert und an Dritte weitergegeben worden sind, ist jedoch sicherlich noch nicht alles das nachgewiesen, was der Berliner Hugenotte an Material zusammengetragenen hatte. Zacharias Konrad von Uffenbach teilte er nämlich am 25. März 1726 mit73: Ich habe in Berlin mehr als 400 Briefe von Gelehrten entdeckt, teils von Herrn Leibniz, teils von anderen, die an ihn adressiert sind. Darunter sind mehrere von unserer verstorbenen Königin. Der Buchhändler Haude, der ein sehr gelehrter Mann ist, ermahnt mich dringend, sie ihm zum Druck zu überlassen. Ich werde ziemliche Mühe haben, dem zuzustimmen, aber wenn ich das tue, möchte ich keine Kopie der Briefe geben, sondern alles das herausziehen, was ich der Mühe wert fände, und das ganze unter dem Namen Leibniziana nova veröffentlichen.
Zählt man das zusammen, was nachweislich über Jordan in dritte Hände gekommen ist, kommt wohl bei weitem nicht das zusammen, was einmal in seinem Besitz gewesen sein muss, auch wenn sich schwer sagen lässt, wie und was er gezählt hat74. Allerdings weisen jüngste Funde darauf hin, dass möglicherweise nicht alles, was wir (noch) nicht kennen, verlorengegeben werden muss75. Bietet das Warschauer Konvolut folglich nur einen Ausschnitt aus Leibniz’ Berliner Hinterlassenschaft, stellt sich andererseits die Frage, ob sämtliche Papiere, die nach Berlin und auf Jordan zurückweisen, tatsächlich von Leibniz’ Berliner Schreibtisch stammen. Diese Frage stellt sich deshalb, weil nicht nur Kapp, wie wir 72 Der Band, in dem die Warschauer Papiere heute zusammengebunden sind, muss bereits in Sankt Petersburg angefertigt worden sein, wie ein Vermerk auf dem hinteren Vorsatzblatt in kyrillischer Schrift, der auf das Jahr 1907 datiert ist, zeigt. Eine weitere Zahlenangabe („305“) deutet auf die ‚mittlere‘ Foliierung hin, die bis Bl. 305 zählt. Aus diesem Band können die Sankt Petersburger Stücke demnach nicht stammen. 73 „J’ai découvert à Berlin plus de quatre cent lettres de savants, soit de Mr. Leibniz, et soit d’autres qui lui ont été adressées; il y en a plusieurs de notre défunte Reine. Haude le libraire qui est un homme fort savant m’exhorte beaucoup à les lui donner pour la presse, j’aurai assez de peine à y consentir, mais si je le faisais, je ne donnerais point copie des lettres, mais je tirerais tout ce que j’y trouverais qui en valut la peine, et publierais tout cela sous le nom de Leibniziana nova“. (Zitiert nach J. Häseler: Wanderer [wie Anm. 11], S. 91–92. Auch in ders.: „Leibniz’ Briefe“ [wie Anm. 11], S. 305–306). 74 Für einen Überblick vgl. einstweilen N. Gädeke: „Unmut der Königin“ (wie Anm. 4), S. 183–188. 75 So hat mein Potsdamer Kollege Stefan Luckscheiter in zwei Bänden aus dem Berliner Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, Rep. 56 II (Prinz Heinrich) F Nr. 7, Bd. 1.1–2, ein halbes Dutzend Leibnitiana gefunden, die mindestens zum Teil aus Leibniz’ Besitz stammen müssen (Konzepte). Der Überlieferungsweg der Stücke muss erst noch rekonstruiert werden, aber die Annahme ist plausibel, dass sie von Leibniz’ Berliner Schreibtisch stammen und über Jordan letztlich ins Archiv gekommen sind; vgl. dazu auch die pauschale Anführung des genannten Bestandes im Verzeichnis der ungedruckten Quellen in J. Häseler: Wanderer (wie Anm. 11), S. 152.
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bereits gesehen haben, sondern auch Jordan einschlägiges Material auch aus anderen Quellen erhalten hat. Der Hugenotte hatte den wissenschaftlichen Nachlass des Berliner Orientalisten, clandestinen Philosophen und Leibniz-Korrespondenten Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739) geerbt76. Tatsächlich enthält der Band Ms. Gall. qu. 93 der Berliner Staatsbibliothek, der aus Jordans Nachlass kommt, Abschriften von Leibniz’ Briefen an La Croze77. Diese stammen jedoch nicht von Leibniz’ Schreibtisch, sondern von dem Adressaten78, was schon die Beobachtung zeigt, dass der letzte Brief der Korrespondenz vom 9. Oktober 1716 stammt, also lange nach Leibniz’ letztem Aufenthalt in Berlin geschrieben wurde79. Auf der anderen Seite enthält der Band aber auch Stücke aus Leibniz’ Briefwechseln mit den Berlinern Johann von Besser, Ezechiel (von) Spanheim, Johann Jacob Julius Chuno und Christophe Brosseau in Paris, die von seinem Berliner Schreibtisch kommen müssen80. Die Abschriften der von Leibniz ausgegangenen Schreiben gehen nämlich auf die Konzepte, diejenigen der Briefe der Korrespondenzpartner auf die Abfertigungen zurück81. Kapp hatte sich – offensichtlich schon bald nach dem Empfang des von Jordan versprochenen Materials – zur Vervollständigung desselben an den damals noch lebenden Jablonski gewandt. Dieser hatte ihm zwar Unterstützung versprochen und mitgeteilt, er besitze 70 Leibnizbriefe82, aber Kapp ist zunächst nicht in deren Besitz gekommen. Jedenfalls kam das, was er in seiner Sammlung aus diesem Briefwechsel veröffentlicht hat, von Leibniz’ Schreibtisch83. Bei den Erben hatte er nach Publikation der Sammlung im Jahr 1745 mehr Glück. Schon bald muss er die ihm von Daniel 76 Ebd., S. 67. 77 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ms. Gall. qu. 93, Bl. 1–42r. 78 La Croze hat seine Leibnizbriefe vor dem 1. Juli 1729 an Jordan übergeben, wie aus einem Brief des Letztgenannten an Bourguet von diesem Tage hervorgeht; vgl. P. Bovet: „Louis Bourguet“ (wie Anm. 41), S. 371. 79 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ms. Gall. qu. 93, Bl. 42r. 80 Mit von Besser: A I, 19 N. 157, N. 186, N. 267. An (von) Spanheim: A I, 13 N. 368; A I, 14 N. 195. An Chuno: A I, 13 N. 366; A I, 19 N. 147. Von Brosseau: A I, 18 N. 166, N. 196, N. 240, N. 259. Dagegen müssen die Abschriften der Leibnizbriefe an den Zeremonienmeister Johann von Besser, die bis 1943 im Brandenburg-Preußischen Hausarchiv in Charlottenburg lagen und heute höchstwahrscheinlich als Kriegsverluste angesehen werden müssen, die aber von E. Berner ([Hrsg.]: Aus dem Briefwechsel König Friedrichs I. von Preußen und seiner Familie [= Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hauses Hohenzollern 1], Berlin 1901, S. 431–443) noch gedruckt werden konnten, auf Abfertigungen zurückgehen, also von der Empfängerseite stammen, da mehrfach der Eingangsvermerk (Praesentatum) mit abgeschrieben worden ist; vgl. ebd., S. 433, Anm. 1 und S. 439, Anm. 1. Bei dem S. 435, Anm. 1, angeführten angeblichen Eingangsvermerk handelt es sich nach der handschriftlichen Korrektur im Exemplar der Leibniz-Editionsstelle Potsdam um einen Vermerk der Beantwortung. 81 Konzepte z. B.: A I, 19 N. 157 und N. 267. Auch die Abschrift von Leibniz’ Dankschreiben an die Académie des sciences (inklusive des nicht abgesandten Postskripts) folgt dem Konzept (A I, 18 N. 204). Abfertigung etwa A I, 18, 196. 82 J. Kvačala: Neue Beiträge (wie Anm. 2), S. IV, der sich auf das Konzept der Antwort Jablonskis vom 29. März 1734 bezieht. 83 Ebd. nennt Kvačala mehrere Punkte, um seine Vermutung, Kapp habe in der Sammlung noch nicht auf Material von Jablonskis Seite zurückgreifen können, zu stützen: 1. der recht späte
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Ernst Jablonski versprochenen Briefe von ihnen erhalten haben, da er sie in seiner handschriftlichen Dissertatio aus dem folgenden Jahr bereits behandeln konnte84. Erscheinungstermin der Ausgabe, elf Jahre nach Jablonskis Antwort (s. vorangehende Anm.) und vier Jahre nach dessen Tod. 2. der fehlende Dank an Jablonski in der Einleitung der Sammlung. 3. die wesentlich geringere Zahl von Leibnizbriefen, die Kapp publizieren konnte. Dazu können drei weitere Argumente angeführt werden: Zum einen scheinen die Vorlagen für die abgedruckten Leibnizbriefe Konzepte gewesen zu sein. Dafür spricht bereits, dass im LeibnizNachlass von keinem der von Kapp gedruckten Briefe ein Konzept überliefert ist. Da nur noch Kapps Druck vorliegt, ist diese Frage allerdings nur schwer anhand der äußeren Merkmale der Textzeugen zu entscheiden. In den Bänden A I, 16 und A I, 17 werden denn auch die verlorenen Abfertigungen der Briefe als Vorlagen genannt. Für diese Einschätzung mag gesprochen haben, dass Kapp häufig Anrede, Datierung und (weniger häufig) die Schlusscourtoisie der Briefe abdruckt – freilich Anrede und Schlusscourtoisie häufig in abgekürzter Form, was – wenn es nicht auf Kapp zurückgeht – nicht eigentlich für eine Abfertigung als Vorlage spricht. Zweifellos gegen eine solche spricht die Überschrift (nicht Anrede!) über einem isoliert gedruckten P.S.: „A Monsieur Jablonski 16. Novembr. 1698“. (A I, 16, 292, Z. 14). Eine derartige Überschrift muss man doch wohl als Beleg dafür lesen, dass sich Leibniz über ein Konzept oder eher noch eine zur eigenen Information zurückbehaltene Abschrift des P.S. Empfänger und Datum notiert hat. Seit Band A I, 18 werden denn auch die verlorenen Konzepte als Vorlagen der in der Sammlung gedruckten Leibnizbriefe angegeben. Zum anderen werden die Briefe von und an Daniel Ernst Jablonskis Bruder Johann Theodor († 1731), den ersten Sekretär der Berliner Akademie, die mit 20 Nummern einen nicht unbeträchtlichen Teil der Sammlung ausmachen, weder von Daniel Ernst Jablonski noch von Kapp in diesem Zusammenhang erwähnt. Schließlich wird die Richtigkeit von Kvačalas Vermutung durch die in der folgenden Anm. zitierten Aussagen Kapps und die in Anm. 86 zitierte Aussage Paul Jablonskis bestätigt. 84 Die im Zitat oben, Anm. 10 ausgelassene Stelle lautet: „et heredibus Danielis Ernesti Jablonskii, Concionatoris Aulici Berolinensis“ (J. E. Kapp: Dissertatio [wie Anm. 7], Bl. 45r–v). Damit kann freilich noch nicht ausgeschlossen werden, dass bereits in die Sammlung Material aus dieser Quelle eingeflossen ist. Hier schaffen seine Ausführungen zu den deutschen unpublizierten Briefen weitere Klärung: „Epistolae Germanicae omnes manu Leibnitii scriptae, tribus exceptis, ab eo tamen subscriptis, ad Danielem Ernestum Jablonskium, Concionatorem Aulicum Berolinensem, ab anno millesimo sexcentesimo nonagesimo octauo, usque ad annum decimum sextum sunt transmissae, numero sexaginta sex, [...]“ (ebd., Bl. 46v–47r). Zum einen ist die zuletzt genannte Zahl von 66 Leibnizbriefen viel höher als diejenige der in der Sammlung abgedruckten Stücke. Sie stimmt ziemlich genau mit Jablonskis eigener (vielleicht überschlägiger) Angabe von 70 Briefen überein. Während das (sicher datierbare) Material der Sammlung nicht über 1704 hinausgeht (siehe unten, S. 103), endet der Briefwechsel, wie er Kapp nun zur Verfügung stand, erst in Leibniz’ Todesjahr. Schließlich scheint es sich hier um die Abfertigungen, nicht um die Konzepte der Leibnizbriefe zu handeln. Weniger die fehlende Charakterisierung als Konzepte (als argumentum e silentio ohnehin nicht stark belastbar, wenngleich Kapp in anderen Fällen den Konzeptcharakter erwähnt; vgl. z. B. ebd., Bl. 59v, wo er von der „delineatio epistolae Latinae ad Regiam Societatem Scientiarum Parisiensem“ spricht), sondern die Aussage, drei der Briefe seien von anderer Hand (also von Leibniz’ Schreiber), aber von ihm unterzeichnet. Bemerkenswert ist übrigens die Zahl von demnach 63 eigenhändigen Ausfertigungen, die sich wohl nur durch Leibniz’ striktes Geheimhaltungsinteresse bzgl. der Unionsverhandlungen erklären lässt. Schließlich bietet Kapp ebd., Bl. 47r–52v, eine ausführliche Inhaltsangabe (mit umfangreichen zusätzlichen Erläuterungen und Exkursen) des ersten in seinem Besitz befindlichen Leibnizbriefes an Jablonski aus dem Jahr 1698 (ein präzises Datum nennt Kapp leider nicht). Dadurch ist dieser Brief eindeutig als der vom 5. April 1698 zu identifizieren (A I, 15 N. 294). Die Sammlung druckt als einzigen Leibnizbrief aus dem Jahr 1698 das Postscriptum vom 26. November (A I, 16 N. 185).
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Kapp hat das von den Erben erhaltene Material jedoch nicht mehr zurückgegeben85. Jedenfalls beklagte sich Jablonskis Sohn Paul gegenüber Heinrich Julius Friedrich Busch am 28. April 1757, seine Familie habe keine einschlägigen Papiere mehr86. In jenem Teil von Kapps Nachlass, der heute im Warschauer Konvolut greifbar ist, sind die Briefe von Leibniz an Jablonski allerdings auch nicht enthalten87. Dort finden sich lediglich Abschriften und Auszüge von Briefen Dritter an Jablonski (Bl. 39–42, 52–57, 153–154, 381), die nicht erst Kapp hat anfertigen lassen, sondern die auf den ursprünglichen Empfänger zurückgehen müssen. Dass es Jablonski selbst gewesen ist, der zumindest einen Teil der Abschriften veranlasst hat, belegt Bl. 41–42. Den ersten Text (Bl. 41r–42r) auf dem Bogen hat er nämlich eigenhändig kopiert. Auf Bl. 42r–v folgen zwei weitere Texte von Schreiberhand. Zu diesen Stücken muss zweifellos der Bogen Bl. 39–40 gerechnet werden, der von derselben Schreiberhand beschriftet worden ist. Zudem sind die Stücke auf dem Bogen Bl. 41–42 mit „num. 2“ beginnend bis „n. 4“ durchnummeriert, so dass die Briefabschrift auf Bl. 39–40 trotz fehlender Nummer als der erste Text der Reihe angesehen werden darf. Eine weitere eigenhändige Abschrift Jablonskis (Bl. 381) war Beilage zu dessen Brief an Leibniz vom 23. Januar 170088, eine dritte (Bl. 153–154)
85 J. Kvačala: Neue Beiträge (wie Anm. 2), S. V. 86 „Ich habe mich ein mahl bemühet, auff Verlangen des Seeligen Herrn Prof. Kappen, ihm auß gedachtem Vorrath die originalien derer vom Seeligen Herrn von Leibnitz an meinen Vater geschriebenen Brieffe zu verschaffen, weil er darauß Seine albereits gedrukte samlung zu verbeßern und zu ergäntzen gedachte: es ist auch wirklich Seinem Verlangen genüge geleistet worden; allein nachdem er diese Brieffschafften bey 12 Jahr in handen gehabt, ist er verstorben, ohne daß etwas weiter zum Vorschein gekommen wäre, und nach Seinem Tode haben sich auch so gar die geliehene originalia nicht einmahl finden wollen, was man auch dieserhalb vor mühe angewand hat“. (Paul Jablonski an Busch, 28. April 1757; LH I 17 Bl. 137–138, hier Bl. 137v–138r). Busch († 1758) war ein junger Theologe, der von dem damaligen Hannoveraner Bibliothekar Christian Ludwig Scheidt auf die Edition der in der Bibliothek liegenden Dokumente und Abschriften über die Reunionsbemühungen von Leibniz und Gerhard Wolter Molanus mit dem Bischof von Wiener Neustadt, Cristobal de Rojas y Spinola (1626–1695), angesetzt worden war. Wegen kirchenpolitischer Bedenken erhielt Busch jedoch keine Druckerlaubnis für die fertiggestellte Ausgabe; siehe G. Utermöhlen: „Handschriftliches Material von und über Christoph de Rojas y Spinola in der hannoverschen Landesbibliothek“, in: H. Otte/R. Schenk (Hrsg.): Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Rojas y Spinola – Molan – Leibniz (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 37), Göttingen 1999, S. 120–132, hier S. 124–129. 87 Sieht man von der Sankt Petersburger Überlieferung ab, scheint der Leibniz-Jablonski-Briefwechsel der einzige Fall zu sein, in dem Kapps Dissertatio mehr Material nennt, als heute im Warschauer Konvolut überliefert ist. Dass sie auf der anderen Seite vieles nicht erwähnt, hat Kapp selbst erklärt: „Tandem vero ad Leibnitii Schedas manuscriptas deueniendum est, quarum variae sunt argumenti Theologici, sicco pede a me praetereundae, [...]“ (J. E. Kapp: Dissertatio [wie Anm. 7], Bl. 64r); zur Frage der nicht aus Berlin stammenden Manuskripte siehe oben, S. 93. 88 A I, 18 N. 181. Wie Jablonski mitteilte, hatte er vergessen, den Auszug an Johann Fabricius zu senden, und bat Leibniz um die Weiterleitung (ebd., S. 299, Z. 25–27). Auf der noch freien unteren Hälfte von Bl. 381v findet sich denn auch ein (Teil-)Konzept seines Briefes an Fabricius (A I, 18 N. 192), mit dem er den Auszug weiterleitete.
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zu seinem Schreiben vom 9. August 170389. Die beiden zuletzt genannten Briefe hat Kapp in seiner Sammlung publiziert90. Dagegen finden die Abschriften auf Bl. 39–42 keine Erwähnung in Jablonskis Briefen an Leibniz. Möglicherweise hat der Berliner Hofprediger sie persönlich bei einem von Leibniz’ Aufenthalten in der brandenburgisch-preußischen Hauptstadt übergeben91. Der umfangreiche Auszug aus einem Brief des Lausanner Theologen Jeremias Sterky (Bl. 52–57) ist wohl von Johann Fabricius mit dessen ebenfalls im Warschauer Konvolut überlieferten Brief vom 1. Dezember 1699 (Bl. 191–192) übermittelt worden92. Jedenfalls stammen diese Manuskripte kaum aus dem Familienbesitz, in dem man ohnehin die Originale erwarten möchte93. Wie diffizil die Frage nach der Vorlage sein kann, sei an einem anderen Fall demonstriert. Im Warschauer Konvolut sind Abschriften des Briefes und des dann nicht abgesandten Postskripts an die Pariser Académie des sciences enthalten, in denen sich Leibniz für die Aufnahme unter ihre Mitglieder bedankt (Bl. 388–389, 397)94. Fragt man, welche Vorlage ihnen zugrunde gelegen hat, ergeben sich drei Möglichkeiten: Die Vorlage könnte 1. unter den nicht erhaltenen Konzepten zu suchen sein, die in Berlin gelegen haben müssen, 2. unter den Abschriften von diesen Konzepten, die in Jordans bereits erwähnten Ms. Gall. qu. 93 erhalten sind95, schließlich 3. im Druck der beiden Texte in Jordans 1730 anonym erschienenen Recueil de littérature, de philosophie et d’histoire96. Obwohl ein erstes lateinisches Konzept des Dankesbriefes im Original im Warschauer Konvolut – und nur dort – überliefert ist (Bl. 159) und obwohl Jordan Kapp viel Material überlassen hat, gehen die Warschauer Abschriften weder direkt auf die Konzepte noch auf Jordans Abschriften in Ms. Gall. qu. 93, sondern auf den Druck von 1730 zurück97. 89 A I, 22 N. 314. 90 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 109–115, 328–332. 91 Vielleicht darf man Leibniz’ Mitteilung an Fabricius in einem Brief aus Berlin vom 29. Mai 1700 als Beleg für diese Annahme lesen: „Communicavit Dn. Jablonskius nonnulla mecum, quae Scultetus Hamburgensis cum Picteto et Sterkio Helvetiis vel scriptis editis vel per literas disputat, [...]“ (A I, 18, 686, Z. 3–5). Auf Bl. 39–40 findet sich die Kopie eines Briefes von Daniel Severin Scultetus an Jeremias Sterky vom 27. Dezember 1699, auf Bl. 41–42r die eines Briefes desselben an Bénédict Pictet vom Oktober 1699. Die 1699 veröffentlichte Amica disceptatio cum […] B. Picteto, de rebus inter protestantes controversis des Scultetus hatte Jablonski bereits am 18. November desselben Jahres an Leibniz gesandt. Dessen Stellungnahme zu dem Werk findet sich ebenfalls im Warschauer Konvolut (Bl. 66); vgl. A IV, 8 N. 60. 92 A I, 17, 668, Erl. zu Z. 6. 93 Im Warschauer Konvolut findet sich dagegen die Abfertigung eines Billets von Jablonskis Hand (Bl. 407). Allerdings ist nicht klar, wie das Blatt an Leibniz gekommen ist, da sich auf ihm ein Eintrag von einer weiteren Hand findet, die der Arbeitskatalog der Leibniz-Edition – wohl fälschlich – Jobst Christoph Reiche zuschreibt. 94 A I, 18 N. 204. 95 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. Gall. qu. 93, Bl. 57r–59r. 96 [Ch. E. Jordan]: Recueil de littérature, de philosophie et d’histoire, Amsterdam 1730, S. 147–152. 97 Hier können nur die wichtigsten Beobachtungen genannt werden, die auf diesen Schluss führen: Die Überschrift der Warschauer Abschrift entspricht bis auf das ausgelassene erste Wort („Voici“; auch in Ms. Gall. qu. 93) exakt dem Druck (allerdings unterscheidet sich Ms. Gall. qu. 93 von beiden lediglich durch „écrit“ statt „écrivit“). Ähnliches gilt für die Überschriften
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II.3 Jetzt endlich ist der Punkt erreicht, von dem aus ein Überblick über das Berliner Material im Warschauer Konvolut gegeben werden kann. Dabei ist keine Vollständigkeit bis auf jedes einzelne Stück hinunter intendiert, vielmehr gilt es, die Überlieferung in ihren hauptsächlichen Bestandteilen zu charakterisieren. In Anlehnung an den ausführlichen Titel der Sammlung beginne ich mit den beiden großen Themen, den Bemühungen um eine Union der Lutheraner und Reformierten und der Akademiegründung. Der quantitativ umfangreichste Teil betrifft die Unionsbemühungen, die Kapp denn auch im Titel vorangestellt hat. Seine Entscheidung, die deutschsprachigen Briefe und Schriften in der Sammlung zu publizieren, die fremdsprachigen aber in einem besonderen Band, für den das Warschauer Material die Grundlage bilden sollte, hat thematisch und faktisch Zusammengehörendes auseinander gerissen, weil er sie häufig strikt und ohne Rücksicht auf etwaige Zusammenhänge durchgeführt hat. Zum vollen Verständnis des Berliner Materials im Warschauer Konvolut, vor allem aber für einen Überblick über Leibniz’ Berliner Schreibtisch, müssen die gedruckte Sammlung und gegebenenfalls weitere Überlieferungen ständig ergänzend herangezogen werden. Im Falle der Unionsbemühungen hat die Sprachentscheidung zu vergleichsweise übersichtlichen Ergebnissen geführt: Der Briefwechsel mit dem Berliner Hauptgesprächspartner, dem reformierten Hofprediger Daniel Ernst Jablonski, wurde auf Deutsch geführt, weil die brandenburgische Kurfürstin und spätere preußische Königin Sophie Charlotte, welche die Briefe mitlesen wollte, das in einer Gelehrtenkorrespondenz über theologische Fragen an sich zu erwartende Latein nicht beherrschte, während Jablonski das höfische Französisch nicht sprach98. Fremdsprachige Beilagen, die Jablonski seinen Briefen beigelegt oder persönlich Leibniz übergeben hatte, hat sich Kapp allerdings für den zweiten Band aufgespart99. Jene 66 Leibnizbriefe, von denen er in seiner Dissertatio berichtet, stammen nicht von Leibniz’ Schreibtisch und bleiben daher unberücksichtigt. Schrecker hat darauf hingewiesen, dass der in der Sammlung publizierte Briefwechsel zwischen Leibniz und Jablonski im Jahr 1704 endet. Er hat daraus, zweifellos mit Recht, geschlossen, Kapp müsse eine bewusste Auswahl vorgefunden haben und diese Auswahl sei nicht erst nach Leibniz’ Tod, sondern von diesem selbst getroffen worden100. Als Anlass und Zeitraum dieser Auswahl hat er Leibniz’ Reise nach Berlin
zum P. S. und zu dem Briefauszug über das Barometer. Wie im Druck fehlt in der Warschauer Abschrift die Wendung „que j’ay eu ordre de rechercher“, (A I, 18, 348, Z. 15). Dazu kommen zahlreiche kleine Übereinstimmungen zwischen dem Druck und der Warschauer Abschrift gegen Ms. Gall. qu. 93. 98 J. Kvačala: Neue Beiträge (wie Anm. 2), S. VI mit Anm. 25. 99 Siehe oben, S. 94 und unten S. 114. 100 J. Kvačala: Neue Beiträge (wie Anm. 2), S. XII, hatte es dagegen als „wahrscheinlicher“ angesehen, dass „durch Andere“ die aus derselben Quelle wie der ‚Berliner Kern‘ des Warschauer Konvoluts stammende Leibniz-Jablonski-Korrespondenz in Kapps Sammlung „aus dem Ganzen des Leibniz’schen Besitzes [...] herausgenommen worden“ sei.
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im August 1704 ausgemacht101. Diese letzte Vermutung fasst allerdings, vor allem, wenn man sie auf das gesamte Material von Leibniz’ Berliner Schreibtisch bezieht (Schrecker ist hier nicht ganz deutlich), die Sache zu eng auf. Darauf wird zurückzukommen sein102. Im Vergleich zu Jablonski treten andere theologische Gesprächspartner auf der Berliner Seite stark zurück. Der reformierte Hofprediger Benjamin Ursinus (von Bär) trat 1703 zunächst mit dem Kirchendirektor Gerhard Wolter Molanus in Verbindung, auf hannoverscher Seite der wichtigste Kirchenmann und für Leibniz der engste Mitstreiter, zwei Jahre später dann auch mit Leibniz direkt. Letzterer war allerdings bereits zuvor stärker involviert, da er bei wichtigen Schreiben für Molanus Stichwortzettel lieferte oder dessen Briefe gleich ganz konzipierte. Auch diese Korrespondenz wurde auf Deutsch geführt. Hier war Kapp in seiner Trennung allerdings nicht ganz konsequent, so dass sich neben dem, was in der Sammlung gedruckt ist103, auch ein Briefentwurf von Leibniz in Molanus’ Namen im Warschauer Konvolut findet104. An der Ursinus-Korrespondenz in der Sammlung und im Warschauer Konvolut lässt sich dieselbe Beobachtung machen, die Schrecker für den Jablonski-Briefwechsel beschrieben hat: Sie geht nicht über die Mitte des Jahres 1704 hinaus. Insgesamt überwiegen im Berliner Material jedoch die mit den hannoverschen Mitstreitern gewechselten Briefe. Aus der Korrespondenz mit dem eben genannten Molanus enthält das Warschauer Konvolut knapp zwei Dutzend Briefe oder Beilagen. Dabei halten sich die Sendungen von Leibniz (Bl. 72–79, 109–111, 128–129, 343) und an ihn (Bl. 105, 109, 113–127, 131–134, 137) ungefähr die Waage. Da diese Korrespondenz nicht auf Deutsch geführt wurde, ist sie in der Sammlung nicht vertreten. Im Verhältnis zum gesamten Austausch zwischen Leibniz und Molanus in dieser Zeit ist die Warschauer Überlieferung ziemlich beschränkt. Bei manchen Stücken bleibt unklar, was Leibniz mit ihnen in Berlin wollte. Es wäre zudem eine unberechtigte Engführung, in den Unionsgesprächen das einzige für Berlin relevante Thema dieses Briefwechsels zu sehen. So bietet das Warschauer Material etwa auch einen Brief, in dem sich Molanus zu dem Reunionskonzept des Benediktinerabts Nikolaus von Zitzewitz geäußert hat105, das auch in der Warschauer Überlieferung aus 101 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 12: „[...] ce qui nous frappe, c’est que tant la correspondance avec Jablonski publiée par Kapp que les compléments du recueil de Varsovie sont antérieurs au voyage à Berlin que Leibniz entreprit en octobre 1704“. Er kommt zu dem Schluss: „La seule conclusion à tirer de cette réflexion, c’est que Leibniz lui-même a dû faire ce choix avant la fin de 1704 et que c’est lui qui aurait apporté à Berlin tant les pièces publiées par Kapp que celles de Varsovie“. (Ebd.). 102 Siehe unten, S. 107. 103 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 421–424, 425–431, zwei Entwürfe von Leibniz für Molanus’ Korrespondenz mit Ursinus. Ebd., S. 363–365, 418–419, zwei Briefe des Ursinus an Molanus und ebd., S. 405–411, ein Gegenbrief. 104 Im Zusammenhang mit Leibniz’ Brief an Molanus von Ende 1703 oder Anfang 1704 und einer Stichwortliste für die Beantwortung des Schreibens des Ursinus vom 18. Dezember 1703. Alle drei finden sich auf Bl. 128–129 (A I, 22 N. 448–450). 105 A I, 17 N. 360.
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dem Fabricius-Briefwechsel eine Rolle spielt106. Der Schwerpunkt der Überlieferung liegt gleichwohl auf den Unionsgesprächen. Allerdings weniger auf dem Austausch zwischen Hannover und Berlin als vielmehr auf jenen Stellungnahmen und Interventionen von dritter Seite, von denen sich sowohl Leibniz als auch Molanus irritiert und gestört sahen107. Kaum weniger umfangreich ist der Briefwechsel mit dem Helmstedter Theologen Johann Fabricius im Warschauer Konvolut vertreten (Bl. 169, 184–252 [vermischt mit den Abschriften], 381, 402–403). Auch diese durchgehend lateinisch geführte Korrespondenz fehlt in der Sammlung. Kapp hatte die Stücke seinem Freund Christian Kortholt zur Verfügung gestellt, wie dieser in seiner Vorrede erklärt108. Kortholt hat acht von Fabricius’ Schreiben auszugsweise im Appendix zum ersten Band veröffentlicht109. Ihre Trennung von den 118 durch Kortholt publizierten Briefen von Leibniz an Fabricius, die er nicht von Kapp, sondern von dem Adressaten selbst erhalten hatte110, erklärt sich wohl daraus, dass Kapps Material erst zur Verfügung stand, als der Band bereits weitgehend gedruckt war111. Da es sich bei den in Warschau überlieferten Fabricius-Briefen um Abfertigungen handelt, bei den dort liegenden Leibniz-Schreiben aber um eigenhändige (Teil-)Konzepte oder Auszüge, müssen diese Manuskripte von Leibniz’ Seite kommen112. Mit den Korrespondenten Jablonski, Ursinus, Molanus und Fabricius sind zudem die wichtigsten Mitstreiter und Gesprächspartner der Unionsbemühungen genannt. Neben ausgewählten Stücken aus ihrer Korrespondenz hatte Leibniz mehrere Aufzeichnungen und Ausarbeitungen zu diesem Thema in Berlin deponiert. Unter ihnen fehlen allerdings die Hauptschriften. Das „Unvorgreiffliche Bedencken“, Leibniz’ und Molanus’ Antwort auf Jablonskis „Kurtze Vorstellung“, mit deren Übergabe in Hannover Ende 1697 das ökumenische Gespräch zwischen Berlin und Hannover einsetzte, findet sich nicht in Kapps Sammlung, ebenso wenig wie Jablonskis „Kurtze Vorstellung“. Vom „Tentamen expositionis irenicae“ ist in
106 Ebd. N. 378, N. 397–398, N. 419. 107 A I, 17 N. 363, N. 377, N. 399–400; A I, 18 N. 139–140; A I, 22 N. 415, N. 438, N. 448–450; A I, 23 N. 369; siehe auch unten, S. 111. 108 „Aliquas tamen epistolarum ven[erabilis] Abbatis Io[hannis] Fabricii ad Leibnitium scriptarum, proxeneta celeberrimo viro Io[hanne] Erh[ardo] Kappio, Fautore meo aestumatissimo, ad quem C[ar]l[i] Iordani, amici Berolinensis doctissimi, beneficio vna cum nonnullis aliis M[anu]sc[riptis] peruenerant, impetraui, quae Leibnitianas illuminant egregie.“ (G. W. Leibniz: Epistolae ad diversos [wie Anm. 27], Praefatio, Bl. [)()( 7]v. Auf die Wiedergabe der exzessiv eingesetzten Kapitälchen zur Hervorhebung der Eigennamen in der Praefatio wurde verzichtet). 109 Ebd., S. 456–467. Es handelt sich um die Briefe A I, 17 N. 378, N. 397, N. 398; A I, 22 N. 266, N. 299, N. 357, A I, 23 N. 87, N. 186. 110 Siehe den Beitrag von Nora Gädeke in diesem Band. 111 Kapp hatte das Material erst 1733 von Jordan erhalten (siehe oben, Anm. 13), der erste Band der Epistola ad diversos ist 1734 erschienen. 112 Unklar bleibt das Verhältnis zwischen den beiden Kortholt-Drucken der „Remarques sur la perception réelle“ und ihrem in Warschau überlieferten Konzept (Bl. 405–406); vgl. A IV, 8, 379, Z. 17–23 und unten Anm. 120.
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Warschau lediglich eine von Kapp veranlasste Abschrift nach dem Druck in Speners Consilia überliefert113. Die Publikation dieses Textes wäre, obwohl er bereits gedruckt vorlag, durchaus gerechtfertigt gewesen, verfügte Kapp doch über Leibniz’ Stellungnahme zu einer Kritik des „Tentamen“ durch einen ungenannten, aber zweifellos reformierten Autor (Bl. 33)114. Handelte es sich hier um eine Stellungnahme in eigener Sache, sah sich Leibniz zunehmend zur Auseinandersetzung mit Schriften lutherischer wie reformierter Theologen gezwungen, die ihrerseits Unionsvorschläge ins Spiel brachten, sehr zu seinem Missvergnügen, da er sich Erfolg nur von informellen, ja zunächst geheimen Verhandlungen im kleinen Kreis versprach. Von Jablonski erhielt er im November 1699 eine Schrift, in der sich der Hamburger Lutheraner Daniel Severin Scultetus mit dem Genfer Calvinisten Bénédict Pictet auseinandersetzte. Ein kommentiertes Exzerpt von Leibniz’ Hand ist im Warschauer Material überliefert (Bl. 66)115. Einige Wochen später sandte ihm Fabricius eine Unionsschrift, die der Superintendent von Bardowick, Heinrich Ludolf Benthem, unter dem Pseudonym Pacificus Verinus veröffentlicht hatte. Leibniz’ deutschsprachige Stellungnahme hat Kapp in seiner Sammlung gedruckt, sie muss demnach in Berlin gelegen haben116. Ein Gutachten eines reformierten Theologen aus Kassel über den Pacificus Verinus, das von Jablonski über Fabricius an Leibniz gelangt war, hat Kapp ebenfalls publiziert117. Ein lateinisches Exzerpt von Fabricius’ Hand aus Jablonskis Stellungnahme zum Pacificus Verinus und dessen Kritik durch den Helmstedter Theologen Friedrich Ulrich Calixt findet sich dagegen in Warschau (Bl. 167). Dort befinden sich auch seine Aufzeichnungen zu einer irenischen Schrift des hugenottischen Berliner Predigers Paul Daniel Fetizon, die Jablonski an Leibniz während dessen Berlin-Aufenthalt von Mai bis August 1700 ausgeliehen hatte (Bl. 92–93)118, ebenso wie Annotationen zu einem Manuskript „de concordia ineunda inter protestantes Augustanae Confessionis et Reformatos“, als dessen Autor nachträglich der reformierte Berliner Hofprediger Isaac Jaquelot bezeichnet ist (Bl. 27–28). Wiederum in Kapps Sammlung ist eine kurze Stellungnahme zu einer im Jahr 1702 anonym publizierten Unionsschrift gedruckt119. Von Leibniz’ Berliner Schreibtisch stammen die thesenförmigen und vielleicht für das hugenottische Milieu in Berlin und Brandenburg bestimmten „Remarques sur la perception réelle“ (Bl. 405–406). Kortholt, der sie gleich zweimal gedruckt hat, hatte seine Vorlage von Kapp erhalten, die dieser wiederum von Jordan bekommen haben soll120. 113 114 115 116 117 118 119 120
Siehe oben, S. 90 f. A IV, 8 N. 56. Ebd. N. 60. J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 213–222; A IV, 8 N. 61. Ebd., S. 222–226. A IV, 8 N. 62. J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 324–325. A IV, 8 N. 65. Kortholt hat das Stück zuerst in seinem Recueil de diverses pieces sur la philosophie, les mathematiques, l’histoire etc. par M. de Leibniz (Hamburg 1734, S. 15–18) dann im 3. Band der Epistolae (Leipzig 1738, S. 100–103) gebracht. In der dortigen Vorrede erklärt er zur Herkunft: „Observationes de praesentia sacramentali, quae sequuntur, viro celeberrimo
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Im Vergleich zu den Exzerpten, Notizen und Ausarbeitungen, die auf fremde Schriften reagieren, sind jene, die entweder der Vorbereitung des „Unvorgreifflichen Bedenckens“ dienten oder dessen Argumentation weiterführen oder neu formulieren, in der Minderzahl. Sicherlich ist vom Berliner Schreibtisch eine in zwei Fassungen erhaltene Aufzeichnung in das Akademie-Archiv gelangt, in der Leibniz die reformierte Prädestinationslehre durch eine eigenartige Kombination von tabellarischer und gleichnishafter Darstellung zu erklären sucht121. Die Abhängigkeit von einem Brief, den er am 4. März 1698 an Molanus gesandt und in dem er in derselben Art das Problem erläutert hatte122, datiert diese Aufzeichnung in den Zeitraum, in dem Leibniz und Molanus an einer Antwort auf Jablonskis „Kurtze Vorstellung“ arbeiteten. Die Argumentation hat jedoch keine Aufnahme in das „Unvorgreiffliche Bedencken“ gefunden, ebenso wenig wie eine von Leibniz vorgeschlagene Ergänzung zu den Ausführungen über die Beharrlichkeit in der Gnade, die Kapp in seiner Sammlung abgedruckt hat123. In Warschau ist von Leibniz’ Arbeitsmaterial lediglich ein Zettel mit einschlägigen Exzerpten überliefert (Bl. 344)124. Die bereits erwähnte, wohl nicht ganz fertig gewordene Ausarbeitung, in der Leibniz in knappen Thesen zeigen wollte, dass auch die Reformierten eine wahrhafte Teilhabe an Leib und Blut Christi im Abendmahl akzeptieren könnten, ist sicherlich erst nach dem „Unvorgreifflichen Bedencken“ entstanden (Bl. 405–406)125. Schreckers Beobachtung zur zeitlichen Begrenzung der von Leibniz’ Berliner Schreibtisch stammenden Stücke aus dem Briefwechsel mit Jablonski besitzt nicht nur Parallelen in den Korrespondenzen mit Ursinus, Molanus und Fabricius, sondern lässt sich auch an Leibniz’ Aufzeichnungen zur Unionsfrage beobachten. In diesem letzten Fall liegt allerdings der Schwerpunkt der Überlieferung früher, nämlich bei den Texten aus der Zeit um 1700. Gleichwohl ist Schreckers Erklärung des Befundes, es handele sich bei dem Material um die von Leibniz zu seinem Besuch in Berlin im Jahre 1704 mitgenommenen Unterlagen, doch wohl zu eng126. Die von ihm beobachtete zeitliche Begrenzung trifft zwar auf das Material zu den Unionsbemühungen zu, nicht jedoch, wie sich zeigen wird, auf dasjenige zur Berliner Sozietät der Wissenschaften und zu Themen der dynastischen Politik. Somit stellt sich die Frage, ob nicht (auch) inhaltliche Gründe für die beobachtete zeitliche Begrenzung verantwortlich sind. Ohnehin wurde zwei Jahre später die Fortführung der
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Io. Erhardo Kappio […] acceptas refero, ad quem benevolentia Clarissimi Iordani […] una cum aliis Leibnitianis pervenerant“. (Ebd., Bl. bv–b2r). Ob Kortholts Drucke – über die Zwischenstation einer Abschrift – auf das Konzept zurückgehen oder ob neben ihr noch eine vom Konzept leicht abweichende Reinschrift vorgelegen hat, ist nicht mehr zu klären. Siehe oben, Anm. 46. A I, 15 N. 247. J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 9–11; A IV, 7 N. 64. A IV, 7 N. 69. Siehe oben, Anm. 120. Siehe oben, S. 103 f.
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Unionsverhandlungen sowohl vom preußischen König wie vom hannoverschen Kurfürsten untersagt127. Einen zweiten Schwerpunkt im Warschauer Konvolut wie in der Sammlung bilden Betreffe zur Akademie(-gründung) und allgemeiner zu brandenburgisch-preußischen Belangen. In Warschau sind mehrere Briefe von (ins Auge gefassten) Mitgliedern überliefert128. Dazu kommen vor allem Denkschriften zu verschiedenen Themen129. Hier findet sich auch ein Dispositionsschema für Leibniz’ Vortrag vor den Mathematikern am 27. Dezember 1706 (Bl. 335).130 Dieses Blatt belegt, dass die in Berlin zurückgelassenen Unterlagen nach 1704 noch Zuwachs erhalten haben131. Die in Warschau überlieferten Texte zu diesen Themen stehen in Umfang und Bedeutung weit zurück gegenüber dem in der Sammlung publizierten Material132. Hier stammt der jüngste datierte Text vom 10. Januar 1707133. Beide Themen, nämlich nicht nur die Belange der Akademie, sondern auch solche der dynastischen Politik sind aber vor allem im Berliner Akademiearchiv überliefert. Diese Überlieferung ist sicherlich mit Schrecker auf Leibniz’ Berliner Schreibtisch zurückzuführen134. Dabei überwiegen im Bestand ‚Nachlaß Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)‘ die Papiere zur dynastischen Politik jene zur Akademie, selbst wenn man das gesamte Material zur Kalenderreform den Akademie-Betreffen zurechnet (diese sollte sich ja aus ihrem Kalendermonopol finanzieren). Auch hier lässt sich wiederum beobachten, dass Ausarbeitungen zur Oranischen Erbschaft oder zum Anspruch auf Neuchâtel bis in das Jahr 1707 reichen. Die von Schrecker beobachtete zeitliche Grenze in den Schriften und Briefen zur Unionsfrage hängt demnach wohl mit den Konjunkturen des ökumenischen Gesprächs zusammen, nicht mit einem einmaligen Transport von Papieren nach Berlin. Zweifellos hat Leibniz einen guten Teil der in Warschau überlieferten Stücke aus Hannover mitgebracht, auf die Art und Weise und aus den Gründen wie von 127 W. Delius: „Berliner kirchliche Unionsversuche im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 45 (1970), S. 7–121, hier S. 50. K. Müller/G. Krönert: Leben und Werk (wie Anm. 30), S. 202. 128 Von Andreas Acoluthus vom 31. Januar 1701: Bl. 160 (A I, 19 N. 184), und vom 6. Dezember 1700: Bl. 162–163 (A I, 19 N. 134); von Johann Christoph Klim vom 13. September 1700: Bl. 173–174 (A I, 19 N. 85); von Philipp Müller vom 6. Sept. 1700: Bl. 171–172 (A I, 19 N. 80); von Georg Wolfgang Wedel vom 31. März 1704: Bl. 165–166. 129 Etwa zur Prinzenerziehung: Bl. 272–275 (publiziert von J. Kvačala: „Neue Leibnizsche Fragmente“ [wie Anm. 2]); zu einem Commercien-Collegium: Bl. 325–327; zu einer Medaille auf Friedrich I.: Bl. 357–358. In diesen Kontext gehört auch der Brief an Alexander zu DohnaSchlobitten vom 30. August 1700: Bl. 182 (A I, 18 N. 480). Dazu kommt noch ein Exzerpt zur Akademie (Bl. 336) und ein vielleicht von Johann von Besser abgefasster Bericht über die Akademiegründung, der sich auf Leibniz’ Vorarbeit stützt (Bl. 333; A IV, 8 N. 132). 130 H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (wie Anm. 8), Nr. 22, S. 193–194. 131 Siehe oben, S. 103 f. Wenn Brather (Leibniz und seine Akademie [wie Anm. 8], S. XII) ohne weitere Begründung das Jahr 1707 nennt, in dem Leibniz dieses Material in Berlin zurückgelassen habe, hat er diesen Zeitpunkt wohl aus der jüngsten sicheren Datierung der Papiere erschlossen. 132 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 168–178, 189–197, 226–229, 301–306, 433–465. 133 Ebd., S. 463–465. 134 Siehe oben, Anm. 43.
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Schrecker dargestellt. Aber warum sollte Leibniz bei seinen nicht seltenen Aufenthalten in der brandenburgisch-preußischen Hauptstadt nicht mehrfach Material mitgenommen haben? Sollte er dort etwa nichts geschrieben haben oder alles, was er dort geschrieben hatte, bei seiner Abreise mit nach Hannover genommen haben? Um es dann womöglich bei der nächsten Reise an seinen Entstehungsort zurückzubringen? Das ist, jedenfalls als Regel, wenig wahrscheinlich. Im Einzelfall kann der Weg in das Warschauer Konvolut jedoch tatsächlich so kompliziert sein. So erhielt Leibniz einen Brief von Andreas Acoluthus, den dieser am 6. Dezember 1700 an ihn nach Berlin adressiert hatte, erst Mitte Januar 1701 von dort nach Hannover nachgeschickt135. Gleichwohl muss er das Schreiben bei einer späteren Reise wieder dorthin mitgenommen haben, denn es zählt zum ‚Berliner Kern‘ des Warschauer Materials (Bl. 162–163). In anderen Fällen wäre ein derartiger Weg aber mehr als unwahrscheinlich. Warum etwa hätte Leibniz ein an sich so ephemeres Schriftstück wie jenen Merkzettel (Bl. 348) mit Stichpunkten zu Dingen, die er in Berlin erledigen wollte und die er sich sicherlich auch dort während seines Aufenthalts im Jahr 1700 notiert hat136, am Ende seines Aufenthalts zunächst mit nach Wien, wohin er von Berlin über Halle, Wolfenbüttel und den böhmischen Badeort Teplitz reiste, von dort nach Hannover und schließlich wieder zurück nach Berlin nehmen sollen? Doch wohl zu stereotyp hat Schrecker von sämtlichen Berliner Papieren, die nicht den beiden Themen Akademie und protestantische Union gewidmet sind, gemeint, sie seien zufällig in diese Dossiers geraten137. Im Einzelfall möchte man dem gerne zustimmen. Wie sonst lässt sich die Warschauer Überlieferung eines Zettels (Bl. 350) erklären, der unter anderem eine Notiz über Leibniz’ Erkrankung auf dem Weg nach Wien im September 1700 bietet138? Oder Notizen (Bl. 351) zu biographischem Material über Cristobal de Rojas y Spinola, dessen Nachlass Leibniz Ende Oktober/November 1700 in Wien durchgearbeitet hatte139? Andererseits: Sollte das Promemoria zur Reorganisation des Reichsarchivs ebenfalls nur zufällig unter diese Papiere geraten sein? Und das gleich im Konzept (Bl. 256–257) und in einer Reinschrift (Bl. 254–255)? In diesem Fall möchte man doch eine Intention vermuten – schon weil sie Anlass zu spannenden Überlegungen gibt, wie Leibniz diese Blätter in Berlin wohl einsetzen wollte140. Einen Anlass könnte etwa das von dem brandenburgischen Geheimen Rat Heinrich Rüdiger von 135 A I, 19, 290, einleitende Erläuterung zu N. 134. 136 A IV, 8 N. 76. Dann müsste Leibniz bereits bei seinem Aufenthalt im Jahr 1700 Aufzeichnungen in Berlin zurückgelassen haben. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass derartige Agenda-Listen von Leibniz mitgenommen wurden, wie die Überlieferung des sicherlich in Berlin während desselben Aufenthalts entstandenen Exemplars A IV, 8 N. 77 in Hannover zeigt. 137 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 11. 138 Obwohl die Notiz lateinisch ist, hat sie Kapp in seine Sammlung (wie Anm. 13), S. 209–210, aufgenommen. 139 A IV, 8 N. 46. 140 A IV, 8 N. 106. J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 468–469, bringt einen deutschen Text, der inhaltlich eng an A IV, 8 N. 106 anschließt und ebenfalls auf das Berliner Material zurückgehen muss; jetzt ediert in A IV, 8 N. 107.
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Ilgen angeforderte Promemoria zur Sammlung brandenburgisch-preußischer Urkunden und Aktenstücke geboten haben, das Leibniz am 20. Januar 1706 nach Berlin gesandt hat141. Eine in Kapps Sammlung unter dem Titel „Desiderata zum Codice Diplomatico continuando“ gedruckte Desideratenliste zu Archivalien, die Leibniz (vorgeblich) für die Fortsetzung seines Codex juris gentium diplomaticus interessierten, die er aber wohl in erster Linie für sein publizistisches Eingreifen in den spanischen Erbfolgestreit auf der Seite Habsburgs benötigte, ließe sich als Beleg interpretieren, dass Leibniz auch in Berlin einschlägiges Material zu finden hoffte142. Einzelne in Warschau überlieferte Stücke aus den Briefwechseln mit Molanus und Fabricius deuten zudem darauf hin, dass Leibniz sich in Berlin auch für Fragen der Reunion zwischen Protestanten und Katholiken interessiert hat143. Vielleicht waren es die Diskussionen des Jesuiten Carlo Maurizio Vota mit den drei reformierten Hofpredigern in Berlin oder dessen Gedankenaustausch mit Leibniz selbst144, die letzteren auch in der brandenburgisch-preußischen Hauptstadt auf dieses Thema verwiesen. Bezieht man in die Rekonstruktion von ‚Leibniz’ Berliner Schreibtisch‘ in stärkerem Maße, als dies Schrecker möglich und im Rahmen seiner Fragestellung sinnvoll war, die außerhalb Warschaus zerstreut überlieferten Fragmente des von Jordan gesammelten Materials ein, wird man seine Interpretation – in freilich geringem Ausmaß – neu akzentuieren müssen. Schrecker ist zunächst einmal zuzustimmen, wenn er feststellte, dass die Auswahl dessen, was aus Berlin überliefert ist, auf Leibniz selbst zurückgehe145. Allerdings wird man diese Feststellung in dreifacher Hinsicht relativieren müssen. Zum einen lassen sich zwar gewisse Schwerpunkte (Unionsverhandlungen, Akademie, politisch-dynastische Belange) – ja man könnte vielleicht auch von Dossiers reden – ausmachen. Allerdings geht es nicht an, alles das, was nicht zu diesen Themen passt, als versehentlich unter diese Papiere gerutscht zu qualifizieren. Leibniz hat eben nicht nur – und sicherlich nicht nur einmal – zu Dossiers zusammengestellte Papiere aus Hannover nach Berlin mitgebracht, er ist dort selbstverständlich auch schreibend tätig gewesen und hat zudem dort Briefe und Manuskripte anderer empfangen. Das relativiert den Begriff ‚Auswahl‘ im Blick auf Leibniz’ Handeln erheblich oder schränkt ihn, besser gesagt, auf einen Teil der Papiere ein.
141 Klopp X, 392–394, danach auch in A. Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, Bd. 2, Nr. 82, S. 166–167. 142 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 465–468; A IV, 8 N. 13. Für die Mantissa codicis juris gentium hatte Leibniz Material aus dem Berliner Archiv erhalten; vgl. ebd., S. 44, Erl. zu Z. 7. Dass Leibniz die Fortsetzung seines Codex gerne anführte, um an politisch brisante Dokumente zu gelangen, hat N. Gädeke gezeigt („Im Vorfeld des Spanischen Erbfolgekrieges. Leibniz bringt seine historischen Kollektaneen zum Einsatz“, in: Th. Wallnig/Th. Stockinger/I. Peper/P. Fiska [Hrsg.]: Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession, Berlin-Boston 2012, S. 485–511). 143 A I, 17 N. 378, N. 397–398, N. 419 (Fabricius) und N. 360 (Molanus); siehe oben, S. 104. 144 Vgl. A I, 22, LXIV, LXVI–LXVII. 145 Siehe oben, Anm. 101.
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Zum anderen hat dann nach Leibniz’ Tod doch eine gewisse Auswahl in dem Sinne stattgefunden, dass Jordan sein Material an verschiedene Gelehrte verteilt hat, nachdem er selbst auf dessen Publikation verzichtet hatte. Manches mag auch erst nach seinem Tod in verschiedene Hände und Archive gelangt sein146. Ein Blick allein auf Kapps Sammlung und den ‚Berliner Kern‘ des von ihm zusammengetragenen Warschauer Materials verzeichnet wohl das Bild der von Leibniz’ Berliner Schreibtisch stammenden Überlieferung in der Hinsicht, dass dessen thematische Ausrichtung homogener erscheint, als sie tatsächlich ist. Schließlich sollte die Frage nach Leibniz’ Auswahl nicht nur in der Hinsicht gestellt werden, was er aus Hannover nach Berlin mitgebracht, sondern auch umgekehrt, was er aus Berlin zurück nach Hannover mitgenommen – und vor allem nicht mitgenommen hat. Dass er für das Material, das die Akademie betraf, in Hannover keine Verwendung hatte, ist klar. Was die übrigen Papiere betrifft, die in Berlin geblieben sind, ließe sich in manchen Fällen wohl von einer negativen Auswahl sprechen. Auf das dortige Fehlen der Hauptschriften zu den Unionsverhandlungen ist schon hingewiesen worden147. Sie wollte und konnte Leibniz wahrscheinlich nicht entbehren und hat sie deshalb jedes Mal nach Berlin und von dort wieder zurück nach Hannover mitgenommen. Manches von dem, was dagegen in Berlin liegen geblieben ist, mag er dort zurückgelassen haben, weil sein Inhalt recht schnell irrelevant geworden war. Das wird für die Stellungnahmen zu irenischen Veröffentlichungen von dritter Seite, von Scultetus, Benthem, Fetizon u. a., gelten, deren Einlassungen Leibniz eher als störend denn als befördernd angesehen hat. Das mag auch erklären, warum seine Stellungnahme zu Jaquelots kurzer Unionsschrift in Warschau, sein philosophischer Gedankenaustausch mit demselben aber in Hannover überliefert ist, obwohl ein guter Teil der Schriftstücke während Leibniz’ Berliner Aufenthalt vom November 1702 bis zum Mai 1703 entstanden ist. Insgesamt muss es demnach auf Leibniz’ Berliner Schreibtisch bunter und wohl auch chaotischer ausgesehen haben, als etwa der Blick in Kapps Sammlung suggeriert, deren Titel eine thematische Engführung ankündigt, die bereits von Kapps publiziertem und nicht publiziertem Material überschritten wird. Eine derartige Konzentration auf einzelne Themen lag Leibniz ohnehin nicht. Zudem war die Zusammensetzung der Papiere sicherlich nur zum Teil von – positiver wie negativer – Auswahl bestimmt, im Ganzen aber wohl ziemlich kontingent. III. Vereinzelt finden sich Vermerke auf den Berliner Originalen, deren Handschrift nicht zugeordnet werden kann. Es scheint sich um die Spuren einer früheren Ordnung des Materials zu handeln. Wie die Vermerke „Molaniana“ (Bl. 132v) oder
146 Man denke an die Papiere im Akademiearchiv, die dort ein weiteres Mal unter Pertinenzgesichtspunkten aufgeteilt worden sind; siehe oben, Anm. 48. 147 Siehe oben, S. 105 f.
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„Rabneriana“ (Bl. 157v) zeigen, war der jeweilige Korrespondenzpartner das Ordnungskriterium. Sie stehen ohne direkten Bezug zum Text – also nicht etwa als Überschriften – meist quer zur Schreibrichtung des betreffenden Briefes auf der in der Regel leeren letzten Seite des Bogens. Ihre ursprüngliche Funktion lässt sich am besten durch den längsten dieser Vermerke erschließen. Er lautet: „Sacratarum Personarum cum Leibnitzio literae amoebaeae V. g. Sterckij, Benthemij, Neumanni. Episcopi.“ (Bl. 57v)148. Wenn die Vermutung zutrifft, dass sich hinter „Episcopi“ Benjamin Ursinus (von Bär) verbirgt149, könnte das ein Hinweis auf die Entstehung des Vermerks in Berlin sein. Wo sonst hätte man den Gemeinten so umstandslos mit der bloßen Nennung seines kirchlichen Amtes bezeichnen können150? Beachtenswert ist jedoch nicht allein der Wortlaut des Vermerks, sondern auch seine Lage auf der Seite. Auf dem, wie die Knicke zeigen, zeitweise doppelt gefalteten Blatt steht er in einem der so entstandenen Viertel, so dass er in gefaltetem – und vielleicht auch verschnürtem – Zustand als Inhaltsangabe eines Stapels derartig verwahrter Briefe dienen konnte. Eine entsprechende Praxis der Aufbewahrung und Verzeichnung lässt sich bei älteren Archivalien häufiger beobachten151. Mit diesen Vermerken kämen wir demnach – vorausgesetzt die Deutung der Beobachtung ist richtig – bis in die Zeit zurück, in welcher der Berliner Teilnachlass nach Leibniz’ Tod jedenfalls grob geordnet worden wäre. Damit bin ich aber schon zu meinem letzten Punkt, den Rezeptionsspuren, übergegangen.
148 Mit „Sterckij“ muss der bereits erwähnte schweizerische Theologe Jeremias Sterky gemeint sein, obwohl keine Korrespondenz zwischen ihm und Leibniz bekannt ist; vgl. aber die oben Anm. 91 genannte von Jablonski veranlasste Abschrift eines Briefes von Scultetus an Sterky. Außerdem findet sich der zitierte Vermerk auf einem umfangreichen „Extraict d’une lettre de Stercky“ (Bl. 52–57), als dessen (ursprünglichen) Empfänger der Schreiber des Vermerks wohl Leibniz angesehen hat (vgl. dazu aber oben bei Anm. 92). „Benthemij“ meint Heinrich Ludolf Benthem, Superintendent zu Bardowik. Ein Brief an ihn, wohl vom 14. Mai 1701, ist abgedruckt in J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 280–282; A I, 19 N. 368. „Neumanni“ bezeichnet den Breslauer Theologen Caspar Neumann, von dem Kapp (ebd., S. 2–3) einen Auszug eines Briefes an Leibniz wohl aus dem Jahr 1689 druckt sowie einen weiteren Auszug eines Neumannbriefes an Molanus (ebd., S. 323; fälschlich auf den 30. November 1702 datiert, tatsächlich vom 23. November 1703; vgl. Hannover, GWLB, Ms XLII 1989,2 Bl. 5a) und einen Brief von Leibniz an ihn vom 12. März 1704 (ebd., S. 420; A I, 23 N. 120). Zu „Episcopi“ siehe die folgende Anm. 149 Ursinus war zum Bischof ernannt worden, um an Kurfürst Friedrich III. die Krönungssalbung vornehmen zu können. Zur Überlieferung seiner Korrespondenz im Warschauer Konvolut und in Kapps Sammlung siehe oben, Anm. 103. 150 Jedenfalls, wenn diese Interpretation richtig ist, und der Schreiber des Vermerks nicht den Titel als Eigennamen missverstanden hat. 151 „In den Jahrhunderten von 1500 bis 1800 war es eine weit verbreitete Übung, Akten zu bündeln, d. h. mit einem Band oder einem Bindfaden überkreuz zu verschnüren. Wie schon erwähnt, wurden die Schriftstücke meist zu Quart oder Oktav gefaltet, um der Verschnürung genügend Widerstand leisten zu können und ein Einreißen an den Rändern zu vermeiden. Obenauf wird zuweilen ein Zettel mit Inhaltsangabe mit eingeschnürt“. (J. Papritz: Archivwissenschaft, Marburg 1983, Bd. 1, S. 284).
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Allerdings sollen hier nicht die nur zu erahnenden Berliner, sondern die besser sichtbaren Leipziger Spuren in den Blick genommen werden152. Nachdem ich die Quellen, aus denen Johann Erhard Kapp sein Material bezogen hat, vorgestellt habe, möchte ich nun in einem abschließenden kürzeren Abschnitt den Spuren seiner editorischen Tätigkeit nachgehen. Der Umstand, dass Kapp nicht mehr zur Publikation des gesammelten Materials gekommen ist, hat einerseits eine breitere Rezeption – über den verhinderten Editor hinaus – blockiert, andererseits Spuren der Arbeit an den Texten hinterlassen, die bei einer erfolgreichen Drucklegung wahrscheinlich verloren wären. Allerdings ist Kapp nicht nur ein verhinderter Multiplikator gewesen, sondern mit seiner bereits mehrfach angesprochenen Sammlung von 1745 auch ein durchaus erfolgreicher. Ist seine Ausgabe bisher zur Schärfung des Blicks auf ‚Leibniz’ Berliner Schreibtisch’ herangezogen worden, gilt es nun, sie ganz kurz als ein frühes Editionsunternehmen ins Auge zu fassen. Auch in dieser Hinsicht steht sie in engster Verbindung mit dem Warschauer Material. Diesen Zusammenhang hat Kapp selbst in der Vorrede zur Sammlung herausgestellt, indem er die Fortführung seiner editorischen Tätigkeit ankündigte: „Ich werde nun bald zu meiner Lateinischen Collection einiger von dem Herrn von Leibnitz selbst, und an ihn geschriebenen ungedruckten Briefe Anstalt machen, [...]“153. Dass er bei der ganz mechanischen Aufteilung seiner Schätze auf die das deutschsprachige Material publizierenden Sammlung und die versprochene Lateinische Collection inhaltliche Zusammenhänge auseinander riss, ist Kapp bewusst gewesen. In der Vorbemerkung zu einem Brief Jablonskis an Leibniz, mit dem ersterer 152 Nur am Rande kann hier auf eine Beobachtung hingewiesen werden, deren Zusammenhang mit der geplanten Publikation des Materials durch Kapp zweifelhaft scheint, allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Viele der Manuskripte im Warschauer Konvolut tragen nämlich auf der Mitte des unteren Randes eine arabische Nummer. Da diese Nummer häufig auf den Abschriften von Kapps Hauptschreiber (W7) zu finden ist, nicht jedoch auf den Autographen, die ihnen zur Vorlage gedient haben, liegt zunächst die Vermutung nahe, die Nummerierung gehöre in den Kontext der Druckvorbereitung. Schaut man näher hin, verliert diese Vermutung jedoch ihre Plausibilität. Zum einen gibt es nämlich auch die umgekehrten Fälle, in denen die Nummer nicht auf der Abschrift, sondern der Vorlage steht, zum anderen folgt die Nummerierung weitestgehend der Abfolge der Manuskripte in dem Konvolut. Für diese ist aber keine Ordnung erkennbar, und an einzelnen Stellen ist das Material offensichtlich durcheinander geraten (unter die Abschriften aus den Monatlichen Unterredungen [Bl. 386–387, 391–392, 395–396] sind etwa die Abschriften des Schreibens an die Académie des sciences gemischt, bei denen wiederum das P.S. abgetrennt ist [Bl. 388–390, 397]; allerdings tragen diese Manuskripte alle keine Nummern), so dass es kaum denkbar ist, Kapp hätte für seinen zweiten Band diese Abfolge zugrunde legen wollen. Schließlich fehlen nicht nur – wie gerade gesehen – auf manchen Stücken oder Manuskriptkomplexen, die zweifellos für die Publikation vorgesehen waren, die Nummern, andererseits finden sie sich aber auf Zetteln, von denen man kaum annehmen kann, sie hätten gedruckt werden sollen, etwa auf einem Billet von Kapps Sekretär (Bl. 352), mit dem dieser Informationen zu den Leibnitiana eingeholt hat; siehe unten bei Anm. 166. Ließe sich allein das Fehlen der Nummern noch damit erklären, dass dieses Material möglicherweise erst später hinzugekommen und deshalb von Kapp nicht mehr eingeordnet worden sei, sprechen die übrigen Beobachtungen dafür, dass die Nummerierung nicht in Zusammenhang mit der geplanten Drucklegung stand und wohl auch eher erst nach Kapps Tod erfolgt ist. 153 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), Bl. d5r.
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eine irenische Schrift des hugenottischen Berliner Predigers Paul Daniel Fetizon nach Hannover gesandt hatte154, erklärte der Herausgeber: „Wir haben auch besondere Anmerckungen des Herrn von Leibnitz über Fetizons Schrifft, welche in unserer Lateinischen Collection ans Licht gestellet werden sollen“155. Leibniz’ genannte Anmerkungen zu Fetizon finden sich übrigens im Warschauer Konvolut (Bl. 91–93)156. Diese letzten Bemerkungen bestätigen erneut, dass inhaltlich ein enger Zusammenhang zwischen der 1745 publizierten Sammlung und dem Warschauer Material besteht. Schrecker hat die thematische Beschränkung des Materials dezidiert hervorgehoben. Er hat dies vor allem im Hinblick auf die Ursprünge der Berliner Überlieferung getan. Zwar war er hier zu dezidiert, wie ich bereits gezeigt habe, aber er war zweifellos im Recht, wenn er die thematische Beschränkung an der Quelle suchte, aus der Kapp geschöpft hat, nicht in dessen Konzeption. Im Titel der Sammlung fehlt zwar der Hinweis nicht, die gesammelten Briefe handelten „besonders über die Vereinigung der Lutherischen und Reformirten Religion, über die Aufund Einrichtung der Kön. Preuss. Societät der Wissenschaften“, aber das „besonders“ und das anschließende „etc. etc.“ dürfen nicht überlesen werden. Die im Titel formulierte Engführung wird nämlich durch Kapps eigene Aussage in der Vorrede relativiert. Dort erklärt er unter Berufung auf Pierre Bayle, es sei „alles biß auf die allergeringsten Dinge, bey großen Männern merckwürdig“, und mit Hinweis auf François Denis Camusat hält er „besonders ihre Briefe“ für aufbewahrenswert157. Schließlich postuliert er am Ende der Vorrede aus eigener Überzeugung, es sei „kein von diesem großen Teutschen aufgesetztes Blatt anzutreffen, welches zu verachten“158. Die Schwerpunkte der Sammlung, so wird man folglich sagen dürfen, erklären sich weniger aus Kapps besonderem Interesse als vielmehr aus dem Material, das er zur Publikation zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Zwar hat er sich im Hinblick auf die Unionsverhandlungen zwischen Leibniz und Molanus auf lutherischer und Jablonski auf reformierter Seite (schließlich erfolgreich, wenn auch erst nach der Publikation der Sammlung) bemüht, das von Jordan erhaltene Material um solches aus der Hinterlassenschaft des Berliner Hofpredigers zu ergänzen, aber die Durchsicht des Warschauer Konvoluts hat gezeigt, dass er auch Ergänzungen, die nichts mit den beiden genannten Schwerpunkten zu tun haben159, nicht verschmäht hat. Das in Warschau überlieferte von Jordan erhaltene Berliner Material hätte jedenfalls, wie bereits Schrecker erkannte, nicht ausgereicht160, einen zweiten Band von etwa dem Umfang der Sammlung zu füllen (zumal nicht alles, was dort liegt,
154 155 156 157 158 159
A I, 18 N. 671. J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 203. Siehe auch oben, Anm. 40. A IV, 8 N. 62. J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), Bl. [b7]v. Ebd., Bl. d5v. Hier braucht nur an die Briefe an Hermann von der Hardt (siehe oben, S. 92), Muratori (siehe oben, S. 91), Tenzel (siehe oben, S. 90) usw. erinnert zu werden. 160 P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“ (wie Anm. 3), S. 15.
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publikationswürdig schien)161, so dass Kapp wohl ohnehin ein Interesse haben musste, weitere Leibnitiana hinzuzugewinnen – gleichgültig, ob sie inhaltlich zu den Berliner Schwerpunkten passten oder nicht. In die Vorrede zur Sammlung hat er denn auch einen ‚call for unpublished letters‘ eingerückt: „Vielleicht bin ich so glücklich, und erhalte noch von einigen Freunden, auch andern Besitzern Leibnitzischer und Jablonskischer Briefe, einen Beytrag“162. Sehr erfolgreich scheint er mit diesem Aufruf nicht gewesen zu sein. Immerhin mögen die Briefe an Muratori und an von der Hardt auf diesem Wege in seinen Besitz gekommen sein163. Der Mangel an einschlägigen Manuskripten mag schließlich dazu geführt haben, dass die Publikation der gesammelten fremdsprachigen Briefe und Schriften letztendlich unterblieb. Auch in Hinsicht auf die Behandlung des Materials ist ein Blick in die Vorrede der Sammlung erhellend. Dort erklärt Kapp, er habe die Briefe „mehrentheils nach den Jahren geordnet, und den Inhalt derselben angezeigt“. Dann fährt er fort164: Ich habe denenselben auch öfters einige Anmerckungen vorgesetzet, welche bißweilen lang, bißweilen kurtz gerathen, nachdem ich Zeit und Hülffs-Mittel gehabt, oder geglaubet, etwas beybringen zu können, welches nicht ohne Nutzen, oder einigen Lesern angenehm seyn würde.
Derartige Regesten, Kommentierungen und Quellennachweise von Kapps eigener Hand finden sich auch in dem Warschauer Konvolut165. Ein Billet von Kapps Sekretär, der im Auftrag seines Chefs nach dem Vornamen des den Leibniz-Forschern wohlbekannten Wolfenbütteler Bibliothekssekretärs Johann Thiele Reinerding fragt (Bl. 352), belegt die Recherchetätigkeit hinter solchen Kommentaren. In diesem Fall handelt es sich um Arbeitsmaterial für die Sammlung. Die Auskünfte über die Vornamen, das Sterbedatum und die korrekte Bezeichnung als Bibliothekssekretär (nicht Bibliothekar) sind nämlich in die entsprechende Vorbemerkung eingegangen166. Dasselbe gilt für ein weiteres Billet mit Kapps eigenhändig notierter Frage: „Wie hat der 1701 zu Berlin gewesene Requeten-Meister von Wedel mit
161 Einen deutschen Brief des Nürnberger Kaufmanns Johann Heinrich Lönner an Leibniz, über den dieser Kontakt zum Bischof von Wiener Neustadt Franz Anton von Buchhaim hielt, scheint Kapp nicht publikationswürdig gewesen zu sein, da er in der Sammlung (wie Anm. 13), S. 473, lediglich auf ihn hinweist. Umso mehr musste dies für Agendenlisten (Bl. 348; A IV, 8 N. 76) oder Zettelchen mit Exzerpten u. a. (Bl. 338. 399. 400) gelten. 162 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), Bl. d5r. 163 Diese Interpretation würde gestützt, wenn die fehlenden Erwähnungen dieser Stücke in Kapps Dissertatio (siehe oben, S. 93) als Hinweis darauf gedeutet werden können, dass Kapp 1746 noch nicht in ihrem Besitz war. 164 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), Bl. c2r. 165 Etwa zum Brief an Alexander von Dohna Schlobitten (siehe oben, Anm. 129): Bl. 181r. Zum Brief an Georg Wolfgang Wedel (siehe oben, Anm. 128): Bl. 383r. Zu den beiden AcoluthusBriefen (siehe oben, ebd.): Bl. 384r. 384v. 166 J. E. Kapp: Sammlung (wie Anm. 13), S. 270–271, zu einem Brief Reinerdings an Leibniz vom 29. März 1701 (A I, 19 N. 53). Der Beginn der Anfrage: „Es ist Anno 1701. in Wolffenbüttel ein Bibliothecarius gewesen Nahmens Reinerding [...]“, zeigt, dass sie sich auf diesen Brief bezieht.
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dem Vornahmen geheißen?“ (Bl. 408)167. Wie in der Sammlung beschränken sich diese Beigaben im Warschauer Konvolut auf die Vorbemerkungen. Kommentierende Anmerkungen hat Kapp kaum gemacht. Eine derartige Anmerkung in einem der Briefe an von der Hardt ist nicht von seiner Hand168. Einen Sonderfall stellen die Abschriften jener Stücke aus dem Fabricius-Briefwechsel dar, die bereits von Kortholt gedruckt worden waren. Hier sind in Anmerkungen, die ebenfalls nicht von Kapps Hand stammen, Hinweise auf die Fundorte in den Epistolae ad diversos und einzelne Abweichungen zwischen den originalen Manuskripten und ihrem Druck nachgewiesen169. Insgesamt vermittelt das Warschauer Material mit seinen Rezeptionsspuren das Bild einer abgebrochenen Arbeit. Dadurch erhalten wir manche Einblicke, die nach einem erfolgreichen Abschluss dieser frühen Editorentätigkeit wohl so nicht mehr möglich wären170. Allerdings um den Preis, dass die Mehrzahl der in diesem Konvolut überlieferten Briefe und Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz länger latent geblieben sind als manche andere – nämlich bis zu den Veröffentlichungen von Jan Kvačala und Paul Schrecker und schließlich ihrer Edition im Rahmen der Akademie-Ausgabe.
167 Das Jahresdatum bezieht sich wohl auf Johann Theodor Jablonskis Brief vom 16. April 1701 (J. E. Kapp: Sammlung [wie Anm. 13], S. 209–211; A I, 19 N. 313), in dem Wedel erwähnt wird. In diesem Fall musste der Befragte die Antwort allerdings schuldig bleiben. Kapp muss sie dann an anderer Stelle gefunden haben, denn bei Wedels Ersterwähnung in der Sammlung, S. 150, nennt er den Vornamen (nicht ohne die Schwierigkeit der Recherche anzudeuten). 168 Auf Bl. 316v mit Hinweis auf J. Burckhards Historia bibliothecae Augustae. 169 Etwa Bl. 190v. 210r. 226r. 170 N. Gädeke: „Unmut der Königin“ (wie Anm. 4), S. 182.
JOACHIM FRIEDRICH FELLER (1673–1726) ALS LEIBNIZ-HERAUSGEBER Von Stefan Luckscheiter (Potsdam) In einer 1718 erschienenen 25 Seiten langen Buchbesprechung in einer Zeitschrift mit dem Titel Vermischte Bibliothec oder: Zulängliche Nachrichten und unpartheyische Gutachten von allerhand mehrentheils neuen Büchern und andern gelehrten Materien heißt es: DEs großen Leibnitzens Ruhm hat sich allenthalben dermassen ausgebreitet / daß man dessen Erfindungen und herrliche Schrifften zu recommendiren / mehr nicht nöthig hat / als nur seinen Nahmen zu nennen.
„Dannenhero“, so fährt der Rezensent fort, „wird die gelehrte Welt“ dem Herausgeber „nicht wenig verbunden seyn / daß er gegenwärtige Piecen aus dem Munde und denen Papieren dieses grundgelehrten Mannes gesammlet / und nunmehro durch den Druck gemein gemacht“1. Und weiter2: Man müste das Werck selbst ausschreiben / woferne man alle in diesen melanges vorkommende Merckwürdigkeiten recensiren wolte. Dannenhero wollen wir nur einige vor anderen notable Sachen auszeichnen.
Ich will mit dieser Rezension genauso verfahren. Leibniz habe, so heißt es, einen in Thüringen gefundenen „elephantus fossilis“ „vor ein veritables sceleton“ gehalten, aber daran gezweifelt, „daß es durch die inundation der Sündfluth dahin kommen / weil ehemals dergleichen Thiere auch in Teutschland könten gewesen seyn“. „Allein“, fügt der Rezensent hinzu, „dieses werden sich diejenigen schwerlich bereden lassen / welche wissen / daß die Natur der Elephanten ein sehr heisses clima erfordere“3. Einige Seiten weiter geht es um Leibniz’ Definition der Liebe: „Amare est felicitate alterius delectari“. Der Rezensent ist auch hiermit nicht einverstanden, denn4: Wir lieben öffters eine Person / so wir in der That vor höchst unglücklich halten / und an deren Zustand wir nicht ohne Mitleyden und Erbarmung gedencken können. Wie wäre aber dieses 1 2 3 4
Vermischte Bibliothec oder: Zulängliche Nachrichten, Drittes Stück, 1718, S. 204–230; hier S. 205. Ebd., S. 215. Ebd., S. 217. Ebd., S. 220 f.
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Stefan Luckscheiter möglich / wenn Lieben so viel wäre / als sich an eines andern Glückseeligkeit und deroselben Betrachtung belustigen? Meines Erachtens ist die Liebe nichts anders als ein Verlangen sich mit einem objecto auf gewisse Art zu vereinigen / und kan dieses Verlangen so wohl aus Betrachtung der Vollkommenheit desselben / als aus andern Ursachen herrühren / wie die Erfahrung lehret.
Wieder einige Seiten weiter heißt es5: Die Urtheile von Isaaco Vossio, Mathia Wasmuth, dem Baron Knorren / Mr. Varillas, Magliabechi, Mr. Rabener, dem jüngern Helmont, welche n. 175. und in den folgenden vorkommen / sind sehr curieus und gröstentheils wohlgegründet / dahingegen die letzte Remarque von den menschlichen Seelen n. 181 sq. so sich auf das bekante systema harmoniae praestabilitae gründet / vielen paradox scheinen wird.
Über Leibniz selbst referiert die Vermischte Bibliothec aus einer dem besprochenen Werk vorangestellten Lebensbeschreibung6, […] daß er die historiam Brunsvicensem niemahls recht mit Ernst angegriffen / auch die editio scriptorum rerum Brunsvicensium mehr von andern als ihm selbst dirigiret / und hin und wieder gar schlechter Fleiß dabey bewiesen worden etc.
Der Rezensent hält dieses Urteil für „nicht ungegründet“, denn: Der Herr von Leibnitz hatte mehr patience zu dencken / als zu schreiben / und daher sind seine Historische Schrifften bloße collectiones, wobey er offt nicht mehr gethan / als daß er sie abschreiben / und hernach mit einer Vorrede abdrucken lassen.
Das so ausführlich rezensierte Werk ist ein Oktavband von knapp 500 Seiten. Sein Untertitel lautet: Miscellanea, ex ore et schedis illustris viri, piae memoriae […] Leibnitii […] quondam notata et descripta – oder, in der Übersetzung der Vermischten Bibliothek: „allerhand Sachen / so […] aus dem Munde und Papieren des Seel. Hn. […] Leibnitzens […] aufgezeichnet und abgeschrieben“7. „Allerhand Sachen“, in der Tat: Elefantenknochen, der Begriff der Liebe, Pläne, Charakter und Privatleben zahlreicher Gelehrter – alles wird besprochen. Den Haupttitel, Otium Hanoveranum, könnte man mit ‚Hannoveraner Gelehrtenfleiß‘ übersetzen. Die Vermischte Bibliothec trifft die Sache aber, zumindest was den Herausgeber des Buchs Joachim Friedrich Feller betrifft, besser und übersetzt: „Hannoverischer Feyer-Abend“8.
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Ebd., S. 230. Ebd., S. 213. Vermischte Bibliothec, Drittes Stück, 1718, S. 204. Eine andere Zeitschrift übersetzte mit: „Hannöverischer Zeitvertreib“ (Deutsche Acta eruditorum oder Geschichte der Gelehrten, 51. Theil, 1717, S. 168).
Joachim Friedrich Feller als Leibniz-Herausgeber
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1. FELLER BEI LEIBNIZ Feller, dem 1694 geraten worden war, einen Band mit Briefen Gelehrter herauszugeben9, und der später der „Eckermann Leibnizens“10 genannt werden sollte, traf Leibniz am 24. August 1696 in Wolfenbüttel und trug ihm seine Dienste an11. Am 4. September stellte Leibniz den 23-Jährigen unter folgenden Bedingungen an: 1) ne quid me ignaro describat. 2) nichts sonst etwas hinter mir correspondire oder sonsten. 3) ne quid cuiquam de rebus meis dicere vel scribere velit, da der geringste Zweifel seyn kan, ob ichs gern habe, potius minus quam plus12.
Tags darauf reiste Leibniz nach Hannover, Feller folgte ihm einige Tage später und war am 9. September bei Leibniz13. Der wies ihn in den folgenden Wochen in seine Arbeit ein: er sollte Material für die Welfengeschichte sammeln und exzerpieren14. Feller wohnte fortan in Leibniz’ Haus15 und sandte ihm, wenn er verreist war, einlaufende Briefe nach16 oder ließ Briefe von Leibniz expedieren17. Am 18. Januar 1697, nachdem Feller etwa vier Monate für ihn gearbeitet hatte, notierte Leibniz in sein Tagebuch: „Mit M. Feller wegen eröffneten Briefes, verbrauchten Geldes; wegen Gratul. mirae, wegen Gedenckens gegen die Leute“18. Am Freitag, dem 14. Februar 1698, unternahm Leibniz eine Reise Richtung Braunschweig und Wolfenbüttel. Feller, der den Tag im Wirtshaus zugebracht hatte, entschuldigte sich in einem Brief vom 17. Februar 1698 dafür, dass er zu spät nach Hause gekommen war, um Leibniz vor der Abreise noch antreffen und seine Befehle entgegen nehmen zu können. Er schrieb auch19: Weil der schlüßel zur stube nicht verhanden, alß vermuthe, daß Ihre Excellenz vielleicht denselben in der eil werden zu sich gesteckt haben. Ergehet derowegen an Dieselbe die gehorsam
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Nämlich von Theodorus Janssonius van Almeloveen in einem Schreiben vom 5. September 1694 (vgl. S. Stegeman: Patronage and services in the Republic of Letters. The network of Theodorus Janssonius van Almeloveen (1657–1712), Amsterdam/Utrecht 2005, S. 239). K. Eschweiler: „Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts“, in: J. Vincke (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, Bd. 1 (= Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, Reihe 1), Münster 1928, S. 252. Unter diesem Datum notierte Leibniz in sein Tagebuch (gedr. in: G. H. Pertz [Hrsg.]: Leibnizens Gesammelte Werke, I, 4, Hannover 1847, S. 183–224, hier S. 196): „Des seel. Prof. Fellers Sohn ist bey mir gewesen, verlanget an Hand zu gehen“. Feller war der Sohn des 1692 verstorbenen Leipziger Professors für Poesie, Joachim Feller. Ebd., S. 205; vgl. auch die in der Erläuterung zu A I, 13 N. 3 gedruckte Notiz. G. H. Pertz: Leibnizens Gesammelte Werke (wie Anm. 11), S. 207. Ebd., S. 213–214. Vgl. etwa A I, 14 N. 28. Vgl. etwa A I, 13, 113, Z. 19 f.; 129, Z. 12–15; 180, Z. 21 f.; 181, Z. 5 f.; A I, 14, 63, Z. 13; 67, Z. 2–4; 67, Z. 16 f. Vgl. etwa A I, 14, 67, Z. 15 f. G. H. Pertz: Leibnizens Gesammelte Werke (wie Anm. 11), S. 222. A I, 15 N. 21.
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Stefan Luckscheiter bitte, mir den schlüßel ohnbeschwerd zu überschicken, damit ich in meinen penso fortfahren möchte.
Leibniz scheint nicht geantwortet zu haben. Es sieht aber so aus, als hätte er den Schlüssel keineswegs versehentlich mitgenommen. Er hatte offenbar vielmehr bemerkt, dass Feller heimlich Abschriften aus seinen Papieren nahm. Denn fortan war Feller der Zutritt zu Leibniz’ Stube verwehrt. Die letzten Briefe, die er in seinen Ausgaben verwerten konnte, datieren, mit vier Ausnahmen, von Anfang Januar 169820. Leibniz behielt Feller noch einige Zeit bei sich21, Ende August nahm er ihn mit nach Wolfenbüttel22. Er hatte ihm freie Kost und Logis auf der Ritterakademie verschafft und bezahlte ihn weiterhin für Zuarbeiten zur Welfengeschichte23. Aber er hatte vorher angewiesen, dass Feller keine Manuskripte, sondern nur gedruckte Bücher aus der Wolfenbütteler Bibliothek mit nach Hause nehmen dürfe24, und veranlasst, dass Feller „das geld so ihm zur Subsistenz gereichet werden sollen nicht immediate zu stellen sondern es mir geben laßen, damit er besser zur gebühr gehalten werden köndte“25. Anfang 1699 ließ Feller Herzog Rudolf August ein Schriftstück zukommen mit dem Titel: „Unterthänigster bericht von den ietzigen Zustande der Hochfürstl. Bibliothec zu Wolfenbüttel, aus mitleiden gegen dieselbe und in aller einfalt aufgesetzt von einen Ordensbruder der Heiligen Alethéa“26. 20 Hiervon nachher mehr. 21 Laut Leibniz’ Auskunft wurde Feller im Frühling 1698 entlassen (A I, 16 N. 65). Noch Anfang Mai 1698 aber sandte Feller Leibniz Briefe nach (vgl. A I, 15 N. 65 und N. 66). 22 Zwischen 17. und 20. (?) Juni 1698 hatte Leibniz in Wolfenbüttel angekündigt, bei seinem nächsten Besuch eine Person mitbringen zu wollen, die den aus den Diensten der Bibliothek entlassenen Gabriel Wagner ersetzen sollte (A I, 15, 94, Erl. zu Z. 12 und 95, Erl. zu Z. 3). Gemeint ist offenbar Feller, der in Wolfenbüttel war, nachdem Leibniz Ende August (vgl. A I, 15, Erl. zu N. 99) dorthin gereist war: Feller erhielt vom Wolfenbütteler Kammerschreiber Johann Christoph Balcke auf Leibniz’ Anweisung vom 28. August (A I, 15 N. 98) 15 Taler und hat auf der Anweisung, also in Wolfenbüttel und wahrscheinlich nicht lange nach dem 28. August, quittiert (A I, 15, 120, Z. 18–20). Sein erster aus Wolfenbüttel an Leibniz geschriebener Brief datiert vom 9. September 1698 (A I, 15 N. 100). 23 Vgl. A I, 16 N. 65 und ebd., 188, Z. 22–25. Einen Betrag von 150 Talern, den Leibniz „einem Studioso namens Hellern [sic!], welcher auf Fürstl. Bibliothec eine Zeitlang gearbeitet“, ausgezahlt hatte, erstattete die Ritterakademie Leibniz am 17. August 1699 zurück (vgl. A. Kuhlenkamp: Die Ritterakademie Rudolf-Antonia in Wolfenbüttel 1687–1715 [= Beiträge zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina. Schriften des Braunschweigischen Hochschulbundes e.V. 3], Braunschweig 1975, S. 106). 24 Am 20. (30.) September 1698 schrieb Johann Thiele Reinerding, der erste Sekretär der Bibliothek, aus Wolfenbüttel an Leibniz, Feller habe verlangt, „einige Manuscripta […] nach Hause zuhaben; Weilen aber der H. GehbtRaht, nur Gedruckte Sachen selbigem abfolgen zulaßen, dermahlen beorderte, So habe vorhero solches notificiren sollen, um dienst. zuvernehmen, ob auch einige Manuscripta demselben abzufolgen“ (A I, 15, 125, Z. 18–22). Als Feller im Oktober 1698 für einige Tage aus Wolfenbüttel verschwunden war, sorgte sich Leibniz dementsprechend um die Bücher und Manuskripte der Bibliothek (vgl. A I, 16 N. 5, N. 117 und N. 118; vgl. auch ebd. N. 6). 25 A I, 16, 136, Z. 13–16. 26 Ebd. N. 474.
Joachim Friedrich Feller als Leibniz-Herausgeber
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Es heißt darin unter anderem27, […] daß es dem Herrn Leibnitz kein rechter ernst sey eine historie zu schreiben; weilen er nicht selbst daran arbeitet, sondern einen jungen Menschen, Feller genannt, daran arbeiten läßt, dem er unter dem vorwand, alß wenn er ihm auf der Bibiliothec etwas zu thun gegeben hätte, den tisch auf der Academie verschaffet, in meinung, daß er damit schon könne zufrieden seyn.
Von Leibniz’ „lehren versprechungen“ ist die Rede; davon, dass er „zwar in seinen weitläuftigen Ideen viel desseins machen, aber sehr wenig ausführen kan“28; dass er sich besser „schicke […] die tiefsinnigen subtilitäten der Algebre, der Metaphysique, der Physique und dergleichen, auszugrübeln, alß ein rechtes vollständiges werck von Braunschweigischen Geschichten heraußzugeben“29; dass er zwar „ein gelehrter Mann ist, der von vielen sachen zu schwatzen weiß“, aber „sich in mehr Dinge mischt, alß er bestreiten kan“30. Nachdem Feller Leibniz’ Tätigkeit als Bibliothekar und Hausgeschichtsschreiber bei Herzog Rudolf August dergestalt angeschwärzt hatte, ließ sich Leibniz im Februar 1699 von ihm „beym abschied“ eine Quittung über 150 Taler ausstellen31, und im April 1699 verließ Feller Wolfenbüttel32. Er arbeitete bis Frühling 1701 für Hiob Ludolf in Frankfurt am Main33, im Dezember 1702 empfahl ihn Leibniz an den Geheimen Rat und Archivar des Fürstbischofs von Passau, Philipp Wilhelm von Hörnigk34, und 1705 schließlich wurde er Kanzleisekretär und Archivregistrator des Herzogs von Sachsen-Weimar. Leibniz schrieb Johann Andreas Schmidt am 7. (17.) Oktober 1698, Feller habe anfangs fleißig gearbeitet, später aber nur noch wenige Stunden am Tag. Die Gelegenheit, Zugang zu Leibniz’ Manuskripten zu haben, habe ihn in Versuchung geführt. Er habe sich nicht wenige seiner Schriften erschlichen und zu diesem Zweck sogar einmal einen Riegel aufgebrochen35. 2. FELLERS MATERIAL UND SEINE PUBLIKATIONEN Feller gab ab 1714 eine Zeitschrift namens Monumenta varia inedita variisque linguis conscripta heraus, von der bis 1718 zwölf Nummern („Trimester“) erschienen. Insgesamt publizierte er darin in loser Folge ungefähr 20 Texte von Leibniz, meist Auszüge aus Briefen, aber auch eine ganze, lange Schrift, nämlich die Brevis 27 28 29 30 31 32 33
Ebd., 776, Z. 3–8. Ebd., 776, Z. 20–22. Ebd., 777, Z. 4–7. Ebd., 781. Ebd. N. 65. Vgl. ebd., 129, Z. 8–18. Vgl. seine Briefe an Johann Georg Eckhart vom 19. Februar und vom 27. März 1701 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Cod. ms. philos. 135 Bl. 159–160 und Bl. 161). Am 17. Mai 1701 hatte er Ludolf verlassen und schrieb nicht mehr aus Frankfurt, sondern aus Nürnberg (ebd., Bl. 162–163). 34 Vgl. A I, 21, 711, Z. 13–17. 35 A I, 16, 188; vgl. auch ebd. N. 118.
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Disquisitio, utros incolarum Germaniae citerioris aut Scandicae ex alteris initio profectos verisimilius sit judicandum36. Das erste Trimester begann mit einem Leibniz-Brief 37, im zweiten Trimester38 druckte Feller ein Gedicht, das Leibniz am 29. November 1697 Madeleine de Scudéry gesandt hatte. Leibniz erklärte daraufhin in einer Stellungnahme, die er aber offenbar nicht publizierte, dass alle Publikationen durch Feller von ihm nicht autorisiert seien39. Nach Leibniz’ Tod ließ Feller in den Monumenta 1717 – möglicherweise angeregt durch die von Johann Georg Eckhart im selben Jahr herausgegebenen Collectanea etymologica40 – eine Kollage aus verschiedenen Texten und Schnipseln aus Briefen41 erscheinen, unter dem Titel: Observationes variae de Linguis et origine vocabulorum, nec non de concinnando Dictionario, et perpolienda lingua Germanica, ex ore et schedis Illustris Leibnitii quondam notatae et descriptae, a J. F. F.42. Das Otium Hanoveranum43, erschien laut Titelblatt 1718, wurde aber schon in den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen vom 9. Oktober 1717 folgendermaßen angezeigt44: Es sind darinn viele curiöse und nützliche Dinge enthalten, wie denn alles, was von der Hand des grossen Leibnitzens kommt, besonder ist. Im ersten Theile hat der Herr Feller allerhand Extracte aus Briefen, im andern aber allerhand aus dem Munde des Herrn Leibnitzens aufgezeichnete gelehrte Reden zusammen gebracht. Zu Ende der hierauf folgenden Briefe des Herrn Leibnitzes und Pellissons hat er auch noch eine Mantissam Miscellaneorum Leibnitianorum
36 37 38 39 40 41
Monumenta varia inedita variisque linguis conscripta, 3. Trimester, 1714, S. 132–141. Ebd., 1. Trimester, 1714, S. 1 f. (A II, 3 N. 89). Ebd., 2. Trimester, 1714, S. 63–66 (A I, 14 N. 434). Vgl. G. H. Pertz: Leibnizens Gesammelte Werke (wie Anm. 11), S. 362 f. G. W. Leibniz: Collectanea etymologica, Hannover 1717. Monumenta varia inedita variisque linguis conscripta, 11. Trimester, 1717, S. 594–601. Bei den Passagen, deren Quelle sich identifizieren ließ, handelt es sich um einen Auszug aus einem Brief an Hiob Ludolf vom 24. Dezember 1696 (3. Januar 1697) (Monumenta, S. 596 [„Huetius“ bis „constat“]; entspricht A I, 13, 454, Z. 4–6), einen Auszug aus einem Brief an Lorenz Hertel vom 4. (14.) Dezember 1696 (Monumenta, S. 596 f. [bis „Octavia“]; entspricht A I, 13, 103, Z. 19–104, Z. 15) und einen Auszug aus einem Brief an Johann Bernoulli vom 28. Dezember 1696 (7. Januar 1697) (Monumenta, S. 597 [„Tria“ bis „originesque“]; entspricht A III, 7, 247, Z. 21–23). 42 Weitere Schriften von Leibniz und Briefe von ihm oder an ihn finden sich an folgenden Stellen der Monumenta (in Klammern jeweils, soweit ermittelt, der Druckort in der Akademieausgabe): S. 61 f., S. 112–114 (A II, 1 N. 60), S. 114–117 (A VI, 2 N. 53), S. 117 f. (A II, 1 N. 96), S. 253 (die ersten beiden Absätze: A I, 14, 555, Z. 2–7; der dritte Absatz: A I, 14, 203, Z. 3–7), S. 254 (A I, 13 N. 259), S. 366–368 (A I, 12 N. 390), S. 368 (A I, 12 N. 415), S. 368 f. (A I, 12 N. 411), S. 380 (A II, 3 N. 62), S. 380 f. (A II, 3 N. 63), S. 519 f. (A I, 14, 557, Z. 15–25), S. 580–582 (A I, 13 N. 87), S. 642 f., S. 643 f. 43 Vgl. dazu die von der Leibniz-Editionsstelle Potsdam erstellte Konkordanz zwischen der Akademie-Ausgabe und dem von Joachim Friedrich Feller herausgegebenen Otium Hanoveranum (derzeit einsehbar unter http://leibniz-potsdam.bbaw.de/bilder/Feller_Konkordanz.pdf). 44 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1717, S. 656. Auch aus der Überschrift des „Supplementum vitae“ geht hervor, daß es schon 1717 gedruckt wurde. Sie lautet: „Supplementum Vitae Leibnitianae in Actis Eruditorum Lipsiensibus, mense Juli hujus anni (MDCCXVII.) delineatae“ (J. F. Feller: Otium Hanoveranum, Hannover 1718, Bl. )( 2r).).
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angehängt, und dem gantzen Wercke ein Supplement des ausführlichen Lebens des Herrn Leibnitzens, welches den Actis Eruditorum einverleibet worden, vorgesetzt, darinn er noch unterschiedene merckwürdige Dinge beybringt, die er im Wercke selbst anzuführen vergessen.
Das Otium ist, was die Leibniz-Edition angeht, Fellers Hauptwerk, aber er hat hier nicht alle Texte zum Abdruck gebracht, die er besaß. Als die Neuen Zeitungen 1722 die Gelehrten aufforderten, ihre Meinung zu unbekannten Schriftzeichen einzusenden45, schickte er zwei Leibniz-Texte, die ihm dazu einfielen46. Er verfügte offenbar über einen Vorrat, aus dem er bei sich bietender Gelegenheit etwas herausgeben konnte. Die Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster besitzt ein Exemplar der Erstausgabe des Otium, in dem sich handschriftliche Ergänzungen einzelner Passagen und auch ganzer Stücke finden47. Anscheinend sind dies Vorarbeiten zu einer geplanten Neuauflage, die aber bei dem 1737, elf Jahre nach Fellers Tod, tatsächlich vorgenommenen Nachdruck nicht berücksichtigt wurden. Diejenigen Eintragungen, die sich mit anderen Textzeugen vergleichen lassen, zeigen, dass der Autor dieser Marginalien über zuverlässige Texte verfügte. Und diese Texte dürften die von Feller gesammelten Handschriften gewesen sein, denn wahrscheinlich wäre niemand in der Lage gewesen, die von Feller abgedruckten Stücke mit Leibniz’ Manuskripten selbst zu vergleichen – erstens, weil nur wenige Personen Zugang zu denselben hatten, und zweitens, weil die entsprechenden Texte in der Masse der Leibniz’schen Papiere kaum aufzufinden gewesen sein dürften48. Dies ist der letzte Hinweis auf Fellers Sammlung. Danach verliert sich ihre Spur. Monumenta, Otium und das Münsteraner Marginalien-Exemplar enthalten zusammen etwa 380 Stücke. Viele dieser Texte (darunter fast alle längeren) sind auch durch andere Textzeugen überliefert. Die Vorlagen von mehr als der Hälfte der Stücke aber sind nicht bekannt. Dies mag daran liegen, dass es sich bei einigen Stücken gar nicht um Texte von Leibniz handelt, sondern um Nachschriften mündlicher Äußerungen49; daran, dass Feller Leibniz’ Manuskript selbst an sich genommen hat und kein weiterer Textzeuge davon vorhanden war; oder schließlich daran, dass Fellers Vorlage entweder verschollen ist oder im Leibniz-Nachlass (noch) nicht aufgefunden werden konnte50. Gewiss werden sich im Laufe der Arbeit an der Akademieausgabe (in der etwa 150 Stücke noch nicht ediert wurden) noch einige Vorlagen 45 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1722, S. 498 f. 46 Ebd., S. 543 f. Es handelt sich dabei (S. 543 f.) um einen „Extract“ aus „einem nach Moscau übersendeten Memorial“, in dem Leibniz Nachricht über die Sprachen im Zarenreich erbat (vgl. St. Luckscheiter: „Leibniz’ Schriften zur Sprachforschung“, in: W. Li [Hrsg.]: Einheit der Vernunft und Vielfalt der Sprachen [= Studia Leibnitiana, Supplementa 38], Stuttgart 2014, S. 317–432, hier S. 338) und (S. 544) einen teilweise paraphrasierenden Auszug aus Leibniz’ „Aufzeichnung zu Brandts Relation“ (A IV, 6 N. 59). 47 Signatur: L/1718 [337]; vgl. A IV, 7, XXIV. 48 Das gelingt auch den heutigen Editoren nur mit Mühe (vgl. unten, Anm. 50). 49 Vgl. den zu Anfang zitierten vollständigen Titel des Otium. 50 In A IV, 7 (N. 28 und N. 134) sind zwei Stücke aus dem Otium Hanoveranum (S. 209 f., Nr. CXLII bzw. S. 167, Nr. LXIII) abgedruckt, die später durch die Münsteraner Editoren als Auszug aus der Handschrift Hannover GWLB Ms XXIII 22b Bl. 23 bzw. aus einem Brief an
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identifizieren lassen, viele aber werden es, denke ich, nicht sein, denn die Briefreihen (I, II und III) reichen bereits bis 1698 und darüber hinaus, ebenso Reihe IV. Da Feller kaum naturwissenschaftliche und mathematische Texte druckte, werden durch die Arbeit an den Reihen VII und VIII allenfalls wenige Texte identifiziert werden können. Einige mehr werden es bei den Reihen V und VI sein51. Um ein Bild davon zu geben, aus welchen Jahren und Monaten die Texte stammen, habe ich diejenigen Stücke herausgesucht, deren Vorlagen in den Briefreihen der Akademieausgabe gedruckt worden sind; diese nämlich lassen sich in der Regel genau datieren. Lässt man auch die Korrespondenz mit Paul Pellisson, die Feller nicht nach den Handschriften, sondern nach einer früheren Ausgabe52 druckte und die immerhin etwa 170 Seiten des Buches einnimmt, beiseite, so bleiben weniger als ein Drittel der Stücke, nämlich 123, übrig. Es handelt sich dabei um Auszüge aus 92 Briefen aus etwas mehr als 50 Korrespondenzen, von denen 21 an und 71 von Leibniz geschrieben wurden. Die Verteilung dieser Briefe auf ihre Entstehungsjahre lässt sich folgender Graphik entnehmen. Von Feller ausgewertete Briefe verteilt auf ihre Entstehungsjahre 60 50 40 30 20 10 0 1671 1673 1675 1677 1679 1681 1683 1685 1687 1689 1691 1693 1695 1697 1699 1701
Aus den Jahren 1696 bis 1698, in denen Feller bei Leibniz war, stammen besonders viele der Texte. Feller hat aber auch ältere Briefe verwendet. Auffällig ist, dass Feller auch zwei Schreiben aus den Jahren 1699 und 1701 abdruckte. Zu diesen kommen noch zwei weitere, die ebenfalls in einer Zeit entstanden, als er nicht mehr Heinrich Horch vom 31. Januar (10. Februar) 1697 (A II, 3, 266, Z. 3–5) identifiziert werden konnten. 51 Von den insgesamt 90 in den Bänden der Reihe IV gedruckten Stücken konnten von nur vieren Vorlagen ermittelt werden. 52 G. W. Leibniz und P. Pellisson: De la tolerance des réligions, Paris 1692.
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bei Leibniz war, nämlich im Dezember 1698. Bei allen vieren handelt es sich um Briefe von Leibniz an Hiob Ludolf53. In dessen Dienste war Feller 1699 getreten. Er dürfte diese Briefe also dort abgeschrieben haben54. Die letzten Briefe, die er in seiner Zeit bei Leibniz abschreiben konnte, datieren vom Januar 1698. Betrachtet man den Zeitraum zwischen Januar 1695 und Januar 1698 genauer, ergibt sich folgendes Bild: Von Feller ausgewertete Briefe verteilt auf ihre Entstehungsmonate (Januar 1695 bis Januar 1698 ) 10 8 6 4 2 0
Vom Januar 1697 stammen besonders viele Briefe, aus den folgenden drei Monaten deutlich weniger. Das mag damit zusammenhängen, dass Leibniz Feller am 18. Januar, wie aus der bereits zitierten Tagebuchnotiz hervorgeht, wegen eines „eröffneten Briefes“ ermahnt hatte55. 56 der 92 Briefe stammen aus der Zeit, in der Feller bei Leibniz wohnte und Zugang zu seinen Papieren hatte, also aus den knapp eineinhalb Jahren zwischen September 1696 und Januar 1698. Unter diesen 56 sind zehn Briefe an und 46 von Leibniz aus etwa 40 Korrespondenzen. Leibniz hatte aber in diesem Zeitraum mit etwa 200 Personen etwa 1100 Briefe ausgetauscht und davon etwa 500 Briefe an etwa 150 Korrespondenten selbst geschrieben56. Feller hat also nur ungefähr ein Zwanzigstel von Leibniz’ gesamter Korrespondenz und ein Zehntel von Leibniz’ eigenen Briefen dieses Zeitraums verwertet57.
53 54 55 56
A I, 16 N. 229, N. 230 und N. 432 sowie A I, 19 N. 165. Vgl. A IV, 7, XXIII f. G. H. Pertz: Leibnizens Gesammelte Werke (wie Anm. 11), S. 222. Diese Zahlen (die vor Abschluss der Akademie natürlich nur näherungsweise richtig sein können) wurden mit Hilfe zweier vom Leibniz-Archiv Hannover erstellten Datenbanken ermittelt: der „Personen- und Korrespondenz-Datenbank“ (derzeit abrufbar unter https://leibniz.uni-goettingen.de/) und der (inzwischen eingefrorenen) „Korrespondenten-Datenbank“ (http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Korrespondentendatenbank/index.php). 57 Dabei ist freilich zu beachten, dass diese Daten ungenau sind, weil unter den Texten, deren Vorlage nicht ermittelt werden konnte, viele solche sein können, die ebenfalls in dieser Zeit entstanden. Die Vorlagen Fellers sind nur bei etwa einem Drittel der Stücke ermittelt.
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Folgender Graphik lässt sich der Anteil der von Feller ausgewerteten LeibnizBriefe an Leibniz’ Briefen insgesamt entnehmen.
Die Werte schwanken zwischen 0 und etwas mehr als 20 %. Feller druckte für gewöhnlich nicht alle Briefe ab, die Leibniz in der Zeit, in der Feller bei ihm war, mit einem bestimmten Korrespondenten wechselte, sondern nur einzelne Briefe aus einzelnen Korrespondenzen58. Weder in der Auswahl der Korrespondenzen, noch der der Briefe konnte ich eine Absicht erkennen. In der Regel druckte Feller auch nicht die ganzen Briefe ab. Aus der Korrespondenz mit Ezechiel Spanheim zum Beispiel berücksichtigte er Leibniz’ Brief vom 7. Mai 169759, die übrigen 13 Briefe, die Leibniz mit Spanheim zwischen September 1696 und Januar 1698 wechselte, fehlen. Der Brief vom 7. Mai umfasst in der Akademieausgabe etwa vier Seiten, von denen Feller etwa eine abdruckte, nämlich die Passage über die Beziehungen zwischen Moses (oder Joseph) und Hermes. Weggelassen hat er Äußerungen über die Konzile von Trient und Konstanz, die Christen in China, die protestantische Mission und die gerade stattfindende polnische Königswahl60. Aus der Korrespondenz mit Thomas Burnett of Kemny berücksichtigte Feller vier Briefe, zwei davon vom Juni bzw. Juli 169661. Es fehlen sieben Briefe aus dem Zeitraum zwischen September 1696 und Januar 1698, nämlich fünf von Burnett62 58 Es fehlen zum Beispiel – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – mit Johann Andreas Schmidt, Hermann von der Hardt, Denis Papin, Johann Melchior Hinüber, Otto Mencke oder Chilian Schrader gewechselte Briefe. 59 A I, 14 N. 94. 60 Außerdem findet sich auf S. 431 unter Nr. LII des Otium ein Text darüber, dass es wünschenswert wäre, ägyptische Wörter zusammenzustellen, der eine Übersetzung aus diesem Brief sein könnte (vgl. A I, 14, 160, Z. 19–24). 61 A I, 12 N. 418 und N. 469; A I, 14 N. 132 und N. 260. 62 A I, 13 N. 253; A I, 14 N. 104, N. 105, N. 223 und N. 231.
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und zwei von Leibniz63. Leibniz’ Brief an Burnett vom 28. Mai 169764 hat in der Akademieausgabe knapp zehn Seiten; Feller druckte davon etwa eineinhalb. Die Passagen, die er ausgewählt hat, betreffen Leibniz’ Gewohnheit, eine Sache wieder und wieder zu durchdenken, bevor er sich zu ihr äußerte; die Wahl zwischen Aristoteles und Demokrit, die er in seiner Jugend versucht habe zu treffen; William Temples Stellungnahme in der Querelle des anciens et des modernes; Fabeln von Aesop; die Debatte um die Gottesliebe und die dazu nötigen klaren Definitionen. Ausgelassen hat Feller Passagen über die Tagespolitik; den Wert des Silbers; ein naturwissenschaftliches Thema bei Newton und Bernoulli; die Jesuiten in China; Leibniz’ Auseinandersetzung mit Christiaan Huygens über Atome und absolute Bewegung; Marquard Gudes Fund von bisher ungedruckten Phädrus-Fabeln; ein aus dem Arabischen übersetztes apokryphes Buch; und schließlich Persönliches und Technisches den Briefverkehr betreffend. Die Auszüge aus diesem Brief an Burnett hat Feller an verschiedenen Stellen des Otium abgedruckt, ohne deutlich zu machen, dass es sich dabei um Auszüge aus ein und demselben Brief handelte. Ein Auszug findet sich unter Nr. XVI (S. 43–44), ein anderer unter Nr. XLIII (S. 92–93) und ein dritter unter Nr. LXII (S. 111, erster Absatz), wobei unter dieser Nummer ein Auszug aus einem anderen Schreiben an Burnett folgt65, obwohl alles unter einer Überschrift hintereinander abgedruckt ist, als handle es sich um einen Brief. Ähnlich verfuhr Feller mit Leibniz’ Brief an Heinrich Wilhelm Ludolf vom 12. Oktober 169766. Bereits in zwei verschiedenen Trimestern der Monumenta hatte er zwei Auszüge aus diesem Schreiben publiziert: den einen, ohne Hinweis auf den Empfänger noch überhaupt darauf, dass es sich um einen Briefauszug handelte, unter der Überschrift „Reflexion de Mr. Leibniz sur l’esprit sectaire. 1697“67; den anderen unter dem Titel „Extrait d’une lettre de Mr. Leibnitz, ecrite à Mad. de Scudery, de la Pieté“68 (unter dem dann als dritter und letzter Absatz noch ein Auszug aus einem Brief an Andreas Morell vom 21. Mai 1697 folgt69). In der „Mantissa“ des Otium schließlich veröffentlichte er eine weitere kurze Passage aus diesem Brief, wieder ohne kenntlich zu machen, dass es sich um einen Auszug aus einem Brief handelte70. Wie die Briefe, so sind auch die Auszüge aus ihnen offenbar mehr oder weniger zufällig gewählt. Allenfalls ließe sich sagen, dass Feller sich offenkundig für Nachrichten über Gelehrte und für Geschichtsschreibung, nicht aber für Naturwissenschaften
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A I, 13 N. 330; A I, 14 N. 264. A I, 14 N. 132. A I, 14 N. 260. A I, 14 N. 325. Monumenta, 9. Trimester, 1717, S. 519–520. Monumenta, 4. Trimester, 1715, S. 253; die ersten beiden Absätze entsprechen A I, 14, 555, Z. 2–7. 69 A I, 14, 203, Z. 3–7. 70 J. F. Feller: Otium, Hannover 1718, S. 412 f., Nr. VII.
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und Mathematik interessierte71. Außerdem scheint er Passagen, die die Tagespolitik betrafen, gerne weggelassen zu haben72. Diese waren ja, als er das Otium veröffentlichte, schon seit etwa 20 Jahren nicht mehr aktuell. Feller hat Leibniz’ Texte heimlich und in der Regel also wohl in Eile abgeschrieben. Deshalb dürfte er kaum in der Lage gewesen sein, systematisch vorzugehen. Er schrieb ab, was er mehr oder weniger zufällig in die Hände bekam. Wie der Vergleich mit anderen Textzeugen zeigt, sind seine Abschriften sehr zuverlässig. Aber dass er Briefe falschen Adressaten zuordnete, Auszüge aus ein und demselben Brief unter verschiedenen Nummern abdruckte und aus seinem Material hin und wieder Kollagen zusammenstellte, ohne deutlich zu machen, dass Leibniz diesen Text so nie geschrieben hat, sind doch Mängel seiner Editionen, die er hätte vermeiden können. Der unsystematischen Zusammenstellung kurzer Notizen oder Auszüge in der „pars altera“ und der „Mantissa“ des Otium könnte man vorwerfen, was Feller Leibniz vorgeworfen hatte73: Es handelt sich dabei um eine Masse von Bruchstücken, in die Ordnung zu bringen der Herausgeber offenbar nicht in der Lage war. 3. FELLERS LEIBNIZ-BILD Dem Otium vorangestellt ist ein 26 Seiten langer Text, der sich als Supplement zu der in den Acta eruditorum vom Juli 171774 auf Latein erschienenen und auf einen deutschen Text Eckharts zurückgreifenden Beschreibung von Leibniz’ Leben versteht75. Fellers
71 Von den insgesamt knapp 250 kurzen Stücken, die Feller in der „pars altera“ und der „Mantissa“ des Otium veröffentlichte, erschienen oder sollen erscheinen etwa 125 in den Reihen I und IV der Akademieausgabe. Etwa 45 Stücke sollen in der historischen und sprachwissenschaftlichen Reihe V ediert werden, etwa 45 wurden den philosophischen und nur etwa 35 den naturwissenschaftlichen und mathematischen Reihen zugewiesen. Von den in der Akademieausgabe bereits gedruckten, von Feller ausgewerteten Briefen wurden nur zehn in Reihe III gedruckt, 15 in Reihe II, alle übrigen in Reihe I. 72 Etwa A I, 14, 219, Z. 7–16. 73 Vgl. unten, S. 129. 74 Acta eruditorum, 1717, S. 322–336. Als Verfasser nennt die Leibniz-Bibliographie Christian Wolff (vgl. Leibniz-Bibliographie. Die Literatur über Leibniz bis 1980, begründet von K. Müller, hrsg. von A. Heinekamp [= Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs 10], Frankfurt a. M. 2 1984, Nr. 167 und 168). Direkt vor dieser Lebensbeschreibung (S. 317–322) findet sich eine Rezension von Leibniz’ Collectanea etymologica (Hannover 1717) die Eckhart herausgegeben hatte. 75 Eckharts Text selbst wurde später gedruckt: J. G. von Eckhart: „Lebensbeschreibung des Freyherrn von Leibnitz“, in: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur, hrsg. von C. G. von Murr, 7. Teil, 1779, S. 123–204. In einem Schreiben vom 26. August 1717 schrieb Eckhart an Sebastian Kortholt, dem er seine Lebensbeschreibung offenbar geschickt hatte: „Wer den Leipziger Entwurf gemacht, weiss nicht. Was sein Schulleben anbetrifft, darinn mag er recht haben; dass übrige aber ist bey mir richtig“ (Chr. Kortholt [Hrsg.]: Viri illustris Godefridi Guilielmi Leibnitii epistolae ad diversos, Bd. 4, Leipzig 1742, S. 119). Mit dem „Leipziger Entwurf“ kann nicht die Vita der Acta eruditorum gemeint sein, die offensichtlich
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Supplement ist – im Gegensatz zu der genauen und um Vollständigkeit bemühten Vita der Acta eruditorum – eine lose, anekdotische Zusammenstellung von ganz vermischten Bemerkungen, die über Leibniz wenig oder gar nichts aussagen. Feller versuchte nicht, die Bedeutung von Leibniz’ wissenschaftlichem Werk zu würdigen, sondern schrieb auf, was ihm bei der Lektüre der Vita einfiel. Fellers Meinung zu Leibniz als Historiker, Wissenschaftler und Mensch wird jedoch sehr deutlich. In der Vita der Acta eruditorum heißt es, Leibniz sei 1677 zum Geheimen Rat und später zum Geheimen Justizrat ernannt worden76. Feller bemerkt dazu, Leibniz habe Titel und Bezüge eines Geheimen Justizrats besessen und sei auch Hausgeschichtsschreiber gewesen. Da er sich aber einer geregelten Lebensweise nicht unterwerfen wollte77, sei er nicht zu den Ratssitzungen hinzugezogen worden, es sei denn, sein Rat zu Angelegenheiten der Geschichte oder des öffentlichen Rechts sollte eingeholt werden78. In der Vita heißt es (und ich zitiere den zugrunde liegenden deutschen Text Eckharts, statt das Latein der Acta eruditorum zurückzuübersetzen): Er las zwar viel, und exerpirte alles, machte auch fast über jedes curiose Buch seine Reflexionen auf kleine Zetteln; so bald er sie aber geschrieben, legte er sie weg, und sahe sie nicht wieder, weil seine Memoire unvergleichlich war79.
Bei Feller heißt es dazu, Leibniz habe seine Zeit damit verbracht, hastig und unsystematisch alle möglichen Bücher zu lesen80 und Auszüge auf kleine Zettel zu schreiben. Er habe sich aber nicht die Zeit genommen, seine Exzerpte zu ordnen, was ihrer großen Menge wegen auch kaum möglich gewesen sei. So sei es vorgekommen, dass ihm, wenn Feller die in seinem Auftrag angefertigten Auszüge vorlegte, einfiel, dass er das betreffende Buch ja selbst schon gelesen habe81. In der Vita heißt es, Leibniz habe auf den Befehl von Ernst August hin im Jahr 1687 damit begonnen, sich ernsthaft der Welfengeschichte zu widmen. Er sei dazu unter anderem durch Bayern, Franken und Schwaben gereist und habe die in den dortigen Klöstern aufbewahrten Handschriften studiert82. Früchte dieser Studien seien die zwischen 1707 und 1711 erschienenen drei Bände83 der Scriptores rerum Brunsvicensium illustrationi inservientes84. Außerdem habe Leibniz vorgehabt,
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aus Eckharts Text übersetzte (vgl. unten, Anm. 79). Möglicherweise meinte Eckhart die in den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen vom 9. Juni 1717 (S. 369–376) abgedruckte Vita. Acta eruditorum, Juli 1717, S. 329 und S. 332. „[…] ordinatae et pragmaticae vitae rationi se adstringi haud passus […]“. J. F. Feller: Otium, Hannover 1718, Bl. )( )( 5. J. G. v. Eckhart: „Lebensbeschreibung des Freyherrn von Leibnitz“ (wie Anm. 75), S. 199. Die Acta eruditorum (Juli 1717, S. 336) übersetzten folgendermaßen: „Multa legit et excerpsit, atque ad singulos fere libros curiosos notulas quasdam in schedulis consignavit: eas tamen statim seposuit, nec memoria pollens unquam relegit“. „[…] vaga et subita cujuscunque generis librorum lectione […]“. J. F. Feller: Otium, Hannover 1718, Bl. )( )( 5v. Acta eruditorum, Juli 1717, S. 329–330; vgl. auch S. 333. G. W. Leibniz [Hrsg.]: Scriptores rerum Brunsvicensium illustrationi inservientes, antiqui omnes et religionis reformatione priores, Bd. 1–3, Hannover 1707–1711. Acta eruditorum, Juli 1717, S. 334.
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eine Geschichte Braunschweigs von Karl dem Großen bis ins Jahr 1024 zu schreiben, habe diese aber nur bis zum Jahr 1005 ausgearbeitet85. Feller berichtet, wenn es um die Welfengeschichte geht, eher von seiner eigenen Arbeit86. Er habe drei Jahre lang Auszüge und Kollektaneen zur mittelalterlichen Geschichte vom Anfang des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts zusammengetragen, zuerst die älteren Schriftsteller gelesen und sie dann mit den neueren verglichen, Berichte über die Taten und Reisen der Kaiser, Feierlichkeiten und ähnliches unter Berücksichtigung ungedruckter Chroniken und Urkunden genau verzeichnet, und alles, was Braunschweig betraf, hinzugefügt. Das Ergebnis hätte eher verdient, „Annalen der Kaiser des 11. und 12. Jahrhunderts“ genannt zu werden, als Braunschweigische Geschichte87. Die ganze Mühe sei aber umsonst gewesen, denn Leibniz’ Ausarbeitung zur Welfengeschichte breche fast genau in dem Jahr ab, bei dem Feller angefangen habe88. Im Gegensatz zu den Acta eruditorum, die kein kritisches Wort über Leibniz’ historische Arbeiten verloren, schreibt Feller, in seinem Streben nach Ansehen habe sich Leibniz in so viele andere Geschäfte verwickelt, dass er den Aufgaben eines Hofhistoriographen nicht nach Gebühr nachkommen konnte89. Das sei auch der Grund, warum er in den dreißig Jahren seit 1687 bis zu seinem Tod nichts zustande gebracht habe, als die drei Bände der Scriptores rerum Brunsvicensium illustrationi inservientes herauszugeben. Diese seien zudem während seiner Abwesenheit erschienen und nur deshalb, weil sich andere der Sache angenommen hätten. Außerdem sei diese Ausgabe mangelhaft. Es fehlten zum Beispiel Zeilenzähler, und die Register seien deshalb schwer zu benutzen90. Wenn Feller auch nicht in allem Unrecht haben mag, so spricht aus diesem Supplement doch das Ressentiment des sich zurückgesetzt fühlenden Amanuensis 85 Ebd., S. 336. 86 Zu Fellers Kritik des von Leibniz herausgegebenen Codex juris gentium diplomaticus, Hannover 1693, vgl. R. Otto: „Leibniz’ Codex juris gentium diplomaticus im Urteil der Zeitgenossen – eine Bestandsaufnahme“, in: Studia Leibnitiana 35/2 (2003), S. 162–193, hier S. 190 mit Anm. 139. 87 J. F. Feller: Otium, Hannover 1718, Bl. )( )( 2v. 88 Ebd., Bl. [)( )( 6r]. 89 Ebd., Bl. )( )( 5v – Bl. [)( )( 6r]. Ähnlicher Ansicht war auch Eckhart. Er schrieb am 13. November 1716, wenige Tage vor Leibniz’ Tod, an Bernstorff: „Und glaube ich noch nicht, daß er bey seinem leben sein werck ediret. Denn er ist gar zu sehr distrahiret u. indem er alles thun u. in alles sich mischen will, kann er nichts zum ende bringen, wenn er auch Engel zu adjutanten hätte. Wenn Königl. Mt. mich zu conserviren belieben werden sollen sie gewiß den unterscheid bald sehen“ (R. Doebner [Hrsg.]: „Leibnizens Briefwechsel mit dem Minister von Bernstorff und andere Leibniz betreffende Briefe und Aktenstücke aus den Jahren 1705–1716“, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (1881), S. 205–380, hier S. 371). In Eckharts „Lebensbeschreibung“ kommt so etwas freilich nicht vor. Dennoch brachte nicht nur Feller dieses Bild von Leibniz’ Tätigkeit als Hofhistoriograph an die Öffentlichkeit: Im Journal des sçavans vom 22. März 1717 (S. 190 f.) heißt es: „M. Leibnitz a fort negligé les fonctions de cet emploi d’Historiographe, parce qu’il n’aimoit à s’appliquer qu’aux recherches qu’il croyoit au dessus de la portée du commun des Sçavans“. 90 J. F. Feller: Otium, Hannover 1718, Bl. [)( )( 6r].
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– und vielleicht auch der Neid des peniblen kleinen Gelehrten auf den Wissenschaftler, der es nicht nötig hatte, seine Lektüre nach einem ausgefeilten System einzurichten und seine Lesefrüchte mit Fleiß zu sortieren – und der dennoch Bedeutendes zu schreiben vermochte. Den Acta eruditorum ließ sich auch entnehmen, dass Eckhart beauftragt worden war, Leibniz’ Welfengeschichte zu Ende zu bringen, und hoffe, das Werk in absehbarer Zeit herausgeben zu können91. Wenn Feller, der 1717 selbst eine Genealogische Historie des Königlichen Groß-Britannischen, Chur- und Fürstlichen Braunschweig-Lüneburgischen Hauses92 publizierte, gegen Leibniz als Historiographen polemisierte und Eckhart für Leibniz in dem Material, das er den Acta eruditorum sandte, nur Lob fand, dann zeigt sich darin auch ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem verstoßenen Mitarbeiter und dem designierten Nachfolger. 4. REZEPTION DES OTIUM HANOVERANUM (1717–1720) 1. Die erste93 ausführliche Rezension des Otium erschien in den Deutschen Acta eruditorum94, wo auf insgesamt 12 Seiten Übersetzungen und Paraphrasen geboten werden. Kommentare fehlen – bis auf den (richtigen) Hinweis, dass in dem „Supplementum vitae“ vieles enthalten sei, das „eigentlich nicht zu dem Lebens-Lauffe“ gehöre95, und die abschließende Stellungnahme96: Aus diesem Extract kan man leichte abnehmen, daß gegenwärtige Collection sich so wohl werde lesen lassen, als irgend sonsten ein Scriptum in ANA. Der Herr Feller hat einen guten Selectum in acht genommen, und solche Passagen erwehlet, welche der Neubegierigkeit derer Leser ein Gnügen thun können. Uberhaupt siehet man daraus, daß Excerpta aus Briefen und Discoursen gelehrter Leuthe in der Historia litteraria und arcana vieles Licht geben können, zumahl wenn dieselben von solchen Personen communiciret werden, die Gelegenheit gehabt, mit dergleichen Gelehrten familiair umzugehen und derselben gute und schlimme Eigenschafften aus der Erfahrung kennen zu lernen. Was gegenwärtiges Werck insonderheit betrifft, so begreifft dasselbe wenige Jahre von des gelehrten Herrn Leibnitzens Leben, und kan man daraus schliessen, was vor ein schöner Vorrath und merckwürdige Nachrichten in denen Briefen 91 Acta eruditorum, Juli 1717, S. 335 f., und August 1717, S. 350 f.; vgl. J. G. v. Eckhart: „Lebensbeschreibung des Freyherrn von Leibnitz“ (wie Anm. 75), S. 187 f. 92 J. F. Feller: Des Königlichen Groß-Britannischen, Chur- und Fürstlichen Braunschweig-Lüneburgischen Hauses Genealogische Historie, Leipzig 1717. 93 Ich halte mich an die Reihenfolge, in der die Rezensionen von den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen angezeigt wurden (vgl. zu diesem wöchentlich erscheinenden Organ, das Auszüge aus Zeitschriften abdruckte und wohl auch hin und wieder eigene Texte brachte, R. Otto: „Johann Gottlieb Krause und die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen“, in: Die Universität Leibniz und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780, hrsg. von H. Marti und D. Döring, Basel 2004 [= Texte und Studien 6], S. 215–328). 94 Deutsche Acta eruditorum oder Geschichte der Gelehrten, 51. Theil, 1717, S. 168–180. (Dieser 51. Teil enthält als Frontispiz ein Porträt von Leibniz). 95 Ebd., S. 171. 96 Ebd., S. 179. Die Neuen Zeitungen vom 25. Januar 1718 (S. 62) druckten hiervon den ersten und den letzten Satz und ließen also das Lob von Fellers Auswahl und den Hinweis auf die Nützlichkeit von „Excerpta aus Briefen und Discoursen gelehrter Leuthe“ weg.
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Stefan Luckscheiter dieses berühmten Mannes müssen verborgen seyn, welcher wohl den grösten Theil seines Lebens mit Correspondencen und Reisen zugebracht hat; dadurch aber ist verhindert worden, daß die Nachwelt von seinen Meriten und grosser Capacité nicht viel mehr als ein blosses Andencken von seiner Gelehrsamkeit aufweisen kan.
2. In einer Notiz der Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen vom 26. Februar 171897 folgten – ohne Quellenangabe, unter der bloßen Überschrift „Hannover“ – die ersten kritischen Töne: Die neulich herausgekommenen Miscellanea Leibnitiana sind wohl zu lesen, aber man glaubet, daß der Herr Feller Piecen hineingesetzt, von denen Hr. Leibnitz vielleicht nicht würde zugegeben haben, daß sie wären gedruckt worden. Der Herr Rath Eccard will ehestens weit vollständigere Leibnitiana wie auch alle seine Opera minora in fol. zusammen herausgeben.
Vielleicht war Eckhart selbst der Urheber dieser Nachricht. 3. Kurz darauf erschien die lange Besprechung der Vermischten Bibliothec, aus der ich eingangs referiert habe98. 4. Die letzte Rezension, die ich finden konnte, erschien in den Acta eruditorum vom März 171899. Die (wie üblich) wenigen wertenden Stellen daraus gaben die Neuen Zeitungen vom 2. April 1718 so wieder100: Die hierin befindlichen Materien sind nicht alle von gleichem Werth, denn da der Herr von Leibnitz allen zu antworten pflegen, die an ihn geschrieben, hat er sich nach dem Begriff eines ieden gerichtet. Wenn er von den Schrifften in ana urtheilet, daß die Herausgeber offt die Meynung der Autorum nicht eingesehen, und ihnen viel falsches angedichtet, lassen die Verfasser diejenigen, welche den grossen Leibnitz aus seinen von ihm selbst herausgegebenen Schrifften kennen, urtheilen, ob diese Leibnitiana auch in diese Classe zu setzen.
Dass das Otium hier so kritisch aufgenommen wurde, mag auch daran gelegen haben, dass es eben die Zeitschrift ist, in der die Vita erschienen war, die Feller mit seinem „Supplementum“ ergänzt und auch angegriffen hatte und der Material zugrunde lag, das Eckhart geliefert hatte. 5. Zwei Jahre später griff Eckhart, der 1701 und 1702 mit ihm korrespondiert101 und sich noch 1707 ausgesprochen freundlich öffentlich über ihn geäußert hatte102, 97 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1718, S. 132. 98 Die Neuen Zeitungen vom 23. März 1718 (S. 189) brachten davon nur folgende kurze Notiz: „Die gelehrte Welt wird dem Herrn Feller vor die bey dieser Sammlung angewendete Mühe nicht wenig verbunden seyn. Hier werden zugleich einige von den Meynungen des Herrn Leibnitzes beurtheilet“. 99 Acta eruditorum, 1718, S. 111–117. 100 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1718, S. 214; vgl. Acta eruditorum, 1718, S. 111 und S. 116. 101 Vier Briefe Fellers sind überliefert in Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Cod. ms. philos. 135: Zwei aus Frankfurt an der Oder vom 19. Februar und vom 27. März 1701 (Bl. 159–160 und Bl. 161), einer aus Nürnberg vom 17. Mai 1701 (Bl. 162–163) und einer aus Regensburg (?) vom 5. Juni 1702 (Bl. 164–165). 102 J. G. v. Eckhart: De usu et praesantia studii etymologici in historia, Helmstedt 1707, Bl. B 2v, Fn. c.
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selbst Feller an103: Die Lebensbeschreibung, die er den Acta eruditorum für deren Leibniz-Vita gesandt hatte, hatte auch Bernard le Bovier de Fontenelle für seine bekannte, am 13. November 1717104 vorgetragene Eloge auf Leibniz verwendet105. Eckhart legte eine deutsche Übersetzung dieser Eloge der ersten deutschen Ausgabe der Theodizee von 1720 bei und versah sie mit Anmerkungen. Er schrieb dort zum Beispiel106: Man siehet aber aus einem vom Herrn Secretario ausgestellten Reverse, daß er an die Sachen, so in diesen Monumenten, seiner Braunschweigischen Historie u. den Leibnitzianis sind, nicht eben auf gute Art gekommen, und bedauret man, daß er seines Gutthäters Ehre dadurch grosses Unrecht gethan.
Außer einer kurzen Anzeige in den Mémoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts107 vom Oktober 1718 konnte ich keine internationale Resonanz auf das Otium feststellen. Anders als Leibniz’ von Eckhart herausgegebene Collectanea etymologica108 wurde es nicht im Journal des sçavans besprochen. Dennoch kann man wohl sagen, dass das Otium breit rezipiert und recht wohlwollend aufgenommen wurde – freilich mit gewissen, nur zu berechtigten Zweifeln an der Qualität der Auswahl.
103 In seiner „Lebensbeschreibung des Freyherrn von Leibnitz“ (wie Anm. 75; S. 170 f.) hatte er geschrieben: Leibniz „nahm mich hierauf, an statt eines andern, (Feller) mit dem er einigen Widerwillen gehabt, an, in der Historischen Arbeit ihm an Hand zu gehen“. An der entsprechenden Stelle der in den Acta eruditorum gedruckten Vita (1717, S. 333) wird nur Eckhart, nicht Feller erwähnt. 104 Gedr. in: Histoire de l’Academie royale des sciences, Année 1716, Paris 1718, S. 94–128; vgl. Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1. Dezember 1717, S. 769 f. 105 Eckhart hat seine „Lebensbeschreibung“ für Elisabeth Charlotte von Orléans und Fontenelle angefertigt (vgl. Eckharts Schreiben an Sebastian Kortholt vom 6. April und vom 26. August 1717, gedr. in: Chr. Kortholt [Hrsg.]: Viri illustris Godefridi Guilielmi Leibnitii epistolae ad diversos, Bd. 4, Leipzig 1742, S. 116 f. und S. 119; vgl. auch Journal des sçavans, 22. März 1717, S. 192; C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie, Leipzig 1737, S. 3). 106 B. Le Bovier de Fontenelle: Lebens-Beschreibung Herrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz, Amsterdam 1720 [angebunden an: G. W. Leibniz: Essais de Theodicée, Oder Betrachtung der Gütigkeit Gottes, der Freyheit des Menschen und des Ursprungs des Bösen, Amsterdam 1720], hier S. 26 f., Anm. (o). In einer anderen Anmerkung heißt es: „Was von seinen Reden im letzten Ende Herr Feller im Supplemento Vitae Leibnitianae beygebracht, sind pur lautere Unwahrheiten“ (S. 72 f., Anm. (f)). 107 Dort wird neben dem Titel des Buches nur Folgendes vermerkt: „Monsieur Féller a rassemblé dans un volume ce qu’il avoit appris dans l’entretien de Monsieur de Leibnits, des extraits de ses lettres, des paroles remarquables, des pensées detachées de ce grand homme, un suplement de l’eloge inseré dans les actes de Lipsic, enfin les lettres de Monsieur de Leibnits et de M. Pelisson sur la tolerance“ (Mémoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts, Oktober 1718, S. 702 f.). 108 Vgl. Journal des sçavans, 15. November 1717, S. 581–585, und 22. November 1717, S. 594–598.
EDITION IM NETZWERK – CHRISTIAN KORTHOLTS GODEFRIDI GUIL. LEIBNITII EPISTOLAE AD DIVERSOS UND DIE SAMMLUNG SEINES VATERS SEBASTIAN KORTHOLT* Von Nora Gädeke (Hannover) Als der erste Band der ersten größeren Edition von Leibniz’ Korrespondenzen erschien1, war deren Herausgeber Christian Kortholt gerade einmal 25 Jahre alt. Allerdings trug er einen Namen, der in der gelehrten Welt wohlbekannt war: als der seines gleichnamigen Großvaters, des weithin berühmten Theologieprofessors zu Kiel2.
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Mein Dank gilt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Latenz-Tagung für die Diskussion meines Vortrags, der inzwischen wesentliche Änderungen erfahren hat durch die mir erst nach der Tagung als Scans vorliegenden Briefe aus dem Kortholt-Nachlass in der Universitätsbibliothek Kiel, für deren Bereitstellung ich Dr. Klara Erdei und Frau Ute Brieger-Naseri zu danken habe; ebenso habe ich Frau Dietlind Willer und Frau Katarzyna Chmielewska von der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen für die Bereitstellung von Material zur HanschÜberlieferung zu danken. Kolleginnen und Kollegen in Hannover und Potsdam, Sabine Sellschopp, Charlotte Wahl, Gerd van den Heuvel und Stephan Waldhoff, haben meinen Aufsatz einer kritischen Lektüre unterzogen, wofür ihnen auch an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Gábor Gángó (Budapest) danke ich sehr für seine Hinweise und Materialbereitstellung im Kontext der Driesch-Korrespondenz, Stefan Lorenz (Münster) für weitere Informationen zu Hansch, Martin Mattmüller (Basel) für seine hilfreichen Anmerkungen zu Goldbach. Viri illustris Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad diversos, Theologici, juridici, medici, philosophici, mathematici, historici et philologici argumenti. E Msc. Auctoris cum annotationibus suis primum divulgavit Christianus Kortholtus, Bd. 1–4, Lipsiae 1734–1742. Im Folgenden zitiert als: Epistolae; die u/v-Graphie ist normalisiert. Vgl. W. Göbell: Art. „Kortholt, Christian“, in: Neue Deutsche Biographie 12 (1979), S. 601 f. (online: http://www.deutsche-biographie.de/ppn116341793.html [zuletzt eingesehen 8.1.2017]); zu zeitgenössischen Einschätzungen vgl. J. Moller: Cimbria Literata sive scriptorum ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatiae […] historia literaria tripartita, Bd. 3, Havniae 1744, S. 362–376, v. a. S. 365–367. Noch weit über ein Jahrzehnt nach dessen Tod wird Mathurin Veyssière La Croze rühmend auf ihn Bezug nehmen („Celeberrimi patris tui mentione mirum in modum exhilaratus sum, cuius scripta nunquam legi sine voluptate et fructu“); in einem Brief an Sebastian Kortholt vom 11. April 1719 (vgl. unten Anm. 137); noch 1735 wird Charles Etienne Jordan (in der unten Anm. 182 genannten Histoire d’un voyage litteraire, hier S. 14) den jüngeren Christian als „Petit-Fils du grand Kortholt“ bezeichnen.
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Auch der Vater des jungen Herausgebers, Sebastian Kortholt, wirkte an dieser Universität3; dessen Schwestern waren mit angesehenen Gelehrten dort verheiratet; mit einem Bruder verlagerte sich die Familie zum Teil in den hessischen Raum, an die Universität Gießen: eine weitverzweigte Gelehrtendynastie4. Der jüngere Christian Kortholt, 1709 geboren, war wie sein Großvater Theologe, mit Studium in Kiel, Wittenberg und Leipzig (hier arbeitete er mit an den Acta Eruditorum und wurde 1731 Mitglied des Predigerkollegiums); die 1733 anschließende peregrinatio academica führte ihn neben Dänemark nach Holland und England. Danach war er ab 1736 zunächst als dänischer Gesandtschaftsprediger in Wien tätig. Nach dem Scheitern eines ersten Berufungsversuches 1735/1736 zum Universitätsprediger in Göttingen übernahm er dieses Amt 1742 und erhielt zudem eine außerordentliche Professur der Theologie an der erst kürzlich gegründeten Universität, an der 1745 seine Promotion zum Doktor der Theologie erfolgte. 1748 wurde er Prediger an St. Jakobi ebendort und Superindendent. In Göttingen verstarb er 1751, im Alter von 41 Jahren5. Die Godefridi Guil. Leibnitii Epistolae ad diversos bestehen aus vier Bänden, erschienen in den Jahren 1734, 1735, 1738 und 1742. In Überschneidung mit ihrem Inhalt (insbesondere von Band 3) brachte Kortholt 1734 zudem weitere Leibnitiana ‚außer der Reihe‘ heraus: Recueil des diverses Pieces sur la Philosophie, les Mathematiques, l’Histoire etc.6. Dieser Band ist der britischen Königin Caroline gewidmet, die anscheinend bereits Interesse an der Veröffentlichung von Leibniztexten gezeigt hatte7. Im Widmungsschreiben wird sie als Leibniz’ Patronin adressiert, die eine so hohe Meinung von seinem Werk gehabt habe, dass all seine Schriften es schon deshalb verdient hätten, erhalten zu bleiben8. Es wird auch der LeibnizClarke-Briefwechsel unter den Augen Carolines angesprochen sowie deren generelle Förderung der „Lettres“9. Weshalb dieser Band, anders als die Epistolae, nicht 3
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Biogramm in http://professorenkatalog-intern.uni-kiel.de/ (zuletzt eingesehen 8.1.2017). Vgl. G. W. Götten: Das Jetztlebende Europa, Oder Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen und Schriften ietztlebender Europäischer Gelehrten, Bd. 1–3, Celle 1735–1740, hier Bd. 1, S. 202–210. Die in Anm. 2 genannten Artikel zu Christian Kortholt behandeln auch dessen Familie; vgl. zusätzlich den Artikel „Kortholt, Matthias Nikolaus“, in: Hessische Biografie, http://www.lagis-hessen.de/pnd/116341823 (Stand: 28.9.2012). Eine Kurzbiographie Christian Kortholts mit Schwerpunkt auf seiner Göttinger Tätigkeit und seiner theologischen Einordnung bei K. Hamann: Universitätsgottesdienst und Aufklärungspredigt. Die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus, Tübingen 2000, S. 222–234. Erschienen „A Hambourg, chez Abram Vandenhoeck“. Die Widmung trägt, wohl adressatenorientiert im alten Stil, das Datum 25. Dezember 1733 (d. h. 5. Januar 1734). Im Folgenden zitiert als: Recueil. Ebd., Widmungsschreiben: „Comme le recueil, qui paroît icy, peut servir en quelque sorte de supplement aux diverses pieces d. M. Leibniz qui ont eu le bonheur de plaisir à Votre Majesté“. Ebd.: „Votre Majesté l’a honoré particulierement de sa protection, et a porté Elle-même un jugement si avantageux des ses ouvrages, que tous ses écrits meritent pour cela même d’être conservés“. Ebd.: „comme Elle donne en toute occasion des marques éclatantes de ses sentimens genereux pour les Lettres“.
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in Leipzig, sondern in Hamburg erschien, wird Kortholt später damit begründen, dass er auf dem Weg nach England hier vorbeigekommen sei und eine Gelegenheit zum Druck dieses Werkes, das er dort der Königin präsentieren wollte, gefunden habe10. Der Recueil ist in mehrfacher Hinsicht interessant, nicht zuletzt auch im Hinblick auf Kortholts spätere Göttinger Professur11, ich werde mich im Folgenden aber auf die Epistolae konzentrieren. Wie der Titel sagt, enthalten sie vor allem Briefe; Schriften sind auch vertreten, aber deutlich in der Minderzahl12. Um die Bedeutung dieses Werks für die Leibniz-Überlieferung und -Rezeption einzuschätzen, sollte man sich vor Augen führen, dass die große Leibniz-Ausgabe von Louis Dutens, die etwa eine Generation später (1768) herauskommt13, zu über einem Drittel auf den Epistolae beruht (die umgekehrt bei Dutens zu über 90%, also fast komplett, ‚recycelt‘ sind)14 und dass für eine ganze Reihe von Korrespondenzen viele (in einigen Fällen alle) Leibnizbriefe uns nur durch Kortholts Druck überliefert sind15. Hinzuweisen ist auch auf die minutiöse Verarbeitung der ersten EpistolaeBände in Carl Günther Ludovicis Bio-Bibliographie, aus der vieles von dem stammte, was im 18. Jahrhundert über Leibniz bekannt war, nicht zuletzt Details zur Biographie und zur Korrespondenz16.
10 In der Praefatio zu Epistolae, Bd. 3, Bl. [a6]r°: „Quam quatuor abhinc annis in Angliam contenderem, Hamburgi in itinere fasciculum epistolarum Leibnitii gallico sermone scriptarum eo potissimum consilio typis excudi curavi, ut haberem, quod Magnae Britanniae Reginae […] coram offerem“. Tatsächlich gelang es Kortholt, bei der Königin eine Audienz zu erhalten und ihr seine Leibnitiana vorzulegen; dazu J. Chr. Strodtmann: Geschichte jezlebender Gelehrten, als eine Fortsetzung des Jezlebenden Gelehrten Europa, Bd. 9, Zelle 1745, S. 401. 11 Das Projekt der Gründung der 1737 eröffneten Universität war seit dem Reskript König Georgs II. vom 26. Januar/6. Februar 1732 publik. Königin Caroline wurde bereits von den Zeitgenossen Einfluss darauf beigemessen; vgl. E. F. Roesler: Die Gründung der Universität Göttingen, Göttingen 1855, S. 6 f. bzw. S. 9. K. Hamann: Universitätsgottesdienst (wie Anm. 5), S. 222, führt die Erstbesetzung des Universitätspredigeramtes mit Kortholt auf die Kiel-Verbindungen von Göttinger Theologieprofessoren (darunter Johann Lorenz von Mosheim) zurück; das Widmungsschreiben des Recueil lässt jedoch vermuten, dass auch Fürsprache der Königin (die kurz nach der Inaugurationsfeier der Universität 1737 verstarb) im Spiel gewesen sein könnte. 12 Etwas über 5%; darunter auch Texte von Korrespondenten. Hinzu kommen einige Drittstücke sowie Briefe, die nach Leibniz’ Tod im Kontext der Materialsammlung entstanden. 13 Leibnitii Opera omnia, hrsg. von L. Dutens, Bd. 1–6, Genevae 1768; dazu A. Heinekamp: „Louis Dutens und seine Ausgabe der Opera omnia von Leibniz“, in: A. Heinekamp (Hrsg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz (= Studia Leibnitiana, Supplementa 26), Stuttgart 1986, S. 1–28, zur Verwendung von Kortholts Edition S. 19. 14 Laut Arbeitskatalog der historisch-kritischen Leibnizedition (http://www.leibnizedition.de/hilfsmittel.html [zuletzt eingesehen 8.1.2017]) sind unter den 636 Datensätzen zu Kortholt-Drucken nur 53 zu Stücken, die nicht bei Dutens gedruckt sind. 15 Z. B. von Bierling, Johann Albert Fabricius, Fogel, Reyher, Schelhammer, Jakob Thomasius, Tiede. 16 C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie, Theil [1.] 2, Leipzig 1737. Die Verarbeitung der Epistolae, Bd. 1–3, zeigt sich insbesondere in Teil 2, Kapitel 16 (S. 99–198) mit der Auflistung von Leibniz’ gelehrten Korrespondenzen.
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Die annähernd 500 Briefe aus etwa 60 Korrespondenzen (mehrheitlich Leibnizbriefe) datieren von Leibniz’ frühen Erwachsenenjahren (Hesenthaler, Hevelius, Fogel, Simon Löffler, Jakob Thomasius) bis in die letzte Lebenszeit. Vom Umfang her sind diese Korrespondenzen sehr unterschiedlich vertreten: viele nur in einem oder wenigen Briefen17, aber auch eine ganze Reihe mit einer größeren Briefzahl. An der Spitze, mit weit über 100 Briefen, rangiert der Briefwechsel mit dem Helmstedter Theologen Johann Fabricius, mit weitem Abstand dahinter folgen die Korrespondenzen mit Hansch, Bierling, Driesch, Sebastian Kortholt, La Croze, Friedrich Simon Löffler18, noch einmal in kleinerem Umfang die mit Kestner, Reyher, Rømer, Schelhammer, Johann Philipp Schmid, Jakob Thomasius19. Zum Teil entspricht das dem Korrespondenzverlauf (auch wenn unsere Materialbasis hier in vielen Fällen über Kortholt hinausgeht): Leibniz’ Korrespondenz mit Fabricius muss in der Tat eine seiner umfangreichsten gewesen sein20; auch Sebastian Kortholt, La Croze und Löffler stehen in einer Frequenzliste weit oben21. Andere umfangreiche Korrespondenzen sind dagegen ausgesprochen spärlich vertreten; wie etwa die mit Rudolf Christian Wagner, aus der nur ein Brief wiedergegeben ist22. Wenn unten der Frage nachgegangen wird, wie diese Kollektion zustande kam, könnten auch solche Befunde eine Rolle spielen. Zuvor aber zum allgemeinen Hintergrund: welche Ziele wurden mit diesem Werk verfolgt? Das tritt deutlich hervor in Band 4, in dem sich die Kontroversen spiegeln, die sich seit den 1720er Jahren, insbesondere im Kontext der spektakulären Vertreibung Christian Wolffs aus Halle23, an der „Leibniz-Wolffschen Philosophie“
17 Ein bis drei Briefe: Bouvet, Buddeus, Consbruch, Dangicourt, des Bosses, Eler, Fogel, Gakenholz, Goldbach, Hackmann, von der Hardt, Heraeus, Hesenthaler, Hevelius, Huyssen, Kohl, Krüsicke, Lamy, Lange, Le Gobien, Simon Löffler, Heinrich Wilhelm Ludolf, Mascov, Michelotti, Molanus, Morell, Muratori, Orban, Pfeffinger, Pinsson, Remond, Sparwenfeld, Sperling, Spinoza, Staff, Tiede, Rudolf Christian Wagner, Wotton, Rudolf August und Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Mit vier bis neun Briefen sind vertreten: Johann Albert Fabricius, Grimarest, Hartsoeker, Liebknecht, Marinoni, Scudéry, Widow, Johann Christoph Wolf. 18 25 bis 38 Briefe. 19 10 bis 17 Briefe. 20 Auch bei dieser an sich handschriftlich sehr gut (und beidseitig) erhaltenen Korrespondenz zeigt sich die Bedeutung von Kortholts Werk: Über 10% der dort aufgenommen Briefe sind heute nur noch durch die Epistolae überliefert. 21 Zur Position dieser Leibniz-Korrespondenzen in einer nach Frequenz geordneten Rangliste vgl. N. Gädeke: „Leibniz lässt sich informieren – Asymmetrien in seinen Korrespondenzbeziehungen“, in: K.-D. Herbst/St. Kratochwil (Hrsg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 25–46, hier S. 32; erweitert in: Dies.: „Leibniz’ Korrespondenz im letzten Lebensjahr – Gerber reconsidered“, in: M. Kempe (Hrsg.): 1716 – Leibniz’ letztes Lebensjahr: Unbekanntes zu einem bekannten Universalgelehrten, Hannover 2016, S. 83–109. 22 Vgl. unten mit Anm. 153. Auch die in dieser Liste weit oben stehenden Korrespondenzen mit von der Hardt und mit Molanus sind in den Epistolae nur sporadisch vertreten, Johann Andreas Schmidt bis auf eine Erwähnung in der Praefatio überhaupt nicht. 23 Zum institutionellen Hintergrund C. Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 389–441; A. Beutel: „Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt
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entzündeten24. Das Titelblatt gibt nicht nur kund, dass dieser Band der letzte sein solle; es enthält auch eine bemerkenswerte Ausweitung gegenüber den früheren Bänden mit einer zusätzlichen Disputatio de philosophia Leibnitii Christianae Religioni haud perniciosa aus der Feder des Herausgebers; dieser Text macht, mit eigener Paginierung, hier den Anfang. So setzt das erste Kapitel zwar zunächst einmal ein mit höchstem Lob („elogium“) für Leibniz’ Errungenschaften auf den Gebieten Mathematik, Geschichtsforschung, Jurisprudenz, Philologie, Metaphysik, Poetik, Wissenschaftsorganisation, wobei der Philosophie die Schlüsselfunktion zugesprochen wird25. Im zweiten Kapitel aber erfolgt eine Kehrtwende: über Leibniz’ Äußerungen auf dem Gebiet der Philosophie gebe es sehr unterschiedliche Anschauungen26. Zwar sei die Zahl derer, die ihn als „summus philosophus“ verehrten, nicht gering, aber es fehlten auch nicht diejenigen, die seine philosophischen Prinzipien als gefahrvoll und verderblich für die christliche Religion beurteilten27. Vielleicht wäre, so Kortholt, Leibniz’ Philosophie nicht in solche Kontroversen hineingeraten, hätten nicht die um die Philosophie Christian Wolffs Gelegenheit dazu gegeben. Dieser große Philosoph nämlich habe mehrere Leibniz’sche Hypothesen in sein System integriert und sich derselben „ratio et via philosophandi“ wie Leibniz bedient28. Kortholt lässt das dritte Kapitel zwar damit beginnen, es liege ihm fern, sich in diese Kontroversen einzumischen; aber dann folgt eine ausführliche LeibnizApologie, wozu ihm dieser Band Gelegenheit gibt29. Auch dieses Werk wird man also der Gruppe zuordnen können, der Stefan Lorenz die Bezeichnung „engagierte Edition“ gegeben hat30 – angesichts der seit 1733 laufenden Rehabilitierung Wolffs
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des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie“, in: U. Köpf (Hrsg.): Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Festschrift für Rolf Schäfer, Tübingen 2001, S. 159–202. Dazu D. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 75/4), Stuttgart 1999, v. a. S. 47–54; J. I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, Oxford 2001, S. 541–551. Ich verzichte auf die Wiedergabe der sehr langen Passage (Epistolae, Bd. 4, S. 5–7), die einsetzt mit „Omnes, qui eruditioni aliquid statuunt pretii, in Leibnitium hoc consentiunt elogium, quod praeclare de litterarum studiis meruerit“ und abschließt mit „Sed iam non est animus, illustria Leibnitii in omnem eruditionem merita recensere. Illud tantum observo, eum in tot scientiarum generibus excellere non potuisse, si in Philosophia fuisset hospes. Usus enim Philosophiae tam late patet, ut reliquis disciplinis omnibus facem praeferat, et quo praestantior quis est philosophus, eo insignius etiam de aliis scientiis mereatur, si ad easdem aninum applicet“. Ebd., S. 7: „de eius tamen in Philosophia conatibus maxime diversa ratione pronuntiant“. Ebd., S. 8: „sed neque desunt, qui principia eius philosophica periculi plenissima et Christianae religioni perniciosa iudicant“. Ebd.: „Hic enim summus philosophus diversas Leibnitii hypotheses suo systemati inseruit, eademque, qua Leibnitius, philosophandi ratione et via usus est“. Ebd., S. 55: „ad Leibnitii philosophiam a periculi plenis consequentiis, a quibus quam maxime aliena est, vindicandam mihi occasionem aperuit“. St. Lorenz: „‚Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind‘. Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe“, in: A. Sell (Hrsg.): Editionen – Wandel und Wirkung (= Editio 19), Tübingen 2005, S. 65–92, hier S. 74–76.
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von Seiten des Berliner Hofes wird man vielleicht eher von einem Engagement post festum sprechen31. Wenn auch nicht explizit apologetisch, gilt dies ebenso für die vorangehenden Bände. Das zeigt sich insbesondere an Band 1 und dessen umfangreicher Praefatio. Sie setzt ein mit einer Eulogie: Da der Glanz von Leibniz’ Name weit verbreitet sei, so dass er die Leuchten Deutschlands überstrahle wie der Mond die Sterne, werde es kein Leser verübeln, wenn die von einem so großen Geist verfassten Briefe nun veröffentlicht würden32. Dieses Lob wird ganz konkret in Beziehung gesetzt zur Edition: sie hat sich zum Ziel gesetzt, Leibniz’ Universalität zu demonstrieren. Während andere Gelehrte, die in einer Wissenschaft Großes geleistet hätten, in dieser heimisch, in anderen nur zu Gast gewesen seien, habe Leibniz’ Geist die Gesamtheit der Wissenschaften umfasst33. Und so wird seine Korrespondenz in thematischer Anordnung präsentiert (wobei die Aufzählung der Korrespondenzen in der Praefatio minimal von der Edition abweicht): Theologie (Johann Fabricius34, dessen Korrespondenz mit einem Leibniztext, einem Ausschnitt aus der ersten Fassung des Unvorgreifflichen Bedenckens, abgeschlossen wird35), Jurisprudenz (Kestner36), Medizin (Schelhammer37), Philosophie (etwas überraschend Rudolf Christian Wagner38), Mathematik/Physik (Rømer39, Tiede40, Reyher41, Liebknecht42, Goldbach43), Historie/Philologie (Sperling44, Wotton45, Johann Albert Fabricius46, Johann Christoph 31 Zum Umschwung der Haltung des preußischen Königshofes gegenüber Wolff seit 1733 siehe C. Hinrichs: Preußentum und Pietismus (wie Anm. 23), S. 433–441. 32 Epistolae, Bd. 1, Praefatio, Bl. )(5r°: „Quum Leibnitiani nominis late longueque diffusus sit splendor, ut quemadmodum Luna inter minora sidera, sic vir illustris Leibnitius inter lumina Germaniae emineat; nemo unus lectorum vitio mihi vertet, quod litteras a tanti auctoris ingenio profectas, et tanti scriptoris exaratas manu, necdum divulgatas primus foras nunc emittam“. 33 Ebd. Bl. [)(6]r°: „Alii litterati viri, qui in una scientia tantum magnos progressus fecere, in ea indigenae, in reliquis hospites […]. Contra ea Leibnitius quum litterarum studia universa mente comprehendisset, non modo de singulis iudicabat sapienter, et, nullo, eorum spreto, cultores amabat certatim, ad adminiculis consiliisque adiuvabat“. 34 Nr. I–CXVIII. 35 Ohne Zählung (S. 164–168) (A IV, 7 N. 78). Dabei ist im Vorspann auch Molanus als Mitautor genannt. Im Zusammenhang mit den irenischen Bemühungen wird in der Praefatio, Bl. [)( 7]r° neben Fabricius auch sein Mitstreiter Johann Andreas Schmidt angesprochen. 36 Nr. CXIX. Entgegen der anschließenden Aussage in der Praefatio, Bl. )()( 3r° ist von Johann Samuel Hering keine Korrespondenz in die Edition aufgenommen. Aus der Kestnerkorrespondenz sind weitere Leibnizbriefe in Band 3 der Epistolae gedruckt (Nr. XXVII.II–XV). 37 Nr. CXX–CXXIX. 38 Nr. CXXX, davor (ungezählt) die Commentatio de anima brutorum. 39 Nr. CXXXI–CXXXII. Weitere Briefe und Gegenbriefe dieser Korrespondenz und zu ihrem Kontext sind in Band 2 der Epistolae gedruckt (Nr. I–XII). 40 Nr. CXXXIII–CXXXIV. 41 Nr. CXXXV–CXLIX. In der Edition folgt darauf, ungezählt, ein Brief des Kieler Mathematikprofessors Friedrich Koes an Kortholt (vgl. unten Anm. 174). 42 Nr. CL–CLII. 43 Nr. CLIII–CLV. 44 Nr. CLVI–CLVII. 45 Nr. CLVIII. 46 Nr. CLIX–CLXIX.
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Wolf47, Sebastian Kortholt48, La Croze49). Ein Anhang bringt dann noch Auszüge aus Johann Fabricius’ Gegenbriefen an Leibniz50 sowie aus einem Leibnizbrief an Mascov51. Dass vorrangig Leibniz’ Briefe an die Korrespondenten wiedergegeben sind, liegt (anders als es Kortholts eben angeführte Begründung des Unternehmens vermuten lassen würde) weniger an einer Konzentration der Ausgabe auf die von dem „vir illuster“ verfassten Briefe als an dem, was dem Herausgeber an Material zur Verfügung stand: Wenn ihm Korrespondentenbriefe vorliegen, nimmt er sie ebenfalls auf. Als ihm zur umfangreichen Fabricius-Korrespondenz, die bereits für den ersten Band gesetzt ist, nachträglich Gegenbriefe zur Verfügung gestellt werden, bedauert er, diese nicht in das Korrespondenzgefüge einordnen zu können und sie in einem Anhang unterbringen zu müssen52. Wenn möglich, werden die Briefe also als Teile eines Dialogs präsentiert53. Auf der anderen Seite steht vor dem Druck eine Selektion: Briefe, deren Wiedergabe nicht lohnend erscheint, werden aussortiert. Das ist etwa der Fall bei Leibniz’ Schreiben an den Wiener Sachwalter Schmid, die Kortholt in großer Zahl vorgelegen haben müssen54: zum Druck ausgewählt werden nur 12 (und nur von ihnen ist dadurch der Abfertigungstext erhalten; wir können also in dieser bereits durch die Gegenbriefe sehr umfangreichen Korrespondenz aus Leibniz’ letzten Lebensjahren55 auf größere Verlusten schließen – und die verlorenen Stücke noch ein wenig weiter verfolgen). Wo eine Überprüfung möglich ist, lässt sich mitunter auch bei der Textwiedergabe ein selektives Vorgehen feststellen, mit der Auslassung von Sätzen und ganzen Passagen56. 47 48 49 50 51 52
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Nr. CLXX–CLXXIII. Nr. CLXXIV–CCIX. Nr. CCX–CCXLV. Appendix Nr. II–III, V–IX. Nr. IV ist eine Leibniz von Fabricius vermittelte Denkschrift des Huysburger Abtes Nikolaus von Zitzewitz zur Reunionsfrage. Appendix Nr. I. Praefatio Bl. [)()(7]v°: „Suo quidem loco illas inseruissem litteris a Leibnitio ad Io. Fabricium datis, nisi, quum aliquot Fabricianas acciperem, Leibnitianae ad Fabricium missae typis iam exscriptae fuissent“. Auch aus der Korrespondenz mit Jakob Thomasius sind in Band 3 der Epistolae neben Leibniz’ Briefen Gegenbriefe abgedruckt; entsprechendes gilt für die Korrespondenzen mit Bierling, Driesch, Hartsoeker. Dass dies nicht nur einer Verwertung vorliegenden Materials geschuldet sein, sondern einem editorischen Konzept entsprechen dürfte, ergibt sich indirekt aus Monita zu den Epistolae, die bei C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 16), Bd. 1, anlässlich von Korrespondenzen ohne Gegenbriefe gelegentlich zur Sprache kommen; so etwa S. 140: „Denn ein einseitiger Briefwechsel ist einem Cörper ohne Seele gleich“. Epistolae, Bd. 3, Praefatio Bl. [b7]r°: „Sexaginta et plures epistolas de hoc argumento aliisque rebus domesticis ad Schmidium datas possideo, sed aliquot earum hic tantum typis exscribi curavi, quum ex iis de toto negotio constet“. Dazu M.-L. Babin: „‚Vous m’avez déja plusieurs fois questionné sur le poinct de nouvelles‘ – Johann Philipp Schmids k. k. Nachrichtendienst für Leibniz im Jahre 1716“, in: M. Kempe: Leibniz’ letztes Lebensjahr (wie Anm. 21), S. 177–201. Eine stichprobenartige Überprüfung der Leibnizbriefe an Christian Kortholts Vater Sebastian in den Epistolae, Bd. 1, S. 275–272, und den mit den Handschriften kollationierten Transkriptionen der Akademie-Ausgabe für das Jahr 1716 (http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1716bearb.pdf [zuletzt eingesehen 8.1.2017])
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Editorische Grundprinzipien kommen in der Praefatio selbst zur Sprache, insbesondere zur Rechtfertigung der Veröffentlichung. So wirft Kortholt selbst die Frage auf, ob es richtig sei, Texte, die Leibniz für sich behalten und nur mit wenigen Vertrauten besprochen habe (gemeint sind die Reunions- und Unionskonsultationen mit den Helmstedtern Fabricius und Schmidt), in die Öffentlichkeit zu geben57 – und liefert eine dialektische Verteidigung58. Zunächst wird eine Äußerung des Neffen Löffler über Leibniz’ Irritation angesichts der Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Pellisson zitiert59 – und dann wird die Gegenposition eingenommen, unter Rückgriff auf einen Brief an Fabricius vom Sommer 1703. Vor dem Hintergrund des in Brandenburg eben angelaufenen Unionsdialogs im „Collegium Irenicum“ hatte Leibniz dem Helmstedter vorgeschlagen, seine geplanten Veröffentlichungen zur Kontroverstheologie vorerst noch zurückzustellen; sollte der irenische Dialog scheitern, würde er zu einer Veröffentlichung raten („suaserim ipse quoque conservari typis publicis in usum posteritatis“)60. Kortholt zieht daraus den Schluss, Leibniz habe zwar zu Lebzeiten seine irenischen Überlegungen nicht der Öffentlichkeit mitteilen wollen, aber gewollt, dass sie einstmals publiziert würden: „Ex his verbis intelligitur, Leibnitius, quum superstes esset, consilia sua irenica cum publico noluerit communicari. Atque ex iisdem constat, ipsum Leibnitium voluisse ea aliquando divulgari“61 – mit dieser eleganten Volte ist die Berechtigung des Unternehmens mit Leibniz’ eigenen Worten begründet. Ebenso begegnet Kortholt möglicher Kritik an der Präsentation dieses Materials, das nicht so ausgereift sei wie ein zur Publikation verfasster Text, mit Leibniz selbst, nämlich dessen (ebenfalls abgedrucktem62) Brief an William Wotton von 10. Juli 170563, in dem die Bedeutung von Gelehrtennachlässen mit ihrer Speicherung auch von Gedanken in statu nascendi hervorgehoben und gegenüber denen verteidigt wird, die der Welt Hervorragendes vorenthielten, weil für sie nur Perfektion zählte („Odi illorum severitatem, qui multis nos praeclaris rebus privant, dum nisi praeclara dare volunt“): der Nachlass als Speicher von Einfällen und Wissenspartikeln.
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ergab, dass neben ein paar Personalnachrichten aus dem jeweiligen Umfeld vor allem die zu Sebastian Kortholts Einschaltung in Leibniz’ Bucherwerbungen ausgelassen sind (Briefe vom 19. März, 8. Mai, 3. Juli, 16. Oktober). Daraus wird auch ersichtlich, dass der Druck in Kleinigkeiten von der handschriftlichen Vorlage abweicht. Epistolae, Bd. 1, Praefatio Bl. [)(6]v°: „Consilia in iisdem irenica exhibentur, quae Leibnitius superstes cum nemine uno nisi cum intimis suis amicis communicavit, et quidem tantum sub fide silentii. Id quod me obligat, ut respondeam quaerendo investigaturis, quis mihi potestatem concesserit, ut illa arcana ante omnium oculos exponam“. Ebd. Bl. [)(7]r°/v°. Ebd. Bl. [)(7]r°: „cognitum habeo, Leibnitium aegerrime tulisse litteras Suas gallicas ad […] Paulum Pelissonium de unione Ecclesiastica datas typis exscriptas publice prostare. Vir doctissimus M. Loeflerus, ipsius Leibnitii sororis filius atque heres unicus, litteris ad me datis hoc mihi retulit“. Brief vom 14. Juni 1703; A I, 22 N. 261, Zitat S. 444. Zum „Collegium Irenicum“ vgl. ebd., Einleitung, S. LXX–LXXII. Epistolae, Bd. 1, Praefatio Bl. [)(5]v°. Ebd., Nr. CLVIII. A I, 24 N. 434.
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Der klare inhaltliche Entwurf wird in den folgenden Bänden weniger stringent durchgehalten, die eher den Charakter von Supplementbänden haben – sie nehmen sowohl Material auf, das Kortholt beim ersten Band noch zurückgehalten hatte64, als auch neue Stücke, die ihm nachträglich zugänglich wurden. Einen eigenen Schwerpunkt hat Band 2 mit Texten zur chinesischen Religion und Philosophie, darunter dem Discours sur la théologie naturelle des Chinois65; hier liefert die Dissertatio prooemialis eine eingehende Interpretation. Dieser Text war als einer von wenigen aus Hannover gekommen66, aus Leibniz’ Hinterlassenschaften, einer Quelle, die für Kortholt insgesamt sonst kaum ergiebig war. Damit sind wir bei der nächsten Frage, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll: Wie kam er überhaupt zu seinen Druckvorlagen? Scheinbar einfach, erweist sie sich als vielschichtig und nicht leicht zu beantworten; vorerst kann nur ein paar Spuren nachgegangen werden. Wohl weisen Kortholts Praefationes mitunter darauf hin, wem die Beschaffung einzelner Briefe und ganzer Konvolute zu verdanken sei. Aber vor der Beschaffung musste gesucht werden, nicht nur nach Briefen, sondern zuvor nach potentiellen Beiträgern von Material und überhaupt erst einmal nach den Korrespondenten. Zu Leibniz’ Bild in der Öffentlichkeit gehörte seine immense, weit ausgedehnte Korrespondenz67 – als allgemeines Charakteristikum. Mit wem speziell er Briefe gewechselt hatte, insbesondere in den annähernd zwei Jahrzehnten, die durch Fellers Panoramen nicht mehr abgedeckt waren68, dürfte (trotz einzelner Veröffentlichungen69) auch in den 1730er Jahren eher punktuell, innerhalb einzelner Cluster, und nur in geringem Maße bekannt gewesen sein70. Wie also konnte eine solche Fülle an Material zusammenkommen, in einer Zeit, in der dieses zwar noch reichlicher als später vorhanden gewesen sein dürfte, die Wege dazu aber
64 Dort hatte er (Epistolae, Bd. 1, Praefatio Bl. )(5v°) bereits auf seinen größeren Fundus hingewiesen: „Non autem omnes, quotquot possideo litteras Leibnitianas, tibi una offero, Lectore benevole“. 65 Zu diesem dort unter dem Titel Lettre de Mr. de Leibniz sur la Philosophie Chinoise à Mons. de Remond edierten Text vgl. W. Li: „Christian Kortholts Edition des Discours von Leibniz“, in: Einheit in der Vielheit. VIII. Internationaler Leibniz-Kongress, Vorträge 1, hrsg. von H. Breger, J. Herbst und S. Erdner, Hannover 2006, S. 457–466. 66 Ebd., S. 458, mit Quellenzitaten. 67 Zeugnisse dazu bei N. Gädeke: „Gottfried Wilhelm Leibniz“, in: Chr. Berkvens-Stevelinck/H. Bots/J. Häseler (Hrsg.): Les grands intermédiaires de la République des Lettres. Ètudes de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIe siècles, Paris 2005, S. 257–306, hier S. 263 f. 68 Zu Joachim Friedrich Fellers auf Exzerpten basierenden Abdrucken aus Leibniz’ Korrespondenz (wie Anm. 71) bis 1698 vgl. den Beitrag von Stefan Luckscheiter in diesem Band. 69 Dazu E. Ravier: Bibliographie des œuvres de Leibniz, Paris 1937, S. 159–165 (Überblicksdarstellung) u. S. 181–215 = N. 326–393 (Bibliographie). 70 Die geringe Kenntnis von Leibniz’ Korrespondenz Ende der 1730er Jahre zeigt sich deutlich bei C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 99–212 (§ 112–304) mit der Auflistung der Korrespondenten nach dem damaligen Kenntnisstand, bereits unter Rückgriff auf Epistolae, Bd. 1–3. Diese für die damalige Zeit wohl erschöpfende Darstellung nennt gerade einmal 174 Gelehrte und 13 Personen aus dem Umkreis von Fürstenhöfen.
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erst einmal gebahnt werden mussten? Kann man in den Epistolae lokale Zentren oder Netzwerke gespiegelt finden? Eine topographische Kartierung der Korrespondenten zeigt leichte, eigentlich kaum merkliche Schwerpunkte im norddeutschen Raum und in Dänemark, d. h. auf Hamburg, Helmstedt, Kiel und Kopenhagen; daneben aber weitere Orte des Deutschen Reiches (insbesondere Leipzig und Wien), Englands, Frankreichs, der italienischen Fürstentümer, der Generalstaaten, Russlands und Schwedens. Jedoch wäre der Aussagewert einer solchen Karte für die Frage nach dem Zustandekommen der Sammlung zweifelhaft: Zum Teil griff Kortholt (explizit) auf bereits gedrucktes Material zurück; neben Fellers Monumenta inedita bzw. dem Otium Hanoveranum71 etwa auf die Memoires de Trevoux72, den Monathlichen Auszug73, Spinozas Opera74. Allerdings nur in geringem Maße und nicht per se, wie das Beispiel der Driesch-Korrespondenz zeigt. Der Jesuitenpater, der mit Leibniz 1715/1716 eine intensive Korrespondenz unterhielt, hatte bereits 1717 Briefe daraus veröffentlicht75. Kortholts Druck in Band 4 der Epistolae beruht aber auf handschriftlichem Material, das ihm von Driesch zur Verfügung gestellt worden war76. Ähnliches gilt für die Korrespondenz mit Jakob Thomasius77. Wie also kam Kortholt zu seinen Druckvorlagen?
71 J. F. Feller: Monumentorum Ineditorum variisque linguis conscriptis, Historiam imprimis, Genealogias Medii aevi et rem litterariam illustrantium, Fasciculi XII, Jenae 1718 sowie ders.: Otium Hanoveranum sive Miscellanea ex ore et schedis Illustris Viri […] Godofr. Guilielmi Leibnitii, Lipsiae 1718; daraus Briefe an von der Hardt, Hesenthaler, Heinrich Wilhelm Ludolf, Morell (beide mit fälschlicher Zuschreibung), Madeleine de Scudéry, eine Denkschrift an die Herzöge Rudolf August und Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Auch ein Brief an Jakob Thomasius befindet sich darunter, ihn dürfte Kortholt aber abschriftlich von dessen Familie erhalten haben (dazu unten mit Anm. 187). Auf genaue Nachweise wird hier verzichtet, sie sind leicht über den Arbeitskatalog der Akademie-Ausgabe (wie Anm. 14) zu erhalten. 72 Mémoires pour l’histoire des sciences et des beaux arts. Recueilllis par l’ordre de […] Monseigneur Prince souverain de Dombes, Trévoux 1701–1767; ihnen entstammten neben Schriften drei Briefe von bzw. an Hartsoeker sowie an zwei an Pinsson; jeweils die einzigen Briefe dieser Korrespondenzen in den Epistolae. 73 Monathlicher Auszug Aus allerhand neu-herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern, Hanover 1700–1702; daraus (neben Schriften) je ein Brief an Gackenholz und Madeleine de Scudéry. Vgl. den Verweis in Epistolae, Bd. 4, S. 183 (Gackenholz), hier auch auf C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 16), Bd. 1, § 426. 74 J. Jelles (Hrsg.): B. D. S. Opera posthuma, [Amsterdam] 1677, daraus jeweils ein Brief an bzw. von Spinoza in Epistolae, Bd. 4. 75 Zu dieser Korrespondenz jetzt I. Peper: „‚Ohne Parteilichkeit dem Wohl der res publica litteraria dienen‘– Gemeinwohl und Gemeinschaft in zwei interkonfessionellen Gelehrten-Netzwerken zu Beginn des 18. Jahrhunderts“, in: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 23 (2013), S. 261–291, hier S. 268 f. 76 Dies geht aus einer Fußnote zum Druck in den Epistolae, Bd. 4 (S. 131–166, hier S. 131) hervor. Den Hinweis darauf verdanke ich Gabór Gángó. 77 Im Teildruck lagen einige dieser Briefe bereits vor bei B. G. Struve: Acta Litteraria 7 (1710), die Kortholt-Überlieferung ist davon unabhängig. Vgl. dazu die editorische Vorbemerkung zu A II, 1 N. 1 sowie unten Anm. 187.
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Oberflächlich ist diese Frage leicht zu beantworten; mit Kortholts eigenen Aussagen dazu und den Äußerungen Dritter78. Sie stimmen überein, dass dahinter eine intensive Sammlertätigkeit stand, zunächst weniger Christian Kortholts, als vor allem seines Vaters Sebastian, der diesen „thesaurus“ zusammengetragen, dann aber dem Sohn überlassen habe; nach dessen Ausführungen wegen zu vieler anderer wissenschaftlicher Beschäftigungen, er habe ihm das Material nach Leipzig gesandt, auf dass es in Leibniz’ Vaterstadt ans Licht komme79. Wir hätten es also mit einem Fall von ‚Edieren-Lassen‘ zu tun – hinter dem Editor steht ein anderer, ein Sammler, einer, der die Edition initiiert, selbst aber im Hintergrund bleibt. Die Frage nach dem Einholen der Druckvorlagen verlagert sich damit auf Sebastian Kortholt; er ist hier gleichermaßen zu behandeln. Geboren 1675 in Kiel, absolvierte er hier auch sein Studium; nach der peregrinatio academica in den Niederlanden und England war er seit 1701 an der Universität Kiel tätig, als Professor der Poetik und der Moral, ab 1725 der Rhetorik, zudem bereits ab 1706 als Leiter der Universitätsbibliothek. 1742 wurde er als auswärtiges Mitglied in die königliche Sozietät der Wissenschaften zu Kopenhagen aufgenommen. Wie sein Sohn erhielt auch er einen Ruf an die neu gegründete Universität Göttingen, den er aber ausschlug. Und anders als dieser erreichte er ein biblisches Alter; er überlebte ihn um fast 10 Jahre und verstarb erst 176080. Im Gegensatz zu Christian Kortholt, der zu der Zeit von Leibniz’ Tod im Kindesalter stand, war sein Vater Sebastian, wenngleich deutlich jünger, nicht nur Zeitgenosse, sondern auch persönlich bekannt mit Leibniz – und vor allem: Korrespondent. Die (beidseitig) gut überlieferte, langjährige Briefbeziehung (deren Frucht z. B. Leibniz’ Ankauf der Gude’schen Handschriftensammlung für die Wolfenbütteler Bibliotheca Augusta war81) setzt 1700 ein, verläuft anfangs sporadisch, intensiviert sich aber ab 1707; mit insgesamt etwa 110 Briefen kann man sie umfangmäßig zu den großen Leibniz-Korrespondenzen rechnen82. Allein 1716 gingen 15 Briefe hin und her; Leibniz’ letzter Brief an Kortholt datiert vom 16. Oktober 1716, also aus seinem letzten Lebensmonat. Die Korrespondenz, die weniger in der Brieffrequenz als der Positionierung der Briefpartner asymmetrische Züge trägt, ist vor allem von nova literaria bestimmt,
78 Epistolae, 1, Bl. )(5r°: „Thesaurum hunc litterarium collegit Parens meus […] Sebastianus Kortholtus“. 79 Ebd. Bl. )(5r°f.: „Is [= Sebastian Kortholt] vero compluribus negotiis Academicis, et scriptorum quorumdam suorum elaboratione impeditur, ipse sibi sumere non potuit editoris partes. Idcirco alienum ingenio Leibnitiano conceptum partum mihi edendum dedit, Lipsiamque transmisit, ut in eadem qua parens eius patria Leibnitius patria adspiceret lucem“. 80 Zu biographischen Angaben vgl. oben Anm. 3 sowie Chr. G. Jöcher: Allgemeines GelehrtenLexiko[n] […], Bd. 3, Fortsetzungen und Ergänzungen von J. Chr. Adelung u. H. W. Rotermund, Delmenhorst 1810, Sp. 757–760. 81 Dazu etwa Leibniz’ Brief an Kortholt vom 24. Juni 1710 (Transkription vorläufig: http://www. gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1710.pdf [zuletzt eingesehen 8.1.2017]). 82 Dazu N. Gädeke: „Gerber reconsidered“ (wie Anm. 21), Tabelle S. 108 f.
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enthält aber mitunter auch Persönliches. So finden sich in Leibniz’ Briefen an Kortholt (vielleicht induziert durch dessen Projekt einer Schrift über gelehrte Jugendliche83) gelegentliche Reminiszenzen an die eigene Jugendzeit84. Umgekehrt war ihm auch die Familie Kortholts bekannt. Mit dem ältesten Bruder, dem Arzt Heinrich Christian (dem schwarzen Schaf der Familie), unterhielt Leibniz Bekanntschaft und eine zeitweilige Korrespondenz85, die unabhängig von der mit Sebastian geführt worden zu sein scheint; in den ersten Jahren übertrifft sie diese bei Weitem. Auch die beiden anderen Brüder Joel Johannes und Mathias Nikolaus sind, teils durch persönliche Bekanntschaft und sporadische Korrespondenz, teils durch Sebastians Mitteilungen, Leibniz ein Begriff und Gegenstand seiner Erkundigungen86. Auch an Wechselfällen in Kortholts Familie nimmt er teil, umgekehrt berichtet er von seinen gesundheitlichen Problemen87. Kurzum: Diese Briefbeziehung, auch wenn sie unter ‚gelehrt‘ zu subsumieren ist, enthält eine persönlichere Note als uns in der Regel für Leibniz bekannt ist; vergleichbar etwa mit der mit den Helmstedtern Fabricius und Schmidt oder mit Molanus – oder auch dem Amanuensis Eckhart. Sogleich nach Leibniz’ Tod bemühte Sebastian Kortholt sich um dessen säkulare Memoria. Er verfasste eine Eloge, die in der Universität Kiel vorgetragen wurde88 – und schon im Jahre 1717 trug er sich mit dem Gedanken an eine Sammlung von Leibniz’ Briefen. In diese sollte nicht nur seine eigene Korrespondenz eingehen, sondern auch die mit anderen geführte. Dafür wandte er sich zunächst an die Quelle: nach Hannover, an Leibniz’ engsten Mitarbeiter und Nachfolger Johann Georg Eckhart89. Und dort wurde er in mehrfacher Hinsicht enttäuscht. Eckhart berichtet in seinen Gegenbriefen (die Christian Kortholt zum Teil in den vierten Band der Epistolae aufnahm90) im ersten Antwortschreiben vom 6. April 1717 vor allem von eigenen Aktivitäten in Sachen 83 Vgl. A I, 24, Einleitung, S. XXXVIII; zu dieser mehrfach angekündigten Schrift Kortholts vgl. etwa A I, 22 N. 256. 84 Etwa A I, 20 N. 417 und A I, 24 N. 438. 85 Vgl. N. Gädeke: „L’affaire de Monsieur Kortholt oder: Leibniz undercover: eine Miszelle aus der Praxis der Leibnizedition“, in: Studia Leibnitiana 41 (2009), S. 233–247. 86 Zu Kortholts Mitteilungen und Leibniz’ Erkundigungen vgl. etwa die Korrespondenz von 1715 (http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1715bearb.pdf [zuletzt eingesehen 8.1.2017]) und 1716 (http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/Transkriptionen1716bearb.pdf [zuletzt eingesehen 8.1.2017]). Im Brief vom 20. Mai 1715 fragt Leibniz genauer nach Sebastians Brüdern, ein paar Wochen später direkt nach Heinrich Christian. Thema sind auch die Reisen Joel Johannes, etwa im Brief Kortholts an Leibniz vom 1. April 1715 und später. 87 Etwa im Brief vom 25. April 1715 (wie Anm. 86). 88 Sebastian Kortholt: Ad auditionem orationis academicae de Vita Leibnitiana invitation, Kilonii 1718. 89 Zu diesem Briefwechsel vgl. W. Li: „Edition des Discours“ (wie Anm. 65), S. 458. Die landläufige Meinung, Eckhart habe die Verfügung über Leibniz’ Nachlass, kommt z. B. zum Ausdruck im Brief des Helmstedter Theologen Justus Christoph Böhmer an Kortholt vom 15. Oktober 1720 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B1 Nr. 17): „Eccardus omnes, quantum ex aliis audivi, in potestate sua habet, vastumque insuper collectaneorum Leibnitianorum et incomparabile opus“. 90 Epistolae, Bd. 4, S. 116–130.
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Gedächtnispflege für Leibniz: seiner Zuarbeit für Fontenelle, seinen eigenen Editionsplänen („aus seinen Schrifften und Correspondentzen“), der Drucklegung der Collectanea Etymologica, und vor allem anderen der angestrebten Vollendung des opus historicum91. Auf Kortholts Anfrage „von des seel. Freundes Leben und sonderlich seinen grossen Correspondenten etwas zu wissen“ kommt nur eine explizit unvollständige Aufzählung fürstlicher Leibnizkorrespondenten, die mit knapp 15 Personen in der Tat äußerst rudimentär ist92, sowie die Bemerkung, Leibniz’ Briefschaften seien ihm „gewisser Ursachen wegen“ noch nicht zugänglich93. Diese Aussage wird in den nächsten Jahren mehrfach wiederholt94. Ertragreicher scheint die Korrespondenz hinsichtlich Eckharts Insider-Wissen gewesen zu sein; so liefert er kritische Kommentare zur Edition des Clarke-Briefwechsels95 und zu einem Leibniz-Artikel in L’Europe Savante96. Kommuniziert hat er anscheinend auch Briefe von China-Missionaren97 – und, wie bereits angesprochen, die für Remond bestimmte Abhandlung De la religion naturelle des Chinois von 171698 – aus Zeitmangel im 91 Ebd., S. 116–118. 92 Eckhart an Sebastian Kortholt, 6. April 1717 (ebd., S. 116–118, Zitat S. 117): „So viel ich vorgängig melden kann, hat er von Keyser Leopoldo, Dem itzigen Kayser, der Kayserinn Amalia, und der itzt regierenden, der hochseeligen Churfürstin, der hochseeligen Königin von Preussen, dem Hertzog Johann Friederich von Braunsweig Lüneburg, Hertzog Rudolph August und Anthon Ulrichen, der itzigen Kayserinn Frau Mutter, dem itzigen Hertzogen von Zeitz, Landgraf Ernst von Hessen, der Catholisch war, dem Printzen Eugene, der itzigen Prinzessin von Wallis, und sonst vielen grossen Leuten Briefe empfangen, und dergleichen mit ihnen gewechselt“. 93 Ebd., S. 116. 94 Ebd., S. 119 (Brief vom 26. August 1717): „Es wäre noch gar viel von seiner Correspondentz zu sagen; allein selbige ist mir noch nicht ausgeliefert“; ebd., S. 130 (Brief vom 31. Dezember 1720): „Seine (Remondi) Briefe an den seel. Mann habe ich nicht, sondern sie sind noch im Arreste nebst anderen seinen MSCtis, wovon also wohl niemand zu profitiren Hoffnung haben wird“. In einer nicht in den Epistolae abgedruckten Passage eines Briefes vom 20. Dezember 1717 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2 Nr. 35) vermutet Eckhart eine gegen ihn selbst gerichtete Tendenz: „Die Leibnitzischen MSta sind mir noch nicht ausgehändiget außer einige Collectanea Historica und was von briefen sich unter selbige verirret. Es meinen alle leute klug draus zu werden und deßwegen suchen sie mir selbige so lange zu hinterhalten als sie können. So bald aber sie überkomme, welches bald werden wird, will gern mit verlangen dienen“. 95 Ebd., S. 120 (Brief vom 20. Dezember 1717): „Man hat in Engelland die Correspondance des seel. H. von Leibnitz mit Mr. Clarck gedruckt. Ich habe sie, wie er sie selbst hat wollen drucken lassen, und zweifle, dass in editione Clarckiana, die ich noch nicht gesehen, alles so sey, wie ichs habe“. 96 Ebd., S. 126 (Brief vom 16. Juni 1719). 97 Ebd., S. 124 (Brief vom 29. November 1718): „Von Leibnitii Chinesischer Correspondentz kann noch ein und andres mittheilen; und will sie nechstens zusammen suchen“ sowie ebd., S. 130 (Brief vom 31. Dezember 1720): „Die übersandten Chinesischen Briefe sind meines Entsinnens noch niemals gedruckt, und könten nicht übel beygefüget werden“. Dabei handelt es sich um einen von Charles Le Gobien an Leibniz gesandten Brief vom 10. November 1701 (A I, 20 N. 328) und dessen Beilage, ein diesem von Joachim Bouvet für Leibniz zugesandten Brief vom 8. November 1700 (ebd. N. 329). Beide Briefe fanden Eingang in den Recueil (S. 78–83 bzw. S. 70–77) und in Band 3 der Epistolae (N. II u. N. III = S. 15–22 bzw. S. 5–14). 98 Vgl. W. Li: „Edition des Discours“ (wie Anm. 65), S. 457 f.
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Original, das er bereits 1720 wieder zurückverlangte, da die englische Kronprinzessin Interesse an dem Text gezeigt und Remond, als eigentlicher Adressat, bereits Anspruch darauf angemeldet hatte99. Eine weitere Sendung Eckharts scheint verloren gegangen zu sein100; die Ausbeute aus Hannover war wirklich mager. In einem Brief an La Croze vom Januar 1719 will Sebastian Kortholt das weniger dem einstigen Amanuensis als Leibniz selbst zuschreiben: Der „vir valde modestus“ habe nur die wenigsten seiner Briefe kopieren lassen101. Noch fast zwei Jahrzehnte später wird Christian Kortholt in der Praefatio zu Band 4 der Epistolae beklagen, dass aus Hannover nichts zu bekommen sei, dass nicht einmal klar sei, ob die Gegenbriefe seines Vaters in den LeibnizEckhartschen Hinterlassenschaften noch vorhanden seien102. Angesichts dieser verschlossenen Türen hatte sich bereits Sebastian Kortholt nach draußen gewandt, an die gelehrte Welt, an Personen, die er in Besitz oder Kenntnis von Leibnizbriefen vermutete, an die er vielleicht bereits weiter verwiesen worden war. Oder wandte sich die gelehrte Welt an ihn? Die zusammenfassenden zeitgenössischen Charakterisierungen, die das Unternehmen erfährt, sprechen für Letzteres. Ludovici schreibt dazu: „so bald dieser gelehrte und berühmte Mann sein Vorhaben bekannt gemachet hatte, erachteten sich diejenigen Gelehrten, welche mit dem Hrn. Leibnitz Briefe gewechselt hatten, vor verpflichtet die Leibnitzschen Brieffe hierzu an ihn einzusenden“103. Das ist in etwa die deutsche Version von Christian Kortholts Aussage dazu in der Praefatio von Band 1 der Epistolae: „Eruditi viri, ad quos datae sunt litterae, eo consilio illas cum 99 Epistolae, Bd. 4, S. 121 f. (Briefe vom 11. Februar 1718 und vom 20. Mai 1718) sowie S. 129 f. (Briefe vom 22. November 1720 und vom 31. Dezember 1720). In der Dissertatio Prooemialis der Epistolae, Bd. 2, S. 21, betont Kortholt mit Verweis auf den letztgenannten Brief, sein Vater habe den Text zurückgesandt; doch sei er nicht mehr zum Vorschein gekommen und auch nicht an die Kronprinzessin gelangt. 100 Ebd., S. 128 (Brief vom 14. Juli 1719): „Die übersannte Leibnitiana werden wohl verlohren seyn: ich habe sie certissime übersannt. Glaube aber wohl, dass sie vielleicht unser - - - der schon mehr dergleichen Streiche gemacht, unterschlagen oder negligiret. Ich muss also diesen Verlust geschehen lasse: Es war eine Erläuterung sur la bonté de Dieu“. Aus Sebastian Kortholts Randbemerkung zu diesem Brief (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2 Nr. 35) geht hervor, dass es sich dabei um die von Eckhart im Brief vom 3. Januar 1719 (Epistolae, Bd. 4, S. 126) angekündigte „curieuse piece“ handele; am 16. Juni 1719 (ebd., S. 126 f., hier S. 127) bezeichnet Eckhart den verschollenen Text als „einen artigen Dialogue de Mr. Leibnitz […] über seine Theodicée“. 101 Sebastian Kortholt an La Croze, 11. Januar 1719 (J. L. Uhl: Thesaurus (wie Anm. 131), Bd. 1, S. 214 f. (N. 182), hier S. 215): „Hic tamen laborum Leibnitianorum per integros 19 annos adiutor mihi copiam facere nequit omnium epistolarum Leibnitii, propterea quod non nisi paucissimas describi curavit vir valde modestus“. Diese Auskunft war von Eckhart gekommen (Brief vom 20. Mai 1718, Epistolae, Bd. 4, S. 121 f., hier S. 122). 102 Epistolae, Bd. 4, S. 56: „Vellem [...] illos adiungere litteras, quas Parens meus vicissim ad Eccardum et ad Leibnitium dedit. Neque enim dubium est, quin illis edendis de republica litteraria bene mererer. Sed quum illorum exemplum sibi non reservarit, neque constet, utrum et ubinam inter manuscripta a Leibnitio et Eccardo relicta delitescant, mea culpa orbis eruditus iis non caret“. 103 C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 16), Bd. 1, hier § 267, S. 300.
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Parente meo officiose communicarunt; usui reipublicae eruditae ut inservirent“104. Ähnliches findet sich im Vorwort des Recueil105. Freilich sind das Aussagen, denen man auch eine gewisse rhetorische Überhöhung unterstellen könnte. Es gibt aber Zeugnisse, die diese Sammeltätigkeit ganz direkt und im Detail spiegeln: an erster Stelle die Korrespondenz Sebastian Kortholts. Sein Briefnachlass wird in der Universitätsbibliothek Kiel aufbewahrt106. Er konnte nur punktuell ausgewertet werden, aber bereits das ergibt ein nuancenreiches Bild. Man findet in der Tat Briefe mit Materialangeboten und Hinweisen auf Leibnizkorrespondenten. Besondere Bedeutung scheint dabei Christian Goldbach zugekommen zu sein107. Der gebürtige Königsberger, der seit Mitte der 1720er Jahre in Sankt Petersburg wirkte, zunächst als Konferenzsekretär an der Akademie der Wissenschaften und als Prinzenerzieher, war schon in jungen Jahren Anhänger von Leibniz; er war ihm mehrmals begegnet und korrespondierte mit ihm 1711 bis 1713 über mathematischmusiktheoretische Fragen108. Nach Leibniz’ Tod verfasste Goldbach eine Eloge auf ihn109. Leibniz muss auch ein zentrales Thema seiner weitgespannten Korrespondenz gewesen sein110. Eine Aufzählung seiner Briefpartner und weiterer Bekanntschaften, die er während seiner langen peregrinatio academica und weiteren ausgedehnten Reisen in den europäischen Zentren und an den Höfen machte111, liest sich partiell wie ein Korrespondentenverzeichnis zu Leibniz. 104 Epistolae, Bd. 1, Praefatio Bl. )(5r°. 105 Recueil, Preface, S. VI: „Les savans à qui l’Auteur avoit envoyé ses Lettres, les lui ont fournies. Excepté quelques-unes que M. Chretien Goldbach […] a eu la bonté de communiquer à mon Pere“. 106 Kiel Universitätsbibliothek SH 406, hier aufgrund von Angaben des Arbeitskatalogs der LeibnizEdition (wie Anm. 14) partiell eingesehen: B1–B7 bzw. B11. Dass dieses Briefcorpus seit kurzem digitalisiert online vorliegt (http://dibiki.ub.uni-kiel.de/viewer/toc/PPN789396114/0/LOG_0000/ [zuletzt eingesehen 9.1.2017]), worauf mich mein Kollege Siegmund Probst aufmerksam gemacht hat, wurde mir erst währen der Drucklegung dieses Aufsatzes bekannt. 107 Das Folgende im Rückgriff auf seine Biographie von A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Christian Goldbach 1690–1764, Basel 1994 [Übersetzung der russischen Ausgabe Moskau 1983]; zu Goldbachs Unterstützung der Materialsammlung Kortholts v. a. S. 39 f. Angaben zur Biographie finden sich auch in F. Lemmermeyer/M. Mattmüller (Hrsg.): Leonhardi Euleri Commercium Epistolicum cum Christiano Goldbach (= Leonhardi Euleri Opera Omnia 4), Bd. 1, Basel 2015, S. 3–31. 108 Gedruckt: A. P. Juškevič: „La correspondance de Leibniz avec Goldbach“, in: Studia Leibnitiana 20 (1988), S. 175–189. 109 Chr. Goldbach: „In obitum G. G. Leibnitii“, in: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen (1717), S. 70; vgl. C. G. Ludovici: Entwurff (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 251–253. 110 A. P. Juškevič/ J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 29: „Bei aller Vielfalt der Gegenstände, die in Goldbachs Korrespondenz während der Jahre in Königsberg berührt werden, gibt es doch ein Thema, das viele Briefe durchzieht. Dieses Thema ist Leibniz“. 111 Zu den Reisen ebd., S. 6–42, eine Liste der Korrespondenten ebd., S. 192–195; zu nennen wären etwa Nicolaus II Bernoulli, Bignon, Buddeus, Dangicourt, Dohna, Johann Albert Fabricius, Flamsteed, Halley, Hamberger, Hansch, Hermann, Ilgen, Daniel Ernst Jablonski, Koes, Kortholt, La Croze, Malebranche, Marinoni, Mascov, Johann Burchard Mencke, de Moivre, Newton, Ramazzini, Sloane, Stahl, Christian Thomasius, Varignon, Wedel, Wolf, Wolff.
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Von einer dieser Reisen, einem kurzen Aufenthalt in Kiel auf dem Weg von Stockholm/Kopenhagen nach Wien im Jahre 1720, stammte Goldbachs persönliche Bekanntschaft mit Sebastian Kortholt112. Der Editionsplan muss damals Gesprächsthema gewesen sein und spiegelt sich im anschließenden Briefwechsel113. Goldbach erscheint darin als jemand, der Wege zu Korrespondenzen an den verschiedensten Orten aufzeigt und ebnet. Auch nachdem Christian Kortholt die Edition übernommen hatte, gilt dem Unternehmen das wohlwollende Interesse des Petersburger Mathematikers, inzwischen hohen Staatsbeamten; geäußert in lobenden Worten zu den erschienenen Bänden wie einem weiteren Materialangebot114. Goldbachs Briefe nach Kiel aus einem Zeitraum von über 20 Jahren115 geben Hinweise auf Leibnizkorrespondenten in Nürnberg (Wurzelbauer), Wien (Vater und Sohn Garelli, Gentilotti, Heraeus, Weiler) und Sankt Petersburg (Huyssen); aus Wien stammte auch seine Information über die des Bosses-Korrespondenz und ihre gewaltigen Ausmaße116. Auch auf Leibnizbriefe an Johann Bernoulli (Basel) (und dessen Sohn Nicolaus II als möglichen Vermittler) muss er hingewiesen haben117; dass er einen Brief an Johann Franz Buddeus in Halle bereitstellte, ist in den Epistolae vermerkt118. Nicht alles findet Aufnahme, was ihm zur Kenntnis gelangt. Goldbach selbst sortiert bereits aus (etwa die Briefe an Wurzelbauer und Gentilotti), was ihm nicht bedeutsam genug erscheint119; eine Sendung Huyssens aus Moskau mit mehreren Leibnizbriefen geht auf dem Weg nach Sankt Petersburg verloren (ein Brief aus dieser Korrespondenz hat aber Aufnahme in die Epistolae gefunden)120.
112 Kortholt und sein Vorhaben sind erstmals erwähnt in einem Brief Goldbachs vom 22. November 1720; vgl. A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 33 u. S. 39 f.; zur Reise ebd., S. 32 f. 113 Der vermutlich erste Brief Goldbachs an Kortholt vom 8. Mai 1721 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B4, Nr. 1) knüpft an ein Gespräch an. 114 Brief vom 17. Februar 1742 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B4, Nr. 8). Zur Würdigung von Goldbachs besonderer Rolle bei der Materialbeschaffung im Vorwort des Recueil vgl. oben Anm. 105. 115 Ausgewertet werden konnten nur die Briefe Goldbachs an Kortholt in dessen Nachlass in Kiel, weitere Aufschlüsse wären von dessen Gegenbriefen in Moskau bzw. Sankt Petersburg (vgl. A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach, wie Anm. 107, S. 192–195) zu vermuten. Mir großzügig aus dem RGDA Moskau durch Professor Evgenij Rytschalovskij zur Verfügung gestellte Scans aus Goldbachs dort lagernder Korrespondenz konnten für diesen Aufsatz nicht mehr ausgewertet werden. 116 Brief vom 16. September 1724 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B4, Nr. 4): „Narravit mihi Vindobonae Drieschius permagnum cumulum epistolarum Leibnitii ad Bossium (seu des Bosses) Jesuitam Coloniae Agrippinae superesse“. 117 A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 40. 118 Epistolae, Bd. 2, S. 18. 119 Brief vom 8. Mai 1721 (wie Anm. 113). 120 Brief vom 20. März 1734 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B4, Nr. 7): „Narravit mihi Perillustr. Baro de Huyssen, se plures, cum Moscuae esset superiori aestate Leibnitii epistolas ad me misisse, quae nescio quo casu ablatae huc non pervenerunt, unicam igitur quam nuper ab eo accepi, promisi memor Tecum [...] communico“. Ein Leibnizbrief an Huyssen ist gedruckt in Epistolae, Bd. 3, S. 319 f.
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Außer diesem sind in die Epistolae neben dem Brief an Buddeus vor allem Leibnizbriefe an Goldbach selbst sowie an Heraeus eingegangen. Möglicherweise noch weiteres Material: der Wiener Hofmathematiker Giovanni Jacopo Marinoni, der mit vier an ihn gerichteten Leibnizbriefen in den Epistolae (und im Recueil) vertreten ist121, gehörte zu Goldbachs langjährigen Korrespondenten. Ebenso Michael Gottlieb Hansch, an den etwa 30 Leibnizbriefe (sowie ein Brief von ihm an Goldbach) in den Epistolae wiedergegeben sind; diese Briefe soll Kortholt aber von Hansch direkt erhalten haben122. Hier verschwimmen wohl bereits die Grenzen zwischen Goldbach selbst und einem Netzwerk, in das er eingebunden war. Denn auch dieses könnte man partiell in den Epistolae gespiegelt finden. Mit einer Reihe weiterer dort vertretener Leibnizkorrespondenten (etwa Dangicourt, Driesch, Johann Albert Fabricius, Koes, La Croze, Mascov, Johann Christoph Wolf) stand der Königsberger auf Reisen in Verbindung123; mit der Mehrzahl von ihnen aber – unabhängig von ihm – auch Sebastian Kortholt. So der Leipziger Jurist Johann Jacob Mascov, mit Goldbach seit den gemeinsamen Studienjahren dort bekannt124 und bereits damals in Korrespondenz mit Kortholt125; er kommt damit (nicht als einziger) in Betracht als jemand, der den Kontakt vermittelt haben könnte. Auch von ihm kommt (1722, offensichtlich einige Zeit nach seiner Kenntnis des Projekts) ein Hilfsangebot: „Si adhuc stat sententia edendi epistolas Leibnitii, potero sane copiam nonnullarum ab amicis Tibi procurare“ (mit der Einschränkung, er werde nur solche Briefe übersenden „quae ad rei literariae lucem aliquid faciant“126). In den mir vorliegenden Briefen erfolgt weder Präzisierung noch Bestätigung einer Weiterleitung von Material; der eine Leibnizbrief an Mascov, den die Epistolae bringen, könnte auch erst Christian Kortholt, um 1733, zugegangen sein127. Mascov zeigte sich aber auch in der Zwischenzeit interessiert an 121 Recueil, S. 6–11, Epistolae, Bd. 3, N. LIII–LVI (S. 308–313). 122 Epistolae, Bd. 3, S. 64–96, Bd. 4, S. 111–115. Zur Briefübergabe an Kortholt vgl. G. W. Götten: Das Jetztlebende Europa (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 458. Für den Hinweis darauf danke ich Stefan Lorenz. 123 Vgl. die Liste von Goldbachs Korrespondenten bei A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 192–195. Für die Driesch-Briefe merken die Epistolae (Bd. 4, S. 131) an, die Materialvermittlung sei über den ungarischen Historiker Mathias Bél erfolgt; dieser stand ebenfalls mit Goldbach in Verbindung. Dies erweist auch die Edition von Béls Korrespondenz: Bél Mátyás levelezése [Die Korrespondenz von Matthias Bél] (= Commercia Litteraria Eruditorum Hungariae 3), hrsg. von L. N. Szelestei, Budapest 1993, die neben dem umfangreicheren Goldbach-Briefwechsel auch einzelne Briefe enthält, die mit Driesch (N. 688) bzw. Christian Kortholt (N. 690 u. N. 691) gewechselt wurden. Den Hinweis auf diese Edition und ihre Bereitstellung verdanke ich Gábor Gángó. 124 A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 25. 125 Vgl. den Brief Mascovs an Kortholt vom 17. Oktober 1712 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B7 Nr. 16). 126 Brief Mascovs an Kortholt vom 14. Januar 1722 (ebd., Nr. 23). 127 Epistolae, Bd. 1, Appendix, N. I (S. 255 f.). In der Praefatio Bl. [)()(7]r° wird dieser Brief zusammen mit den Gegenbriefen von Johann Fabricius (die Christian Kortholt explizit erst während des Drucks erhielt) nach dem eigentlichen Corpus des Bandes aufgeführt. Dass Kortholt
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dem Unternehmen; so fragt er in einer Phase, in der dieses auf Jahre stagnierte, betont nach128. Auch der Berliner Polyhistor und Sprachforscher, der königliche Bibliothekar Mathurin Veyssière La Croze, der zum engeren Kreis um Goldbach gehörte129, hatte bereits mit Kortholt korrespondiert, bevor dieser mit dem Königsberger bekannt worden war (und kommt hier ebenfalls als Vermittler in Frage). Mit 36 an ihn gerichteten Briefen gehört er zu den Leibnizkorrespondenten, die in den Epistolae stark vertreten sind130. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er weniger mit Materialangeboten auf Sebastian Kortholt zugekommen sein dürfte als dieser auf ihn mit Wünschen – denen er anfangs ähnlich zurückhaltend begegnete, wie es bei Eckhart zu sehen war131. Beginnend im Januar 1719: Kortholt leitet die Korrespondenz ein, indem er sich, als Unbekannter, quasi legitimiert mit lobenden Äußerungen über La Croze, die Leibniz einst ihm gegenüber getan habe, und indem er seine eigenen Bemühungen um die Leibniz-Memoria anführt. „Idcirco collegi omnia, quae faciunt ad laudes Leibnitianas, iudiciis amplissimis celebratas“132: explizit ist die Rede von einer Sammlung, nicht von einer Edition. In diesem Zusammenhang schreibt er, ihm sei zu Ohren gekommen, La Croze verfüge über Leibnizbriefe an Spanheim, Rabener, Ancillon und Des Vignoles. Eine Bitte an Eckhart um Abschriften sei vergeblich gewesen133. Die Adressierung an La Croze wegen dieser Korrespondenzen aus dem Berliner Umfeld dürfte nicht erfolgreicher gewesen sein, das legt der Abgleich mit den Epistolae nahe. Genau diese Namen finden wir aber (neben anderen) später als die von Korrespondenten in dem Material, über das der La Croze eng verbundene Charles Etienne Jordan verfügte134. Auch wenn
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mit Mascov in Leipzig in Verbindung stand, erwähnt J. Chr. Strodtmann: Geschichte (wie Anm. 10), S. 398. Brief Mascovs an Sebastian Kortholt vom 5. Juni 1727 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B7 Nr. 26): „Quid de Leibnitii epistolis tandem statueris scire vehementer cupio“. A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 27 f. u. 36. Epistolae, Bd. 1, N. CCX–CCXLV (S. 371–454). Kortholts Briefe an La Croze sind gedruckt bei J. L. Uhl (Hrsg.): Thesaurus epistolicus Lacrozianus, Bd. 1–3, Lipsiae 1742–1746, hier Bd. 1 (N. 182–189, S. 214–229) und Bd. 3 (N. 105–110, S. 191–200). Da diese Edition, online vorliegend (http://www.uni-mannheim.de/ mateo/cera/autoren/lacroze_cera.html [zuletzt eingesehen 8.1.2017]), gut zugänglich ist, verzichte ich weitgehend auf die ausführliche Wiedergabe von Zitaten. Kortholt an La Croze, 11. Januar 1719 (ebd., Bd. 1, N. 182, S. 214 f., Zitat S. 214). Ebd., S. 215. Dazu J. Häseler: Ein Wanderer zwischen den Welten. Charles Etienne Jordan (1700–1745), Sigmaringen 1993, S. 91–94; ders.: „Leibniz’ Briefe als Sammelgegenstand – Aspekte seiner Wirkung im früheren 18. Jahrhundert“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler LeibnizKongreß, Vorträge 1., Hannover 1994, S. 301–308, hier v. a. S. 305–308; N. Gädeke: „Der Unmut der Königin über die Krönung. Zugleich eine Miszelle zur Leibniz-Überlieferung“, in: F. Beiderbeck/St. Waldhoff (Hrsg.): Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken, Berlin 2011, S. 175–188, hier S. 183 mit Anm. 64 und S. 184 Anm. 72. Zu Jordans Leibnitana-Sammlung vgl. jetzt auch den Beitrag von Stephan Waldhoff in unserem Band.
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dessen Leibnitiana-Sammlung zu dieser Zeit noch nicht existiert haben dürfte135: Hier treten uns wohl zwei konkurrierende Sammlerkreise entgegen. Und das betrifft Leibnizbriefe nicht nur an die eben genannten Korrespondenten, sondern auch an La Croze selbst. Denn eine Anfrage an den digitalen Arbeitskatalog der Leibniz-Edition zeigt136: Die Schnittmenge zwischen den Jordan-Konvoluten und den Epistolae ist hier leer; das Material scheint zu annähernd gleichen Teilen nach beiden Seiten hin verteilt worden zu sein. Auch wenn La Croze sich Kortholts Projekt nicht verschloss: dass er einen umfangreichen Bestand an Leibnizbriefen für die Epistolae zur Verfügung stellte, geschah nach einigem Zögern. So reagiert er, nach einem Vierteljahr, auf die Anfrage erst einmal vorsichtig; nicht nur, dass er deutlich macht, Briefe an andere Adressaten lägen ihm nicht vor und er wisse nicht, wie man an sie gelangen könne; er habe nicht viele Briefe von Leibniz bei sich, einige davon seien auch derart, dass er sie nicht in die Öffentlichkeit gelangen lassen wolle, andere seien ohne seine eigenen Gegenbriefe (von denen er keine Kopie habe) nicht verständlich. Wenn Kortholt freilich darauf bestehe („si tamen illis uti velle perseveras“) und ihm einen zuverlässigen Mittelsmann nennen könne, werde er sie ihm zukommen lassen137. Aber bald darauf kommt ein Placet, werden Briefe bereitgestellt – mit der Bitte um Diskretion: „Hic habes quas tantopere expetivisti litteras olim ad me ab Illustri Leibnitzio datas, quas fidei tuae sedulo commendo, ob incomparabilis viri memoriam quam perpertuo caram habebo [...] his velim pro jure tuo utaris, in quibus si qua erunt quae alicuius famam laedant operam te daturum puto, ut ea quam cautissime tractentur“138. Ein Jahr darauf wird noch einmal bekräftigt: „De litteris Leibnizianis id ages, quod tibi commodum erit, id est, tam diu uteris quam voles“139. Dieser Dialog war der Öffentlichkeit früh bekannt durch den Druck dieser Briefe im Rahmen der dreibändigen Edition des La Croze-Briefwerks, die (auf Betreiben Jordans und auf in seinen Händen befindlichen Beständen beruhend) 1742–1746, also kurz nach den Epistolae, erschien140. Ein punktueller Vergleich mit den Briefabfertigungen141 zeigt freilich: Details und ganze Passagen sind (mit entsprechender Kennzeichnung in der Handschrift) unterdrückt. Die weitere La Croze-Korrespondenz lässt erneut vermuten, dass die Kommunikation von Kortholts Anliegen in einem Netzwerk erfolgte. Aus einem Brief des Hamburgers Johann Christoph Wolf, den La Croze zu seinen engen Vertrauten zählte142, der auch mit Goldbach in Verbindung stand143, geht hervor, dass Kortholt 135 136 137 138 139 140 141
Die frühesten Bezeugungen datieren von 1726; vgl. J. Häseler: Jordan, (wie Anm. 134), S. 91. Wie Anm. 14. Brief vom 11. April 1719 (J. L. Uhl: Thesaurus [wie Anm., 131], Bd. 3, N. 105, S. 191 f., hier S. 191). Brief vom 27. April 1719 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2 Nr. 26; nicht gedruckt). Brief vom 16. Juni 1720 (J. L. Uhl: Thesaurus [wie Anm. 131], Bd. 3, N. 106, S. 192 f.). J. L. Uhl: Thesaurus (wie Anm. 131); dazu J. Häseler: Jordan (wie Anm. 134), S. 69 f. u. S. 93. Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2. Es ist anzunehmen, dass Jordan von diesen Briefen bereits redigierte Abschriften erhielt. 142 M. Mulsow: Die drei Ringe: Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739), Tübingen 2001, S. 58–65 u. passim. 143 A. P. Juškevič/J. K. Kopelevič: Goldbach (wie Anm. 107), S. 31.
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über ihn Leibnizbriefe aus dem Wiener Kontext zugänglich gemacht wurden144, vielleicht die wenige Monate danach explizit angesprochenen Briefe aus der Schmid-Korrespondenz145; gegenüber La Croze leicht abfällig kommentiert als ganz unphilosophisch, schon fast banal. Auch Wolfs eigene Korrespondenz mit Leibniz146 ebenso wie die des befreundeten Hamburgers Johann Albert Fabricius147 könnte auf diesem Wege in die Epistolae gelangt sein; in Erwägung zu ziehen wären aber auch Christian Kortholts eigene Hamburger Kontakte. Auch wenn La Croze erheblich zu den Epistolae beisteuern sollte, das Bild von Gelehrten, die mit Bekanntwerden des Editionsprojekts bereitwillig mit ihren Leibnizbriefen ankamen, erhält Graustufen. Andere Briefwechsel Sebastian Kortholts liefern noch mehr Differenzierung. Von Justus Christoph Böhmer148, dem Helmstedter Ordinarius für Theologie, der das Unternehmen explizit begrüßt, kommt eine bedauernde Absage, die sich nicht nur auf seinen eigenen Briefwechsel mit Leibniz bezieht, sondern auch auf den seines Onkels Gerhard Wolter Molanus: Leibniz habe ihm äußerst selten geschrieben, allenfalls zwei oder drei Briefe eher privaten Charakters, auch sein Onkel, der Abt von Loccum, besitze nur wenige, da ihr Austausch aufgrund der räumlichen Nähe vor allem mündlich erfolgt sei149. So plausibel diese Aussagen klingen: unser Arbeitskatalog150 sagt etwas anderes aus. Er enthält immerhin elf Leibnizbriefe an Böhmer (darunter zwei, die 1732 partiell gedruckt wurden), und Leibniz’ Korrespondenz mit Molanus ist eine seiner umfangreichsten überhaupt151. Auch 144 Wolf an La Croze, 17. Februar 1720 (J. L. Uhl: Thesaurus [wie Anm. 131], Bd. 2, N. 82, S. 152–154, hier S. 152): „Litterae […] Leibnitii, de quibus nuper tecum egi, nihil eorum complectebantur, quae ad religionem spectabant, sed plerumque ad stipendium annuum, ab imperatore ipsi decretum, tum vero ad societatem scientiarum Caesaream stabiliendam, et res, quae publice gerebantur, pertinebant. Virum ibi videre mihi visus sum in consiliis et viis, quas semel ingressus erat, constantissimum, lucri vero etiam, quamvis honesti, cupidum, et de re familiari magis, quam in philosophum cadere posse putes, sollicitum. Habet eas epistolas nunc cl. Kortholtus, ut, quae in rem suam esse censeat, inde excerpat“. 145 Wolf an La Croze, 21. Dezember 1720 (ebd., Bd. 2, N. 87, S. 160–162, hier S. 161): „Communicavit nuper amicus mecum fasciculum quemdam epistolarum, quas B. Leibnitius, Vindobona reversus, Hanovera Viennam frequenter scripsit ad Schmidum quemdam, cui negotia sua ibi curanda commiserat. Perpauca earum ad litteras spectant, pleraeque ad res, quae publice tum gestae sunt, et domestica Leibnitii negotia, stipendiumque ab imperatore decretum referuntur. Passim quoque urgetur consilium de adornanda academia scientiarum Caesarea. Ingenium viri latentesque alioquin animi affectus, tamquam in tabula expressos, subinde conspicere mihi in iisdem licuit“. 146 Epistolae, Bd. 1, N. CLXX–CLCCIII (S. 269–274). 147 Ebd., N. CLIX–CLXIX (S. 253–269); dazu M. Mulsow: Die drei Ringe (wie Anm. 142), S. 94. 148 Brief vom 15. Oktober 1720 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B1 N. 17). 149 „Doleo autem, me nihil eorum habere, quae scopo Tuo inservire, operique tam culto inseri possint. Ad me ille scripsit quam rarissime: et vix duas, aut tres ab eo, accepi litteras, breviores omnes, quaeque nonnisi de rebus agunt familiaribus: neque avunculus meus Gerardus, Abbas Luccensis multas possidet, quippe quem, in eadem secum urbe commorantem, coram adire solebat, si quid eum vellet“. 150 Wie oben Anm. 14. 151 Dazu N. Gädeke: „Leibniz lässt sich informieren“ (wie Anm. 21), S. 32.
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wenn man in Rechnung stellt, dass Leibniz’ Abfertigungen früh, bereits bei den Empfängern, verloren gegangen sein könnten – die hier gegebene Begründung ist etwas fadenscheinig. Ähnlich verhält es sich auf den ersten Blick mit Rudolf Christian Wagner, Leibniz’ langjährigem technischen Mitarbeiter und durch dessen Patronage Professor für Mathematik und Physik in Helmstedt152. Trotz wiederholt geäußerter Bereitschaft ist von dieser Korrespondenz, die ebenfalls zu Leibniz’ umfangreichsten zählt, gerade einmal ein Brief in die Epistolae eingegangen153. Wagner bringt viele Entschuldigungen dazu vor: Einmal erscheint ihm das vorliegende Material (in dem sich kein eigentlicher Diskurs spiegele, die Rechenmaschine zudem dominiere154) nicht editionsadäquat; auch sei ihm die Übersicht über seine Bibliothek nach einem Brand verloren gegangen. In einem späteren Brief wird, unter erneuten Entschuldigungen, der dann tatsächlich übersandte Leibnizbrief in Aussicht gestellt155, allerdings unter dem Vorbehalt, dass es nicht das Original sein könne – mit der Begründung: „so aber hat mich von diesem der lose College Pr. Hackemann um schöne originalia von briefen gebracht, davon ich nun nicht einmal copiam habe“. Das eklatante Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Umfang dieser Korrespondenz und dem, was daraus bereitgestellt wurde, könnte also eine Erklärung finden, die Wagners prinzipielle Bereitschaft zur Kooperation nicht ausschließt. Aber doch ist anzumerken, dass das Gros seiner Korrespondenz an einen anderen Sammler gehen sollte: an den Helmstedter Mathematiker/Physiker Johann Nicolaus Frobese, der Wagner nicht nur als Schüler, Kollege und Nachfolger, sondern auch über dessen Ziehvater Johann Andreas Schmidt verbunden gewesen sein muss156. Diese Sammlung (sie sollte später in die Sammlung Pfaff, heute in Halle, eingehen157) muss schon früh angelegt worden sein. Ludovici erwähnt sie bereits 1737158, ebenso einen Editionsplan Frobeses 152 Vgl. N. Gädeke: „Zwischen Weigel und Leibniz: die Berufung Johann Andreas Schmidts an die Universität Helmstedt“, in: K. Habermann/K.-D. Herbst (Hrsg.): Erhard Weigel (1625–1699) und seine Schüler, Göttingen 2016, S. 62 f. 153 Bd. 1, N. CXXX (S. 197–205). 154 Wagner an Sebastian Kortholt, 18. Oktober 1720 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B11 Nr. 20): „Es hätte längstens geschehen sollen. wenn nur mit einer feinen serie seiner brieffe hätte aufwarten können. So aber ist es lauter unvollkommen werck, und die meisten seiner brieffe betreffen des Seel. Mannes Rechenmaschine, über deren Anfertigung ich etliche Jahre ziemlich beschwerliche inspection geführet“. 155 Wagner an Sebastian Kortholt, 20. Januar 1721 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B11 Nr. 21): „Nun ist mir leyd, daß wegen der Leibnitianorum mir die Zeit zu kurtz. Ich will aber […] wenigstens derowegen ergebenst aufwarten, und deroselben einen ausbündig schönen Brief communiciren. den Er […] de anima an mich geschrieben“. 156 Biogramm Frobeses bei S. Ahrens: Die Lehrkräfte der Universität Helmstedt (1576–1810), Helmstedt 2004, S. 83 f. hier u. S. 210 der Hinweis, dass Schmidts berühmte Sammlung mathematischer und mechanischer Instrumente und Kuriosa in Frobeses Hände übergegangen sei. Zur Verbindung Wagner–Schmidt siehe N. Gädeke: „Johann Andreas Schmidt“ (wie Anm. 152), hier S. 56 f. mit Anm. 41 u. 52. 157 Überblick über die Sammlung (in der sich auch andere Leibnitiana befinden): http://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/nachlaesse/pfaff/samm.htm (zuletzt eingesehen 8.1.2017). 158 C. G. Ludovici (Entwurff [wie Anm. 16], Bd. 1, S. 301 [§ 268]) erwähnt, „daß er einen ziemlichen Vorrath von Leibnitzischen Brieffen in Manuscripte besitzen solle“.
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(allerdings ohne seine zeitweilig mit diesem geplante Zusammenarbeit zur Sprache zu bringen159). Wir sehen letztlich auch hier zwei separate Sammlerkreise – aber auch gelehrte générosité mit der Bereitstellung von einem Stück, ob als symbolischer Akt oder den Umständen geschuldet, bleibt angesichts der zeitlichen Verschiebung offen. Aber auch unter den Helmstedtern war jemand, der bereitwillig eine größere Menge an Briefen zur Verfügung stellte: der Theologe Johann Fabricius. Von ihm stammt, wie gesagt, das (auch ohne die aus anderer Quelle hinzukommenden Gegenbriefe) weitaus größte Kontingent einer einzelnen Korrespondenz. Auch hier ging wohl eine Anfrage Sebastian Kortholts voraus, der Fabricius am 6. Mai 1720 nach allen Regeln der générosité begegnet: „Ut videas, quantum apud me valeat humanissima tua responsio, illico et sine mora transmitto hic, quidquid habeo litterarum, quas summus vir, G. G. Leibnitius ad me scripsit, videlicet 131“160. Gleichzeitig kommt in diesem Brief zum Ausdruck, dass von anderen Helmstedtern kaum etwas zu erwarten sei; die meisten Kollegen zeigten sich „difficiles et morosos“ und der Abt Schmidt sei durch seine Halbseitenlähmung zu sehr beeinträchtigt, um seine Briefschaften durchzusehen161 – mit Fabricius’ langjährigem Mitstreiter in der Theologischen Fakultät ist damit ein weiterer Leibnizkorrespondent aus der Spitzengruppe nicht in den Epistolae vertreten162. Woher Sebastian Kortholt Kenntnis von Leibniz’ Helmstedt-Korrespondenzen hatte, lässt sich nur vermuten163. Nicht unwahrscheinlich ist, dass die Erstinformation von einem Kollegen kam, von Friedrich August Hackmann, der in seinem bewegten Leben nicht nur Leibniz’ Protegé (und gelegentlich in die Briefübermittlung involviert164) war, sondern auch zeitweise Professor an der Helmstedter Academia
159 Ebd.: „seine ehedem [...] versprochene Leibnitiana monumenta varia observationibus illustrata des ehesten an das Licht zu stellen“. Dazu D. Döring: „Leibniz-Editionen in Leipzig. Der Druck der Schriften und Briefe von G. W. Leibniz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Leipziger Kalender 1998, hrsg. von der Stadt Leipzig, Leipzig 1998, S. 69–95, hier S. 72–78, v. a. S. 77. 160 Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B3 Nr. 2. 161 Ebd.: „Ab aliis autem huius loci viris ut plures tibi procurem Leibnitianas, equidem voluntas mihi non deest: sed hoc viribus meis est maius, quum alii difficiles se praebent et morosos, si tale quid ab ipsis petatur; abbas Schmidius autem, hemiplexia correptus, non in eo sit statu, ut schedas suas excutere, et litteras colligere valeat: totum enim diem in lecto sedet, atque ad studia ineptus est“. 162 Bereitschaft scheint dagegen dessen späterer Schwiegersohn, der Helmstedter Professor für Poesie und Geschichte, Polykarp Leyser, gezeigt zu haben; ein Leibnizbrief an ihn muss über Fabricius an Sebastian Kortholt gegangen sein, ein weiterer per Post (dies laut Kortholts Brief an La Croze vom 5. Juni 1720, gedr. J. L. Uhl: Thesaurus (wie Anm. 131), Bd. 1, N. 184, S. 216). Jedoch ist Leyser nicht in den Epistolae vertreten. 163 Bei Johann Lorenz von Mosheim und Michael Gottlieb Hansch, die zunächst ebenfalls in Frage kämen (der eine aufgrund seiner Kiel–Helmstedt-Verbindungen, der andere aufgrund seines Kontaktes zu Johann Andreas Schmidt, der einst die Verbindung zu Leibniz hergestellt hatte) spricht der frühe Beginn von Kortholts Korrespondenz mit Fabricius dagegen. 164 So adressierte Hackmann in Leibniz’ Auftrag etwas heikle Sendungen an diesen aus Berlin an Johann Andreas Schmidt in Helmstedt (etwa A I, 19 N. 314, N. 319, N. 329 Erl., N. 344).
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Julia165 – und Jahre später, im zeitlichen Umfeld von Kortholts Sammelaktionen, kurzfristig wohl an der Universität Kiel166. Auch er ist in den Epistolae vertreten, mit einem Brief, den er selbst bereits zuvor auszugsweise publiziert hatte167; auch hier muss die Wiedergabe aber unabhängig von diesem Druck, vermutlich nach der Abfertigung, erfolgt sein. Offensichtlich hat Sebastian Kortholt beim Zusammentragen seiner Sammlung, bei aller Unterstützung, beträchtliche Aktivität entfaltet. Warum überließ er dann die Edition, weit über ein Jahrzehnt später, seinem Sohn? Wie ist dessen Begründung zu interpretieren, der Vater sei „compluribus negotiis“168 davon abgehalten worden? Hier muss es nicht bei Vermutungen bleiben. Zwar ist nicht auszuschließen, dass der Editionsplan sich erst aus der Materialsammlung entwickelte, dass Sebastian Kortholt zunächst vor allem eine Leibniz-Vita im Sinn hatte – wie oben angeführt, lässt die Schilderung des Vorhabens gegenüber La Croze auch diese Lesart zu169. Gewichtiger dürfte aber etwas anderes gewesen sein: Das für ein öffentliches Bekenntnis zu Leibniz, wie es eine Edition darstellte, ungünstige Klima seit der Mitte der 1720er Jahre. So spiegeln Sebastian Kortholts Briefe an La Croze auch Bedenken gegen das Unternehmen, etwa, wenn er am 19. August 1724 schreibt170, er könne Leibniz’ Dissertatio de philosophia Sinica nicht übersenden; auch seine eigenen Bemerkungen, in denen er einigen der Leibniz’schen Grundsätze widerspreche, seien nicht druckreif. Zum Thema der chinesischen Philosophie habe sich Wolff in Halle geäußert, den die gesamte Theologenschaft zurückgewiesen habe, wie ihm aus einem Brief Breithaupts bekannt sei sowie aus der Schrift Langes Entdeckung der schädlichen Wolffianischen Philosophie171. Briefe Joachim Justus Breithaupts (des langjährigen Mentors von Wolffs Hauptgegner Joachim Lange) an Sebastian Kortholt sind in dessen Nachlass überliefert – und sie enthalten in der Tat, noch im Vorfeld des eigentlichen Eklats, eine scharfe Polemik gegen Wolff, die auch auf Leibniz abfärbt, verbunden mit einer deutlichen Warnung an Kortholt172. Knapp zwei Jahre später, Wolff ist längst aus Halle vertrieben, findet man in 165 Biogramm bei J. Bruning: Innovation in Forschung und Lehre. Die Philosophische Fakultät der Universität Helmstedt in der Frühaufklärung 1680–1740, Wiesbaden 2012, S. 213 f. 166 Dieses bisher nicht bekannte Detail aus Hackmanns Biographie geht hervor aus Kortholts Brief an La Croze vom 16. Juni 1720 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2 Nr. 27), in einer nicht bei Uhl (Thesaurus [wie Anm. 131], Bd. 3, N. 106, S. 192 f.) gedruckten Passage nimmt La Croze Bezug auf von Kortholt übermittelte Nachrichten über Hackmann. 167 Epistolae, Bd, 4, S. 167–171; zu Hackmanns Druck von 1705 vgl. A I, 16 N. 42. 168 Vgl. das ausführliche Zitat oben Anm. 78. 169 Vgl. oben mit Anm. 132. Auch die oben in Anm. 91 zitierte Antwort Eckharts auf Kortholts ersten Brief lässt diese Interpretation zu, und ebenfalls Fabricius’ Aussage im Brief vom 2. Oktober 1725 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B3 Nr. 14): „De Leibnitii vita eleganter abs Te describenda nondum despero“. 170 J. L. Uhl: Thesaurus (wie Anm. 131), Bd. 1, S. 229 (N. 189). 171 Dazu ausführlich W. Li: „Edition des Discours“ (wie Anm. 65). 172 Brief Breithaupts an Kortholt vom 29. April 1723 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2 Nr. 15): „Deteriores fiunt licentia tam docentes, quam audientes [...]. Nemo pejor est talis Wolfio, Mathematico Professione Hallensi, Leibnitzii haerede et defensore: quanquam nescio, an
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Breithaupts Antwort auf einen (wohl vom 12. März 1725 datierenden) Brief Kortholts nach dem neuesten Gefechtsbericht den Ausruf: „Ach, wie lieb ist es mir, quod non edideris Tua Leibnitziana!“173. Mehr Deutlichkeit kann man sich kaum noch wünschen: die Kontroversen um die Leibniz-Wolffsche „Weltweisheit“ und deren Verbannung von den Universitäten Brandenburg-Preußens und darüber hinaus haben sich nicht nur in Form einer Apologie in den Epistolae niedergeschlagen, sondern müssen auch deren Erscheinen verzögert haben. Auch wenn noch längst nicht alle Korrespondenzen untergebracht sind: Es liegt zutage, dass Christian Kortholt, als er sich etwa 10 Jahre später, in einem sich verändernden Klima, daran machte, die Epistolae auf den Weg zu bringen, tatsächlich auf reiches Material seines Vaters zurückgreifen konnte. Und auf dessen Verbindungen: Aus dem kollegialen Umkreis der Kieler Universität muss Christian Leibnizbriefe an die (längst verstorbenen) Professoren Schelhammer, Tiede und Reyher sowie an den Astronomen Rømer in Kopenhagen erhalten haben174. Über Sebastians weiteres Umfeld schließlich, den dänischen Minister Johann Ludwig von Holsten und den Hamburger Geistlichen Johann Christoph Krüsicke (beide finden in dessen Korrespondenz mit Leibniz gelegentlich Erwähnung175), wurden Christian die Gegenbriefe aus der Rømer-Korrespondenz176 zugänglich bzw. neben Krüsickes eigener Leibnizkorrespondenz mittelbar vielleicht auch die Briefe an Martin Fogel, die dessen Sohn bereitstellte177. Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch Goldbach sich mit seinem weiteren Materialangebot nach dem Erscheinen der ersten Epistolae-Bände nicht an den aktuellen Herausgeber wendet, sondern wie zuvor an dessen Vater178.
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Leibn. aeque malus fuerit. […] Vorm Jahr hielt obgedachter Wolfius, bey Ablegung des Prorectorats, eine sehr anstößliche Orationem de Philosophia Sinica, welche nicht anders ausfiel, als daß dagegen des Christenthumbs nicht nöthig wäre […]. Dawiderich und andere sofort gepredigt haben, das Ärgerniß zutilgen. […] Solte nun auff der Universität Kiel de Philosophia Sinica disputirt oder geschrieben werden, und zwar secundum Leibnitii ductum, quid vides, an non dicerent, Te Wolfianum asseclam Leibnitii? Facilior, maculam vitare, quam delere“. Brief vom 27. April 1725 (ebd., Nr. 16). Epistolae, Bd. 1, N. CXX–CXXIX (S. 172–189), N. CXXXIII–CXXXIV (S. 213–215), N. CXXXV–CXLIX (S. 215–229), N. CXXXL–CXXXII (S. 205–213). Im Vorfeld der Epistolae muss Christian Kortholt sich mit Fragen zu den Briefen an Reyher und Rømer an den Kieler Mathematiker und Anhänger des Infinitesimalkalküls Friedrich Koes (der gelegentlich in Sebastian Kortholts Korrespondenz mit Leibniz auftritt) gewandt haben; dessen Antwortbrief vom 28. März 1733 ist in Bd. 1, S. 229–232, abgedruckt. Mit den in Epistolae, Bd. 4, S. 239 f. gedruckten Leibnizbriefen an den Kieler Schulrektor Franz Theodor Kohl kommen dagegen Christians eigene Verbindungen ins Spiel. Zu Holsten vgl. etwa die Korrespondenz von 1715 (wie Anm. 86) mit Kortholts Briefen an Leibniz vom 10. Januar, 1. April und 9. Mai 1715 sowie mit Leibniz’ Briefen an Kortholt vom 1. Februar, 25. April, 20. Mai, 15. Oktober und 24. Dezember 1715; zu Krüsicke ebd. mit Kortholts Briefen an Leibniz vom 9. Mai und 7. November 1715 sowie mit Leibniz’ Briefen an Kortholt vom 20. Mai und 15. Oktober 1715. Epistolae, Bd. 2, Prooemium, S. 11. Epistolae, Bd. 2, Dissertatio Prooemialis, S. 63: „Io. Christoph Krüsicke […] et vir consultissimus Fogelius […] mihi proxime copiam fecere litterarum quarundam Leibnitiarum“. Im oben, Anm. 114 zitierten Brief.
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Aber inzwischen hatte der Sohn auch eigene Verbindungen aufgebaut, die ihm bei der Materialbeschaffung dienlich waren. Insbesondere in Leipzig: Hier soll er 1733 die Gegenbriefe der Fabriciuskorrespondenz179 aus dem Besitz des auf Durchreise begriffenen Charles Etienne Jordan erhalten haben. So wird das von diesem selbst einige Jahre später gegenüber Sebastian Kortholt dargestellt (von dem Jordan sich im Gegenzug La Croze-Briefe erhofft)180, nachdem Christian ihm bereits in den Epistolae öffentlich Dank dafür abgestattet hatte181. Überhaupt erfuhr die Transaktion von Jordans Leibnitiana einiges an Publizität: Er selbst berichtet in seiner Histoire litteraire d’une voyage von 1735 darüber und auch über Christian Kortholts Editionsunternehmen, das er damit zugleich der gelehrten Welt bekannt macht, mit dem Zusatz, das Material (in dem auch er eine gewisse Brisanz zu sehen scheint) sei hier in sehr guten Händen182. Dass die Geschichte in Wirklichkeit etwas komplizierter war, dass der Erstempfänger in Leipzig nicht Kortholt, sondern der mit ihm befreundete Johann Erhard Kapp war, der ihm danach einen Teil des Materials vermittelte, ist bekannt: nicht nur aus der Praefatio zu Band 1 der Epistolae, sondern auch aus Kapps Vorrede zu seiner wenige Jahre später erscheinenden Publikation183. Auch unter Briefpartnern kommt Jordans générosité zur Sprache in einer Bemerkung des Berliner Buchhändlers Ambrosius Haude gegenüber Johann Christoph Gottsched vom November 1737, voll des Bedauerns ob dieses entgangenen Reichtums. Die darin auch zum Ausdruck kommende Konkurrenz gilt nur Kapp, nicht Kortholt und den bereits zum Teil erschienenen Epistolae184; sie greift ältere Pläne Haudes auf185, könnte aber zusätzlich ein Anzeichen sein, dass die Phase des ‚Edieren-Lassens‘ für Leibnitiana allmählich passé ist.
179 J. Häseler: Jordan (wie Anm. 134), S. 75 sowie S. 92 f. 180 Brief vom 26. August 1741 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B5 Nr. 1): „J’ay l’honeur de connoitre Mr votre fils, que j’ay vû, il y a 7. ou 8. ans à Leipzig, et auquel je donnay meme des lettres de Fabricius de Helmstadt, et de Leibniz, par le sujet de la reunion“. Daraus geht hervor, dass Christian Kortholt hier nicht auf eine Beziehung seines Vaters zurückgegriffen hatte. Zu dieser Transaktion vgl. den Beitrag von Stephan Waldhoff in diesem Band. 181 Dazu das Zitat aus der Praefatio zu Bd. 1, Bl. [)()(7]v°, bei N. Gädeke: „Der Unmut der Königin“ (wie Anm. 134), S. 184, Anm. 71. 182 Ch. E. Jordan: Histoire d’un voyage litteraire fait M.DCC.III en France, en Angleterre et en Hollande, La Haye 1735, S. 15: „il a dessein de publier plusieurs Lettres du grand Leibnitz, que son défunt Pere avoit recueillies avec beaucoup de peine, et de frais; je lui ai envoyé des Piéces Allemandes, qui ne peuvent entrer dans le Recueil que le savant Mr. Bourguet, et moi, avions promis de publier. Il faut, dans la Publication des Piéces Allemandes que j’ai fournies, beaucoup de circomspections, et de goût; elles sont en très-bonnes mains“. 183 J. E. Kapp: Sammlung einiger vertrauten Briefe, welche zwischen […] G. W. von Leibniz und […] Daniel Ernst Jablonski […] gewechselt worden sind, Leipzig 1745, Vorrede, Bl. [b8]r°. Zu den Kapp vorliegenden Leibnitiana vgl. den Beitrag von Stephan Waldhoff in diesem Band. 184 J. Chr. Gottsched: Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Bd. 4, Berlin/New York 2010, Nr. 201: „Der garstige H. Prof: Kapp hat vor einigen Jahren von Monsieur Jordan eine gantze Schachtel Leibnitzischer Brieffe communicirt bekommen. Ich möchte sie wohl Herr Breitkopffen wünschen. Könnte man sie nicht von ihm abfordern, und ihm Mr Jordan Wiederwillen bezeugen“. 185 Vgl. J. Häseler: Jordan (wie Anm. 134), S. 91 f.
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Dass Gottsched selbst – mit einem Leibnizbrief an einen anonym bleibenden Adressaten – zu den Epistolae beitrug, geht aus der Praefatio zu Band 3 hervor186. Auch mit Leibniz’ Neffen Friedrich Simon Löffler, der unter anderem größere Mengen der an ihn gerichteten Briefe zur Verfügung stellte und auch zwei an seinen Vater187, sind wir bei dem Leipziger Kreis, der Christian Kortholts eigene Verbindungen spiegeln dürfte. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch der Nürnberger Arzt Gottfried Thomasius zu nennen, der ihm, über einen weiteren Mittelsmann, aus der Korrespondenz seines Vaters Jakob mit Leibniz eine größere Zahl von Briefen bereitstellte188. Dabei erfahren wir das interessante Detail, dass Jakob Thomasius die Briefe seines Schülers abgeschrieben und in einem Faszikel aufbewahrt habe189. Damit sind nur einige Schlaglichter gesetzt; die Kortholt-Sammlung und -Edition ist noch längst nicht erschöpfend aufgearbeitet. Nicht immer (auch das spricht dafür, dass Vater und Sohn Kortholt sich eher an die gelehrte Welt wandten als diese sich an sie) waren die Bemühungen um Material erfolgreich. So stellt Christian Kortholt, der die Epistolae mit Band 4 abschließen will, in Aussicht, in anderer Form weitere Briefe herauszubringen, sollten diejenigen, die ihm Stücke versprochen hätten, ihre Versprechen noch wahr machen. Dazu gehört explizit (bereits in der Dissertatio Prooemialis von Band 2 erwähnt190) Johann Bernoulli. Dieser war, wie wir aus Fritz Nagels Untersuchungen wissen, 1733 aus Kiel angesprochen worden wegen der an ihn gerichteten Leibnizbriefe: Mit diesem Argument werden diese von Louis Bourguet in Neuchâtel, aus einem weiteren Editionsprojekt, zurückgefordert191. Hier muss es konkrete Verhandlungen gegeben haben, die sich dann aber wohl zerschlugen; Nagel vermutet Uneinigkeit über den Preis. Wenige Jahre später, 1745, gingen diese Briefe in Bernoullis Commercium epistolicum ein192. 186 Ebd. Bl. [b8]r°; gemeint ist vermutlich der ebd., S. 98–100 gedruckte Brief. 187 Epistolae, Bd. 4, S. 246–278 bzw. S. 241–245. Für weitere bereitgestellte Text wird Löffler gedankt in Epistolae, Bd. 3, Praefatio Bl. b5v°. Zur Vermutung, dass Christian Kortholt einen Teil des von Löffler erhaltenen Materials (das in seiner eigenen apologetisch bestimmten Edition keinen Platz finden konnte) an Kapp abgab, vgl. bereits P. Schrecker: „G.-W. Leibniz. Lettres et fragments inédits“, in: Revue Philosophique de la France et de l’Étranger 59 (1934), S. 5–134, hier S. 13 f. sowie jetzt den Beitrag von Stephan Waldhoff in diesem Band (dort mit Anm. 26–28). 188 Epistolae, Bd. 3, S. 22–63 (15 Briefe), dazu Praefatio, Bl. [a8]r°: „Debeo hasce eximias epistolas Godefrido Thomasio, Polyhistori Norimbergensi […], Jacobi filio, qui eas, proxeneta […] M. Tresenreutero, S. R. M, Suec. Legationis Vienn. […] vocato S. Theologiae Prof. Altdorf. Collega atque amico meo […], mecum […] communicavit“. Vgl. auch A II, 1 N. 1 Erl. 189 Ebd.: „Ipse Iacobus Thomasius Leibnitii, discipuli sui clarissimi, epistolas sua manu descripsit, et in volumen aliquod MSC. suorum retulit.“ 190 Epistolae, Bd. 2, S. 63: „Joannes Bernoulli mihi epistolas […] ad se missas […] nuper […] promisit“. 191 F. Nagel: „Schweizer Beiträge zu Leibniz-Editionen des 18. Jahrhunderts. Die Leibniz-Handschriften von Johann Bernoulli und Jacob Hermann in den Briefwechseln von Bourguet. König, Kortholt und Cramer“, in: Leibniz und Europa (wie Anm. 134), Vorträge 1, S. 525–533, hier S. 528 f. 192 Got. Gul. Leibnitii et Johan. Bernoulli Commercium philosophicum et mathematicum, 2 Bde., Lausannae et Genevae 1745.
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Zum Schluss noch die Frage: Wo sind die Vorlagen geblieben? Hierauf kann ich nur partiell, von Fall zu Fall, antworten. Die an Sebastian Kortholt selbst gerichteten Leibnizbriefe sind (mit Annotationen für die Drucklegung) in dessen Nachlass in der Universitätsbibliothek Kiel erhalten193; als die einzigen. Recht gut lässt sich der Weg von Leibniz’ Briefen an Fabricius weiterverfolgen, in Sebastians Korrespondenz mit dem Helmstedter Theologen und auch in seinen Äußerungen gegenüber La Croze. Diesem vermeldet er 1720: „Abbas regiae Lutterae Fabricius CXXXI epistolas Leibnitianas [...] communicavit“194. So bereitwillig Fabricius sein Material zur Verfügung gestellt hatte, so sehr war er darauf bedacht, es wieder in seine Hände zu bekommen. Als er Kortholt am 11. Juni 1722 den Eingang der Rücksendung bestätigt195, waren dem mehrere Mahnungen vorausgegangen196. In Helmstedt verblieben die Briefe dann aber nicht. Heute befinden sie sich in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen; in der Sammlung Thott197. Diese enthält auch andere Leibnitiana (so die Hodann-Korrespondenz) und geht auf einen dänischen Kollektor aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Graf Otto Thott, zurück198. Dass in sie nicht nur Briefe an Johann Fabricius eingegangen sind, sondern auch solche an dessen Sohn Rudolf Anton, lässt vermuten, dass über diesen die Transaktion ging. Auch La Croze erhielt das von ihm bereitgestellte Material zurück; das ist aufgrund der handschriftlichen Überlieferung von in den Epistolae gedruckten Briefen anzunehmen199 und wird zudem durch eine Bemerkung gegenüber Sebastian Kortholt vom 24. Mai 1721 nahegelegt200. Und in einem weiteren Fall dürften die Vorlagen noch erhalten sein: bei den Hansch-Briefen, die heute in einem Konvolut der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vorliegen201. Hier stellt sich natürlich die Frage nach einer direkten Verbindung zu Christian Kortholts späterem Wirkungsort. Aber ein ‚1+1‘ wäre vorschnell: die Sammlung kam erst 1781 nach Göttingen, indirekt,
193 Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B5. 194 J. L. Uhl: Thesaurus (wie Anm. 131), Bd. 1, S. 216 (Brief vom 5. Juni 1720). 195 Brief vom 11. Juni 1722 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B3 Nr. 11): „Leibnitianas Epistolas aliquando quidem tardius post nundinas Lipsienses, recte tamen accepi, Teque hac manu mea ab omni, qua huc usque nexus eras, obligatione absolvo, liberumque declaro“. 196 Vom 1. Oktober 1720 (Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B3 Nr. 3), 29. März 1722 (ebd., Nr. 9); 7. Mai 1722 (ebd., Nr. 10). Daraus geht auch hervor, dass Josephe Auguste Du Cros, derzeit Korrespondent Braunschweig-Wolfenbüttels in Hamburg (und ebenfalls einst Leibnizkorrespondent), in die Übermittlung der Briefe eingeschaltet war. 197 Kopenhagen Kongelike Bibliotek Thott 4° 1230. 198 Zu dessen Sammlung vgl. den Artikel „Thott, Otto“, in: Dansk biografisk Lexikon, Bd. 17, Kjøbenhavn 1903, hier S. 341. 199 Berlin Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Nachlass Leibniz. Zu dieser Überlieferung vgl. auch den Beitrag von Stephan Waldhoff in diesem Band. 200 Kiel Universitätsbibliothek SH 406 B2 Nr. 29 (nicht gedruckt): „Hodie […] redditae sunt mihi litterae Tuae Lipsia ad me allatae, una cum fasciculo Epistolarum Leibnizii“. 201 Göttingen Staats- und Universitätsbibliothek Hschr. Philos. 140; dazu W. Meyer: Verzeichnis der Handschriften im Preussischen Staate, Abt. 1, Bd. 1: Die Handschriften in Göttingen, Berlin 1893, S. 256.
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über einen zwischenzeitlichen Besitzer, aus Hanschs Nachlass202. Auch für die drei Leibnizbriefe an Carl Gustav Heraeus, die in Band 3 der Epistolae (und im Recueil) gedruckt sind, lassen sich die (zumindest mittelbaren) Vorlagen ausmachen in Heraeus’ Briefsammlung, die heute in Göttweig aufbewahrt wird203. Abfertigungen von Leibniz’ Briefen an Driesch sind in Budapest überliefert; dem entspricht Christian Kortholts briefliche Absichtserklärung, das ihm zugegangene Material nach dem Abschreiben umgehend zurückgehen lassen zu wollen204. In den meisten Fällen findet sich aber keine Spur mehr, und so sind, sofern wir nicht Leibniz’ Konzepte haben, die Epistolae bei manchen Korrespondenzen (darunter Hochkaräter wie die mit Jakob Thomasius) das einzige, was von den Briefen übrig geblieben ist. Leibniz’ Briefe an seinen Leipziger Lehrer müssen, ebenso wie die an Fogel und an den Schwager Löffler, über ein halbes Jahrhundert lang in den Familien aufbewahrt worden sein – um danach irgendwann einmal verloren zu gehen. Später wird sich die handschriftliche Überlieferung zunehmend auf Institutionen konzentrieren und dadurch, tendenziell zumindest, mehr an Nachhaltigkeit gewinnen205. In einer Epoche, in der die Überlieferungsbildung noch im Fluss war, haben Kortholts Epistolae manches Zeugnis konserviert. Auch das sollte diesem Werk heute noch Bedeutung geben.
202 Vgl. ebd. Hschr. Philos. 140 enthält auf Bl. 5–11 Briefe des Kanzleisekretärs von Hinüber in Wildeshausen, die seine Schenkung der Leibnizbriefe an Hansch an die Bibliothek der Universität Göttingen begleiten sollten. Im ersten Brief (Bl. 5) vom 18. Oktober 1781 berichtet Hinüber, er habe diese Briefe nach Hanschs Tod 1749 in Wien an sich genommen. Vgl. D. Döring: „Michael Gottlieb Hansch (1683–1749), Ulrich Junius (1670–1726) und der Versuch einer Edition der Werke und Briefe Johannes Keplers“, in: W. R. Dick/J. Hamel (Hrsg.): Beiträge zur Astronomiegeschichte (= Acta Historica Astronomiae 5), Bd. 2, Thun/Frankfurt a. M. 2002, S. 80–121, hier S. 120 f. 203 Dazu J. Bergmann: Leibnitz in Wien, nebst fünf ungedruckten Briefen desselben über die Gründung einer Kais. Akademie der Wissenschaften an Karl Gust. Heräus in Wien, Wien 1854, S. 9. 204 Vgl. dazu Korrespondenz von Mathias Bél (wie Anm. 123), dort N. 691. Demnach erhielt Kortholt die Briefe Ende September 1737 zugeschickt; bereits Anfang Oktober kündigt er gegenüber dem Mittelsmann Bél die geplante Rücksendung an. 205 Vgl. dazu den differenzierenden Beitrag von Sabine Sellschopp in diesem Band.
JOHANN DANIEL GRUBER UND SEIN PROJEKT EINER LEIBNIZ-EDITION* Von Malte-Ludolf Babin und Anja Fleck (Hannover) Anfang Mai 17291 übernimmt Johann Daniel Gruber (1688–1748) die Stelle eines königlich großbritannischen Hofrats, Hofhistoriographen und Bibliothekars der Königlichen Bibliothek in Hannover. Obwohl mittelfränkischer Herkunft, ist er doch wesentlich geprägt von der Universität Halle, die er 1704 bezogen hat, um zwanzig Jahre zu bleiben. Nach einem abgebrochenen theologischen Studium hat er sich überwiegend der Rechtswissenschaft gewidmet; zunächst als Student, schließlich als außerordentlicher Professor der Rechte und der Philosophie. Nach Hannover ist er über vergleichsweise kurze Aufenthalte gelangt, in Gießen fungierte er als ordentlicher Professor der Rechte, in Celle als Hof- und Kanzleirat. In Hannover wird er für den Rest seines Lebens bleiben, wird sich später noch Verdienste um die Geschichtsschreibung Livlands erwerben und tätigen Anteil an der Gründung der Universität Göttingen nehmen. Zunächst einmal füllen ihn aber – offenbar in dieser Reihenfolge – die „unumgänglich nöthig gewesenen Geschäffte“2 der Königlichen Bibliothek und die Auseinandersetzung mit der „angefangenen Historie“, wie er die Annales Imperii mehrfach nennt3, vollständig aus. Er hat kein leichtes Erbe angetreten, amtiert er doch weniger als Leibniz’ Nachfolger denn vielmehr als der des „entwichenen“4 Johann Georg Eckhart. Wie sein Vorgänger, der jung verstorbene Simon Friedrich Hahn (1692–1729), ist er in seiner Handlungsfreiheit als Bibliothekar stark eingeschränkt. * 1
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Für hilfreiche Hinweise zu Spuren von Grubers Projekt in den zeitgenössischen Periodika danken wir Renate Essi. Vgl. Ms XXIII, 202: J. D. Gruber: [Umständlicher Bericht an das Ministerium von der Arbeit seiner dreyen Vorgänger Leibnitz, Eccard und Hahn], 1730, Bl. 4r: „Nachdem nunmehro bey 9 Monath [geändert aus: seit dem 3 May a. p.] die angefangene Historie deß Chur- und Fürst. Hauses Braunschweig-Lüneburg in Händen gehabt […]“. Ebd., Bl. 7r. Vgl. ebd., Bl. 3, Gruber an die Geheimen Räte, 27. Februar 1730. Das ist die zeitgenössische Sprachregelung für den plötzlichen Abgang des königlichen Bibliothekars und Historiographen. Spätere Zeiten haben verhüllende Formulierungen bevorzugt, vgl. etwa K.-H. Weimann: „Dreihundert Jahre staatliche Bibliothek in Hannover“, in: W. Totok/K.-H. Weimann (Hrsg.): Die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover. Entwicklung und Aufgaben, Frankfurt a. M. 1976, S. 22: „[…] muß infolge von Unregelmäßigkeiten Ende 1723 seine Position abrupt aufgeben“.
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Insbesondere ist es ihm verboten, „Collectanea zu machen, etwas in den Druck zu geben, oder sonsten jemanden Communicationes zu thun“5. Er findet bereits unter Eckhart geschaffene Personalstrukturen in Gestalt der drei Bibliotheksschreiber Baring, von Brink und Marschall vor, die – wie ihre Amtsbezeichnung sagt – für die anfallenden Schreibarbeiten zuständig sind. Das sind in diesem Fall allerdings unter Umständen sehr anspruchsvolle Aufgaben: Die Schreiber dienen „zu Verfertigung der Catalogi, wie auch zum excerpiren, abschreiben derer alten diplomatum“6, auch wenn, wie wir sehen werden, je nach Kompetenz eine gewisse Aufgabenteilung erschließbar ist. An einen solchen Bibliotheksschreiber werden – trotz der eingestandenermaßen sehr schlechten Bezahlung7 – ungleich höhere Anforderungen gestellt als an einen (deutlich besser bezahlten8) Kanzlisten. Dies lässt sich etwa einem Empfehlungsschreiben von 1753 entnehmen, das dem Candidatus Juris Hepke in Göttingen nachrühmt, „in Jure, in der Historia literaria, in Sprachen, in der Philosophie und dahineinschlagenden Wißenschafften besonders erfahren“ zu sein9. Unter diesen Umständen können die Unterschiede zwischen Bibliothekar und Bibliotheksschreiber schon einmal verwischen. Für Gruber ist diese Gefahr im Falle seines Schreibers Daniel Eberhard Baring (1690–1753) virulent. Baring hatte fünf Jahre in Helmstedt studiert, war 1718 von seinem Vetter Johann Georg Eckhart an die Königliche Bibliothek geholt worden und hatte nach der Flucht Eckharts diesen vertreten müssen, indem er „das jenige was Brinck und Marschall zu verrichten gehabt Ihnen ordiniren und vorarbeiten müßen“10. Auf einer 5
Niedersächsisches Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 153 Acc. 2004/ 107 (früher: Hannover, GWLB, Bibl.akten A 16; wir zitieren hier und im Folgenden das ursprüngliche Konvolut, ohne Berücksichtigung der neu eingeführten Gliederung), Gruber an die Geheimen Räte, 6. Juli 1737, Reinschrift, S. [5]. 6 (wie Anm. 5), D. E. Baring an die Geheimen Räte, 26. Januar 1724, S. [3]. 7 1753 erhalten die Bibliotheksschreiber Baring und von Brink je 190 Rth. 24 Mariengroschen (Baring seit 1744 zusätzlich 50 Rth. „von der damahls loßgefallenen Besoldung des weyl. Archiv-Registratoris Soden“), der dienstälteste Marschall gar nur 144 Rth., vgl. die Aufstellung in der „Copia Schreibens des Königl. Ministerii ad Regem vom 11 September 1753“ (wie Anm. 5; Fasz. V der Sextroschen Gliederung: „Acta betr. den Bibliothec-Schreiber Busch“). 8 (wie Anm. 5), D. E. Baring an die Geheimen Räte, 12. März 1729, S. [2]. 9 (wie Anm. 5), Empfehlungsschreiben von J. Leonhard, datiert Hannover, 2. September 1753. 10 (wie Anm. 8), S. [3]. Nach der Tradition der Gelehrtenlexika (J. Chr. Adelung: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico, Bd. 1, Leipzig 1784, Sp. 1433–1435; die betreffende Passage wörtlich übernommen bei F. C. G. Hirsching/J. H. M. Ernesti: Historisch-literarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem 18. Jahrhunderte gestorben sind, Bd. 1, 1, Leipzig 1794, S. 124 f., und H. W. Rotermund: Das gelehrte Hannover, Bd. 2, Bremen 1823, S. 97 f.) hat er auch zuvor schon Eckhart während dessen Abwesenheit vertreten. Bemerkenswert ist, dass diese Tradition das gute Verhältnis Barings zu Eckharts Nachfolgern Hahn und Scheidt betont, als hätte es Grubers immerhin fast zwanzigjährige Amtszeit zwischen den beiden gar nicht gegeben. Vgl. aber auch Grubers Aussage, „was der seel. Rath Hahn die kurtze Zeit über, da er an dem Platz gewesen, von diesem Baring erdulden müssen, werden seine ad Acta befindliche Klagen zeigen“ (wie Anm. 5, S. [6]). Letztlich hat Baring insofern über Gruber triumphiert, als ihm im Unterschied zu seinem Vorgesetzten die Ehre eines Eintrags sowohl in der ADB (Bd. 2, 1875, S. 65 f.) als
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Archivreise mit Eckhart hat er nach eigener Aussage 400 Urkunden kopiert. Die so gewonnene Praxis ermutigt ihn, ein paläographisches Kompendium zu verfassen, das 1737 unter dem Titel Clavis diplomatica erstmals erscheint und ebenso wie die bereits 1729 veröffentlichte Succincta notitia scriptorum rerum Brunsvicensium ac Luneburgensium ein Nebenprodukt von Barings täglicher Arbeit ist11. Die Tatsache, dass Baring durch diese und andere Publikationen hervorgetreten ist – auch als erster Historiker der Königlichen Bibliothek hat er sich bereits 1725 versucht12 – und auch Aufnahme in die zeitgenössischen Gelehrten-Lexika gefunden hat, obwohl er trotz eines Antrags auf Verleihung des Sekretärstitels13 bis ans Ende seiner Tage Bibliotheksschreiber geblieben ist, hat ihn im Rückblick als – wenngleich verhinderten – Bibliothekar und Leibniz-Editor neben Gruber gerückt. Bereits Gruber selbst hat in ihm einen Rivalen gesehen. Anders sind dessen Beschwerde bei den Geheimen Räten über Barings Veröffentlichungen und der folgende Briefwechsel14 wohl nicht zu erklären. Am Ende der Affäre, die bis zur zeitweiligen Beschlagnahme der Clavis diplomatica führt, stellt Gruber verbittert fest, dass, wenn ein „Subalterner“ sich während der Dienststunden und damit auf königliche Kosten ungestraft aus königlichen Manuskripten für eigene, obendrein der vorgeschriebenen Zensur entzogene Veröffentlichungen bedienen dürfe, „die condition eines Bibliothec-Schreibers besser als eines Bibliothecarii“ wäre15. Möglicherweise ist es also nicht zuletzt das Bedürfnis, sich nach oben wie nach unten abzusichern, das Gruber veranlasst, nach einer Einarbeitungsphase im Februar 1730 den Geheimen Räten „umständlichen Bericht von der gegenwärtigen Beschaffenheit“ der Annales Imperii abzustatten, d. h. von den Leistungen seiner Vorgänger Leibniz, Eckhart und Hahn, um auf einer so geschaffenen soliden Basis über die Zukunft des Werkes zu entscheiden: „eines theils wegen Edirung deß vorhandenen Anfangs, und andern theils über die Art und Weyse, wie das Werk zu continuiren seyn möchte“16. Grubers Argumentation lässt erkennen, dass diese Entscheidung sehr tief geht und Substanz wie Struktur der Annales in Frage stellt: die Konzeption als Reichsgeschichte und die annalistische Gliederung des Stoffes. Sollte es bei einem „Hauß, deßen Prinzen ehemals in Schwaben, Bayern, Italien,
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auch in der NDB (Bd. 1, 1953, S. 589 f.) zuteil geworden ist. Der letztgenannte Artikel ist trotz einiger Ungenauigkeiten wesentlich präziser als die vorausgegangene Tradition und verschweigt auch nicht den Konflikt mit Gruber. Wie Anm. 6. D. E. Baring: Historische Nachricht von der Königlichen und Churfürstlichen öffentlichen Bibliothek in Hannover (1725), Hannover, GWLB, Ms XXIII 706a; jetzt teilweise gedr. in: M. Wehry: „Daniel Barings Bibliotheksgeschichte als Wissenschaftsgeschichte zwischen Barock und Aufklärung“, in: G. Ruppelt (Hrsg.): „Der Nuzen einer außerlesenen Bibliothec kan nicht in Zweifel gezogen werden.“ 350 Jahre Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (1665–2015), Hannover 2015, S. 65–91, hier S. 77–91. (wie Anm. 5), Schreiben an die Geheimen Räte, 12. März 1729. (wie Anm. 5) Fasz. II. II der Sextroschen Gliederung: „Des Herrn Hofraths Gruber scharffes Urtheil über Barings Notitia Scriptorum Brunsvic. wie auch Clavis diplomatica“. (wie Anm. 5), Gruber an die Geheimen Räte, Reinschrift, 6. Juli 1737. J. D. Gruber: Bericht (wie Anm. 1), Bl. 7r.
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Sachsen und Westphalen geherrschet“, nicht möglich sein, so lautet die naheliegende Frage, „ohne die Kayser- und Reichs-Historie umständlich und so gar per modum Annalium abzuhandeln, ein großes, schönes u. nützliches Werk zum Vorschein [zu] bringen“? Hier bringt Gruber nun erstmals Leibniz’ hinterlassenen Briefwechsel ins Spiel, und er tut es in Worten, die einer Ankündigung seines späteren Editionsprojektes gleichkommen: „So habe mein erstes seyn laßen, in der vorhandenen Correspondenz deß seel. Mannes, in welcher ein unvergleichlicher Schatz der Gelehrsamkeit und eine vollständige Historia literaria von einem halben saeculo als in einem Bergwerk verborgen lieget nachzusehen, ob er sich darüber [sc. über die Anlage seines Werkes] nicht irgendwo explicirt haben möchte“17. Und wirklich hat Gruber zwei Briefpassagen gefunden, die er auch in extenso zitiert18. Wir können also davon ausgehen, dass Gruber sich von seinem Amtsantritt an auch intensiv mit der Leibniz-Korrespondenz befasst hat, wenngleich nicht sofort ein Editionsprojekt damit verbunden gewesen sein wird. Denn am Anfang steht der Versuch, eine Ordnung der Briefe herzustellen, wie sie der heutigen entspricht und die eine im Kern wohl schon von Leibniz konzipierte Ablage nach Korrespondenten systematisiert, freilich um den Preis der Beseitigung zahlreicher ursprünglicher assoziativer Bezüge, von denen Spuren noch heute zu erkennen sind. Für Grubers Ordnungsarbeit hat sich in einer ausführlichen Anzeige des zu der Zeit noch nicht erschienenen ersten Teils des Commercium epistolicum leibnitianum in den Hamburger Freyen Urtheilen und Nachrichten das Zeugnis eines Insiders erhalten, das Gruber selbst zuzuschreiben sein dürfte: [Diese Arbeit] ist eine Frucht der von einigen Jahren her, bey unumgänglichen Aufwartungen, ersparten Stunden, in welchen man die vorgefundene, aber wie Kraut und Rüben durch einander geworfene Leibnitzische Schriften durch- und aus einander gelesen, die noch übrigen Briefe von andern Materien und Aufsätzen abgesondert, einen jeden von diesen an seinen rechten Ort gebracht, die zu einerley Person gehören, von welcher oder an welche sie geschrieben, besonders und nach der Zeitordnung geleget, und also die zerstreuten Glieder eines gänzlich zerstückten Körpers, so viel sichs hat thun lassen, wieder zusammen geflicket hat19.
Die Herstellung dieser im Wesentlichen der heutigen Gliederung des Briefmaterials entsprechenden Ordnung hat ihre Spuren auf den Handschriften selbst hinterlassen in Gestalt der in den Briefbänden der Leibniz-Akademieausgabe summarisch als „Bibliotheksvermerk“ bezeichneten Einträge. Dabei handelt es sich überwiegend um die Angabe des Namens des Korrespondenten, zu dessen Briefwechsel das betreffende Stück gehört, gelegentlich – bei namenlos überlieferten Briefkonzepten – auch um eine entsprechende Vermutung (Abb. 2). Da allerdings längst nicht alle Briefe einen entsprechenden Vermerk tragen, gehen wir vorerst von der Annahme 17 Ebd., Bl. 8r/v. 18 Ebd., Bl. 9r/v, mit einem Brief an Herzog Anton Ulrich vom 27. Dezember 1711 (LK-MOW AntonUlrich10 Bl. 137–138), Bl. 9v mit einem Brief „an einen seiner Correspondenten in Wien“, d. i. an Johann Philipp Schmid vom 27. Februar 1715 (LBr. 815 Bl. 51–52). 19 Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und Historie überhaupt, Bd. 2, Hamburg 1745, S. 233–235, hier S. 233; auch in: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen, 1745, S. 220–223.
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aus, dass es sich bei den gekennzeichneten Stücken um verstreut, also nicht in einem dem betreffenden Korrespondenten gewidmeten Faszikel aufgefundenes Material handelt, das erst im Zuge der Ordnungsarbeiten diesem zugewiesen wurde. Die Identifizierung der Handschrift dieser Vermerke bereitet mangels Masse des einzelnen Eintrags und des Bemühens des Schreibers, recht sauber und damit richtformnah zu schreiben, immer wieder Schwierigkeiten und ist in einer Reihe von Fällen wohl nicht möglich; vielfach ist die Hand Grubers jedoch unverkennbar, und entsprechende Hinweise finden sich sporadisch schon im Ritter-Katalog, der der nachleibnizischen Geschichte der Handschriften noch wenig Aufmerksamkeit widmet. Gelegentlich ist dem Namen auch ein Datum hinzugefügt, das in der Regel dem Brief selbst entnommen, also für Ordnungszwecke an prominenter Stelle wiederholt wird. Daneben gibt es aber auch Korrespondenzen, in denen das Datum allein durch einen ganzen Briefwechsel hindurch auf der jeweils ersten Seite der Briefe vermerkt ist. Diese Fälle können aber auch auf eine spätere Materialsichtung zurückgehen. Dass, wie auch aus der zitierten Anzeige zu entnehmen ist, die Ordnungsarbeiten der Auswahl von Briefen für das Commercium vorausgegangen sind, belegen gelegentliche Überlagerungen von der Ordnung dienenden Datumswiederholungen einerseits und späteren Editionszugaben andererseits. Dass Gruber sehr früh den Wert der Leibniz-Korrespondenz erkannt hat, haben wir bereits gesehen; wann genau er die Möglichkeit einer Auswahledition ins Auge gefasst hat, einer Edition, die ja über seine eigene Arbeitskraft hinaus Ressourcen binden würde, wissen wir – wenigstens bislang – nicht. Die Beteuerung der zitierten Anzeige aus den Freyen Urtheilen und Nachrichten, „diese Arbeit tritt nicht von ungefehr oder aus eigener Wahl, sondern auf gewisse Veranlassung und mit Vergünstigung der hohen Obern, an das Licht“, war nach dem bereits zitierten Verbot der ungenehmigten Veröffentlichung von Materialien der Bibliothek und nach der Auseinandersetzung mit Baring unvermeidlich, verträgt sich aber kaum mit den Tatsachen. Gegen sie spricht schon, dass nach Grubers Tod, wie wir sehen werden, das Briefprojekt sofort Grubers Witwe überlassen wird, obwohl, wie Gruber bereits 1745 betont, „omnia […] ad praelum parata“20 seien. Doch was verbirgt sich hinter „omnia“? Zunächst fällt auf, dass der Prodromus – in der Sprache der Zeit der „Vortrab“ des Commercium – die beiden einzigen wirklich erschienenen Bände, ganz überwiegend die Korrespondenz Johann Christian von Boineburgs und Hermann Conrings präsentiert, in der Leibniz erst spät auch nur erwähnt wird21, was schlecht zum 20 J. D. Gruber: Commercii epistolici Leibnitiani […] Tomi prodromi pars altera, 1745, [Praefatio], Bl. )( 4v. 21 In zwei Briefen ist Leibniz Gegenstand der Korrespondenz (Nr. 411, 442), nur ein Brief (Nr. 463 = A I, 2 N. 339, vom 1. August 1678, an Christian Philipp) stammt von Leibniz selbst. In diesem Sinne ist E. Ravier: Bibliographie des œuvres de Leibniz, Paris 1937, S. 243, Anm. [424], zu korrigieren. – Im Prodromus druckt Gruber eine Korrespondenz, deren Wahl er zwar inhaltlich rechtfertigt – nennt er doch Boineburg „fortunae Leibnitianae faber“ ([Praefatio], Bl. [ )( 6]r) −, für die er die Materialien aber eben nicht den Beständen der GWLB entnehmen konnte, sondern
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Titel des Gesamtwerkes passt. Grubers Interesse gilt, wie sich auch seinem oben zitierten Lobspruch auf Leibniz entnehmen lässt, weniger Leibniz’ Person als der „historia litteraria“ überhaupt. So steht es übrigens im Titel des ersten Teils des Prodromus: „ad illustrandam integri propemodum seculi historiam literariam“, und so verhält es sich auch mit der Auswahl der Korrespondenzen, die er in seine Sammlung aufzunehmen plant und die in zwei Folgebänden erscheinen sollen. Die Praefatio zum zweiten Teil des Prodromus nennt einen ersten Teil mit Korrespondenz aus der Mainzer und der Pariser Zeit, 1668–1676, mit Briefen von und an Lincker von Lützenwick, Habbeus von Lichtenstern, Spizel, Lana Terzi, Gravel, Ferrand, Carcavy, Johann Christian Boineburg, Boecler, Johann Friedrich Leibniz und die übrige Leipziger Verwandtschaft, die letzten beiden stellen die einzige Konzession an die reine Leibnizbiographie dar. Auch ein weiterer Band soll durchweg Korrespondenzen mit – abgesehen von Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels – gelehrten Männern, überwiegend aus dem theologischen und historischen Bereich, enthalten; 24 Briefwechsel größerenteils aus Leibniz’ Jahrzehnten in Hannover: Kochański, Vota, Bossuet, Huet, Philipp Jakob Spener und drei seiner Söhne, von Fürstenberg, Conring, Ezechiel Spanheim, Hiob Ludolf, Graevius, Placcius, Elsholtz, Andreas Müller, von Seckendorff, Justel, Thomas Smith, aber auch mit wenigstens einem prominenten Mathematiker (Wallis) neben Oldenburg, einem bekannten Physiker (von Guericke) und einem bemerkenswerten Interesse für Sinica und F. M. van Helmont. Diese Vorauswahl schwillt auf rund 80 Namen an – die dann freilich oft mit nicht mehr als einem oder zwei Stücken vertreten sind –, nimmt man die handschriftliche Überlieferung dazu; doch selbst dann fehlen viele prominente Namen, nicht zuletzt aus dem Bereich der Philosophie. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Gruber nicht auf eine repräsentative Auswahl von LeibnizKorrespondenzen zielt; er will nur Ungedrucktes bringen und verweist für schon Gedrucktes auf ältere Ausgaben. So soll der Wallis-Briefwechsel nur mit Briefen aus den Jahren 1699 und 1700 vertreten sein, also nach Erscheinen von Band 3 von Wallis’ Opera mathematica mit der vorangegangenen Korrespondenz22. Wir werden aber sehen, dass noch ein weiterer Faktor im Spiel ist, der die Auswahl beeinflusst. In erster Linie aus seinem privilegierten Zugang zu den Quellen ist es zu erklären, wenn Gruber – anders als die zeitgenössischen Leibniz-Herausgeber – regulär auch Korrespondentenbriefe und durchaus auch Drittstücke aufnimmt, sofern ihm das aus inhaltlichen Gründen geboten scheint; dennoch wird man auch hier einen Hinweis darauf sehen können, dass für ihn nicht Leibniz’ Person im Vordergrund steht.
– neben der Sammlung der HAB Wolfenbüttel (vgl. P. Herberger: „Die ungedruckten Briefe Hermann Conrings“, in: M. Stolleis [Hrsg.]: Hermann Conring [1606–1681]. Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1983, S. 471–534) – offenbar jenen des Niedersächsischen Landesarchivs – Hauptstaatsarchiv Hannover, die heute verloren sind, für Gruber aber anscheinend leicht zugänglich waren. 22 J. D. Gruber: Commercii epistolici Leibnitiani […], [Praefatio], Bl. )( 4v (wie Anm. 20).
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Dominiert also in der Auswahl, wie wir sie aus Grubers Vorankündigung einerseits und dem handschriftlichen Befund andererseits kennen, die Wissenschaftsgeschichte, bleibt doch ein Briefkomplex, der ohne Zweifel für den Druck bestimmt war, in seiner Spezifität aber dem Commercium ferner zu stehen scheint als der Gruber obliegenden Edition der Annales imperii: Gemeint ist die Gesamtheit des Konvoluts der Muratori-Korrespondenz samt den inhaltlich zugehörigen Briefen, insbesondere an A. G. von Bernstorff. Diese Briefe hat Gruber allerdings nur noch zum Teil bearbeitet, von gut einem Drittel des Konvoluts23 liegen lediglich die unveränderten Abschriften vor; sie zumindest waren nicht „ad praelum parata“, wie gerade die lückenhaften Abschriften schwer leserlicher Originale zeigen24. Wie aber hatte eine Edition nach Grubers Begriffen auszusehen? Neben dem im Prodromus befolgten Muster und einigen expliziten Äußerungen in der Praefatio zu dessen erstem Teil liegt in den bearbeiteten Briefen ein reichhaltiges Anschauungsmaterial vor. Bei den folgenden Ausführungen beschränken wir uns zunächst auf die jetzt in Hannover aufbewahrten Abschriften, die uns im Original vorgelegen haben. In einem ersten Schritt gilt es, den Text verfügbar zu machen. Zu diesem Zweck lässt Gruber – abgesehen von einigen wenigen eigenen Abschriften (vgl. die von späterer Hand authentifizierte Schriftprobe Abb. 3) – wenigstens zwei der drei ihm unterstellten Bibliotheksschreiber Kopien der Originale anfertigen, in aller Regel 23 LBr. 676 Bl. 337–522. 24 Vgl. LBr. 676 Bl. 515–516, mit Lücken im italienischen Text. Möglicherweise hatte Scheidt eben diesen Bestand im Sinn, wenn er in seiner „Relation“ vom 11. September 1748 (Hannover, GWLB, Bibl.akten V 3) klagt: „[…] wann nur selbige in dem Stand wären, daß man sie als zum Druck adorniret ansehen könte. Allein […] der Augenschein ergiebt es, daß unter 10. Briefen offtmahlen nicht ein einziger mit dem Original collationiret, viel weniger rubriciret oder numeriret worden seye, sondern daß sie der seel. Mann eben also zusammen gelegt habe, wie sie ihm von den Bibliothec Schreibern oder seinem Amanuensi, denen er einen fasciculum nach dem andern abzuschreiben gegeben hat, mundirt zu Handen geliefert worden sind. Solten nun die Originalien, ehe sie mit diesen Copeyen collationiret worden sind, wozu ich doch […] wenigstens jezo vor der Hand keine Zeit übrig habe, Ew. Gnädigem Befehl gemäß zurück behalten, u. ihr, wohlgedachter Frau Gruberin, bloß diese Copeyen außgeliefert werden [vgl. unten S. 172], so besorge ich, daß vielleicht kein Criticus in der Welt im Stand seye, offter mahlen den rechten Sensum heraus zu bringen, immaßen nicht allein der Amanuensis, deßen sich der seel. H. Gruber bedienet, weder Latein noch andere fremde Sprachen verstanden hat, sondern auch viele briefe, welche von unsern Bibliothec Schreibern mundiret worden sind, anfänglich so unleßlich sind geschrieben gewesen, daß man auch bey aller Kändtniß der Sprache nicht ohne die äußerste Mühe den wahren Wort Verstand hat heraus bringen können. Ich lege als eine Probe von dem Gesagten den anliegenden kleinen Fasciculum bey, welcher vermuthlich diejenige Briefe in sich enthält, die am ersten haben sollen ediret werden, weilen sich so gar ein schon abgedruckter Prob bogen dabey befindet“. Diese Schilderung scheint allzu schwarz, hält man die Masse der überlieferten, in weiten Teilen sorgfältig kollationierten Abschriften daneben. Wer Grubers Amanuensis gewesen sein mag, erschließt sich nicht, zumal (vgl. unten S. 170) neben Brink und Baring andere Hände kaum eine Rolle spielen. Der erwähnte Druckbogen hat sich bisher nicht angefunden, obwohl die Handschriftenprobe an Scheidt zurückgelangt sein dürfte, vgl. den entsprechenden Vermerk des Postskripts vom 30. November 1748 (ebd.).
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auf Foliobögen. Die Arbeit wird zu annähernd gleichen Teilen auf Baring (167 Abschriften) und Karl Philipp von Brink (1717–1753 an der Königlichen Bibliothek tätig, gest. 1762; 188 Abschriften) verteilt, deren jeweilige Schrift wir wie jene Grubers dank zeitgenössischer Vermerke mit Sicherheit identifizieren können. Dabei erhält Baring ganz überwiegend die lateinischen25, Brink die französischen Texte (vgl. Abb. 4). Darüber hinaus gibt es noch fünf für Grubers Projekt angefertigte Kopien lateinischer Texte eines dritten Schreibers, die so stark korrektur- und ergänzungsbedürftig sind (vgl. Abb. 5), dass wohl deshalb der betreffende Kopist nicht mehr für die Briefabschriften eingesetzt wird. Bei diesem Schreiber könnte es sich um Johann Conrad Marschall handeln, den dienstältesten Schreiber, der seit 1715 und bis zu seinem Tod 176026 im Dienst der Bibliothek gestanden hat, von dessen Schrift wir aber bislang keine verbürgte Probe besitzen. Um Irrtümer auszuschließen, gibt Gruber nicht immer, aber häufig eine bis anderthalb Textzeilen am Anfang des zu kopierenden Textes vor (vgl. Abb. 6); nach Fertigstellung ergänzt er etwa ausgelassene Anreden, Schlusskurialien, Aufschriften (vgl. Abb. 7), worin er sich bemerkenswert abhebt von der Praxis nicht nur seiner Zeitgenossen. Gruber scheint aber über das Formale hinauszugehen, da er auch auf die Verfasser der Briefe zurückgehende Auslassungen aufspürt und ergänzt getreu seiner in der Praefatio zum Commercium formulierten Richtschnur: 25 Dass Baring als einziger der Schreiber als „literatus“ und damit als für anspruchsvollere Arbeiten qualifiziert galt, bestätigt die Charakterisierung der drei Schreiber aus der Feder von Chr. L. Scheidt, die dieser in einem Promemoria an das Ministerium wohl von Anfang September 1753 nach Barings Tod gab (erhalten in einer Zusammenfassung im Rahmen eines Schreibens des Königlichen Ministeriums an den König vom 11. September 1753; vgl. Anm. 7). Scheidt setzt sich dafür ein, Baring durch einen ähnlich gebildeten Kandidaten zu ersetzen, und erläutert, „daß, da die beyden noch lebenden Bibliothec-Schreiber keine Literati, noch einst der Lateinischen Sprache kundig wären, und der eine, nehmlich Brinck, zu weiter nichts als Abschreibung leserlich geschriebener Schriften, oder von einem andern concipirten Bucher-Rubriquen, und der andere, nehmlich Marschall, zu bloßen Handdiensten, zu gebrauchen stünden, die Verfaßung der Bibliothec nicht bestehen könne, wofern nicht in Barings, als eines literati Statt, wiederum ein, in re litteraria erfahrnes und geschicktes Subjectum gesetzet würde“. 26 Diese Daten sind einem „Extract aus des H. Hofraths Scheidt Bericht an König. Regierung vom 13. Decemb. 1760“ entnommen, (wie Anm. 5), Fasz. VII der Sextroschen Gliederung: „3 Fasciculi Actorum betr. den Bibliothec-Schreiber Raspe A. 1761–1766“: „Marschall ist den 11 Decembr. 1760. an einer hitzigen Brust Krankheit mit Todt abgegangen, nachdem er bey der König. Bibliothec 46. Jahr in Diensten gestanden“. Allerdings ist fraglich, ob Marschall, sollte die Angabe über 46 Dienstjahre stimmen, mit dem ersten der beiden Schreiber zu identifizieren ist, die J. G. Eckhart in seiner Bittschrift für König Georg I. vom 18. November 1716 charakterisiert; vgl. den Abdruck in der Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, 1881, S. 373–376, hier S. 374 f., §§ 2 f. Bei dem zweiten dürfte es sich um den Studenten Heinrich Flachbert oder Flachsbart handeln, der bereits 1710 als Kopist für die Bibliothek nachweisbar ist und an dessen Stelle bereits 1718 Baring getreten ist (vgl. W. Ohnsorge: Zweihundert Jahre Geschichte der Königlichen Bibliothek zu Hannover [1665-1866], Göttingen 1962, S. 34, und H. Eckert: Gottfried Wilhelm Leibniz’ Scriptores rerum Brunsvicensium. Entstehung und historiographische Bedeutung, Frankfurt a. M. 1971, S. 48, 108). – Marschalls Vornamen finden sich im Siebenfachen Königl.-Groß-Britannisch- und Chur-Fürstl.-Braunschweig-Lüneburgischen Staats-Calender, über Dero Chur-Fürstenthum Braunschweig-Lüneburg und desselben zugehörige Lande aufs 1751. Jahr Christi, Lauenburg [1750], S. 16.
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„Cuncta meae limae subiecta prius non dimisi, quam sensum perspicuum elicuissem, religiose cauens, ne quid irreperet, quod culpa mea legentibus negotium facesseret“27. Vom Text des Originals entfernt Gruber sich nur – in eher zeittypischer Weise – durch die Aufhebung von Absätzen (um Platz zu sparen) und die Einführung von einfachen, gelegentlich daneben auch doppelten Unterstreichungen zur Hervorhebung bzw. Unterscheidung von Zitaten und Eigennamen. Inkonsequent verfährt er beim Datum, das nach seiner im Prodromus zu beobachtenden Regel über dem Stück zu stehen hat und das er bei Endposition im Original dort bald streicht, bald stehen lässt oder bei Auslassung durch den Schreiber sogar nachträglich ergänzt. Klarheit und Lesbarkeit sind Grubers höchste Prinzipien bei der Gestaltung des Textes, und so lässt er auch die wenigen deutschen Texte in lateinischer Schrift kopieren (vgl. Abb. 8). Umgekehrt gilt aber auch, dass er Kopien nur dann herstellen lässt, wenn das Original mangels Lesbarkeit – wie so oft – zur Druckvorlage nicht taugt. Tatsächlich haben wir immerhin 15 Originale ermittelt, die Gruber für den Drucker zurechtgemacht hat, um die Anfertigung einer Abschrift einzusparen (vgl. Abb. 9). Im Unterschied zu allen Zeitgenossen und den meisten seiner Nachfolger bemüht Gruber sich um die originalgetreue Wiedergabe der Brieftexte, ohne – womöglich nicht gekennzeichnete – Auslassungen oder die Zusammenziehung von verschiedenen Briefen unter einem Datum, wie man sie noch bei Bodemann finden kann. Er geht damit weiter als der noch heute angewandte Standard der Briefbände der Akademieausgabe. Auf die inhaltliche Erschließung hat Gruber in ganz unterschiedlichem Umfang Mühe verwendet. Während im Prodromus durchgehend den einzelnen Stücken ein Regest vorgeschaltet ist, geschieht dies bei den Abschriften in Hannover nur in rund 80 Fällen, auffälligerweise besonders häufig und ausführlich im von ihm noch bearbeiteten Teil der Muratori-Korrespondenz (vgl. Abb. 12). Gelegentlich begnügt er sich mit der bloßen Identifizierung des Briefes, meist verzichtet er überhaupt auf eine Überschrift, vielleicht auch der thematischen Vielfalt der Leibniz-Briefe wegen: Bereits in der Praefatio zum ersten Teil des Prodromus entschuldigt er sich, mit seinen Regesten nicht immer den Gehalt eines Schreibens ausgeschöpft zu haben. Doch ist gerade das Fehlen eines Stückkopfs im Druck schwer vorstellbar. Sehr ungleichmäßig und insgesamt dünn gesät sind die Anmerkungen, in denen Gruber ein deutsches Laster sieht („vitium meae gentis“); besonders längeren Ausführungen würde selten der Beifall des Auslandes zuteil28. Im Prodromus hat Gruber den Anmerkungen – ganz im modernen Sinne – die Funktion zugewiesen, die Korrespondenzstruktur („colligatio epistolarum“) zu klären und schwierige Stellen 27 „Ich habe alle von mir bearbeiteten Texte nicht eher freigegeben, als bis ich ihnen einen klaren Sinn entlockt hatte, und mich gewissenhaft gehütet, etwas sich einschleichen zu lassen, das durch meine Schuld dem Leser Probleme bereiten könnte“. (J. D. Gruber: Commercii epistolici Leibnitiani […] Tomi prodromi [pars prior], 1745, [Praefatio], Bl. )( 7r). 28 Ebd., Bl. 7r/ v.
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zu erläutern („illustranda loca quaedam difficiliora“), und entsprechend finden sich auch in den Leibniz-Abschriften Verweise auf ein nächstes Stück vom Typ „Wer das war, lehrt der nächstfolgende Brief“29 und darüber hinaus Identifizierungen, Namensvarianten und biographische Informationen (vgl. Abb. 10), die sowohl in Gestalt der üblichen Sternchennoten30 als auch frei unter den Text notiert erscheinen, wie etwa die Lebensdaten von Graevius unter Leibniz’ letztem Brief an den Utrechter Philologen31. Allerdings will Gruber laut Prodromus auch „ad indolem magnorum virorum pernoscendam“ beitragen, womit er sich bereits weit hinaus auf das Feld der Interpretation begibt. In den Leibniz-Briefen geht er aber gelegentlich noch einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er seinerseits gegen eine Leibniz’sche Äußerung über die Zukunft des Christentums, der Spener im betreffenden Brief gerade zugestimmt hat, in einer Anmerkung argumentiert, wenngleich in sehr höflicher Form32 (vgl. Abb. 11). Bemerkenswert ist noch der Ehrgeiz, mit dem Gruber seine Beigaben auch sprachlich an die Originale anzupassen bestrebt ist und lateinische Texte lateinisch, französische französisch und einen Muratori-Brief auch einmal statt französisch italienisch kommentiert (vgl. Abb. 12). Nach bisherigem Kenntnisstand erscheint Grubers Editionsplan in den Bibliotheksakten erst, als dessen spiritus rector verstorben und die nachgerade üblich gewordene Razzia in den Hinterlassenschaften des gewesenen Bibliothekars bereits stattgefunden hat. Am 30. Mai 1748, gut zwei Monate nach Grubers Tod, untersucht der Geheime Secretarius J. E. Mejer die „bey erfolgtem Todes-Falle versiegelten Scripturen“ des „seel. Herrn Geheimbten Justitz-Raths“ und fördert nach „eine[r] ziemliche[n] Anzahl Bücher, welche den darauf gedruckten Zeichen nach in die Königl. Bibliothec gehörten“, „viele Volumina von Leibnitzens Correspondentz in mundis und Concepten“ zutage, in Absicht deren die Frau Geheimte-Justitz-Räthin Grubern sofort zu erkennen gab, daß selbige mit Erlaubniß der Herren Geheimter-Räthe Excellencen zum Druck adorniret wären, und sie also hoffete, daß solche ihr gelaßen und vor billig gehalten werden würde, daß sie, als Erbin ihres seel. Mannes, und nicht ein Dritter, die Früchte von seiner auf diese Sachen gewandten vielen Arbeit zu genießen hätte33.
Da sich allerdings herausstellt, dass „die Originalien und Concepte der Leibnitzischen Briefe quaestionis Sr Königl. Mayt zugehöreten und deren viele den mundis zugleich noch beygeleget wären“, wird das gesamte Material „in VIII große Volumina geschlagen“, versiegelt und „auf die Königl. Bibliothec in depositum“ gegeben34. Bereits am 20. August desselben Jahres wird Grubers Nachfolger Christian Ludwig Scheidt aber angewiesen:
29 30 31 32 33 34
LBr. 854 Bl. 39 „Quis ille fuerit, statim subsequens epistola aperit“. Z. B. zur Identität von Richard Swineshead in LBr. 872 Bl. 71–73. LBr. 326 Bl. 57v. LBr. 883 Bl. 54v. Hannover, GWLB, Bibl.akten V 3. Ebd.
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[I]n so fern […] Munda vorhanden und zum Druck adorniret sind, habt ihr solche, jedoch mit Zurückbehaltung der Originalien, oder Original-Aufsätze, als welche Sr Königl. Majt, unserm allergnädigsten Herrn zugehören, der Witwe zu verabfolgen35.
Damit stehen allerdings die erwähnten 15 Originale, die Gruber seiner Textsammlung einverleibt hat, nicht mehr zur Verfügung. Wichtiger ist die Begründung für die Freigabe: Gruber ist danach „ehedem von uns erlaubet worden, die Leibnitzische Correspondenz, in so weit sie nicht in Dienst-Sachen einschläget vor sich durch den Druck zu publiciren“36. Noch deutlicher formuliert ein Postskript vom 30. November: Daß weyland der Geheimte-Justitz-Rath Gruber die Leibnitzische Correspondentz, in so weit darin nichts Verfängliches vorkomt, auf seine Gefahr zum Druck bringen könnte, das ist ihm erlaubet worden.
Trotz in großem Umfang dafür verwendeter öffentlicher Mittel steht nun also einer privatrechtlichen Verwertung offenbar nichts im Wege; vielmehr wird bestätigt, dass das Unternehmen fortzuführen, „die vorhandene Copeyen mit den originalien zu collationiren und correct zu machen, oder sonsten [sich] mit der Direction der Herausgabe zu bemengen“, nicht Scheidts Sache sein könne37: Wir sehen keinen anderen Weg darunter vor uns, als daß Ihr die vorhandene Copeyen und originalia in kleinen portionen nach einer von den Bibliothec-Schreibern jedesmahl zu verfertigenden Designation der Witwe verabfolgen laßet, damit sie durch einen der gedachten Bibliothec-Schreiber, oder wen sie sonst will, die Copeyen collationiren laße, die originalia aber Euch retradire38.
Zum anderen wird deutlich, dass Gruber trotz scheinbar freier Verfügung über den gesamten Leibniz-Nachlass in der Auswahl nicht ganz frei war. Den Grund, warum kein einziger Brief etwa an die Kurfürstin Sophie in seiner Sammlung auftaucht, wird man nun nicht ausschließlich in der geringen wissenschaftsgeschichtlichen Relevanz dieser Korrespondenz suchen. Förmlich scheint erst ein nicht gefundenes Reskript vom 15. Februar 1749 der Witwe Gruber die fernere Herausgabe des Commercium (und möglicherweise den Zugriff auf die dafür erforderlichen Unterlagen) gestattet zu haben, wie aus einem Postskript vom 25. Februar hervorgeht. Letzteres erlaubt der Königlichen Bibliothek, dass „die Original-Stücke in der Maße, als es vorhin placidiret ist, auch wohl nach Göttingen an den HofRaht Böhmer zur Collationirung mit den Copeyen verabfolget werden“39. Georg Ludwig Böhmer (1715–1797), ein bedeutender Jurist 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Unter Hinweis darauf, dass „ich auch nichts vor mir finde, welches meine Arbeit in beschreibung der Historie des durchlauchtigsten Hauses, wozu ich eigentlich allergnädigst bestellet und angenommen worden bin, mir vor das erste erleichtern könte“, hatte Scheidt in seiner „Relation“ vom 11. September 1748 (vgl. Anm. 24) selbst erklärt: „als sehe ich ohnehin in denen ersten Jahren keine Möglichkeit voraus, die weitere Publicirung dieser Correspondenz selber zu besorgen“. 38 Wie Anm. 33. 39 Ebd.
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und Professor der ersten Stunde an der neugegründeten Universität Göttingen, hatte im Zuge der Sichtung von Grubers schriftlichem Nachlass durch den Geheimen Secretarius Mejer der Witwe Gruber zur Seite gestanden. Er soll nun offenbar auch bei der Herausgabe der Folgebände des Commercium behilflich sein. Auf seine Intervention ist demnach zurückzuführen, dass heute noch fünf Hefte für Gruber angefertigte „copeyen“ unter manuscripta philosophica 138m in der Universitätsbibliothek Göttingen liegen, deren Inhalt ein vorgeschaltetes Verzeichnis folgendermaßen aufschlüsselt: – – – – – –
Briefwechsel mit Oldenburg. Briefwechsel aus der ersten Zeit mit verschiedenen Personen. Briefwechsel mit Carl. Maur. Vota S. J. Briefwechsel mit P. Kochansky. Briefwechsel mit Verschiedenen über die Erfindung des Phosphors. Briefwechsel mit versch. Personen über physikalische Angelegenheiten.
Davon entspricht die zweite Position im Wesentlichen Grubers geplantem erstem Band mit Korrespondenz aus der Mainzer und der Pariser Zeit, die Positionen 1, 3 und 4 beziehen sich ebenfalls auf von Gruber für den Druck versprochene Korrespondenzen. Dabei ist von besonderem Interesse, dass der Oldenburg-Briefwechsel tatsächlich der Druckreife weit näher gekommen ist als die übrigen Materialien und nicht nur bereits Anweisungen für den Drucker enthält, sondern auch von einer „observatio praevia“ eingeleitet wird, die uns einen Einblick in die geplante Präsentation der Leibniz-Briefe gestattet und neben den biographischen Daten auf die Umstände von Oldenburgs Bekanntschaft mit Leibniz besonderen Wert legt, aber auch auf die Überlieferungssituation dieses Briefwechsels eingeht. Die letzten beiden Positionen der Göttinger Liste allerdings, mit ihrem naturhistorischen Profil, entsprechen gar nicht Grubers Auswahlkriterien, wie wir sie aus den hannoverschen Beständen kennen, doch erscheinen überall die bekannten Hände und Grubers Beigaben. Übrigens bezieht sich besagte Liste nicht allein auf die Gruber-Abschriften; sie verzeichnet auch in einem ersten Teil summarisch einen umfangreichen Bestand von Leibniz-Originalen, die mit den Gruber-Abschriften mit einiger Sicherheit nicht in Zusammenhang stehen und laut Randnotiz im Dezember 1782 an die Königliche Bibliothek zurückgegeben wurden. Hier spätestens aber trennen sich nun die Wege der Bestände in Hannover und Göttingen. Die Göttinger Abschriften sind liegen geblieben, nachdem sie teilweise einer weiteren Überarbeitung unterworfen worden waren. So wurden etwa im Oldenburg-Briefwechsel nicht nur die von Gruber religieusement bewahrten oder nachgetragenen Kurialien, sondern auch ganze Briefpartien, die nichts zur Sache zu tun schienen, wieder herausgestrichen und eine neue Form der Notierung des Briefdatums eingeführt, teilweise aber auch diese wieder gestrichen. Dagegen hat der hannoversche Bestand durchaus in der Editionsgeschichte noch eine Rolle gespielt. Zunächst sind die Abschriften in die Faszikel mit dem originalen Briefwechsel eingeordnet worden, bezeichnenderweise jeweils vor dem entsprechenden originalen Stück. Hier haben sie als bequeme Vorarbeiten für Klopps Ausgabe gedient (vgl. Abb. 13),
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und Eduard Bodemann hat – als erster immerhin mit Bleistift – in ihnen durch Kollationieren der Originale die Druckvorlage für Càmporis 1892 erschienenen Briefwechsel Leibniz-Muratori hergestellt (vgl. Abb. 14). Noch in jüngster Vergangenheit hat ein besonders unbefangener Zeitgenosse desgleichen getan, allerdings mit blauem Filzstift – nach ihrer partiellen Nichtberücksichtigung im Ritterkatalog ein letzter Beleg für die Missachtung der Reste eines in mancher Hinsicht fortschrittlichen Editionsprojekts.
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ABBILDUNGEN
Abb. 1: Johann Daniel Gruber Hannover GWLB Bild 1/4003
Abb. 2.2: LBr. 633 Bl. 20
Abb. 2.1: Backmeister10 Bl. 1r
Abb. 3: Ms XVIII 1020b Bl. 1r
Johann Daniel Gruber und sein Projekt einer Leibniz-Edition
Abb. 4.1: Ms XVIII 1020b Bl. 43r
Abb. 4.2: LH I VII 3 Bl. 5r
Abb. 5.1: LBr. 423 Bl. 7r
Abb. 5.2: LBr. 423 Bl. 8r
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Abb. 6: LBr F 23 Bl. 8r
Abb. 7.1: LBr. 666 Bl. 2v
Abb. 7.2: LBr. 883 Bl. 53v
Abb. 8: LBr. 880 Bl. 6r
Johann Daniel Gruber und sein Projekt einer Leibniz-Edition
Abb. 9: LBr. 854 Bl. 106r
Abb. 10.2: LBr. 883 Bl. 10v Ausschnitt oben
Abb. 10.3: LBr. 872 Bl. 68v Ausschnitt
Abb. 10.1: LBr. 854 Bl. 39r
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Abb. 10.4: LBr. 872 Bl. 72v Ausschnitt
Abb. 11.1: LBr. 326 Bl. 57v Ausschnitt
Abb. 11.2: LBr. 883 Bl. 54v Ausschnitt
Johann Daniel Gruber und sein Projekt einer Leibniz-Edition
Abb. 12.1: LBr. 854 Bl. 14r
Abb. 12.2: LBr. 676 Bl. 76v Auschnitt
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Abb. 12.3: LBr. 676 Bl. 138r Ausschnitt oben
Abb. 13: LH XII, III, 4 Bl. 23v
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Abb. 14.1: LBr. 676 Bl. 138r
Abb. 14.2: LBr. 676 Bl. 2r
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„[…] QUELQUES OBJECTIONS […] PAR UN CELEBRE PROTESTANT LUTHERIEN ILLUSTRE & DU PREMIER ORDRE ENTRE LES SÇAVANS“ Naudé, Löscher und Leibniz: eine Debatte über die Vollkommenheit Gottes im Vorfeld der Theodizee (1707–1709) Von Stefan Lorenz (Münster)
Wie [...] die schon vor Erscheinen der Théodicée geäußerten Bedenken von Naudé und Löscher zeigen, hat er [...] entschiedene Supralapsarier und Lutheraner [...] von Anfang an nicht zufriedenzustellen vermocht.*
I. Auf die dramatische Verschärfung und Beschleunigung der dem Protestantismus ohnehin innewohnenden Tendenz zum Schwund dogmatischer Verbindlichkeit im Bereich der französischen reformierten Theologie unter den Bedingungen des Exils nach 1685 macht Erich Haase in seiner klassisch gewordenen Monographie zum Refuge aufmerksam: Die geistige Führungsschicht der Emigranten wurde zwar von den Theologen gestellt, aber infolge ihrer persönlichen Gegensätze und oft recht partikulären Interessen ergab sich eine Zersplitterung der Kräfte und oftmals eine Anarchie der Meinungen. In Frankreich hatten noch bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus die Nationalsynoden eine straffe Organisation der reformierten Kirchen zu gewährleisten vermocht. Schon die Jahre vor der Revokation hatten jedoch Auflösungserscheinungen gezeigt, zunehmende dogmatische Divergenzen. In der Freiheit des Exils nun glaubte ein großer Teil der Pastoren der einengenden Synodenbeschlüsse ledig zu sein. Die Verwerfung des kirchlichen Autoritätsprinzips der Katholiken [sc. durch die Reformierten; S. L.] zeigte jetzt ihre Früchte: in England suchten sich manche Emigranten den *
W. Hübener: „Leibniz und die praedeterminatio physica“, in: Leibniz: Tradition und Aktualität. V. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1988, S. 366–373, hier S. 373. Erste Überlegungen zum Thema wurden vorgetragen auf der Tagung Der Berliner Refuge zwischen 1680 und 1780. Moraltheologisches und gelehrtes Wissen im europäischen Kontext, Humboldt-Universität zu Berlin, 28. September–1. Oktober 2000, organisiert von S. Pott, M. Mulsow und L. Danneberg.
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Stefan Lorenz Presbyterianern, andere den Quäkern anzupassen, in Holland den Arminianern, in Deutschland den Lutheranern und einzelne den überall versteckt lebenden Sozinianern. Das Exil hatte die Tür aufgetan1.
Tatsächlich finden sich unter den Theologen des Refuge neben dem von Haase beschriebenen Habitus der dogmatischen Anpassung an konfessionelle Bedingungen des jeweiligen Gastlandes auch alle möglichen Formen der Auf- und Ablösung, der Umformung und der Modifikation der klassisch-orthodoxen Lehrbegriffe des Calvinismus2: mystische, schwärmerische und chiliastische Vorstellungen finden sich ebenso wie quasi-pietistische oder dezidiert fideistische oder rationalistische Positionen. Ebenso breit ist das Spektrum der politischen Haltungen der Hugenotten der neuen Situation gegenüber: Es geht von Mahnungen zur äußersten Loyalität mit dem ludovizianischen Frankreich (um womöglich Heimkehrchancen nicht zu gefährden) bis hin zum offenen Aufruf zur Sedition und zum Sturz Ludwigs XIV3. Freilich können die theologischen Optionen auf verschiedene Positionsbestimmungen des Refuge nach der Revokation des Edikts von Nantes an frühere, innercalvinistische Debatten und Entwicklungen des 17. Jahrhunderts anknüpfen, ohne Zweifel gewinnt jedoch der Prozess des ‚Schwundes‘ bzw. der Veränderung an dogmatischer Verbindlichkeit im Exil eine auch und natürlich von den zeitgenössischen Protagonisten wahrgenommene, neue Dynamik. Entsprechend verschärft sich nicht allein der (auch schon zuvor nicht eben zimperliche) Ton in den publizistisch ausgetragenen Streitigkeiten zwischen den verschiedenen theologischen Richtungen, auch im Inhaltlichen zwingt die Extremsituation des Exils zur Klärung und einer polemischen Zuspitzung der jeweils vertretenen Lehrmeinung. So nimmt es nicht wunder, dass unter den Theologen des Refuge – und dies an der Schwelle zum Aufklärungszeitalter – die kontroverstheologische Literatur blüht wie nur je zu den hohen Zeiten des Konfessionalismus. Zu den bedeutendsten und beeindruckendsten hugenottischen Theologen, die mit zäher Unbeugsamkeit an den rigiden Bestimmungen der Synode von Dordrecht (1618/19) und ihrer Fixierung der calvinistischen Prädestinationslehre festhielten und jede Abweichung hiervon mit umfangreichen Veröffentlichungen bekämpften, gehört neben Pierre Jurieu (1637–1713) wohl Philippe Naudé d. Ä. (1654–1729), der bis weit in das 18. Jahrhundert hinein den Standpunkt der alten Orthodoxie unermüdlich gegen alle Zeitströmungen vertrat. Naudé ist damit gewissermaßen ein reformiertes Pendant zu dem bedeutendsten Vertreter der lutherischen Spätorthodoxie, Valentin Ernst Löscher (1674–1749). Auch Löscher versucht publizistisch jedem Eindringen von Rationalismus (Leibniz-Wolff’sche 1 2 3
E. Haase: Einführung in die Literatur des Refuge. Der Beitrag der französischen Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts, Berlin 1959, S. 113–114. H. Heppe: Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt von H. Heppe, neu durchgesehen und hrsg. von E. Bizer, Neukirchen 1935; (Neukirchen 2 1958). Vgl. E. Labrousse: „Bayle und Jurieu“, in: T. Schabert (Hrsg.): Aufbruch zur Moderne. Politisches Denken im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 1974, S. 114–151, S. 164–177: Anmerkungen, S. 194–195: Bibliographie.
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Schule), Naturalismus, Freigeisterei und Pietismus den Weg zu verlegen. Der Vergleich zwischen Löscher und Naudé geht hier über das Zufällige hinaus, nimmt doch Löscher – begnadeter Polemiker wie Naudé auch – in einer eigenen Schrift Gelegenheit, gegen Naudés supralapsaristische Prädestinationslehre zu Feld zu ziehen – doch davon weiter unten. Anders als Löscher, der seinen Historiographen gefunden hat4, ist Naudé bislang nicht zum Gegenstand einer monographischen, auch nur die sporadischen Erwähnungen in der älteren und neueren Literatur zusammenfassenden Darstellung geworden. Für ihn darf auch die Bemerkung gelten, die Martin Greschat seiner Löscher-Monographie vorausgeschickt hat: Epochen, die sich zum Ende neigen, bestehen in der Regel auch vor dem Forum der historischen Kritik nur schlecht. [...] Der Nachweis, daß hier eine Zeit [...] nicht mehr in der Lage ist, latent längst vorhandene Spannungen sinnvoll zu integrieren oder elementar aufbrechenden Forderungen [...] anders zu begegnen als mit traditionellen Antworten und Lösungen, fällt dann nicht schwer.
Gleichwohl sei der Historiker nicht davon suspendiert, nicht nur auch die Gestalten am Rande des Überganges, die die „Epochenschwelle“ nicht überschreitenden Spätlinge, zu seinem Gegenstand zu machen, sondern, wenn es darauf ankomme „die genauere Einsicht in den Verlauf historischer Prozesse“ zu nehmen und die schematisierende „Idealisierung des Neuen wie die plane Verwerfung des Alten hinter sich“ zu lassen, sondern geradezu gehalten, sich ihrer anzunehmen: Mit Blick auf sie erschließe sich der differenzierte Verlauf des Ringens zwischen Alt und Neu: „[H]ier ist noch nichts entschieden, hier stehen noch einmal alle Seiten im grundsätzlich offenen Ringen um ihre Behauptung oder Durchsetzung“5.
4
5
M. Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie, Witten 1971 (S. 359–414: Bibliographie Löschers). Vgl. auch F. Blanckmeister: Der Prophet von Kursachsen. Valentin Ernst Löscher und seine Zeit, Dresden 1920; K. Petzoldt: Der unterlegene Sieger. Valentin Ernst Löscher im absolutistischen Sachsen, Leipzig 2001. M. Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang (vgl. Anm. 4), S. 9–10.
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Stefan Lorenz
II.6 Philippe Naudé der Ältere7 wird am 28. Dezember 1654 in Metz als Sohn des reformierten Tuchhändlers David Naudé und seiner Frau Marthe Mitalat geboren. Seiner eigenen Auskunft zufolge sind seine über die basale schulische Ausbildung hinaus erworbenen Kenntnisse autodidaktisch erworben und mit berechtigtem Stolz wird er später in seinen Mémoires vermerken, dass ihm sein selbst erworbener Rang als Gelehrter die Aufmerksamkeit des großen Leibniz und die Mitgliedschaft in der Berliner Akademie einbringt8. 6
7
8
Während der Arbeit an dem vorliegenden Beitrag hatte ein Nachfahre Philippe Naudés, Herr Pfarrer i. R. Joachim Naudé (Bad Soden) die große Freundlichkeit, mir seine Transkription und seine Übersetzung der in seinem Besitz befindlichen, bislang unveröffentlichten Mémoires redigées en 1723 von Philippe Naudé, einen langen Brief des Sohnes, Philippe Naudé d. J. über seinen Vater Philippe und dessen Werke (Lettre ecrite à Sa Excellence la Comtesse de Sch. sur les dernières heure de son père) und seine Transkriptionen des Leibniz-Naudé-Briefwechsels samt Übersetzung und Kommentar zur Verfügung zu stellen (Brief und Sendung a. d. V. 12.1.2016). Für diese Großzügigkeit und für die dem Material zu entnehmenden Informationen möchte ich ihm an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. – Naudé hat seine Mémoires in zehn nummerierte Abschnitte eingeteilt. Zitate sind unter Angabe der Abschnittsnummer und der Seitenzahlen des Transkriptionsmanuskripts von Herrn Joachim Naudé angegeben. Ein Belegexemplar des von Herrn J. Naudé in einem Konvolut unter dem Titel In memoriam Philippe Naudé (Ms. unveröff. 2003) zusammengestellten Materials befindet sich in der Bibliothek der Leibniz-Forschungsstelle der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter dem Titel Naudé, Philippe: Erinnerungen und Briefe. Aus dem Manuskript herausgegeben und übersetzt von Joachim Naudé, Kelkheim 2003 (Sign.: P/1729 Nau). Vgl. J. G. Chaufepié: Art. „Naudé (Philippe)“, in: Ders: Nouveau Dictionnaire historique et critique [...], Bd. 3: I–P, Amsterdam/La Haye 1753, S. 22–24; W. Gaß: Geschichte der Protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der Theologie überhaupt, Bd. 3: Die Zeit des Übergangs, Berlin 1862, S. 295–296; A. Schweizer: Art. „Naudäus, Philippus“, in: RealEncyclopädie für protestantische Theologie und Kirche [...] in zweiter durchgängig verbesserter und vermehrter Auflage, Bd. 10, Leipzig 1882, S. 436–437; F. W. Cuno: Art. „Naudaeus, Philippus“, in: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 13, Leipzig 3 1903, S. 659–661; J.-L. Calbat: „La diaspora des huguenots messins. De quelques familles dispersées“, in: Ph. Hoch (Hrsg.): Huguenots. De la Moselle à Berlin, les chemins de l’exil, Metz 2006, S. 165–179 (S. 176–179: „Famille Naudé“; S. 177: Abb. eines zeitgenössischen Porträtstiches Philippe Naudé d. Ä.); S. Lorenz: „Themen und Variationen theologischer Kritik am metaphysischen Optimismus: von Budde bis Schleiermacher“, in: P. Rateau (Hrsg.): L’idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques (= Studia Leibnitiana, Sonderhefte 36), Stuttgart 2009, S. 69–92, zu Naudé S. 82–84. „J’ai par la grâce de Dieu été dès ma premiere jeunesse fort amateur de bons livres, curieux et enclin à l’étude, mais l’état de notre famille ne me permettait pas de m’élever aux Lettres (les études en France étant de très grandes dépenses) et aussi n’en prit-on jamais le dessein cependant la providence de Dieu a fait naître des occasions, qu m’ont induit à m’y pousser de moimême d’une manière qui m’a fait donner le nom de savant entre les savants même, jusqu’à ce que Mr Leibniz l’un des plus savants hommes du monde, Président perpétuel de la Société des Sciences de Berlin me choisit de son propre mouvement entre les premiers, pour être un member de cette société dès son premier établissement“. (Ph. Naudé: Mémoires [vgl. Anm. 6], Abschnitt III, S. 6). Vgl. Abschnitt III, S. 9: „[…] j’ai acquis par mon application continuelle aux études de la théologie, des mathématiques et des langues, dans mes moments de loisir, j’ai acquis
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Ab März 1667 befindet er sich als Page am lutherischen Hof in Marksuhl (Eisenach) und auf Schloss Altenkirchen (Westerwald)9, wo Naudé Gesellschafter des ältesten Sohnes des Herzogs von Eisenach, Friedrich August (geb. 1663) wird. Hier erwirbt er nicht allein eine gründliche Kenntnis der deutschen Sprache (er wird später problemlos Werke in deutscher Sprache verfassen können), sondern gewinnt auch detaillierte Einblicke in die Theologie des Luthertums. Mehr noch: Er sieht sich – gerade wegen seiner Beliebtheit bei der Herrschaft und am Hof – intensiven Bekehrungsversuchen ausgesetzt, denen er, wie er sagt10, beinahe deswegen erlegen wäre, weil ihm ein junger lutherischer Geistlicher die Schwierigkeiten der calvinistischen Prädestinationslehre vor Augen führt – also just jenes Lehrstücks, zu dessen ardentem Verfechter Naudé später werden wird. Die göttliche Fügung – so sieht es jedenfalls Naudé in seinen Mémoires – schickt ihm seinen älteren Bruder, der sich nach seinem Befinden erkundigen will. Mit diesem verlässt er im Oktober 1670 den Hof in Marksuhl und kehrt zurück nach Metz, wo er sich neben seiner beruflichen Tätigkeit als Färber autodidaktisch theologischen und mathematischen Studien widmet. Als den konfessionellen Ertrag seines fast vierjährigen Aufenthaltes im lutherischen Deutschland bezeichnet er den Entschluss, sich in religiösen Dingen restlos Klarheit verschaffen zu wollen, wobei er eine durchaus wohlwollende Haltung gegenüber dem Luthertum mit nach Frankreich nimmt: […] Dieu m’inspira une impatience si grande de retourner au logis pour m’établir dans une vie bourgeoise, et m’éclaircir à fond de la vérité touchant la religion […] je partis pour retourner en ma patrie avec mes préventions favorables au luthéranisme mais aussi avec un dessein bien fixé de m’instruire à fond11.
Ein intensives Studium, vor allem der Institutio Christianae Religionis Calvins (er findet ein Exemplar des Werks im Besitz seines Vaters – eines Tuchhändlers – vor: ein beeindruckendes Detail für den Bildungsgrad auch einfacher Hugenotten) überzeugt ihn dann aber von der Richtigkeit des reformierten Glaubens und der Nichtigkeit der lutherischen Position: dis-je la connaissance de la langue latine, et aussi, au dire des plus habiles connaisseurs, j’ai acquis une connaissance peu commune dans la théologie […]“. 9 Marksuhl war 1662–1672 Residenz von Johann Georg I. von Sachsen-Eisenach (1634–1686), der zuvor als Militär in kurbrandenburgischen Diensten gestanden hatte. Er war verheiratet mit einer Gräfin von Sayn, die ihre Kinder auf ihrem heimischen Schloss Altenkirchen erziehen lassen wollte. (Frdl. Mitteilung von Herrn Joachim Naudé). 10 „[…] le dessein de m’attirer au luthéranisme […] un jeune ministre […] me parlait donc de religion très souvent et tâchait de me gagner [par] […] les représentations affreuses et peu sincères quil me faisait souvent de notre doctrine sur la predestination et sur certaines expressions dures de quelques-uns de nos docteurs, quand elles sont tronquées ou détachées du reste de leur discours, m’avaient enfin tellement frappé que quoique je ne lui avouasse pas, j’étais presque tout à fait persuadé que le luthéranisme était à préférer à notre religion. […] Comme j’étais donc en inquiétude touchant la religion, que je ne songeais presque plus à la maison paternelle et que je pouvais espérer un établissement assez honorable dans cette cour j’étais fort en danger d’être gagné par ces continuelles attaques“. (Ph. Naudé: Mémoires [vgl. Anm. 6], Abschnitt III, S. 8). 11 Ph. Naudé: Mémoires (vgl. Anm 6), Abschnitt III, S. 9.
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Stefan Lorenz Cette instruction par la grâce de Dieu me réussit bien vite, car mon père ayant plusieurs bon livres et entre autre l’Institutio de Calvin, je reconnus bientôt la pureté, la sainteté et la solidité de notre doctrine, et en même temps la mauvaise foi, dont usent les luthériens dans leurs disputes contre nous12.
Und so kommt er – mit Gotte Hilfe, wie er sagt – zu jener Haltung, die er sein ganzes übriges Leben mit Festigkeit und Entschlossenheit dem Luthertum gegenüber einnehmen wird: Es ist ihm eine unakzeptable, mit den Resten des Papismus und der pelagianischen Werkgerechtigkeit beschmutzte Konfession, deren Geistlichkeit es im Umgang mit den Reformierten, von Ausnahmen abgesehen, an Mitgefühl, Gerechtigkeit und Humanität mangeln lasse und der es vor allem darum gehe, sich durch ihre Position einen unchristlichen materiellen Vorteil zu verschaffen, während die reformierten Geistlichen von äußerster Bescheidenheit seien. Mais Dieu par sa grâce me fit voir bientôt que j’étais destiné à toute autre chose qu’à embrasser une religion souillé de beaucoup de restes du papisme et du pélagianisme, et de laquelle presque tous les ministres généralement n’ont envers nous ni charité, ni équité, ni même d’humanité, mais une haine parfaite, et une vraie cruauté comme s’ils étaient les maîtres absolus, à quoi ils sont portés principalement par le profit exorbitant qu’ils tirent de leur simonie honteuse et antichrétienne, profit qu’ils perdraient si notre religion prévalait laquelle ne donne aux ministres que des gages fixes et trop médiocres13.
1680 heiratet er in erster Ehe Elisabeth Collinet, die mit ihrem ersten Kind im Kindbett stirbt, ein Schicksalsschlag, der Naudé in tiefe Melancholie versetzt und der ihn zur Abfassung seines ersten Buches, der Méditations saintes sur la paix de l’âme veranlasst14. In zweiter Ehe ist er mit Anne Isnard verheiratet (∞1683), mit der er dreizehn Kinder hatte, von denen allerdings sechs bei der Geburt oder im Kindesalter verstarben. Nach der Revocation des Toleranzediktes von Nantes (am 22. Oktober 1685 – Naudé wird es in seinen Mémoires nicht versäumen, das genaue Datum festzuhalten) durch das Edikt von Fontainbleau15 flieht Naudé16 mit seiner Frau und seinem zehn Monate alten Sohn aus Frankreich und geht über Saarbrücken und Kaiserslautern nach Hanau (dort ab 1687), wo es schon seit dem 16. Jahrhundert eine Gemeinde von Refugiés gab17. Ende 1688 siedelt Naudé sich in Berlin an
12 Ebd. 13 Ebd., S. 8. 14 Erst in Berlin 1690 gedruckt. Eine selbstkritische Einschätzung des Erstlingswerkes bei Ph. Naudé: Mémoires (vgl. Anm. 6), Abschnitt X, S. 32. 15 P. Liessem: Die Aufhebung des Edikts von Nantes (1589) durch das Edikt von Fontainbleau (1685) (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins e. V. 19/8), Sickte 1987, S. 4–7: französischer Text des Ediktes von 1685. 16 Für den Weg der Glaubensflüchtlinge aus Metz vgl. Ph. Hoch (Hrsg.): Destins Huguenots. Du pays messin au refuge allemand. Actes du colloque organisé par L’Académie nationale de Metz en partenariat avec le conseil général de la Moselle, Metz 2009. Darin: Ph. Hoch: „Des huguenots messins à l’Académie de Berlin“, S. 71–75; kurze Erwähnung Naudés: S. 73. 17 Vgl. E. Lachenmann: Art. „Refuge, Eglises du“, in: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche (vgl. Anm. 7), Bd. 16, Leipzig 1905, S. 522–536, hier S. 526. Zum Zuzug der Hugenotten nach Hanau vgl. J.-B. Leclercq: Histoire de l’église wallonne de Hanau jusqu’à l’arrivée dans son sein des Réfugiés français, Hanau 1868 und zu Hessen insgesamt vgl. die
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– der Große Kurfürst hatte mit dem Edikt von Potsdam18 zugunsten der Aufnahme seiner französischen Glaubensbrüder umgehend auf die Revocation geantwortet –, wo er bis zu seinem Lebensende bleiben wird. Die ursprünglich geplante Existenzgründung als Färber lässt sich nicht realisieren und Naudé muss sein Auskommen als Mathematiklehrer suchen. Der mit der Eingliederung der Refugiés in Brandenburg beauftragte Staatsminister Ezechiel Spanheim19 hat in einem Gutachten20 zur Etablierung des hugenottischen Gymnasiums in Berlin (Collège français) aus dem Jahre 1689 Naudé als „tres habile en Philosophie en Mathematiques“ empfohlen und ihn zum Regenten der zweiten Klasse bei einem Jahresgehalt von 100 Écus vorgeschlagen: eine Funktion, die Naudé dann auch tatsächlich von 1689 bis 1690 ausgeübt hat21. Daneben muss er sich als Privatlehrer der Mathematik betätigt haben22 und dann in das Kollegium des Joachimsthal’schen Gymnasiums als Lehrer der Mathematik übergewechselt sein. Im Jahre 1696 übernimmt er daneben in diesem Fach das Amt des Prinzen- und Pagenerziehers bei Hofe als Nachfolger des ihm schon zuvor freundschaftlich verbundenen Architekten und Malers Rutger von Langerfeld23 und unterrichtet überdies Geometrie an der neu gegründeten (1696)
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Literaturangaben bei B. Dölemeyer: Aspekte zur Rechtsgeschichte des deutschen Refuge (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins e.V. 20/2), Sickte 1988, S. 36–42; 300 Jahre Hugenotten in Hessen, Ausstellungskatalog, Kassel 1985; F. Wolf: „Selbstbehauptung und Integration der Hugenottengemeinden in Hessen“, in: F. Hartweg/St. Jersch-Wenzel (Hrsg.): Die Hugenotten und das Refuge: Deutschland und Europa. Beiträge zu einer Tagung, Berlin 1990, S. 205–217. Chur-Brandenburgisches Edict, Betreffend Diejenige Rechte / Privilegia und andere Wolthaten / welche Se. Churf. Durchl. zu Brandenburg denen Evangelisch-Reformirten Frantzösischer Nation so sich in Ihren Landen niederlassen werden daselbst zu verstatten gnädigst entschlossen seyn. Geben zu Potstam / den 29. Octobr. 1685 [8. November 1685]. Vgl. S. Externbrink: „Diplomatie und République des lettres. Ezechiel Spanheim (1629–1710)“, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 34, 2 (2007), S. 25–59 und S. Lorenz: „Ezechiel Spanheim und das höhere Bildungswesen in Brandenburg-Preußen um 1700. Mit einem dokumentarischen Anhang: Zwei bislang unpublizierte Dokumente zum Ankauf der Bibliothek Spanheims (1701) durch Friedrich I.“, in: G. Lottes (Hrsg.): Vom Kurfürstentum zum „Königreich der Landstriche“. Brandenburg-Preußen im Zeitalter von Absolutismus und Aufklärung, Berlin 2004, S. 85–136, bes. S. 101–113: Spanheim und die Gründung des Berliner Collège français. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, HA IV, Nl Spanheim, Nr. 1, fol. 70 recto–70 verso: Memoire concernant l’établissement du College François que son Altesse Electorale de Brandebourg a la bonté et la charité d’établir à Berlin en faveur des Refugiés qui y sont. Konzept mit Randbemerkungen Spanheims. Personalvorschläge: Le Preux als „Regent de la premiere classe des Collège (100 ecus par an)“, Philippe Naudé „tres habile en Philosophie en Mathematiques et autres langues […] Regent de la seconde Classe (100 ecus par an)“. Vgl. G. Schulze: „Bericht über das Königliche Französische Gymnasium in den Jahren 1689–1889“, in: Festschrift zur Feier des 200jährigen Bestehens des Königlichen Französischen Gymnasiums, hrsg. von dem Direktor und dem Lehrerkollegium, Berlin 1890, S. 7 und S. 128, Beilage III, Nr. 3. Bibliothèque Germanique 36 (1736), S. 176–181 [Rez. Ph. Naudé: Traité de la justification, Leiden 1736], hier S. 178. Bibliothèque Germanique (vgl. Anm. 22), S. 178; J. G. Chaufepié: „Naudé (Philippe)“ (vgl. Anm. 7), S. 23. – Rutger von Langerfeld (1635–1695) war seit 1678 Hofmaler in Berlin. Er
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„Akademie der bildenden Künste und mechanischen Wissenschaften“24. Er muss frühzeitig in Leibniz’ Pläne zur Gründung einer Sozietät der Wissenschaften in Berlin involviert gewesen sein, denn er gehört neben dem Kurfürstlichen Hofarzt Bernhard Albinus (1653–1721), dem Hofrat Johann Jacob Cuneau (1661–1715), dem Philosophen Etienne Chauvin (1640–1725)25 und dem reformierten Hofprediger Daniel Ernst Jablonski (1660–1741)26 zu einer Gruppe von in Berlin ansässigen Gelehrten27, die Leibnizens Pläne zur Gründung einer Akademie durch zwei umfängliche Denkschriften (März 1700) an den Kurfürsten Friedrich III. erfolgreich unterstützen28. Folgerichtig wird Naudé bereits am 11. Juli 1701 zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannt29.
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war der Architekt des Neubaus des Jagd- und Lustschlosses in Berlin-Köpenick und wohl auch der Dorotheenstädtischen Kirche in Berlin. Vgl. H. Reuther: Art. „Langerfeld, Rutger van“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 593. Für die Gründung und den ersten Studienbetrieb vgl. Th. Kirchner/R. Colella/K. Stemmer/Chr. M. Vogtherr: „Das Modell Akademie. Die Gründung der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften“, in: Akademie der Künste und Hochschule der Künste, Berlin (Hrsg.): „Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen“. Dreihundert Jahre. Eine Ausstellung der Akademie der Künste und Hochschule der Künste. 9. Juni bis 15. September 1996, Berlin 1996, S. 25–29. E. Chauvin (1641–1725) war Korrespondent von Leibniz und konnte diesen als Mitarbeiter für das von ihm herausgegebene Nouveau Journal des Sçavans in Berlin gewinnen. (Vgl. A. Schröcker: „Leibniz’ Mitarbeit an Etienne Chauvins Nouveau Journal des Sçavans“, in: Studia Leibnitiana 8, 1 [1976], S. 128–139). Vgl. J. Bahlcke/B. Dybaś/H. Rudolph (Hrsg.): Brückenschläge. Daniel Ernst Jablonski im Europa der Frühaufklärung, Dößel 2010. Vgl. D. Döring: „Berlin als ein Zentrum intellektuellen Lebens um 1700“, in: J. Bahlcke/ B. Dybaś/H. Rudolph: Brückenschläge (vgl. Anm. 26), S. 89–101. Vgl. A. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1/1, Berlin 1900, S. 73 f. Der Text – der in zwei Fassungen erhaltenen Denkschrift – bei Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 2: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900, S. 58–68 [Nr. 23 und 24]. – Der Text der beiden Denkschriften mit Erläuterungen auch bei H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften 1697–1716, Berlin 1993, S. 50–64. Vgl. den erhaltenen Entwurf zum Ernennungsdiplom bei H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (vgl. Anm. 28), S. 333 f.: „Wir Praeses und Concilium der von Sr Königl. Mt in Preußen p. Unserm allergnädigsten Herrn, gestiffteten Brandenburgischen Societet der Wißenschafften, urkunden hiemit, dass in krafft der Uns allergnädigst verliehenen Macht und Instruction Wir […] den WohlEdlen Vesten und Wohlgelahrten Herrn Philip Naudé, Sr Königl. Mt in Preußen p. bey dem Joachimsthalischen Gymnasio auch der KunstAcademie bestaltem Profeßorem Matheseos, wegen seiner Uns angerühmten ungemeinen Gaben, Verstandes und Gelehrsamkeit, vornehmlich aber absonderlicher Erkantnuß der Mathematic und zugehöriger Künste und Wißenschafften p. […] auch bezeigter verhoffentlich beständigen Begierde dieselben zu mehrer Volkommenheit zu bringen, zum Mitglied Unser Societet erwehlet und aufgenommen […]“. Zur Präsenz Naudés in der Akademie vgl. H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (vgl. Anm. 28), S. 216, Anm. 63, S. 222; S. 224, S. 342, S. 360, S. 361 (Naudé schlägt den Mathematiker Pierre d’Angicourt [1665–1727] erfolgreich zum anwesenden Mitglied vor – vgl. S. 340) und S. 397. – Naudé hat lediglich einen Beitrag mathematischen Inhalts zum dritten
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Der Berliner Adresskalender aus dem Jahre 1704 erwähnt Naudé in mehreren Positionen: Demnach unterrichtete er Geometrie an der „Academie der Künste und Mechanischen Wissenschaften“, Mathematik am „Reformirten Joachimsthalischen Gymnasium“, an der kurzlebigen (1705–1712) „Ritter- und Fürsten-Akademie zu Berlin“30 und war – wie schon erwähnt – einheimisches, ordentliches Mitglied der Societät der Wissenschaften31. Daneben scheint er auch Privatunterricht in Mathematik gegeben zu haben32. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Naudé später offenbar auch engen Umgang mit dem prominenten Berliner Propst Johann Gustav Reinbeck33 hatte, der, ursprünglich aus dem theologischen Lager des Pietismus kommend, zu einem der prominentesten Vertreter des theologischen Wolffianismus wurde34.
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Band der Miscellanea Berolinensia (1727) geliefert. (Vgl. A. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 3: Gesammtregister über die in den Schriften der Akademie von 1700–1899 erschienenen Abhandlungen und Festreden, bearb. von O. Köhnke, Berlin 1900, S. 195). Es handelt sich um den Aufsatz Collectio quarundam notarum Geometriae Practicae facilitatem afferentium, der früh entstanden sein muss, da Leibniz ihn noch bei seinen Vorbereitungen zum ersten Band der Miscellanea selbst intensiv redigiert hat. (Vgl. dazu H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie [vgl. Anm. 28], S. 279, Anm. 7). Dies geht aus dem Titel von Naudés gedruckter Inauguralrede hervor: Kurtze Vorstellung / Den grossen Nutzen Der Mathematischen Wissenschafften betreffend / Mit welchem Denen Durchlauchtigen / Hoch- und Wohlgebohrnen Herren Academicis, Seine bey der Von Sr. Königl. Majestät in Preussen etc. […] Angelegten Fürsten- und Ritter-Academie, Uber die Fundamenta der Geometrie Anfänglich zu haltende Lectiones anzeiget Philippe Naudé, Professor Matheseos, Cölln an der Spree: druckts Ulrich Liebpert / Königl. Preuß. Hof-Buchdr. [o. J.]. Ebenso aus dem Titel seines mathematischen Lehrbuches: Gründe Der Meßkunst / In einer neuen Ordnung vorgestellet / Und mit deutlichen und kurtzen Beweißthümern / Zum Gebrauch Der Königlichen Preußischen Fürsten- und Ritter-Academie abgefasset / Durch Ph. Naudé, Professor. Matheseos, […] Zu finden bey Johann Michael Rüdigern / Buchhändlern, Berlin: Gedruckt bey Johann Lorentz / Im Jahr 1706. – Das Werk trägt am Ende (S. 220) den Druckvermerk: „Zum Ersten mahl gedruckt den 29. Julii, 1706“. – Leibniz hat das Buch übrigens besessen und gelesen. Sein erhalten gebliebenes Exemplar (Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek Hannover. Sign.: Leibn. Marg 95) weist eine Marginalie Leibnizens zu geometrischen Körpern auf (S. 177). Vgl. http://digitale-sammlungen.gwlb.de/ppnresolver?PPN=835712966 (letzter Aufruf: 07.01.2016). Vgl. Adreß/Calender/Der Kön. Preuß. Haupt=/und Residenz=Städte/Berlin/Und daselbst befindlichen/Königl. Hofes/Auch anderer hohen und niederen Collegien, Instantien und expeditionen Auff das Jahr CHRISTI/MDCCIV./Mit Approbation Der Königlichen Societät der Wissenschaften. (Neudruck Berlin 1999), unpag., C2v; E3v; E5v. So nahm Daniel Ernst Jablonski bei ihm Privatunterricht in Mathematik. (Vgl. H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie [Anm. 28], S. 302, Anm. 21). Vgl. S. Lorenz: „Theologischer Wolffianismus. Das Beispiel Johann Gustav Reinbeck“, in: J. Stolzenberg/O.-P. Rudolph (Hrsg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des I. Internationalen Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004, Teil 5, Hildesheim/New York 2010, S. 103–121. Dies belegt der Bericht Philippe Naudés des Jüngeren (Lettre ecrite à Sa Excellence la Comtesse de Sch. sur les dernières heure de son père [vgl. Anm. 6]) über die Entstehung des AntiUnitarischen Manuskriptes Naudés [vgl. Anm. 60], der hier wegen des großen Interesses für
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Die (erhaltene) Korrespondenz zwischen Naudé und Leibniz35 beginnt 1700 und endet 170936: Wie hoch Leibniz’ Wertschätzung der Person Naudés gewesen ist, erhellt aus der Tatsache, dass er diesem schon in einem frühen Memorandum (Juli/August 1700) zur Organisation der Akademie das Amt eines Secretars zugedacht hat37, wozu es wegen der Schwerhörigkeit Naudés jedoch nicht kam38. So
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die Kirchengeschichte Berlins aus der mir von Herrn Joachim Naudé (Bad Soden) dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Transkription angeführt sein soll: „Naudaeus contra unitarios“, „c’est le titre que porte sur le dos un manuscrit allemand relié. V. Exc. a peut-être connu ici Crellius ministre socinien, ou lui ou quelqu’un de ses confrères avait publié une confession de foi presque toute composée d’expressions de l’Ecriture pour cacher le venin de leur doctrine. Dans ce temps là Mr Reinbeck, propst de l’Eglise de St. Pierre d’ici publiait une espèce de journal sous le titre de Freywillig. Heb:Opffer, et fit dans le 10e Freywillige comme il l’appelle quelques réflexions contre cette confession pour en faire sentir et les équivoques et le poison. Le Sr Crellius voulut soutenir la cause commune des Unitaires, et envoya à Mr Reinbeck des objections dont il demandait la solution. Mr le propst ne trouva pas à propos d’insérer ces objections dans son journal, et moins encore d’y répondre parce que peut-être il en eut été fort empêché en suivant son système. Quoiqu’il en soit Crellius triomphait et ne manqua d’étaler ses trophées chez feu Mr Schmidtmann; je soupçonne que ce fût ce dernier qui fut occasion de ce qui arriva le lendemain, c’est que Crellius envoya ces objections mises dans un paquet cacheté en forme de lettre à mon père par un inconnu qui ne voulut jamais dire ni qui l’envoyait ni d’où venait ce paquet. Feu mon père n’étant pas pour lors au logis, en reçut le paquet pour lui et l’ayant ouvert quand il fut de retour, il trouva ces objections manuscrites, il les lut et les réfuta, et Mr Schmidtmann défunt lui appliqua ensuite tout le mystère. Ce sont ses objections avec leur réfutation que l’on trouve dans ce volume“. Vgl. E. Bodemann: Der Briefwechsel des Gottfried Wilhelm Leibniz in der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, mit Ergänzungen und Register von G. Krönert und H. Lackmann, sowie einem Vorwort von K.-H. Weimann, Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Hannover 1889, Hildesheim 1966, S. 202–203 und S. 419 [Nr. 679]. Ein undatierter [1700] Brief Naudés an Leibniz befindet sich in der Forschungsbibliothek Gotha. Vgl. H.-J. Rockar: Leibniz und sein Kreis. Handschriften von Gottfried Wilhelm Leibniz und einigen seiner Zeitgenossen in der Forschungsbibliothek Gotha. Ein Verzeichnis, Gotha 1979 (= Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 18), S. 26 [Nr. 68, mit Beilage Nr. 70]. Dieser Brief ist jetzt als N. 187 in A III, 8 ediert. (vgl. u. Anm. 36). Im Rahmen der maßgeblichen Akademieausgabe liegen bislang vor: Naudé an Leibniz, [Berlin, Mitte September–Oktober 1700]; Leibniz an Naudé, Hannover, 15. Januar 1701; Naudé an Leibniz, [Berlin, Februar – Mitte März 1701]; Naudé an Leibniz, Berlin 18. April 1701; Naudé an Leibniz, Berlin, 15. Juni 1701; Leibniz an Naudé, [Hannover, Juli (?) 1701]; Naudé an Leibniz, [Berlin, Anfang August (?) 1701]. A III, 8 N. 187, 198, 210, 245, 269, 282, 288. Edition mit Erläuterungen bei H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (vgl. Anm. 28), S. 116–122; zu Naudé S. 118, Nr. 14: „H. Naudé zur correspondenz zu disponiren.“; vgl. A. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie (vgl. Anm. 28), Bd. 2, Aktenstück Nr. 53, S. 112–114, hier S. 113, Nr. 14. Vgl. den Abdruck des Protokolls der Akademiesitzung vom 27. 12. 1706 bei der Leibniz zugegen war bei H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (vgl. Anm. 28), S. 180–184, hier S. 182: „H. Naudé Entschuldiget seinen Mangel an Gehör, habe sich eingestellet allein seine Geflißenheit gegen die Societaet zu beweisen, wenn aber etwaß wäre, darinn er dienen könte, und ihm solches zu erkennen gegeben würde, wolle er es an ihm nicht ermangeln laßen“. (Vgl. auch A. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie (vgl. Anm. 28), Bd. 1/1, S. 105 und S. 120, Anm. 3).
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blieb Naudé ein einfaches Mitglied der Mathematischen Klasse der Akademie39, wobei er sich jedoch des dauernden Respekts des Präsidenten Leibniz erfreuen konnte. Die beträchtlichen philosophischen und theologischen Differenzen zwischen Naudé und Leibniz – von denen weiter unten die Rede sein wird – konnten ihr Verhältnis nicht trüben: Leibniz schreibt mit Bezug auf Naudé in einem Brief an den Mathematiker Jacob Hermann (1678–1733), dass sachliche Differenzen ein persönlich gutes Verhältnis nicht beeinträchtigen sollten („Mihi semper visum est diversum sentire duos incolumi amicitia posse“) und charakterisiert Naudé weiter: „Est in eo Viro laudabile studium et veritatis et pietatis“40. Und in der Tat: Neben Isaac Jaquelot, Alphonse Des Vignoles und Jean Barbeyrac hat auch Naudé ab Herbst 1704 bis zum Januar 1705 das Manuskript von Leibniz’ Auseinandersetzung mit Lockes Empirismus, die Nouveaux essais anvertraut bekommen, durchgesehen41 und sprachliche Verbesserungsvorschläge gemacht42. Am 7. März 1729 ist Naudé in Berlin gestorben43. * „Mathematicien de profession, mais Théologien de goût & d’inclination, puisque tous ses Ouvrages sont Théologiques“ – so kennzeichnete Jaques George de Chaufepié44 den Gelehrten und Schriftsteller Naudé zu Recht, denn obwohl Naudé kein Theologe vom Fach war, behandelt seine nicht unbeträchtliche literarische Produktion nicht mathematische, sondern fast ausschließlich45 theologische und religiöse Themen und dies zu dem einen Zweck der „Verteidigung der souveränen Gnade Gottes auf der Grundlage des Supralapsarismus gegen alle Angriffe universalistischer oder semipelagianischer Gegner“46. An dieser Stelle zum besseren Verständnis des Folgenden eine kurze Erläuterung des theologischen Begriffes ‚Supralapsarismus‘:
39 Vgl. A. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie (vgl. Anm. 28), Bd. 1/1, S. 175 und S. 243. 40 Leibniz an Jacob Hermann, Berlin 18. Januar 1707; GM IV, 307–309, hier 308. 41 Vgl. S. C. Othmer: Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzung und eine Analyse seiner Leserschaft, Berlin 1970, S. 98–99. 42 Vgl. A VI, 6, XXIV–XXVI. Die Korrekturvorschläge: Jaquelot: A VI, 6, 531–533; Des Vignoles: A VI, 6, 533–546; Barbeyrac: A VI, 6, 546–551; Naudé: A VI, 6, 551–553. 43 Es wäre zu wünschen, dass der umfangreiche Bericht des Sohnes, Ph. Naudé d. J. hierüber (vgl. Anm. 6) publiziert würde. 44 J. G. Chaufepié: „Naudé (Philippe)“ (vgl. Anm. 7), S. 22. 45 Bei der in der Literatur erwähnten, aber dort nicht ermittelten (H.-St. Brather: Leibniz und seine Akademie (vgl. Anm. 28), S. 403, Anm. 48; J. G. Chaufepié: „Naudé (Philippe)“ (vgl. Anm. 7), S. 22, Rem. A spricht von einer „Géométrie en Allemand imprimée à Berlin in-4, à l’usage de l’Académie des Princes“), in Naudés Selbstverlag erschienenen, deutschsprachigen Einleitung zur Geometrie handelt es sich um die oben (vgl. Anm. 30) angeführten Gründe Der Meßkunst. 46 F. W. Cuno: „Naudaeus, Philippus“ (vgl. Anm. 7), S. 660.
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Stefan Lorenz ‚Supralapsarismus‘, gelegentlich auch ‚Antelapsarismus‘ genannt, wurde als Begriff, wie ‚Infralapsarismus‘, während der Synode von Dordrecht 1618/19 geprägt und bezeichnet die gegen den Arminianismus gerichtete ‚Meinung‘, daß der Prädestinationsbeschluß von Gott ‚seit Ewigkeit vor jeder Erwägung bzw. jedem Vorherwissen des zu schaffenden oder schon geschaffenen oder gefallenen […] Menschen‘ gefaßt worden ist. […] Daher ist aufgrund des Urdekrets der erste Mensch als ‚labilis‘ geschaffen; der Fall tritt ein, ‚weil der Herr es so einzurichten beschlossen hatte‘ (Calvin, Inst. 1559, III, 23, 8); beide, Schöpfung und Fall, sind die Mittel – und nicht, wie im Infralapsarismus, nur Voraussetzung – dafür, daß Gott zum Erweis seiner Herrlichkeit in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit seit Ewigkeit die einen zur Seligkeit und die anderen zur Verdammnis bestimmt. – In dieser logisch strengen Fassung, welche die späteren Dekrete den vorangehenden unterordnet, kollidiert der Supralapsarismus freilich […] mit dem von ihm vernachlässigten Problem der Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit der Verdammung. Daher wird er, abgesehen von nicht wenigen Vertretern der Frühorthodoxie […] später nur mit Hinweis auf Gottes Allwissenheit und die Unerforschlichkeit seines Ratschlusses in gemilderter Form gelehrt47.
Asketischen Charakter tragen zwar Naudés Werke Méditations saintes sur la paix de l’âme (Berlin 1690)48 und seine Entretiens solitaires (Berlin 1717), im Übrigen betätigt sich Naudé jedoch durchweg als Kontroverstheologe. Die Reihe seiner den Prädestinationismus in seiner rigiden, supralapsaristischen Form verteidigenden Schriften wird eröffnet durch seine Morale Evangelique opposée à quelques Morales Philosophiques [...] (Berlin 1699), in der er gegen eine von der Offenbarung losgelöste, natürliche Moral polemisiert. In seinem Examen de deux traités (Amsterdam 1713)49 wendet er sich gegen die gemäßigten Calvinisten Jean de La Placette und vor allem gegen Johann Friedrich Osterwald (1663–1747), eine theologische Gestalt, die auf calvinistischem Boden (neben Samuel Werenfels und Jean-Alphonse Turrettini) so etwas wie den Übergang zur Aufklärung markiert50. Bereits im Jahre 1694 hatte er gegen Pierre Bayles epochemachenden Toleranztraktat Commentaire philosophique51 eine Refutation du
47 P. Wrzecionko: Art. „Supralapsarismus“, in: J. Ritter†/K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 664–665. Das vom Autor verwendete Zitat stammt von Simon Episcopius: Institutiones Theologicae (IV, V, V), Rotterdam 1665, S. 410 auf den sich auch Leibniz Naudé gegenüber beziehen wird. Vgl. u. unter Anm. 97. 48 Vgl. o. Anm. 14. 49 Examen de deux traittez nouvellement mis au jour par Mr. La Placette. Dont le premier a pour tître. Réponse à une objection qu’on applique à divers sujets &c. avec une addition où l’on examine le dogme de la prémotion physique. Et le second Eclaircissemens sur quelques difficultez, qui naissent de la consideration de la liberté necessaire pour agir moralement. Avec une addition où l’on prouve contre Spinoza, que nous sommes libres. Tome premier [ - second]. Par Ph. Naudé Professeur en Mathematique dans l’Academie Illustre, & membre de la Societé Royale de Berlin. A Amsterdam. Aux dépens d’Estienne Roger, Marchand Libraire 1713, 8 Bll., 557 S., 1 Bl.; 1 Bl., 552 S., 10 Bll. 50 Vgl. W. Hadorn: Art. „Osterwald, Joh. Friedrich“, in: Realencyclopädie (vgl. Anm. 7), Bd. 14, Leipzig 1904, S. 516–518; K. Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 61994, S. 126–128. 51 P. Bayle: Commentaire philosophique sur ces paroles de l’evangile selon S. Luc, chap. XIX, vers. 23 [...] Contrain-les d’entrer [zuerst Amsterdam 1686–1688], in: P. Bayle: Oeuvres diverses, Bd. 2, La Haye 1727 (ND avec une introduction par E. Labrousse, Hildesheim 1965),
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Commentaire philosophique verfasst, die jedoch erst 1718 in Berlin erscheinen konnte52. Gegen die Mystik eines Pierre Poiret richtet sich Naudés (deutschsprachige) Schrift Gründliche Untersuchung der mystischen Theologie (Zerbst 1713). Im Jahre 1714 veröffentlicht Naudé seine Theologische[n] und Christliche[n] Gedancken über den kurzen Entwurf der Lehre von der Beschaffenheit und Ordnung der göttlichen Rathschlüsse, mit denen er sich in den Brandenburg-Preußischen Streit über die Prädestinationsfrage einlässt53. Ins Jahr 1716 fällt eine abermalige Auseinandersetzung mit Osterwald unter dem Titel Anmerkungen über einige Stellen des osterwaldischen Traktates von den Quellen des Verderbens und seines Katechismi. Erst posthum wurde sein Traité de la justification gedruckt (Leiden 1736), der sich gegen den unionistisch gesinnten Theologen Louis Le Blanc de Beaulieu (Prof. in Sedan, gestorben bereits 1675) richtet. Wohl fälschlich wird ihm eine Histoire abregée de la naissance & du progrez du Kouakerisme54 zugeschrieben. Naudé hat bei seinem Tod eine Reihe von druckfertigen Manuskripten hinterlassen, die er dem Joachimsthal’schen Gymnasium vermacht hat und die sich glücklicherweise über die Wirren des Zweiten Weltkrieges hinweg erhalten haben und heute in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin aufbewahrt werden55. Es handelt sich um insgesamt fünf umfangreiche Handschriften, die, wie seine gedruckten Schriften auch, Naudés polemische Energie aufs Beeindruckendste belegen: Es findet sich eine erneute Auseinandersetzung mit dem schwärmerischen Mystizismus56, mit dem englischen Latitudinarismus57
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S. 367–560. Vgl. S. Neumeister: „Pierre Bayle. Ein Kampf für religiöse und politische Toleranz“, in: L. Kreimendahl (Hrsg.): Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1999, S. 221–237. Refutation du Commentaire Philosophique ou solution generale et renversement, de tous les sophismes que l’auteur y employe a dessein d’etablir en tous lieux, une tolerance sans bornes, pour l’exercice public de toutes les erreurs et les heresies dont l’esprit humain peut estre capable. Tome I. [- II.] Par Philippe Naudé, professeur en mathematiques et de la Societé Royale de Berlin. A Berlin, aux depends des amateurs de la verité avec approbation et permission. L’an 1718. Et se vend chez Etienne et Naudé, marchands libraires, 464 S., 2 Bll., 536 S., 4 Bll. Vgl. den instruktiven Artikel von E. F. K. Müller: Art. „Barckhausen und der Streit über die allgemeine Gnade“, in: Realencyclopädie (vgl. Anm. 7), Bd. 2, Leipzig 1897, S. 395–398. Histoire abregée de la naissance & du progrez du Kouakerisme, avec celle de ses dogmes. A Cologne, chez P. Marteau 1692, 11 Bll., 174 S., 3 Bll. Vgl. U. Winter: Die Handschriften des Joachimsthalschen Gymnasiums und der Carl Alexander-Bibliothek (= Handschrifteninventare der Deutschen Staatsbibliothek 1), Berlin 1970, S. 21–22, 32. 56. Ms. Gall. 8° 112: Le poison caché sous la théologie mystique, Berlin 1728 [Autogr.], VI, 607 S., 5 Bl. 57. Ms. Gall. 8° 113: Apologie de l’Evangile ou Reflexions importantes sur un ovrage nouveau qui a pour titre Le Moyen de plaire à Dieu sous l’Evangile par M. Benjamin Hoadley, Evêque de Bangor, Berlin 1727 [Autogr.], IX, 298 S., 2 Bll. – Schon Pierre Jurieu hatte die Auseinandersetzung mit dem englischen Latitudinarismus geführt: P. Jurieu: La Religion du Latitudinaire [...], Rotterdam 1696.
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in Person eines seiner bedeutendsten Vertreter, Benjamin Hoadly (1676–1761)58, eine Polemik gegen John Lockes „Reasonableness of Christianity“ (1695)59, eine Polemik gegen den Sozinianismus60 und eine Auseinandersetzung mit den Essais de Théodicée von Leibniz, auf die unten näher einzugehen sein wird. Die weit gespannten theologischen und philosophischen Interessen Naudés bis in seine letzten Lebensjahre hinein belegt auch die Liste der offenbar verloren gegangenen Handschriften von Werken, an denen Naudé noch gearbeitet hat oder die er auszuarbeiten vorhatte. Diese Liste hat uns Philippe Naudé d. J. in dem bereits oben genannten Brief überliefert61. Neben einer geplanten Abhandlung über die Tierseelen, einer Disputation gegen Johann Lorenz Mosheim62 und einer Auseinandersetzung mit dem Thomisten Laurent-François Boursier (1679–1749)63 sind bemerkenswert eine geplante Auseinandersetzung mit Spinoza und eine Abhandlung über das Prinzip des zureichenden Grundes, die belegt, dass Naudé auch noch die beginnenden Streitigkeiten um den Wolffianismus verfolgt hat und deren Titel wohl nicht ohne Grund an den der Leibniz’schen Essais de Théodicée erinnert. III. Als sein – nun auch für unseren Zusammenhang wichtiges – Hauptwerk darf man allerdings seine umfängliche Schrift La Souveraine perfection de Dieu (Amsterdam 58 Vgl. W. Gibson: Enlightenment Prelate: Benjamin Hoadly 1676–1761, Cambridge 2004; B. W. Young: Religion and Enlightenment in eighteenth-century. Theological debate from Locke to Burke, Oxford 1998, S. 31–33. 59 59. Ms. Gall. 8° 115: Examen d’un Traitté qui a pour titre: Que la Religion Chrestienne est tres Raisonnable, telle qu’elle nous est representée dans l’Ecriture Sainte.- Dans lequel on fait voir que ce livre trahit le Christianisme, en faisant semblant de la vouloir epurer et exalter, VII, 564 S., 7 Bl. 60 98. Ms. Germ. 8° 1131: Eines der nicht genandt seyn will, unitarische Anmerckungen über die Prüffung des sogenandten Socinianischen Glaubensbekäntniß im Zehnten Beytrag des sogen. Freywilligen Hebopfers Num. I. Wobey hernach gesetzt wird die Wiederlegung selbiger unitarischer Anmerkungen. Um 1725 [Autogr.], 272 S. 61 „Il y a bien encore quelques autres pièces moins importantes, mais que je ne crois pas qu’il eût destiné pour l’impression, parce qu’elles sont petites et qu’elles ne paraissent pas assez achevées. Je ne m’arrêterai pas de vous en donner un précis qui ne mènerait trop loin, les titres seuls pourront vous en donner une idée suffisante: 1. Renversement du Spinozisme. 2. Remarques sur la raison suffisante, sur l’immensité de Dieu, et la liberté de l’homme. 3. De l’âme des bêtes. 4. Disputation contre Mr Morheim. 5. Remarques sur quelques endroits d’un livre qui a pour titre: l’action de Dieu sur la créature et sur la promotion physique. etc.“ (Philippe Naudé d. J. [vgl. Anm. 6]). 62 Hier werden vermutlich die Schriften Mosheims zur Synode von Dordrecht Gegenstand gewesen sein: J. L. Mosheim: Historia Concilii Dordraceni. De Auctoritate Concilii Dordraceni Concordiae Sacrae Noxia Consultatio. De Autoritate Concilii Dordraceni Paci Sacrae Noxia Consultatio […], Hamburg 1724. 63 [J.-F. Boursier]: De l’action de Dieu sur les créatures: Traité dans lequel on prouve la prémotion physique par le raisonnement. Et où on éxamine plusieurs questions, qui ont rapport à la nature des esprits & à la grace, 2 Bde., Lille 1713.
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1708)64 ansehen: Hier vertritt er den Supralapsarismus in unnachgiebiger Härte, wobei er gleich an mehreren theologischen Fronten kämpft. Gerichtet ist die Schrift sowohl gegen die fideistische Disjunktion von Glaube und Vernunft, wie sie Pierre Bayle zumal in seinem Dictionnaire historique et critique propagiert hatte, als auch gegen mildere, rationalistische Tendenzen im theologischen Lager des Calvinismus. Hier ist sein Gegner vor allem Isaac Jaquelot (1647–1708)65, der für Naudé in seiner Auseinandersetzung mit Bayle nicht weit genug gegangen war und, der Auffassung Naudés zufolge, Bayle mit den falschen Argumenten angegriffen hatte66. Aber auch ein Remonstrant wie Jean Le Clerc (1657–1736), der glaubte, Bayles fideistischen Skeptizismus mit Verweis auf das System des Origenes rationalistisch widerlegen zu können67, wird zum Gegner Naudés: Philippe Naudé nannte [...] Bayle einen Goliath, der gegen das christliche Israel aufstand; aber weder Le Clerc noch Jaquelot schienen seiner Ansicht nach die Rolle eines David spielen zu können: indem sie die Offenbarung mit ihrer raison zu ergründen suchten, stiegen sie auf die Ebene Bayles hinab, der die Wege Gottes mit derselben raison als unergründlich nachweisen konnte. [...] Wenn nun Bayle die christliche Religion zugrunderichten wollte, so leisteten ihm die Rationalisten die beste Hilfestellung. Als einziger Ausweg blieb deshalb für Naudé nur die Rückkehr zur Offenbarung und damit zur alten reformierten Dogmatik der Erbsünde und Prädestination übrig68.
Eine Rezension der Acta Eruditorum aus dem Erscheinungsjahr nimmt eine äußerst genaue theologische Positionierung Naudés vor, weshalb ihre griffigen Formulierungen hier angeführt seien. Naudé, so der Rezensent, greife vor allem Bayle, aber auch Jaquelot und andere an unter Rückgriff auf „duriores hypotheses veterum Reformatorum“, die in zwei Grundthesen zusammenzufassen seien: I) Deum sensu independente perfectum esse, ut sibi soli debeat omnia, suique solum amore & in gloriam sui omnia faciat;
64 La souveraine perfection de Dieu dans ses divins attributs et la parfaite intergrité de l’Écriture, prise au sens des anciens reformez. Defendüe par la droite raison contre toutes les objections du manicheïsme repandües dans les livres de M. Bayle. Tome I. [- II.] Par P[hilippe]. N[Naudé]. D[e]. L[a]. S[ociété]. R[oyale]. D[e]. B[erlin]. E[t]. P[rofesseur]. E[n]. M[athématiques]. D[ans]. L[’]. A[cadémie]. I[llustre]. A Amsterdam, aux dépens d’Estienne Roger Marchand Libraire 1708, XLII S., 1 Bl., 341 S., 5 Bll.; 2 Bll., 516 S., 12 Bll. Das Buch wurde – anders als auf dem Titelblatt angegeben – bereits im Dezember 1707 ausgeliefert (vgl. Anm. 74). – Die hier gegebene Auflösung des Autorenkürzels erfolgt nach J. G. Chaufepié: „Naudé (Philippe)“ (vgl. Anm. 7), S. 22, Rem. A. 65 Zu ihm vgl. J. G. Chaufepié: „Naudé (Philippe)“ (vgl. Anm. 7), S. 10–12. Zu Jaquelots rationalistischen Ansichten – wiedergegeben mit den Worten des ultraorthodoxen Jurieu – vgl. vor allem Rem. B. 66 Isaac Jaquelot: Conformité de la foi avec la raison; ou défense de la religion, contre les principales Difficultez répandues dans le Dictionnaire historique et critique de Mr. Bayle, Amsterdam 1705; Examen de la théologie de M. Bayle, Amsterdam 1706; Réponse aux entretiens composez par. Mr. Bayle contre la conformité de la Foi avec la Raison et l’Examen de sa Theólogie, Amsterdam 1707. 67 Vgl. Th. Jäger: Pierre Bayles Philosophie in der „Réponse aux questions d’un provincial“, Marburg 2004, S. 141–163: Die Auseinandersetzung mit Le Clerc. 68 E. Haase: Einführung in die Literatur des Refuge (vgl. Anm. 1), S. 256.
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Indem Naudé sich so gegen gemäßigte Reformierte, Arminianer und Lutheraner gleichermaßen stelle, nehme er eine zu seiner Zeit völlig isolierte Stellung ein69. Es dürfte auf der Hand liegen, dass Leibniz bei aller persönlichen Wertschätzung, die er Naudé entgegenbrachte, sich in beiden der von den Acta Eruditorum genannten Punkten in deutlichem Abstand zu diesem befinden musste: Weder das im ersten Punkt angegebene Ziel des Schaffenshandeln Gottes („gloria sui“), noch die im zweiten Punkt gemachte Behauptung, wir Menschen wüssten gänzlich nichts über die dabei obwaltenden Motive Gottes, entsprechen den Auffassungen Leibnizens. Die völlige Inkongruenz zwischen göttlichen und menschlichen Maßstäben, die der Supralapsarier Naudé hier behauptet, sind den leitenden Vorstellungen Leibnizens diametral entgegengesetzt. * Gaston Grua hat darauf hingewiesen70, dass Leibniz zu dieser Zeit offensichtlich noch nicht bereit war, sich eigens und vor allem öffentlich mit den religionsphilosophischen Ansichten Bayles auseinanderzusetzen und sich auf die hierüber laufenden Diskussionen, an denen auch Naudé teilnimmt, einzulassen. Es darf vermutet werden, dass es ihm zunächst um Bayle als den kompetenten und prominenten Gesprächspartner bei der Diskussion seines Konzeptes der ‚Prästabilierten Harmonie‘ ging. An Henri Basnage de Beauval, der ihm zuvor von den Debatten zwischen Jaquelot und Bayle berichtet hatte, hatte er in einer ersten Fassung einer Antwort schreiben wollen: Mais entreprendre de satisfaire tout exprès aux difficultés de M. Bayle, comme il semble que vous me conseillés Monsieur, c’est ce que j’apprehenderois de ne point pouvoir faire sans faire tort à la religion. Car je ne ferois qu’exciter un si habile homme, à mettre ses difficultés dans un jour encore plus beau, s’il est possible, sans me pouvoir flatter de remedier un mal que j’aurois cause71.
Man muss sich dabei vor Augen halten, dass Bayle sich zu diesem Zeitpunkt noch unter den Lebenden befand: Erst am 28. Dezember 1706 ist er gestorben und erst mit seinen im Jahre 1710 veröffentlichten Essais de Théodicée ist Leibniz in die dann auch öffentlich wahrnehmbare Auseinandersetzung mit Bayles Fideismus und die damit verknüpfte Frage nach der Erklärbarkeit des Bösen angesichts der Güte Gottes eingetreten. Doch gibt Leibniz in dem eben zitierten Schreiben an Basnage de Beauval schon deutlich Hinweise darauf, wie er sich eine Auseinandersetzung mit Bayle 69 Acta Eruditorum (Januar 1719), S. 10–13, hier S. 11. 70 Grua, 500, Anm. 461. 71 Leibniz an Basnage de Beauval, Hannover, 19. Februar 1706. Elektronische Ressource: Vorausedition der Leibniz-Forschungsstelle, Münster: http://www.uni-muenster.de/Leibniz/DatenII4/Basnage.pdf (letzter Aufruf: 12.01.2016). GP III, 144.
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über die Frage der Erweisbarkeit der Wahrheiten der geoffenbarten und der natürlichen Religion methodologisch vorstellt und wie er sie dann in der Tat in den Essais de Théodicée führen wird: Dans les Mysteres je distingue trois points: 1. les expliquer pour en lever l’obscurité, 2. les prouver par des raisons naturelles. 3. les soutenir contre les objections. Nous ne pouvons point satisfaire tousjours au premier point, et encore moins au second. Au lieu que je croy que nous pouvons tousjours satisfaire au troisieme: et qu’il n’y a point d’objections insolubles, contre la verité. Autrement le contraire seroit demonstré72.
Oder wie es kürzer in der zweiten, wohl abgesandten Fassung desselben Briefes heißt: Il ne faut pas pretendre d’expliquer à fonds les mysteres, et encor moins d’en rendre raison. Mais ce n’est pas trop pretendre à mon avis que de croire qu’il y a moyen de bien repondre à toutes les objections73.
Genau dies wird seine Herangehensweise sein, wenn er in den Essais de Théodicée den Spezialfall der Möglichkeit der Vereinbarkeit des Übels in der Welt mit der Vollkommenheit Gottes dartun möchte, um Bayle so die Spitze seiner fideistischen Argumentation zu nehmen: Er wird die Frage nach der Beweislast stellen – es wäre an dem Skeptiker Bayle, genau zu zeigen, warum das Böse nicht mit dem Begriff eines höchsten Wesens in Übereinstimmung zu bringen ist, der Verteidiger der göttlichen Güte hat lediglich Einwände zu entkräften und zu zeigen, dass diese Übereinstimmung nicht unmöglich ist und dies wird er mit Verweis auf die göttliche Wahl des Besten tun. Nun wird Leibniz allerdings doch schon jetzt dadurch in diesen Problemzusammenhang gezogen, dass Philippe Naudé ihm mit Schreiben vom 22. Dezember 1707 seine soeben erschienene Auseinandersetzung mit Bayle, eben die Schrift La Souveraine perfection de Dieu zusendet74. Dieses Exemplar hat sich bis heute in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover erhalten und weist einige Benutzungsspuren von der Hand Leibnizens in Form von An- und Unterstreichungen und Marginalien auf75.
72 Leibniz an Basnage de Beauval, Hannover, 19. Februar 1706 (vgl. ebd.). 73 Leibniz an Basnage de Beauval, Hannover, 19. Februar 1706 (vgl. Anm. 71); GP III, 143. 74 „L’ouvrage dont j’ay eu l’honneur de vous parler, par lequel j’ay taché de refuter solidement les objections affreuses du Manicheisme produites par M. Bayle, estant enfin arrivé, je n’ay pas voulu manquer d’avoir l’honneur de vous en faire tenir incessament un exemplaire […].“ Naudé an Leibniz, Berlin, 22. Dezember 1707. LBr 679, Bl. 13. (Unsere Passage gedruckt: Grua, 501). 75 Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek. Hannover. Sign.: Leibn. Marg. 59. Elektronische Ressource: http://digitale-sammlungen.gwlb.de/index.php?id= 6&no_cache=1&tx_dlf[id]=1405&tx_dlf[page]=1&tx_dlf[pointer]=0 (letzter Aufruf: 20.01.2016).
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** Wie nicht anders zu erwarten, rief die den Supralapsarismus in seiner rigidesten Form vertretende Schrift zahlreiche Einsprüche aller theologischen Seiten hervor, die Naudé selbst in einer eigenen Dokumentation sammelte, vorstellte und im Einzelnen in einer Publikation beantwortete: Recueil des objections qui ont été faites [...] contre le traitté de la Souveraine Perfection de Dieu. Avec les reponses (Amsterdam 1709)76. Auch hier hat sich das Exemplar aus dem Besitz Leibnizens, ebenfalls mit Benutzungsspuren, erhalten77. Auf den Seiten 75 bis 99 des Recueil finden sich Einwände eines „berühmten und hervorragenden Lutheraners, der zudem unter die Elite der Gelehrten zu zählen sei“ und auf die Naudé umfänglich antwortet: Reponse a quelques objections qui m’ont été faites par un celebre Protestant Lutherien illustre & du premier ordre entre les Sçavans. Diese Einwände dürfen unser besonderes Interesse deswegen beanspruchen, weil sie ein philosophisches Unterfutter aufweisen, das sie weit über den fachtheologischen Diskurs, dem die Einlassungen der übrigen Gegner Naudés angehören, hinaushebt. Es sind insgesamt zehn Einwände, die der ungenannte Lutheraner gegen Naudés Theologie der souveraine perfection de Dieu vorbringt und die hier in Kürze vorgestellt werden sollen und die man vorab als die Antwort eines Autoren kennzeichnen kann, der – zwar auf dem Boden eines gemäßigten Luthertums stehend – von einer durchdachten, rationalen Religionsphilosophie her argumentiert. Der erste Einwand (S. 75) kritisiert die übergroße Betonung der Macht innerhalb der Attribute Gottes bei den Supralapsariern. Der Lutheraner befürchtet „qu’on […] fonde […] le droit de Dieu sur la seule puissance“ und dass damit Gottes Gerechtigkeit und legitimes Handeln lediglich auf seine Machtfülle zurückgeführt werde. Implizit wird hier eine Gleichrangigkeit der göttlichen Attribute untereinander postuliert. Der zweite Einwand (S. 75 f.) betrifft ein Bild, das Naudé für das Verhältnis zwischen Schöpfer und menschlichen Geschöpfen gebraucht hatte: Es sei nicht legitim, 76 Naudé schreibt darüber an Leibniz (Berlin, 5. Mai 1708): „[…] j’ay pourtant repondu à cause de plusieurs eclaircissements qu’il m’a donné occasion de produire encore sur la matiere. Je l’ay envoyé en Hollande avec le Recueil de toutes les objections generalement que l’on m’a faites jusques à present et mes reponses. Je n’ay rien negligé asseurement de tout ce que j’ay pû apprendre qu’on m’a oppose, et j’espere que toutes les personnes qui cherchent purement la verité pour luy faire honneur sans autre dessein, en seront immanquablement satisfaits. Dieu sçait au reste la droiture de mes intentions, et je le prie avec ardeur de toucher tous les coeurs afin qu’ils cedent à la verité ou, si je ne l’ay pas, qu’ils fassent mieux que moy, sans employer ni colere ni vengeance ni passion, puis que Dieu m’est temoin que je n’ay jamais eu dessein d’offencer qui que ce soit“. (LBr 679, Bl. 18v). 77 Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek. Hannover. Sign.: Leibn. Marg. 58. Digitale Ressource: http://digitale-sammlungen.gwlb.de/index.php?id =6&no_cache=1&tx_dlf[id]=1400&tx_dlf[page]=1&tx_dlf[pointer]=0 (letzter Aufruf: 20.1.2016).
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so der Lutheraner, die Menschen hier mit Ameisen zu vergleichen und überdies kümmere sich Gott um die gesamte Schöpfung, selbst um das geringste Wesen: „[…] Dieu suffit à tout & rien n’est negligé par lui“. Hier bringt der ungenannte Lutheraner auch zum Ausdruck, dass sein Konzept der Schöpfung weder ein nur anthropozentrisches ist, noch ein solches, in dem Gott die menschlichen Geschöpfe für nichts achtet. Der dritte Einwand („Dieu suffit à tout, & rien n’est negligé par lui“. [S. 77]) betont noch einmal die Sorge des höchsten Wesens für ausnahmslos alle Elemente seiner Schöpfung. Implizit ist dies auch eine Kritik an der Naudé’schen Reduktion des göttlichen Handelns auf das Motiv der göttlichen Selbst-Glorifizierung. Im vierten Einwand (S. 79) wird anhand des Beispiels unseres Verhältnisses zu den Tieren (die der ungenannte Lutheraner pfleglich zu behandeln empfiehlt) die Frage gestellt, ob geschöpfliches Leid zur Verherrlichung Gottes instrumentalisiert werden darf: Si les bêtes avoient de la raison, nos manieres d’agir enverds elles seroient injustes, & nôtre puissance ne suffiroit pas en bonne justice pour faire justice pour faire server leur misere à nos plaisirs & à nos commoditez.
Nicht zuletzt mit Verweis auf die Zulassung des unendlichen Leids aller, auch der vernunftbegabten Kreatur, hatte Bayle ja argumentiert, dass der manichäische Dualismus hier eine ‚bessere‘ Erklärungshypothese sei als der Monotheismus. Der ungenannte Lutheraner möchte hier betonen, dass das Leid mit dem bloßen Verweis auf eine göttliche perfection noch nicht gerechtfertigt sei. Der fünfte Einwand (S. 86) kommt noch einmal auf die Frage des Verhältnisses der göttlichen Attribute untereinander zurück und mahnt an, dass das Attribut der Güte stärkste Beachtung neben dem der Allwissenheit und Allmacht finden müsse: „La bonté de Dieu ne doit pas moins entrer en ligne de compte ques es autres perfections“. Im sechsten Einwand (S. 87) bezweifelt der ungenannte Lutheraner, dass es mit der Heiligen Schrift und dem Geist des Christentums vereinbar sei zu behaupten, ungetaufte Kinder und tugendhafte Menschen, die ohne eigenes Verschulden noch nie etwas von Christus gehört haben, dieserhalb der ewigen Verdammnis anheimfielen. Gott könne so nicht gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit verstoßen – dies gegen jede Vernunft zu glauben, füge dem Christentum Schaden zu. Je suis très persuadé que c’est blesser sa justice de croire (par exemple) que les enfans morts sans baptême, & des hommes de bonne volonté qui n’ont jamais entendu parler de J. Christ, sont damnez éternellement pour cela. Aussi ces sortes de dogmes deraisonnables, n’ont-ils aucun fondement dans l’Ecriture Sainte, & rien n’est plus propre à décrier le Christianisme que de les soutenir.
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Im siebten Einwand (S. 93) gibt der Lutheraner seinem Bekenntnis zum theologischen ‚Universalismus‘ Ausdruck: Gott habe die voluntas antecedens alle Menschen zu retten, eine Beschränkung seines Willens auf die Rettung einiger weniger (‚Partikularismus‘) auf dieser Ebene sei nicht zuzugeben. Würde am Ende dann doch nur eine gewisse Zahl von Menschen aufgrund ihres tatsächlichen Verhaltens der Erlösung und der ewigen Seligkeit teilhaftig, so sei das Folge der voluntas consequens Gottes. Aber die augustinische Vorstellung einer generellen Verdammung aller Menschen qua Erbsünde (massa peccati)78 und die (für uns Menschen rational nicht nachvollziehbare) Rettung nur einiger weniger, dies ist dem ungenannten Lutheraner fremd. A mon avis tout sage a une inclination à tout bien qui est un objet de sa connoissance & et de son pouvoir, en sorte qu’il le produiroit si d’autres considerations plus puissantes ne l’en empêchoient on suit [sic!]. C’est ce qu’on appellee volonté antecedente, mais le resultat de toutes les inclinations jointes ensemble, fait la volonté consequente ou le decret, qui est toujour effectif en Dieu. Ainsi on peut dire, que Dieu a veritablement une volonté antecedente de sauver tous les hommes.
Über das Bekenntnis zum gnadentheologischen ‚Universalismus‘ im Speziellen hinaus gibt die soeben zitierte Passage klar zu erkennen, wie im Allgemeinen der ungenannte Lutheraner unter dem Primat des Guten die göttlichen Attribute in ein hierarchisches Verhältnis bringt: Der Weise (und das meint: jeder Weise) will stets das Gute, sofern es Gegenstand seines Wissens ist, um es dann Ziel seines Handelns werden zu lassen, wofern dem nicht gewichtigere Gründe entgegenstehen. Implizit bedeutet dies im Umkehrschluss, dass der unendlich Weise Übel oder Zweckwidrigkeit nur dann zulässt, wenn sie innerhalb eines strukturell angelegten Gesamtdekretes unumgänglich sind oder der Beförderung eines höheren Gutes dienen. Mit den Einwänden acht bis zehn begibt sich der ungenannte Lutheraner mit seiner Argumentation auf eine grundsätzlichere Ebene, die auch schon im vorhergehenden Einwand sieben berührt war: Er trifft nun Aussagen über die Prinzipien des göttlichen Handelns im Allgemeinen Einwand acht (S. 95) setzt dem voluntaristischen Gottesbild des Supralapsarismus eine rationalistische Gottesvorstellung entgegen. Das ‚Decretum‘ Gottes zur Gnadenwahl im Speziellen und sein Handeln insgesamt sind nicht „absolu absolûment“, also ohne jeden Grund („c’est-à-dire sans raison“) zu denken – „quasi staret pro ratione voluntas“ – Gott muss als nach Gründen handelnd und diese sich bindend vorgestellt werden. Dies ist die angemessene Vorstellung, die wir uns vom höchst weisen Wesen machen müssen, auch wenn wir dessen Gründe, die aber gewisslich gut und heilsam sind, im Einzelnen nicht kennen oder nachvollziehen können. 78 „Sunt igitur omnes homines […] una quaedam massa peccati supplicium debens divinae summaeque iustitiae […]“. – „[…] so sind […] alle Menschen wie ein einziger Sündenklumpen, der von der höchsten Gerechtigkeit die Todesstrafe verdient hat“. (Augustinus: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, deutsche Erstübersetzung von W. Schäfer, hrsg. und erklärt von K. Flasch, Mainz 1990, S. 200–202).
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Je ne condamne point ceux qui croyent un decret absolu d’élection de Dieu, pourvû qu’ils conviennent, que ce decret qui est absolu, entant qu’il est anterieur selon eux, à la condition de la prevision des bonnes actions ou dispositions, n’est pas absolu absolûment, c’est-à-dire, sans raison, quasi staret pro ratione voluntas, mais qu’il est fondé en raisons saintes & justes quoi qu’à nous inconnuës. C’est ainsi que j’explique Calvin qui est assez raisonnable.
Hatte der Lutheraner mit dem vorausgegangenen Einwand die generelle Regelhaftigkeit und vernunftgemäße Handlungsweise Gottes herausgestellt – wobei Gott diese Vernunft in unendlichem, uns Menschen dagegen nur in äußerst geringem Maße zukommt –, so kommt er mit dem neunten Einwand (S. 96) konsequent auf den Gesamtplan („raison dernière“) Gottes zu sprechen: Alles habe seine Gründe und Ursachen („ses raisons & causes“), auch wenn es uns mit der Vernunft nur geringer begabten Menschen nicht möglich sei, das „Wie“ dieser Gründe im Einzelnen einzusehen und wir so gezwungen seien, lediglich ihre „Dass“ anzuerkennen, indem wir uns auf die Unerforschlichkeit seiner Weisheit beriefen: „[…] on est obligé de recourir enfin à la profondeur de sa sagesse, c’est-à-dire, à des raisons bonnes, saintes & justes, mais à nous inconnuës“. Mit der Formulierung „profondeur de sa sagesse“ erinnert unser Lutheraner an die prominente Schriftstelle Röm. 11, 33: „O welch eine Tiefe des Reichthums / beide der weisheit vnd erkentnis Gottes / Wie gar vnbegreiflich sind seine gerichte / vnd unerforschlich seine wege. (Übers. Luther)79, mit der er seine religionsphilosophische Überlegungen biblisch zu untermauern sucht. Der abschließende zehnte Einwand (S. 97) entfaltet in prägnanter Kürze einen – so könnte man in moderner Terminologie sagen – modaltheoretischen Essentialismus, bei dem abermals die Priorität der Weisheit und Erkenntnis Gottes vor dessen Macht und Willen unterstrichen wird: Dies ist eine grundsätzliche Gegenposition nicht allein zum supralapsaristischen Voluntarismus in der Theologie, sondern auch zu allen philosophischen Positionen, die in den Gesetzlichkeiten des Wirklichen lediglich arbiträre Setzungen Gottes und nicht wesentliche Bestimmungen des Seins als solchem sehen wollen. Je ne voudrois pas dire aussi avec M. Poiret & quelques Cartesiens que les idées des choses viennent de la volonté de Dieu. Elles viennent de son entendement entant qu’elles ne renferment que la possibilité: mais sans la volonté de Dieu les choses ne sauroient parvenir à l’existence.
Die „idées des choses“ – in der Terminologie der Scholastik: die Essenzen – haben demnach ihren Grund im Verstand Gottes und stehen zunächst im Modus der Möglichkeit bis sie dann durch den Willen Gottes in den Modus der Wirklichkeit gebracht, also geschaffen werden. Der ungenannte Lutheraner nennt explizit Pierre
79 Ὤ βάθος πλούτου καὶ σοφίας καὶ γνώσεως θεοῦ· ώς ἀνεξερεύνητα τὰ κρίματα αὐτοῦ καὶ ἀνεξιχνίαστοι αἱ ὁδοὶ αὐτοῦ. (NT). O altitudo divitiarum sapientiae, et scientiae Dei: quàm incomprehensibilia sunt iudicia eius, et investigabiles viae eius! (Vulgata).
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Poiret (1646–1719)80 und gewisse Cartesianer als seine philosophischen Gegner in diesem Punkt. Pierre Poiret hatte in seinen Cogitationes rationales de Deo, Anima, et Malo (zuerst Amsterdam 1677) im Anschluss an Descartes die scholastische Transzendentalienlehre bekämpft und behauptet: „Omnes rerum ideae, naturae, veritates, non sunt tales ex natura sua sive ex se ipsis, sed ex Dei placito, quod antecedenter liberrimum & ad illas indifferens considerari debet, statutae“81. Und er erläutert diese Auffassung: […] de veritatibus quae ideas, essentias, proprietates omnium eorum quae ipse Deus non sunt […] tales concipit & cogitat Deus, non quod eae ex sese tales sint immutabilesque, sed quod ipsi placuerit eas tales statuere: adeo ut veritates illae sint dependentes a Dei placito, & verae, quia Deo eas placuit sic stauere. Atque placitum istud, (sive voluntas) quo haecce statuit Deus, concipiendum est ut indifferentissimum […] nullae, praeter illas quae ad ipsam Dei essentiam pertinent, veritates fuissent […]82.
In diesem Voluntarismus war ihm Descartes vorangegangen als er schrieb: Mais je ne laisserai pas toucher en ma physique plusieurs questions métaphysiques et particulièrement celle-ci: Que les vérités mathématiques, lesquelles vous nommez éternelles, ont été établies de Dieu et en dépendent entièrement, aussi bien que tout le reste des créatures83.
Von solchen voluntaristischen Gottes- und Wahrheitstheorien weiß sich der ungenannte Lutheraner geschieden: In seinen zehn Einwänden bzw. Thesen bezieht er deutlich theologisch und philosophisch Stellung für einen konsequenten Rationalismus und Essentialismus. Die Orientierung Gottes an rationalen Gründen, geleitet vom Willen zum Guten und Besten, das Vorhandensein eines Gesamtplanes und die Begriffe von Gerechtigkeit und Wahrheit, die ihre Geltung in sich selbst tragen, sofern sie selbst im Verstande Gottes sind und schließlich die Möglichkeit für den Menschen dies einzusehen, wenn auch nicht im Einzelnen nachzuvollziehen – all diese Elemente lassen einen Denker erkennen, dessen Einwände gegen Naudé in einem durchdachten metaphysischen Konzept gründen.
80 Zu Poiret vgl. M. Chevallier: Art. „Pierre Poiret“, in: J.-P. Schobinger (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 2/2: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts: Frankreich und Niederlande, Basel 1993, S. 848–859. 81 P. Poiret: Cogitationum rationalium de Deo, Anima et Malo libri quatuor [Amsterdam 11677; Amsterdam 21685; Amsterdam 31715]. Présentation par Marjolaine Chevallier. Avec une introduction par Majorlaine Chevallier (= P. Bayle: Oeuvres diverses, volumes supplémentaires, Bd. 3), Hildesheim/Zürich/New York 1990. [ND d. A. 1715], lib. III, cap. X, §§ 3–5, S. 390–395, hier S. 390. 82 Ebd., S. 394 f. (Hervorhebungen des Verfassers). 83 R. Descartes: Brief an M. Mersenne, 15. April 1630, in: Ders.: Correspondance, publiée avec une introduction et des notes par Ch. Adam et G. Milhaud, Bd. 1, Paris 1936 (ND Nendeln/Liechtenstein 1970), [N°28], S. 129–137, hier S. 135. Für die Diskussion innerhalb des Cartesianismus vgl. G. Rodis-Lewis: „Polémiques sur la creation des possibles et sur l’impossible dans l’ecole cartésienne“, in: Studia cartesiana 2 (1981), S. 105–123.
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*** Um nun die Katze aus dem Sack zu lassen – was Naudé in seinem Recueil nicht tut, und auch die Zeitgenossen sind sich über die Identität des ungenannten Lutheraners wohl nicht im Klaren84 –: Verfasser der zehn objections qui […] ont été faites par un celebre Protestant Lutherien illustre & du premier ordre entre les Sçavans ist (was der kundige Leser ohnehin längst vermutet haben dürfte) Leibniz selbst. Die Formulierungen der objections sind wortwörtlich seinem Brief an Philippe Naudé85 entnommen, mit dem er sich bei diesem für die Übersendung von dessen Souveraine perfection de Dieu bedankt. Leibniz hat diesen objections ganz offensichtlich einige Bedeutung beigemessen: Das Titelblatt seines in Hannover erhalten gebliebenen Handexemplars des Recueil86 hat er eigens mit dem Vermerk versehen: „il y a p. 67 sqq. des extraits de ma lettre au […]“87. Und auf S. 95 hat er dort sorgfältig einen Lesefehler Naudés und des Druckes nach seinem Briefkonzept (LBr 679, Bl. 15 recto, Zeile 13) verbessert: Im Einwand acht muss es demnach am Ende nicht (wie im Druck) heißen: „C’est ainsi que j’explique Calvin qui est assez raisonnable [Hervorhebung d. V.]“, sondern richtig (wie im Briefkonzept und wohl auch in der Briefabfertigung): „C’est ainsi que s’explique Calvin qui est assez raisonnable [Hervorhebung d. V.]“. Überhaupt muss es ihm um eine angemessene Antwort auf Naudés La souveraine perfection de Dieu zumindest im brieflichen Austausch gegangen sein, denn in seinem Brief an den königlichen Bibliothekar in Berlin, Mathurin Veyssière La Croze (Hannover, 2. Januar 1708) äußert er seine Verwunderung über Naudés theologische Orientierung, von der er zuvor nichts gewusst habe: „Mons. Naudé m’a envoyé son livre [sc. die Souveraine perfection de Dieu; S. L.], où je m’étonne qu’il se declare pour les supralapsaires“88. 84 Vgl. etwa die Besprechung des Recueil in den Acta Eruditorum (Juli 1709), S. 307–309. Dort heißt es: „[…] Lutherano cuidam, quem vocat, Theologo respondet, cui difformem omnino nostris Ecclesiis sententiam adscribit, quod videlicet de salute eorum, qui Christum nunquam noverint, si bonae mentis morisque fuerint, desperare nolit. Naudæus vero tales existere negat, cum omnis vera morum mentisque probitas in Christo sit atque ex Christo. Cum eodem de voluntate antecedente fusius agit, sed ita ut novam plane huic phrasi significationem uterque adscribat“. (Ebd., S. 309). 85 Hannover, 29. Dezember 1707. Das Konzept: LBr 679, Bl. 14–15. Eine Abweichung zum Druck der Briefpassagen im Recueil findet sich Bl. 14 verso, wo es heißt: „[…] enfans morts sans bapteme, et des hommes vivans moralement bien, qui n’ont jamais entendu parler de Jesus Christ […]“, während der Druck (S. 87) zeigt: „[…] enfans morts sans baptême, & des hommes de bonne volonté qui n’ont jamais entendu parler de J. Christ […]“. (Hervorhebungen des Verfassers) Letztere Formulierung kann Leibniz in der (nicht gefundenen) Abfertigung gebraucht haben. 86 Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek. Hannover. Sign.: Leibn. Marg. 58. 87 Der Rest des Vermerks ist durch eine nachträgliche Überklebung des Titelblattrandes unleserlich. Übrigens ist Leibniz bei der Seitenangabe ein Versehen unterlaufen: Die Auszüge aus seinem Brief beginnen erst auf S. 75. 88 Dutens I, 369–398, hier 398. Danach: Dutens V, 489–490, hier 490.
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Naudé hat in seinem Recueil zwei wichtige Passagen des Leibniz’schen Monita-Briefes nicht mit abgedruckt. Sie enthalten – zumindest im Briefkonzept – zum einen ein Bekenntnis zum gnadentheologischen Universalismus und bezweifeln, dass allein der Supralapsarismus geeignet sei, Bayles Skeptizismus in Bezug auf die Frage des Ursprunges des Bösen zu widerlegen – und genau das wird er mit seinen Essais de Théodicée unter Beweis zu stellen versuchen: Or quoyque je croye, que le Particularisme et même Superlapsarisme peuvent recevoir un sens raisonable; j’aime pourtant mieux de recourir aux Universalistes, et je trouve que leur expressions satisfont mieux à la Sainte Ecriture aussi bien qu’à la raison. Ainsi je m’étonne, Monsieur que vous | croyés gestrichen | soutenés, que les seuls Supralapsaires peuvent bien repondre | à M. Bayle ergänzt | et que vous traités même | les Universalistes gestrichen | d’heretiques ceux qui s’eloignent du Synode de Dordrecht89.
In der zweiten Passage hebt Leibniz nicht allein den unionspolititischen Nutzen seiner Auffassungen hervor, sondern er setzt seinen theologischen Anti-Voluntarismus ausdrücklich parallel zu seiner generellen Auffassung von Gerechtigkeit, wie er sie auch andernorts und oft anführt – Gerechtigkeit als Wohlwollen des Weisen90: Je vous demande pardon, Monsieur, que je vous dis librement mes sentimens, puisque je say que vous aves la bonté d’y faire quelques reflexions. Comme j’ay fort medité autresfois sur ces matieres j’ay eu egard aux sentimens les plus solides à mon avis et aux expressions les plus edifiantes, & je trouve aussi que ce sont celles, qui sont les plus propres à retablir la paix dans l’Eglise. Vous vous souviendres peutestre d’un discours Latin que je vous communiquay autre fois sur le principe de [!] droit d’un certain savant professeur, où je remarquay le meme defaut de ces supralapsaires outrés qui derivent la justice de la seul puissance, & d’une volonté arbitraire au lieu que la justice dans le fonds n’est autre chose que la bonté du sage91.
Doch die Zeitgenossen konnten mit dem anonymen Abdruck von ganz wesentlichen Passagen des Leibniz’schen Briefs an Naudé vom 29. Dezember 1707 im Naudé’schen Recueil von 1708 durchaus in nuce die zentralen Positionen Leibnizens in der Theologie, der natürlichen Theologie und der Metaphysik, wie er sie dann in den Essais de Théodicée ausführlich darlegen wird, inhaltlich zur Kenntnis nehmen, ohne diese jedoch ihrem wirklichen Autor zuordnen zu können: Wir haben es hier mit einem ‚Leibniz in Latenz‘ zu tun. Natürlich gebührt Gaston Grua das Verdienst, den (fast) vollständigen Text des Briefkonzeptes aus der Handschrift bekannt gemacht zu haben92, nachdem Jean Baruzi bereits 1909 ein kurze Passage 89 LBr 679, Bl. 14v. 90 Vgl. P. Riley: Leibniz’ Universal Jurisprudence: Justice as the Charity of the Wise, Cambridge, MA, 1996. 91 LBr 679, Bl. 15r–15v. Bei dem hier erwähnten „discours Latin […] sur le principe de droit“, den Leibniz Naudé überreicht hatte, handelt es sich wohl um das Stück Observationes de principio juris, das Leibniz im Juliheft des Jahrgangs 1700 (S. 371–382) der von ihm mitbetreuten Zeitschrift Monathlicher Auszug veröffentlicht hatte und das gegen den rechtstheoretischen Voluntarismus von Heinrich und Samuel von Cocceji gerichtet war. Jetzt in: A IV, 8 N. 12 (85–94). Zum rechtstheoretischen Anti-Voluntarismus, seiner Parallelität zur Theologie und zu Leibniz’ Definition der Gerechtigkeit vgl. dort bes. 92, Abschnitt 13 und 89, Abschnitt 9 sowie die Einleitung, XXII–XXIV. 92 Grua, 501–503.
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daraus abgedruckt hatte93, doch wird man das Rezeptionsmoment des anonymen Leibniz-Briefes im Recueil zu Anfang des 18. Jahrhunderts vielleicht nicht überschätzen, aber auch nicht gering achten dürfen. Am Rande sei hier nur angemerkt, dass die Leibniz’schen objections an mindestens zwei Stellen Stichworte liefern, die den heutigen Kenner der Leibniz’schen Schriften hellhörig machen müssen. So etwa die auf Juvenal94 zurückgehende Formel quasi staret pro ratione voluntas, mit der Leibniz im achten Einwand sowie an vielen anderen Stellen seiner Schriften den von ihm abgelehnten Voluntarismus kennzeichnet. Und auch die Berufung auf Röm. 11, 33 („O altitudo divitiarum sapientiae“ – „profondeur de sa sagesse“) in Einwand neun für den Gedanken der allgemein feststehenden, wenngleich für uns im Einzelnen nicht einsehbaren, gerechten und von Güte geleiteten Handlungsweise Gottes begegnet an vielen Stellen seiner Schriften95 und ist in seiner Interpretation gleichsam die biblische Probe aufs religionsphilosophische Exempel. 93 J. Baruzi: Leibniz. Avec de nombreux textes inédits, Paris 1909, S. 265. Das Datum dort fälschlich mit „29 octobre 1707“ angegeben. Baruzi bringt lediglich die oben zitierte Passage zur Frage der Verdammung ungetaufter Kinder und tugendhafter Menschen ohne Kenntnis der christlichen Offenbarung. 94 Juvenal: Saturae 6, 223: „Hoc volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas“. 95 Vgl. etwa Leibniz an Johann Jacob Julius Chuno, Hannover, 20. (30.) November 1695: „J’ai trouvé avec S. Augustin, Thomas d’Aquin et Luther de Servo arbitrio, que Dieu est la derniere raison des choses, et que ceux qui parlent des bonnes qualités prevues, soit foi ou oeuvres de la charité, comme causes des decrets favorable de Dieu, disent la verité. Mais qu’ils ne dissent pas assez, parce qu ces mêmes bonnes qualités etant encore de dons de Dieu, dependent d’autres décrets, dont le dernier motif ne peut être enfin que le bon Plaisir de Dieu, lequel n’est pas tyrannique, ni sans raison, mais qui a pour objet cet abyme et cette profondeur de richesses dont parle S. Paul, c’est-à-dire, l’harmonie et la perfection de l’univers“. A I, 12 N. 131, 168–169; LH I, 7,5, Bl. 10v: „[…] in ultima salutis analysi ad Deum Lutheri absconditum seu ad altitudinem divitiarum Pauli est recurrendum, cum quaeritur, qui fiat, ut, cum omnes aeque mali sint, hi potius quam illi in eo statu cillocentur per gratiam internam vel externam, in quo non resistant, cujus discriminis causam in futura demum noscendum judicavit Augustinus“. Zit. nach A. Pichler: Die Theologie des Leibniz, Erster Theil, München 1869, S. 368; Discours de Métaphysique, § 30: „C’est assez de le sçavoir, sans le comprendre. Et c’est icy qu’il est temps de reconnoistre altitudinem divitiarum, la profondeur et l’abyme de la divine sagesse, sans chercher un detail qui enveloppe des considerations infinies“. (A VI, 4 B N. 306, 1577); Essais de Théodicée, § 134: „Dire avec S. Paul: O Altitudo Divitiarum et Sapientiae, ce n’est point renoncer à la raison, c’est employer plustost les raisons que nous connaissons, car ells nous apprennent cette immensité de Dieu, dont l’Apotre parle: mais c’est avouer nostre ignorance sur les faits; c’est reconnaitre cependant, avant que de voir que Dieu fait tout le mieux qu’il est possible, suivant la sagesse infinite qui regle ses action“. (GP VI, 188); Causa Dei, § 142: „Ipsum autem βάθος in Divinae sapientiae thesauris, vel in Deo abscondito, et (quod eodem redit) in universali rerum harmonia latet, quae fecit ut haec series Universi, complexa eventus quos miramur, judicia quae adoramus, optima praeferendaque omnibus a Deo judicaretur“. (GP VI, 460). Vgl. Causa Dei, § 126, GP VI, 457 und § 139, GP VI, 459. – Diese Schriftstelle Röm. 11, 33 besitzt im Luthertum deshalb eine gewisse Prominenz, weil Luther – worauf Leibniz eigens hinweist – sie als Auftakt zum resümierenden Schluss seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam in De servo arbitrio benutzt. Freilich liegt die Pointe der Leibniz’schen Deutung dieser Paulus-Luther-Stelle in der Akzentsetzung. Denn Luther hatte an dieser „berühmte[n] und wichtige[n] Stelle über die Theodizee“ (H. J. Iwand) formuliert: „Si enim
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**** Gänzlich unbekannt war dagegen den Zeitgenossen die bis heute nicht gedruckte, briefliche Reaktion Naudés auf die Leibniz’schen Einwände. Hier deutet Naudé die Leibniz’sche Stellungnahme als einem „klugen und umsichtigen“ Supralapsarismus günstig und er bekräftigt seine Ablehnung des Arminianismus indem er ihm eine noch schlimmere Propagierung der Werkgerechtigkeit unterstellt, als sie seinerzeit der Pelagianismus versucht habe: J’ay receu avec beaucoup de joye l’honneur de vostre derniere du 4er du present, et je vois par elle avec plaisir que vous rendez plus de justice aux Supralapsaires sages et circonspects que Mr Jaquelot luy même, je croy aussi avoir gardé dans mon Supralapsarisme toutes les modifications et les menagemens que vous voulez qu’on y garde. Il est vrai que j’ay dit que Mr. Jaquelot nous declaroit heretiques en embrassant l’Arminianisme, parce que nous sommes heretiques pour eux et eux pour nous; car toute opinion qui forme un Schisme legitime est ce que j’appelle heresie: Or l’Arminianisme est condamné comme tel par tous les vrayes Reformez et avec justice, car ils sont | Justiciaires et ergänzt | pires que Pelagius et quid non?
Gleichzeitig attestiert er dem Luthertum durchaus richtige Züge – er mag da nicht von einem ‚Schisma‘ zwischen Reformierten und Lutheranern sprechen – in der Rechtfertigungslehre. Mais je n’avoüe pas que tout Schisme soit legitime, ni que toute opinion [16 verso] contraire au Supralapsaire soit une heresie, puisque je croy le Schisme d’entre Mess.rs le [sic!] Lutheriens et nous illegitime. Ces Mess.rs sont tres purs sur le principal qui est le point de la justification du pecheur devant Dieu, donc ils peuvent ester tolerez sur le reste.
Es bleibt aber für Naudé dabei, dass einzig und allein das System des konsequenten Supralapsarismus, also die Lehre von der potentia absoluta Dei – die, die einzig auch schriftgemäß sei – es vermag, dem von Bayle aus heuristischen Gründen angeführten Manicheismus entgegenzutreten, wenn es darum gehen soll, die Eigenschaften Gottes mit dem Vorkommen des Übels zu vereinbaren: Mais pour cela je ne croy pas qu’ils puissant avec leur Systeme delivrer le Christianisme des griffes du Manicheïsme, parce qu’ils seront obligez d’abandonner l’Ecriture | en plusieurs endroits ergänzt | à l’imitation de Mr Jaquelot, comme je croy que mon livre en donne de bonnes preuves si on daigne le livre sans prevention et avec application. Et c’est là la cause principale qui m’a fait | dire gestrichen | nier qu’aucun autre Systeme que le nostre puisse tenir contre le
talis esset eius iustitia, quae humano captu posset iudicari esse iusta, plane non esset diuina, et nihilo differret ab humana justitia. At cum sit Deus uerus et unus, deinde totus incompehensibilis et inaccessibilis humana ratione, par est, imo necessarium est, ut et iustitia sua sit incomprehensibilis, Sicut Paulus quoque exclamat dicens: O altitudo diuitiarum […]“. (M. Luther: De servo arbitrio (1525), in: Ders.: Luthers Werke in Auswahl, unter Mitwirkung von A. Leitzmann herausgegeben von O. Clemen, Bd. 3: Schriften von 1524 bis 1528, Berlin 1959, S. 94–293, hier S. 289 [WA 784]). Leibniz deutet die „altitudo divitiarum“ – „profondeur des richesses“ in seinem Sinne als „l’harmonie et la perfection de l’univers“ und eröffnet sich damit eine überraschende Möglichkeit des Rekurses auch auf den Luther von De servo arbitrio. Seine zahlreichen autobiographischen Hinweise auf seine frühe und prägende Lektüre dieser Schrift Luthers sind bekannt. (WA 18, 784).
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Manicheïsme, car il faut que l’Ecriture subsiste avec toutes ses theses principals, ou tout est perdu pour le Christianisme. […]96.
Es überrascht nicht, dass der gemäßigte Lutheraner Leibniz hierauf mit einer Gereiztheit geantwortet hat, der wir einige prägnante theologische und religionsphilosophische Formulierungen verdanken. Der ursprüngliche Arminianismus scheint Leibniz der Position des Luthertums doch recht nahe zu kommen: Extrait de ma reponse: Il ne me paroist pas que Monsieur Jaquelot declare les supralapsaires heretiques, et je ne voy pas qu’il ait embrassé l’Arminianisme au moins tel qu’il a esté enseigné par Episcopius, qui paroist meme nier l’Election et évoquer en doute la prescience de Dieu. L’Arminianisme enseigné au commencement par Arminius meme, ne me semble pas fort eloigné des sentimens des theologiens de la confession d’Augsbourg, et je crois | aussi ergänzt | que M. Jaquelot ne s’en eloigne pas beaucoup. Et dans les pays bas memes on a declare de vouloir admettre les Arminiens à la Ste cene sans les obliger de recevoir le Synode de Dordrecht.
Ganz apodiktisch aber wird Leibniz in der Frage der Attribute Gottes („L’Essentiel de la Religion“) – und da ist es ihm ganz gleichgültig, ob nun irrigerweise ein Arminianer Gottes Weisheit und Vorauswissen oder ein Supralapsarier Gottes Güte und Gerechtigkeit leugnen möchte, indem er ihm ein tyrannisches Handeln unterstellt: So müssen ihm beide gleichermaßen als Häretiker gelten. Zunächst in der Frage der Attribute selbst: Cependant si quelque Arminien nioit la sagesse de Dieu en luiy refusant la connoissance des choses futures, ou si quelque Supralapsaire nioit la bonté ou la justice de Dieu, en soutenant qu’il agit d’une maniere tyrannique, ut stet pro ratione voluntas, je les tiendrois tous les deux pour Heretiques qui renversent les Attributs de Dieu ou l’Essentiel de la Religion.
Sodann in der Frage des göttlichen Handelns: Sollten allerdings richtigerweise der Arminianer Gottes Gnadenwahl aus seiner Voraussicht des Glaubens heraus begreifen und der Supralapsarier doch Gründe für Wahl und Verwerfung annehmen (wie uneinsehbar für uns auch immer), so sei kein Grund gegeben, einander als Häretiker zu bezeichnen. Mais si quelque Arminien soutient que l’Election se fait suivant la prevision de la foy, qui depend elle meme de la grace de Dieu prevenante, ou si quelque Supralapsaire croit que l’Election de Dieu et son decret absolu est fondé sur des raisons saintes et justes, mais à nous inconnues, je ne croy pas que l’un ait sujet de traiter l’autre d’heretique.
Und schließlich könne keine Rede davon sein, dass der lutherische Standpunkt nicht vom Wortlaut der Heiligen Schrift gedeckt sei, dies sei dagegen bei einem die Gerechtigkeit Gottes verletzenden Supralapsarismus der Fall: Nos Theologiens pretendent d’expliquer parfaitement bien les passages de l’Ecriture sainte sans avoir besoin de recourrir au Supralapsarisme. Au contraire ils pretendent que les Supralapsaires s’eloignent de la parole de Dieu. Je croy que tous deux (je parle des supralapsaires qui ne choquent point la justice de Dieu) peuvent satisfaire au texte, mais les uns plus naturellement que les autres97.
96 Philippe Naudé an Leibniz, Berlin, 14. Januar 1708. LBr 679, Bl. 16r–17r, hier Bl. 16r–16v. 97 Leibniz an Philippe Naudé, nach 14. Januar 1708. LBr 679, Bl. 17r.
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IV. Der bereits oben erwähnte, streng lutheranische Theologe Valentin Ernst Löscher98 hat der calvinistisch-supralapsaristischen Publizistik mit größter Missbilligung gegenübergestanden. So veröffentlicht er bereits 1707 eine Dissertatio theologica, de Paroxysmis absoluti decreti […], die er 1719 wieder zum Abdruck bringt99 und in der er das lutherische „jus ordinatum Dei“ dem calvinistisch-supralapsaristischen „jus absolutum Dei“ gegenüberstellt und den Supralapsarismus als „Praeterminatismus“, „Irresistibilismus“, „Absolutismus“ und „Misanthropismus“ brandmarkt100, was ihm eine zustimmende Erwähnung in Leibniz’ Essais de Théodicée einbringt101 – wie Leibniz Löscher als Theologen wohl überhaupt geschätzt hat102. So ist es nicht verwunderlich, dass Löscher im Jahre 1709 sowohl der Schrift La souveraine perfection de Dieu als auch dem Recueil Naudés eine eigene Gegenschrift widmet: Cogitata de Phil. Naudæi nupero studio Supralapsariorum errores revehendi […] 103, der auch eine längere Replik Naudés104 beigedruckt ist. Den dabei gewechselten theologischen Argumenten soll hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Für unseren Zusammenhang ist allerdings von Wichtigkeit, dass Löscher nicht allein Naudé angreift. Dieser bläue geradezu die ungeheure Größe der göttlichen Eigenschaften ein („Inculcata attributorum divinorum immensitas“) und er leugne dabei jegliches vernünftige Verhältnis zwischen Gott und Mensch („negata prorsus 98 Geb. 1674 Sondershausen, gest. 1749 Dresden. Ab 1690 Studium in Wittenberg. 1692 Magister der phil. Fak. Ebd. 1695/1696 Bildungsreise durch Niedersachsen, Hamburg, Niederlande, Dänemark, Rostock und Berlin. 1699 Pastor und Superintendent in Jüterbog. 1701 Superintendent in Delitzsch und Begründer der ersten theol. Zeitschrift in Deutschland: seit 1702 u. d. T. Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen. 1707 o. Prof. der Theologie in Wittenberg. 1709 Pfarrer an der Dresdner Kreuzkirche. Mitglied des Oberkonsistorums der lutherischen Kirche Sachsens. Vgl. I. Ludolphy: Art. „Löscher, Valentin Ernst“, in: NDB 15 (1987), S. 63–64. 99 V. E. Löscher: Dissertatio theologica De Paroxysmis absoluti decreti […], in: Ders.: Initia Academica […] [Diss. Nr. V.], Wittenberg 1707 [unpag.] (M. Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang: Bibliographie [vgl. Anm. 4], Nr. 57); 2. Aufl. u. d. T.: Dissertatio theologica De Paroxysmis absoluti decreti […] praeside Valentino Ernesto Loeschero […] defendit Io. Caspar Faber […]. Editio secunda, Wittenberg 1719 (Ebd., Nr. 141). 100 Vgl. V. E. Löscher: Dissertatio theologica (vgl. Anm. 99), § XLIII. 101 Essais de Théodicée III, § 280; GP VI, 283. Leibniz lobt Löschers umsichtigen Verweis auf Luthers de servo arbitrio und dessen Forderung nach Differenzierung des Notwendigkeitsbegriffes. 102 Vgl. Leibniz an Gottlieb Michael Hansch, Hannover, 6. September 1712 (Kortholt III, 1738, S. 84) und Leibniz an Gottlieb Michael Hansch, Hannover, 16. Oktober 1712 (ebd., S. 86). 103 V. E. Löscher: Cogitata de Phil. Naudæi nupero studio Supralapsariorum errores revehendi: Quibus Generoso Eruditissoque Dn. Georgio Clementi Finkio S. Literarum Cultori florentissimo, De summis in Philosophia honoribus gratulatur. [Untertitel:] Addita st Responsio Ph. Naudæi Mathematum Professoris, Regiaeque qua Berolini est Academiae Scientiarum Socii. Anno S.D. 1709, Wittenberg: Typis Martini Schultzii, Acad. Typogr. [1709]. (M. Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang: Bibliographie [vgl. Anm. 4], Nr. 79). 104 Ebd., Bl. 4r–7v: Responsio Ph. Naudæi […] ad Cogitata Val. Ern. Loecheri [!] […].
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inter illum & homines proportio“) und hebe damit das Recht auf, das zwischen Gott und Mensch herrsche und auf das er vernünftigerweise Anspruch erheben dürfte („jus mortalium, quod ex ratione petere sibi adversus Deum possint, sublatum“)105. Zudem folge aus seinem extremen Prädestinatismus, dass man von Gott gewissermaßen als vom heiligen Urheber der Sünde – wie Löscher ironisch bemerkt – sprechen müsse: „[…] ut sancte Deum auctorem peccati dicendum […]“106. Naudé versuche, alle theologischen Probleme ganz einseitig mit dem Verweis auf die absolute und unwiderstehliche Macht Gottes zu lösen („[…] ex sola absoluta perfectione & dominio DEI […] solvi ista omnia, quocunque id modo fiat, opinatur“), wogegen doch die Heilige Schrift sowohl von der höchsten Macht Gottes spreche, als auch von seinem umfassenden Wohlwollen: ein scheinbarer Widerspruch, den aber – so Löscher – die lutherische Gnadenlehre auszugleichen in der Lage sei. Quantum ad biblica attinet, fatemur, antitheta nobis videri, quæ de summa DEI jure potestateque, ac perfection absoluta, & modo quo impios tractat, in S. literis leguntur, quæque de seria ejus benevolentia universali in iisdem leguntur; Sed hæc dudum conciliarunt nostril, ut neutra horum detrimentum capiant, neque potest DEUS loquens secum ipso pugnare107.
Löschers vehemente Kritik trifft jedoch gleichermaßen unseren ungenannten, gemäßigten Lutheraner aus dem Recueil – also Leibniz. Und sie ist es, die uns hier interessieren muss. Mit dem Scharfsinn und Gespür des Zeloten benennt Löscher genau die Passagen aus den Leibniz’schen Einwänden (auch er nennt Leibniz nicht oder kennt ihn nicht als den Verfasser), die für einen orthodoxen Lutheraner wie ihn anstößig sein müssen und die in der Tat den Kern der Leibniz’schen Argumentation ausmachen. Dringend notwendig, so Löscher, sei es zu bemerken, dass Naudé im Recueil auf Positionen eingehe, die sich zwar als lutheranisch ausgäben, dies aber auf keine Weise seien: „Neque prætereundem est, Naudæum commemorare quosdam, quos pro nostræ habeat Ecclesiæ Doctoribus, quorum sane non optima mens videtur […]“. Das sei abzulesen an etwa der Meinung, ungetauft gestorbene Kinder oder tugendhafte Heiden verfielen nicht der Verdammnis. „[…] qualis et illa, infantes sine baptismo mortuos, & paganos bono præditos animo damnari non posse […]“. Bei weitem wichtiger ist ihm aber die Kritik an der allgemeinen, rationalistischen Vorstellung, die Leibniz von der Natur Gottes und den Besonderheiten seines Handelns hat und hier erreicht Löscher – wie mir scheint – einen erstaunlichen Grad an Hellsichtigkeit. Er brandmarkt die Leibniz’sche Vorstellung vom Willen Gottes zur Schaffung des Besten („[…] voluntatem antecedentem esse inclinationem ad rem bonam producendam […]“), insofern dieser dabei geleitet – oder besser: genötigt sei von den besten oder zwingenden Gründen für ein Totaldekret („[…] a qua producenda valentiores causae avocent […]“) als einen für die Freiheit Gottes gefährlichen ‚Essentialismus‘ (wobei Löscher diesen Ausdruck zwar nicht verwendet, der Sache nach aber meint), der, indem er von der potentia ordinata Gottes, also von einer sich an bestimmte Regeln bindenden Macht Gottes ausgeht, in letzter 105 V. E. Löscher: Cogitata (wie Anm. 103), Bl. 1r–1v. 106 Ebd., Bl. 1v. 107 Ebd., Bl. 2r.
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Konsequenz das Reich der Gnade aufhebe um dafür ein Reich der (Gott vorgeordneten) Möglichkeiten zu konstituieren und unter dem Vorwand eines gesetzlich und ökonomisch verfassten Willens Gottes gänzlich Fremdes in das christlich Gesetz und das Evangelium zu mischen. Massiver kann man sich die Kritik an der Leibniz’schen Position kaum denken: Letztlich läuft sie auf den Vorwurf hinaus, Leibniz verwandle die Offenbarungswahrheiten in bloße natürliche Theologie, die zudem auch noch daran kranke, dass sie Gott zum bloßen Exekutor von ihm ontisch vorausliegenden Möglichkeiten mache. Universa denique Viri [sc. der ungenannt bleibende Leibniz; S. L.] commendatio ad absolutam eorum considerationem, quæ ordinate spectari debent, abducit, docetque, regnum gratiæ tollere e medio per regnum potentiæ, &, sub nomine legalis & oeconomicæ voluntatis, Legem & Evangelium multaque alia miscere108.
Man spürt bei Löschers Formulierungen förmlich die Not des orthodoxen Lutheraners, sich gleichermaßen von beiden Extremen, von der Skylla des Voluntarismus eines supralapsaristischen Naudé ebenso fernhalten zu müssen, wie von der ‚rationalistischen‘ Charybdis eines Leibniz. Auch hier haben wir eine ‚latente‘ Wirkung Leibnizens vor uns, die alsbald in den ‚akuten‘ Zustand übergehen wird: Löscher wird schon im Erscheinungsjahr der Essais de Théodicée diese in dem von ihm geleiteten, orthodoxen Organ Unschuldige Nachrichten kritisieren und just die Punkte ausführlich ansprechen, die er hier bereits in nuce vorgebracht hat, als da sind: die unzulässige Präponderanz von Gottes Weisheit gegenüber seinem Willen, das Ersetzen der frei wirkenden Gnade durch einen ‚Optimierungsmechanismus‘, die Gefährdung der Kontingenz des Geschaffenen durch die Prästabilierte Harmonie, die Möglichkeit der Seligkeit der Heiden und überhaupt die Aufhebung der christlichen Heilsökonomie, da der metaphysische Optimismus die Kreuzestat Christi letztlich obsolet werden lasse. Und Löscher wird später diese Kritikpunkte noch einmal ganz ausführlich auch der nächsten philosophischen Generation, Wolff und dem Wolffianismus in einer Artikelserie mit dem Titel Quo ruitis? entgegenhalten109. * Philippe Naudé hat Leibniz auch die Löscher’sche Schrift samt seiner dort mit abgedruckten Replik an Leibniz übersandt110 und Leibniz antwortet ihm höflich mit einer erneuten Bekräftigung seiner Auffassung hinsichtlich des Verhältnisses 108 Ebd., Bl. 3r. (Hervorhebungen des Verfassers). 109 Vgl. dazu S. Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791) (= Studia Leibnitiana, Supplementa 31), Stuttgart 1997, S. 102–105. Zu Löschers Kritik am Wolffianismus: S. 105. 110 „On a fait depuis peu un discours contre mon livre dans l’Academie de Wittenberg qui m’a esté communiqué icy par un Ministre Lutherien de ma connoissance, j’ay jugé à propos d’y faire une petite reponse. C’est pourquoy Monsieur, je vous supplie tres humblement d’agreer de vous en faire tenir cet exemplaire […]“. Naudé an Leibniz, Berlin, 20. Juli 1709. LBr 679, Bl. 20r–20v.
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Gottes zum Bösen in der Welt: Gott verhält sich nur zulassend, insofern Gutes dadurch im Gesamtplan befördert wird. Je vous remercie, Monsieur, de votre reponse à Mr. Löscher, que vous avés eu raison de desavouer cette phrase que Dieu est saintement l’auteur du mal. Il ne concourt qu’à ce qu’il il y a de bon dans le mal. […]111.
VI. Auch Naudé hat beabsichtigt, seine Kritik am metaphysischen Optimismus Leibnizens von einer ‚latenten‘ in eine ‚manifeste‘ Form übergehen zu lassen. Er hat nach Erscheinen der Essais de Théodicée diese vom Standpunkt des Supralapsarismus aus einer umfassenden Kritik unterzogen, da er der Auffassung war, Leibniz habe es dort nicht vermocht, Bayle zu widerlegen. Naudé schreibt in seinen bislang unveröffentlichten Lebenserinnerungen von 1723 darüber112: Le livre [sc. die Essais de Théodicée; S. L.] est du défunt Mr Leibniz; il a pensée le faire beaucoup mieux que moi contre Bayle et contre les manichéens, mais on verra par ses réflexions qu’il a mal réussi, quoique cet ouvrage au reste soit plein de mille choses très belles et très admirables […].
Und wir wissen aus den brieflichen Erinnerungen seines Sohnes, Philippe Naudé d. J., nicht nur, dass Naudé sich intensiv mit der Leibniz’schen Theodizee beschäftigt hat, sondern auch, dass seine Aufzeichnungen dazu eine bewegte Geschichte hatten: Je ne dois pas oublier ici que quelques temps avant qu’il fut attaqué de son mal, j’avais voulu relire la Théodicée de Mr Leibniz et l’ayant achevé, j’étais bien aise de relire aussi les réflexions que je savais qu’il avait faites sur ce livre, V. Exc. l’avait lu, et l’avait renvoyé depuis peu de temps, mais le paquet s’était égaré à la poste il en avait été fort en peine (il était alors déjà alité) cependant ce paquet s’étant retrouvé, il eut tant de joie de l’avoir retrouvé qu’il voulut le relire même sur son lit avant que de me le donner, je le lu ensuite, et ce fut nouvelle matière à nos entretiens journaliers. Et comme en relisant cet ouvrage il avait réfléchi qu’on pourrait pour accorder les différents systèmes qui ne va rien que sur l’ordre et sur l’arrangement des décrets qu’on pourrait dis-je réduire tout à un seul décret, il mit ses pensées par écrit bien que sur son lit – c’est-à-dire – il fit un brouillant sur des feuilles volantes, mais il ne put achever de les copier au net au moins pour les rendre lisibles, comme il avait commencé. Cependant m’ayant prié de voir si je pouvais rassembler ces feuilles et lire même ce qui n’était pas encore copié, j’y réussis et je les lui lus, je fus même obligé de les lui relire à différentes reprises divers jours de suite, car comme V. Exc. le sait, il avait beaucoup médité sur ces matières, et il tachait de les approfondir, il me chargea même d’achever de les copier au net pour les insérer dans l’endroit qu’il me marqua de ses réflexions sur la Théodicée.
111 Leibniz an Naudé, [Hannover, nach 20. Juli 1709]. Konzept: LBr 679, Bl. 20r. Gedruckt bei Grua, 503 f. 112 Ph. Naudé: Mémoires (vgl. Anm. 6), Abschnitt X, S. 41.
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Frucht dieser Beschäftigung ist ein umfangreiches, sauber geschriebenes, druckfertiges113 Manuskript mit dem Titel Reflexions sur l’excellent Ouvrage qui a pour titre: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’homme et l’origine du mal, das die Zeitläufte glücklich überdauert hat. Naudé hatte es, wie gesagt, mit seinen übrigen druckfertigen Manuskripten testamentarisch der Bibliothek des Joachimsthal’schen Gymnasiums überlassen. Von dort ist es in die Deutsche Staatsbibliothek, Berlin114 gelangt und wird heute in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin aufbewahrt115. Die von ihm geäußerte Hoffnung, es publiziert zu sehen („[…] il serait à souhaiter pour l’augmentation des lumières solides que ces miennes réflexions parussent“116) hat sich zu seinen Lebzeiten und bis heute leider nicht erfüllt. So ist das Manuskript ein ‚latentes‘117 Wirkungsmoment der Leibniz’schen Theodizee geblieben. * Eine genaue inhaltliche Analyse der Reflexions kann hier nicht geleistet werden und muss der Einleitung zu einer künftigen Edition vorbehalten bleiben („Il faut se contenter de dire, qu’en cas que nos Reflexions soyent solides et importantes, il vaut mieux les publier tard que jamais“118). Zu einer allgemeinen Charakterisierung sei hier nur so viel gesagt: Naudé macht als den fundamentalen Irrtum („défaut géneral“) in Leibniz’ metaphysischem Optimismus das Konzept des choix du meilleur dingfest und hält dessen Unterstellung, in Gott bestehe eine ‚necessitas moralis ad optimum‘ für eine einseitige und illegitime Betonung von Gottes Güte gegenüber seiner unwiderstehlichen Macht: „Pourquoi donc donner icy une telle préference à la bonté sur tous les autres attributs […]“119. 113 Nach dem oben angeführten Bericht vermutlich von der Hand Philippe Naudés d. J. Das Titelblatt des Manuskriptes trägt den Vermerk: „NB Cette copie cy est la derniere et la plus au net“. 114 Vgl. U. Winter: Die Handschriften (vgl. Anm. 55), S. 3–5. 115 58. Ms. Gall. 8° 114: Reflexions sur l’excellent Ouvrage qui a pour titre: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’homme et l’origine du mal. Um 1725 [Autogr.], VII, 399 S., 4 Bl. (U. Winter: Die Handschriften [vgl. Anm. 55], S. 22, Nr. 58). Herr Prof. Dr. Wolfgang Hübener († 2007) und der Verfasser sind seinerzeit unabhängig voneinander auf dieses Manuskript aufmerksam geworden. Herr Hübener hat eine Transkription veranlasst, die Frau Dr. Sonja Asal (Berlin) anfertigte, und die er dem Verfasser kurz vor seinem Tod dankenswerterweise überlassen hat. 116 Ph. Naudé: Mémoires (vgl. Anm. 6), Abschnitt X, S. 41. 117 Allerdings war die Existenz des Manuskripts dem 18. Jahrhundert bekannt: „Mr. Naudé a laissé d’ailleurs plusieurs autres Ouvrages Manuscrits, entre autres […] des Réflexions sur la Theodicée de Leibnitz &c. Tous ces MSS. sont déposés, suivant la volonté de l’Auteur, dans la Bibliothèque du Collège de Joachim, afin qu’ils soient conservés à l’usage de ceux qui voudront les consulter ou les faire imprimer“. J. G. Chaufepié: „Naudé (Philippe)“ (vgl. Anm. 7), S. 23, Rem. A. 118 Ph. Naudé: Reflexions (vgl. Anm. 115), Preface, S. III. 119 Ebd., S. 228.
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Die mit dem choix du meilleur gegebene Orientierung Gottes an der ‚idealen‘ Natur der Dinge lasse Gott in der Systematik Leibnizens – so der weitere zuspitzende Vorwurf Naudés – zum bloßen Exekutor von idealen Wesensstrukturen verkommen. Ein solcher Gott entspreche nicht mehr seinem Begriff, denn er könne im strengen Sinne kein „but et fin“ haben, das als Kriterium seines Handelns angegeben werden könnte: „[…] il [sc. Leibniz; S. L.] le fait donc agir sans sujet et sans raison“120. Sujet et raison Gottes kann aber in der supralapsaristischen Perspektive Naudés und der seines voluntaristischen Gottesbildes eben nur die Selbstverherrlichung Gottes, seine gloire sein. Naudé sieht bei Leibniz sehr genau das, was man als Transformation von Dogmatik in Religionsphilosophie bezeichnen könnte, ja er unterstellt ihm geradezu, mit seinem System eine heilssuffiziente, vom Christentum losgelöste Religion begründen zu wollen. C’est vouloir faire passer la religion naturelle encore aujourd’hui pour une Religion salutaire à l’homme […] c’est renoncer à l’Évangile […] c’est regarder l’Évangile comme inutile ou non necessaire [sc. wenn man sich wie Leibniz Gott als eine durch die vollkommene Weisheit geregelte Macht vorstellt; Anm. d. V.]121.
Indem Leibniz sein ‚Decretum‘ noch vor jede voraussehbare Sündhaftigkeit verlege, sei er ein Supralapsarier malgré lui: Es gebe, so Naudé, durchaus Ähnlichkeiten zwischen dem decret absolu und dem choix du meilleur. Indem Leibniz die faktisch vorfindliche Weltverfassung in den Rang einer unhintergehbaren, notwendigen Tatsache erhebe, mache er sie zu einem Mechanismus, zu dem auch die Übel und Sünden gehörten. Schließlich sei es falsch anzunehmen, Gottes vorrangiges Ziel sei es gewesen, seine Kreaturen glücklich zu machen – was ihm, wie wir a posteriori wissen und die Erfahrung lehrt, dann auch denkbar schlecht gelungen wäre –, während sein Ruhm und seine Ehre ihm nur ein nachrangiges Ziel gewesen wären. Es muss für Naudé dabei bleiben, dass man unverbrüchlich festhalten müsse an der „prédestination à l’illustration de la sainteté de la justice et de la majesté supreme dec Dieu [qui] n’est fondé sur aucune prevision, mais […] est absoluë absolument“122. VII. Beide der hier vorgestellten Positionen sind in ihrer Konsequenz beeindruckend und gehen von jeweils ganz verschiedenen Gottesbildern123 aus und spiegeln auch ganz verschiedene – wenn man so sagen darf – Mentalitäten und Gestimmtheiten.
120 121 122 123
Ebd., S. 227. Ebd., S. 8. Ebd., S. 91. Zu Leibniz’ Theologie vgl. W. Sparn: „Das Bekenntnis des Philosophen. G. W. Leibniz als Philosoph und Theologe“, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie
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Dass Leibniz und Naudé jeweils solch unverkennbar diametral entgegengesetzte Positionen einnehmen, die allerdings mit den modernen Schlagworten ‚Rationalismus‘ und ‚Voluntarismus‘ nur näherungsweise charakterisiert sind und die auch von dem älteren Gegensatzpaar ‚potentia Dei ordinata‘ – ‚potentia Dei absoluta‘ nur bedingt gekennzeichnet werden können, hat nicht gehindert, dass man sowohl im Laufe der Rezeption, wie auch in der älteren und jüngeren Forschung zu Leibniz bei diesem selbst gemeint hat, Ambivalenzen entdecken zu können. Leibniz bemerkt im § 79 der Essais de Théodicée zum rigiden Prädestinationsglauben: Je ne sais s’il y a peut-être encore des gens qui s’imaginent que, Dieu étant le maître absolu de toutes les choses, on peut en inférer que tout ce qui est hors de lui, lui est indifférent; qu’il s’est regardé seulement soi-même sans se soucier des autres, et qu’ainsi il a rendu les uns heureux et les autres, sans aucun sujet, sans choix, sans raison; mais enseigner cela de Dieu, ce serait lui ôter la sagesse et la bonté.
Und er wendet dann ein, dass selbst Calvin überzeugt gewesen sei, dass Gott bei Erwählung und Verwerfung Gründe gehabt habe: Calvin même, et quelques autres des grands défenseurs du décret absolu ont fort bien déclaré que Dieu a eu de grandes et de justes raisons de son élection et la dispensation de ses grâces, quoique ces raisons nous soient inconnues en détail; et il faut juger charitablement que les plus rigides prédestinateurs ont trop de raison et trop de piété pour s‘éloigner de ce sentiment124.
Zu dieser Passage verweist Johann Christoph Gottsched in seiner deutschen Übersetzung der Theodizee in einer Anmerkung auf das Werk des in Kassel lehrenden, reformierten Theologen Stephan Veith (Vitus) (1687–1736): Vindiciae quibus in apologia Synodi Dordracenae dicta sunt, vindicantur125 hin: […] der berühmte Steph. Vitus […] der in seiner Apologia Synodi Dordracenae, den Herrn von Leibnitz gar selbst zu einem Supralapsario machen wollen. Er sagt nämlich: alle reformierten Schriftgelehrten, die den unbedingten Rathschluß lehreten, sagten nicht, daß Gott ohne Ursache die Menschen zum ewigen Leben, oder zur Verdammnis bestimmet habe, sodern diese göttlichen Ursachen wären uns nur unbekannt, und unergründlich. Herr von Leibnitz nun, wäre nur darinnen von ihnen unterschieden, daß er diese Ursachen erfunden zu haben glaubte; nämlich weil die allerbeste Ordnung der Dinge, in dem vollkommensten Weltgebäude es also erfordert habe. In wie weit dies Stich halte, mögen vernünftige Leser selbst urteilen. S. Apol. Synodi Dordrac., pag. 365 seq., § 61126.
Die Gottsched’sche Anmerkung zum zeitgenössischen Versuch, Leibniz selbst zum Supralapsarier zu machen ist dann allerdings doch wohl mehr als nur eine amüsante, 28 (1986), S. 139–178 und W. Sparn: „Leibniz: Theologie“, in: H. Holzhey/W. Schmidt-Biggemann/V. Mudroch (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4/2: Das heilige römische Reich deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 1079–1090. 124 GP VI, 145. Vgl. für diesen Gedanken auch das Zitat o. zu Einwand acht. 125 Kassel 1728. 126 Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibniz Theodicee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. Nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe herausgegeben, komentiert und mit einem Anhang versehen von Hubert Horstmann, Berlin 1996, S. 149, Anm. 45.
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historische Arabeske. Verweist sie doch auf die vom 18. Jahrhundert bis in die heutige Forschung hinein verhandelte Frage, mit was wir es bei der Leibniz’schen Philosophie eigentlich zu tun haben: Ob sie mit ihrer Substanzmetaphysik im allgemeinen (Enthaltensein aller ihrer Prädikate in der individuellen Substanz), mit der prästabilierten Harmonie und ihrem metaphysischem Optimismus im Besonderen samt ihren nezessitaristischen und essentialistischen Elementen nicht in der letzten Konsequenz auf einen Nezessitarismus hinausläuft, der sich lediglich kontingenzsichernde Argumente hilfsweise beizulegen bemüht ist127. Würde man dieser Frage unter theologiegeschichtlichen Aspekten näher nachgehen wollen, so käme man nicht umhin, sich auf die Vorarbeiten Hans Emil Webers128 und Wolfgang Hübeners129 zu beziehen. Bis zu seinem Lebensende hat Leibniz seine Essais de Théodicée als spezielleren Bestandteil seines größeren Kampfes gegen das ‚Decretum Absolutum‘ begriffen, nämlich gegen die Vorstellung, dass etwas ohne Grund geschehe, wobei sich ihm immer neue Kampfplätze auftaten. Er schreibt am 2. Juni 1716 an die Prinzessin Caroline von Wales, dass seine Gegner es nicht begreifen wollten, [ …] ce grand principe que rien n’arrive sans qu’il y ait une raison suffisante pur cela d’ou il suit que Dieu même ne sauroit choisir sans qu’il y ait une raison de son choix. C’est l’erreur de l’indifference vague ou du decret absolument absolu refuté dans la Theodicée. Cette erreur encore est la source du vuide et des Atomes130.
Hans Blumenberg hat in beeindruckenden Wendungen kenntlich gemacht, um welche grundsätzlichen Optionen es ihm dabei gehen musste: Clarke hatte […] die Anwendung des Prinzips vom zureichenden Grund auf die Erklärung der Natur abgelehnt. Der Schöpfungsakt sollte das Urfaktum bleiben, das nicht weiter befragt und rational begründet werden dürfte. Leibniz bezeichnet das als décret absolument absolu […]. […] Der theologische Absolutismus verweigert dem Menschen den Einblick in die Rationalität der Schöpfung […]. […] Die rationale Verläßlichkeit der Welt, die Bedingung der Möglichkeit aller Theorie, ist der Rest des teleologischen Ordnungsbestandes, den Leibniz verteidigt. Der absolute Wille als metaphysisches Prinzip ist dagegen das Äquivalent der Behauptung, daß die Verläßlichkeit der Welt nicht begründet werden kann und daß sie daher ein unter dem Vorbehalt des Widerrufs stehendes Faktum ist.
Was Blumenberg hier für die späte Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Clarke (1715/1716) formuliert, darf mutatis mutandis auch für die vorausgegangene zwischen Leibniz und Naudé gelten. Freilich sollte es andererseits aber auch klar sein, um wieviel es auch Naudé hatte gehen müssen und welch vitale Interessen er gemeint hat, verteidigen zu müssen 127 Vgl. etwa jüngst M. V. Griffin: Leibniz, God and Necessity, Cambridge 2013, bes. S. 58–82. 128 H. E. Weber: Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, Zweiter Teil, Gütersloh 1951. Bes. S. 98–184: Das System des Prädestinatianismus, S. 176–184: Das System der Theodizee. 129 W. Hübener: „Leibniz und die praedeterminatio physica“, in: Leibniz. Tradition und Aktualität. V. Internationaler Leibiz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1988, S. 366–373. 130 A. Robinet (Hrsg.): Correspondance Leibniz-Clarke. Presentée d’après les manuscrits originaux des bibliothèques de Hanovre et de Londres, Paris 1957, S. 78. (Hervorhebung des Verfassers).
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Stefan Lorenz […] gewiss stehen in dieser Krise noch überzeugte Herolde auf; aber ihre Verteidigung wird auch ein Zeugnis der Wende […] Jurieu und Phil. Naudé, der Mathematiker, der sich gegen Bayles Kritik wie gegen alle ‚universalistischen‘ Abschwächungen noch den strengsten Supralapsarismus aus der Schrift mit der rechten Vernunft zu retten getraut, zeigen beide guten theologischen Blick, indem sie der anstürmenden menschlichen Selbstherrlichkeit die unendliche Distanz – wie des Seins zum Nichts – zwischen Gott und der Kreatur entgegenhalten131.
* Der Nachzeichnung der aufeinanderprallenden Auffassungen Leibnizens und Naudés, die ja ihre persönliche Freundschaft nicht zu beeinträchtigen vermocht hatten, war es nicht um den Nachweis der größeren oder geringeren Plausibilität der einen oder der anderen zu tun, worum es dem historischen Blick ohnehin nicht gehen kann. Gleichwohl wird man sich angesichts der zwischen Naudé, Löscher und Leibniz ausgetauschten Argumente doch die Frage nach ihrer jeweiligen Einordnung in die Sphären diesseits oder jenseits der Grenze des Epochenumbruches um 1700 stellen – hier ist an die eingangs zitierten Erwägungen Erich Haases und Martin Greschats zu erinnern. Wenn Leibniz inzwischen wie selbstverständlich und geradezu topisch als Initialgröße der ‚Aufklärung‘ oder als Teil ihrer selbst apostrophiert wird, so lässt das leicht vergessen, dass dieser Sachverhalt keine Selbstverständlichkeit ist, die etwa unmittelbare Evidenz aus den Quellen erhielte, sondern einen forschungs- und rezeptionsgeschichtlichen Vorlauf hat, der an historische Bedingungen geknüpft ist. Denn auch die Leibniz’sche Position in all ihrer metaphysischen Sperrigkeit hat sich ja im weiteren 18. Jahrhundert nicht unmodifiziert durchsetzen oder unangefochten behaupten können132. Hier sei nur daran erinnert, dass etwa ein aufmerksamer Geist wie Lessing sich gegen die Vereinnahmung Leibnizens durch die Aufklärung widersetzt hat. Dabei ist eine Wirkung Leibnizens auf das weitere 18. Jahrhundert ganz unbestritten. Um freilich Leibniz als ‚Aufklärer‘ zur Geltung bringen zu können, müssen – um hier nur zwei prominente Philosophiehistoriker anzuführen – sowohl Kuno Fischer als auch Ernst Cassirer in ihren jeweiligen, breit rezipierten Darstellungen133 Stilisierungen vornehmen, die es erlauben, Leibniz’ Philosophie in die Perspektive
131 H. E. Weber: Reformation (vgl. Anm. 128), S. 153. (Hervorhebungen des Verfassers). 132 Vgl. St. Lorenz: De mundo optimo (vgl. Anm. 109), passim; ders.: „Themen und Variationen theologischer Kritik“ (vgl. Anm. 7); ders.: „Schwierigkeiten mit dem Optimismus – Einige Hinweise zur Rezeption des Theodizeegedankens im deutschen 18. Jahrhundert. Mit einem Anhang zu heterodoxen Konsequenzen des Metaphysischen Optimismus: ‚Anonymi Dubia circa existentiam Dei orta‘“, in: W. Li/W. Schmidt–Biggemann (Hrsg.): 300 Jahre Essais de Théodicée – Rezeption und Transformation (= Studia Leibnitiana, Supplementa 36), Stuttgart 2013, S. 37–70. 133 K. Fischer: Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 3: Leibniz, Heidelberg 51920; E. Cassirer: Leibniz’ System, Marburg 1902; ders.: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916.
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einer durchaus teleologisch verstandenen, deutschen Geistesgeschichte einzurücken, die entweder bei Kant oder bei Goethe ihren Zielpunkt haben soll. Diese Stilisierungen betreffen sperrige metaphysische und religionsphilosophische Theoriestücke bei Leibniz, die eher daran denken ließen, ihn unter die Rubren „Zeitalter des Konfessionalismus“, „rationalistische Substanzmetaphysik“ oder „Barock“ zu bringen (wie das Verschwinden des ehedem geläufigen Begriffes „Barock“ als ideengeschichtliche Beschreibungskategorie selber ein aufschlussreiches Faktum darstellt). Karl Barth hat in seinem Werk Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts134 das von Fischer und Cassirer hergestellte Leibniz-Bild aufgenommen, es allerdings vom Standpunkt der ‚Dialektischen Theologie‘ her mit negativem Vorzeichen versehen – hierin widerspricht ihm wiederum Emanuel Hirsch in seiner Geschichte der neuern protestantischen Theologie.135 Hans Emil Weber (1882–1950) dagegen versucht aus seiner stupenden Kenntnis der nachtridentinischen Scholastik heraus, Leibniz im Horizont dieser ideengeschichtlichen Formation zu deuten136 und kommt dabei zu einer – ebenfalls durchaus plausiblen – Verortung deutlich diesseits der Grenze zu einer wie immer verstandenen ‚Aufklärung‘. Und die Forschung Sven K. Knebels137 haben gezeigt, wie sehr das Leibniz’sche Denken auch der nachtridentinischen Scholastik verpflichtet ist. Führt man sich das theologische und philosophische Arsenal vor Augen, mit dem Leibniz auch in der von uns hier geschilderten Debatte Naudé und Löscher entgegengetreten war und berücksichtigt man dessen theologische und philosophische Kontexte, die bereits kurze Zeit später schon dem überwiegenden Teil etwa der Wolffianer in ihrer Komplexität fremd geworden waren, so spricht doch einiges dafür, auch Leibniz – will man ihm selbst und den Eigenheiten der dann verwickelten, verschobenen, selektiven und verspäteten Rezeption seiner Gedanken gerecht werden – einer Epoche zuzurechnen, die Wolfgang Hübener treffend als ‚Prämoderne‘138 bezeichnet hat. Ob nicht am Ende der Naudé und Leibniz gemeinsame
Zürich 41947. 1950–1954; Gütersloh 31964 (ND Münster 1984). H. E. Weber: Reformation (vgl. Anm. 128). S. K. Knebel: „Necessitas moralis ad optimum: zum historischen Hintergrund der Wahl der besten aller möglichen Welten“, in: Studia Leibnitiana 23, 1 (1991), S. 3–24; ders.: „Necessitas moralis ad optimum (III). Naturgesetz und Induktionsproblem in der Jesuitenscholastik während des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts“, in: Studia Leibnitiana 24, 2 (1992), S. 182–215; ders.: „Necessitas moralis ad optimum (IV). Repertorium zur Optimismusdiskussion im 17. Jahrhundert“, in: Studia Leibnitiana 25, 2 (1993), S. 201–208. 138 W. Hübener: Zum Geist der Prämoderne, Würzburg 1985. Vgl. dort (S. 133–152) für unseren Zusammenhang: „Sinn und Grenzen des Leibnizischen Optimismus“. – Ebd., S. 151 f.: „Die neuere Wissenschaftsgeschichtsschreibung hat gelernt, auch die theologischen Voraussetzungen einer Theorie angemessen zu berücksichtigen. Der Leibnizische Optimismus als Lehre von der idealen Wahl der besten series rerum aus der Gesamtheit der möglichen kann in diesem Sinne als exemplarisch für den Geist der Prämoderne stehen. Man mag diesen Kalkül mit Spott belegen, aber man muß sich dabei bewußt sein, damit zugleich die einzigartige historische Konstellation der Berührung und gegenseitigen Durchdringung der theologisch-metaphysischen Tradition mit der jungen mathematischen Physik und damit die geistige Totalität 134 135 136 137
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Gegner Pierre Bayle mit seinem scharfsinnigen Aufweis der Aporien der geoffenbarten und natürlichen Religion in seinem Wiedergänger Kant139 doch die Oberhand behalten hat, ist eine ganz andere Frage.
jener Epoche, der wir die Begründung der modernen Naturwissenschaft verdanken, dem Gespött zu überantworten“. 139 R. Eucken: „Bayle und Kant“, in: Ders.: Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie, Leipzig 21906, S. 82–111.
EINE FRÜHE REZEPTION VON LEIBNIZ’ DYNAMIK ODER WAS WIR VON DER KORRESPONDENZ ZWISCHEN LOUIS BOURGUET UND JACOB HERMANN LERNEN KÖNNEN Von Ursula Goldenbaum (Atlanta) Es war kein systematisches Interesse an der Leibnizrezeption in der Schweiz oder an der Geschichte der Leibniz-Editionen, das mich nach Neuchâtel fahren ließ, um dort den Nachlass von Louis Bourguet einzusehen, dessen wichtigster Teil neben wenigen Leibnizbriefen sicherlich die Korrespondenz von Bourguet mit Jacob Hermann aus den Jahren 1710 bis 1733 ist1. Der Anlass meines Besuches in der Bibliotheque Publique et Universitaire Neuchâtel war vielmehr mein Interesse an einer Leibniz-Rezeption in der Mitte des 18. Jahrhunderts, jenseits des von unserer Konferenz gesetzten Zeitrahmens. Mir ging es darum, die Authentizität jenes umstrittenen Leibnizbriefes vom 16. Oktober 1707 zu sichern2, aus dessen Kopie Samuel König 1751 in seiner Kritik eines Maupertuis-Aufsatzes von 1748 zitiert hatte3 und die er 1745 von Samuel Henzi zugesandt bekommen hatte4. Es war der mögliche 1 2
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Bibliotheque Publique et Universitaire Neuchâtel, Fonds Louis Bourguet (im Folgenden BPU, Fonds Bourguet). Der umfangreiche Aufsatz zu diesem umstrittenen Leibnizbrief und seiner Authentizität ist zusammen mit einer deutschen Übersetzung des König’schen Aufsatzes, der zuerst aus dem umstrittenen Brief zitierte, und ergänzt durch eine kurze Biographie von Samuel König, veröffentlicht in U. Goldenbaum: Ein gefälschter Leibnizbrief? Plädoyer für seine Authentizität (= Hefte der Leibniz-Stiftungsprofessur 6), Hannover 2016. Das Zitat findet sich am Ende des Aufsatzes. (S. König: „De Universali Principio Aequilibrii et motus in Vi viva reperto, deque nexu inter Vim Vivam et Actionem, utriusque Minimo, Dissertatio“, in: Nova Acta Eruditorum, März 1751, Teil I, S. 125–135, sowie ebd., Teil II, S. 162–176, auf S. 175–176). Der Aufsatz wurde wieder abgedruckt in: L. Euler: Opera omnia, II, 5: Commentationes mechanicae, Principia mechanica, Zürich 1957, S. 317–324. Eine deutsche Übersetzung findet sich in der in Anm. 2 genannten Veröffentlichung. König ging von der ihm vorliegenden schriftlichen Information Samuel Henzis aus, die sich auf einem Zettel bei den vier von Henzi im Frühjahr 1745 an König gesandten Briefen befand. So hat König es im Appel au public und wieder in der Defense de l’appel au public dargestellt: „Les noms des Savans auxquels elles ont été écrites, ne se trouvent point à la tête des trois prémières. Mais, sur la foi d’un Billet, qui se trouvoit dans le Cahier où étoient marqués les noms de Mess. Bayle, Foucher, Herman, & Volder, Mr. König avoit conclu que la Lettre en question, qui est ici la prémière, avoit été écrite à Mr. Herman, la seconde sur la Philosophie de Descartes à Mr. Foucher, & la troisième à Mr. Bayle. Cependent Mr. König ne veut point
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Zugang von Samuel Henzi zu Louis Bourguets Bibliothek und seinen Handschriften und damit Leibnizbriefen, der mich veranlasste, Bourguets Nachlass anzusehen. Ich sehe mich schon deshalb belohnt, weil ich auf diese Weise den interessanten Briefwechsel zwischen Bourguet und Hermann5 kennenlernte und darüber hinaus von der engen Freundschaft zwischen diesen beiden Männern erfahren habe. Jacob Hermann war aber derjenige Korrespondent von Leibniz, den Samuel König aufgrund der Mitteilung von Samuel Henzi als Adressaten eben dieses Leibnizbriefes benannt hatte6. Damit ergab sich für mich auch eine weitere Verbindung des Bourguet-Nachlasses zum umstrittenen Leibnizbrief. Der Nachlass Bourguets und vor allem die darin erhaltenen Originalbriefe von Jacob Hermann gehören aber genau in den Zeitrahmen dieser Konferenz. Darüber hinaus dokumentieren sie eine Form der Leibnizrezeption, die bisher in unserer Wahrnehmung eher unterrepräsentiert ist7, nämlich die frühe Rezeption eines damals noch weitgehend ungedruckten Leibnizwerkes, der Dynamik, die eines der zentralen Themen war, an denen er bis an sein Lebensende intensiv arbeitete8. Bevor ich mich dem Briefwechsel zwischen Jacob Hermann und Louis Bourguet selbst zuwende, möchte ich die beiden Korrespondenten sowie ihre jeweilige Beziehung zu Leibniz vorstellen. Dabei werde ich im Fall Hermanns auch einen Exkurs zu Leibniz’ besonderem Interesse an diesem jungen Schweizer Mathematiker unternehmen, so dass dieser erste Teil wiederum aus zwei Teilen besteht. 1. JACOB HERMANN – TEIL I Jacob Hermann wurde am 16. Juli 1678 in Basel geboren und schloss dort 1700 sein Theologiestudium ab9. Wie Leonhard Euler war er zwar kein Blutsverwandter, gehörte aber gewissermaßen zur Bernoulli-Dynastie. Er hatte mit Jacob Bernoulli
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avoir de querelle avec qui que ce soit sur ces assertions. […] La seule chose qu’il se propose de prouver, c’est, qu’il a reçu ces Lettres telles qu’elles sont“ (König: Appel au public, Leiden 1752, S. 165–166). König zitiert die ganze Passage noch einmal in einer Fußnote in seiner Defense de l’appel au public (Leiden 1753, S. 52–53, Anm. †). Nach diesem Zettel war der umstrittene Brief von Leibniz an Jacob Hermann gerichtet. Die auf Henzi zurückgehende Information Königs über die Adressaten der von ihm im Frühjahr 1745 an König gesandten vier Briefe ist bekanntlich völlig korrekt im Fall der drei anderen Briefe, von denen Abfertigungen in Hannover gefunden wurden. BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6. S. König: Appel (siehe Anm. 4 oben). Zur Bedeutung von Jacob Hermann für die Verbreitung der Infinitesimalrechnung in Italien vgl. jedoch die instruktive Arbeit von Silvia Mazzone und Clara S. Roero: Jacob Hermann and the Diffusion of the Leibnizian Calculus in Italy, Firenze 1997. Siehe Leibniz’ Brief an Remond, der weiter unten zitiert wird, bei Anmerkung 33. Wenn nicht anders erwähnt, stützen sich meine biographischen Informationen auf Fritz Nagel: „Jacob Hermann, Skizze einer Biographie“, in: F. Nagel/A. Verdun (Hrsg.): „Geschickte Leute, die was praestiren können…“. Gelehrte aus Basel an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts, Aachen 2005, S. 55–75.
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in Basel die Leibniz-Bernoulli’sche Infinitesimalrechnung sowie Newtons Principia mathematica studiert und – nach Jacob Bernoullis Tod 1705 – seine mathematischen Studien mit Johann Bernoulli fortgesetzt. Damit gehörte er bereits als sehr junger Mann zu dem kleinen Kreis der in diese modernste Mathematik Eingeweihten. Seine ersten Lorbeeren erwarb er sich bereits 1700 mit der Verteidigung von Leibniz’ Differentialrechnung gegen Bernard Nieuwentijt10. Nicht nur bewies er dabei seine Beherrschung der neuen Mathematik, er vermochte auch ihre umstrittenen Grundlagen methodisch zu verteidigen, was ihm den Applaus von Jacob und Johann Bernoulli und natürlich von Leibniz einbrachte11. 1701 trat er mit seinem Freund Jakob Gysi eine Grand Tour an, die ihn nach Paris, London und Groningen führen sollte. In London verfehlte er Newton, machte aber die Bekanntschaft von Abraham de Moivre, mit dem er das Interesse an Wahrscheinlichkeitsproblemen teilte, das er von Jacob Bernoulli geerbt hatte. Nach Groningen ging er wegen Johann Bernoulli, mit dem er seitdem korrespondierte. Natürlich war Leibniz bereits seit Jacob Hermanns Verteidigung der Differentialrechnung gegen Nieuwentijt auf den Schweizer Mathematiker aus der BernoulliSchule aufmerksam geworden. Nachdem Jacob Bernoulli in einem Schreiben vom 3. Oktober 1703 Leibniz um eine Empfehlung für Hermann für die vakante Professur in Halle gebeten hatte12, und sich Johann Bernoulli zusammen mit Leibniz für die Berufung Hermanns auf einen Lehrstuhl in Utrecht und Leiden verwendet hatte13, setzte sich Leibniz seit 1704 bei Fardella dafür ein, dass Hermann die vakante Mathematikprofessur an der Universität Padua erhielt14. Natürlich verfolgte Leibniz dabei auch das Ziel, dass die Differentialrechnung ihren Siegeszug auch in Italien antreten sollte, nachdem das durch L’Hospital mit Unterstützung Johann Bernoullis in Frankreich gelungen war. Beim Padua-Projekt musste Leibniz aber nicht nur, gemeinsam mit Fardella, den Widerstand der konservativen Partei in Padua gegen die von den dortigen „Reformatores“ betriebene Einstellung eines Ausländers, noch dazu eines Reformierten überwinden15, sondern auch den von Hermann16, der Bedenken hinsichtlich seiner Religionsfreiheit im katholischen Italien hatte. 10 J. Hermann: Responsio ad Clarissimi Viri Bernh. Nieuwentiit considerationes secundas circa calculis differentialis principia, Basel 1700. 11 F. Nagel: „Nieuwentijt, Leibniz und Jacob Hermann on Infinitesimals“, in: U. Goldenbaum/D. Jesseph (Hrsg.): Infinitesimal Differences. Controversies between Leibniz and his Contemporaries, Berlin/New York 2008, S. 199–214. 12 Jacob Bernoulli an Leibniz am 3. Oktober 1703, in: GM III.1, 79. 13 Vgl. die Schreiben von Johann Bernoulli an Leibniz vom 15. Januar 1704 und von Leibniz an Bernoulli vom 20. Januar 1704, in: GM III.2, 737 und 743. 14 Leibniz an Jacob Bernoulli am 28. November 1704, in: GM III.1, 92–93. Robinet hat den gesamten Vorgang der Verhandlungen und des Briefwechsels dieser Berufung dargestellt. Siehe A. Robinet: L’empire leibnizien: La conquête de la chair de Mathématiques de l’Université de Padoue. Jacob Hermann et Nicolas Bernoulli (1707–1719), Trieste 1991, S. 83–147. 15 Siehe ebd., S. 88–93. 16 Hermann bringt dieses Problem selbst in seiner ersten Antwort auf Leibniz’ Vorschlag der Padua-Professur auf (Hermann an Leibniz am 15. Oktober 1704, in: GM IV, 260). Am 11. März 1705 thematisiert Hermann das Problem der reformierten Religion in Hinblick auf seinen
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Die Verhandlungen zur Besetzung dieser Professur zogen sich bis zum Frühjahr 170717. Im Sommer 1707 reiste Hermann dann endlich nach Padua und hielt dort im November seine Antrittsvorlesung. Leibniz ebnete ihm später auch den Weg an die Universität Frankfurt an der Oder, wo Hermann 1713 die vom Cartesianer Leonhard Christoph Sturm verlassene Professur übernahm18, und sorgte schon 1707 für die Aufnahme des jungen Schweizer Mathematikers in die Berliner Akademie19. Außer Christian Wolff gab es sicher keinen anderen jungen Gelehrten, der von Leibniz so außerordentlich gefördert wurde. 1723 war es dann Wolff, der Hermann an die Petersburger Akademie empfahl. Erst 1727 gelang es Hermann, einen Lehrstuhl in seiner Heimatstadt Basel zu erlangen, allerdings für Moralphilosophie. Da er seinen alten Vertrag in Petersburg nicht vorzeitig auflösen konnte, musste er sich noch bis zum Ende des Jahres 1731 in Basel vertreten lassen. Er konnte die neue Position aber nicht mehr lange genießen und starb schon am 11. Juli 1733, kurz nach seinem 55. Geburtstag. Zu seinen letzten Schülern sowohl in der Mathematik und Dynamik als auch in der Moralphilosophie gehörte Samuel König20. Jacob Hermann gehört zur ersten Generation von Mathematikern, die die damals noch junge und umstrittene Differentialrechnung bereits als Studenten kennenlernten und weiter entwickelt haben. Vor allem aber gehört er zu jenen ersten Naturwissenschaftlern, die diese moderne Mathematik auf dynamische Probleme anwandten, wobei sie sowohl von Newton als auch von Leibniz lernten. Entgegen dem verbreiteten Stereotyp traditioneller positivistischer Wissenschaftsgeschichte, wonach die moderne Wissenschaft Newton gefolgt sei und sich empirisch orientiert habe, statt sich in Leibniz’schen metaphysischen Spekulationen zu verirren, ist die moderne Physik und Dynamik der Bernoulli-Schule in Basel mit Euler an der Spitze aus einer Transformation von Newtons Theorie in Leibniz’sche Mathematik hervorgegangen. Domenico Bertoloni Meli hat überzeugend gezeigt, dass diese Transformation kein bloßer Wechsel der mathematischen Notation gewesen ist, sondern eher einer Transformation von einem Werkzeugsatz in einen anderen gleichkam,
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Wechsel nach Padua auch gegenüber seinem Freund Johann Jakob Scheuchzer (Zentralbibliothek Zürich, Ms H 347, 226). Siehe für eine ausführliche Rekonstruktion von Leibniz’ und Fardellas Überzeugungsarbeit A. Robinet: L’empire leibnizien (wie Anm. 14), S. 94–97 und S. 107–110. Im November hielt Hermann seine Antrittsvorlesung, von der Fardella einen Auszug an Leibniz sandte, in einem Brief vom 12. Dezember 1707 (A. Robinet: L’empire leibnizien [wie Anm. 14], S. 136 f.). Vgl. den Leibniz-Hermann Briefwechsel in der ersten Hälfte des Jahres 1711, in: GM IV, 365–371. GM IV, 316. Daniel Bernoulli berichtet an Euler, dass neben einigen Fremden auch ein „gewisser König aus Bern“, bei Johann und Daniel Bernoulli Collegia gehalten und „in Mathematicis sehr weit gekommen ist“. (Daniel Bernoulli an Euler am 4. Juni 1735, in: Correspondance mathématique et physique des quelques célèbres géomètres du VIIIème siècle, 2 Bde., St. Petersbourg 1843–1845, hrsg. von P.-H. Fuss, St. Petersbourg 1843–1845, Bd. 2, S. 426). Hermann teilt seinem Freund Bourguet am 3. Januar 1733 mit, dass er sehr beschäftigt sei mit Lektionen in Mathematik für zwei Herren aus Bern, die sehr interessiert seien. Einen habe er in Newtons Principia eingeführt. Siehe BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, 47, 84r.
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wobei jeder andere Möglichkeiten eröffnete, Probleme zu lösen21. Die heuristische Bedeutung dieser Transformation und damit der Bernoulli-Schule in Basel geht schon daraus hervor, dass die Entwicklung der modernen Dynamik im 18. Jahrhundert nicht in England, sondern auf dem Kontinent erfolgte, und zwar in engem Anschluss nicht nur an Newtons Gravitationstheorie, sondern zugleich an die Leibniz’sche Infinitesimalrechnung22. Es sei unterstrichen, dass sogar Leonhard Euler, trotz seiner wachsenden Feindseligkeit gegen Wolff und auch gegen Leibniz, aus dieser Leibniz’schen mathematischen Tradition in Basel hervorging23, die sowohl durch die Leibniz’sche Mathematik als auch durch ein intensives Studium der Newton’schen Principia gekennzeichnet war24. Jacob Hermann hatte schon in Basel auch angewandte Mathematik, das heißt Mechanik bzw. Dynamik gelehrt, wie er Leibniz auf dessen Anfrage berichtete25, nicht zuletzt durch sein Studium von Newtons Principia. Auch scheint er sich schon vor dem Projekt der Padua-Professur über die wissenschaftliche Entwicklung Italiens auf dem Laufenden gehalten zu haben26. Am 21. August 1706 schrieb Hermann an Leibniz, dass er sich über den mathematischen Stand der Vorlesungen in Italien informiert habe und dagegen mit seinen Baseler Collegia zur angewandten Geometrie und Fortifikationskunst durchaus bestehen könne27. Leibniz hatte offenbar die Bedürfnisse der Republik Venedig an diesen Themen thematisiert. Nicht nur hatte Venedig Kanäle, die technische Herausforderungen darstellten, es besaß auch das berühmte Arsenal, die größte technische Werkstatt oder eher Manufaktur Europas in
21 Siehe D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority: Newton versus Leibniz. Including Leibniz’s Unpublished Manuscripts on the Principia, London 1993, S. 202. 22 Bertoloni Meli beschreibt diese Situation in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: „By the middle of the [18th] century, whilst British mathematicians were still struggling with diagrams and a cumbersome geometric notation, Continental mathematicians were beginning to investigate equations in several independent variables, partial differentiation, and even simple but effective new representations involving rotating axes. As a result, entire fields such as the study of elasticity, celestial mechanics, and the theory of rigid bodies were transformed by Daniel Bernoulli, Alexis Clairaut, Jean d’Alembert, and especially Leonhard Euler“. (Ebd.). 23 Zur Bedeutung der durch Leibniz verfochtenen neuen teleologischen Denkweise und ihrer Bedeutung für die Variationsrechnung vgl. A. Kneser: Das Prinzip der kleinsten Wirkung von Leibniz bis zur Gegenwart, Leipzig 1928, S. 19; siehe auch Fleckenstein: Vorwort des Herausgebers zu: Euler: Opera omnia, II, 5, S. XXXIV–XL. 24 Zur mathematischen Ausbildung Eulers in Basel vgl. R. Calinger: „Euler’s First St. Peterburg Years“, in: Historia mathematica 23 (1996), S. 121–166, S. 123–124. In seiner Baseler Dissertation verglich Euler die Naturphilosophien von Descartes und Newton (ebd., S. 123). Calinger verweist darauf, dass Euler das Brachistrochroneproblem im Alter von 18 Jahren in Basel studierte und es 1727 mit Jacob Hermann in Petersburg diskutierte (ebd., S. 141–143). 25 Hermann an Leibniz am 15. Oktober 1704; GM IV, 260. 26 Wie er seinem Freund Johann Scheuchzer am 23. Januar 1704 mitteilte, hatte er Bücher aus Italien über Flüsse, Architektur etc. erhalten. (Siehe Hermann an Johann Jakob Scheuchzer am 23. Januar1704, in: Zentralbibliothek Zürich, Ms 318 H). 27 GM IV, 300.
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der frühen Neuzeit, das sogar Galilei in der Eröffnung seiner „Nuova Scienza“ als Inspiration seiner Überlegungen zur neuen Wissenschaft der Mechanik anführt28.
2. EXKURS: LEIBNIZ’ INTERESSE AN JACOB HERMANN Ganz offenbar war die Beziehung von Leibniz zu Hermann die eines großen Gelehrten und Wissenschaftlers zu einem vielversprechenden jüngeren Kollegen, der den älteren bewunderte und ihm für seine Unterstützung dankbar war. Darüber hinaus war Leibniz aber seit seinem Studium von Newtons Principia mathematica 1687/1688 intensiv auf der Suche nach mathematischen Bündnispartnern, die ihm bei der Suche nach einer alternativen Theorie der Erklärung der Gravitation helfen konnten. Wie Bertoloni Meli gezeigt hat, arbeitete Leibniz seitdem an einer eigenen Theorie der Planetenbahnen und zugleich an seiner Dynamik. Diese Arbeit wurde nicht so sehr unterbrochen als angefeuert durch all die Kontroversen über sein Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte in den 1690er Jahren – mit Johann Bernoulli, Denis Papin, und De Volder29. Seine Briefwechsel mit Johann Bernoulli, aber auch mit Varignon, und dann vor allem mit Hermann zeigen, wie er seinen Korrespondenten nicht nur seine physikalischen Überlegungen, sondern auch seine metaphysische Grundlegung der Dynamik nachvollziehbar zu machen suchte. Dass Leibniz bis zuletzt nicht das letzte Wort über seine Dynamik gesprochen hatte, geht schon aus seinem Zögern hervor, den zweiten Teil des Specimen dynamicum zu veröffentlichen, trotz des Drängens der Herausgeber der Acta Eruditorum30. Auch seine französischen Leser wurden von Leibniz vertröstet31 und es scheint, dass auch Hermann nie die ihm von Leibniz versprochenen „Elementa dynamica“ erhalten hat. Schon Samuel König und dann Immanuel Gerhardt verwiesen darauf, dass sich dieses Zögern aus den Schwierigkeiten erklären lässt, die die Korrespondenten mit Leibniz’ metaphysischer Grundlegung der Dynamik hatten32. 28 „The constant activity which you Venetians display in your famous Arsenal to the studious mind a large field for investigation, especially that part of the work which involves mechanics; for in this department all types of instruments and machines are constantly being constructed by many artisans, among whom there must be some who, partly by inherited experience and partly by their own observations, have become highly expert and clever in explanation“ (G. Galilei: Dialogues Concerning Two New Sciences, übersetzt von H. Crew und A. de Salvio, mit einer Einleitung von A. Favaro, New York 1954, S. 1). 29 Vgl. E. J. Aiton: Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Biographie, übersetzt von Ch. Goldmann und Ch. Krüger, Frankfurt a. M./Leipzig 1991, S. 277–287 und S. 341 f.; A. G. Ranea: „The a priori Method and the actio Concept Revised“, in: Studia Leibnitiana 21, 1 (1989), 42–68; siehe auch D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority (wie Anm. 21), S. 75. 30 Vgl. Otto Mencke am 13.(23.) März, am 1.(14.) September und am 6.(16.) November 1695, in: A I, 11, 341 f. und 695, sowie A I, 12, 126. 31 H.-J. Heß und J. G. O’Hara: Einleitung zu A III, 6, XXI–LXXV, siehe besonders den zweiten Abschnitt zur Dynamik und Naturphilosophie XXXIV–XXXIX, XXXV. 32 S. König: Appel (wie Anm. 4), S. 87–95. Diese Seiten enthalten eine hochinteressante Diskussion von Leibniz’ Strategie des Diskurses nicht nur mit Johann Bernoulli, sondern auch mit
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Aber Leibniz scheint in den 1690er Jahren und auch noch danach mit seiner Dynamik selbst noch nicht zufrieden gewesen zu sein. Noch in seinem letzten Lebensjahr schreibt er an Remond: Ma dynamique demanderoit un ouvrage exprès; car je n’ay pas encore tout dit ny communiqué ce que j’ay à dire la dessus. Vous avez raison, Monsieur, de juger que c’est en bonne partie le fondement de mon systeme, parce qu’on y apprend la difference entre les verités dont la necessité est brute et geometrique, et entre les verités qui ont leur source dans la convenance et dans les finales33.
Leibniz und seine Nachfolger werden oft als Gegner von Newtons Gravitationstheorie belächelt, der sie nichts entgegenzustellen wussten. Tatsächlich aber kritisierte Leibniz nur Newtons Metaphysik, nicht aber seine Physik. Leibniz war vielmehr von Anfang an tief von Newtons wissenschaftlicher Leistung beeindruckt und brachte das auch mehrfach zum Ausdruck34. Jedoch war er seit seinem ersten Lesen der Principia mathematica alarmiert über die der Gravitationstheorie zugrundeliegende Newton’sche Metaphysik, insbesondere in Bezug auf die Annahme von Atomen und des leeren Raumes sowie einer Anziehungskraft der Materie35. So schreibt er noch am 5. August 1715 an Bourguet, als seine Beziehung zu den Engländern bereits auf dem Tiefpunkt angelangt war: Nous accordons et nous soutenons avec eux, et nous avons soutenu avant qu’ils l’ayent fait publiquement, que les grands globes de notre systeme, d’une certaine grandeur, sont attractifs entre eux: mais comme nous soutenons, que cela ne peut arriver que d’une manière explicable, c’est à dire par une impulsion des corps plus subtils, nous ne pouvons point admettre que l’attraction est une proprieté primitive essentielle à la matière, comme ces Messieurs le pretendent. Et c’est cette opinion qui est fausse, et établie par un jugement precipité, et ne sauroit etre prouvée par les phenomènes36.
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Huygens und l’Hospital. Auch Gerhardt konstatiert: „Leibniz fand an Joh. Bernoulli einen hartnäckigen Gegner, der sich jedoch zuletzt zu Leibnizens nicht geringer Genugthuung für das Prinzip desselben erklärte“. (Gerhardts Einleitung zum Briefwechsel Leibniz-Johann Bernoulli in: GM III, 117. Vgl. dazu neuerdings auch V. De Risi: Geometry and Monadology. Leibniz’s „Analysis Situs“ and Philosophy of Space, Basel/Boston/Berlin 2007, S. 103–105, 109, 237, 546–549). Leibniz an Remond, 22. Juni 1715; GP III, 645. Siehe z. B. Leibniz’ Brief an Burnet vom 8./18. März 1697; Dutens VI, 250. Die beste Darstellung über Leibniz’ Haltung gegenüber Newton findet sich in Bertoloni Melis Untersuchung zu Leibniz’ Auseinandersetzung mit Newton, der die grundsätzliche philosophische Opposition von Leibniz unterstreicht (D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority [wie Anm. 21], S. 95–104. Er schreibt: „Leibniz had a mixed reaction to the approximately 500 pages of the Principia: he criticized the lemmas on the first and last ratios in section 1, book I, but was most impressed by the generalization of Kepler’s area law in proposition 1“ [ebd., S. 95]). Bertoloni Meli hält fest: „The reading of Newton’s masterpiece, from the Notes, where Leibniz immediately recorded the words vacuum necessario datur, to the Excerpts, where he missed virtually no passage on vortices, was a crucial factor in the reorganization of his priorities and shaping of his ideas and strategy“. (D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority [wie Anm. 21], S. 169). Leibniz an Bourguet, zitiert nach L. Isely: „Leibniz und Bourguet. Correspondence et Philosophique (1707–1716)“, in: Société neuchâteloise des sciences naturelles. Bulletin, XXXII (1903–1904), Neuchâtel 1904, S. 173–214, S. 201 f. (Hervorhebung der Verfasserin).
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Wegen dieser grundlegenden Gefahr für die moderne Wissenschaft, die Leibniz in der Zugrundelegung einer mysteriösen Anziehungskraft der Materie sah, veröffentlichte er schon im Februar 1689 in den Acta Eruditorum drei inhaltlich zusammengehörende Aufsätze. Im zentralen Tentamen motuum coelestium (worin er den Eindruck zu erwecken suchte, dass er selbst die Principia noch nicht gelesen hatte, sondern nur 1688 eine Rezension davon in den Acta Eruditorum)37 legte er die erste öffentliche Anwendung seiner Infinitesimalrechnung auf ein komplexes mechanisches Problem vor38. Bertoloni Meli, der 1993 den Nachweis führen konnte, dass Leibniz tatsächlich Newtons Principia kannte, als er das Tentamen veröffentlichte, zeigte zugleich, dass Leibniz’ Herangehensweise durchaus eigenständig und vor allem mathematisch überzeugend war39. Es war die Aufgabe des Tentamen, eine mathematisch alternative Theorie der Planetenbahnen vorzulegen, die in der Lage war, die Phänomene ohne Rückgriff auf eine mysteriöse Anziehungskraft der Materie kausal zu erklären40. Angesichts der kurzen Zeit und der schwierigen Arbeitsbedingungen von Leibniz während seiner Reise nach Wien und nach Italien, ist es bewunderungswürdig, was er in diesem Aufsatz erreichte. Leibniz zerlegte die Kraft der um die Sonne kreisenden Planeten in drei Kräfte – eine harmonische Kreisbewegung sowie Zentripetal- und Zentrifugalkräfte, wobei die letzteren sich nicht gleich sein mussten wie bei Newton. Für Leibniz war die harmonische Kreisbewegung die Geschwindigkeit, mit der die Planeten von einem flüssigen Wirbel um die Sonne bewegt werden; sie ist umgekehrt proportional zum Radius. Die Zentripetal- und Zentrifugalkräfte aber werden von Leibniz als parazentrische Kraft zusammengefasst, da sie vom oder zum Zentrum wirken entlang einer rotierenden Strecke. Die Kombination dieser Kräfte produziert elliptische Orbits41. Leibniz’ Überlegungen zu einer alternativen Theorie der Planetenbewegungen standen aber in engem Zusammenhang mit seinem Kraftbegriff, den er bereits seit den 1680er Jahren in Auseinandersetzung mit Descartes entwickelt hatte. Die so berühmte Leibniz’sche Unterscheidung zwischen toter und lebendiger Kraft findet sich zuerst im Tentamen öffentlich gemacht42. Die tote Kraft ist definiert als der Beginn der Bewegung, als der Conatus, der sich in lebendige Kraft verwandelt, und zwar mathematisch beschrieben durch die Integration der Conatus oder der Sollizitationen über eine infinitesimale Distanz hinweg. Dabei spielt die Zeit keine Rolle, 37 Die Rezension wurde von Christoph Pfautz in den Acta Eruditorum besprochen (Juni 1688, S. 303–315). 38 D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority (wie Anm. 21), S. 150. 39 „Leibniz’s claim to originality is based on his demonstrations of the area law and inverse-square law being different from Newton’s“. (Ebd., S. 116). 40 Bertoloni Meli bringt Leibniz’ Problem in diesem Drama sehr genau auf den Punkt: „[T]he task of the Tentamen was to attain a theory mathematically equivalent to Newton’s in accounting for planetary motion and especially for the inverse-square law and Kepler’s laws, but physically sound and capable of explaining the causes of phenomena. The physical cause of planetary motion had to be ascribed to a fluid rotating around the Sun“. (Ebd., S. 23). 41 Vgl. E. J. Aiton: Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Biographie (wie Anm. 29), S. 225–230. 42 Siehe D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority (wie Anm. 21), S. 87.
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die erst im Begriff der Aktion zum Tragen komme, wie Leibniz in Briefen an Hermann im Jahre 1712 unterstreicht43. Leibniz’ Grundbegriffe seiner Dynamik hatten unmittelbare Konsequenzen für seine Theorie der Planetenbewegung. Zu diesen gehört auch seine beständige Bevorzugung der geradlinig gleichförmigen Bewegung vor der gleichförmig beschleunigten Bewegung in seinen Berechnungen, worin er von Newton und Varignon abwich, die beide einerseits mit kontinuierlicher Beschleunigung und andererseits mit Polygonen statt mit Ellipsen arbeiteten, also diskreten und nicht kontinuierlichen Kurven44. Leibniz behandelte die Planetenorbits durchgängig als Polygone mit unendlich vielen, unendlich kleinen Seiten, wobei der Körper sich mit geradlinig gleichförmiger Bewegung solange geradlinig auf einer dieser Seiten bewegte, bis er durch einen neuen Conatus zur nächsten Seite bewegt wurde. Es ist klar, dass für Leibniz eine gekrümmte Bewegung nur durch zusammengesetzte Kräfte entstehen konnte45. Aber auch, wenn Leibniz im Tentamen sehr viel erreicht hatte in seinem Bemühen, eine alternative Erklärung der Planetenbahnen zu Newtons Gravitationstheorie hervorzubringen, musste er am Ende zwei Probleme konstatieren, die noch zu lösen wären: Zum einen fehlte ihm eine Erklärung, welche Bewegung des Äthers die Planeten schwer mache und sie zur Sonne treibe, zum anderen eine Erklärung der Ursache der Beziehung der verschiedenen Planetenbewegungen desselben Systems. Leibniz wollte das durch ein besseres Verständnis der Bewegung des Sonnenwirbels oder des Äthers herausfinden, der jedes einzelne System konstituiere46. Es wird Leibniz bekanntlich bis an sein Lebensende nicht gelingen, diese von ihm benannten offenen Probleme zu lösen. Ungeachtet dessen musste er aber die Wirbeltheorie beibehalten, um die mysteriöse Anziehungskraft zu vermeiden, weil er an dem grundlegenden Paradigma neuzeitlicher Naturwissenschaft und Philosophie seit Galilei festhielt, dass Körper allein durch Impulse von anderen Körpern bewegt werden konnten. Darum lehnte er die Anziehungskraft der Materie als okkulte Qualität ab, worin er übrigens mit Christiaan Huygens übereinstimmte. Diese Situation war aber für Leibniz sehr unbefriedigend und so suchte er nach Bündnispartnern und war bereit, in seinen Briefwechseln mit großer Geduld seine Position zu erklären und vor allem die Widersprüche aufzuzeigen, die sich aus der verkehrten Annahme von Atomen und der Anziehungskraft als Eigenschaft der Materie ergeben mussten. Anders als in der Kontroverse mit Papin, von dem Leibniz wenig erwartete, obwohl er ihn als Experimentator schätzte47, hatte Leibniz sich mit größter Geduld bemüht, den großen Mathematiker und Physiker Johann Bernoulli 43 Leibniz an Hermann am 9. September 1712; GM IV, 378–381 sowie am 1. Februar 1713; Ebd., 380–390. 44 Vgl. D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority (wie Anm. 21), S. 163. 45 Ebd., S. 88 f. 46 Vgl. den letzten Paragraphen in Leibniz’ Tentamen, in: Acta Eruditorum, Februar 1689 (siehe GM VI, 161; eine englische Veröffentlichung findet sich in D. Bertoloni Meli: Equivalence and Priority [wie Anm. 21], S. 126–142). 47 Vgl. Leibnizens und Huygens’ Briefwechsel mit Papin, nebst der Biographie Papin’s und einigen zugehörigen Briefen und Actenstücken, bearb. und hrsg. von E. Gerland, Berlin 1881, S. 124 f.
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in der Kontroverse über die lebendigen Kräfte auf seine Seite zu ziehen. Er sah sich denn am Ende auch belohnt48. In Jacob Hermann aber scheint Leibniz die große Hoffnung gesetzt zu haben, dass dieser begabte junge Mathematiker aus der Schule der Bernoullis (und so in gewisser Weise auch aus der von Leibniz) ganz für seine Dynamik gewonnen werden könne, und zwar nicht nur für seine physikalische Dynamik, sondern auch für die dieser zugrundeliegenden Leibniz’schen Metaphysik. Offensichtlich sah er in Hermann auch jemanden, der aufgrund seiner mathematischen Begabung in der Lage sein könnte, die offenen Probleme der Planetenbewegungen im Rahmen einer Wirbeltheorie unter Vermeidung der Anziehungskraft zu lösen. 3. JACOB HERMANN – TEIL II Wenn Euler (und in gewisser Weise sogar Gerhardt) die überlieferte Leibniz-Korrespondenz mit Hermann als überwiegend mathematisch ansehen49, weil der Kraftbegriff darin erst 1713 auftauche, so ist das sachlich unzutreffend. Ungeachtet der Lücken in diesem Briefwechsel, die so ein apodiktisches Urteil problematisch machen, ist klar, dass Leibniz den jungen Mathematiker schon sehr früh, nämlich am 17. September 1706 auf seine Arbeit zur planetaren Bewegung hingewiesen hat, bei Gelegenheit seiner kurzen Antwort auf David Gregorys Kritik an seinem Tentamen50. Gregory habe sich über die Wirbeltheorie mokiert, obwohl er, Leibniz, gezeigt habe, dass ein solcher Wirbel der Bewegung begriffen werden kann und wirklich aus seinen Begriffen folge. Zugleich verweist Leibniz auf Flamsteeds Klagen über Newtons unzureichende Beobachtungen und erwägt eine Edition der über 30 Jahre reichenden Beobachtungen des Berliner Astronomen Gottfried Kirch. Er scheint auch Schriften mitgesandt zu haben, denn Hermann bedankt sich im nächsten
48 H.-J. Heß/ J. G. O’Hara: Einleitung zu A III, 6 (siehe Anm. 31 oben). 49 Euler schreibt in einer Fußnote zu seiner Edition des Leibniz-Hermann-Briefwechsels nach Leibniz’ Brief an Hermann vom 21. Juli 1707: „C’est icy que devroit se trouver la lettre citée par M. Koenig du 16 Octobre 1707. Elle ne s’y trouve point: Elle n’a ni la liaison ni le rapport qu’elle devroit avoir avec celle qui la devoit precede, ni avec celle qui la devoit suivre, ni avec aucune des autres de ce recueil: en un mot, on ne sauroit faire, pour la maintenir, de supposition qui ne fût pleine d’inconsequences. Au milieu d’un long commerce de Lettres toutes Latines & toutes Mathématiques, on verroit Leibnitz tout à coup changer de Langue & de Texte, écrire une Lettre française pleine de Métaphysique à un Allemand avec lequel il n’a jamais parlé de Métaphysique; lui prédire l’étonnante propriété des Polypes; lui reveler des découvertés don’t il n’a jamais dit un mot à Bernoulli, avec qui il étoit biens dans un autre commerce d’intimité & de sublimité, le principe de la moindre quantité d’Action, des Merveilles de la Physique céleste qu’il auroit mieux aimé cacher à son ami & au public que de jouir de la gloire qu’en a tirée M. Euler lorsqu’il les a découvertes quarante ans après par des routes qui n’étoient ni frayées ni connues du tems de Leibnitz“. (Histoire de l’Académie Royale, Berlin 1757, S. 451–522, hier S. 500, Hervorhebung der Verfasserin) Gerhardt sagt das in seiner Einleitung zum LeibnizHermann-Briefwechsel auch (GM IV, 258). 50 GM IV, 305.
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uns erhaltenen Schreiben dieser Korrespondenz51. Hermann erwartet Leibniz’ Antwort auf Gregory mit Ungeduld und gibt ein eher kritisches Urteil über die astronomischen Leistungen dieses Mathematikers hinsichtlich dessen Behandlung von Cassinis Ellipsen52. Am 18. Januar fordert Leibniz dann den jungen Mathematiker auf, den erwähnten Fehler in Gregorys Urteil über die „Ovales Cassiniana“ ins Licht zu setzen und fügt eigene Überlegungen hinzu, wonach die Infinitesimalrechnung Vorteile bei deren Behandlung biete53. Hermann antwortet am 19. März 1707, dass Gregory in seiner Behandlung des astronomischen Problems, die Wege der Planeten zu finden, dies nur für kreisförmige und konzentrische Bahnen in derselben Ebene leiste, was sehr einfach sei. Dagegen habe er das Problem allgemein gelöst. Er schicke seine Lösung, damit Leibniz diese beurteilen möge54. Das Ergebnis ist Hermanns früher Aufsatz über das Auffinden der Planetenbahnen, der also ganz offensichtlich von Leibniz initiiert worden ist55. Am 11. Mai 1707 hat Hermann noch nichts von Leibniz gehört. Er geht diesmal ausführlich auf den von Gregory begangenen „Paralogismus“ ein. Zugleich gibt er auch seine Sicht der neuen von Leibniz erwähnten Arbeit von Parent zur Schwerkraft und kommt auch auf Huygens’ Auffassung dazu zu sprechen56. Am 26. Mai bestätigt Leibniz den Eingang von Hermanns Aufsatz und ist voll des Lobes. Er sichert dem begabten jungen Mathematiker sogleich die Veröffentlichung in den Miscellanea der Berliner Akademie zu57, deren erster Band allerdings erst 1710 mit großer Verspätung erscheint. Am 24. Juni 1707 fordert er Hermann auf, ihm sein Urteil über Parents neues Buch zu senden58. Zugleich teilt er ihm mit, dass er Hermann anlässlich seines Aufsatzes zur Aufnahme in die Berliner Akademie vorschlagen wird. Er wünscht eine gute Reise nach Padua und rät dem jungen Mann, sich im neuen Umfeld seines Wirkens durch Klugheit vor Neid und unpassender Neugier zu hüten. Hermann erhält diesen Brief einen Tag vor seiner Abreise und beantwortet ihn aus Padua59. Ein Briefwechsel ausschließlich über mathematische Themen? Tatsächlich ist ihre Diskussion bestimmt vom Thema der Planetenbahnen, der Schwerkraft und später zunehmend der Dynamik, wobei sich Leibniz bemüht, den jungen Mathematiker in seine Dynamik einzuführen.
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Hermann an Leibniz im Januar 1707; GM IV, 306. Ebd., 307. Ebd., 308. Ebd., 313. J. Hermann: „Dissertatio qua explicatur methodus generalis puncta stationum in orbitis planetariis determinandi“, in: Miscellanea Berolinensis, Bd. 1 (1710), S. 197–201. GM IV, 311. Ebd., 314. Ebd., 316. Ebd., 319. Am 29. Februar 1708 schickt Leibniz ein Exzerpt aus Newtons Arithmetica universalis an Hermann, verbunden mit der Aufforderung, dessen Vorhaben, die Teiler für eine oder zwei Dimensionen zu untersuchen, auf mehrere Dimensionen auszudehnen. Der Austausch darüber wird sich etwas hinziehen und am 6. September 1708 schickt Leibniz ein eigenes Manuskript dazu an Hermann (Ebd., 335–339).
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Nach seiner Ankunft in Padua wohnte Hermann seit August 1707 bei Fardella60, von dem er sehr angetan war61, vor allem im Kontrast zu seinen Befürchtungen hinsichtlich der Religionsfreiheit. Es scheint, dass Hermann durch diesen bereits in das Geheimnis von dessen heimlichen Konfessionswechsel zum Protestantismus eingeweiht wurde62. Offensichtlich hatte Fardella dafür gesorgt, dass Hermann sowohl in Padua als auch in Venedig63 mit großen Erwartungen begrüßt wurde. Während die Eröffnungsvorlesung an der Universität Padua im November 1707 der Bedeutung der Infinitesimalrechnung gewidmet war, wie Hermann an Leibniz schrieb64, lehrte Hermann in Padua im ersten Jahr Euklidische Geometrie und machte im zweiten Jahr mechanische Probleme und ihre mathematische Behandlung zum Thema der Vorlesungen65. Nachdem er den gesamten Kurs im Sommer 1709 beendet hatte, entwickelte er den Plan, ein Buch über die Bewegung flüssiger Körper zu schreiben, auf der Grundlage seiner Vorlesungen66. Erst im Prozess des Schreibens entschied er später, vermutlich nicht vor 1710, dass er mit Festkörpern beginnen und flüssige Körper in einem zweiten Teil behandeln würde67. Ab August 1708 thematisierte dann Hermann in seinem Briefwechsel mit Leibniz selbst dessen Dynamik und dessen „inventa dynamica“68. Ein Brief von Leibniz aus dem Herbst 1708 mit Formeln zur Kollision von Körpern ist nicht mehr vorhanden, aber Hermann nennt sie „perelegantes“ und korrekt, allerdings nur für elastische Körper69. Auch fragte er Leibniz nach dessen a-priori Beweis für das Prinzip der lebendigen Kräfte, um ihn in seinen Vorlesungen verwenden zu können. Die Korrespondenz wurde dann mit Diskussionen über Parents und Huygens’ Arbeiten zu Zentrifugalkräften fortgesetzt, die in engem Zusammenhang mit dem Problem der Planetenbewegung aber auch des Kraftbegriffs stehen70. Am 21. März 1709 bat Leibniz den Schweizer Mathematiker, seinen im Oktober 1706 in den Acta Eruditorum erschienenen Aufsatz Illustratio Tentaminis de 60 Ebd., 320. 61 An seinen Freund Johann Scheuchzer schreibt Hermann am 5. November 1707, dass die meisten Professoren der Universität Padua noch sehr in scholastischem Denken befangen wären, von wenigen abgesehen wie Vallisneri, Guilhelmi, und Gratianus. Fardellas Denkweise hebt er aber hervor: „Solus meus eruditissimus hospes [Fardella] cartesianam sui philosophiam publice profitetur“. (Zentralbibliothek Zürich, Ms H 347, St. 38) 62 Vgl. zu Fardella die Einleitung zu: A II, 2, LXXI. 63 S. Mazzone/C. S. Roero: Jacob Hermann and the Diffusion of the Leibnizian Calculus (wie Anm. 7), S. 40, 50–53; siehe auch A. Robinet: L’empire leibnizien (wie Anm. 14), S. 135–141. 64 Ebd. Vgl. auch die durch die von Jallabert initiierten Kopien überlieferter Vorlesungsmanuskripte von Hermann. Siehe O. Spiess: „Über einige neuaufgefundene Schriften der alten Basler Mathematiker“, in: Verhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Basel 56, 1 (1944/1945), S. 86–111, S. 111. 65 Siehe S. Mazzone/C. S. Roero: Jacob Hermann and the Diffusion of the Leibnizian Calculus (wie Anm. 7), S. 41–50. 66 Ebd., S. 69. 67 Ebd., S. 70–73. 68 Hermann an Leibniz am 29. August 1708; GM IV, 334. 69 Hermann an Leibniz am 29. Dezember 1708; GM IV, 342. 70 Hermann an Leibniz am 21. Februar 1709; GM IV, 343.
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Motuum Coelestium Causis, worin er Formulierungen seines Tentamen über Planetenbewegungen verbessert hatte, anzusehen und mit den Darstellungen von Huygens und Parent zu vergleichen71. Am 16. Mai wiederholte Leibniz seine Bitte, diesen Text anzusehen72. Hermann antwortete am 6. Juni. Er begann mit einem Lob einer anderen Schrift von Leibniz und referierte dann dessen Illustratio sowie die Auffassungen von Parent zur Zentrifugalkraft, die er ablehnte. Hermann zögerte aber offenbar, Leibniz’ Auffassung zu folgen73. Von Leibniz Antwort haben wir nur einen Auszug ohne Datum74. Darin forderte er Hermann auf, er möge etwas dazu für die Acta aufsetzen und erklärte ausführlich seine Auffassung der planetaren Bewegung. Es ist dies die erste längere Ausführung zu diesem Leibniz so sehr beschäftigenden Problem in diesem Briefwechsel. Am 29. August antwortete Hermann auf diesen fordernden Brief und legte seine Sichtweise dar – so gern er mit Leibniz übereinstimmen wolle, er könne es nicht75. Da Leibniz nicht antwortete, schrieb er noch einmal am 13. November 1709 und erklärte seine „scrupuli“76. Leibniz hatte aber schon am 24. Oktober geantwortet und diese Diskussion mit dem Ausspruch beendet: „Si tales scrupuli locum haberent, scientiae certitudo labefactaretur“77. Jedoch ging er mit großer Freundlichkeit zu anderen Themen über. Hermann schrieb am 28. November und berichtet über seine Arbeit an einem Buch über die Mechanik flüssiger Körper und andere unverfängliche Themen. Am 13. Februar 1710, als Hermann noch keine Antwort von Leibniz hatte, versicherte er ihm, dass seine abweichende Auffassung nicht so entschieden sei und seine Zweifel durch Leibniz’ Erklärungen bereits entschwunden seien, insbesondere durch deren Übereinstimmung mit der Auffassung von Huygens78. Er werde weiter daran arbeiten und vielleicht etwas für die Acta ausarbeiten79. Im Schreiben vom 11. Januar 1711 ging es Hermann nun um sein Buch, das inzwischen nicht nur die Mechanik flüssiger Körper, sondern auch fester Körper behandeln sollte, in dem es aber auch um die Schwerkraft von Flüssigkeiten in festen Gefäßen wie auch die der Luft ging, wobei Newton ergänzt werden sollte80. Im dritten Teil wollte er über die Bewegung von festen Körpern im flüssigen und widerstehenden Medium schreiben, wobei er einer anderen Methode als Newton und Varignon folgen wolle81. Leibniz’ Antwort vom 4. März ist nicht überliefert. In seiner Antwort vom 9. April sprach Hermann erneut von seinem zu vollendenden
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Er nannte sogar die Seitenzahlen und erklärt seine Auffassung. Ebd., 344 f. Ebd., 345. Ebd., 346 f. Ebd., 348 f. Aus Hermanns Antwort geht hervor, dass er diesen Brief etwa am 8. August 1709 erhielt. Ebd., 350 f. Ebd., 352 f. Ebd., 356. Ebd., 359. Ebd., 362. Ebd., 363. Ebd., 364.
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Buch, das er bereits abgeschlossen hätte, wenn er nicht Leibniz’ wunderbarer „scientia dynamica demonstrata“ neue Einsichten verdankte, die er als Lemmata noch hinzufügen wollte82. Insbesondere war er begeistert, dass er dadurch aus wenigen Prinzipien vieles herzuleiten imstande sei83. Am 2. Juni hatte er noch keine Antwort von Leibniz, berichtete aber weiter über den Fortgang seines Buches, an dessen Endfassung er bereits arbeitete. Er benutze Leibniz’ Scientia Dynamica hinsichtlich der Schätzung der Kräfte der Körper aus der Masse und dem Quadrat ihrer Geschwindigkeiten. Im Juni 1712 wird Leibniz von Hermann berichtet, dass Bernoulli ihm seinerzeit die Leibniz’sche Dynamik nicht vorenthalten habe, für die er mit De Volder stritt und die er „nach Hause“ brachte, insbesondere den eleganten Gebrauch des aposteriori-Arguments, wovon er in seinem Buch auch Gebrauch mache84. Leibniz’ Antwort ist nur als Auszug erhalten. Er kam nun auf seine metaphysischen Prinzipien der Dynamik zu sprechen, die er Bernoulli bereits beschrieben hätte und ist neugierig auf Hermanns Meinung85. Er wollte diese wahren Quellen seiner Dynamik auch gern Hermann mitteilen, habe aber nur einige Blätter, die sich im Ozean seiner Papiere befänden, und nicht alles sei ihm aus der Erinnerung abrufbar. Schließlich dankte er Hermann für die ihm zugesandte „analysis pulchra paracentrici theorematis“86. Am 7. Juli 1712 berichtete Hermann begeistert von seiner Lektüre der Théodicée, die er gerade mit Bourguet und auch mehreren venezianischen Edelmännern gelesen und diskutiert hatte. Er begrüßte besonders die gelungene Behandlung der Freiheitsproblematik sowie die Auflösung des anderen philosophischen Knotens, des Kontinuums und der Indivisibilia87. Am 4. August antwortet er auf Leibniz’ Kritik seiner Dynamik und diskutiert in diesem langen Brief nun auch die dynamischen Grundbegriffe mit Leibniz – Kraft, Wirkung, Ursache, Sollizitation, und – last but not least – Aktion88. Auch wenn Unterschiede in ihren Auffassungen bestehen blieben, ist klar, dass Hermann vollkommen mit Leibniz’ Prinzip übereinstimmte, dass es die (lebendige) Kraft ist, und nicht die Bewegungsmenge, die erhalten wird, und sogar auch darin, dass allein von diesem Prinzip alle Regeln der Bewegung deduziert werden können89. In einem langen Brief vom 9. September 1712 kommt Leibniz auf ihre Verschiedenheit der Grundbegriffe zurück. Vor allem aber unternahm er es nun, in Hermann Zweifel über den Begriff der Anziehungskraft als einer Eigenschaft der Materie zu erregen, indem er auf die Differenz zwischen Sinneseindruck und rationaler 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd., 366. Ebd. Ebd., 368. Ebd., 372. Ebd., 373. Ebd., 374. Ebd., 374–377. Ebd., 376. Das sagt Hermann so auch in einem Schreiben vom 22. September 1712 an Bourguet, siehe das Zitat, auf das sich die Anm. 162 bezieht. (BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 19, 36r).
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Erfassung von Begriffen verwies, insbesondere beim Begriff der Aktion90. Er wolle Hermann demnächst „Elementa dynamica“ senden, damit dieser daraus zusammen mit seinen eigenen Überlegungen ein nicht zu verachtendes „Opus dynamicum“ erarbeiten könne. Über diesen Brief schreibt Hermann an Bourguet am 2. Oktober 1712: „J’ay recue ce matin une longue lettre de Mr. Leibnitz touchant la matière de forces matieres don’t j’ay la tête si pleine depuis quelque tems. J’auray l’honneur de Vous la faire voir“91. Angesichts von Leibniz’ Offerte ist Hermann dann überrascht, dass Conti vorhabe, etwas über Kräfte zu schreiben, car je luy ay dit que Mr. Leibnitz me voiloit faire l’honneur de m’envoyer les elements sur cette matiere me permettant que je les publie avec mes pensées sur ce sujet; et luy il ne m’a rien dit de ce dessein92.
Er schickt Bourguet dessen Exemplar der Théodicée zurück, das für die gemeinsamen Diskussionen an Conti verborgt worden war. Am 27. Oktober 1712 schrieb Hermann an Leibniz, dass er sein Manuskript der Phoronomia nach Leibniz’ Hinweisen korrigiert habe und es im November zum Verlag geben wolle. Er bat um die Erlaubnis, es Leibniz widmen zu können, was dieser gestattete93. Hermann unternahm diese Widmung gerade in jenen Jahren, da die Spannung zwischen Leibniz und Newton mit der Veröffentlichung des Commercium epistolicum ihren Höhepunkt erreicht hatte94 und machte damit öffentlich deutlich, dass er sich zur Partei von Leibniz rechnete, was angesichts ihres Briefwechsels nachvollziehbar wird. Leibniz berichtete, dass seine Théodicée ins Lateinische und Deutsche übersetzt werde, vielleicht auch ins Englische und gab seiner Hoffnung Ausdruck, eine italienische Fassung werde nach der Tilgung einiger im katholischen Umfeld vielleicht schwierigen Formulierungen möglich sein95. Hermanns Brief vom 22. Dezember 1712 geht noch einmal ins Detail ihrer dynamischen Diskussion. Hermann zögerte, Leibniz’ Begriff der Aktion anzunehmen und fragte, warum deren Messung durch die Geschwindigkeit mit der Wirkung erfolgen solle, die doch bereits in den Begriff der Wirkung eingegangen sei96. Er bewunderte Leibniz’ Beweis, dass jeder Körper, jede Figur ein Zentrum der Schwere habe und
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GM IV, 380 f. BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, 21, 40r. Hermann an Bourguet am 28. Oktober 1712, in: Ebd., 24, 45r. GM IV, 383. Diesem Brief ist ein Brief Bourguets zur Théodicée beigelegt (ebd., S. 383). Vgl. weiter unten. 94 Commercium epistolicum Collini et aliorum, De analysi promota, a collection of correspondence, relevant to the priority dispute between Newton and Leibniz regarding the invention of the Infinitesimal calculus (called by Newton the Method of Fluxions), London 1712. Ein „Account“ dieses Commercium epistolicum wurde veröffentlicht in den Philosophical Transactions 342 (January/February 1714/1715), S. 173–224. 95 GM IV, 383. Davon berichtet Hermann auch an Bourguet am 7. Februar 1713, in: BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 29, 54r. 96 GM IV, 385.
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erklärte sich bereit, wenn Leibniz ihm seine Gedanken zu einer Dynamik zur Verfügung stellen wolle, das „Opus dynamicum“ zu verfassen, nach Abschluss seiner Phoronomia, aus der er alle allgemeineren Grundlagen herausgenommen habe97. Am 1. Februar 1713 gab Leibniz weitere Erläuterungen zu seinem Begriff der Aktion, den er von der Wirkung unterschied, und führte den Begriff der Sollizitation ein für die unendlich kleinen Zuwächse der Geschwindigkeit. Dieser instruktive Brief kann als eine Einführung in Leibniz’ Mechanik gelesen werden98. Zugleich gab Leibniz eine präzise Formulierung der Differenz ihrer begrifflichen Grundlagen99. Hermann sah am 2. März seine Bedenken zerstreut und dankte Leibniz herzlich. Wenn er noch in Italien bliebe, wäre er bereit, die Théodicée mit Freunden ins Lateinische zu übersetzen, aber er werde in kurzer Zeit abreisen. Am 6. April bestätigte Hermann noch einmal, dass nach Leibniz’ letzten Erklärungen seine Zweifel hinsichtlich von Leibniz’ Beweis der Dynamik verflogen seien100. Am 20. Mai brach Hermann nach Wien auf. Am 24. Mai 1713 schrieb er seinen ersten Brief aus Frankfurt an der Oder101. Hermanns Phoronomia erschien erst 1715 in Amsterdam und hatte auch noch 1716 auf dem Titelblatt stehen. Diese große Verzögerung war zunächst den Schwierigkeiten mit dem zuerst anvisierten italienischen Verlag geschuldet, sodann den Reisevorbereitungen und der eigentlichen Reise nach Frankfurt im Mai 1713. Wir wissen aber auch, dass Hermann seine Exemplare des Buches schon seit September 1715 verschickte102 und dass die erste Rezension im Januar 1716 in den Acta Eruditorum veröffentlicht wurde103. Der Autor war niemand anders als Gottfried Wilhelm Leibniz. Trotz ihres leibnizianischen Titels, trotz der großen Widmung an Leibniz, trotz des – obgleich eingeschränkten – Gebrauchs der Leibniz’schen Mathematik und trotz der Anerkennung des Prinzips der Erhaltung der lebendigen Kräfte folgte Hermann in einem für Leibniz zentralen Punkt Newton und teilte Leibniz’ Aversion gegen Newtons Anziehungskraft nicht oder hat sie wohl nicht einmal verstanden. Hermanns Festhalten an der Anziehungskraft als Ursache der Planetenbewegung scheint mir der Hauptgrund dafür gewesen zu sein, dass Leibniz ihm vorwarf, in seinem Buch Newton zu schmeicheln. Außer in der Rezension von Hermanns Buch in den Acta Eruditorum im Januar 1716, wo diese Kritik nur ganz
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Ebd., 387. Ebd., 387–390. Ebd., 389. Ebd., 392. Hermann an Bourguet am 17. Mai 1713, in: BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 32, 61r. 102 Siehe GM IV, 397, Fußnote von Gerhardt. Das geht auch nachträglich aus einem Brief hervor, den Hermann am 14. Mai 1716 aus Frankfurt an Bourguet schrieb (BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 34, 63r). 103 Leibniz’ umfangreiche Rezension war geradezu der Aufmacher des ersten Heftes der Acta Eruditorum in Leibniz’ letztem Lebensjahr (Acta Eruditorum [Januar 1716], S. 1–10).
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am Rande einer überaus lobenden Darstellung auftaucht104, hatte Leibniz ihm das auch schon bei ihrem Treffen in Wien gesagt105 und ihm auch darüber geschrieben. In einem Brief vom 17. September 1715, in dem Leibniz sich sehr herzlich für das zugesandte Buch und die Widmung bedankte, und ein großes Lob aussprach, versuchte er noch einmal, Hermann zu erklären, warum die Anziehungskraft, wenn diese als Eigenschaft der Materie angesehen werde, zu schweren Widersprüchen und Problemen führen müsse106. Die „Inertia materiae“ sei ein reines Wunder, aus dem Wunderbares folge, denn aus der Ausdehnung und Antitypie der Materie könne kein Widerstand gegen die Bewegung folgen. Insbesondere aber zweifelte Leibniz, dass die Schwerkraft auf alle inneren Teile eines Körpers wirke107. Wenn aber Hermann feststelle, dass kein Mathematiker seines Zeitalters bestreite, dass die Kraft in der Welt erhalten werde, auch wenn dies durch die Absorption von Kraft in den inneren Teilen der Körper so erscheinen mag, so erwiderte Leibniz, dass Newton eben das doch tue, weil er eben die Natur der Kräfte nicht vollkommen eingesehen habe108. Hermann erwiderte ausführlich auf Leibniz’ Einwände und Leibniz zollte ihm Respekt. Aber er kam auf den von Hermann nicht aufgenommenen Punkt zurück; er stellt die eine Frage: „utrum gravitas in omnes corporis partes agat, seu an omnes corporis gravis partes sint graves“109? Nur wenn man mit den Engländern an das Vakuum glaube, könne man das für wahr halten, denn die Anziehungskraft könne nicht aus mechanischen Prinzipien entstehen, weshalb sie eine okkulte Qualität sei. Hermann aber sah weiterhin Leibniz’ Vorwürfe, er wolle Newton schmeicheln, als bloßen Ausdruck der Gekränktheit an, aufgrund der aggressiven englischen Attacken wegen eines angeblichen von Leibniz begangenen Plagiats an Newton110. Hermann verstand diese Gekränktheit und sympathisierte ganz mit Leibniz111, aber er scheint nicht verstanden zu haben, dass es sein fortgesetzter Gebrauch der Begriffe Anziehungskraft und Zentripetalkraft im Newton’schen Verständnis war, was Leibniz grundsätzlich an Hermanns Auffassungen in der Phoronomia störte. Auch wenn Hermann das von Leibniz vorgeschlagene und von ihm akzeptierte Opus dynamicum nicht geschrieben hat, so stellte doch seine Phoronomia „einen
104 Leibniz hebt hervor, dass Hermann mit ihm gegen Newton darin übereinstimmt, dass keine Kraft verlorengeht, auch wenn die Bewegung der Körper mitunter von Teilen der Körper absorbiert erscheint (Leibniz’ Rezension, ebd., S. 5). Auch verweist er auf die mathematischen und physikalischen Differenzen Hermanns zu Newton sowie auf seine Übereinstimmungen mit Huygens, Bernoulli und Leibniz sowie auch mit Newton. Schließlich zeigt er auch, dass Hermann Beweise vorlegen konnte, wo Newton solcher noch ermangelte (ebd., S. 10). 105 Hermann an Bourguet 21. Mai 1716, in: BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 35, 65r. 106 Hermann an Leibniz am 17. September 1716; GM IV, 398–402. 107 Ebd., 398. Hermann hatte das im § 28 seiner Phoronomia geschrieben. 108 Ebd., 399. 109 Ebd., 409. 110 Hermann an Bourguet am 21. Mai 1716, in: BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 35, 65r. 111 Ebd., 65v.
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Meilenstein in der Geschichte der Wissenschaften“112 dar. Es war das erste Lehrbuch der theoretischen Mechanik, das Newtons Physik in Leibniz’ mathematischer Sprache darstellte. Dass es schon bald in Vergessenheit geraten ist, verdankt sich vor allem der Tatsache, dass der geniale Leonhard Euler aus diesem Buch so viel gelernt hat113, dessen Lehrbücher dann sehr bald das dadurch obsolet werdende Werk Hermanns verdrängten. Außer der Phoronomia hat Hermann nur ein Mathematiklehrbuch für den Zarensohn in Petersburg veröffentlicht. Eine Liste seiner Publikationen, vor allem seiner vielen Aufsätze in zahlreichen deutschen, italienischen und französischen Zeitschriften, wurde von Fritz Nagel erstellt114.
4. WER WAR LOUIS BOURGUET? Natürlich ist Leibnizforschern der Name von Louis Bourguet als eines Leibnizkorrespondenten geläufig. Auch ist er bekannt als einer der vielen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, die erfolglos an einer Leibnizedition gearbeitet hatten. Geboren am 23. April 1678 in Nimes in Frankreich115, musste er mit seiner hugenottischen Familie 1684 vor der Verfolgung der Protestanten in die Schweiz fliehen. Nach kurzem Aufenthalt in Lausanne siedelte sich die Familie dauerhaft in Zürich an. Bourguets Vater, ein wohlhabender Kaufmann, gründete dort eine Seidenmanufaktur und 1688 eine zweite in Castasegna in Graubünden, an der Grenze zu Norditalien, wohin er seinen Sohn mitnahm. Bourguet wurde vom Vater zur Nachfolge im Geschäft bestimmt. Als sich nach dem Tod seines Onkels die Gelegenheit dazu ergab, zog Bourguet es vor, ab 1690 das Gymnasium in Zürich zu besuchen116. 1697 begleitete er seinen Vater erneut auf einer Geschäftsreise nach Italien, die er aber zugleich zu weiteren Studien zu nutzen wusste. So besichtigte er Museen und Bibliotheken in Mailand, Verona und Venedig, wo er insbesondere nach Manuskripten alter Sprachen sowie nach Münzen suchte117. Auf einer weiteren solchen Geschäftsreise im Jahr 1699 lernte er 112 F. Nagel: Biographie (wie Anm. 9), S. 65. 113 R. Calinger hebt hervor, dass Euler in den Jahren 1732–1738 vier Aufsätze in den Commentarii der Petersburger Akademie zur Veröffentlichung einreichte, in denen er Hermanns Methoden der Phoronomia, Taylors Strategien in seiner Methodus incrementorum sowie Methoden von Johann und Jacob Bernoulli sondierte. Vgl. R. Calinger: „Euler’s first St. Petersburg Years“, in: Historia Mathematica 23 (1996), 121–166, hier insbes. S. 141 f. 114 F. Nagel: „A Catalog of the Works of Jacob Hermann“, in: Historia Mathematica 18 (1991), S. 36–54. 115 Meine Darstellung von Bourguets Biographie beruht, wenn nicht anders erwähnt, auf Isely („Leibniz und Bourguet“ [wie Anm. 36]). 116 Siehe den Artikel über Bourguet in E. Haag: La France protestante ou vies des protestants français qui se sont fait un nom, Bd. 2, Genève 1847, S. 484–486, S. 484. Schüler des Züricher Gymnasiums, dem Carolinum, waren auch die Brüder Scheuchzer. 117 In seiner ersten italienischen Korrespondenz mit Antonio de’ Bianchi firmiert er unter dem Titel „Ludovico Bourgueto – Marchandise – Bolzano“. Siehe F. B. Crucitti Ullrich: La „Bibliotheque Italique“. Cultura „italianisante“ e giornalismo letterario, Milano/Napoli 1974, S. 32, Fußnote 1.
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bei einem italienischen Juden Hebräisch. In der Folge reiste er noch oft nach Italien (1701, 1703, 1705, 1707, 1710), und er hielt sich dann sehr lange – von 1711 bis 1715 – in Venedig auf. Bourguet nutzte seine geschäftlich bedingten Reisen, um Wissenschaftler zu treffen und Bibliotheken kennenzulernen, auf der Suche nach alten Manuskripten und Münzen. Aber in den letzten Jahren unternahm er auch wissenschaftliche Expeditionen in die Berge. 1702 heiratete er Suzanne Jourdan aus einer Hugenottenfamilie in Neuchâtel, 1704 erwarb er das Bürgerrecht von Neuchâtel und ließ sich dort mit seiner Familie nieder. Es war während ihrer gemeinsamen Jahre in Padua bzw. Venedig 1710–1713, dass die beiden Schweizer gute Freunde wurden, wie aus ihrem französisch geführten Briefwechsel hervorgeht. Aber Bourguet kam damals auch mit vielen italienischen Gelehrten in Kontakt, was ihm dann als Herausgeber der Bibliotheque italique (1728–1732) zugutekommen sollte118. Auch widmete er seine Lettres philosophiques sur les formations des sels et des crystaux et sur la génération & le mechanisme organique des plantes et des animaux a l’occasion de la pierre belemnite et de la pierre lenticulaire avec un memoire sur la theorie de la terre den italienischen Gelehrten Vallisneri, Zendrini und Monti, die auch zum Freundeskreis von Hermann gehörten. Bourguets Bekanntschaft und dann Freundschaft mit Jacob Hermann verschaffte ihm aber die außerordentliche Gelegenheit, die neue Infinitesimalrechnung und ihre Anwendung auf die Dynamik bei einem der wenigen europäischen Mathematiker zu studieren, die diese Techniken beherrschten und weiterentwickelten. Dadurch veränderte sich Bourguets Interesse an Leibniz. War sein früher Briefwechsel mit Leibniz, der 1707 von seiner Seite initiiert wurde119, vor allem von seinem Interesse an alten Sprachen im Zusammenhang mit biblisch-theologischen Fragestellungen geleitet120, entwickelte er nun ein Interesse an Leibniz’ Metaphysik auf der Grundlage von dessen Dynamik im Zusammenhang mit der natürlichen Theologie. Daneben verfolgte er naturwissenschaftliche Studien zu Fossilien, zur Geschichte der Erde und der Berge. Die Veränderung von Bourguets Interesse von den alten Sprachen hin zu Leibniz’ Metaphysik lässt sich nicht nur in seinen Schriften121, sondern auch an der Entwicklung seines Leibnizbriefwechsels erkennen, wie Leibniz selbst nach dem Empfang von Bourguets langem Brief zu seiner Théodicée im Winter 1712/1713 überrascht konstatierte: „Après avoir vû les belles productions de votre part sur les origines literaires, je suis surpris de vous voir encor aussi profond sur la Philosophie que votre lettre que Mr. Herman m’a fait tenir le fait connoistre“122. Leibniz freute sich über die grundlegende Zustimmung von Bourguet zu seinem Hauptwerk und 118 Über diese von Schweizer Réfugiés herausgegebene Zeitschrift siehe Crucitti Ullrich: Ebd. 119 L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), S. 174. 120 Auch seine erste Anfrage bei Bouvet bzw. bei Leibniz zur Dyadik entsprang diesem Interesse. Siehe ebd., S. 173 f. 121 Vgl. L. Bourguet: Lettres philosophiques, Amsterdam 1729, wo auf S. 164 f. eine Definition des organischen Mechanismus gegeben wird, ganz im Geiste von Leibniz: Jeder Körper ist durch eine dominierende Aktivität oder Monade bestimmt. 122 GP III, 558. Der Brief hat kein Datum, ist aber nach dem 20. Oktober 1712 und vor dem 15. Mai 1713 geschrieben.
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beantwortete in der Folge geduldig dessen Einwände. Bourguet, obgleich er kein Problem mit dem Begriff der Monade als einer den körperlichen Phänomenen zugrundeliegenden einfachen Substanz hatte, ausgestattet mit Kraft, fand es schwierig den Monaden der Pflanzen oder noch unbelebterer Dinge Perzeptionen zuzusprechen. Er sah in solcher Auffassung sogar Spinozismus123. Leibniz erwiderte mit einer Erläuterung seines Begriffs der Perzeption und bestand darauf, dass alle Monaden durch die Kraft des Perzipierens bestimmt seien, da andernfalls nicht alle Perzeptionen miteinander in Übereinstimmung stehen könnten: Car perception m’est la representation de la multitude dans le simple; et l’appétit est la tendence d’une perception à une autre: or ces deux choses sont dans toutes les Monades, car autrement une Monade n’auroit aucun rapport au reste des choses124.
Im Verlauf von zwei Jahren gelang es Leibniz, Bourguet zu überzeugen. In einem langen Brief vom Sommer 1715, in dem er wieder seine Definition einer Perzeption anführt, die gültig seien, auch wenn wir noch nicht ausreichend wissen, worin diese bei Tieren oder Pflanzen bestehen, erinnerte er auch an die Kontinuität aller Lebewesen: M. Swammerdam a donné des observations, qui font voir que les insectes approchent des plantes du côté des organes de la respiration, et qu’il y a un certain ordre dans la nature qui descend des animaux aux plantes. Mais il y a peutetre des etres entre deux125.
Ein anderes, wohl direkt theologisch motiviertes Thema, das sich vom Sommer 1713 bis zum Sommer 1715 zieht, war die Frage, was mit den menschlichen Spermien geschehe, die nicht zur Entwicklung kämen. Bourguet wollte in ihnen eine besondere Spezies sehen und Leibniz war nicht dagegen, wollte sich aber angesichts der unzureichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht festlegen. Dagegen war er sich der Existenz präexistierender Monaden in allen Lebewesen sicher: Tout ce que je crois pouvoir asseurer est, que l’ame de tout animal a préexisté, et a été dans un corps organique, qui enfin par beaucoup de changemens, involutions et evolutions, est devenu l’animal present. Votre conjecture, que tout animal seminal humain parviendra enfin á etre raisonnable, est ingenieuse, et pourroit etre vraye; cependant je ne vois point qu’elle soit necessaire126.
Im Oktober 1715 schrieb Bourguet, noch aus Venedig:
123 „La vie de l’homme, des animaux et des plantes même n’est qu’une continuation du même developpement. On peut dire aussi que tout l’univers existe de cette manière, parce que tous les mouvements ne pouvant point exister à la fois, les uns produisent les autres par une suite etablie au premier instant de leur creation; et que tout ce qui sera jamais, est renfermé dans ce qui existe aujourd’hui. C’est là une des consequences que je tire de votre ‚sisteme de l’Harmonie prétablie‘, qui est le vrai sistème des choses et qui nous les fait appercevoir dans toute leur beauté“ (zitiert nach L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ [wie Anm. 36], S. 188). 124 GP III, 574 f. 125 Ebd., 581. 126 Ebd., 579.
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L’on desire ici ardemment que vous donniez enfin au public votre Science dynamique, qui est asseurement la clef de la Geometrie la plus sublime, tout comme de la Philosophie la plus certaine127.
Diese Formulierung lässt erkennen, dass Bourguet, durch seine Einführung in die Infinitesimalrechnung und vor allem durch seine intensiven Gespräche mit Hermann, den physikalisch-metaphysischen Doppelcharakter von Leibniz’ Dynamik erkannt hatte. Beim Erscheinen von Hermanns Phoronomia sah er dieses Buch in engem Zusammenhang mit Leibniz’ Dynamik und hoffte zugleich, es enthalte „la clef mecanique du mouvement des planetes, surtout pour expliquer ceux de la lune“128. In diesem Brief berichtete er außerdem, dass er mit einem Teleskop von 20 Fuß, das er von Christino Martinelli geliehen hätte, den Mond beobachtet hatte, der sich in nur einem Monat einmal um seine Achse drehe. Newton habe das zwar auch behauptet, hätte aber keine empirischen Belege dafür gegeben. Dies gab Leibniz die Gelegenheit, seine Forderung vorzutragen, „il faut joindre les observations avec le calcul“129. Zugleich berichtete er Bourguet, dass Flamsteed ihm auch bedeutet habe, dass Newtons Beobachtungen der Mondbewegung noch unzureichend seien – eine Kritik des Rationalisten am Empiristen wegen zu geringer empirischer Evidenz. Schließlich verdanken wir einer Frage Bourguets zum Anfangspunkt des Universums130 Leibniz’ faszinierende Diskussion dreier möglicher Modelle, von denen eines ohne Anfang auskomme (und Leibniz sieht nicht, warum ein Anfangspunkt notwendig sei)131. Einem Modell zufolge wäre die Natur immer gleichbleibend vollkommen, nach einem anderen beständig in einer Zunahme an Vollkommenheit begriffen. Dieses Wachstum könne wiederum entweder in einem beständigen Wachstum an Vollkommenheit bestehen, die dennoch niemals absolut wird, so wie eine Hyperbel sich beständig ihrer Asymptote annähere, oder aber man könne dieses in Analogie zu einem Dreieck denken, dessen Seiten zusammenkämen. Gemäß dem Hyperbelmodell sei kein Anfangspunkt notwendig. Die Auffassung aber, wonach der Grad der Vollkommenheit des Universums immer derselbe bleibe, könne durch ein Rechteck dargestellt werden. Leibniz sah keinen Weg, unter diesen Modellen durch einen Beweis entscheiden zu können, glaubte aber nicht, dass der Zustand der Welt je absolut vollkommen sein könnte. Das durch sein Zusammentreffen mit Hermann veränderte Interesse Bourguets an Leibniz fand seinen Ausdruck auch in der Struktur seiner geplanten Leibnizedition. Es war nach dem Tod von Leibniz, als Bourguet bereits nach Neuchâtel zurückgekehrt war, dass er beschloss, eine Auswahl aus dessen noch nicht veröffentlichten Schriften herauszugeben. Die Idee, auch eine Briefsammlung aufzunehmen, scheint erst am Ende der 1720er bzw. Anfang der 1730er Jahre hinzugekommen zu 127 Zitiert nach L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), S. 180. 128 Bourguet an Leibniz am 16. März 1716 aus Morges, auf seiner Rückreise nach Neuchâtel, zitiert nach L. Isely, ebd., S. 184. 129 Leibniz an Bourguet am 3. April 1716; GP III, 593. 130 Bourguets Brief an Leibniz vom 15. April 1715, zitiert nach L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), S. 202–203. 131 Leibniz an Bourguet am 5. August 1715; GP III, 578–583, und am 2. Juli 1716; ebd., 595.
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sein132. Bourguets Editionsprojekt ist öfter beschrieben worden, ich verweise auf Pierre Bovet und Louis Isely sowie auf Fritz Nagel133. Unser Wissen geht vor allem auf einen Brief Bourguet’ an Bouhier aus dem Jahre 1736 zurück, in dem er die geplante Struktur seiner zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegebenen Leibniz-Edition detaillierter beschrieben hat: Je voulois donner les écrits de Leibniz dans un certain ordre: 1o Tout ce qui concerne sa Dynamique où la philosophie s’unit aux mathématiques; 2o sa monadologie et son Harmonie préétablie; 3o les autres pièces philosophiques et physiques; 4o celles de littérature; 5o celles qui concernent sa Dyadique et son Arithmétique binaire; 6o peut-être enfin les pièces de mathématiques134.
An dieser Beschreibung fällt auf, dass das Zentrum der geplanten Edition Leibniz’ Dynamik sein sollte. Sogar ist diese der Monadologie und der prästabilierten Harmonie vorgeordnet worden. Auch scheint sich Bourguet sehr bewusst gewesen zu sein, dass in der Dynamik Leibniz’ Metaphysik und Mathematik zusammenkommen. Diese inhaltliche Ausrichtung unterscheidet aber seinen Editionsplan grundlegend von anderen Leibnizrezeptionen jener Jahre. Die Manuskripte in Bourguets Nachlass, die vor allem Kopien von Leibnizschriften sind und offenbar für die geplante Edition kopiert worden waren, bestätigen diese geplante Struktur. Viele Kopien von Leibniztexten, die von Bourguet abgeschrieben worden sind, belegen sein intensives Interesse an Leibniz’ Dynamik. Ich nenne hier nur: – – – – – – – –
De prima philosophiae emendatione. Meditationes de cognitione, veritate et ideis. Systeme nouveau mit den Antworten von M.S.F. à M. de L.B.Z. Specimen dynamicum. Remarques sur le Recueil de Pièces de Mrs. De Leibniz, Clarke, Newton. Extraits sur le Systeme de l’harmonie préétablie135. Considerations sur les Principes de Vie et sur les Natures plastiques. Quelques discours de M. Leibniz tiréz des Nouvelles de la Rép. […] de Bayle.
Außerdem finden sich auch noch Abschriften einiger mathematischer Schriften von Leibniz, ein Exzerpt aus der Protogaea sowie Bemerkungen zu einem Diskurs über 132 1728 gewinnt er durch seinen Briefwechsel mit Jordan zwischen 1728–1740 Zugang zu dessen Leibnizbriefen (BPU Fonds Bourguet, MS 1274), am 23. Mai 1731 schreibt ihm Hermann schon aus Basel, dass er ihm gern seine Leibnizbriefe überlasse (BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 41, 72v). 133 P. Bovet: „L. Bourguet. Son Projet d’édition des oeuvres de Leibniz“, in: Ed. Claparède (Hrsg.): Congrès International de Philosophie Genève 1904, IIe session, Rapports et comptes rendus, Bd. 1, Genève 1905, S. 252–263; L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), F. Nagel: „Schweizer Beiträge zu Leibniz-Editionen des 18. Jahrhunderts. Die Leibniz-Handschriften von Johann Bernoulli und Jacob Hermann in den Briefwechseln von Bourguet, König, Kortholt und Cramer“, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge 1, Hannover 1994, S. 525–533. 134 L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), S. 212. 135 BPU, Fonds Bourguet MS 1297: Extraits de les ouvrages copies par Bourguet, 215 ff.
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den Ursprung der französischen Sprache durch dessen Autor Leibniz. Nicht zuletzt sind auch Exzerpte aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz, Foucher und Nicaise überliefert. Die in dieser Auflistung erkennbare starke Ausrichtung von Bourguets Editionsprojekt auf Leibniz’ Dynamik als Zentrum der Edition kann sich erst im Ergebnis seiner Mathematikstudien und Leibnizstudien in Venedig entwickelt haben, wo er während der drei gemeinsamen Jahre mit Hermann von 1710 bis 1713 unter dessen Anleitung die Infinitesimalrechnung studierte, sich mit den Gedanken der Phoronomia Hermanns vertraut machte, und gemeinsam mit Hermann Leibniz’ Theodizee las und diskutierte. Dagegen war die Dyadik von Leibniz, die ihn ja 1707 zuallererst zur Aufnahme eines Briefwechsels mit Leibniz bewegt hatte, vermittelt durch Jablonski, nach der Beschreibung des Editionsplanes von 1736 in die Peripherie von Bourguets Interesse gerückt. Was Bourguets geplante Briefsammlung angeht, hatte er um 1732 mehr als 400 Briefe aus den Leibnizbriefwechseln von Charles Etienne Jordan, Johann Bernoulli und Jacob Hermann sowie von ihm selbst für seine Leibnizedition zur Verfügung. Aber nachdem er erkrankt war und seine Professur ihm kaum Zeit ließ, an der Edition zu arbeiten, und zugleich Johann Bernoulli wegen Kortholts Anfragen für dessen Leibnizausgabe seine Briefe zurückverlangte, resignierte er und schickte alle geliehenen Briefe 1733 an ihre Besitzer zurück136. An Briefen sind fast nur die an Bourguet gerichteten in dessen Nachlass erhalten geblieben, allerdings auch 13 von Leibniz an Bourguet und 11 von Bourguet an Leibniz (6 der letzteren sind von Gerhardt veröffentlicht)137, 48 Briefe von Jacob Hermann (davon 33 aus der Zeit in Padua/Venedig), 17 Briefe von Johann Bernoulli aus der Zeit nach 1730, d. h. vor allem die Edition betreffend. Wir haben auch Briefe von Jariges, dem Mitglied und Sekretär der Berliner Akademie aus den 1720er Jahren und eben die Antworten von Jablonski auf die frühen Briefe von Bourguet von 1707 und 1708. Ich werde mich im Folgenden aber allein Hermanns Briefen an Bourguet näher zuwenden. Nachdem Jean Barbeyrac 1717 eine Professur in Groningen erhalten hatte138, wurde Bourguet aufgefordert, sich an der Akademie Lausanne um dessen Lehrstuhl für Naturrecht zu bewerben, was er erwog, aber dann verwarf139. Von 1728 bis 1734 gab Bourguet die Bibliotheque Italique heraus, zusammen mit Firmin Abauzit, Jean Caze in Genf, und anderen, wobei es nach dem Eintritt von Giovanni Ludovico Calandrini nach 1730 zu Spannungen kam, die wohl zum Niedergang der Zeitschrift beitrugen140. Von 1732 bis zu seinem Tod gab Bourguet dann den Mercure 136 F. Nagel: Schweizer Beiträge (wie Anm. 133), S. 528. 137 L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), S. 174. Gerhardt hatte bereits sechs Briefe von Bourguet an Leibniz in seiner Ausgabe von Leibniz’ Philosophischen Schriften veröffentlicht. Zuvor waren einige Briefe schon von Dutens in seine Ausgabe aufgenommen worden, siehe Anm. 155 unten. 138 L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ (wie Anm. 36), S. 208 f. 139 Siehe E. Haag: La France protestante (wie Anm. 116), S. 486. 140 Siehe F. B. Crucitti Ullrich: Bibliotheque italique (wie Anm. 117), S. 191–222. Es ist auffallend, dass sich diese Krise der Zeitschrift auf dem Gebiet der Mathematik und Physik ereignete. Es scheint auch, dass der Verleger Bousquet bei diesen Auseinandersetzungen Partei nahm.
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Suisse heraus. 1731 wurde er zum Professor der Philosophie und Mathematik in Neuchâtel berufen. In diesen Jahren ging es ihm finanziell nicht mehr gut141 und möglicherweise war die Professur als Versorgung gedacht, die er dringend benötigte142. Jedoch ließ ihm die Arbeit als Lehrer zu wenig Zeit für seine anderen Arbeiten und vor allem für sein Editionsprojekt. Zugleich wurde Bourguet nun zunehmend von gesundheitlichen Problemen geplagt. Schon seit dem Ende der 1730er Jahre ließ er seine Briefe von seiner Tochter aufsetzen143. Jedoch scheint er auch nach der Aufgabe seiner Leibnizedition noch ernsthaft eine Veröffentlichung seines eigenen Leibnizbriefwechsels betrieben zu haben, so dass er bereits Kopien dieser Briefe an Freunde versandte, um von ihnen Hinweise für notwendige Kommentare zu erhalten144. Zugleich arbeitete er an der Fertigstellung seines eigenen Hauptwerkes, schon in den oben genannten Lettres philosophiques angekündigt, das 1742 endlich erschien – sein Traité des pétrifications, das Resultat langjähriger Forschung145. Am letzten Tag dieses Jahres stirbt Louis Bourguet, ohne seinen Leibnizbriefwechsel veröffentlicht zu haben. Im März 1744 erschien im Mercure Suisse die Ankündigung seiner Tochter, dass Bourguets Bibliothek am 18. Mai in Neuchâtel verkauft werden würde146. Zwar wissen wir nicht, ob auch Manuskripte aus Bourguets Nachlass verkauft wurden, wir wissen aber, dass Marguerite Bourguet aufgrund des Rates der Freunde ihres Vaters seine Briefe zusammenhalten wollte, um Indiskretionen zu vermeiden147. In einem Brief an Jean Caze berichtete sie auch von einer Anfrage eines 141 Angesichts seiner Empörung über Bousquet schrieb Bourguet in einem Brief: „N’était la necessité extrême où deux malheureuses banqueroutes m’on réduit, je n’écrirais pas une ligne pour cet imprimeur“ (L. Bourguet an G. Seigneux de Correvon, 2. Juni 1731, in: BPU, Fond Seigneux de Correvon, III, zit. nach F. B. Crucitti Ullrich: Bibliotheque italique [wie Anm. 117], S. 218). 142 Dies geht aus einem Brief Bourguets vom 13. Oktober 1731 hervor, in: Ebd., S. 30. 143 F. B. Crucitti Ullrich: „Johann (III) Bernoulli ed il carteggio Bourguet“, in: Rivista storica svizzera, 19, 2 (1969), S. 356–370, hier S. 357. Ich danke Judith Goldenbaum für ihre Hilfe bei der Übersetzung des italienischen Aufsatzes mit seinen vielen historischen Details. 144 Am 7. August 1736 schreibt Bourguet an Bouhier: „J’envoyai l’autre semaine une copie de ma correspondence avec Leibniz à quelques amis pour les prier de m’indiquer les endroits qui exigeroient quelques notes. Après que le manuscrit aura ainsi passé sous les yeux de quelques amis, j’y ajouterai les explications nécessaires et le donnerai à l’imprimeur. J’ai fait précéder l’extrait de la lettre du M. Bouvet à M. Leibniz sur sa Dyadique, qui fut l’occasion de la correspondence dont ce grand philosophe m’honora depuis 1707 jusqu’à sa mort. Il y a encore quatre lettres ou extraits que j’écrivis alors à M. Jablonski, puis une lettre au P. Bouvet; vintcinq lettres ensuite tant de M. Leibniz que de moi sur divers articles de littérature et de philosophie, en particulier s’il est possible de prouver la création par les seules lumières de la nature. Enfin, j’ai joint à ce recueil sept lettres latines qui contiennent ma correspondence avec un abbé vénitien qui, depuis, a été ou est peut-être encore à Paris, sur cette question du systeme de M. Leibniz, si Dieu a créé le plus parfait de tous les mondes possibles“ (zitiert nach L. Isely: „Leibniz und Bourguet“ [wie Anm. 36], S. 213 f.). 145 Eine wohl vollständige Bibliographie seiner Schriften, insbesondere seiner Aufsätze in den beiden Zeitschriften Bibliotheque italique und Mercure Suisse findet sich in: E. Haag: La France protestante (wie Anm. 116), S. 485 f. 146 F. B. Crucitti Ullrich: Carteggio Bourguet (wie Anm. 143), S. 358. 147 Ebd., S. 360.
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mysteriösen Comte de Lynden, der sich nach dem Preis des Nachlasses erkundigt habe148. Zu dem Zirkel gelehrter Freunde Bourguets gehörten Firmin Abauzit (1679–1767), der sogar von Newton respektiert wurde und den Bourguet als Berater in mathematischen Fragen für seine Leibniz-Edition zu konsultieren gedachte, Jean Jallabert (1712–1768) in Genf, der Mathematik, Logik und Philosophie unterrichtete und dem wir wenigstens Kopien von Hermann-Manuskripten verdanken149, Jacob Vernet (1698–1789) in Genf, der Unterricht in Geschichte und Geographie erteilte und Jean Caze in Genf, ein enger Freund. Auch der reformierte Theologe JeanFrédéric Osterwald (1663–1747) in Neuchâtel, der mit Jean-Alphonse Turrettini (1671–1737) in Genf und Samuel Werenfels (1657–1745) in Basel das arianisch und tolerant gesinnte „theologische Triumvirat der Schweiz“ bildete, Léonard Baulacre (1670–1761), der in Leiden studiert hatte und an mehreren europäischen Journalen mitarbeitete, gehörten zu dem Kreis von Gleichgesinnten, von dessen Mitgliedern Bourguet Beiträge für seine Zeitschriften erhielt, mit denen er seine Zeitschriften herausgab oder sich bei der Herausgabe der Zeitschriften beriet. Dagegen stand er mit Jean-Louis Calandrini (1703–1758), Mathematiker in Genf (der sich zeitweilig eine Professur mit Gabriel Cramer teilte), Herausgeber eines Newtonkommentars und Philosoph, auf weniger gutem Fuß150. Es ist nicht sicher, wo der Nachlass Bourguets zunächst verblieb, vermutlich bei seiner Tochter, die 1760 starb. Es gibt einen späteren Bericht aus den 1780er Jahren, in dem es heißt: „Le cabinet de M.r le Prof. Bourguet a ete vendu il y a longtems à Mess. De Luc à Genéve“151. Dabei handelte es sich um die Brüder JeanAndré und Guillaume-Antoine de Luc in Genf, die ebenfalls zum Kreis der „Vénérable Classe des Pasteurs“152 gehörten, obgleich in der nächsten Generation153. Erst 1794 kam der Nachlass in die Bibliothek von Neuchâtel154. Die Briefe Bourguets, die von Dutens in seine Leibnizausgabe aufgenommen wurden, erlangte dieser von einem M. Cat, Buchhändler aus Rouen. Sie könnten zu den von Bourguet um 1736 versandten Kopien seines Leibnizbriefwechsels gehören155. 148 149 150 151 152 153
Ebd., S. 359. Vgl. O. Spiess: „Über einige neuaufgefundene Schriften“ (wie Anm. 64), S. 111. Vgl. F. B. Crucitti Ullrich: Bibliotheque italique (wie Anm. 117), S. 191–222. F. B. Crucitti Ullrich: Carteggio Bourguet (wie Anm. 143), S. 359. Ebd., S. 362. Es ist der Nachfahre dieser Brüder, Abraham de Luze (1727–1790), mit dem Jahrzehnte später Johann III Bernoulli (1744–1807) zunächst 1784 direkt, dann vermittelt über dessen Freund Abraham-Henri Petitpierre (geb. 1748) in Basel über den Ankauf von Leibnizbriefen verhandelte. Im Dezember 1787 erwarb er de Luzes Sammlung. Aber auch seine geplante Ausgabe scheiterte schließlich wie zuvor die von Louis Bourguet. Es fand sich kein Verleger. Er verkaufte daher 1797 die von ihm geerbten und erworbenen Briefe an die Königliche Bibliothek Stockholm und an die Bibliothek Gotha. (F. B. Crucitti Ullrich: Carteggio Bourguet [wie Anm. 143], S. 360–363). 154 http://bpun.unine.ch/page.asp?sous_menu1=bourguet&sous_menu2=0, (zuletzt eingesehen 18.4.2015). 155 Dutens sagt über die Herkunft des ihm zur Verfügung stehenden Leibniz-Bourguet-Briefwechsels in einer Fußnote: „Ces Lettres sont partie d’un manuscrit de Lettres entre Mr. De Leibniz & Mr. Bourguet, lequel m’a été communiqué par Mr. Le CatSecretaire perpétuel de l’Académie
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Sowohl angesichts der veröffentlichten Schriften von Louis Bourguet, des Inhaltes seiner Zeitschriften als auch seines Freundeskreises, der sich vorwiegend aus den französischsprachigen Mitgliedern des Refuge zusammensetzte, stellte Bourguets Zusammentreffen mit dem Baseler, deutschen Muttersprachler und Mathematiker Jacob Hermann einen Einschnitt in seiner intellektuellen Biographie dar. Er gewann dadurch einen Zugang zum Inneren der Leibniz’schen Metaphysik statt eines eher allgemeinen Interesses an Leibniz’ Projekt einer Versöhnung von Religion und Wissenschaft oder an einzelnen Themenfeldern von Leibniz. Zugleich waren beide Männer durch ihre reformierte Konfession in besonderer Weise verbunden, vor allem während ihres gemeinsamen Aufenthalts im katholischen Italien, durch ihre Überzeugung, dass die moderne Wissenschaft im Einklang mit ihrer Religion stand.
5. DER BRIEFWECHSEL VON JACOB HERMANN UND LOUIS BOURGUET Der Nachlass Bourguets enthält ausschließlich die Briefe Hermanns an Bourguet. Diese geben jedoch einen guten Eindruck von ihrer gegenseitigen Kommunikation in ihren gemeinsamen Jahren in Italien, ihren wöchentlichen Zusammentreffen, und von ihrem Verständnis von Leibniz. Hermanns erster Brief an Bourguet stammt vom 5. Juli 1708, der letzte vom 13. Mai 1733156. Seit Bourguets längerem Aufenthalt in Venedig, beginnend 1711, scheinen beide anlässlich von Jacob Hermanns privaten Vorlesungen in Venedig regelmäßig zusammengekommen zu sein157. Hermanns Briefwechsel mit Bourguet spiegelt die Entwicklung seines Denkens gerade in den intensivsten Jahren seiner Arbeit an seiner Phoronomia 1710–1712, die zugleich auch die intensivste Zeit in seinem Leibnizbriefwechsel waren, so dass beide Briefwechsel zusammen einen guten Einblick in die intellektuelle Entwicklung Hermanns und seiner Leibnizrezeption bieten. Zugleich erlaubt dieser Briefwechsel auch eine Einsicht in Bourguets Entwicklung, wie sie seinem Studium bei Hermann und ihrer gemeinsamen Lektüre von Leibniz’ Théodicée geschuldet war. Soweit ich sehe, sind alle Briefe Hermanns an den französischen Muttersprachler Bourguet in französischer Sprache geschrieben, was den Hinweis von Costabel, dass Hermann keine Schwierigkeiten hatte, französisch zu schreiben, bestätigt158. de Roüens, à la sollicitation & par les soins de Mr. Gobet“. Sie sind enthalten in Dutens II, 324–338, und VI, 202–220. Dutens kündigt in derselben Fußnote an: „On publiera un jour les lettres de Mr. Bourguet, & sa défense des Principes de Mr. De Leibniz“ (Dutens II, 324, Fußnote). 156 BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 1 und Nr. 49. 157 Jedenfalls scheint Hermann eine Mitteilung zu senden, wenn er nicht kommen wird: „J’ay cru vous devoir écrire ce billet afin que vous ne mattendiez pas Lundy au Soir“. (Hermann an Leibniz am 2. Oktober 1712, in: BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 21, 40r). 158 Siehe Der Briefwechsel von Johann I Bernoulli, Bd. 3: Der Briefwechsel mit Pierre Varignon, 2. Teil 1702–1714 (= Die gesammelten Werke der Mathematiker und Physiker der Familie
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Ich möchte mich im Folgenden auf jene Briefe konzentrieren, die in Beziehung mit Leibniz und seiner Philosophie stehen. Solche Bemerkungen sind vor allem in den Briefen von 1709 bis 1713 zu finden, als Hermann intensiv an seinem Buch Phoronomia arbeitete, um es vor seinem Abschied von Padua fertigzustellen. Wie Mazzone und Roero gezeigt haben, gehen die ersten Anfänge dieses Buches auf seine frühen Vorlesungen zur Mechanik zurück, die er im November 1708 in Padua aufnahm159. Allerdings klagte Hermann gegenüber Bourguet noch im Dezember 1710, dass er kaum zu seinem Buch komme, da die öffentlichen und privaten Vorlesungen ihm die beste Zeit des Tages raubten: „Et je n’y puis travailler que par reprise; les leçons publiques et particulières, qui je tiens chez moy, occupant les meilleurs heures du jour“160. Das war allerdings sicher auch der Ausweitung des Gegenstandes geschuldet, über die er Bourguet schon am 26. Oktober 1709 berichtet hatte: […] j’ay commencé à écrire une Mechanique des Corps fluids; l’importance de cette matière qui n’a point encore eté trattée comme il faut, m’a fait choisir cette partie des mathematiques à eclaircir si je puis, outre les exhortations continuelles de mes amis à entreprendre une telle ouvrage qui est peut-etre beaucoup au dessus de mes forces161.
Auch erklärte er Bourguet am 17. September 1710, dass seine Entscheidung, die geometrische Methode bei der Darstellung zu benutzen, da die Infinitesimalrechnung in Italien noch unzureichend bekannt sei, zusätzlich kompliziere: Mon livre n’est pas encore fini à cause que la matiere me croit sous la plume et comme je tasche de ramener les principals matieres à la pure Geometrie j’ay eu par cy par là les difficultés considerable à surmonter162.
Beim Erscheinen von Leibniz’ Théodicée wird das Buch von beiden Freunde gelesen und diskutiert. Beide sind von der Théodicée begeistert.163 Auch der Venezianer Antonio Conti nimmt an ihren Diskussionen teil,164 allerdings steht er Leibniz’
159 160 161 162
163 164
Bernoulli, hrsg. von der naturforschenden Gesellschaft in Basel), bearb. von P. Costabel und J. Peiffer, Basel/Boston/Berlin 1992, S. 34, Fußnote 5. S. Mazzone/S. C. Roero: Jacob Hermann and the diffusion of the Leibnizian Calculus (wie Anm. 7), S. 44–46. Hermann an Bourguet am 12. Dezember 1710 (zitiert nach S. Mazzone/S. C. Roero: Jacob Hermann and the diffusion of the Leibnizian Calculus [wie Anm. 7], S. 51). Hermann an Bourguet am 26. Oktober 1709 (BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, ff. 10–11). Hermann an Bourguet am 17. September 1710 (zitiert nach S. Mazzone/S. C. Roero: Jacob Hermann and the diffusion of the Leibnizian Calculus [wie Anm. 7], S. 73). Das schrieb er zuvor auch an seinen Freund Johann Scheuchzer, am 7. September 1709 (Zentralbibliothek Zürich, Ms H 347, 196 St., 55). Für Bourguet geht das aus seiner Verteidigung von Leibniz gegen Contis Kritik hervor, von der Hermann eine Version für Leibniz mitnimmt. Hermann schreibt selbst am 7. Juli 1712 an Leibniz darüber (GM IV, 373–374). Am 18. Oktober 1712 bittet Hermann, ihm Leibniz’ Théodicèe für Conti auszuleihen (BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 22, 42r), mit dem er Leibniz diskutiert habe. Hermann sendet das Buch am 26. Oktober 1712 zurück (Hermann an Bourguet am 28. Oktober 1712, in: Ebd., Nr. 24, 45r).
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Théodicée eher kritisch gegenüber165. Gegen seine Einwürfe unternahm Bourguet eine schriftliche Verteidigung der Théodicée, die 1713 durch Jacob Hermann an Leibniz gesandt wurde166. Eine überarbeitete Version wurde Leibniz von Hermann gesandt, vor seiner Abreise aus Padua. Er reiste über Wien nach Frankfurt an der Oder167, um zwischen dem 21. und 23. Mai 1713 Leibniz zu treffen168. Am 3. Juli 1712 schreibt Hermann an Bourguet, dass er ganz mit Leibniz einverstanden sei, dass die Bewegungsregeln nicht geometrisch bewiesen werden können, da sie nicht metaphysisch notwendig seien169. Diese Bemerkung aber bezieht sich auf Leibniz’ Argumentation in der Théodicée. Tatsächlich verweist Hermann ausdrücklich auf die §§ 346 ff. des Buches, in denen Leibniz das Prinzip der Erhaltung derselben Kraft statt der Erhaltung der Bewegungsmenge darstellt, das ebenso wie das Prinzip der Gleichheit von Aktion und Reaktion nicht geometrisch begründet werden könne, da es keine absolute Notwendigkeit dieser Axiome gebe wie in der Logik, Geometrie und Arithmetik170. Aus diesem Brief geht also zum einen hervor, dass der Mathematiker Hermann dieses philosophische Werk mit großem Interesse studiert hat, zum anderen aber, dass er darin auch jene metaphysischen Grundlagen von Leibniz’ Dynamik gefunden hat, auf die er während seiner Arbeit an der Phoronomia selbst gestoßen war. Hermann verweist aber auch auf Leibniz’ Behandlung der großen Fragen der Kontinuität und der Unteilbaren sowie der Freiheit und Notwendigkeit. Es scheint, dass Hermanns Studium von Leibniz’ Théodicée einher ging mit einem neuen Zugang zu Leibniz’ Dynamik, wie aus seinen Briefen an Bourguet vom Anfang des Jahres 1712 deutlich wird. Am 20. Februar 1712 gibt er eine Erklärung, die vielleicht hilfreich sein kann nicht nur zum Verständnis von Hermanns anfänglichen, aber nunmehr überwundenen Schwierigkeiten mit Leibniz’ Metaphysik und seiner metaphysischen Dynamik: [D]ans cet examen Je suis tombé sans y penç[s]er dans le Systeme du Mr. Leibniz touchant la force des corps fort different de celuy des Cartesiens, que je croyois si devant inextricable [?] Et celui de M. Leibniz si non tout à fait faux du moins fort suspect; parce qu’il ne l’a jamais proposé qu’obscurement // et qu’il n’en a jamais apporté de preuves directes. J’expliqueray donc ce Systeme dans mon livre et je le prouveray par une demonstration directe et fort simple me servant d’une proposition deja connue et admise de tout les connoisseurs mais don’t personne des s’est avisé d’en tirer les consequences que j’en tire excepté M. Leibnitz171.
165 Hermann an Bourguet am 4. Dezember 1712, in: Ebd., Nr. 27, 47r. 166 Bourguets Verteidigung von Leibniz und sein Brief durch Hermann an Leibniz, siehe Anm. 159 oben. 167 „J’ay enfin attenu mon congé et j’espere de partir avec; l’aide de Dieu dabord après paque, et ainsi il faut que Vous Vous hatiez d’achever vos Reflexions Sur la Theodicée de Mr. de Leibnitz, si Vous voules que je les luy apporte moy meme“. (Hermann an Bourguet am 6. März 1713, in: BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 30, 57v). 168 In seinem Schreiben an Bourguet vom 17. Mai 1713 teilt Hermann ihm mit, dass er am 20. Mai nach Wien aufbrechen werde. In: Ebd., Nr. 32, 61r. 169 Ebd., Nr. 16, 30r. 170 Essais de Théodicée; GP VI, 319–320. 171 BPU, Fonds Bourguet, MS 1272-5/1272-6, Nr. 13, 24r-v.
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Das scheint einen Durchbruch im Verständnis von Leibniz’ Dynamik anzudeuten, und von nun an sieht sich Hermann als vollkommenen Anhänger von Leibniz. Dass Hermann nun auch für Leibniz’ metaphysische Seite seiner Dynamik gewonnen wurde, scheint mir klar aus einer Erklärung hervorzugehen, die Hermann am 22. September 1712 an Bourguet sendet, in der er eine kurze Zusammenfassung des Projekts seiner Phoronomia gibt, nachdem das Buch fast fertiggestellt ist. Es scheint, dass er zu dieser Zeit Leibniz’ Ansichten über die Erhaltung der lebendigen Kräfte als grundlegend für die Dynamik angenommen hatte. Je tire ces regles là de ce seul et unique principe qu’il se conserve la meme quantité de force dans la nature, pregnant les forces dans le sens du Systeme de Mr. Leibnitz, sans emprunter d’autres principes, et j’en deduis les proprietes de movement que d’autres ont supposes ou demontré d’une maniere un peu embarrassée […]172.
Die Erhaltung der lebendigen Kraft sollte also das grundlegende Prinzip der Dynamik
sein, eine Auffassung, die uns in Hermanns Schüler Samuel König wiederbegegnet. Ausdrücklich bekundete er sein Einverständnis mit Leibniz, dass die Naturgesetze nicht geometrisch bewiesen werden können, da ihre Grundlagen vielmehr in der Metaphysik lägen. Am 4. Dezember 1712 teilte Hermann Bourguet mit173, dass er sein abgeschlossenes Buch Phoronomia Leibniz und der Berliner Akademie widmen wird. Trotzdem war Leibniz mit Hermanns Buch nicht völlig zufrieden, aus den oben genannten Gründen. Am 21. Mai 1716 berichtete Hermann Bourguet, dass Leibniz ihm in einem Schreiben vorgeworfen habe, den Engländern zu schmeicheln174. Das hätte er ihm auch schon selber gesagt, es sei aber nicht wahr. Aber er wolle Leibniz gern für solche Empfindlichkeit entschuldigen, dass er sich ärgere über das geringste Gute, das man über Newton sage, angesichts der schlechten Behandlung von Leibniz durch die Engländer. Andererseits wünschte Hermann am 14. Mai 1716, dass Leibniz mehr auf seine Reputation gäbe und Keils Behauptung eines Plagiats widerlege, wozu er allen Grund der Welt habe175. Er habe selbst schon zur Verteidigung von Leibniz die Feder ergriffen und auch Bernoulli habe gezeigt, dass Newton die Natur der zweiten Differenzen nicht verstehe176. Die Engländer würden aber auch ihn selbst angreifen, vermutlich weil er es gewagt habe, weiter zu gehen als Newton – er bekenne sich schuldig. Newton sei vielleicht verlegen, weil Hermann ein Problem gelöst habe, das jener benannt hatte. Und dann verspricht er: „Je n’ay point encore mis au jour le Systeme Dynam. de M. Leibnitz, mais dans peu de temps je publieray quelque chose“177. In einem Brief, den Hermann aus Frankfurt an der Oder nach Leibniz’ Tod an Bourguet richtete, erklärte er seine Absicht, eine Verteidigung für Leibniz gegen die englischen Angriffe, insbesondere vonseiten
172 173 174 175 176 177
Ebd., Nr. 19, 36r. Ebd., Nr. 25, 47r. Ebd., Nr. 35, 65r-v. Ebd., Nr. 34, 63v. Ebd., 64r. Ebd.
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Ursula Goldenbaum
Keils aufzusetzen. Das Vorhaben scheiterte aber daran, dass ihm jeder Zugang zu den Schriften Leibnizens in Hannover verwehrt wurde178. In den folgenden Jahren, als Hermann in Frankfurt unterrichtete, während Bourguet seit 1715 wieder in Neuchâtel bei seiner Familie lebte, wechselten die Freunde seltener Briefe; während Hermanns Zeit in Petersburg aber kam ihr Briefwechsel ganz zum Erliegen. Am 18. August 1720 schreibt Hermann an Bourguet, dass er Wolffs Deutsche Metaphysik gelesen habe und urteilt: „C’est une Metaphysique toute batie sur les principes de la Philosophie de Mr. de Leibniz“179. Aus einem Brief vom 23. Mai 1731 erfahren wir dann, dass er am 7. April wieder in Basel angekommen sei, und seine Reise von Petersburg die meiste Zeit mit Bilfinger zusammen verbracht habe. Und er zeigt sich begeistert von Bourguets Plan einer Briefedition, zu der er gern seine Korrespondenz mit Leibniz beisteuern wolle180. Neben diesen Einblicken in Hermanns Entwicklung hin zu Leibniz’ Verständnis der physikalischen wie metaphysischen Dynamik, offenbart die Lektüre des Briefwechsels aber auch einen historisch interessanten Umstand: Bourguet und Hermann waren ja beide regelmäßige Korrespondenten von Leibniz und ebenso beide große Bewunderer seiner Ideen. Es scheint nun, dass die Freunde sich in ihrer gemeinsamen Zeit in Italien auch regelmäßig berichtet haben, wenn einer von beiden wieder eine Briefsendung des verehrten Gelehrten erhalten hatte181. Beide gaben dann dem jeweils anderen die Gelegenheit, die eingetroffenen Leibnizbriefe zu lesen oder zu kopieren. Das heißt aber, alle Briefe, die Hermann von Leibniz erhalten hat, sind grundsätzlich auch Bourguet zugänglich gewesen und es ist sehr wahrscheinlich, dass Bourguet das ebenso gehalten hat. Auch scheint Bourguet seine Briefe an Leibniz öfter durch Hermann geschickt und auch Leibnizbriefe durch Hermann erhalten zu haben, so dass es selbstverständlich gewesen zu sein scheint, dass Hermann Bourguets Briefe von und an Leibniz lesen konnte182. 6. ZUSAMMENFASSUNG Obwohl diese Ausführungen nur einen unvollständigen und losen Bericht über den Briefwechsel zwischen Bourguet und Hermann bieten können, möchte ich abschließend hervorheben, dass ihre Leibnizrezeption im Mittelpunkt ihres Briefwechsels 178 179 180 181
Hermann aus Frankfurt am 21. Juni 1717, in: Ebd., Nr. 37, 68r. Hermann an Bourguet 16. August 1720, in: Ebd., Nr. 39, 70r. Hermann an Bourguet am 23. Mai 1731, in: Ebd., Nr. 41, 72r-v. „J’ay recue ce matin une longue lettre de Mr. Leibnitz touchant la matière de forces matieres don’t j’ay la tête si pleine depuis quelque tems. J’auray l’honneur de Vous la faire voir“. (Hermann an Bourguet am 2. Oktober 1712, in: Ebd., Nr. 21, 40r) Solche Hinweise finden sich auch in Briefen Hermanns an Bourguet, Nr. 28 vom 8. Januar 1713, Nr. 29 vom 7. Februar 1713, Nr. 29 vom 11. Februar 1713, und Nr. 31 vom 13. April 1713. 182 Das scheint wenigstens aus Hermanns Schreiben an Bourguet vom 17. Mai 1713 hervorzugehen, in dem er angibt, dass er Bourguets Schreiben durch Vallisneri an Leibniz schicken lassen habe, samt Bourguets Kritik an Contis Leibnizkritik. Er war also beauftragt, Bourguets Briefsendung an Leibniz zu befördern. Siehe ebd., Nr. 32, 61r.
Eine frühe Rezeption von Leibniz’ Dynamik
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stand, vor allem in den Jahren ihres gemeinsamen Italienaufenthalts 1711–1713. Diese Leibnizrezeption war dabei für jeden von ihnen von grundsätzlicher Bedeutung, wobei sie sich auch gegenseitig inspirierten. Bourguet erlangte durch Jacob Hermann einen Zugang zu Leibniz’ Infinitesimalkalkül und vor allem zu seiner physikalischen Dynamik, die ihm erlaubten, Leibniz’ Metaphysik zu erschließen. Es ist auffallend, dass Bourguet die Monade problemlos als reine Aktivität auffasst. Aber auch Hermann scheint von den gemeinsamen Diskussionen über die Théodicée, an denen teilweise auch Conti teilnahm, profitiert zu haben. Zwar ist er sicher vor allem durch seine Arbeit an seiner Phoronomia tiefer in Leibniz’ Dynamik eingedrungen, aber Bourguets metaphysisches Interesse scheint dabei durchaus die Rolle mindestens eines Katalysators gespielt zu haben. Beide Schweizer repräsentieren in diesen Jahren Leibniz’ Philosophie, Physik und Mathematik im italienischen Wirkungskreis, was insbesondere in den Auseinandersetzungen mit Contis Kritik an der Théodicée zum Ausdruck kommt, aber auch darin, dass Leibniz sein Anliegen einer Übersetzung seines Werkes ins Italienische Hermann vorträgt. Schließlich erfahren wir aus dem Briefwechsel dieser beiden Schweizer, der in französischer Sprache erfolgte, auch den interessanten Umstand, dass beide gegenseitig Zugang zu ihrer jeweiligen Leibnizkorrespondenz hatten. Vor allem aber wird aus diesem Briefwechsel klar, dass sich Hermann als Leibnizianer sah, und dass er Wolffs Metaphysik als ganz leibnizianisch verstand, obgleich er intensiv von Newton lernte und diesen als genialen Wissenschaftler verehrte. Das widerspricht dem gängigen Vorurteil vor allem in der Wissenschaftsgeschichte, wonach sich Newtonianer und Leibnizianer unversöhnlich gegenüber standen. Hermann war überzeugt von der Falschheit der englischen Plagiatsvorwürfe und bereit, Leibniz dagegen zu verteidigen, was an der mangelnden Bereitschaft der Bibliothek in Hannover scheiterte, ihm Dokumente aus Leibniz’ Nachlass bereitzustellen. Aus dem vorletzten erhaltenen Brief erfahren wir, dass Samuel König (ohne Namensnennung) aus Bern mit Jacob Hermann Mathematik und insbesondere Newton studierte. Vor allem aber lässt der Briefwechsel eine ansonsten erst wieder mit Samuel König auftauchende Leibnizrezeption erkennen, die Leibniz’ Dynamik zum Mittelpunkt seiner Physik und Metaphysik machte.
PERSONENREGISTER* Aa, Pieter van der (1659–1733) 54 Abauzit, Firmin (1679–1767) 245, 247 Acoluthus, Andreas (1654–1704) 97, 109 Aesop 127 Albinus, Bernhard (1653–1721) 192 Almeloveen, Theodor Jansonnius van (1657–1712) 119 Amalia, Kaiserin von BraunschweigLüneburg (1673–1742) 147 Ancillon, Charles (1659–1715) 152 Anton Ulrich, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel (1633–1714) 138, 144, 147, 166 Aquin, Thomas von (1224–1274) 209 Aristoteles 52, 127 Arminius 211 Arnauld, Antoine (1612–1694) 90 August II., König von Polen (= Friedrich August I., Kurfürst von Sachsen) (1670–1733) 72 Augustinus 209 Balcke, Johann Christoph (1661–1730) 120 Barbeyrac, Jean (1674–1744) 195, 245 Baring, Daniel Eberhard (1690–1753) 164, 165, 167, 169, 170 Baruzi, Jean (1881–1953) 208 Basnage de Beauval, Henri (1657–1710) 200 Baulacre, Léonard (1670–1761) 247 Bayle, Pierre (1647–1706) 28, 114, 196, 199, 200, 201, 203, 208, 210, 215, 220, 222, 223, 244 Bél, Mathias (1684–1749) 151, 162 Benthem, Heinrich Ludolf (1661–1723) 106, 111, 112 Bernoulli, Daniel (1700–1782) 226, 227 Bernoulli, Jacob I (1655–1705) 56, 224, 225, 240 Bernoulli, Johann I (1667–1748) 15, 40, 41, 47, 49, 50, 51, 52, 54, 57, 58, 59, 66, 71, 73, 79, 81, 122, 127, 150, 160, 225,
*
226, 228, 229, 231, 232, 236, 239, 240, 245, 251 Bernoulli, Johann II (1710–1790) 18, 58, 59, 67, 79 Bernoulli, Johann III (1744–1807) 19, 39, 40, 41, 44, 45, 65, 73, 74, 247 Bernoulli, Nicolaus I (1687–1759) 56, 66 Bernoulli, Nicolaus II (1695–1726) 149, 150 Bernstorff, Andreas Gottlieb von (1649– 1726) 130, 169 Besser, Johann von (1654–1729) 97, 99, 108 Bianchi, Antonio de’ 240 Bianchini, Francesco (1662–1729) 96 Bierling, Friedrich Wilhelm (1676–1728) 137, 138, 141 Bignon, Jean Paul (1662–1743) 18, 54, 55, 56, 57, 59, 149 Bilfinger, Georg Bernhard (1693–175) 252 Bodemann, Eduard (1827–1906) 171, 175 Bodenhausen, Rudolf Christian von (gest. 1698) 83 Boecler, Johann Heinrich (1611–1672) 168 Boerhaave, Herman (1668–1738) 57 Böhmer, Georg Ludwig (1715–1797) 173 Böhmer, Justus Christoph (1670–1732) 146, 154 Boineburg, Johann Christian von (1622– 1672) 26, 167, 168 Bonnet, Charles (1720–1793) 63, 64 Bonnivet (Seigneur de Villiers), Etienne Gouffier de (?–1732) 50 Borchward (1712 in Berlin) 37 Bossuet, Jacques Bénigne (1627–1704) 168 Bouhier, Johann III (1673–1746) 244, 246 Bourguet, Jean 240 Bourguet, Louis (1678–1742) 22, 23, 29, 30, 31, 94, 99, 159, 160 Bourguet, Marguerite (?–1760) 246, 247 Bourguet, Suzanne 241
Personen des 16.–18. Jahrhunderts sind, sofern ermittelt, mit Lebensdaten versehen.
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Personenregister
Boursier, Laurent-François (1679–1749) 198 Bousquet, Marc-Michel 245, 246 Bouvet, Joachim (1656–1730) 138, 147, 241, 246 Bovet, Pierre 244 Breithaupt, Joachim Justus (1658–1732) 157, 158 Breitkopf, Bernhard Christoph (1695–1777) 159 Breyne, Johann Philipp (1680–1719) 54 Brin(c)k, Karl Philipp von (?–1762) 72, 164, 169, 170 Brosseau, Christophe (1630–1717) 99 Bruce, Jacob Daniel de (1669–1735) 53 Brugmans, Antonius (1732–1789) 83 Buchhaim, Franz Anton von (1663–1718) 115 Buddeus, Johann Franz (1667–1729) 75, 138, 149, 150, 151 Budé (Budaeus), Guillaume (1447–1540) 75 Bürckli, Johann Heinrich (1647–1730) 55 Burnett of Kemney, Thomas (1656–1729) 126, 127 Busch, Julius Heinrich Friedrich (?–1758) 101 Calandrini, Giovanni Ludovico Siehe Calandrini, Jean-Louis Calandrini, Jean-Louis (1703–1758) 245, 247 Calixt, Friedrich Ulrich (1622–1701) 106 Calvin, Jean (1509–1564) 189, 190, 205, 207, 218 Càmpori, Matteo (1856–1933) 175 Camusat, François Denis (1700–1732) 114 Carcavy, Pierre de (um 1600–1684) 168 Caroline von Brandenburg-Ansbach, Königin von Großbritannien (1683– 1737) 136, 137, 147, 148, 219 Cassini, Giovanni Domenico (1625–1712) 233 Caze, Jean 245, 246, 247 Chaufepié, Jacques Georges de (1702–1786) 195 Chauvin, Etienne (1640–1725) 192 Christine Luise von Oettingen-Oettingen (1671–1747) 147 Chuno, Johann Jacob Julius (1661–1715) 99, 192 Clairaut, Alexis-Claude (1713–1765) 227
Clarke, Samuel (1675–1729) 136, 147, 219, 244 Cocceji, Heinrich von (1644–1719) 208 Cocceji, Samuel von (1679–1755) 208 Conring, Hermann (1606–1681) 26, 167, 168 Consbruch, Caspar Florenz von (1655– 1712) 138 Conti, Antonio (1677–1749) 237, 249, 252, 253 Cramer, Gabriel (1704–1752) 79, 81, 82, 247 Crell(ius), Samuel (1660–1747) 194 Cros, Joseph Auguste Du (nach 1640–1728) 161 Cuneau, Johann Jacob Siehe Chuno, Johann Jacob Julius Cuper, Gisbert (1644–1716) 55, 56, 57 D’Alembert, Jean-Baptiste Siehe Le Rond, Jean-Baptiste (1717–1783) Dangicourt, Pierre (1665–1727) 40, 138, 149, 151 Demokrit 52, 127 Des Bosses, Bartholomäus (1668–1738) 43, 138, 150 Des Vignoles, Alphonse, Sieur de SaintGeniez (1649–1744) 152, 195 Descartes, René (1596–1650) 52, 77, 82, 206, 223, 227, 230 Dohna-Schlobitten, Alexander zu (1661– 1728) 108, 149 Driesch, Gerhard Cornelis van den (1688– 1758?) 15, 138, 141, 144, 150, 151, 162 Dutens, Louis (1730–1812) 137, 245, 247 E(h)ler, Karl Gottlieb (1685–1755) 138 Eckhart, Johann Georg (von) (1674–1730) 14, 15, 24, 25, 121, 122, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 146, 147, 148, 152, 157, 163, 164, 165, 170 Elisabeth Charlotte von Pfalz-Simmern, Herzogin von Orléans (1652–1722) 133 Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel, Kaiserin (1691–1750) 147 Elsholtz, Johann Sigismund (1623–1688) 168 Erasmus von Rotterdam (1466–1536) 209 Ernst August, Herzog/Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg (1629–1698) 129
Personenregister Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745–1804) 74 Ernst Landgraf von Hessen-Rheinfels (1623–1693) 147, 168 Erskine (Areskin), Robert Karlowitsch (1674–1719) 53, 58 Escher, Johannes 58 Eugen, Prinz von Savoyen-Carignan (1663– 1736) 35, 147 Euler, Leonhard (1707–1783) 63, 64, 72, 76, 77, 78, 79, 224, 226, 227, 232, 240 Fabricius, Johann (1644–1729) 21, 25, 94, 96, 101, 102, 105, 106, 107, 110, 138, 140, 141, 142, 146, 151, 156, 157, 159, 161 Fabricius, Johann Albert (1668–1736) 137, 138, 140, 149, 151, 154 Fabricius, Rudolf Anton (1701–1772) 161 Fardella, Michael Angelo (1650–1718) 225, 226, 234 Feller, Joachim (1628–1691) 119 Feller, Joachim Friedrich (1673–1726) 14, 23, 24, 27, 117–33, 143, 144 Ferdinand Karl Gobert von AspremontLynden (1689–1772) 247 Ferrand, Louis (1645–1699) 168 Fetizon, Paul Daniel (1650–1706?) 106, 111, 114 Flachbert (Flachsbart), Heinrich 170 Flamsteed, John (1646–1719) 149, 232, 243 Fogel, Carl Johann (1675–1738) 158 Fogel, Martin (1634–1675) 137, 138, 158, 162 Formey, Johann Heinrich Samuel (1711– 1797) 68, 78, 79, 80, 82, 83 Foucher, Simon (1644–1696) 223, 245 Friedrich August, Erbprinz von SachsenEisenach (1663–1684) 189 Friedrich I., König in Preußen (= Friedrich III. Kurfürst von Brandenburg) (1657– 1713) 37, 39, 72, 112, 192 Friedrich II., König von Preußen (1712–1786) 11, 19, 64, 88 Frobesius (Frobes), Johann Nikolaus (1701– 1756) 23, 42, 155 Fürstenberg, Ferdinand von (1626–1683) 168 Gakenholz, Alexander Christian (?–1717) 138, 144 Galilei, Galileo (1564–1642) 228, 231 Garelli, Gian Battista (1649–1732) 150 Garelli, Pio Nicola (1670–1739) 150
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Gentilotti von Engelsbrunn, Johann Benedikt (1672–1725) 150 Georg I., König von Großbritannien und Irland, Kurfürst von BraunschweigLüneburg (1660–1727) 170 Georg II., König von Großbritannien und Irland, Kurfürst von BraunschweigLüneburg (1683–1760) 137 Gerhardt, Carl Immanuel (1816–1899) 228, 232, 238, 245 Gerlach, Franz Dorotheus (1793–1876) 59 Gessner, Johannes (1709–1790) 18, 57, 58, 59 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 44, 221 Goldbach, Christian (1690–1764) 25, 138, 140, 149, 150, 151, 152, 153, 158 Gottsched, Johann Christoph (1700–1766) 11, 12, 42, 159, 160, 218 Graevius, Johann Georg (1632–1703) 168, 172 Gratianus 234 Gravel, Jacques (gest. 1679) 168 Gravesande, Willem Jacob ’s (1688–1742) 66, 73 Gregory, David (1627–1720) 232, 233 Grimarest Siehe Le Gallois de Grimarest, Jean Leonor (1659–1713) Gruber, Frau von Johann Daniel Gruber 167, 169, 172, 173, 174 Gruber, Johann Daniel (1688–1748) 26, 27, 163–75 Gude, Marquard (1635–1689) 127 Guericke, Otto von (1602–1686) 168 Guglielmini, Domenico (1655–1710) 40 Guilhelmi 234 Gwynne, Rowland (1659–1726) 36 Gysi, Jakob (1679–1741) 225 Habbeus von Lichtenstern, Christian (1627– 1680) 168 Hackmann, Friedrich August (1670–1734) 138, 156, 157 Hahn, Simon Friedrich (1692–1729) 163, 164, 165 Haller, Albrecht von (1708–1777) 57, 68, 70, 80 Halley, Edmond (1656–1742) 149 Hamberger, Georg Albrecht (1662–1716) 149 Hansch, Michael Gottlieb (1683–1749) 15, 138, 149, 151, 156, 161, 162
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Personenregister
Hardt, Hermann von der (1660–1746) 92, 115, 116, 126, 138, 144 Hartsoeker, Nicolaus (1656–1725) 138, 141, 144 Haude, Johann Ambrosius (1690–1748) 98, 159 Heinrich, Prinz von Preußen (1726–1802) 40 Helmont, Franciscus Mercurius van (1618– 1698) 49, 118, 168 Henzi, Rudolf Samuel (1731–1803) 19, 20, 70, 71, 73, 74, 82 Henzi, Samuel (1701–1749) 71, 80, 223, 224 Hepke, Conrad Heinrich Andreas 164 Heraeus, Carl Gustav (1671–1725) 138, 150, 151, 162 Hering, Johann Samuel (1683–1752) 140 Hermann, Jacob (1678–1733) 19, 23, 29, 43, 70, 80, 81, 149, 195, 239 Hertel, Lorenz (1659– 1737) 122 Hesenthaler, Magnus (1621/1623?–1681) 138, 144 Hevelius, Johannes (1611–1687) 138 Hinüber, Johann Melchior (1672–1752) 126, 162 Hoadly, Benjamin (1676–1761) 198 Hodann, Johann Friedrich (1674–1745) 161 Hoffmann, Johann Heinrich (1669–1716) 88 Holsten, Johann Ludwig von 158 Horch, Heinrich (1652–1729) 124 Horner, Johann Jakob (1804–1886) 56 Hörnigk, Philipp Wilhelm von (1640–1714) 121 Hottinger, Salomon (1649–1713) 51 Huber, Daniel (1768–1829) 54 Huet, Pierre-Daniel (1630–1721) 168 Huygens, Christiaan (1629–1695) 66, 71, 77, 127, 229, 231, 233, 234, 235, 239 Huysssen, Heinrich van (1666–1739) 138, 150 Ilgen, Heinrich Rüdiger von (1654–1728) 110, 149 Jablonski, Daniel Ernst (1660–1741) 21, 88, 89, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 112, 113, 114, 149, 192, 193, 245, 246 Jablonski, Johann Theodor (1654–1731) 38, 100 Jablonski, Paul Ernst (1693–1757) 100, 101 Jallabert, Jean (1712–1768) 234, 247
Jaquelot, Isaac (1647–1708) 106, 111, 195, 199, 200, 210, 211 Jariges, Philipp Joseph von (1706–1770) 245 Johann Friedrich, Herzog von Braunschweig-Lüneburg (1625–1679) 35, 147 Johann Georg I., Herzog von SachsenEisenach (1634–1686) 189 Jordan, Charles Etienne (1700–1745) 20, 21, 22, 23, 25, 30, 31, 37, 38, 88, 93, 95, 98, 99, 102, 105, 106, 110, 111, 114, 135, 152, 153, 159, 244, 245 Joseph 126 Jung, Johann Heinrich (1715–1799) 70, 71 Jurieu, Pierre (1637–1713) 186, 197, 199, 220 Justel, Henri (1620–1693) 168 Juvenal 209 Kant, Immanuel (1724–1804) 221, 222 Kapp, Johann Erhard (1696–1756) 20, 21, 23, 31, 38, 43, 87, 88, 89, 90, 92, 93, 95, 96, 97, 98, 99, 101, 102, 103, 105, 106, 107, 110, 111, 113, 114, 115, 159, 160 Kappeler, Moritz Anton (1685–1769) 54, 57 Karl der Große 130 Kästner, Abraham Gotthelf (1719–1800) 42, 43, 45 Keil, John (1671–1721) 251, 252 Kepler, Johannes (1571–1630) 229, 230 Kestner, Heinrich Ernst (1671–1723) 44, 138, 140 Kirch, Christfried (1694–1740) 18, 37, 88 Kirch, Gottfried (1639–1710) 18, 37, 88, 232 Klopp, Onno (1822–1903) 174 Knoche, Johann Barthold 72 Knorr von Rosenroth, Johann Christian (1671–1716) 118 Kochański, Adam Adamandus (1631–1700) 168, 174 Koes, Friedrich (1684–1766) 140, 149, 151, 158 Kohl, Franz Theodor 138, 158 König, Samuel (1712–1757) 19, 20, 31, 41, 45, 223, 224, 226, 228, 232, 251, 253 Kortholt, Christian (1633–1694) 135, 136 Kortholt, Christian [der Jüngere] (1709– 1751) 15, 21, 23, 24, 25, 26, 31, 88, 91, 94, 97, 105, 106, 107, 116, 135–62
Personenregister Kortholt, Heinrich Christian (1668–nach 1716) 146 Kortholt, Joel Johannes 146 Kortholt, Joel Johannes (nach 1675–vor 1725) 146 Kortholt, Mathias Nikolaus (1674–1725) 136, 146 Kortholt, Sebastian (1675–1760) 14, 15, 23, 24, 25, 26, 128, 135, 136, 138, 141, 142, 145, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 154, 156, 157, 158, 159, 160, 161 Korzeniowski, J. 85 Krüsicke, Johann Christoph (1682–1745) 138, 158 Kvačala, Jan (1862–1934) 116 L’Hospital, Guillaume François Antoine de, Marquis de Sainte Mesme et du Montellier (1661–1704) 225, 229 La Croze, Mathurin Veyssière (1661–1739) 23, 25, 30, 95, 99, 135, 138, 141, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 156, 157, 159, 161, 207 La Placette, Jean de (1639–1718) 196 Lamy, Bernard (1640–1715) 138 Lana Terzi, Francesco (1631–1687) 168 Lang, Karl Nikolaus (1670–1741) 57 Lange, Joachim (1670–1744) 157 Lange, Johann Christian (1669–1756) 138 Langerfeld, Rutger von (1635–1695) 191 Le Blanc de Beaulieu, Louis 197 Le Bovier de Fontenelle, Bernard (1657–1757) 14, 133, 147 Le Cat, Claude-Nicolas (1700–1768) 247 Le Clerc, Jean (1657–1736) 199 Le Gallois de Grimarest, Jean Leonor (1659–1713) 138 Le Gobien, Charles (1653–1708) 138, 147 Le Rond, Jean-Baptiste (1717–1783) 227 Leeuwenhoek, Antoni van (1632–1723) 15, 97 Leibniz, Johann Friedrich (1632–1696) 91, 168 Leonhard, Johann Karl, (1686–1777) 164 Leopold I. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) (1640–1705) 147 Lequien, Michel (1661–1733) 36 Leyser, Polykarp IV (1690–1728) 156 Liebknecht, Johann Georg (1679–1749) 138, 140 Lincker von Lützenwick, Johann (1615– 1698) 168 Linné, Carl von (1707–1778) 58
259
Locke, John (1632–1704) 195, 198 Löffler, Friedrich Simon (1669–1748) 91, 97, 138, 142, 160 Löffler, Simon (1627–1674) 91, 138, 160, 162 Lönner, Johann Heinrich (1654–1730) 115 Löscher, Valentin (1674–1749) 28, 29, 185–223 Loubère, Simon de la (1642–1729) 15 Luc, Guillaume-Antoine de (1767–1841) 247 Luc, Jean-André de (1727–1817) 247 Ludolf, Heinrich Wilhelm (1655–1712) 127, 138, 144 Ludolf, Hiob (1624–1704) 121, 122, 125, 168 Ludovici, Carl Günther (1707–1778) 15, 23, 31, 42, 137, 141, 143, 144, 148, 149, 155 Ludwig XIV. (1638–1715) 186 Luther, Martin (1483–1546) 205, 209, 210 Luzac, Elie (1721–1796) 82, 83 Luze, Abraham de (1727–1790) 247 Magliabechi, Antonio (1633–1714) 118 Malebranche, Nicolas (1638–1715) 149 Marinoni, Giovanni Jacopo (Johann Jakob) (1676–1755) 138, 149, 151 Marschall, Johann Conrad (?–1760) 164, 170 Martinelli, Christino 243 Mascov, Johann Jacob (1689–1761) 138, 141, 149, 151, 152 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de (1698– 1759) 19, 20, 63, 64, 67, 68, 70, 72, 74, 76, 77, 78, 79, 80, 223 Mayer, Johann Friedrich (1650–1712) 90, 93 Mejer, Dr., 1849 in Goslar 44 Mejer, Johann Eberhard (1704–1786) 172, 174 Mencke, Johann Burchard (1674–1732) 149 Mencke, Otto (1644–1707) 126, 228 Michelotti, Pietro Antonio (1673–1740) 15, 138 Moivre, Abraham de (1667–1754) 149, 225 Molanus, Gerhard Wolter (1633–1722) 39, 101, 104, 105, 107, 110, 112, 114, 138, 140, 146, 154 Monti 241 Morell, Andreas (1646–1703) 127, 138, 144 Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz (1664– 1718) 147
260
Personenregister
Moses 126 Mosheim, Johann Lorenz von (1693–1755) 137, 156, 198 Müller, Andreas (1630–1694) 168 Münchhausen, Gerlach Adolph von (1688– 1770) 46 Muralt, Johannes von (1645–1733) 58 Muratori, Lodovico Antonio (1672–1750) 89, 91, 92, 115, 138, 169, 171, 172, 175 Murr, Christoph Gottlieb von (1733–1811) 39, 46 Naudé, Anne (1683–?) 190 Naudé, David 188 Naudé, Elisabeth 190 Naudé, Joachim 188 Naudé, Marthe 188 Naudé, Philippe d. Ält. (1654–1729) 28, 29, 185–223 Naudé, Philippe d. J. (1684–1745) 188, 195, 198, 215, 216 Neumann, Caspar (1648–1715) 112 Newton, Isaac (1643–1727) 29, 52, 66, 68, 78, 90, 93, 127, 149, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 235, 237, 238, 239, 240, 243, 244, 247, 251, 253 Nicaise, Claude (1623–1701) 245 Nieuwentijt, Bernard (1654–1718) 225 Nolte, Rudolf August (1703–1752) 66 Ogilvy, Georg Benedikt von (1651–1710) 55 Ohlenschlager, Johann Daniel von (1711– 1778) 92 Oldenburg, Henry (1618–1677) 90, 93, 168, 174 Oppermann, Dr. (um 1800) 43 Orban, Ferdinand (1655–1732) 138 Origenes 199 Ostervald, Jean Frédéric (1663–1747) 196, 197, 247 Osterwald, Johann Friedrich Siehe Ostervald, Jean Frédéric Papin, Denis (1647–1712?) 66, 82, 126, 228, 231 Parent, Antoine (1666–1716) 233, 234, 235 Paulus 209 Pelagius 210 Pelican, Wenceslaus Joseph 65 Pellisson-Fontanier, Paul (1624–1693) 122, 124, 133, 142 Peter I. (der Große) (1672–1725) 53 Petitpierre, Abraham-Henri (1748–1786) 247
Pfaff, Johann Friedrich (1765–1825) 42 Pfautz, Christoph (1645–1711) 230 Pfeffinger, Johann Friedrich (1667–1730) 138 Pictet, Bénédict (1655–1724) 106 Pinsson, François (nach 1645–nach 1707) 138, 144 Placcius, Vincent (1642–1699) 168 Poiret, Pierre (1646–1719) 197, 206 Rabener, Johann Gebhard (1632–1701) 95, 118, 152 Ramazzini, Bernardino (1633–1714) 149 Raspe, Rudolf Erich (1736–1794) 43 Reiche, Jobst Christoph (1657–1740) 102 Reinbeck, Johann Gustav (1683–1741) 193 Reinerding, Johann Thiele (?–1727) 115, 120 Remond, Nicolas-François (1638–1725) 138, 143, 147, 148, 224, 229 Reyher, Samuel (1645–1714) 137, 138, 140, 158 Robinet, André (1922–2016) 225 Rojas y Spinola, Cristobal de (1626–1695) 101, 109 Rømer, Olaus (Ole Christensen) (1644– 1710) 40, 41, 138, 140, 158 Rudolf August, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel (1627–1704) 120, 121, 138, 144, 147 Sander, Heinrich (1754–1782) 64 Scheidt, Christian Ludwig (1709–1761) 19, 68, 69, 70, 71, 72, 82, 101, 164, 169, 170, 172, 173 Schelhammer, Günther Christoph (1649– 1716) 137, 138, 140, 158 Schenck, E. (um 1712) 40 Scheuchzer, Dorothea, (?–1778) 57, 58 Scheuchzer, Johann Caspar (1702–1729) 54, 55, 59 Scheuchzer, Johann Jakob (1662–1733) 18, 47–63, 226, 227, 234, 249 Scheuchzer, Johannes (1684–1738) 47, 50, 52, 53, 54, 57, 58 Scheuchzer, Johannes (1738–1815) 57 Schläger, Julius Karl (1706–1786) 46 Schmid(t)mann, Johann Daniel (1663–1728) 194 Schmid, Johann Philipp (um 1660–um 1720) 138, 141, 154, 166 Schmidt, Johann Andreas (1652–1726) 73, 95, 96, 121, 126, 138, 140, 142, 146, 155, 156
Personenregister Schöpflin, Johann Daniel (1694–1771) 71 Schrader, Chilian (von) (1650–1721) 126 Schröck, Caspar 55, 56 Schröck, Lucas (1646–1730) 56 Scudéry, Madeleine de (1607–1701) 122, 138, 144 Scultetus, Daniel Severin (1645–1712) 102, 106, 111, 112 Seba, Albert (1665–1736) 54 Seckendorff, Veit Ludwig von (1626–1692) 168 Sherard, William (1659–1728) 53 Sloane, Hans (1660–1753) 149 Smith, Thomas (1638–1710) 168 Sophie Charlotte von BraunschweigLüneburg, Königin in Preußen (1668– 1705) 31, 39, 40, 103, 147 Sophie von Pfalz-Simmern, Herzogin/Kurfürstin von BraunschweigLüneburg (1630–1714) 39, 173 Spanheim, Ezechiel (von) (1629–1710) 99, 126, 152, 168, 191 Sparwenfeld, Johan Gabriel (1655–1727) 138 Spener, Philipp Jakob (1635–1705) 90, 106, 168, 172 Sperling, Otto (1634–1715) 138, 140 Spinoza, Baruch de (1632–1677) 138, 144, 196, 198 Spizel, Gottlieb (1639–1691) 168 Staff, Nathanael von (1646–1719) 138 Stahl, Georg Ernst (1659–1734) 149 Sterky, Jeremias (?–1718) 102, 112 Strube, Julius Melchior (1725–1777) 43 Sturm, Johann Christoph (1635–1703) 48, 226 Swammerdam, Jan (1637–1680) 242 Swineshead, Richard (14. Jh.) 172 Taylor, Brook (1685–1731) 240 Temple, William (1628–1699) 127 Tentzel, Wilhelm Ernst (1659–1707) 42, 90 Thomasius, Christian (1655–1728) 149 Thomasius, Gottfried (1660–1746) 160 Thomasius, Jakob (1622–1684) 137, 138, 141, 144, 160, 162 Thott, Otto (1703–1785) 161 Tiede, Joachim (um 1662–1704) 137, 138, 140, 158 Trebra, Friedrich Wilhelm Heinrich von (1740–1819) 36, 45 Trembley, Abraham (1710–1784) 63, 76, 79
261
Tresenreuter, Christoph Friedrich (1709– 1746) 160 Turrettini, Jean-Alphonse (1671–1737) 91, 196, 247 Uffenbach, Zacharias Konrad von (1683– 1734) 98 Ursinus von Bär, Benjamin (1646–1720) 104, 105, 107, 112 Vallisneri, Antonio (1661–1730) 234, 241, 252 Varignon, Pierre de (1654–1722) 149, 228, 231, 235 Varillas, Antoine (1624–1696) 118 Veith (Vitus), Stephan (1687–1736) 218 Verinus, Pacificus Siehe Benthem, Heinrich Ludolf Vernet, Jacob (1698–1789) 247 Villemot, Philippe (1651–1713) 50 Volder, Burchard de (1643–1709) 73, 223, 228, 236 Voltaire (François Marie Arouet) (1694– 1778) 19, 64, 68 Voss, Isaac (1618–1689) 118 Vota, Carlo Maurizio (1629–1715) 110, 168, 174 Wagner, Gabriel (um 1660–um 1717) 120 Wagner, Rudolf Christian (1671–1741) 42, 138, 140, 155 Wallis, John (1616–1703) 90, 168 Wartenberg, Johann Casimir Kolbe Graf von (1643–1712) 97 Wasmuth, Mathias (1625–1688) 118 Wedel, Georg Wolfgang (1645–1721) 115, 149 Weiler, Frau von, geb. von Blumenthal 150 Werenfels, Samuel (1657–1745) 196, 247 Widow, Conrad (1686–1754) 138 Wilhelm Ernst, Herzog von SachsenWeimar (1662–1728) 121 Wolf, Johann Christoph (1683–1739) 138, 141, 149, 151, 153, 154 Wolff, Christian (1679–1754) 11, 14, 26, 78, 128, 138, 139, 140, 149, 157, 158, 214, 226, 227, 252, 253 Wotton, William (1666–1727) 138, 140, 142 Wren, Christopher, (1632–1722) 77 Wurzelbauer, Johann Philipp (1651–1727) 150 Zaluski, Andreas Stanislaus Kostka (1695– 1758) 87
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Personenregister
Zaluski, Joseph Andreas Siehe Załuski, Józef Andrzej Graf Załuski, Józef Andrzej Graf (1702–1774) 20, 38, 87, 98
Zanovello, Giovanni Battista (?–1713) 40 Zendrini, Bernardino (1679–1747) 241 Zitzewitz, Nikolaus von (1634–1704) 104, 141
Der Zeitraum von Gottfried Wilhelm Leibniz’ Tod 1716 bis zum Herrschaftsantritt des roi philosophe Friedrich des Großen 1740 war eine der spannendsten, geheimnisvollsten und besonders prägenden Phasen der Leibnizforschung. Leibniz’ Bild wurde noch von seinen Zeitgenossen mitbestimmt, neben der fixierten schriftlichen Überlieferung – nicht zuletzt in Form der erscheinenden
ISBN 978-3-515-11474-5
Briefeditionen – stand noch die lebendige, volatile Erinnerung von Korrespondenten und Gesprächspartnern in der öffentlichen Fama: Leibniz in Latenz! Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes beleuchten in ihren Beiträgen erstmals diese stark durch Überlieferungsbildung des Leibniz-Materials gekennzeichnete Zeit unmittelbar nach Leibniz’ Tod.
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