Leib und Leben: Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen 9783666624124, 9783525624128, 9783647624129


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Leib und Leben: Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen
 9783666624124, 9783525624128, 9783647624129

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624128 — ISBN E-Book: 9783647624129

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier

Band 61

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624128 — ISBN E-Book: 9783647624129

Ulrich H.J. Körtner

Leib und Leben Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624128 — ISBN E-Book: 9783647624129

Ce livre est dédié à l’Institut Protestant de Théologie et à la Faculté libre de Théologie Protestante de Paris en signe de reconnaissance pour le titre de docteur honoris causa décerné.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62412-8

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort ..................................................................................................

9

Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben ...................................

11

1

Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit ....................................

17

1.1 Phänomenologie und Theologie der Leiblichkeit ...................... 1.2 Übersetzungsprobleme ...............................................................

17 22

1.3 Die Vielfalt der Vernunft ...........................................................

27

1.4 Leibliche Vernunft .....................................................................

28

1.5 Offene Fragen ............................................................................ 1.6 Leibliche Vernunft und Verantwortungsethik ...........................

32 38

Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person ..................................... 2.1 Philosophie und Theologie der Person ...................................... 2.1.1 Menschen, Engel und Computer .................................. 2.1.2 Unterschiedliche Personbegriffe .................................. 2.1.3 Personalität und Moralität ............................................ 2.2 Mensch und Person .................................................................... 2.2.1 Zur Geschichte des Personbegriffs .............................. 2.2.2 Normativer und deskriptiver Personbegriff ................. 2.2.3 Die Koextension von „Mensch“ und „Person“ ............ 2.3 Causa sui? .................................................................................. 2.3.1 Unbedingte Freiheit? .................................................... 2.3.2 Bedingte Freiheit und schlechthinnige Abhängigkeit ...................................... 2.3.3 Zugeeignete Freiheit .................................................... 2.4 Geburtlichkeit und Geschichtlichkeit ......................................... 2.4.1 In Geschichten verstrickt ............................................. 2.4.2 Transzendentalität der Geburtlichkeit? ........................ 2.4.3 Ganz Ohr sein ............................................................... 2.4.4 Geboren- und Gezeugtsein ...........................................

44 44 44 46 47 48 48 51 53 56 56

2

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58 59 60 60 63 68 71

6

3

4

Inhalt

2.5 Unbestimmtheit des Anfangs ..................................................... 2.5.1 Der Lebensbeginn in biblischer Sicht .......................... 2.5.2 Anfang und Ursprung ...................................................

73 73 77

Phänomenologie der Geschöpflichkeit ............................................ 3.1 Empfänglichkeit .........................................................................

81 81

3.2 Wachen und Schlafen ................................................................. 3.3 Lebensvollzüge und Lebensführung ..........................................

82 85

3.4 Eschatologische Geschöpflichkeit .............................................

89

Leibsorge und Seelsorge .................................................................. 4.1 Krankheit, Kultur und Religion .................................................

91 91

4.2 Spiritual Care ............................................................................. 4.3 Begriffliche Unschärfen .............................................................

93 95

4.4 Spiritualität, Religiosität und Religion ...................................... 96 4.5 Die Ambivalenz von Religion und Spiritualität ......................... 102 4.6 Ein erweiterter Begriff von Spiritualität in Medizin und Pflege .................................................................... 104 4.7 Spiritualität und ethische Kompetenz in der Krankenhausseelsorge ..................................................... 107 5

Mit Krankheit leben ......................................................................... 114 5.1 Die Konstruktion von Gesundheit und Krankheit ..................... 114 5.2 Krankheit, Schmerz und Leiden ................................................ 119 5.3 Krankheit und Erzählung ........................................................... 121 5.4 Krankheit und Religion .............................................................. 123 5.5 Die fortschreitende Medikalisierung des Lebens ....................... 125 5.6 Utopischer Gesundheitsbegriff und mythisches Ganzheitsideal ......................................................... 128 5.7 Ethik des Krankseins .................................................................. 132

6

Krankheit und Marginalisierung ...................................................... 134 6.1 Der Marginalisierungsbegriff im Kontext der Medizin ............. 134 6.2 Die Marginalisierung des Patienten ........................................... 135 6.3 Marginalisierte Patientengruppen .............................................. 140

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Inhalt

7

6.4 Soziale Marginalisierung ........................................................... 144 6.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen .......................................... 147 7

Personsein im Wachkoma ................................................................ 150 7.1 Subjekt – Mensch – Person ........................................................ 150 7.2 Autonomie – Selbstbestimmung – Souveränität ........................ 153 7.3 Wachkomapatienten als Subjekte ernst nehmen ........................ 154

8

Leiblichkeit und Verlust im Alter .................................................... 158 8.1 Verluste im Alter ........................................................................ 158 8.2 Gelingendes Altern – gelingendes Leben? ................................ 161 8.3 Abschied und Trauer .................................................................. 165 8.4 Coping und Kompensation ......................................................... 171 8.5 Resignation und Gelassenheit .................................................... 174 8.6 Glaube, Liebe, Hoffnung ........................................................... 179

9

Leib und Leichnam .......................................................................... 183 9.1 Tod und Tabu ............................................................................. 183 9.2 Körper und Leib ......................................................................... 184 9.3 Pietät und Nächstenliebe ............................................................ 187 9.4 Ein theologischer Blick auf die „Körperwelten“ ....................... 192 9.5 Zur Kritik der Idee des natürlichen Todes ................................. 197

10 Epilog: Ethik und Anthropologie ..................................................... 204 Literatur .................................................................................................. 207 Register ................................................................................................... 223 1 Namen ........................................................................................... 223 2 Sachen ........................................................................................... 227

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Vorwort

Leiblichkeit ist die Signatur unserer menschlichen Existenz. Wir haben nicht nur einen Leib, sondern wir sind auch Leib. Der Leib verkörpert die Einheit und die Geschichte unseres Lebens. Es hinterlässt an und in unserem Körper seine Spuren, und das Gesicht eines Menschen enthält in Kurzschrift seine ganze Biographie. Leib und Leben, Leibgeschichte und Lebensgeschichte bilden eine innere Einheit. Sorge um Leib und Leben – so nennen wir bezeichnenderweise unsere Sorge um uns selbst, unsere physische Existenz und unsere Person. Die Sorge um Leib und Leben ist in besonderer Weise die Aufgabe der Medizin und der Pflege. Leiblichkeit gehört zu den Schlüsselbegriffen heutiger medizin- und pflegeethischer Debatten. Eine Bioethik, die sich an den Einsichten einer Phänomenologie der Leiblichkeit orientiert, steht allerdings vor nicht geringen Begründungsproblemen, haben doch die klassischen Vertreter einer Leibphänomenologie die besondere Stellung des menschlichen Leibes als erkenntnistheoretisches und ontologisches Problem betrachtet, nicht aber als eine Frage der Ethik. Mit den angesprochenen Begründungsproblemen setzt sich das vorliegende Buch auseinander. Seine bioethischen Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen befassen sich mit der Geburtlichkeit des Menschen, mit Krankheit, Alter und Tod. Es geht in diesem Buch weniger um materialethische Einzelfragen als um fundamentalethische und anthropologische Grundfragen heutiger Bioethik, die hier aus einem theologischen Blickwinkel diskutiert werden. Mein Dank gilt den Herausgebern für Ihre Bereitschaft, das Buch in die Reihe der Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie aufzunehmen. Es freut mich, dass auf diese Weise das Gespräch zwischen Praktischer und Systematischer Theologie gefördert wird. Gerade auf dem Gebiet der Seelsorge und insbesondere der Krankenhausseelsorge wird zunehmend eine Vertrautheit mit ethischen Fragen und Methoden verlangt. Im Zuge der Debatte über Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement nimmt die Krankenhausseelsorge für sich solche ethische Kompetenz in Anspruch, die freilich nur dort gegeben ist, wo sich die Seelsorge auch tatsächlich eingehend mit der ethischen Theoriebildung auseinandersetzt, zum Beispiel auf den Gebieten der Medizin- und Pflegeethik. Umgekehrt können Medizinund Pflegeethik davon nur profitieren, wenn sie die Sicht der Seelsorge

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Vorwort

einbeziehen. So ist zu wünschen, dass sich Seelsorge und Praktische Theologie aktiv an den medizin- und bioethischen Debatten beteiligen. Das Buch wäre nicht ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Mitarbeiter am Institut für Ethik und Recht in der Medizin sowie am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Universität Wien entstanden. Mag. Felix Hulla und PD Dr. Andreas Klein haben die Druckvorlage und die Register erstellt. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Ferner danke ich Dr. Lukas Kaelin, stud. theol. Bernhard Petri Hasenöhrl und Dr. Julia Inthorn, die mir bei den Recherchen und den Korrekturen behilflich waren. Wien, im Mai 2010

Ulrich H.J. Körtner

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Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben

Krankheit, Alter und Tod konfrontieren uns auf besonders intensive Weise mit unserer Leiblichkeit. Die sonst im Leben weithin unthematische Einheit von Leib und Seele, der Umstand also, dass wir nicht nur einen Leib haben, sondern auch Leib sind, wird dort zur existentiellen Erfahrung, wo diese Einheit gestört wird. Doch nicht nur Krankheit und Alter, sondern auch andere Formen intensiver Leiblichkeitserfahrungen wie Sexualität, extreme körperliche Anstrengung, bei der wir an unsere Grenzen gehen, Hunger und Durst, Ekstase und Rausch führen uns in Situationen, in denen wir uns selbst ganz nahe und fremd zugleich sind. Unser Leib, mit dem wir identisch sind und uns identifizieren, ist doch zugleich das Andere unserer selbst.1 Er ist die Natur an uns, die wir in uns zugleich überschreiten. Der Leib ist nicht mit dem bloßen Körper identisch, dessen Gestalt, Entwicklung und Funktionen Naturwissenschaften und Medizin beschreiben. Leib ist unser Körper, wie wir ihn selbst erleben und wie wir uns in ihm erleben. Als Leib sind wir stets mehr als nur dieser. Indem wir uns zu unserem eigenen Leib verhalten müssen, treten wir in Distanz zu ihm und damit auch zu uns selbst. Eben dieses dialektische Selbstverhältnis, das wir sind, indem wir leiblich existieren und in der Welt sind, bezeichnet der Begriff der Leiblichkeit, der auch zu den Schlüsselbegriffen der bioethischen Diskussion gehört. Vertreter einer Phänomenologie der Leiblichkeit, die sich auf Martin Heidegger2, Jean-Paul Sartre3, Emmanuel Levinas4, Maurice Merleau-Ponty5 und Paul Ricœur6, aber auch auf Michel Foucaults Philosophie und Soziologie des menschlichen Körpers beruft7, verwenden den Begriff der Leiblichkeit meist in kritischer Absicht.8 Mit der Leiblichkeit soll ein Bereich ————— 1

Vgl. T. Koch, Der Leib und die Natur, 298. M. Heidegger, Sein und Zeit. 3 Siehe vor allem J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. 4 Siehe u.a. E. Levinas, Spur des Anderen. 5 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, bes. 89ff (1. Teil: Der Leib). 6 P. Ricœur, Selbst. 7 Siehe vor allem M. Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Zur soziologischen Debatte siehe auch M. Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers; R. Gugutzer, Soziologie des Körpers; ders. (Hg.), Body turn. 8 Ein weiterer wichtiger Vertreter einer Leibphänomenologie ist Hermann Schmitz. Vgl. H. Schmitz, System der Philosophie II/1 u.2; III/1. 2

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Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben

des Unverfügbaren angedeutet werden, der auch jenseits religiöser Traditionen zu respektieren ist. So setzt sich z.B. Jürgen Habermas für die Moralisierung der menschlichen Natur im nachmetaphysischen Zeitalter ein, nämlich für das Zusammenspiel zwischen der moralisch gebotenen und rechtlich garantierten Unantastbarkeit der Person und der Unverfügbarkeit der Naturwüchsigkeit ihrer leiblichen Verkörperung.9 Die Leiblichkeit des Menschen dient als normative Begründung für die Eindämmung medizinischer Verfügungsgewalt und für Instrumentalisierungsverbote bis hin zum Verbot der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers und seiner Teile. Dem stehen freilich bioethische Konzeptionen gegenüber, welche die Verfügung über den eigenen Körper als elementaren Ausdruck des menschlichen Selbstbestimmungsrechtes interpretieren. Das reicht von der Organlebendspende über Doping im Sport bis hin zu sonstigen Formen des medizinischen Enhancements. Unbeeindruckt von den Argumenten der Leiblichkeits-Theoretiker fragen Vertreter einer utilitaristischen Bioethik, weshalb das autonome Subjekt kein Recht auf Eigentum am eigenen Körper habe und ziehen in Zweifel, dass monetäre Anreize für Organspenden prinzipiell unmoralisch seien. Wird aber der Mensch als Eigentümer seiner selbst angesehen, dann reicht seine Verfügungsgewalt über den eigenen Körper bis zum Recht auf Selbsttötung, auf Euthanasie und assistierten Suizid. Dieser Sichtweise steht wiederum die kantische Tradition entgegen, auf die sich auch Vertreter einer leibphänomenologischen Bioethik berufen. Kant bestreitet, dass der Körper und seine Teile dem autonomen Subjekt rein äußerlich sind, gleich wie sonstige Gegenstände, über die er als Eigentümer frei verfügen kann. Nach Kant ist der Mensch wohl sein eigener Herr, aber nicht Eigentümer seiner selbst, geschweige denn von anderen Menschen.10 Wir dürfen also nach Kant zwar über unseren Körper autonom bestimmen, haben an unserem Körper aber kein eigentliches Eigentum. Und weil der Mensch nach Kant in seiner eigenen Person der Menschheit als ganzer verantwortlich ist, gibt es für Kant ethische Grenzen der Selbstbestimmung, wenn wir unseren Körper in seiner Integrität gefährden. Nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext wird es in kantischer Tradition für autonomiefördernd gehalten – und gerade nicht als Ausdruck paternalistischer Fremdbestimmung gesehen –, bestimmte medizinische oder biotechnologische Optionen zu tabuisieren, d.h. als solche einzustufen, die die Betroffenen auch selbst nicht wählen dürfen. ————— 9

J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, 382.

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Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben

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Welche Standpunkte in bioethischen Debatten und Kontroversen eingenommen werden, hängt wohl nicht nur von rationalen Argumenten, sondern auch von außermoralischen Gründen, von weltanschaulichen und religiösen Grundorientierungen und gefühlten Überzeugungen ab. Aber auch wenn man einer Philosophie oder Theologie der Leiblichkeit den Vorzug gibt, ist Leiblichkeit als solche keineswegs eine hinreichende Norm für ethische Einzelentscheidungen. Überhaupt ist daran zu erinnern, dass Leiblichkeitsphänomenologen wie Heidegger oder Merleau-Ponty keine Ethik geschrieben haben und die besondere Stellung des Leibes wohl als Frage der Erkenntnistheorie und der Ontologie, aber nicht als eine der Ethik reflektiert haben. Damit ist keineswegs die Irrelevanz des Leiblichkeitsarguments in biound medizinethischen Zusammenhängen erwiesen, doch genügt der Hinweis auf unser Leibsein offenkundig nicht zur Grundlegung einer bioethischen Theorie, sondern muss seinerseits in eine ethische Rahmentheorie eingebaut werden. Ich plädiere für eine verantwortungsethische Konzeption und stehe damit in einer gewissen Nähe zu Dietrich Bonhoeffer, aber auch zu Hans Jonas, der das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung angesiedelt und unser leibliches Dasein als dialektische Erfahrung der Macht und der Ohnmacht des Subjekts beschrieben hat.11 Allerdings argumentiert der diesem Buch zugrunde liegende Begriff von Verantwortungsethik nicht, wie Jonas es tut, auf der Basis einer teleologischen Sichtweise des Seins und des Organischen.12 Die theologische Perspektive, welche dieses Buch einnimmt, durchdenkt die Leiblichkeit des Menschen nicht nur schöpfungstheologisch, sondern auch inkarnationstheologisch und eschatologisch. Gegenüber einer naturrechtlich-konservativen und im Ergebnis einseitig technikkritischen Interpretation menschlicher Geschöpflichkeit vertritt das vorliegende Buch ein dynamisches Verständnis derselben, welches die Polarität von leiblicher Kontingenz und menschlicher Freiheit und damit einhergehend die rechtfertigungstheologische Differenz zwischen vorfindlicher Existenz und eschatologischer Bestimmung des Menschen bedenkt. Auch wenn im Neuen Testament die eschatische Existenz des Menschen leiblich gedacht wird, wird doch zwischen seiner irdischen und seiner eschatischen Leiblichkeit ————— 11 H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Jonas bestimmt das Gehirn als „Organ der Freiheit, aber eben unter der Bedingung, daß es ein Organ der Subjektivität ist“ (80). Jedes Sprechen über den Geist und die Subjektivität muss immer auch über Leib und Materie sprechen, freilich ohne dass Subjektivität und Geist in ihnen aufgehen (102). 12 Auch mache ich mir nicht Jonas’ spekulativen Lösungsvorschlag für das Leib-Seele-Problem zueigen, der im Bereich quantenmechanischer Vorgänge den Ort sieht, wo eine „geheimnisvolle Schaltung stattfindet – vom Geist zum Stoff und vom Stoff zum Geist“ (H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, 114).

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Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben

unterschieden. Die biblische Weise vom Menschen als leibhaftigen und leibgebundenen Wesen zu sprechen, thematisiert in mehrfacher Hinsicht ontologische Differenzen, deren anthropologische und ethische Relevanz für das Gebiet der Bio- und Medizinethik zur Sprache kommen soll. Die Differenz zwischen raumzeitlicher Existenz und dem, was der Mensch im Lichte Gottes ist, zwischen altem und neuem Menschen, bedeutet nach neutestamentlicher Auffassung, dass noch nicht zutage getreten ist, was wir sein werden (1Joh 3,2). Unter diesem Vorzeichen stehen die kritischen Reflexionen des vorliegenden Buches zu einer Theologie und Phänomenologie der Leiblichkeit. Die bioethischen Erkundungen des vorliegenden Buches zur Leiblichkeit des Menschen beginnen mit Erörterungen zu den erwähnten Begründungsproblemen einer Ethik der Leiblichkeit, die am Beispiel von Organspende und Enhancement diskutiert werden. Außerdem geht das erste Kapitel der Frage nach, wie weit sich theologische Einsichten und Argumente in die Sprache philosophischer Anthropologie und Ethik übersetzen lassen und in den bioethischen Diskursen einer säkularen Gesellschaft verständlich sind. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Theologie einen unverwechselbaren Beitrag zu diesen Diskursen leisten kann, indem sie bioethische Fragen in die Perspektive der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und der biblisch bezeugten Erlösungswirklichkeit rückt, um von hier aus zu einem kritischen Umgang mit den offenen oder verschwiegenen Heilserwartungen und Heilsversprechen der modernen Medizin zu befähigen. Als elementare Erscheinungsweise der Leiblichkeit wird im zweiten Kapitel die Geburtlichkeit des Menschen untersucht. Das geschieht in fundamentalethischer Absicht, doch werden schon in diesem Kapitel bereits einige bioethische Konsequenzen der Geburtlichkeit der Person aufgezeigt. Das dritte Kapitel skizziert eine Phänomenologie der Leiblichkeit in theologischer Perspektive, d.h. als Phänomenologie der Geschöpflichkeit. Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen Lebensführung und Lebensvollzügen, die als solche zwar auch in Handlungskontexten thematisch werden, jedoch selbst keine Handlungen darstellen. Eine Phänomenologie der Geschöpflichkeit erklärt, warum sich das Sein und Wesen des Menschen nicht ausschließlich über sein Handeln definiert, sondern grundlegend durch reine Rezeptivität charakterisiert ist. Welche Rolle Religion und Spiritualität für heutige Medizin und Pflege spielen, diskutiert das vierte Kapitel. Seine kritische Analyse des Verhältnisses von Leibsorge und Seelsorge führt zu einem erweiterten Begriff von Spiritualität in Medizin und Pflege, der als Kritik an monistischen Konzeptionen von Ganzheitlichkeit zu lesen ist, welche das Leib-Sein des Menschen einseitig zu Lasten seines Leib-Seins betonen, das doch immer schon über sich hinaus weist.

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Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben

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Mit Krankheit, Schmerz und Leiden als Störungen unseres in gesunden Tagen unthematischen Leibseins befasst sich das fünfte Kapitel. Es entwikkelt ein bio-psycho-soziales Verständnis von Krankheit, das auch den Zusammenhang von Krankheit und Biographie bzw. von Krankheit und Erzählung betont. Darin setzt sich der Gedankengang des zweiten Kapitels über Geburtlichkeit und Geschichtlichkeit fort. Zugleich wird an einem utopischen Verständnis von Ganzheitlichkeit und gelingendem Leben Kritik geübt, welches die Endlichkeit und Fragmenthaftigkeit unserer leiblichen Existenz ignoriert. Im Anschluss an den Krankheitsbegriff wird im sechsten Kapitel die Rolle des Kranken untersucht. Wie Krankheit, Schmerz und Leiden, so ist auch der Status des Patienten eine soziale Konstruktion, bei der Leibphänomene und kulturelle Sachverhalte zusammenspielen. Der Zugang zu diesem Phänomenbereich wird über den Begriff bzw. das Konstrukt der Marginalisierung gesucht. Damit wird keineswegs ein Spezialthema der modernen Medizin angesprochen. Aus systemtheoretischem Blickwinkel lässt sich argumentieren, dass das Problem der Marginalisierung eine Grundsatzfrage der modernen Medizin ist und nicht bloß einzelne Patientengruppen betrifft. Zwar werden die Prinzipien der Menschenwürde und Personwürde in medizinethischen Debatten ständig bemüht. Im medizinischen Alltag kommt der Mensch als ganze Person faktisch jedoch nur am Rande vor. Hier ist nicht von der Person, sondern vom Patienten, von Krankheitsfällen und vom Patientengut die Rede. Insofern macht dieses Kapitel eine Gegenprobe zum zweiten Kapitel und seinen grundlegenden Ausführungen zum Personbegriff. Was es bedeutet, wirklich jeden Menschen als Person und damit als Subjekt anzuerkennen, diskutiert das siebte Kapitel am Beispiel des sogenannten Wachkomas. Die Kommunikation mit Wachkomapatienten vermittelt besonders radikale Erfahrungen von Leiblichkeit, wird hier doch deutlich, dass sich der Subjektstatus des Patienten nicht auf einen verengten Begriff von Autonomie oder Selbstbestimmung reduzieren lässt. Seine Lebensäußerungen sind auch dann als personale und subjekthafte Äußerungen zu verstehen, wenn sie sich nicht im juristischen Sinne als Ausdruck von bewusstseinsabhängiger Selbstbestimmung deuten lassen. Von den Leiblichkeitserfahrungen des Alters handelt das achte Kapitel. Der Umgang mit Verlusten im Alter konfrontiert uns ähnlich wie Krankheit und Leiden mit der Fragmenthaftigkeit unseres Daseins, nicht nur mit seiner Endlichkeit. Allerdings halten Auffassungen, die das Altern ausschließlich defizitorientiert betrachten, der Empirie nicht stand. Wie andere Lebensphasen kennt auch das Alter Erfahrungen des Glücks und der Lebensfreude. Mit gewissem Recht kann man aber sagen, dass das hohe Alter eine Radika-

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Einleitung: Leibhaftig leben – leibhaftig sterben

lisierung unserer Existenzerfahrung bedeutet, d.h. aber nun eben auch, zu einer radikalisierten Erfahrung unserer Leiblichkeit führt. Im Tod wird der Leib, der wir sind und den wir haben, zum leblosen Körper. Aber selbst jetzt noch ist der Körper nicht bloße Sache. Wie wir mit den toten Körpern der anderen umgehen und was wir für die Zeit nach unserem Tod für unseren eigenen Körper und seine Teile verfügen, sagt immer etwas über unsere grundsätzliche Einstellung zur eigenen Leiblichkeit, unserer Endlichkeit und Sterblichkeit aus. Den Schluss des Buches bildet die kritische Analyse des Umgangs, der in der heutigen Gesellschaft mit dem toten Körper gepflegt wird, und setzt sich zugleich mit der modernen Idee des natürlichen Todes und ihren Folgen auseinander. So münden die vorliegenden Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen in das Plädoyer, dass wir zwar unsere Sterblichkeit vorbehaltlos anzuerkennen haben, dass aber um der Menschlichkeit willen gegen die Versöhnung von Tod und Glück Einspruch erhoben werden muss.

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1 Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

1.1 Phänomenologie und Theologie der Leiblichkeit In jüngster Zeit gibt es eine Reihe philosophischer und theologischer Versuche, den Begriff der Leiblichkeit als Grundlage für eine kritische Bioethik zu profilieren.1 Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen scheint mit dem Begriff der Leiblichkeit eine Sphäre des Unverfügbaren benannt zu werden, wobei die Unverfügbarkeitssemantik auf religiöse Hintergrundannahmen verweist, für die eine gewisse Fortgeltung beansprucht wird. Zum anderen bietet sich der Begriff der Leiblichkeit genau aus diesem Grunde als hermeneutische Brücke an, um theologische Gehalte in die bioethischen Diskurse einer pluralistischen Gesellschaft zu übersetzen, deren Grundaxiom – mit John Rawls gesprochen – im Vorrang des Gerechten vor dem Guten besteht.2 Allerdings spielen Menschenbilder bei der Auswahl des jeweiligen ethischen Theoriedesigns wie auch auf der materialethischen Ebene bei der Behandlung von Einzelproblemen eine entscheidende Rolle. Ethik ist stets praktische Anthropologie. Menschenbilder stehen in einem weltanschaulichen oder religiösen Kontext. In ihnen verdichten sich vormoralische Einstellungen, welche z.B. nicht nur das kulturelle und politische Umfeld medizinischer Forschung, sondern auch auf das individuelle Gesundheits- und Krankheitsverhalten einen praktischen Einfluss ausüben. Während von Vertretern einer kommunitaristischen Ethik die Forderung erhoben wird, die Vielfalt gesellschaftlicher, kulturell und auch religiös geprägter Sichtweisen in moralischen Fragen angemessen zu berücksichtigen, wird von Vertretern des Liberalismus die These vertreten, die Vielfalt der moralischen Überzeugungen müsse zumindest insoweit reduziert werden, dass religiöse und weltanschaulich gebundene Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden. Im Ergebnis läuft dieser Vorschlag jedoch auf die Zumutung hinaus, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der öffentlichen ————— 1 Siehe z.B. J.-P. Wils, „Ästhetische Güte“; Th. Fuchs, Leib; E. List, Grenzen; S. Schardien, Menschenwürde, bes. 105ff („Zwischen Leib und Kommunikation – die responsiv-leibphänomenologische Deutung“); P. Dabrock, in: ders./L. Klinnert/S. Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz, 128ff.166ff. A. Reichold, Die vergessene Leiblichkeit; T. Rehbock, Personsein; G. Böhme, Leibsein; ders., Ethik; H. Schmitz, Situationen; A. Brenner, Bioethik. 2 Vgl. J. Rawls, Political Liberalism, 173–211.

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

Entscheidungsfindung in moralischen Fragen eben jene religiösen Hintergründe verleugnen sollen, aus denen sich ihre moralische Sensibilität speist und die diese Fragen für sie überhaupt erst zu moralischen Fragen macht. „Darin liegt die Gefahr, dass zwischen ihren religiös begründeten moralischen Auffassungen und dem, was bei der öffentlichen Entscheidungsfindung an Orientierung zugelassen wird, eine tiefgreifende Kluft entsteht. Verhindert werden kann dies nur, wenn auch in der öffentlichen Debatte den gesellschaftlich vorhandenen religiösen Orientierungen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird.“3

Für theologische Ethik besteht freilich das hermeneutische Problem in der Übersetzbarkeit eines christlichen Menschenbildes in die Sprache anderer Ethiktraditionen bzw. in einen nicht-religiösen Diskurs. Dafür scheint sich der Begriff der Leiblichkeit in besonderer Weise anzubieten, weil er einerseits in der philosophischen Tradition der Phänomenologie beheimatet und andererseits in der biblischen Anthropologie verankert ist.4 Generell lässt sich für das Alte wie für das Neue Testament feststellen, dass die leibliche Existenz des Menschen nicht – wie häufig in der griechischen Tradition und hellenistischen Texten – im Sinne eines Leib-Seele-Dualismus diskreditiert wird.5 Sie wird vielmehr als gute Schöpfung Gottes verstanden.6 Allerdings kommen die Begriffe „Leib“ oder „Leiblichkeit“ im hebräischen Text des Alten Testaments gar nicht vor.7 Und ganz grundsätzlich ist vor der Gefahr zu warnen, mit der eingängigen Vokabel „Leiblichkeit“ die Fremdheit der alttestamentlichen oder auch der neutestamentlichen Denkweise zu überspielen und so das kritische Potential der biblischen Texte für heutige bioethische Diskurse von vornherein zu verschenken.8 Im Neuen Testament entwickelt vor allem Paulus die Vorstellung vom Leib als Grundlage der Beziehung zu anderen Personen und zu Gott, wobei er freilich zwischen soma („Leib“) als grundlegender anthropologischen Bestimmung des Menschseins und sarx („Fleisch“) als Bestimmung des der Sünde verfallenen Menschen unterscheidet.9 Im Sinne dieser paulinischen Unterscheidung lässt sich sagen, dass viele Erscheinungsformen des zeitgenössischen Körperkultes in Freizeit und Sport, Gesundheitskult und Medi————— 3

J. Fischer, Medizin- und bioethische Perspektiven, 13. Vgl. J. Ringleben, Art. Leib/Leiblichkeit II; K. Huxel, Art. Leib/Leiblichkeit III. 5 Vgl. R. Jewett, Art. Leib/Leiblichkeit I. 6 Man beachte allerdings, dass das griechische Wort TÎNB in der Septuaginta und den neutestamentlichen Evangelien sowohl eine Person, als auch einen Sklaven oder eine menschliche Leiche bezeichnen kann! 7 Vgl. M. Krieg, Leiblichkeit im Alten Testament. 8 Vgl. die entsprechenden Warnungen bei H. Weder, „Leiblichkeit“, 31ff. 9 Vgl. zu Paulus und dem übrigen NT H. Weder, „Leiblichkeit“, passim, sowie L. Scorniaenchi, Sarx und Soma. Gelegentlich findet man bei Paulus allerdings doch auch die dualistische Vorstellung vom Leib als Gefängnis des eigentlichen Selbst. Vgl. 2Kor 5,6ff. 4

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Phänomenologie und Theologie der Leiblichkeit

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enkultur gerade nicht der Ausdruck eines angemessenen Leiblichkeitsbewusstseins, sondern im Gegenteil eine Gestalt der Seins- und Leibvergessenheit sind, welche das Sein des Menschen ganz auf seine Körperlichkeit reduziert. Es handelt sich, mit Paulus gesprochen, eben nicht um eine „somatische“, sondern um eine „sarkische“ Existenzweise. Dass Paulus auch die Auferstehung als leibliche Totenauferweckung versteht, wobei freilich die neue Existenzform eines „geistlichen Leibes“ erwartet wird, besagt, dass die Gläubigen ihre Identität und Beziehungsfähigkeit im ewigen Leben beibehalten. Somit wird in eschatologischer Perspektive von Paulus nochmals unterstrichen, dass menschliche Existenz grundsätzlich leiblich verfasst ist. Leiblichkeit reduziert sich bei Paulus aber nicht auf individuelle Körperlichkeit, sondern ist auch das Charakteristikum menschlicher Sozialität. Die christliche Gemeinde bzw. die Kirche bezeichnet Paulus als den Leib Christi. Das ist nicht etwa nur ein metaphorischer Ausdruck, sondern die Gemeinde als leibliche Kommunikation des Evangeliums, die sich im Abendmahl, d.h. im gemeinsamen Essen und Trinken von Brot und Wein symbolisch verdichtet, ist für Paulus die Weise, in der der Auferstandene in der Welt existiert.10 Der paulinische Leibbegriff ist also christologisch, eschatologisch und ekklesiologisch konnotiert und schließt immer schon das mit ein, was Paulus als Geist bezeichnet. Der Geist Gottes bzw. der Geist Christi ist Kommunikation und seinem Wesen nach der Geist der Liebe. Ganz auf der Linie paulinischer Anthropologie hat Dietrich Bonhoeffer in seiner unvollendet gebliebenen Ethik erklärt: „Der Mensch ist ein leibliches Wesen und bleibt es auch in Ewigkeit. Leiblichkeit und Menschsein gehören untrennbar zusammen. So kommt der Leiblichkeit, die von Gott gewollt ist als Existenzform des Menschen, Selbstzwecklichkeit zu.“11 Schon in seiner Auslegung von Gen 1–3, die Bonhoeffer 1932/33 an der Berliner Universität als Vorlesung vorgetragen und 1933 unter dem Titel „Schöpfung und Fall“ veröffentlicht hat, lesen wir – mit antidualistischer Stoßrichtung –, sein Leib gehöre zum Wesen des Menschen. „Sein Leib ist nicht sein Kerker, seine Hülle, sein Äußeres, sondern sein Leib ist er selbst. Der Mensch ‚hat‘ nicht einen Leib und ‚hat‘ nicht eine Seele, sondern er ‚ist‘ Leib und Seele.“12 Und auch der Gedanke der Gottebenbildlichkeit wird über die Leiblichkeit des Menschen erschlossen. Nach Bonhoeffer ist der Mensch das Ebenbild Gottes „nicht trotz, sondern gerade in seiner Leiblichkeit. Denn in seiner Leiblichkeit ist er bezogen auf die Erde und auf ————— 10

Vgl. E. Käsemann, Leib und Leib Christi; E. Schweizer, Die Leiblichkeit des Menschen,

174f. 11 12

D. Bonhoeffer, Ethik, 180. Ders., Schöpfung und Fall, 71.

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

anderen Leib, ist er für andere, ist er angewiesen auf andere. In seiner Leiblichkeit findet er den Bruder und die Erde.“13 Allerdings ist Bonhoeffers Begriff der Leiblichkeit von vornherein ein dezidiert theologischer. Auch vertritt er keineswegs die reduktionistische These, dass der Mensch lediglich Leib sei, sondern er ist das Ineinander von Leib und Geist. So kommentiert Bonhoeffer die Erschaffung des Menschen nach Gen 2,7 – wo berichtet wird, wie Gott den Menschen aus Erde formte und ihm dann den Lebensgeist in die Nase blies – folgendermaßen: „Leib und Leben treten hier ganz ineinander. […] Als Mensch leben heißt als Leib im Geist leben. Die Flucht aus dem Leib ist ebenso Flucht aus dem Menschsein, wie die Flucht aus dem Geist. Leib ist die Existenzform von Geist, wie Geist die Existenzform von Leib ist. Dies alles ist nur vom Menschen gesagt, denn nur beim Menschen wissen wir von Leib und Geist.“14

Der Geist wird aber von Bonhoeffer als Geist Gottes identifiziert und nicht etwa mit einem vitalistischen Élan vital im Sinne der Lebensphilosophie Henri Bergsons.15 So heißt es bei Bonhoeffer unmittelbar zuvor: „Anderes Leben schafft Gott durch sein Wort, beim Menschen gibt er von seinem Leben, von seinem Geist.“16 Genau dadurch unterscheidet sich der menschliche Leib nach Bonhoeffer von allen sonstigen Körpern. Diesen Gedanken spitzt Bonhoeffer im weiteren Verlauf seiner Argumentation inkarnationstheologisch, d.h. christologisch zu: „Gott verherrlicht sich im Leib und zwar im Leib in diesem spezifischen Sinn des menschlichen Leibes. Darum geht Gott dort, wo der ursprüngliche Leib in seinem geschaffenen Sein zerstört ist, abermals in den Leib ein, in Jesus Christus und dann dort, wo auch dieser Leib zerrissen ist, in die Gestalten des Sakraments des Leibes und Blutes.“17

Es fragt sich nun allerdings, wie solche Gehalte eines theologischen Begriffs von Leiblichkeit in bioethische Kontexte übersetzt werden können und wie weit sie anschlussfähig sind für eine philosophische Phänomenologie der Leiblichkeit, die sich gegenüber jeglicher Theologie abstinent zeigt, wie im Falle Heideggers, oder sogar abweisend, wie im Falle Sartres.18 Das hermeneutische Problem bzw. das Problem der Übersetzbarkeit stellt sich damit als eine Schlüsselfrage heutiger bioethischer Diskurse heraus. ————— 13

A.a.O., 74. A.a.O., 73. 15 Vgl. auch D. Bonhoeffer, Ethik, 171: „Vitalismus endet zwangsläufig im Nihilismus, im Zerbrechen alles Natürlichen.“ 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Siehe auch die Beiträge in: Chr. Aus der Au/D. Plüss (Hg.), Körper-Kulte. 14

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Phänomenologie und Theologie der Leiblichkeit

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Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Phänomenologie an Ethik einigermaßen uninteressiert war. Mit Markus Düwell kann man festhalten: „Ethik ist das Stiefkind in der phänomenologischen Tradition.“19 Das gilt selbst für Emmanuel Levinas. Zwar hat dieser kritisiert, die Philosophie seines Lehrers Heidegger weise der Begegnung mit dem Anderen keinen systematischen Ort zu. Doch wie man von der nicht-verdinglichten emphatischen Begegnung mit dem Anderen „zur Idee spezifisch moralischer Verpflichtungen kommt, bleibt auch bei Lévinas ein Problem.“20 Interessanterweise gilt dies so nicht für Ricœur und auch nicht für Bonhoeffer, im Gegenteil. Bonhoeffers eingangs zitierten Ausführungen zur Leiblichkeit des Menschen finden sich innerhalb des Kapitels seiner Ethik über das natürliche Leben. Reflexionen über die Leiblichkeit verbinden sich dort mit einer Interpretation der Menschenrechte. Bonhoeffer schreibt: „Das leibliche Leben, das wir ohne unser Zutun empfangen, trägt in sich das Recht auf seine Erhaltung. Es ist dies nicht ein Recht, das wir uns geraubt oder erworben hätten, sondern es ist im eigentlichsten Sinne ‚mit uns geborenes‘, empfangenes Recht, das vor unserem Willen da ist, das im Seienden selbst ruht.“21

In der Erhaltung des leiblichen Lebens sieht Bonhoeffer die Grundlage aller natürlichen Rechte überhaupt. Daraus folgt als ethische Maxime: „Das ursprünglichste Recht des natürlichen Lebens ist die Bewahrung des Leibes vor beabsichtigter Schädigung, Vergewaltigung und Tötung.“ Und im Kontext seiner Zeit hat auch der nachfolgende Satz seinen besonderen Klang: „Der Leib ist aber in erster Linie nicht dazu da, um geopfert, sondern um erhalten zu werden.“22 Zwar schließt Bonhoeffer nicht aus, dass der Leib immer auch einem höheren Zweck untergeordnet bleibt, doch ist für ihn wichtig, „daß zu den Rechten des leiblichen Lebens seine Wahrung nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern auch als Selbstzweck gehört.“23 Leben und Erhaltung der physischen Existenz bedeutet nach Bonhoeffer mehr als das nackte Überleben. Die Selbstzwecklichkeit des Leibes äußert sich vielmehr im Recht auf leibliche Freuden, das Bonhoeffer an den Beispielen der Wohnung des Menschen, an Essen und Trinken, Kleidung, Erholung, Spiel und Sexualität erläutert. Negativ folgt aus der Selbstzwecklichkeit des Leibes das Verbot jeder willkürlichen Tötung – von dem er die Todesstrafe und Gewaltanwendung im Krieg übrigens ausgenommen sah! –, insbeson————— 19

M. Düwell, Status, 164. Ebd. Das bleibt auch das Problem bei P. Dabrock, dessen theologische Ethik der Leiblichkeit sich neben Bonhoeffer auf Levinas beruft. Siehe P. Dabrock, in: ders./L. Klinnert/S. Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz, 133ff. 21 D. Bonhoeffer, Ethik, 179. 22 Ebd. 23 A.a.O., 180. 20

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

dere die Verwerflichkeit der Euthanasie und der Tötung von Schwerkranken und Menschen mit Behinderungen, wie sie das nationalsozialistische Regime planmäßig betrieben hat. Freilich ist die ethische Theorie Bonhoeffers eine dezidiert theologische. Man kann sie als eine christozentrisch begründete Form der Verantwortungsethik charakterisieren.24 Auch sein Begriff des natürlichen Lebens bzw. des Natürlichen überhaupt ist ganz vom Evangelium her entworfen: „Wir sprechen vom Natürlichen im Unterschied zum Geschöpflichen, um die Tatsache des Sündenfalls mit einzuschließen, wir sprechen vom Natürlichen im Unterschied zum Sündhaften, um das Geschöpfliche mit einzuschließen. Das Natürliche ist das nach dem Fall auf das Kommen Jesu Christi hin ausgerichtete. Das Unnatürliche ist das nach dem Fall dem Kommen Christi Sich Verschließende.“25

Ein weiteres Mal stellt sich die Frage nach der Übersetzbarkeit solcher theologischen Aussagen in die bioethischen Diskurse einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft. In Anbetracht der vielfältigen Differenzierungen und der Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Zugängen zu ethischen Diskursen nimmt das Problem des Übersetzens, konkret: von religiösen Gehalten in nicht-religiöse Sprachspiele eine Schlüsselstellung ein.

1.2 Übersetzungsprobleme Das Problem der „Bilingualität“ spielt nicht nur auf dem Gebiet der Bioethik, sondern auch auf anderen Feldern der Sozialethik eine wichtige Rolle und wird besonders von den verschiedenen Theorien einer „public theology“ diskutiert.26 Das Übersetzen ist die Grundfigur aller Hermeneutik. Jede Übersetzung von einer Sprache in die andere ist immer schon eine Interpretation, wie umgekehrt jeder Akt des Verstehens immer auch ein Akt des Übersetzens ist; auch dann, wenn es nicht um die Übertragung eines fremdsprachigen Textes in die eigene Sprache geht. Jedes Verstehen ist insofern ein Übersetzen, als es um die Aneignung des Gehörten oder Gelesenen in die eigene Lebenswelt geht. Insofern es keine Interpretation ohne Applikation gibt, ist die Übersetzungsproblematik hermeneutisch elementar. Jedes Verstehen ist freilich immer ein Anders-Verstehen, und jede Übersetzung führt zu Bedeutungsverschiebungen, die ebenso mit einem Sprach————— 24 Vgl. a.a.O., 245–299. Verantwortung nennt Bonhoeffer „[d]ieses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi (als Ja und Nein über unser Leben)“ und zugleich „als Antwort auf die uns in Jesus Christus gegebene Wirklichkeit“ (Ethik, 254). 25 A.a.O., 165. 26 Vgl. H. Bedford-Strohm, Öffentliche Theologie.

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Übersetzungsprobleme

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gewinn wie einem Sprachverlust verbunden sein können. Eine Übersetzung im Verhältnis 1:1, sei es von einer Sprache in eine andere, sei es von einem soziokulturellen Kontext in einen anderen, gibt es nicht. Jede Übersetzung macht Erfahrungen der unaufhebbaren Andersheit und Fremdheit, die nur um den Preis von Gewaltsamkeiten negiert werden können, und steht immer auch vor dem Problem der Unübersetzbarkeit. „Wird ein Text in eine andere Sprache übertragen, so ist das Ergebnis ein Text, der nicht einfach er selbst ist, aber auch nicht nur auf einen anderen verweist. Die Übersetzung ist die Andersheit des übersetzten Textes; durch sie ist der übersetzte Text da, und dennoch ist er entzogen.“27

Was allgemein zum Problem der Hermeneutik und der Übersetzung gesagt wurde, gilt nun auch für die Übersetzbarkeit religiöser oder theologischer Aussagen in nicht-religiöse Kontexte. Klassisch ist das Problem in der durch Rudolf Bultmann angestoßenen Entmythologisierungsdebatte durchgespielt worden. Grenzen der Übersetzbarkeit vom mythischen in ein nichtmythisches Denken werden bei Bultmann z.B. erkennbar, wenn er die Rede vom „Handeln Gottes“ für theologisch unaufgebbar hält und selbst die Frage stellt, ob in seinem Konzept der existentialen Interpretation des Neuen Testaments „ein mythologischer Rest“ bleibe.28 Ähnliche Probleme ergeben sich bei Dietrich Bonhoeffers Programm einer nicht-religiösen Interpretation biblischer bzw. christlicher Begriffe29, das Fragment geblieben ist, jedoch die neuere protestantische Theologie international stark inspiriert hat. Eberhard Jüngel sieht das Problem der Übersetzbarkeit theologischer Aussagen zur Anthropologie folgendermaßen: Theologische Anthropologie versteht den Menschen nicht nur in seiner Gottesrelation, sondern thematisiert diese in eschatologischer Perspektive. Thema christlicher Anthropologie ist nach Jüngel der eschatologisch neue, Gott entsprechende Mensch, der erst durch Glaube und Rechtfertigung zu Gott in Entsprechung gebracht wird, während er von Haus aus aufgrund der Sünde der Gott nicht entsprechende, sondern ihm widersprechende Mensch ist. Offenbarungstheologisch wird die These begründet, dass mit der Möglichkeit allgemeingültiger Sätze zu rechnen ist, die nur aufgrund eines besonderen Zugangs – gemeint ist das Hören auf Gottes Wort – allgemein verständlich werden.30 Dass sich theologische Sätze in nicht-theologische Sätze überführen lassen, begründet Jüngel letztlich inkarnationstheologisch, bedeutet doch die Menschwerdung Gottes genau jene „ursprüngliche Einheit von höchster Konkretheit einer————— 27

G. Figal, Gegenständlichkeit, 57. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 63. 29 Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 414.481.498.509.529.546. 30 E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 291. 28

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

seits und höchster Allgemeinheit andererseits“, die nach Jüngel die christliche Anthropologie zu Aussagen nötigt, „deren Allgemeingültigkeit auch dann noch vertretbar sein muß, wenn Gott als Ens concretissimum, wenn Gott selbst sozusagen sistiert wird“31. Man hört im Hintergrund Bonhoeffer, der gesagt hat, es sei Gott selbst, der die Christen dazu nötigte, Gott als metaphysische Arbeitshypothese fallen zu lassen oder doch so weit als irgend möglich auszuschalten.32 „Nur der Gottesbegriff“, so Jüngel, „ist zu dieser ‚theoretischen Selbstlosigkeit‘ fähig, die es erlaubt, die nur unter seiner Voraussetzung formulierbaren anthropologischen Sätze zugleich so zu formulieren, daß sie auch dem Gottlosen anthropologisch verständlich werden“33. Warum freilich Sätze theologischer Anthropologie, wenn sie so umformuliert werden, dass sie, auch ohne Gott zu nennen, einleuchtend und allgemein verständlich sind, theologisch gesprochen notwendigerweise von Sätzen des Evangeliums zu solchen des Gesetzes werden, wird von Jüngel nicht überzeugend begründet. Er argumentiert: „Der Gewinn, den der Glaube mit Gott gemacht zu haben sich freut, läßt sich als solcher nicht umformulieren. Er wird im Horizont des Gesetzes sistiert.“34 Richtig ist, dass nach protestantischem Verständnis zwischen Gesetz und Evangelium, d.h. zwischen dem Anspruch Gottes und seiner Forderung und dem göttlichen Zuspruch oder Freispruch klar unterschieden werden muss. Auch wenn das Gesetz für den christlichen Glauben eine positive Funktion behält, sofern es auf das Evangelium hingeordnet ist, darf doch das Evangelium von der bedingungslosen Rechtfertigung und Annahme des Sünders nicht mit einem neuen Gesetz und Christus nicht mit einem neuen Gesetzgeber verwechselt werden. Doch ist damit nicht erklärt, weshalb jede Umformulierung von theologischen in nicht-theologische Sätze zwangsweise eine Umwandlung von Sätzen des Evangeliums in solche des Gesetzes sein soll. Strukturell kann das Evangelium möglicherweise auch dort erfahren werden, wo es nicht explizit vom rechtfertigenden Gott spricht. Diese Möglichkeit ist von Karl Rahner und Paul Tillich eingehend erörtert worden. Rahner spricht von der Erfahrung bedingungsloser Liebe, Tillich vom absoluten Glauben, von der heilvollen Erfahrung der Macht des Seins, in welcher der Mut gründet, sich zu bejahen als bejaht.35 Und auch Bultmann und Bonhoeffer haben doch die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, das Evangelium in einer nicht- oder nachmetaphysischen Sprache zu bezeugen, ohne es damit zum ————— 31

A.a.O., 292. Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 533f. 33 E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 292. 34 Ebd. 35 Vgl. P. Tillich, Der Mut zum Sein. 32

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Übersetzungsprobleme

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Gesetz zu verkehren, wie dies z.B. in der Philosophie der Aufklärung geschieht, die das Wesen aller Religion auf Moral reduziert. Die gegenteilige Frage lautet freilich, ob eine vollständige Übersetzung theologischer und nicht-theologischer Sätze dem bioethischen Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft überhaupt förderlich ist. Wollte man im Ernst religiöse Begründungen als nicht verallgemeinerungsfähige Gruppenmoral aus dem Diskurs ausschließen, liefe dies auf die Zumutung hinaus, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der öffentlichen Entscheidungsfindung in moralischen Fragen eben jene religiösen Hintergründe verleugnen sollen, aus denen sich ihre moralische Sensibilität speist und die diese Fragen für sie überhaupt erst zu moralischen Fragen macht. Was die Rolle religiöser Begründungen auf der Ebene des Politischen betrifft, bestehen allerdings erhebliche Unterschiede zwischen der biopolitischen Debatte in Deutschland und in den USA. „Während in den USA die Katholische Kirche und die fundamentalistischen Kirchen aus der Stammzellfrage einen Konflikt über den säkularen oder religiösen Charakter der USA machten und bewußt und explizit eine thematische Bindung an die Abtreibungsfrage suchten, eine Konstruktion, die von den Befürwortern der Forschung, man möchte fast sagen – mit Dank – aufgenommen wurde, fehlte der Debatte in Deutschland eine vordergründig religiöse Dimension, wie auch die Abtreibungsfrage und die Frage der Rechte der Embryonen in keiner Weise im Vordergrund standen.“36

Die Kirchen in Deutschland waren und sind peinlich darauf bedacht, das Problem des Embryonenschutzes in erster Linie nicht als religiöse Frage, sondern als ein komplexes ethisch-philosophisches und verfassungsrechtliches Problem darzustellen. Während in den USA die gesellschaftliche Polarisierung zwischen den Kräften des religiösen Fundamentalismus und den Kräften des medizinischen Fortschritts stattfand, wurde der politische Konflikt in Deutschland als Auseinandersetzung zwischen den Vertretern von Menschenrechten und Solidarität und den Vertretern des Wissenschaftsund Forschungsstandorts Deutschland inszeniert. Dabei operieren die Kirchen im Rahmen des staatskirchenrechtlichen Modells einer Kooperation von Staat und Kirche, wogegen in den USA eine striktere Trennung zwischen Staat und Kirche besteht und auch die historischen Konfessionen freikirchlich organisiert sind. Im deutschsprachigen Kontext mahnt ausgerechnet ein Philosoph wie Jürgen Habermas, der sich doch dem Erbe aufgeklärter Religionskritik verpflichtet weiß, einen Mehrwert religiöser Sprach- und Traditionsbestände ein.37 Das klingt zunächst überraschend. Habermas ist überzeugt, „daß wir als Europäer Begriffe wie Moralität und Sittlichkeit, Person und Indivi————— 36 37

H. Gottweis/B. Prainsack, Religion, 428. Vgl. J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion.

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

dualität, Freiheit und Emanzipation“ gar nicht wirklich verstehen können, „ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen“38. Habermas unterstellt dabei – bis auf weiteres – die Unübersetzbarkeit zentraler Gehalte religiösen Glaubens und Denkens. „Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können.“39 In diesem Sinne rekurriert Habermas in der bioethischen Debatte über den Umgang mit embryonalem Leben und heutige Formen der Eugenik auf die Kategorie des „Unverfügbaren“40, erteilt aber zugleich allen Versuchen einer Resakralisierung der Natur eine deutliche Absage.41 Freilich kann man im Sinne der von Jüngel vorgenommenen Unterscheidung fragen, inwiefern Habermas, der sich dezidiert als religiös unmusikalisch bezeichnet, in der Sprache der christlichen Überlieferung das Evangelium oder nur die Stimme des Gesetzes hört. Auch sollten diejenigen, die Habermas für eine Rehabilitierung der Religion und eine Kritik an älteren Säkularisierungsthesen zu vereinnahmen versuchen, nicht übersehen, dass die Verdrängung der Religion zwar derzeit für illusorisch gehalten, als Fernziel aber keineswegs aufgegeben wird. Die von Hegel propagierte Aufhebung der Religion in die Philosophie wird also lediglich in eine unbestimmte Zukunft verlegt. Vor dem Hintergrund der verschiedenen Optionen in der Frage des Übersetzungsproblems soll ein Vorschlag des evangelischen Theologen und Bioethikers Peter Dabrock erörtert werden. Er plädiert dafür, die rechtfertigungstheologisch interpretierte Kategorie der Gottebenbildlichkeit in bioethischen Diskursen mit dem philosophischen Begriff der „leiblichen Vernunft“ zu übersetzen.42 Angestrebt wird offenbar eine Synthese von Phänomenologie der Leiblichkeit und kantischer Vernunftethik, wobei sich Dabrock stark auf die Leibphänomenologie von Bernhard Waldenfels bezieht.43 Ich möchte diskutieren, wie tragfähig dieses Konzept ist und wie dieser Vorschlag einer Übersetzung protestantischer Anthropologie in die Sprache der Philosophie theologisch zu beurteilen ist. Dabei gehe ich so vor, dass ich zunächst den Vernunftbegriff als solchen und anschließend die Wendung „leibliche Vernunft“ diskutiere. ————— 38

J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 23. A.a.O., 60. 40 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 59ff. 41 A.a.O., 48.51. 42 Vgl. P. Dabrock, in: ders./L. Klinnert/S. Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz, 167. 43 Vgl. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. 39

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Die Vielfalt der Vernunft

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1.3 Die Vielfalt der Vernunft Mit seiner Betonung der Leibgebundenheit menschlicher Vernunft reiht sich Dabrock unter die Kritiker Immanuel Kants ein, welche sowohl die Abstraktheit von Kants Vernunftbegriff als auch seines kategorischen Imperativs bemängeln. Zwar spricht auch Kant in gewisser Hinsicht von der Leibgebundenheit der Vernunft, unterscheidet aber zwischen vernünftigen Wesen und Vernunftwesen. Der Mensch hat sich als Subjekt in einer doppelten Perspektive zu betrachten: „erstlich als Sinnenwesen, d.h. als Mensch (zu einer der Tierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die Qualität eines lebenden körperlichen Wesens sein könnte)“44. Das Vernunftwesen aber wird von keinem leiblichen Sinn erreicht und lässt sich „nur in moralisch-praktischen Verhältnissen“ erkennen, „wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht“45. Sowohl in der Postmoderne-Debatte als auch innerhalb des Kommunitarismus-Diskurses wird die These vertreten, dass die aufklärerische Idee der einen Vernunft historisch gescheitert ist. Statt der einen Vernunft gibt es eine Vielzahl von Vernünften. Die Annahme einer zeitlosen Vernunft – auch in ihrer Kantischen Fassung – wird als Mythos kritisiert. Plausibel ist diese Kritik, insofern – mit Johann Georg Hamann gesprochen – die Sprache die „Mutter“ der Vernunft ist46, Vernunft daher nicht Sache der Natur, sondern der Sprache ist. Sprache aber gibt es nicht als eine einzige, nicht als Universalsprache. Vernunft im Sinne von Logos oder Sprache „ist nur gegenwärtig in verschiedenen Sprachen, in deren Konflikten, in der Überschneidung der jeweils verschiedenen Perspektiven“47. Zwar ist es den unterschiedlichen Sprachen, so verschieden sie auch sein mögen, gemeinsam, Sprache zu sein. Insofern gibt es so etwas wie Sprache überhaupt. Und dass dies keine leere Abstraktion ist, zeigt sich in dem bereits diskutierten Umstand, dass jede Sprache in jede andere übersetzbar ist48, wobei freilich die Übersetzbarkeit an die genannten Grenzen stößt. Man kann den Sachverhalt aber eben auch so akzentuieren, dass die Einheit der Sprache, wenn überhaupt, eben nur im riskanten Vorgang des Übersetzens von einer Sprache in die andere präsent ist, wie denn überhaupt gilt, dass Reden nichts anderes als Übersetzen ist.49 ————— 44

I. Kant, Metaphysik der Sitten, 550. Ebd. 46 J.G. Hamann, Briefwechsel, Bd. 6, 108. 47 O. Bayer, Autorität und Kritik, 41. 48 Vgl. G. Figal, Gegenständlichkeit, 226. 49 Vgl. O. Bayer, Autorität und Kritik, 41. 45

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

Wird der Begriff der Vernunft vom Vorgang des Vernehmens aus bestimmt, so ist solche vernehmende Vernunft stets geschichtlich, und das heißt relativ und kontingent. Schon Hegel hat die Geschichtlichkeit der Vernunft betont, die Einheit der Vernunft freilich noch immer darin gesehen, dass es die eine große Geschichte des Geistes bzw. des Fortschritts und der Freiheit gibt, in deren Verlauf die Religion und alle Erscheinungen der Wirklichkeit in den philosophischen Begriff aufgehoben werden. Folgt man Hamanns Kant-Kritik, so gibt es jedoch nicht die eine Geschichte der Vernunft, sondern eine Mehrzahl von Geschichten der Vernunft.50 Versteht man Vernunft als kommunikatives Prinzip der Verständigung in konkreten geschichtlichen Kontexten, dann gelangt auch eine auf Vernunft gründende Ethik nur zu vorläufigen Antworten und relativen, d.h. auf die jeweiligen Sachverhalte und Umstände bezogenen Einsichten. Das Ergebnis intersubjektiver Verständigung ist unter dieser Voraussetzung „kein Diktat, sondern immer nur ein Kompromiss“51.

1.4 Leibliche Vernunft Dabrocks Fokussierung protestantischer bzw. reformatorischer Ethik auf die Rechtfertigungslehre verdient grundsätzlich Zustimmung. Aus einer lutherischen Perspektive beschreibt Dabrock die schöpfungstheologische und hamartiologische Gott-Mensch-Differenz mit Hilfe der auf Luther zurückgehenden Formel vom simul iustus et peccator. In diesem Spannungsfeld interpretiert Dabrock die grundlegende biblische Bestimmung des Menschen als Ebenbild Gottes. Sie ist, wie Dabrock zutreffend feststellt, keine natürliche Eigenschaft des Menschen, sondern eine nur in der Gottesrelation wahrnehmbare anthropologische Bestimmung. Im Sinne einer relationalen Ontologie besteht die Gottebenbildlichkeit für Dabrock im Angesprochensein des Menschen durch Gott bzw. darin, als menschliches Selbst Antwort auf die Anrede Gottes zu sein und dementsprechend sein Leben führen zu dürfen. Dabei betont Dabrock, dass der Antwortcharakter des menschlichen Lebens unabhängig von kognitiven Fähigkeiten ist. Seine Formel von der leiblichen Vernunft ist theologisch plausibel. Sie lässt sich sogar noch stärker machen als es bei Dabrock der Fall ist. So überrascht es, dass er gar nicht auf den christologischen Inkarnationstopos zu sprechen kommt, was doch schon von Bonhoeffer aus, auf den sich

————— 50 51

Vgl. a.a.O., 69. M. Honecker, Wege evangelischer Ethik, 72.

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Leibliche Vernunft

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Dabrock wiederholt beruft52, nahe liegt. „Leibliche Vernunft“ lässt sich schließlich als Übersetzung der inkarnationstheologischen Basisaussage des Neuen Testaments in anthropologische Zusammenhänge verstehen: logos sarx egeneto – das Wort ward Fleisch (Joh 1,14). Bei Hamann ist dieser Zusammenhang ganz offenkundig. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, auf das die transzendent-relationale Bestimmung der Gottebenbildlichkeit verweist, wird dadurch hergestellt, dass Gott selbst „Fleisch und Blut“ annimmt.53 Die Inkarnation des Logos setzt sich in der Verkündigung des Evangeliums in Predigt und Sakrament sowie in der Verschriftlichung ihres biblischen Zeugnisses fort. Alle Kommunikation des Evangeliums ist „leibliches Wort“, wie der deutsche Text von Confessio Augustana V erklärt.54 Die inkarnationstheologische Begründung der vielfältigen Kommunikation des Evangeliums ist insofern anthropologisch relevant, als schon Hamann gegen den Purismus eines abstrakten Vernunftbegriffs einwendet, man erkenne in ihm „einen gnostischen Haß gegen Materie“ und „eine mystische Liebe zur Form“ und zugleich eine „gewalttätige, unbefugte eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat“55. Im Hintergrund von Hamanns Kritik an Kant steht somit die christologische Lehre von den zwei Naturen und der communicatio idiomatum. Auch der Gedanke der Geschichtlichkeit der Vernunft lässt sich auf inkarnationstheologischer Spur anthropologisch weiterführen, indem der Gedanke der Leiblichkeit der Vernunft mit dem Story-Konzept von Dietrich Ritschl56 bzw. der Philosophie der Geschichten des Husserl-Schülers Wilhelm Schapp verbunden wird. Menschsein heißt nach Schapp in Geschichten verstrickt sein57 und Ricœur bezeichnet die Narrativität als Propädeutik der Ethik.58 Insofern ist nun aber die leibliche Vernunft auch in philosophischer Hinsicht gar nicht, wie Dabrock glaubt, als natürliche Eigenschaft verständlich zu machen, sondern phänomenologisch als Zugehörigkeit zur durch Sprache in der tatsächlichen Vielfalt der Sprachen gestifteten Kommunikationsgemeinschaft. Dieser Gedanke fügt sich zwanglos zur paulinischen Rede vom Leib Christi im Neuen Testament. Leib Christi meint Christus als Gemeinde existierend. In, mit und unter der menschlichen Kommunikation des Evangeliums wirkt der Geist Gottes, der identifiziert wird als jener Geist, der ————— 52 Z.B. P. Dabrock, in: ders./L. Klinnert/S. Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz, 126ff. 53 Vgl. O. Bayer, Autorität und Kritik, 176. 54 BSLK 58,12f. Der lateinische Text spricht vom „verbum externum“ (BSLK 58,16). 55 J.G. Hamann, Metakritik, 285f. 56 D. Ritschl, Theorie. 57 W. Schapp, In Geschichten verstrickt. 58 Vgl. P. Ricœur, Selbst, 143f. Siehe auch M.W. Schnell, Narrative Identität, 126.

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Jesus von den Toten auferweckt hat.59 Auch wird der Geist Gottes mit Geist Christi gleichgesetzt, der in der Gemeinde und den einzelnen Gläubigen präsent ist.60 Symbolisch und performativ zugleich wird die Einheit von Leib und Geist in der Feier des Abendmahls erfahrbar. Wenn Christus in den Einsetzungsworten, die Paulus als Tradition zitiert61, seinen Jüngern das Brot mit den Worten reicht: „Das ist mein Leib“62, so steht das Brot nicht etwa bloß für den Körper Jesu, sondern für ihn als ganze Person, d.h. als leiblich-seelische – oder besser gesagt: als leiblich-geistige – Einheit, die in der Kommunikation mit Gott und seinen Jüngern steht. Das gilt entsprechend vom Kelchwort. Christus ist freilich nicht in einem allgemeinen Sinne „leibliche Vernunft“, sondern leiblicher Geist, nämlich der inkarnierte Geist Gottes, der sich in der Kommunikation des Evangeliums fortgesetzt verleiblicht. Die neutestamentlichen Schriften unterscheiden zwar nochmals zwischen Geist und Logos, Geist und Wort Gottes, die aber im trinitarischen Sinne in ihrer Unterschiedenheit eine Einheit bilden. Worauf es mir nun weiter ankommt, ist der paulinische Gedanke, dass dieser fleischgewordene Logos für die natürliche Vernunft des sündigen Menschen eine Torheit ist, welche die Weisheit der Weisen zunichte macht.63 Es ist die in Christus und seiner Gemeinde verleiblichte Vernunft die erkenntnistheoretische Basis und kritische Norm einer theologisch fundierten Bioethik. Wird dieser Sachverhalt außer acht gelassen, verliert der biblische Gedanke der leiblichen Vernunft seine kritische Kraft. Es ist aber gerade dieses kritische Potential, das die Theologie in die bioethischen Diskurse der Gegenwart einzubringen hat. In der Philosophie wird traditionell terminologisch zwischen Vernunft, Verstand und Bewusstsein unterschieden. Die traditionelle antike und mittelalterliche Erkenntnislehre differenziert zwischen Vernunft als diskursivem Vermögen und Verstand als intuitivem Vermögen, wogegen Kant unter Vernunft das vom endlichen menschlichen Verstand unterschiedene Vermögen der Schlussfolgerung versteht, das auf letzte Prinzipien zielt. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Das ethische Problem aber besteht darin, anhand welcher Kriterien über Inklusion und Exklusion möglicher Kommunikationsteilnehmer entschieden wird. Hier kommt nun der Personbegriff ins Spiel. Im Hintergrund heutiger medizin- und pflegeethischer Debatten steht, worauf ich im zweiten Kapitel noch ausführlich eingehen werde, bekanntlich die Alternative zweier Per————— 59

Röm 8,11. Röm 8,9; Phil 1,19; vgl. 1Petr 1,11. 61 1Kor 11,23–25. 62 Im griechischen Text von 1Kor 11,24 steht wie auch in den Parallelüberlieferungen in Mt 26,26; Mk 14,22; Lk 22,19 das Wort TÎNB. 63 Vgl. 1Kor 1,18–25. 60

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sonbegriffe. Nach dem ersten Konzept ist Personsein gleichbedeutend mit Menschsein, welches sich jeder rein biologischen Beschreibung entzieht. „Mensch“ und „Person“ sind demnach sich wechselseitig erläuternde Begriffe. Davon abweichend gibt es ein zweites Personkonzept, das auf den Philosophen John Locke zurückgeht. Hiernach ist Personsein nicht ohne weiteres mit dem Menschsein identisch, sondern an bestimmte Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Zukunftsbewusstsein und Erinnerungsvermögen gebunden. Für Kant, der dem ersten Personverständnis zuzuordnen ist, ist das Personsein des Menschen an seine Moralität geknüpft. Nun unterscheidet uns Menschen allerdings von anderen Lebewesen, dass wir moralische Fragen nicht nur stellen können, sondern unabweislich stellen müssen. Doch ist das Personsein des Menschen meines Erachtens nicht auf seine Moralfähigkeit zu begrenzen, sondern ist mit der leiblichen Existenz gegeben. Der Leib ist der Träger unserer Personalität und das Medium von Kommunikation. Alles, was menschliches Antlitz trägt, ist in die menschliche Kommunikationsgemeinschaft eingebunden, unabhängig davon, in welchem Ausmaß solche Kommunikation gelingt. Die Formen leiblicher Kommunikation können vielfältig oder auch rudimentär sein. Sie bleiben dennoch Gestalten menschlicher Kommunikation. Das Prinzip der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit privilegiert jedoch nicht die menschliche Gattung als biologische Spezies, sondern als Klasse solcher Individuen, die prinzipiell die Fähigkeit zu sittlichem Handeln haben.64 Als soziales Wesen partizipiert der einzelne Mensch am Wesen der Gattung, auch wenn er dieses nur fragmentarisch realisiert. Personalität bzw. Menschsein aber transzendiert jede biologische Beschreibbarkeit. Sie hat den Charakter des Geheimnisses.65 Und eben in dieser Geheimnishaftigkeit erblickt der christliche Glaube das Abbild der Geheimnishaftigkeit Gottes. In diesem Sinne sind z.B., wie später im 7. Kapitel ausführlich begründet wird, sind auch Wachkomapatienten als Personen und das heißt als Subjekte zwischenmenschlicher Kommunikation ernst zu nehmen, weil sich der Subjektstatus des Patienten nicht auf einen verengten Begriff von Autonomie oder Selbstbestimmung reduzieren lässt. Zwischenmenschliche Kommunikation, die das Gegenüber als Person ernstnimmt und wertschätzt, ist auch mit einem Menschen möglich, der das Bewusstsein verloren hat, weil sich personale Kommunikation nicht auf die verbale und kognitiv gesteuerte Kommunikation reduzieren lässt. Es ist also durchaus philosophisch plausibel, die Vernunft nicht als natürliches Vermögen, sondern als überindividuellen Kommunikationszusammenhang zu bestimmen, wobei eine christliche Anthropologie und Ethik ————— 64 65

Gegen P. Singer, Praktische Ethik, 82ff. D. Bonhoeffer, Ethik, 213, spricht vom „Geheimnis der menschlichen Leiblichkeit“.

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diese Kommunikationsgemeinschaft in der Weise als universal bezeichnet, dass niemand von ihr ausgeschlossen werden darf. Das ist die praktische Konsequenz der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden. Wieweit Personalität in diesem Sinne tatsächlich wahrgenommen wird, hängt eben nicht von vermeintlich objektiven empirischen Daten und Fakten ab, sondern von Wahrnehmungsmustern, bei denen außer- oder vormoralische Gründe eine erhebliche Rolle spielen. Insofern besteht ein Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik, als jede Ethik auch eine ethische Theorie der Wahrnehmung braucht. So gesehen ist der christliche Glaube auch eine Schule der Wahrnehmung, wie sich an Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) zeigen ließe.

1.5 Offene Fragen So plausibel das Konzept der leiblichen Vernunft in fundamentaltheologischer und anthropologischer Hinsicht auch ist, so begrenzt taugt es doch zur Begründung einer materialen Ethik. Weder Heidegger noch Merleau-Ponty wollten eine Ethik schreiben. Und auch Levinas weist keinen Weg, wie man von der Emphase der Begegnung mit dem Anderen zu einer materialen Ethik und normativen Kriterien für medizinethische Einzelentscheidungen gelangt. Die emphatische Betonung der Leiblichkeit läuft üblicherweise auf eine Pauschalkritik an der Instrumentalisierung des menschlichen Körpers hinaus. Tatsächlich aber ist das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper ein dialektisches, insofern wir uns einerseits als Körper vorfinden und erleben, andererseits aber zu uns selbst – und das heißt eben auch zu unserem Körper – verhalten können und müssen. Sich zum eigenen Körper verhalten setzt wiederum die Möglichkeit der Distanznahme voraus. Einerseits bin ich mein Leib, und andererseits habe ich ihn.66 Die Dialektik von Leib-Sein und Leib-Haben kann im Anschluss an Paul Tillich als Polarität von Schicksal und Freiheit gedeutet werden.67 Einerseits ist mein Körper, auch in seiner Entwicklung und seinen Bedürfnissen, seinen Reifungs- und Alternsprozessen mir kontingent vorgegeben. Andererseits kann ich versuchen, den Körper und seine Funktionen willentlich zu beeinflussen und zu verändern. Wie wir uns in der Polarität von Freiheit und Schicksal unserem eigenen Körper gegenüber verhalten, ist eine ethische Frage. Der eigene Körper ist also gleichermaßen als kontingente (Vor)gabe wie als ethische Aufgabe zu sehen. ————— 66 67

Vgl. dazu auch H. Plessner, Stufen des Organischen. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I, 214ff.

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Ein aktuelles Beispiel für diesen Umstand ist die Debatte über Enhancement, d.h. über medizinische Eingriffe zur gewünschten Verbesserung körperlicher, mentaler oder psychischer Eigenschaften, die nicht medizinisch indiziert sind, weil dem Zustand, den die Betroffenen zu ändern wünschen, von medizinischer Seite kein Krankheitswert zugemessen wird. Allerdings haben Versuche des Enhancements in hohem Maße mit Fragen der persönlichen Identität, des Selbstwertgefühls und der verschiedenen Formen des Selbst – des privaten, des öffentlichen und des kollektiven Selbst – zu tun.68 Hier kommt auch die christliche Sündenlehre ins Spiel. Nach Søren Kierkegaard ist Sünde im Kern Verzweiflung.69 Der dänische Philosoph unterscheidet zwischen drei Formen der Verzweiflung, nämlich dem Wunsch, verzweifelt man selbst sein zu wollen, dem Wunsch, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, und der Geistlosigkeit als Ausdruck tiefster Resignation und Selbstaufgabe. Tatsächlich sind manche Formen des Enhancements Ausdruck der von Kierkegaard beschriebenen Formen der Verzweiflung. Man denke nur an das Feld der Ernährung und der diversen Diäten, an Adipositas und Magersucht, an plastische Chirurgie und stimmungsaufhellende Psychopharmaka. Theologisch lautet daher die Frage, in welchen Fällen ein Enhancement im Einklang mit der schöpfungsgemäßen Polarität von Freiheit und Schicksal steht, und in welchen Fällen im Enhancement eine Gestalt sündiger Verzweiflung zu sehen ist, eben des verzweifelten Wunsches, unbedingt so zu bleiben, wie man ist, und sich damit der Polarität von Form und Dynamik zu widersetzen70, oder aber des verzweifelten Wunsches, ein anderer sein zu wollen. Abgesehen von dieser theologischen Unterscheidung sind die Grenzen zwischen medizinischer und nicht-medizinischer Indikation fließend, zumal jeder Krankheitsbegriff immer schon eine soziale Konstruktion ist. Darauf gehen wir im 3. Kapitel ausführlich ein. Wie die bisherige EnhancementDebatte zeigt, ist es jedenfalls schwierig, den Tatbestand des Enhancement überhaupt klar zu definieren und von anderen Interventionen und Manipulationen abzugrenzen.71 Auch die leibphänomenologische Unterscheidung zwischen der Sorge um den Leib und dem Verfügen über den Körper, d.h. zwischen einem nicht-instrumentellen und einem instrumentellen Umgang mit dem eigenen Körper, die der Philosoph Günter Pöltner vorschlägt, trägt wenig aus.72 Sie operiert mit einem naturrechtlichen Begriff vorgegebener Zwecke, die dem menschlichen Leib eingestiftete sein sollen, und ebenso ————— 68

Zu diesem Thema sind auch von der Psychologie wichtige Beiträge zu erwarten. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. 70 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I, 210ff. 71 Zum Stand der Diskussion vgl. B. Schöne-Seifert/D. Talbot (Hg.), Enhancement. 72 Vgl. G. Pöltner, Sorge um den Leib. 69

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naturrechtlich bestimmten Begriffen – Pöltner bezeichnet sie als „normativpraktisch“73 – von Krankheit und Gesundheit, wonach es gut ist, gesund zu sein, Krankheit dagegen etwas Nicht-Sein-Sollendes ist. Vor diesem Hintergrund diffamiert Pöltner jede medizinische Intervention, die diesem Krankheitsverständnis zuwiderläuft, als „Optimierungsstrategie, die den Leib nicht mehr als Leib ernst nimmt“74. Dass das Leibsein „die Grenze des Verfügenkönnens“ markiert75, lässt sich kaum aus einer phänomenologischen Analyse der Leiblichkeit als solcher schließen, sondern hängt von metaphysischen oder theologischen Vorannahmen ab, die Pöltner freilich nicht deutlich kenntlich macht. Pöltner möchte das Haben des eigenen Leibes vom moralisch negativ bewerteten Verfügen über den eigenen Körper mit Hilfe phänomenologischer Argumente unterscheiden. Anders als das selbstentfremdete Verfügen sei das Haben des Leibes, das durchaus seine Vergegenständlichung erlaube, „ein verstehendes Sich-Verhalten“76. Die Selbstzuschreibung „mein Leib“ nehme schließlich nicht mein Leib, sondern ich selbst vor. Pöltner fügt hinzu: „Handeln ist zwar immer leibhaftiges Handeln, aber es handelt nicht mein Leib, sondern ich selbst. Gleiches gilt von meinen Organen. Es denkt nicht mein Gehirn, sondern ich denke selbst.“77 Nun wird man Pöltners Kritik an einer reduktionistischen Theorie des Geistes oder des Bewusstseins, wie sie von manchen Neurowissenschaftlern vertreten wird, gern zustimmen. Ein Selbst zu sein oder die Vernunft sind sicher mehr als eine emergente Systemeigenschaft des Gehirns. Nicht Gehirne denken und sprechen, sondern Menschen, wobei in Akten des Denkens ebenso wie in Akten der intersubjektiven Kommunikation ein komplexes Wechselspiel zwischen Gehirn und übrigem Körper stattfindet, bei dem z.B. Gestik, Mimik, äußere Situation und Gesprächsatmosphäre eine wichtige Rolle spielen. Und so erscheint es tatsächlich unangemessen zu sagen, mein Gehirn denke, und das Ich sei lediglich eine Illusion des Gehirns. Von anderen Körperteilen oder Organen sprechen wir aber sehr wohl in einer distanzierenden Weise, indem wir sie metaphorisch als Subjekt eines Vorgangs betrachten. Wir sagen z.B. „Mein Herz schlägt“, und nicht: „Ich lasse mein Herz schlagen“. Wir sprechen davon, dass uns die Hand zittert, oder dass wir so weit laufen, wie uns die Füße tragen können. Es sind dies freilich keine bewussten Handlungen, sondern Lebensvollzüge, die wir nur partiell willentlich beeinflussen können. Auf die Unterscheidung von Handlungen und Lebensvollzügen komme ich noch im 3. Kapitel ausführlich zu ————— 73

A.a.O., 4. Ebd. 75 A.a.O., 7. 76 Ebd. 77 Ebd. 74

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sprechen. Worum es mir an dieser Stelle nur geht, ist der Einwand, dass wir zu unseren Organen wie zum Leib als ganzem sehr wohl ein objektivierendes Verhältnis der Vergegenständlichung einnehmen können. Ohne dieses wären z.B. Organtransplantationen ethisch unzulässig. Eine Fundamentalkritik an jeder Form des „technomorphen Umgangs“78 mit dem menschlichen Leib wäre das Ende der modernen Medizin. Jede Operation, bei der der Patient eine Narkose erhält, basiert auf der zeitweiligen „technomorphen“ – durch Anästhetika herbeigeführten – Abspaltung der Person von ihrem Leib, d.h. auf der zeitweiligen Transformation des Leibes in einen verobjektivierten Körper. Und wer schon einmal operiert werden musste, dürfte für diese Art des „Dualismus“ und die Segnungen der modernen Anästhesie wohl dankbar sein. Um nochmals auf die Transplantationsmedizin zurückzukommen: Allerdings ist eine Sicht defizitär, die in den Organen lediglich die beliebig austauschbaren Module oder Ersatzteile einer Maschine sieht. Abgesehen von den Ängsten um Leib und Leben, die Patienten vor einer Transplantation auszustehen haben, stehen sie vor der psychischen Aufgabe, das neue Organ in ihr eigenes Selbstbild zu integrieren. Und es macht einen Unterschied, ob mir ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt wird oder ein Herz, das zuvor in der Brust eines anderen geschlagen hat. Nicht selten beschäftigt transplantierte Patienten die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dem sie ihr Weiterleben verdanken. Auch im Fall der Lebendspende von Organen spielen Fragen von Identität und Beziehung, von Schuldgefühlen und Dankbarkeit eine Rolle.79 Wenn die Integrität des eigenen Leibes das oberste Gebot wäre, so ließen sich zumindest Organlebendspenden ethisch nicht rechtfertigen. In der Tat scheint darauf bei Kant das Gebot der Selbsterhaltung hinauszulaufen, dass er zu den Pflichten des Menschen gegen sich selbst rechnet.80 Man beachte übrigens, dass Kant den Leib – im Unterschied zu den modernen Vertretern einer Leibphänomenologie – zur animalischen Natur des Menschen zählt!81 Konkret führt er aus: „Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), z.B. einen Zahn zu verschenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines anderen zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können u. dgl., gehört zum partialen Selbstmorde.“82

————— 78

Vgl. a.a.O., 10. Zu ethischen Fragen der Transplantationsmedizin siehe F.S. Oduncu/U. Schroth/W. Vossenkuhl (Hg.), Transplantation. 80 I. Kant, Metaphysik der Sitten, 553ff. 81 Vgl. a.a.O., 550. 82 A.a.O., 555. Vgl. dazu Chr. Lenk, Recht auf Eigentum. 79

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Sowohl die Organlebendspende wie auch die Kastration als Form des Enhancements, wie man heute sagen würde, verurteilt Kant als Selbsttötung auf Raten. Nun könnte man einwenden, dass der Ersatz echter Zähne, der zur Zeit Kants offenbar nicht unüblich war, beim Empfänger aus rein ästhetischen Gründen erfolgt und somit ebenfalls eine Form des Enhancements darstellt, wogegen die Transplantation lebensnotwendiger Organe im Krankheitsfall damals nicht zur Diskussion stand. Ergo, so ließe sich weiter folgern, spricht Kants Fassung des Gebotes der physischen Selbsterhaltung nicht zwingend gegen die Organlebendspende, sondern lediglich gegen jede Form des Enhancements.83 Mag man nun auch argumentieren, im Fall der Organspende gehe es darum, ein fremdes Leben zu retten, so bleibt doch die Lebendspende eine Selbstschädigung, die zum Gebot der Selbsterhaltung des eigenen Körpers und seiner Integrität im Widerspruch steht. Vielleicht kommt man an dieser Stelle mit Bonhoeffer weiter, der abschwächend formuliert, der Leib sei „in erster Hinsicht“ nicht dazu da, um geopfert, sondern um erhalten zu werden, um hinzuzufügen: „Daß sich dann aus anderen und höheren Gesichtspunkten das Recht und die Pflicht [!] ergeben kann, den Leib zu opfern, setzt schon das ursprüngliche Recht auf Erhaltung des leiblichen Lebens voraus.“84 Auf dieser Argumentationslinie lässt sich die Lebendorganspende ethisch durchaus rechtfertigen. Allerdings verweist Bonhoeffer ausdrücklich auf „andere und höhere Gesichtspunkte“, womit klar wird, dass eine Phänomenologie des Leibes als solche keine hinreichenden Kriterien für die Thematik der Transplantationsmedizin im Allgemeinen wie für Einzelentscheidungen bereitstellt. So besteht schon ein grundlegender Unterschied zwischen dem Selbsterleben als leiblichem Dasein und der Frage nach verallgemeinerungsfähigen Normen und Kriterien für ethische Entscheidungen. Das Verhältnis zum eigenen Leib spielt zwar auf der individualethischen Ebene, auf der es um das Selbstverhältnis des moralischen Subjektes geht, eine tragende Rolle, doch schon auf der personalethischen Ebene der intersubjektiven Kommunikation über moralische Fragen kann das eigene Selbsterleben nicht zum Maßstab für andere gemacht werden, wie diese mit ihrem Körper umzugehen haben. Erst recht gilt dies für die sozialethische Ebene, auf der das medizinische Handeln und die Gesundheitsversorgung institutionalisiert werden, wie man sich abermals am Beispiel der Transplantationsmedizin verdeutlichen kann. ————— 83 Übrigens missbilligt Kant auch den Verkauf der eigenen Haare, nicht aber ihre kostenlose Überlassung an Dritte. Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, 555. 84 D. Bonhoeffer, Ethik, 179.

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„Muss ich selbst entscheiden, ob ich mich einer Organtransplantation unterziehen will, kann die Meditation darüber, was dieser Eingriff für mich als Leib bedeutet, durchaus eine Entscheidungshilfe darstellen. Soll ich aber darüber entscheiden, was für einen Anderen das Beste ist, werde ich mit der Besinnung darauf, was es für mich heißt, Leib zu sein, nicht weit kommen.“85

Personal- und Sozialethik haben die kategoriale Differenz zwischen dem Körper als Für-mich-Sein und dem Körper als Für-andere-Sein zu beachten. Nach Sartre liegen diese beiden Aspekte unserer Leiblichkeit auf unterschiedlichen und unvereinbarer Seinsebenen, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen.86 Um nun auf die Enhancement-Debatte zurückzukommen, so ist allerdings unabhängig von der Problematik eines normativen Krankheitsbegriffs und den Schwierigkeiten, einen Krankheitswert objektiv zu bestimmen, fraglich, ob jede Form des Enhancements als Form der Selbstschädigung einzustufen ist. Und zwar stellt sich diese Frage nicht bei der Einnahme von Psychopharmaka, sondern auch bei invasiven Eingriffen in den Körper. Das beginnt schon bei Tätowierungen und beim Piercing, das heute selbst in unseren Breitengraden Gang und Gäbe ist und in vielen Kulturen eine lange Tradition hat. Oder man denke an die Beschneidungspraxis im Judentum und im Islam. Die Genitalbeschneidung von Mädchen, die als menschenrechtswidrige Verstümmelung zu verurteilen und zu bekämpfen ist, sei an dieser Stelle ausgenommen.87 Aber im Falle der Vorhautbeschneidung bei Jungen wird man in der Regel nicht von einer Beeinträchtigung der Sexualfunktionen und des sexuellen Empfindens sprechen können. Bisweilen wird die Circumcision sogar aus hygienischen Gründen befürwortet. Die eigentliche Begründung der Beschneidung ist freilich keine medizinische, sondern eine religiöse. Eine Phänomenologie der Leiblichkeit bietet für diese religiöse Praxis keine Rechtfertigung, sondern könnte im Gegenteil als Einwand gegen sie verwendet werden. Das Beispiel zeigt uns, wie sehr der Umgang mit dem eigenen Körper kulturabhängig ist. Der eigene Leib ist eben nicht einfach die naturwüchsige Basis unseres Daseins, sondern er fungiert stets als Träger von Bedeutung, d.h. als Zeichen, wobei Zeichen niemals an sich existieren, sondern nur innerhalb eines Zeichensystems. Zeichentheoretisch betrachtet werden Zeichen in Prozessen der Semiose gebildet. Ein Zeichen bezeichnet etwas für jemanden. Außerhalb solcher Prozesse der Semiose aber sind Zeichen keine Zeichen. Auch eine Phänomenologie der Leiblichkeit, welche dem Leib Bedeutsamkeit zuschreibt, ist eine Form der Semiose. Und eben darum kann Leiblich————— 85

M.G. Weiß, Der Phänomenologische Fehlschluss, 350. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, 543. Vgl. dazu auch M.G. Weiß, Die drei Körper. 87 Vgl. F. Asefaw, Weibliche Genitalbeschneidung. 86

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keit als solche keine hinreichende Basis für eine Theorie der Moral oder konkret eine bioethische Theorie liefern. Der Leib als solcher hat jedenfalls keine hinreichende normative Kraft, wenn es darum geht, über die ethische Zulässigkeit konkreter medizinischer Maßnahmen zu entscheiden. Erfahrungen der Leiblichkeit und des Leibseins sind vielmehr ihrerseits Gegenstand von Kommunikation und von Aushandlungsprozessen, so dass die allerdings unabweisbare konstitutive Bedeutung unseres Leibseins nur soweit ethisch relevant werden kann, als sie ihrerseits in eine moralphilosophische oder theologisch-ethische Rahmentheorie eingezeichnet wird.88 Das aber besagt, dass auch die im vorhergehenden Abschnitt diskutierte Idee der leiblichen Vernunft für die Entwicklung entsprechender Theorieangebote lediglich eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung ist.

1.6 Leibliche Vernunft und Verantwortungsethik Leibphänomenologische Konzeptionen einer kritischen Bioethik operieren mit einem problematischen Begriff der Unverfügbarkeit, handelt es sich doch bei der Rede von der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens um die Umkehr des naturalistischen Fehlschlusses. Verwechselt dieser Seinsaussagen mit Sollenssätzen, so wird in diesem Fall ein moralischer Appell in die Form einer beschreibenden Aussage gekleidet, eine Sollens-Aussage in die Form einer Seinsaussage gebracht.89 Doch ist gegen die verdeckte SollensAussagen, dass es unmoralisch sei, über das eigene wie über fremdes Leben zu verfügen, mit Eberhard Amelung einzuwenden: „Wenn es eine Schöpfungsordnung gibt, dann ist es der Verfügungszusammenhang.“90 Unser Leben ist so beschaffen, dass wir ständig über anderes Leben verfügen müssen. Die Frage lautet daher nicht, ob wir dies tun sollen, sondern wie wir es ethisch begründet tun können, so dass z.B. nicht der Zweck die Mittel heiligt und nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch die Eigenwertigkeit z.B. von Tieren geachtet wird. Die Rede von der Unverfügbarkeit des Lebens hat in der säkularen Gesellschaft offensichtlich die Funktion, daran zu erinnern, dass der Mensch eine naturale, d.h. biologische Basis hat, die er nicht zerstören darf, weil ————— 88 Marcus Düwell sieht in der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers eine Alternative zur Leiblichkeitsphänomenologie. Vgl. M. Düwell, Status, 167ff. 89 Martin G. Weiß spricht vom „phänomenologischen Fehlschluss“ leibphänomenologischer Ethikentwürfe. Vgl. M.G. Weiß, Der Phänomenologische Fehlschluss, 342 u. 344. Zur Debatte über die ethische Normativität des Leibes oder der menschlichen Natur siehe auch die Beiträge in ders. (Hg.), Bios und Zoë. 90 E. Amelung, Verantwortung, 22.

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sein eigenes Leben an sie gebunden ist. Theologisch ist allerdings zu kritisieren, wenn die Abhängigkeit des Menschen von der Natur mit jener von ihr kategorial verschiedenen schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott verwechselt wird, welche die biblische Rede von der Schöpfung zum Ausdruck bringt. Durch die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf scheint es auf den ersten Blick Gebiete zu geben, in denen menschliche Eingriffe strikt untersagt sind. Faktisch aber ist der Mensch heute in die Lage versetzt, vor Gott erkennen zu müssen, dass er dazu herausgerufen ist, selbst in die Bereiche von Geburt und Tod einzugreifen. Mit dem nicht mehr aus der Welt zu schaffenden medizinischen Fortschritt ist dem Menschen an den Grenzen des Lebens eine Verantwortung zugewachsen, aus der er sich nicht durch willkürliche Selbstbegrenzung davonstehlen kann, auch nicht unter Hinweis auf die vermeintliche Unverfügbarkeit des von Gott geschaffenen Lebens. Auch sind Schöpfung und Natur keine synonymen Begriffe. Was mit Schöpfung gemeint ist, muss sich an der Natur aufzeigen lassen, ohne in ihr aufzugehen.91 Der Schöpfungsglaube gibt eine spezifische Antwort auf die Frage nach der Grundorientierung bzw. nach dem Sinn menschlicher Lebensführung, nicht aber schon auf die Frage nach der ethischen Valenz einzelner Handlungszwecke. Die Grenzen des ethisch Zulässigen müssen daher von Fall zu Fall neu bestimmt werden. Das gilt gleichfalls für die gesamte Gesellschaft. Auch wenn handfeste ökonomische Interessen nicht verschleiert und die Chancen der Biomedizin nicht überschätzt werden dürfen, erscheint es doch problematisch, wenn in der öffentlichen Diskussion primär die möglichen Gefahren thematisiert werden, beispielsweise unter Berufung auf Hans Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ und die darin formulierte „Heuristik der Furcht“92. So berechtigt Jonas’ Kritik an melioristischen Vollkommenheitsutopien ist, so kann doch eine freiwillige kollektive Selbstbeschränkung menschlichen Handelns für das weitere Schicksal der Menschheit nicht minder problematische Folgen haben wie die hemmungslose Ausschöpfung aller technologischen Möglichkeiten. Nicht nur das Tun, sondern auch das Unterlassen muss sich ethisch rechtfertigen. Der technische Charakter der modernen Biomedizin als solcher bietet keinen hinreichenden Grund für ethisch motivierte Kritik. Aus verantwortungsethischer Sicht ist vielmehr zunächst zu prüfen, ob es nicht geradezu eine moralische Pflicht zur Nutzung des neuen biomedizinischen Wissens gibt. ————— 91

So mit Recht Chr. Frey, Neue Gesichtspunkte, 222f. Vgl. H. Jonas, Prinzip Verantwortung, 63f.70ff. Zur Kritik vgl. U. Körtner, Evangelische Sozialethik, 97f.100f. 92

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

Allerdings ist die biotechnologische Entwicklung mit einer Zunahme individueller Verantwortung verbunden, die zu der Frage führt, wie die Entscheidungsfähigkeit und Selbstverantwortung des Einzelnen zu stärken ist, unter Umständen auch gegenüber gesellschaftlichen Trends. Das setzt eine verantwortungsethische Rahmentheorie voraus. Allerdings sollte man sich über die Einflussmöglichkeiten normativer Ethik keinen Illusionen hingeben. „Leidenden Menschen und ihrer Umgebung, wie etwa Eltern genetisch kranker Kinder, wird nicht zu vermitteln sein, dass ihnen neue Verfahren, beispielsweise der Pränataldiagnostik und der somatischen Gentherapie, aufgrund übergeordneter gesellschaftlicher Werte vorenthalten werden. Ähnliches wird sich im Bereich der prädiktiven Genetik abspielen. Angehenden Eltern wird kaum zu vermitteln sein, dass sie aus übergeordneten Gründen einer abstrakten Sozialethik ein absehbar erbkrankes Kind austragen und in ihre Familie aufnehmen sollen. Verfahren der pränatalen Diagnostik werden also längerfristig das gesellschaftliche Verständnis der embryopathischen Indikation für eine Abtreibung ändern.“93

Vergleichbare Argumente werden in der Euthanasiedebatte ins Feld geführt. Dammbruchargumente verfangen bei denen nicht, welche nicht bereit sind, um des Erhaltes allgemeiner Wertvorstellungen willen zum Weiterleben gezwungen zu werden. Sollen ethische Erwägungen über Grenzen und Selbstbegrenzungen der Medizin überhaupt eine Chance erhalten, so muss ihre Sinnhaftigkeit auch für den Einzelnen evident werden. Auf der einen Seite steht nun die abstrakte Forderung nach Stärkung der individuellen Autonomie. Auf der anderen Seite geraten die Individuen immer stärker unter neue Entscheidungszwänge und sehen sich mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen konfrontiert, denen zu widerstehen ein hohes Maß an Ich-Stärke und möglicherweise an Unterstützung durch andere verlangt. Die Aufgabe der Ethik wird damit zu einer Bildungsaufgabe, aber auch zu einer seelsorgerlichen Aufgabe ersten Ranges. Und gerade hier sind die Kirchen gefragt, welche Lebensbegleitung und Lebenshilfe sie Menschen zu geben vermögen, ohne sie klerikal bevormunden zu wollen. Für eine theologische Ethik in evangelischer Tradition ist die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben grundlegend. Sie lässt sich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik charakterisieren.94 Als ethischer Terminus ermöglicht der Begriff der Verantwortung eine umfassende Bestimmung der menschlichen Grundsituation, nämlich als eine forensische oder – abgeschwächter formuliert – als eine dialogische.95 Verantwortung entspringt dem grundlegenden Phä————— 93

A. Labisch/N. Paul, Art. Medizin 1, 638. Vgl. U. Körtner, Evangelische Sozialethik, 25. 95 Vgl. a.a.O., 94ff. 94

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Leibliche Vernunft und Verantwortungsethik

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nomen unseres Personseins, das immer schon dialogisch ist. Ich und Du sind gleichursprüngliche Worte.96 Ein Ich kann ich immer nur im Gegenüber zu einem Du sein. Die basale Erfahrung der Interpersonalität aber besteht in der Anrede. Personales Sein hat daher grundlegend Antwortcharakter. So gewiss nun interpersonale Kommunikation leibgebunden ist, begegnet uns doch der Leib als dieser in der sprachlichen Kommunikation und gewinnt erst in Kommunikationszusammenhängen seine Bedeutsamkeit. Verantwortung im elementaren Sinne des Wortes entsteht aus der Nötigung zur Stellungnahme zu dem mit der interpersonalen Kommunikation gegebenen Anspruch auf Anerkennung der Person. Mit dem Sein von Personen ist also zugleich ein Sollen gegeben. Auch dort, wo der Anspruch auf Anerkennung verweigert wird, handelt es sich um eine Form der Stellungnahme und somit der Kommunikation, die einzig durch den gewaltsamen Ausschluss von Personen aus einem Kommunikationsbereich, d.h. aber in letzter Konsequenz durch ihre Tötung abgebrochen werden kann. Worauf es entscheidend ankommt, ist die Erkenntnis, dass der Leib nicht als reine Natur, sondern einzig in den immer schon moralisch konnotierten Kommunikationszusammenhängen, in denen wir als Menschen stehen, seinen moralischen Status erhält. Wie Verantwortung ist auch Leiblichkeit eine interpersonale, soziale Konstruktion.97 Der Verantwortungsbegriff als solcher kann freilich kein hinreichendes Prinzip der Ethik, auch nicht einer evangelischen Ethik aus dem Geist der Liebe sein, weil Liebe das Phänomen des Moralischen transzendiert. Theologisch gesprochen ist es die von unserer biologischen Beschaffenheit unabhängige zuvorkommende und freie Gnade Gottes, welcher der Mensch seine Anerkennung und Rechtfertigung verdankt. Der Rechenschaftspflicht des ethischen Subjekts geht die Rechtfertigung des Sünders voraus. Gerade sie bedeutet aber, dass sich der Mensch auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Ebenso handelt die paulinische Rechtfertigungslehre von der Wiedergewinnung endlicher Freiheit und damit der moralfähigen Subjektivität, findet sich der Mensch doch als jener vor, der diese Subjektivität immer schon verfehlt hat. In Anbetracht des biomedizinischen Fortschritts eröffnet sich ein neuer Zugang zur Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht über die Resakralisierung des Natürlichen, sondern über die rechtfertigungstheologische Rekonstruktion der Schöpfungslehre. In welcher Weise der Schöpfungsglaube von der Rechtfertigung her seine Akzentuierung ————— 96

Vgl. M. Buber, Ich und Du. Auch S. Schardien und P. Dabrock verorten die Leiblichkeit zwischen körperlicher Substantialität und kommunikativer Relationalität und deuten eine Verbindung zur Verantwortungsethik an, die von mir aber deutlicher herausgearbeitet wird. Vgl. S. Schardien, in: P. Dabrock/L. Klinnert/dies., Menschenwürde und Lebensschutz, 107.111; P. Dabrock, Wirklichkeit verantworten. 97

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Ethik und Phänomenologie der Leiblichkeit

erfährt, lässt sich schön an Luthers Erklärung zum ersten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zeigen. Luther führt aus: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen und Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuhe, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt, wider alle Gefahr beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt, und das alles aus lauter väterlicher Güte und Barmherzigkeit ohn all mein Verdienst und Würdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin; das ist gewißlich wahr.“98

Das physische Dasein und seine Erhaltung, aber nicht nur das bloße Überleben, sondern auch die Fülle des Lebens kommen dem Menschen grundlos zu. Das geschöpfliche Leben ist die irdische Konkretion der Rechtfertigung des Sünders. Das Empfangen kommt vor dem Tun, die Verheißung bzw. der Zuspruch (promissio) vor dem Gebot, der Glaube vor den Werken. Zugleich verweist die innere, an der Rechtfertigungslehre gewonnene Struktur von Luthers Erklärung zum Credo auf die Christologie. Nach Ansicht der reformatorischen Tradition gründet die Würde des Menschen in der zuvorkommenden Gnade Gottes, welche in der neutestamentlichen Botschaft von der bedingungslosen Rechtfertigung des Sünders ihre Zuspitzung erfährt. Darum hängt auch das Lebensrecht eines Menschen gerade nicht von bestimmten intellektuellen Fähigkeiten oder seiner körperlichen Verfassung ab. Dies folgt aus dem Zusammenhang, der zwischen Rechtfertigungslehre und Christologie besteht. Die christliche Anthropologie nimmt nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen und seiner Idealgestalt, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus Maß, der „keine Gestalt“ hatte, „die uns gefallen hätte“99. Von hier aus ist auch die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Rahmen der christlichen Schöpfungslehre ausgesagt wird, näher zu bestimmen. Bioethisch relevant ist auch die eschatologische Dimension des Rechtfertigungsglaubens, weil sich aus ihr eine kritische Sicht auf die latente oder offene Gefahr einer soteriologischen Überhöhung der modernen Medizin zur Heilslehre ableiten lässt. Einerseits schließt das Gebot der Nächstenliebe die Verpflichtung zum Heilen ein. Auch die im Neuen Testament geschilderten Heilungswunder Jesu und die alte Denkfigur des Christus medicus stehen dafür.100 Andererseits stehen alle menschlichen Heilungsversuche unter dem eschatologischen Vorbehalt. Eschatologie ist die christliche Lehre vom Reich Gottes bzw. von der Vollendung der Welt durch Gott. ————— 98

Martin Luther, Kleiner Katechismus, BSLK, 510f (Schreibweise modernisiert). Jes 53,2. 100 Vgl. M. Honecker, Christus medicus; J. Hübner, Christus medicus. 99

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Leibliche Vernunft und Verantwortungsethik

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Heilung und Heil sind nach dieser Lehre voneinander zu unterscheiden. Andernfalls steht der medizinische Fortschritt in der Gefahr, vom Geist der Utopie zur Barbarei verführt zu werden. Die Geschichte und insbesondere die Medizinverbrechen des 20. Jahrhunderts belehren uns, dass der Wunsch, Menschen zu heilen, eine ungeheuer beflügelnde und zerstörerische Kraft entfalten kann. Wird der „therapeutische Imperativ“ als ein kategorischer Imperativ missverstanden, wird die Medizin sehr schnell inhuman – bis hin zu unethischen Experimenten am Menschen.101 Es sind vor allem jene, die als unheilbar gelten, welche sehr schnell der Dynamik eines utopischen Gesundheitsbegriffs zum Opfer fallen. Nicht zuletzt die Diskussion über neue Formen der Selektion oder der Menschenzüchtung verstärkt daher die Notwendigkeit, das Recht auf Unvollkommenheit zu verteidigen und seine positive Bedeutung für die Humanität unserer Gesellschaft zu verdeutlichen.102 Im Blick auf die Bewegung des sogenannten Transhumanismus, die eine Veränderung der menschlichen Spezies durch den Einsatz technologischer Verfahren befürwortet103, ist zu sagen, dass auch die christliche Anthropologie den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Menschen kennt. Auch sie spricht davon, dass noch nicht offenbar geworden ist, was wir sein werden.104 Aber es handelt sich hierbei um eine eschatologische Differenz, d.h. um den Hinweis auf die letztgültige Bestimmung und Vollendung des Menschen, die von ihm selbst nicht zu leisten ist. Der alte Mensch aber in seiner Endlichkeit, seiner Unvollkommenheit und Gebrochenheit, in seinem Versagen und seiner Schuld ist es, dem die bedingungslose Zuwendung Gottes gilt und den der Mensch Gottes als seinesgleichen lieben soll. Dass auch der im Glauben von Gott gerechtfertigte Mensch Sünder bleibt, ist eine Grundaussage reformatorischer Anthropologie. Der gerechtfertigte Sünder vermag weder sich selbst noch die Welt zu verbessern, weder auf dem Weg der Moral noch durch irgendwelche Anthropotechniken.105 Der alte Mensch im biblischen Sinne ist nicht verbesserungs-, sondern vergebungsbedürftig. Das schöpferische Wort der Vergebung aber macht ihn nicht besser, sondern neu.

————— 101

A. Kuhlmann, Politik des Lebens, 34f. Zum Recht auf Unvollkommenheit vgl. U. Körtner, „Lasset uns Menschen machen“, 119ff. 103 Zur Einführung in die Debatte siehe O. Krüger, Virtualität und Unsterblichkeit; B. Gesang, Perfektionierung des Menschen. 104 1Joh 3,2. 105 Vgl. P. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. 102

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2 Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

2.1 Philosophie und Theologie der Person 2.1.1 Menschen, Engel und Computer „Der Begriff der Person“, so erklärt der Philosoph Dieter Sturma, „ist die moderne Antwort auf die alte Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen“1. Nachdem der Mensch und das Subjekt in der modernen Soziologie für tot erklärt wurden, bemüht sich seit einiger Zeit die Philosophie der Person um ihre Rehabilitierung. Denkt man nur an den Aufschwung, den die Ethik in den vergangenen Jahren genommen hat, kann das nicht weiter verwundern. Denn weder sich selbst noch ihren Gegenstand kann die Ethik ohne den Begriff der Person beschreiben und erklären. Was aber macht Personen zu Personen? Und wie kommen sie in die Welt hinein? Die These, die im Folgenden diskutiert werden soll, lautet: Personen werden geboren. Sie schränkt die Verwendung des Personbegriffs deutlich ein. Geboren werden Säugetiere, darunter auch Menschen, nicht aber Vögel oder Reptilien, die aus Eiern schlüpfen, auch nicht die meisten Fischarten und solche Lebewesen, die sich durch Zellteilung vermehren, wie zum Beispiel Amöben oder Pantoffeltierchen, nicht Pflanzen, aber auch keine Maschinen und Computer, nicht Engel – und auch nicht der Gott der Bibel. Dass es in der christlichen Tradition vom göttlichen Logos heißt, er sei der Sohn, vom Vater in Ewigkeit geboren – geboren, nicht etwa geschaffen –, tut dieser Feststellung keinen Abbruch. Der dreifaltige Gott in seiner Einheit und Selbigkeit ist ungeboren. Die ewige Geburtlichkeit des Logos kann ebenso wie die Personalität von Vater, Sohn und Heiligem Geist nicht univok, sondern bestenfalls nur analog ausgesagt und gedacht werden. Auch Engel werden nicht geboren und nicht gezeugt. Mit Zeugung und Geburtlichkeit fehlt ihnen aber die Geschlechtlichkeit, „und ohne Geschlechtlichkeit keine Geschichte“, wie Kierkegaard lapidar anmerkt.2 „Selbst wenn Michael alle die Geschäfte aufgezeichnet hätte, zu denen er ————— 1 D. Sturma, Person und Philosophie der Person, 11. – Eine Vorfassung dieses Kapitels ist unter dem Titel „Personen werden geboren. Die Kritik der Vorstellung von der Person als causa sui und ihre Konsequenzen für die Ethik“ erschienen, in: M.G. Weiß (Hg.), Bios und Zoë, 240–242. 2 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, 47.

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Philosophie und Theologie der Person

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ausgesandt worden, und die er vollbracht, ist dies ja nicht seine Geschichte.“3 Ob es, wie Kierkegaard überzeugt war – oder sollte ich besser sagen Kierkegaards Pseudonym Vigilius Haufniensis? – keine Geschlechtlichkeit ohne Sünde beziehungsweise keine Sünde ohne Geschlechtlichkeit gibt, mag hier fürs Erste auf sich beruhen. Engel sind jedenfalls weder männlich noch weiblich, mögen sie auch männliche Vornamen wie „Michael“ oder „Gabriel“ tragen, und stehen in keiner Generationenfolge – was ihre Sterblichkeit einschlösse. Auch Roboter und Computer fallen aus der Klasse oder Menge aller möglichen Personen heraus, wenn das Geborensein zum Wesensmerkmal erklärt wird. Von neuen Generationen von Laptops und Maschinen spricht man doch nur in einem übertragenen Sinne. Die Geschichte der Computertechnik und der Robotik ist ein Teil der Menschheitsgeschichte, ein Ausschnitt aus der Geschichte menschlicher Technik und Kultur. Der einzelne Roboter oder Computer aber hat weder Geschichte noch Geschlecht. Er ist nicht gezeugt, sondern gemacht. Das für seine Herstellung verwendete Material wird von außen organisiert für einen Zweck, welcher der Maschine äußerlich ist.4 Selbst wenn es gelänge, einen Computer oder Roboter herzustellen, der sämtliche Hirnleistungen des Menschen nachahmen und autopoietisch weiterentwickeln könnte, handelte es sich doch nicht um ein geborenes und sterbliches Lebewesen. Allfällige Materialermüdung ist nicht mit dem Altern eines Lebewesens gleichzusetzen, das Vater und Mutter, Herkunft und Biographie hat und sterben muss. Karbon allein tut’s freilich nicht. Es geht also nicht bloß um den Unterschied zwischen Kohlenstoffverbindungen und Silizium, wenn Maschinen mit künstlicher Intelligenz aus dem Kreis der Personen ausgeschlossen werden. Der dem utilitaristischen Speziezismusvorwurf nachgebildete Vorwurf des „carbonism“, gegen den Blay Whitby Computer in Schutz nehmen möchte5, greift zu kurz, weil er die mit kohlenstoffbasierten Lebensformen verbundene Geburtlichkeit des Leibes und die mit dem spezifischen Stoffwechsel verbundenen Körperzustände, Befindlichkeiten und Alterungsprozesse, aber auch die darauf basierenden Kultur- und Sozialformen, die von der Nahrungsbeschaffung über Bekleidung und Müllabfuhr bis zum Klimaschutz reichen, außer acht lässt. Wenn Personen geboren werden, Geborensein also ein Charakteristikum von Personen ist, heißt dies freilich nicht, dass alle Lebewesen, die geboren werden, darum auch schon Personen sind. Mit Ausnahme des Menschen wird Säugetieren üblicherweise das Personsein abgesprochen. Das ist heute ————— 3

Ebd. Vgl. R. Spaemann, Seelen, 73. 5 Vgl. B. Whitby, Reflections, 102. 4

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

zumindest im Fall der Menschenaffen ebenso umstritten wie die Unterstellung, alle Menschen seien Personen. Ob Anenzephale, Wachkomapatienten oder an Alzheimer in fortgeschrittenem Stadium erkrankte Menschen noch als Personen gelten können, wird ebenso gegensätzlich beurteilt wie der Personstatus von Neugeborenen. Die in diesem Kapiteltitel aufgestellte These gibt darüber noch keine Auskunft. Weder behauptet sie, dass die Geburt ein hinreichendes, noch, dass sie ein notwendiges Kriterium des Personseins ist. In diesem Fall wäre nämlich dem Ungeborenen der Personstatus kategorisch abzusprechen. Wird die Person durch ihre Geburt konstituiert oder lediglich charakterisiert? Ist die Geburt der zeitliche Anfang ihrer Existenz und Geschichte oder nur ein einschneidendes Ereignis in deren Verlauf? Dieser Frage müssen wir ebenso nachgehen wie zu klären ist, worin die notwendigen und die hinreichenden Kriterien für Personsein bestehen.

2.1.2 Unterschiedliche Personbegriffe Dabei ist der Unterschied zwischen einem anthropologischen oder ethischen und einem juristischen Personbegriff zu beachten. Im rechtswissenschaftlichen Sinne spricht die im Kapiteltitel aufgestellte These von natürlichen Personen, nicht von juristischen Personen wie einer Firma oder einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Natürliche Personen im Sinne des Rechtswesens aber sind Menschen, keine Tiere. Das bedeutet freilich nicht, dass Tiere keinerlei Rechte haben können. Die Rechtsfähigkeit von Lebewesen muss von ihrem möglichen Personstatus unterschieden werden. Insofern ließe sich durchaus auch erwägen, ob auch bewusstseinsbegabte Maschinen in naher oder ferner Zukunft den Status von Rechtssubjekten erlangen könnten, ohne darum Personen zu sein.6 Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch bestimmt in § 1: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.“ Im Sinne des Gesetzes sind alle Menschen natürliche Personen, mag deren Personstatus im Einzelfall aus Sicht bestimmter philosophischer Konzeptionen auch umstritten sein. Das bürgerliche Gesetzbuch lässt freilich offen, wodurch der Mensch zur Person wird. Tatsächlich hat gleichfalls der ungeborene Mensch einen Rechtsstatus. Prinzipiell wird ebenso dem Ungeborenen von der deutschen Rechtsordnung nicht nur das Recht auf Leben, sondern Menschenwürde zuerkannt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1975 zur Novelle von § 218 StGB, der den Schwangerschaftsabbruch regelt, entschied, auch das ungeborene menschliche Wesen sei ein „jeder“ ————— 6

Vgl. dazu D. Birnbacher, Selbstbewußte Tiere, 318f.

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Philosophie und Theologie der Person

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im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, wo es heißt, „jeder“ habe das Recht auf Leben.7 In einer weiteren Entscheidung zur abermaligen Novelle des § 218 im Strafgesetzbuch hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, der Embryo entwickle sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch.8 Sind aber alle Menschen natürliche Personen, so ist bereits die befruchtete Eizelle, jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Nidation, als Person anzusehen. Als Embryo gilt im Sinne des deutschen Embryonenschutzgesetzes wie des deutschen Stammzellgesetzes „die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag“9. Ob derlei Festlegungen im deutschen Recht, von dem andere nationale und internationale Rechtsordnungen durchaus abweichen, juristisch und philosophisch überzeugend begründet sind, ist eine Streitfrage, auf die wir ebenfalls noch eingehen müssen. Einer gewichtigen philosophischen Tradition zufolge ist die Person als individuierte Vernunft der Grund ihrer selbst, causa sui. Namentlich in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes – bei der es sich genauer gesagt um eine Philosophie des Bewusstseins handelt – und in der Debatte über die möglichen und unmöglichen Folgen der Neurowissenschaften spielt dieses Argument eine wichtige Rolle. Von der Selbstbegründung und Unableitbarkeit der Person hängt nach Ansicht mancher Philosophen die Wirklichkeit menschlicher Willensfreiheit und damit die Möglichkeit jeder Moral und jeder Ethik ab, die nicht im Reich der Ursachen, sondern im Reich der Gründe angesiedelt sind.

2.1.3 Personalität und Moralität Der Personbegriff führt uns also ins Zentrum der Begründungsproblematik jeder Ethik, mithin auch jeder theologischen Ethik. Sofern Moralfähigkeit und Freiheit als notwendige Kriterien von Personsein gelten, wird der Begriff der Person auf Menschen eingegrenzt. Offenkundig entwickeln nur Menschen eine reflektierte Moral und eine diese kritisch prüfende Ethik. Bei Tieren lässt sich allenfalls ein moralanaloges Verhalten beobachten, dessen Maßstab freilich das Phänomen menschlicher Moral ist. ————— 7

BVerfGE 39, 1, 37. BVerfGE 88, 203, 251f. 9 § 8 EschG; vgl. § 3 StZG. 8

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

Moral, die Fähigkeit, das eigene Handeln an Gründen auszurichten, setzt Freiheit voraus. Die Frage, ob die Annahme, der Mensch sei in seinen Entscheidungen frei, begründet oder eine haltlose Unterstellung ist, ist wahrlich nicht neu. Umstritten ist auch, ob ein gehaltvoller Begriff menschlicher Freiheit von der These der Person als causa sui abhängt oder sich auch ohne diese Annahme sinnvoll bestimmen lässt. Letzteres ist die These, welche hinter dem Satz, Personen werden geboren, steht. Die Kritik am Konzept der Person als causa sui speist sich auch aus Einsichten der theologischen Anthropologie. Die Geburtlichkeit des Menschen als Person verweist, theologisch gesprochen, nicht nur auf seine Geschöpflichkeit und Endlichkeit, sondern auch auf seine Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Der These vom freien Willen als causa sui widerstreitet die theologische These vom unfreien Willen, wie sie namentlich bei Luther ihre scharfe Ausformung erfahren hat. Geburtlichkeit als Gegenteil von Selbstbegründung und unfreier Wille sind grundlegende Bestimmungen eines theologischen Personbegriffs, dessen Konsequenzen für die theologische Ethik zumindest in groben Zügen skizziert werden sollen.

2.2 Mensch und Person 2.2.1 Zur Geschichte des Personbegriffs Die weitverbreitete Annahme, der abendländische Personbegriff sei christlichen Ursprungs und Charakters, gehört in den Bereich der Legende10, wenngleich nicht zu bestreiten ist, dass die christlich-theologische Verwendung des Begriffs – namentlich im Rahmen der Trinitätslehre – seine Geschichte nachhaltig beeinflusst hat.11 Die frühchristliche Theologie hat den Personbegriff von der Stoa übernommen, die ihn auf Menschen als natürliche Personen anwandte.12 Im Unterschied zum nichtdualistischen Personbegriff der Stoa hat die frühchristliche Theologie allerdings eine Anthropologie entwickelt, welche die Seele als eine vom Körper isolierte Substanz ausweisen wollte. Die klassische Formulierung des Boethius: „persona est rationabilis naturae individua substantia“13, steht am Beginn einer Entwick————— 10

Vgl. J. Heinrichs, Art. Person I, 221. Theo Kobusch vertritt die These, das moderne Verständnis der Person als ens morale und somit das moderne Freiheitsverständnis hätten ihren Ursprung in der mittelalterlichen Christologie, besonders bei Alexander v. Hales. Noch der Personbegriff des Boethius stehe demgegenüber im Banne einer aristotelischen Dingontologie. Vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 23ff. 12 Vgl. M. Forschner, Der Begriff der Person in der Stoa. 13 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium 2, MPL 64, Sp. 1343. 11

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Mensch und Person

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lung, bei welcher der Personbegriff auf Zustände, Funktionen oder Tätigkeiten des Geistes reduziert wird, die von ihrer Bindung an die Leiblichkeit des Menschen abgelöst werden und der Träger jener geistigen Eigenschaften und Tätigkeiten als res cogitans substantialisiert wird. Der Platonisierung christlicher Anthropologie sucht die neuere Theologie durch entschlossene Rückkehr zu Motiven biblischer Anthropologie zu begegnen. Nicht nur die alttestamentliche Tradition, sondern auch die neutestamentliche Rede von der leiblichen Auferstehung der Toten betonen die unauflösliche Einheit von Leib und Seele. Der Mensch als Person ist diese Einheit, keine davon zu isolierende denkende Substanz. Anregungen zur begrifflichen Ausformulierung einer ganzheitlichen Anthropologie hat die neuere Theologie vom dialogischen Personalismus14, von Levinas’ Philosophie des Anderen und seiner Analyse des Antlitzes15 ebenso wie von der Leibphänomenologie Merleau-Pontys empfangen, der zufolge die menschliche Vernunft stets leibliche Vernunft ist.16 Die Leibgebundenheit menschlichen Personseins hat freilich schon Johann Gottlieb Fichte betont, der auch die konstitutive Bedeutung der Interpersonalität für die Personwerdung und das Personsein des Menschen herausgearbeitet hat.17 Einflussreich wurde im Abendland aber auch die Anthropologie Thomas von Aquins, welcher die Seele im Anschluss an Aristoteles als Form des Leibes gedeutet und der vom Leib getrennten Seele den Titel der Person verweigert hat.18 In der Bibel werden mit „Person“ vornehmlich Menschen bezeichnet. Mehrfach ist im Alten Testament zum Beispiel davon die Rede, dass Gott die Person nicht ansieht. Dementsprechend soll auch im Gericht kein Ansehen der Person gelten.19 Mit „Person“ wird an diesen Stellen das hebräische panä oder panim übersetzt, was zunächst das menschliche Antlitz bedeutet. Dem entspricht im Neuen Testament das griechische QS²TXQPO.20 In metaphorischer Redeweise kann dann im Alten wie im Neuen Testament auch vom Angesicht Gottes gesprochen werden.21 Die eschatologische Hoffnung des Glaubens besteht darin, Gott dereinst „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12) schauen zu können. Man muss sich bei derartigen Formulierungen freilich ihres metaphorischen Charakters bewusst sein. ————— 14

Siehe v.a. M. Buber, Ich und Du. Siehe v.a. E. Levinas, Spur des Anderen. 16 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie, 89ff (Erster Teil). Zur Beziehung zwischen Leib, Vernunft und Sprache siehe dort v.a. 207ff. 17 Vgl. G. Mohr, Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, 115ff. 18 Vgl. Thomas v. Aquin, STh I, q.29 a.1 ad 5. 19 Dtn 1,17; 10,17; Hi 32,21; 34,19; Prov 24,23; 28,21 u.ö. 20 2Kor 1,11; Kol 2,1; Jud 1,16. Siehe auch das Verb QSPTXQPMIQUzX und Derivate in Act 10,34: P¹L |TUJO QSPTXQPM›QUIK ° RF²K (vgl. Dtn 10,17; Sir 35,12f); Jak 2,1.9; 1Petr 1,17. 21 Im AT: Ex 33,14; Dtn 4,7; 2Sam 21,1; Jes 63,9; Ps 80,17; Thr 4,16 – im NT: Mt 18,10; Act 8,20; 1Kor 13,12; 2Thess 1,9; Hebr 9,24; 1Petr 3,12; Apk 22,4. 15

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

Würde man Gott im univoken Sinne Personsein zusprechen22, wäre Gott nicht mehr der Ganz Andere und Ursprung aller Dinge, sondern gehörte neben den Menschen zur Klasse der Personen. Karl Barths berechtigte Kritik an der analogia entis, diese ordne Gott einem metaphysischen Seinsbegriff unter, gilt entsprechend für Barths personalistische Redeweise von Gott – notabene vom trinitarischen Gott! – als Person, die in drei Seinsweisen existiere. Wie Barth behauptete schon Duns Scotus, das Personsein sei nur in Gott vollkommen und ursprünglich, das Personsein des Menschen dagegen vom göttlichen abgeleitet.23 Doch auch wenn Gott vom Menschen dadurch unterschieden wird, dass ersterer wie bei Barth als „personifizierende Person“, letzterer als „personifizierte Person“ charakterisiert wird24, ändert das nichts am Mangel semantischer Klarheit. Der Anthropomorphismusvorwurf, der mit Recht gegen eine unreflektierte Rede von Gott als Person erhoben wird, lässt sich so jedenfalls nicht entkräften.25 Das bleibt das Wahrheitsmoment in dem einst von Fichte ausgelösten Atheismusstreit. Mit Paul Tillich lässt sich sagen, dass die Rede von Gott als Person auf metaphorische Weise – Tillich verwendet den Ausdruck „symbolisch“ – zum Ausdruck bringt, dass Gott als das, was uns unbedingt angeht, nicht weniger als eine Person sein kann, weil wir selbst Personen sind.26 So ist auch die Kommunikation des Menschen mit Gott und seine Relationalität zu Gott in personalen Metaphern auszusagen. Aber eben: Es handelt sich um Metaphern und nicht um univoke Begriffe. In der christlichen Gotteslehre, namentlich in der klassischen Trinitätslehre, wird der Begriff der Person in einer Weise verwendet, die mit unserem Personsein nicht viel gemein hat. Maximilian Forschner hat recht: „Wir wissen nicht, was es heißt und verstehen nicht, wie es ist, eine Person mit zwei Naturen zu sein. Und wir verstehen nicht, was es bedeutet, wenn numerisch in einer Entität drei Personen existieren. Und wir können dies auch nicht wissen und verstehen. Wenn dem so ist, dann wird aber auch der Gedanke kontraintuitiv, dass diese Glaubensartikel und die Geschichte ihrer dogmatischen Fixierung für die begriffliche Klärung des seiner selbst inne werdenden Personseins eine tragende Rolle gespielt haben.“27

Dass ein christliches Verständnis menschlichen Personseins nicht von der Gottesbeziehung des Menschen absehen kann, bleibt unbestritten. Coram ————— 22

So z.B. E. Herms, Art. Person IV, Sp. 1126. Duns Scotus, 3 Sent. 1,1,3 Nr. 10. 24 K. Barth, KD II/1, 320.304f. Vgl. auch KD I/1, 143. 25 Vgl. dazu U. Körtner, Der verborgene Gott, 117ff. 26 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I, 281ff. 27 M. Forschner, Der Begriff der Person in der Stoa, 39. 23

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Mensch und Person

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Deo ist das Phänomen menschlicher Personalität aber nur von dem Ort aus zu erschließen, an dem sich der Mensch von Gott angesprochen weiß.

2.2.2 Normativer und deskriptiver Personbegriff Im univoken Sinne redet also auch die Theologie vom Menschen, wenn sie den Begriff der Person verwendet. „Mensch“ und „Person“ sind aber sowohl deskriptive also auch normative Begriffe. Beim Personbegriff leuchtet dies unmittelbar ein. Normativ ist er, insofern er den moralischen Status des Menschen begründet. Der für Moral und Ethik grundlegende Begriff des Handelns oder der Handlung impliziert den Begriff der Person als Handlungsträger. Personen sind nicht nur jene Subjekte, deren Handlungen zum Gegenstand moralischer Beurteilung oder ethischer Reflexion gemacht werden, sondern zugleich auch jene, die diese moralische oder ethische Beurteilung vornehmen, mehr noch: die sich wechselseitig zur moralischen Rechenschaft auffordern. Vor allem der dialogische Personalismus, aber auch, wie schon gesagt wurde, Fichte hat den Umstand zu Bewusstsein gebracht, dass es Personalität nur als intersubjektives Phänomen gibt. Die Existenz von Personen ist also konstitutiv an sprachliche Kommunikation gebunden, ohne doch in ihr völlig aufzugehen. Zum Ich wird der Mensch nur, wenn er als ein Du angeredet wird. Personale Kommunikation aber impliziert den Anspruch auf Achtung dessen, der mich als Du anspricht. Dieser Anspruch auf Achtung bzw. Anerkennung kann im Einzelfall missachtet oder zurückgewiesen werden. Er ist aber mit dem Anredegeschehen als solchem gegeben und zwingt in jedem Fall zu einer Stellungnahme. Moral basiert also auf der Notwendigkeit der Stellungnahme zu dem mit der interpersonalen Kommunikation gegebenen Anspruch auf Anerkennung der Person. Wir können auch sagen, dass mit der sprachlichen Kommunikation die Notwendigkeit von Verantwortung in einem moralischen Sinne gesetzt ist, insofern jede Anrede nach Antwort bzw. Erwiderung verlangt, auch wenn sie in der Ablehnung des an mich gerichteten Anspruchs bestehen kann. Moral ist mit anderen Worten eine Implikation von Personalität, Personalität also der Grund von Moral, Achtung der Person aber deren Realisierung. Als deskriptiver Begriff benennt derjenige der Person die Kriterien, die ein Wesen erfüllen muss, um in dem beschriebenen Sinne als Person zu gelten. In der Geschichte der Philosophie sind verschiedene Reihen von Merkmalen aufgestellt worden, anhand derer über den Personstatus eines Wesens entschieden werden könne. Dabei geht es nicht allein um die Fähigkeit zur moralischen Kommunikation, sondern auch um die Identität des Subjekts. Dementsprechend gelten Selbstbewusstsein, Wille, Erinnerungs-

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vermögen und Zeitbewusstsein, aber auch die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, als notwendige Kriterien des Personseins. Der Umfang solcher Merkmalslisten kann freilich variieren.28 Gemeinsam ist ihnen aber ein normatives Personkonzept, bei welchem zwischen Menschsein und Personsein zu unterscheiden ist, jedenfalls dann, wenn das Personsein an den aktuellen Besitz der jeweils genannten Eigenschaften oder Fähigkeiten geknüpft ist. Von diesem in der Tradition John Lockes stehenden Personbegriff unterscheiden sich solche Personkonzepte, bei denen das Menschsein als Kriterium für die Zuordnung eines Wesens zur Klasse der Personen hinreicht. Der Begriff „Mensch“ ist freilich seinerseits sowohl deskriptiv als auch normativ verwendbar. Deskriptiv handelt es sich um eine Gattungsbezeichnung, in der Biologie um ein umgangssprachliches Äquivalent für die Bezeichnung „Homo sapiens sapiens“. Das Menschsein ist in diesem Kontext nicht an besondere Fähigkeiten gebunden, sondern einzig an die biologische Abstammung von Exemplaren der genannten Gattung. In ethischen und rechtlichen Zusammenhängen tritt der Begriff „Mensch“ freilich als normativer Terminus auf. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 erklärt in Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“29 Begründet werden die Menschenrechte in der Präambel mit der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“30. Würde und Rechte, Vernunft und Gewissen aber sind Begriffe der Ethik mit einem normativen Gehalt. Genau wie beim Personbegriff stellt sich nun aber die Frage nach der Kriteriologie des normativen Menschenbegriffs. Wer gehört nach diesen Bestimmungen zur „menschlichen Familie“ und wer nicht? Offenkundig gilt das, was über Würde und Rechte, Vernunft und Gewissen gesagt wird, laut Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte von allen geborenen Menschen. Über die Ungeborenen ist damit noch nichts gesagt. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 ist nur auf Geborene zu beziehen, wie höchstrichterliche Entscheidungen zum Artikel 2 festgestellt haben, der das Recht auf Leben kodifiziert.31 Ob also bereits Embryonen und Föten, befruchtete Eizellen vor der Nidation oder sogar in vitro fertilisierte Embryonen außerhalb des Mutterleibes zur „menschlichen Familie“ gehören, ist eine Streitfrage. ————— 28

Vgl. A. Wildfeuer, Art. Person, 6f. Text in: W. Heidelmeyer (Hg.), Menschenrechte, 209. 30 Ebd. 31 Vgl. Chr. Kopetzki, Rechtliche Aspekte, 60ff. 29

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Und wie stünde es mit Klonen, gesetzt den Fall, das reproduktive Klonen von Menschen würde eines Tages gelingen und ungeachtet seiner Ächtung oder allfälliger Verbote in die Tat umgesetzt? In einem viel beachteten Aufsatz hat der Molekularbiologe Jens Reich die These aufgestellt, der Mensch sei nicht anhand aktuell verwirklichter Fähigkeiten und Eigenschaften zu identifizieren. Vielmehr erkenne man Menschen an einem Körper, der zwei biologische Eltern habe.32 Dagegen leuchte die Gleichsetzung eines Menschen mit einem artifiziellen Zellkonstrukt, das durch Zellkerntransfer entstanden ist, überhaupt nicht ein. Ein Klon sei folglich kein Mitglied der menschlichen Gattung, sondern ein Homunculus, ein Golem oder Zombie. Die bekannte, auf den göttlichen Logos gemünzte Formulierung aus dem Nicaeno-Constantinopolitanum variierend erklärt Reich, der Klon sei „factum, non genitum“. Mit anderen Worten: Menschen werden nicht nur geboren, sondern gezeugt. Und Lebewesen, die zwar von Menschen abstammen und wohl geboren, aber ungezeugt sind, könnten nicht der menschlichen Gattung zugerechnet werden. Für die Rechtsstellung von Klonen hätte diese Argumentation gravierende Folgen, könnten ihnen doch keine Menschenrechte im strikten Sinne des Wortes, sondern allenfalls analoge Rechte zuerkannt werden. Weil Reich von der Annahme ausgeht, dass die Begriffe „Mensch“ und „Person“ koextensiv sind, lautet die Schlussfolgerung aus seiner Argumentation, dass Klone keine Personen sind.

2.2.3 Die Koextension von „Mensch“ und „Person“ Der Zusammenhang von Menschsein und Zeugung wird im vierten Abschnitt unseres Untersuchungsgangs noch gesondert zu erörtern sein. Zunächst aber gilt es die These zu überprüfen, wonach Personsein und Menschsein koextensive Begriffe sind. In der neueren Diskussion zum Personbegriff wird dies mit unterschiedlichen Argumenten bestritten. Demgegenüber hat Peter F. Strawson gezeigt, dass „Person“ als Begriff eines solchen Typs von Wesen verstanden werden muss, auf die sowohl sogenannte „P.-Prädikate“ (wie Bewusstseinszustände, Handlungen, Intentionen, Gedanken, Gefühle, Erinnerungen) als auch „M.-Prädikate“ (wie körperliche, d.h. raumzeitliche Eigenschaften und Relationen) anwendbar sind.33 Der Personbegriff ist nach dieser Lesart „logisch primitiv“. Er kombiniert nicht etwa ursprünglichere Begriffe wie „Bewusstsein“ oder „Körper“, sondern beide Prädikatstypen lassen sich unterschiedslos auf ein und ————— 32 33

J. Reich, Empirische Totipotenz. P.F. Strawson, Einzelding, 111–149.

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dasselbe Referenzobjekt anwenden. Personen sind demnach Lebewesen, die wir triftigerweise als tatsächliche oder mögliche Subjekte von Bewusstsein und als Objekte von wechselseitiger Zuschreibung und Interpretation betrachten. Das aber bedeutet, dass sich die Begriffe „Mensch“ und „Person“ nicht nur auf dieselben Entitäten beziehen, sondern sich auch gegenseitig interpretieren.34 Dieter Sturma hält den Austritt des Personbegriffs aus dem semantischen Feld von „Mensch“ für ein emergentes und entwicklungsgeschichtlich nicht rückgängig zu machendes Phänomen. „Während der Begriff des Menschen die angeborene biologische Natur anspricht, bewegen sich die Bestimmungen des semantischen Felds von ‚Person‘ im Bereich der kulturellen Lebensform.“35 Allerdings sei keine trennscharfe Ausdifferenzierung der Begriffe „Mensch“ und „Person“ anzustreben. Wenn Sturma nun argumentiert, der Personbegriff spreche Eigenschaften und Fähigkeiten an, die an die kulturellen Bestimmungen der menschlichen Lebensform gebunden sind, um daraus politische Folgerungen für die Durchsetzung von Menschenrechten abzuleiten, führt dies bei ihm in letzter Konsequenz freilich dazu, dass er Menschen, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen „über keine humanen Grundbefähigungen verfügen“, als „verhinderte, mögliche oder vergangene Personen“ einstuft.36 Sturmas gutgemeinte Absicht, philosophische Argumente für eine aktive Menschenrechtspolitik zu entwickeln, die insbesondere das Recht auf Bildung stark macht, verdient unsere Sympathie. Wenn aber Menschen für den Fall, dass ihre Entwicklungsmöglichkeiten aufgrund von Menschenrechtsverletzungen gravierend eingeschränkt werden, das Personsein abgesprochen wird, dann geht die advokatorische Berufung auf die Menschenrechte paradoxerweise mit einer gravierenden Verletzung der Menschenwürde einher. Problematisch ist auch Sturmas Gegenüberstellung von Natur („Mensch“) und Kultur („Person“), denn wie der Begriff der Natur, der stets ein begriffliches und erkenntnistheoretisches Konstrukt ist, steht auch der Begriff des Menschen immer schon in einer kulturellen Dimension. Nicht nur das Personsein, sondern auch die „Natur des Menschen entfaltet sich nur in der von ihm selbst geschaffenen Kultur“37. Auch der menschliche Leib, ohne den keine Person und keine Vernunft auftreten und bestehen können, ist nicht bloß biologischer Körper, sondern als Medium personaler Präsenz und Kommunikation ist er in kulturelle Zeichensysteme eingebunden. Die Leiblichkeit des Menschen ist, wie Peter Dabrock treffend be————— 34

Vgl. A. Wildfeuer, Art. Person, 9. D. Sturma, Person und Menschenrechte, 341. 36 A.a.O., 356. Vgl. auch ders., Philosophie der Person. 37 V. Gerhardt, Der Mensch wird geboren, 55. 35

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merkt, zwischen „körperlicher Substantialität und kommunikativer Relationalität“ verortet.38 Leibliche Vernunft oder Bewusstsein sind immer schon auf interpersonale Kommunikation angelegt. Kurz: „Bewußtsein ist Mitteilung“, wie Volker Gerhardt schreibt.39 Das aber bedeutet, dass individuelle Unterschiede in der Fähigkeit, die eigene Vernunft zu gebrauchen, kein Argument gegen, sondern für die Gleichsetzung von „Mensch“ und „vernünftigem Wesen“ sind. „Ein Leben als Mensch kann man nur führen, wenn man sich selbst und seinesgleichen als ‚vernünftiges Wesen‘ begreift.“40 Eben dafür steht der Begriff der Person. „Deshalb müssen alle Menschen, ganz gleich wie jung oder wie alt sie sind, ob sie durch besondere Umstände geschwächt oder anders disponiert sind, als Personen bezeichnet werden.“41 Der Unterschied zwischen dem Lockeschen und dem Kantischen Personkonzept und ihren jeweiligen Derivaten lässt sich mit Johannes Fischer auf den Unterschied zwischen einer Beobachterperspektive der Verständigung über einen anderen und einer Teilnehmerperspektive der Verständigung mit einem anderen zurückführen.42 Die Beobachterperspektive ist aber unzureichend, weil unser eigenes Personsein immer schon davon abhängt, dass wir an einer Kommunikationsgemeinschaft von Personen teilhaben, in welcher wir uns wechselseitig auf unser Tun und Lassen ansprechen und somit zur moralischen Rechenschaft auffordern. In dieser Teilhabe an zwischenmenschlicher Kommunikation ist nach Kant die Würde der Person begründet. Wie Fischer ausführt, ist eine Person „dadurch charakterisiert, dass sie, wenn sie als die Person, die sie ist, Bestimmtheit für uns erlangt, diese nur von sich selbst her, d.h. über die Selbstrepräsentation in Kommunikation mit uns, erlangen kann. Formuliert man das in dieser hypothetischen Form, dann lassen sich darunter auch jene Fälle fassen, die in der heutigen Bioethik kontrovers diskutiert werden, wie Menschen mit apallischem Syndrom, im Koma oder Schlafende, also Menschen, die sich uns nicht in Verständigung präsentieren und bestimmen. Sie als Personen wahrnehmen heißt, auch für sie zu unterstellen, dass sie, wenn, sich uns nur selbst bestimmen könnten als die Personen, die sie sind, in der Kommunikation mit ihnen.“43

In diesem Sinne gilt also, dass ausnahmslos jeder Mensch Person ist.

————— 38 P. Dabrock, Menschenbilder und Priorisierung, 188; im Anschluss daran S. Schardien, in: P. Dabrock/L. Klinnert/dies., Menschenwürde und Lebensschutz, 107. 39 V. Gerhardt, Der Mensch wird geboren, 54. 40 A.a.O., 55. 41 Ebd. 42 J. Fischer, Gegenseitigkeit, 23. 43 A.a.O., 24.

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2.3 Causa sui? 2.3.1 Unbedingte Freiheit? Auch wenn Personen stets leibhaft und das heißt raumzeitlich existieren, rechtfertigt dieser Umstand doch keinen substanzontologischen Begriff von Personsein, wonach das Ich des Menschen, das sich mit seiner Seele identifizieren ließe, als eine eigenständige Substanz zu denken ist. Die Vorstellung einer unsterblichen Seele ist vor allem von Kant einer grundlegenden Kritik unterzogen worden. „Person“ ist bei Kant ein anderer Begriff für menschliche Freiheit. Personale Freiheit aber ist die notwendige Bedingung jedweder Moral. Moralische Verantwortung setzt in der kantischen Tradition Subjekte voraus, die einen freien Willen haben. Der freie Wille ist nach Kant kein Glied in der Kausalreihe der Naturgesetze, sondern, wie er in der dritten Antinomie und ihrer Auflösung in der „Kritik der reinen Vernunft“ ausführt, der ursprungslose Anfang einer eigenen Kausalreihe von Freiheitsakten.44 Als freies und vernünftiges Wesen erkennt sich die Person „als Wesen das seiner Selbst Begründer und Urheber ist nach der Qualität der Persönlichkeit“45. Die Person, „die sich selbst zum Princip constituirt und ihres Selbst Urheberin ist“, ist also wie Gott causa sui: „Gott und die Welt sind beydes ein Maximum. Die transc. Idealität des sich selbst denkenden Subjects macht sich selbst zu einer Person. Die Göttlichkeit derselben. Ich bin im höchsten Wesen. Ich sehe mich selbst (nach Spinoza) in Gott, der in mir gesetzgebend ist.“46 Derselbe Gedanke begegnet bei Friedrich Schiller, der zwischen Person und Zustand unterscheidet: „Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharret die Person.“47 Wie von der Gottheit, die alles, was sie ist, nur deswegen ist, weil sie ist, und folglich alles auf ewig ist, weil sie ewig ist, gilt auch von der menschlichen Person: „Die Person also muß ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen.“48 Die These von der Person oder vom freien Willen als causa sui lässt sich bis in die gegenwärtige Philosophie des Geistes und die Diskussion über die anthropologischen und erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Neurobiologie hinein verfolgen. Sie findet sich zum Beispiel bei Roderick M. Chisholm. Als freies Handlungssubjekt sei der Mensch ein unbewegter ————— 44

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 426ff.488ff. Ders., Opus postumum, 15 (1. Convolut). 46 A.a.O., 54 (7. Convolut). 47 F. Schiller, Ästhetische Erziehung, 601. 48 Ebd. 45

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Causa sui?

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Beweger.49 Peter van Inwagen verficht die These, Freiheit und Bedingtheit seien schon rein logisch unverträglich.50 Bereits Friedrich Nietzsche wandte gegen die Vorstellung vom freien Willen als causa sui ein, sie sei „der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Notzucht und Unnatur“, zu der es „der ausschweifende Stolz des Menschen“ gebracht habe.51 Das prometheische Verlangen, als causa sui „die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten“, bedeute nichts anderes als „mit einer mehr als Münchhausenschen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehn“52. Ähnlich wie heutige konstruktivistische Positionen in Philosophie und Neurowissenschaften fordert Nietzsche, dass man sich der „Ursache“ und der „Wirkung“ nur als reiner Begriffe bedienen solle, „das heißt als konventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung“53. Der freie Wille ist für Nietzsche ebenso „Mythologie“ wie der unfreie: „im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen“54. Jedes Kausaldenken, ob nun im Sinne der causa sui oder des unfreien Willens sei verräterisch.55 So oder so: „die Person verrät sich“56. Auch Peter Bieri unterzieht die Idee vom freien Willen oder der unbedingten Freiheit, die als unbewegter Beweger zu denken ist, einer scharfsinnigen Kritik. Einerseits sprechen mächtige Intuitionen für diese Idee und die sie stützenden Argumente. „Auf der anderen Seite wird auch durch diese vielfältigen Argumente nicht wirklich deutlich, was das sein soll: ein Wille, der in den Lauf der Welt einzugreifen vermag, ohne ihm selbst unterworfen zu sein.“57 Der „unbedingt freie Wille“ ist nämlich nicht mehr als ein durch pure Negation gewonnener Begriff.58 Überdies besäße ein unbe————— 49

R. Chisholm, Human Freedom. Zur philosophischen Kritik siehe ausführlich P. Bieri, Handwerk, 165ff. 50 Vgl. P. van Inwagen, Essay. 51 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 21 (584). 52 Ebd. 53 A.a.O., 585. 54 Ebd. 55 Aus der Kritik der Idee von der Person als causa sui leitet heutzutage z.B. Galen Strawson die logische Unmöglichkeit moralischer Verantwortung ab. Vgl. G. Strawson, The impossibility of moral responsibility. Strawson schließt freilich (226): „But the conviction that self-conscious awareness of one’s situation can be a sufficient foundation of strong free will is very powerful. It runs deeper than rational argument, and it survives untouched, in the everyday conduct of life, even after the validity of the Basic Argument has been admitted.“ 56 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 585. 57 P. Bieri, Handwerk, 229. 58 Vgl. a.a.O., 169.

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dingt freier Wille genau jene Merkmale, die nach üblicher Lesart einen unfreien Willen ausmachen, nämlich Unbeeinflussbarkeit, fehlende Urheberschaft und Fremdheit. Ein solcher Wille aber wäre nicht nur für andere Personen, sondern auch für seinen Träger, also die Person, die als Subjekt dieses Willens gelten soll, völlig unberechenbar.59

2.3.2 Bedingte Freiheit und schlechthinnige Abhängigkeit Auch aus theologischer Sicht ist die Bestimmung menschlicher Freiheit als causa sui oder als unbewegter Beweger in zweifacher Hinsicht problematisch.60 Zum einen setzt sie das menschliche Subjekt an die Stelle Gottes, zum anderen ist es aus heutiger Sicht überhaupt fragwürdig, den biblisch bezeugten Gott in den Kategorien aristotelischer Metaphysik zu denken. Weder Gott noch der Mensch sind ein unbewegter Beweger.61 Im Hintergrund von Chisholms Verständnis der menschlichen Willensfreiheit als unbedingter Freiheit steht die nominalistische Auffassung von der Allmacht Gottes, der potentia absoluta seines Willens. Von diesem Gott ließe sich genauso wie von Chisholms menschlichem Handlungssubjekt sagen: „Bisweilen kann der Akteur, wenn er eine Wahl trifft, sich über seine Wünsche hinwegsetzen und statt dessen etwas ganz anderes tun.“62 Eine solchermaßen definierte potestas absoluta wäre im Fall Gottes nicht weniger despotisch als im Fall des Menschen. Göttliche und menschliche Freiheit wären gleichermaßen die Willkür unmittelbarer Selbstbehauptung. Es wäre dann nicht nur wie nach Ansicht Luthers von der Verborgenheit, sondern von einer völligen Unberechenbarkeit Gottes zu sprechen. Unergründlich wäre Gottes Wirken nicht nur für den Menschen, sondern auch für Gott selbst. Die Freiheit des biblisch bezeugten Gottes, dessen Wesen Liebe ist, ist dagegen mit seiner Treue zusammenzudenken, in der er sich selbst bindet und der Welt und dem Menschen zugute begrenzt. Gegen den Begriff eines unbedingt freien Willens setzt Bieri den eines bedingt freien Willens. Seine Analysen zum Freiheitsbegriff sind theologisch anschlussfähig, wenn man nur an Schleiermachers Zurückweisung der Vorstellung unbedingter Freiheit bzw. eines schlechthinnigen Freiheitsgefühls in seiner Glaubenslehre denkt. „In keinem wirklichen Bewußtsein“, so Schleiermacher, „sind wir unsres Selbst an und für sich, wie es immer das————— 59 60

Vgl. a.a.O., 231ff. Ausführlich dazu U. Körtner, „Lasset uns Menschen machen“, 61ff. A. Klein, Willensfrei-

heit. 61 Dies zeigt die intensive theologische Debatte der vergangenen Jahrzehnte zur Rede vom Handeln Gottes. Vgl. R. Bernhardt, „Handeln Gottes“; U. Körtner, Der verborgene Gott, 115ff. 62 R. Chisholm, Human Freedom, 33.

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selbe ist, allein bewußt, sondern immer zugleich einer wechselnden Bestimmtheit desselben.“63 In jedem Selbstbewusstsein sind, wie Schleiermacher ausführt, „zwei Elemente, ein – um so zu sagen – Sichselbstsetzen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein“64. Dieser Duplizität des Selbstbewusstseins entsprechen im Subjekt dessen Empfänglichkeit und dessen Selbsttätigkeit, die in einer Grundpassivität fundiert sind, welche Schleiermacher als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt.

2.3.3 Zugeeignete Freiheit Folgt man der reformatorischen Theologie Luthers, ist menschliche Freiheit nicht nur bedingte, sondern stets zugeeignete und angeeignete Freiheit. Darin stimmt Bieris philosophische Freiheitstheorie mit ihm überein. Angeeignete Freiheit aber ist verstandene und willentlich gebilligte Freiheit. Wie die Freiheit, so ist Bieri zufolge auch das Selbst, von dem diese Freiheit ausgesagt wird, „ein vorübergehendes Gebilde auf schwankendem Grund, und es gehört zu den Voraussetzungen für Willensfreiheit, diese einfache und eigentlich offensichtliche Tatsache anzuerkennen, genauso wie die Tatsache, daß es Zeiten gibt, in denen wir weder autonom sind noch das Gegenteil“65. Christlich gesprochen gründet das Selbst nicht in sich selbst, sondern extern in Christus und der durch ihn vermittelten Beziehung Gottes zum Menschen. Als extern zugespielte kann auch die Freiheit des Christenmenschen nur angeeignet werden, ohne je zu einem festen Besitz zu werden. Solchermaßen lässt sich der Glaube, der aus dem Hören des Evangeliums kommt66, als Zueignung und Aneignung der Freiheit interpretieren. Die im Zusammenhang mit dem Personbegriff diskutierte Frage einer formalen Freiheit, also der Freiheit der Wahlmöglichkeit, spielt in Luthers Freiheitsverständnis allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Freiheit, die Luther im Blick hat, ist auch nicht mit einer abstrakten Willensfreiheit gleichzusetzen. Im Gegenteil hat die Freiheitserfahrung eines Christenmenschen die Unfreiheit des menschlichen Willens zur Voraussetzung. Diese aber ist nicht im Sinne eines ontologischen oder metaphysischen Determinismus zu verstehen, sondern als Resultat eines Freiheitsverlustes, der als Folge der Sünde gedeutet wird. Daher wird Luthers These vom unfreien Willen, die er als Konsequenz der Rechtfertigungslehre im Anschluss an ————— 63

F. Schleiermacher, Der christliche Glaube I, 24 (§ 4). Ebd. 65 P. Bieri, Handwerk, 423. 66 Vgl. Röm 10,17. 64

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Augustin mit Vehemenz gegen Erasmus von Rotterdam und dessen Diatribe über den freien Willen verteidigt hat, durch Nietzsches Einwände gegen den Begriff nicht entkräftet.67 Es sind konkrete Erfahrungen des Verlustes und der Gefährdung menschlicher Freiheit, die das theologisch-soteriologische Nachdenken über das Wesen menschlicher Freiheit motivieren. Freiheit kann nicht nur missbraucht, sie kann auch verspielt werden. Sie wird nicht aus neutraler Beobachterperspektive behauptet oder bestritten, sondern aus der Sicht des Glaubens bezeugt und zugesprochen. Es geht Luther nicht um eine formale Freiheitsbehauptung, sondern um existentiellen Freiheitsgewinn. Als göttliche Gabe ist der Glaube unverfügbar, das heißt kontingent. Mit Bieris Idee der bedingten und angeeigneten Freiheit berührt sich der Gedanke insofern, als Bieri mit einer gewissen Überspitzung sagt: „Willensfreiheit ist ein Stück weit Glückssache.“68 Worin sich Bieris Phänomenologie der Freiheit und Luthers Freiheitsverständnis jedoch gravierend unterscheiden ist die Behauptung Bieris, „daß die Freiheit des Willens etwas ist, das man sich erarbeiten muß“69. So verstanden wäre der Glaube als Aneignung der Freiheit ein Werk und nach Luthers Auffassung kein wahrer Glaube mehr. Die Aneignung des Glaubens ist nach christlicher Auffassung kein Tun, sondern ein Empfangen. Was der Glaube als „Handwerk der Freiheit“ (Bieri) zu leisten vermag, betrifft – mit Luther gesprochen – den äußerlichen, nicht aber den inneren Menschen, d.h. sein Weltverhältnis, nicht sein Gottesverhältnis. Dieses aber gründet darin, von Gott geschaffen und ins Dasein gerufen zu sein. Das Geschaffensein des Menschen als Person aber manifestiert sich in seiner Geburtlichkeit und ihrer eschatologischen Bestimmung zur ewigen Gemeinschaft mit Gott.

2.4 Geburtlichkeit und Geschichtlichkeit 2.4.1 In Geschichten verstrickt Nicht nur Menschen, das heißt Personen, sondern auch andere Säugetiere werden geboren. Doch der Mensch kann und muss sich zu dem Faktum seines Geborenseins verhalten. Streng genommen wird allein der Mensch geboren. „Tiere werfen, laichen oder setzen“, wie Hermann Timm lapidar ————— 67

Vgl. U. Körtner, „Lasset uns Menschen machen“, 80ff. P. Bieri, Handwerk, 415. 69 A.a.O., 383. 68

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Geburtlichkeit und Geschichtlichkeit

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anmerkt.70 Hannah Arendt hat für das Phänomen, dass das ganze Leben des Menschen durch sein Geborensein bestimmt wird, den Begriff der Natalität geprägt.71 Hans Saner spricht von Geburtlichkeit.72 Während die Geburt das einmalige Ereignis unseres Eintritts in die Welt der Dinge und Personen ist, bezeichnet Geburtlichkeit nach Arendt und Saner ein Wesensmerkmal des Geborenen. Nicht allein die Sterblichkeit, sondern auch die Geburtlichkeit bestimmt die Endlichkeit des Menschen. Darauf hat bereits Martin Heidegger hingewiesen. Er spricht in „Sein und Zeit“ davon, dass der Mensch „gebürtig“ existiert und dass seine Geburt, existential verstanden, niemals ein Vergangenes im Sinne des Abgeschlossenen und nicht mehr Vorhandenen sei.73 Heidegger deutet das Existential der Geburtlichkeit, das er im Anschluss an Kierkegaard auch als „Geworfenheit“ beschreibt74, freilich ganz vom Gedanken des Endes her. Während bei Heidegger der Gedanke des Seins zum Tode vorherrscht, deuten Arendt und Saner das menschliche Dasein wesentlich als Sein von der Geburt her.75 Dieser Aspekt der Geburtlichkeit wird bei Heidegger ebenso wenig bedacht wie zum Beispiel in Robert Spaemanns Philosophie der Person.76 Geburtlichkeit bedeutet ebenso Herkünftigkeit wie Geschlechtlichkeit und Sozialität. Eben weil der Mensch gezeugt und geboren, nach seiner Geburt aber auf extreme Fürsorge, auf Erziehung und Bildung angewiesen ist, um zu werden, was er ist, ist er ein [ÓPO QPMJUJL²O. Als geborenes Wesen hat der Mensch eine erzählbare Geschichte. Seine Geschichtlichkeit, die seine Existenzform charakterisiert, besteht darin, „in Geschichten verstrickt“ zu sein, wie der Husserl-Schüler Wilhelm Schapp gezeigt hat.77 Eben das unterscheidet das Sein von Mensch und Ding. In Geschichten verstrickt zu sein, bedeutet, in einer Generationenfolge zu stehen. „Der vom ————— 70

H. Timm, Sprachenfrühling, 47, im Anschluss an H. Saner, Geburt und Phantasie, 16. Vgl. H. Arendt, Vita activa, 17f.215ff. 72 H. Saner, Geburt und Phantasie, 30. Saner verweist ausdrücklich auf H. Arendt. Siehe auch H. Timm, Sprachenfrühling, 51ff. 73 M. Heidegger, Sein und Zeit, 372f. 74 Die Bemerkung von H. Saner und H. Timm, dass wohl manche Tiere werfen oder geworfen werden, der Mensch aber gebiert und geboren wird, hat eine kritische Spitze gegen Heideggers Rede von der Geworfenheit. Vgl. oben Anm. 70. 75 Bei Saner nimmt dieser Gedanke eine religions- oder christentumskritische Färbung an: Geburtlichkeit im Sinne beständiger Anfänglichkeit sei „die gleichsam unschuldigere Freiheit, die nicht Erlösung für die letzte Lösung hält“ (Geburt und Phantasie, 32). Das Neue Testament deutet freilich gerade die Erlösung als neue Geburt oder neue Schöpfung (Joh 3,3; 1Petr 1,3; 2Kor 5,17) und keineswegs nur als Sterben. Eschatologisch kehrt sich allerdings die natürliche Reihenfolge von Geburt und Tod um: Der Tod geht der neuen Geburt voran, und zwar mitten in der irdischen Existenz des Glaubenden! Siehe unter Kapitel 3, 4. Abschnitt, 89ff. 76 R. Spaemann, Personen, 123ff bleibt in Heideggers Gedanken des Vorlaufens zum Tod gefangen. Geburt und Geburtlichkeit spielen in seiner Philosophie der Person erstaunlicherweise keine Rolle. 77 W. Schapp, In Geschichten verstrickt; vgl. auch ders., Philosophie der Geschichten. 71

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Eros getriebene Logos ist somit“, wie Volker Gerhardt feststellt, „nicht nur einfach auf Produktion, sondern auf Generation angewiesen“78. Und Gerhardt fügt die Vermutung an: „Vielleicht gibt es die Vernunft mit ihren vermittelnden Leistungen nur, weil sich die Individuen auch über ihre eigene Lebensgrenze hinweg vor ihresgleichen kenntlich machen müssen?“79 Geburtlichkeit und Herkünftigkeit kennzeichnen also nicht nur den Menschen und seinen Leib als Natur, sondern auch seine Vernunft, die in der Tradition als entscheidendes Kriterium des Personseins gilt. Schon vor drei Jahrzehnten hat der Theologe und Medizinethiker Dietrich Ritschl sein Story-Konzept entwickelt, auf das bereits im 1. Kapitel hingewiesen wurde. Es knüpft an die Bedeutung des Erzählens sowohl für die biblische Tradition als auch für die Psychoanalyse an.80 Sein medizinethisches Konzept ist damit anschlussfähig für Konzeptionen einer narrativen Theologie. Bei Ritschl fungiert das Story-Konzept allgemein als ethische Rahmentheorie, konkret für die Medizinethik.81 Ethische Entscheidungen am Krankenbett setzen eine intensive Beschäftigung mit der Biographie des Patienten voraus. Dazu gehört einerseits seine bisherige Lebensgeschichte in Form seiner „‚stilisierte[n]‘ Vergangenheit“82, andererseits aber auch die „antizipierte Lebensstory“83 des Patienten. Ohne solche Antizipation, die den Menschen bei Ritschl letztlich in den eschatologischen Horizont der „Totalstory“ Gottes stellt84, lässt sich die Sinnhaftigkeit medizinischen Tuns und Unterlassens nicht beurteilen. Auch Gunda Schneider-Flume vertritt ein biblisch-theologisches Konzept narrativer Theologie und Anthropologie. Dass Mensch- beziehungsweise Personsein ein in Geschichten verstricktes Sein ist, heißt für Schneider-Flume, dass die vielen Geschichten der Menschen in die eine Geschichte Gottes verwoben sind.85 Der biblische Begriff der Gottebenbildlichkeit besagt nach dieser Konzeption, „dass der Mensch eine offene Geschichte ist, in der er mehr ist, als er selbst aus sich macht und machen kann“86. Nicht Rationalität oder sonstige Eigenschaften, die dem Menschen immanent sind, „sondern allein die ihm von außerhalb zugesprochene Anerken————— 78

V. Gerhardt, Der Mensch wird geboren, 54. Ebd. 80 Vgl. D. Ritschl, Theorie, 53ff.131ff u.ö. Siehe auch ders./H.O. Jones, „Story“ als Rohmaterial, sowie D. Ritschl, Logik der Theologie. 81 Der Zusammenhang von Krankheit und Biographie bzw. allgemein von Krankheit und Erzählung wird inzwischen aber auch sonst in der medizinsoziologischen und medizinethischen Literatur thematisiert. S.u. Kapitel 5, 3. Abschnitt, 121ff. 82 D. Ritschl, Theorie, 138. 83 A.a.O., 133. 84 A.a.O., 139. 85 Vgl. G. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, 24. 86 A.a.O., 328. 79

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nung“ sei für das Personsein des Menschen grundlegend.87 Das über den Handlungsbegriff definierte, sich selbst setzende Subjekt und die Person im Sinne eines biblisch-theologischen Verständnisses fallen nach SchneiderFlume auseinander. Sie kritisiert die Gnadenlosigkeit eines subjektzentrierten Personverständnisses, das – reformatorisch gesprochen – nicht zwischen Person und Werk zu unterscheiden vermag. „Das für die biblische Tradition grundlegende Personverständnis versteht demgegenüber die Person als konstituiert durch die Fülle der Geschichten, die auf sie zulaufen, an denen sie partizipiert und an denen sie mitgestaltet.“88 Im Schutzraum der Geschichte Gottes, in welche alle menschlichen Einzelgeschichten verwoben sind, ist der Mensch Person, bevor er etwas aus sich macht oder seine Vernunftanlagen entwickelt. Entsprechend der reformatorischen Unterscheidung zwischen Person und Werk argumentiert Schneider-Flume in soteriologischer und eschatologischer Perspektive mit Luther: „Fides facit personam.“89

2.4.2 Transzendentalität der Geburtlichkeit? Nun fragt sich aber, wann die Lebensgeschichte eines Menschen beginnt, in welchem Moment ein Mensch also in das Geflecht von Geschichten und damit in die Geschichte Gottes eintritt. Für Volker Gerhardt markiert die Geburt nicht nur eine Zäsur im Leben eines Menschen, die ein Vorher von einem Nachher unterscheidet, sondern sie ist für ihn überhaupt erst der „Akt der Menschwerdung“90. Zwar kommt die Geburt, wie Gerhardt einräumt, „nicht aus dem Nichts“, aber das, was vor der Geburt war, ist wie das, was nach dem Tod kommt, „qualitativ anders als das individuell erfahrene personale Leben des Menschen“91. Das qualitativ Neue, das mit der Geburt beginnt, ist die Umstellung auf einen autonomen Stoffwechsel. Das neugeborene Kind muss sich auf eigene Nahrungsaufnahme umstellen. „Es atmet erstmals selbst. Und damit kann es auch zum ersten Mal seine Stimme, das ‚Organ der Vernunft‘, ertönen lassen.“92 Hannah Arendt sieht in der Geburt – notabene nicht in der Zeugung! – eine Wiederholung und Bestätigung des Schöpfungsaktes Gottes. Anders als bei der creatio ex nihilo, ist das, was vor dem Menschen war, „nicht ————— 87

A.a.O., 328f. A.a.O., 247. 89 A.a.O., 97; vgl. M. Luther, WA 39 I,282. 90 V. Gerhardt, Der Mensch wird geboren, 41. 91 A.a.O., 42. 92 A.a.O., 46. 88

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Nichts, sondern Niemand“93. Das gilt nach Arendt nicht nur für das evolutionsgeschichtliche Auftreten der menschlichen Gattung, sondern für jeden Einzelnen. Daher kann man von jedem neuen Menschen „nur sagen, daß es in bezug auf ihn vor seiner Geburt ‚Niemand‘ gab“94. Wie Arendt vertritt auch Hans Saner die These, dass das Menschsein als beständiges Anfangenkönnen „transzendental gegründet ist in der Geburt“95. Arendt spricht vom Anfang, der der Mensch ist und der mit seiner Geburt in die Welt kommt. „Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt.“96 Wie Arendt und Gerhardt sieht auch der Theologe Johannes Fischer in der Geburt einen qualitativen Sprung. Diese Sichtweise entspreche dem üblichen Verständnis des Personbegriffs: „Der Name, durch den eine Person identifiziert ist, wird erst nach der Geburt zuerkannt. Der Personbegriff markiert also eine Differenz zwischen ungeborenem und geborenem Leben.“97 Fischer möchte diese Differenz mit Hilfe der Unterscheidung zwischen „existierende(n) im Sinne vollumfänglich entwickelter“ und „werdende(n) Menschen“ begründen.98 Nicht prinzipiell, aber „zweifelsfrei“ könnten sich uns nur geborene Menschen als Personen präsentieren und mit uns kommunizieren.99 Außerdem unterscheidet Fischer zwischen Organismus und dem Menschen, den dieser Organismus verkörpert. Ein Embryo oder auch ein Fötus ist darum nach Fischers Auffassung nicht schon ein Mensch, auch nicht ein werdender Mensch, sondern das Leben eines werdenden Menschen.100 Darüber hinaus argumentiert Fischer, dass nicht alle Embryonen den Status des Lebens werdender Menschen haben, „sondern dass dies von den Umständen und Entwicklungsmöglichkeiten abhängt“101. Für Fischer gibt es folglich „von Natur aus“102 einen zweifachen Status menschlichen Lebens, nämlich solches, in dem sich das Werden eines Menschen vollzieht, und solches, bei dem das nicht der Fall ist. Konkret denkt Fischer an nicht eingenistete und zum Absterben verurteilte Embryonen. ————— 93

H. Arendt, Vita activa, 216. A.a.O., 217. 95 H. Saner, Geburt und Phantasie, 30. 96 H. Arendt, Vita activa, 216. 97 J. Fischer, Sterbehilfe, 135. Auch V. Gerhardt, Der Mensch wird geboren, 42 fragt: „Warum erfolgt die Namensgebung nach der Geburt und nicht zur Zeit der Nidation“? 98 J. Fischer, Forschung mit embryonalen Stammzellen, 117. 99 A.a.O., 113. 100 Vgl. a.a.O., 112f. Der Lebensbegriff, den Fischer verwendet, wird bei ihm nicht näher präzisiert. 101 A.a.O., 117. 102 Ebd. 94

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Darin, dass Totipotenz keine hinreichende Bedingung dafür ist, einer befruchteten Eizelle oder einem Frühembryo Menschsein und Personsein zuzusprechen, stimmen wir mit Fischer überein. Auch wenn unsere eigene Sicht von der Unbestimmtheit des Lebensanfangs, die am Schluss dieses Kapitels näher ausgeführt werden sollen, im Ergebnis in zentralen Punkten mit der Position Fischers konvergiert, wollen wir doch nicht verhehlen, dass wir seiner Argumentation nicht in allen Punkten folgen können; so vor allem, wenn Fischer erklärt, „Werden“ liege zwischen Nichtexistenz und Existenz103 und „existieren“ als „vollumfänglich entwickelt sein“ bestimmt104. Muss man nicht sagen, dass Menschsein immer im Werden ist? Was soll es bedeuten, dass ein Mensch „vollumfänglich entwickelt“ ist? Im Zusammenhang von Fischers Argumentation zum moralischen Status von Embryonen ist offenkundig die Lebensfähigkeit nach der Geburt gemeint. In ethischen Zusammenhängen ist diese allerdings ein wichtiges Kriterium, zum Beispiel, wenn es um lebenserhaltende Maßnahmen oder Therapieabbruch in der Neonatologie geht. Aber in ontologischer und anthropologischer Hinsicht ist doch zu fragen, wann denn ein Mensch je vollumfänglich entwickelt ist, oder ob nicht seine Entwicklung fortdauert, solange er lebt und seine Geschichte währt. Ontologisch betrachtet ist auch die Gleichsetzung von Lebensfähigkeit mit Existenz eine Unterbestimmung des Existenzbegriffs. Präziser ist an dieser Stelle Hans Saner. Er deutet das vorgeburtliche Sein als „Sein-zum-Dasein“105, wobei unter Dasein im Sinne Heideggers das In-der-Welt-Sein gemeint ist. Der ungeborene Mensch existiert bereits in der Welt, auch ist sein Sein schon „eine Form des Individuum-Seins“106. Darum ist er nicht nur werdendes menschliches Leben, sondern ein Lebewesen. Dieses kann sterben, ohne dass die Mutter stirbt oder einen Teil ihres Körpers verliert, wie umgekehrt der Fötus den Tod der Mutter überleben und zum Beispiel durch Kaiserschnitt gerettet werden kann. Aber bis zur Geburt ist sein Sein noch kein In-der-Welt-sein im Vollsinn des Wortes, wenngleich auch der Fötus im Uterus eine Umwelt hat. Darum plädiert Saner nun freilich dafür, den Ungeborenen nicht schon als Kind, sondern nur als „Leibesfrucht“ oder als „Fötus“ zu bezeichnen.107 Nun kann man zwar phänomenologisch argumentieren, dass Menschsein In-der-Welt-sein heißt und dass wir die Geburt meinen, wenn wir davon sprechen, „auf die Welt gekommen“ zu sein. Lapidar bemerkt Gerhardt: ————— 103

A.a.O., 115. A.a.O., 117. 105 H. Saner, Geburt und Phantasie, 23. 106 A.a.O., 22. 107 A.a.O., 67. 104

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„Mir ist noch niemand begegnet, der den Tag seiner Zeugung zelebriert.“108 Die lebensweltlichen Argumente Fischers wie auch Gerhardts sind jedoch längst nicht mehr so schlagend, wie beide Autoren meinen. Mit dem erweiterten Wissen um Zeugung und Schwangerschaft, nicht zuletzt aufgrund des flächendeckenden Einsatzes vorgeburtlicher Diagnostik und Therapie – bis hin zu intrauterinen chirurgischen Eingriffen, bei denen eben nicht die Mutter, sondern das ungeborene Kind der Patient und also, medizinethisch gesprochen, das Subjekt des ärztlichen Handelns ist! – hat sich auch die Einstellung schwangerer Frauen und werdender Eltern zum Ungeborenen verändert.109 Eine Phänomenologie der Geburtlichkeit sollte auch folgende lebensweltliche Veränderungen mit bedenken: Oftmals wissen Eltern schon zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft, welches Geschlecht ihr Kind hat. Und nicht selten geben werdende Mütter oder Eltern dann auch schon ihrem Kind einen Namen, auch wenn dieser selbstverständlich noch rechtlich unerheblich ist. Da die Sterblichkeit bei Neugeborenen und selbst bei Frühgeburten dank medizinischer Fortschritte erfreulicherweise dramatisch gesunken ist, verhalten sich werdende Eltern oft bereits so, als wäre ihr Kind schon geboren. Eine neue Praxis sind sogenannte Babyparties, die nicht etwa erst nach der Geburt, sondern bereits während der Schwangerschaft gefeiert werden, mit passenden Geschenken für das Kind. Nicht zuletzt bei Paaren, die durch In-Vitro-Fertilisation schwanger werden und zwischen Hoffen und Bangen, zwischen fehlgeschlagenen Versuchen und endlich erfolgreich eingeleiteter Schwangerschaft auf ganz eigene Art in die Elternschaft hineinwachsen, entwickeln sich auch neue Formen, eine Beziehung zum ungeborenen Leben aufzubauen. Und schließlich sei auf die Einstellungsänderungen im Umgang mit Fehlgeburten hingewiesen. Wurden diese früher einfach in den Krankenhausabfall geworfen, so gibt es inzwischen schon eigene Begräbnisfelder für Fehlgeburten, die dort anonym bestattet und für die eigene Gottesdienste abgehalten werden. Personsein bedeutet, dass Menschen einander ein Gegenüber sind. Nur so kann wechselseitige Kommunikation stattfinden. Solange ein Mensch noch nicht geboren ist, fehlt ihm dieses menschliche Gegenüber. Auch für seine Mutter, in deren Leib er heranwächst, noch mehr für die übrigen Menschen, ist der Ungeborene noch nicht in vollem Umfang ein selbständiges Gegenüber. Erst durch die Vollendung der Geburt werden der Neugeborene wie die bereits Geborenen einander zum Gegenüber, die sich voneinander als Subjekte unterscheiden können. Erst jetzt können sie füreinander Personen sein, wogegen das ungeborene Kind nur einseitig für seine Mutter ————— 108 109

V. Gerhardt, Der Mensch wird geboren, 41. Siehe dazu B. Duden/J. Schlumbohm/P. Veit (Hg.), Geschichte des Ungeborenen.

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oder andere Menschen Person sein kann. Erst wenn das Kind und andere Menschen füreinander Person sein können, kann auch das Kind für sich selbst Person sein. Zwar belehrt uns die Entwicklungspsychologie, dass sich der Säugling auch noch einige Zeit nach der Geburt in einer Symbiose mit seiner Mutter wähnt und erst allmählich begreift, ein gegenüber der Mutter eigenständiges Individuum zu sein. Doch ist die Geburt die notwendige Bedingung für die Ausbildung einer Subjektivität, welche zwischen sich und der Mutter oder auch anderen Menschen zu unterscheiden weiß. Intrauterin wäre die Entwicklung solcher Subjektivität niemals möglich. Insofern ereignet sich in der Geburt ein qualitativer Sprung in das In-der-Welt-Sein. Berechtigt dies aber dazu, die Transzendentalität des Personseins, das sich allen kausalen oder naturwissenschaftlichen Beschreibungen entzieht, an die Geburt zu knüpfen, so dass man mit Hannah Arendt urteilen muss, dass der Mensch vor seiner Geburt noch kein Jemand, sondern ein Niemand ist? Eine Antwort auf diese Frage hat mit zu bedenken, dass die Geburt selbst ihre Natürlichkeit weitgehend verloren hat und immer mehr in menschlichen Handlungssinn überführt worden ist. Nicht selten muss die Geburt künstlich eingeleitet werden. Insbesondere die Kaiserschnitt-Technik kommt inzwischen längst nicht mehr nur aus medizinischer Indikation zum Einsatz, sondern wird als Methode der Wahl angeboten, sei es weil Frauen die Geburt ihres Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt wünschen, sei es, weil sie den Kaiserschnitt aus ästhetischen Gründen einer Geburt durch den Geburtskanal vorziehen. Der Eintritt ins Leben und sein Zeitpunkt sind immer mehr das Resultat menschlicher Entscheidungen. Würde das Person- und Menschsein an die Bedingung der Geburt geknüpft, wären Menschsein und Menschenwürde von der willkürlichen Entscheidung und Zuerkennung derer abhängig, die über Leben und Tod des Ungeborenen entscheiden. Hängt die Zugehörigkeit eines von Menschen abstammenden Lebewesens zur Menschheitsfamilie von der Entscheidung ihrer Mitglieder ab, ist nicht einmal die Geburt eine hinreichende Bedingung für das Mensch- und Personsein. Historisch sei an die Praxis im antiken Rom erinnert, nach welcher nicht schon die Geburt als solche, sondern erst die Annahme des Kindes durch den pater familias über Leben und Tod eines Kindes und damit über seinen Eintritt in die Gemeinschaft menschlicher Personen entschied. Heute sehen auch Vertreter eines Präferenzutilitarismus wie Peter Singer in der Geburt keineswegs eine hinreichende Bedingung dafür, von der Existenz einer neuen Person zu sprechen. Weil Menschsein eben nicht abstrakt als Natur vom Personsein als Kultur unterschieden werden kann, ist auch „Geburt“ kein biologisches brutum factum, das von der kulturellen Existenz des Menschen abgelöst ist, sondern ein

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Zeichen, das seine Bedeutung immer nur in unterschiedlichen kulturellen Interpretationspraxen gewinnt. Nach christlichem Verständnis bedeutet das Zulassen von Schwangerschaft und Geburt die Anerkennung des Person- und Menschseins, das sich nicht dem Willen anderer Menschen verdankt, sondern transzendental ist. Es wird nicht einem Menschen der Personstatus zuerkannt, sondern es wird sein Personsein als Gegebenheit anerkannt.110 Dass die Rechtsfähigkeit natürlicher Personen mit der Geburt beginnt, darf nicht als ontologische Aussage über das Wesen des Menschen missverstanden werden, so gewiss Recht und Ontologie beziehungsweise Recht und Moral zu unterscheiden sind. Was aber die Transzendentalität der Person betrifft, so ist zwischen Anfang und Ursprung zu unterscheiden. Die Anfänglichkeit, von der Arendt und Saner sprechen, nämlich das beständige Anfangenkönnen des Menschen, setzt zwar sein Geborensein voraus. Es entspringt aber einem Ursprung, der nicht mit der Geburt zu identifizieren ist, sondern durch diese nur zeichenhaft repräsentiert wird. Die These, wonach Geburtlichkeit eine Wesensbestimmung des Mensch- und Personseins ist, ist in der Weise zu modifizieren, dass die Person nicht nur von der Geburt her existiert, sondern sich während der Schwangerschaft auf ihre Geburt hin entwickelt. Nicht nur personale Kommunikation, sondern dauerhaftes Leben überhaupt wäre im Uterus nicht möglich. Das unterscheidet zum Beispiel das Leben eines geborenen Menschen an einer Herz-Lungen-Maschine vom Ungeborenen, der durch die Nabelschnur der Mutter versorgt wird. Jeder Mensch und das heißt jede Person ist zur Geburt bestimmt, mag diese Bestimmung im Einzelfall aufgrund einer Fehlgeburt auch nicht erfüllt werden. In diesem Sinne aber können wir vom geborenen wie vom ungeborenen Menschen sagen, dass seine Existenz existential durch die Geburt bestimmt, das heißt geburtlich ist. 2.4.3 Ganz Ohr sein Wenn es um Kontinuität und Diskontinuität personhaften Lebens vor und nach der Geburt geht, ist auch die Bedeutung des Hörsinns für den Zusammenhang von Vernunft, Sprache und Personalität zu bedenken. Das deutsche Wort „Vernunft“ kommt etymologisch bekanntlich von „ver—————

110 Von daher wären die völlige Aufhebung strafrechtlicher Bestimmungen zum Schutz des Ungeborenen im Schwangerschaftskonflikt und ihr Ersatz durch neue Schutzparagraphen für Schwangere, wie sie H. Saner, Geburt und Phantasie, 75 in Erwägung zieht, ethisch und rechtlich unangemessen.

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nehmen“, womit nicht nur das kognitive Verständnis, sondern auch die sinnliche Wahrnehmung gemeint ist. Das Organ der vernehmenden Vernunft ist der menschliche Hörsinn. Schon bevor der Mensch sprechen kann, ist er das Wesen, das Sprache hat und sprachlich existiert, weil er hören kann. Die Rezeptivität des Hörens und des Hörsinns liegt der Aktivität des Sprechens voraus. Nur über das Hören entwickelt sich das eigene Sprachvermögen, das als Wesensmerkmal von Personalität und Vernunft gilt. Das zeigt sich deutlich im Fall angeborener Gehörlosigkeit, wo Ersatzsprachen für die akustisch kommunizierte Wortsprache zum Einsatz kommen. Das Wort „persona“ muss also in doppelter Richtung gelesen werden. Die Maske der Person, ihr Antlitz, ist nicht nur das Medium, durch welches eine Stimme und damit Vernunft nach außen dringt, sondern auch die Membran, durch welches Stimme und menschliche Sprache nach innen dringen. Auch bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ist der Hörsinn ein Organ ihres Personseins. Ein Wesen, das Sprache hat – Person also – ist der Mensch nicht erst, wenn und solange er sprechen kann, sondern schon und solange er hören kann. Der Hörsinn erlischt, wenn der Mensch stirbt, erst ganz zuletzt. Sein Hörsinn ist stets ein menschlicher Hörsinn, der sich vom Hörsinn der Tiere unterscheidet. Das zeigt sich am Phänomen der Musik. Viele Tiere empfinden menschliche Musik nicht als sinnhaften Wohlklang, sondern als – unter Umständen geradezu schmerzhafte – Geräuschkulisse. Musik aber ist wie die Wortsprache eine Hervorbringung menschlichen Geistes und menschlicher Vernunft. In ihr liegen jedoch Vernunft und Sinnlichkeit, Verstand und Gefühl, noch enger beieinander als in der Wortsprache. Musik kann für kleine Kinder, für Menschen mit geistiger Behinderung oder auch für Personen, die an Demenzerkrankungen leiden, ein wichtiges Medium der Kommunikation und ein Therapeutikum sein. Die ganze Musiktherapie beruht auf dieser Erkenntnis. Das Hören von Musik ist ein zutiefst personales Geschehen. Der Hörsinn aber entwickelt sich nicht erst nach der Geburt, sondern schon während der Schwangerschaft. Lange Zeit hat man geglaubt, Kinder seien nicht nur vor der Geburt, sondern sogar noch in den ersten Lebenstagen taub. Die moderne Embryologie und Entwicklungspsychologie zeigen uns, dass die vorgeburtliche Existenz nicht in hermetischer Abgeschiedenheit und Stille verläuft. Vielmehr hört das ungeborene Kind zahlreiche Geräusche im Mutterleib, und zwar nicht nur die Geräusche des mütterlichen Körpers, zum Beispiel des Magen-Darm-Trakts, sondern auch die mütterliche Stimme und Geräusche, die von außen in den Bauch der Mutter und in die Fruchtblase eindringen. Untersuchungen zeigen, dass der Fötus etwa ab der 28. Schwangerschaftswoche, also mehr als zwei Monate vor der

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Geburt, Lidschlagreaktionen bei der Darbietung akustischer Reize zeigt.111 Schon vier Tage nach der Geburt sind Säuglinge in der Lage, die Stimme ihrer Mutter von anderen Stimmen unterscheiden zu können.112 Experimente zeigen, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass die Neugeborenen die mütterliche Stimme schon während der Schwangerschaft gehört haben. „Kinder scheinen also bereits vor der Geburt nicht nur für den Klang menschlicher Stimmen, sondern auch unabhängig von spezifischen Stimmen für akustische Muster der Sprache sensitiv zu sein.“113 So gesehen ist der erste Schrei nach der Geburt eine erste Antwort auf die menschliche Stimme, welche das ungeborene Kind schon vor der Geburt vernommen hat. Der Primat des Hörens vor dem Sprechen hat eine eminent theologische Bedeutung. Mit kritischem Seitenblick auf Rudolf Bultmanns Konzeption von Glauben und Verstehen, das ihm zugrunde liegende Modell der durch das Kerygma provozierten Entscheidung, das Konzept des hermeneutischen Zirkels und seine Kategorie des Vorverständnisses hat der Zürcher Neutestamentler Hans Weder das Hörenkönnen als basale Voraussetzung des Glaubens bestimmt.114 Weder beruft sich für diese Modifikation des Ansatzes einer hermeneutischen Theologie auf Paulus. Dieser erklärt in Röm 10,17: „So kommt der Glaube aus dem Hören [bzw. der gehörten Predigt], die Predigt aber durch das Wort Christi.“ Das Hören ist nach Weder das anthropologische Korrelat zur paulinischen bzw. reformatorischen Rechtfertigungslehre, weil der Mensch als Hörender rezeptiv ist. Hörend erreicht ihn der Zuspruch, die promissio der göttlichen Gnade, die Zusage der Sündenvergebung. Der Hörsinn ist demnach der anthropologische Anknüpfungspunkt für die biblische Religion des Wortes: Der glaubende Mensch ist ganz Ohr. Insofern kann man Luthers Satz, wonach der Glaube die Person macht, dahin gehend abwandeln, dass das Hören die Person macht – nämlich das Hören der Anrede Gottes, der uns bei unserem Namen ruft. Ohne die Zäsur, welche die Geburt in der Lebensgeschichte eines Menschen bedeutet, herunterspielen zu wollen, wird diese doch durch die phänomenologische und die theologische Einsicht in die Bedeutung des menschlichen Hörsinns für die Existenz von Personen entscheidend relativiert. Daher ist auch der These Arendts, dass es in Bezug auf einen Menschen vor seiner Geburt „Niemand“ gab115, zu widersprechen. ————— 111

Vgl. F. Wilkening/H. Krist, Entwicklung von Wahrnehmung, 398ff. Gleiches gilt übrigens nicht für die Stimme des Vaters im Vergleich zu den Stimmen fremder Männer! 113 A.a.O., 398. 114 H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, 145ff. 115 Vgl. H. Arendt, Vita activa, 217. 112

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2.4.4 Geboren- und Gezeugtsein In diesem Zusammenhang ist schließlich noch auf einen im engeren Sinne theologischen Sachverhalt hinzuweisen. Dass der Tag der Zeugung kulturgeschichtlich bisher keine Rolle gespielt hat, wie Gerhardt insinuiert, stimmt für die biblische Tradition so nicht. Wenn man schon den Vergleich zwischen Geburtlichkeit des Menschen und Inkarnationschristologie zieht, muss man nämlich auch auf das Zitat von Ps 2,7 in Act 13,33, Hebr 1,5 und 5,5 erinnern. An diesen Stellen wird das alttestamentliche Psalmwort: „Du bis mein geliebter Sohn, heute habe ich dich gezeugt“ auf Christus übertragen. Es handelt sich bei diesem Vers um eine liturgische Formel aus einem der Königspsalmen, der die Inthronisation des neuen Regenten als göttliche Zeugung deutet. In Act 13,33 wird das Psalmwort interessanterweise auf Jesu Auferweckung von den Toten gemünzt. Es geht aber auch an den beiden Stellen im Hebräerbrief nicht um die leibliche Zeugung Jesu, sondern um eine metaphorische Beschreibung seiner Gottessohnschaft und der mit ihr verbundenen Macht und Würde. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass das hebräische jld in Ps 2,7 sowohl mit „zeugen“ als auch mit „gebären“ übersetzt werden kann. Es kann auch neutral „hervorbringen“ bedeuten. Auch das griechische HFOOƒX, das die Septuaginta an dieser Stelle gebracht hat, besitzt diese unterschiedlichen Bedeutungen. Es wird häufiger vom Vater ausgesagt und bedeutet dann „zeugen“, selten aber auch von der Mutter; dann heißt es „gebären“. Und auch in der Bedeutung von „hervorbringen“ kann es verwendet werden. Philologisch lässt sich Ps 2,7 jedenfalls auch so übersetzten: „Du bist mein geliebter Sohn, heute habe ich dich geboren“116. Sofern man die Übersetzung „zeugen“ vorzieht, fallen allerdings Zeugung und Geburt im Akt der Inthronisation des Königs zusammen. In der altkirchlichen Dogmenbildung hat die Aussage von der Zeugung des Gottessohnes allerdings eine trinitätstheologische Bedeutung für die Bestimmung der Person des Sohnes und ihrer Verschiedenheit von der Person des Vaters gewonnen. Nach Aussage des Nicaeno-Constantinopolitanum ist der Sohn eben nicht nur vom Vater geboren (HFOOIRzOUB, lat. natum), sondern von diesem auch gezeugt (NPOPHFO›K, lat. unigenitum). Hierbei steht nicht in erster Linie Ps 2,7, sondern die johanneische Theologie Pate, die den fleischgewordenen Logos als NPOPHFO›K QBS† QƒUSPK (Joh 1,14) und als NPOPHFO›K RF²K bezeichnet (Joh 1,18).117 Das griechische NPOPHFO›K bedeutet „einzig in seinem HzOPK“ oder „einheitlich in seiner Art“, ————— 116 117

Vgl. M. Grohmann, Fruchtbarkeit und Geburt, 72f. Vgl. auch Joh 3,16.18 u.ö.

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„einzig erzeugt“, aber auch „eingeboren“ oder „erstgeboren“.118 Rein sprachlich liegt also dieselbe Doppeldeutigkeit wie in Ps 7 vor. Üblicherweise wird das NPOPHFO›K in Joh 1,14 und Joh 1,18 mit „eingeboren“ übersetzt. Der Akzent beider Verse des Johannesprologs liegt darauf, die Einzigartigkeit Christi und seine exklusive Zugehörigkeit zu Gott auszusagen, nicht aber einen mythischen Akt der Zeugung zu beschreiben, der dezidiert vom Vorgang der Geburt abgegrenzt würde. Schon deshalb überzeugt die Ansicht von Jens Reich nicht, das fehlende Merkmal der Zeugung frei nach den christologischen Bestimmungen des Nicaeno-Constantinopolitanums sei ein hinreichender Grund, menschlichen Klonen den Status eines Menschen abzusprechen. So ließe sich zwar elegant für das Klonen zu Forschungs- oder therapeutischen Zwecken argumentieren (das Reich allerdings – nicht kategorisch, sondern aus praktischen Erwägungen – ablehnt). Aber ich halte die von Reich angeführten Gründe nicht für ausreichend, wenngleich ich mit ihm und vielen Ethikern darin übereinstimme, dass die Totipotenz entwicklungsfähiger Zellen kein hinreichendes Kriterium für die Existenz eines Menschen und also für Menschenwürde darstellt. Das Klonen ist ein Anschlag auf die Menschenwürde, weil es das elementare Recht jedes Menschen auf zweifache biologische Kindschaft verletzt. Dieses Recht ist in der grundlegenden Bestimmung, dass der Mensch geboren wird, impliziert.119 Zudem wird der neue Mensch im Akt seiner Erzeugung durch Zellkerntransfer eines Rechtes beraubt, das alle übrigen Menschen haben, nämlich des Rechtes auf ein gegenüber demjenigen seiner Eltern neues Genom. Das unterscheidet den Klon vom eineiigen Zwilling. Dieser besitzt zwar dasselbe Genom wie sein Geschwister. Beide aber haben ein Genom, das sich von demjenigen ihrer gemeinsamen Eltern unterscheidet. Die Rekombination der Gene im Prozess der Fertilisation ist nicht nur von Gesamtnutzen für den Genpool der Menschheit, sondern muss auch als potentieller Nutzen für das Individuum gesehen werden, auch wenn die Möglichkeit von Gen- und Chromosomendefekten nicht auszuschließen ist. Da beim Klonieren keine Rekombination genetischen Materials stattfindet, lässt sich argumentieren, dass damit ein elementares Recht des neuen Menschen verletzt wird. Man wird darin eine Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit sehen müssen, wodurch nicht nur sein Recht auf Leben, sondern auch seine Menschenwürde verletzt wird. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass das Grundrecht auf Fortpflanzung, welches die Befürworter des Klonens im Sinne einer libertären „reproduktiven Autonomie“ für sich in Anspruch nehmen, auch dem Klon zusteht. Dessen Fortpflanzungsfähigkeit könnte aber beeinträchtigt sein. Schädigungen ————— 118 119

Belege bei R. Bultmann, Evangelium des Johannes, 47f (Anm. 2). Vgl. dazu U. Körtner, Angriff auf die Menschenwürde.

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Unbestimmtheit des Anfangs

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seines Genoms – immerhin stammt dieses von einer adulten Körperzelle, deren genetische Qualität gegenüber Keimbahnzellen tendenziell schlechter ist – werden in der nächsten Generation weitervererbt. Zu bedenken ist jedoch auch, dass es schon immer möglich war, zwischen biologischer und sozialer Elternschaft zu unterscheiden. Durch die moderne Reproduktionsmedizin kommt noch hinzu, dass die Frau, von welcher die verwendete Eizelle stammt, nicht mit jener, die das Kind zur Welt bringt, identisch sein muss. Im Fall der Leihmutterschaft kann also ein Kind bis zu fünf Eltern haben. Wird aber ein Mensch geklont, so wird zusätzlich die Generationenfolge übersprungen. Die biologischen Eltern des Klons sind, sieht man von dem genetischen Material im Köper der mütterlichen Eizelle ab, seine Großeltern väterlicher- oder mütterlicherseits. Der „Vater“ oder die „Mutter“ eines Klons ist biologisch gesehen sein Bruder oder seine Schwester. Gleichwohl lässt sich argumentieren, dass auch beim Klonen durch Zellkerntransfer das grundsätzliche Faktum der Zeugung menschlichen Lebens nicht gänzlich außer Kraft gesetzt wird. Insofern ist zwar mit aller Entschiedenheit jeder Versuch des reproduktiven Klonens als Verletzung der Menschenwürde zu ächten, doch gäbe uns diese dem Leib des Klons eingeschriebene Verletzung der Menschenwürde kein Recht, ihm das Menschsein abzusprechen.

2.5 Unbestimmtheit des Anfangs 2.5.1 Der Lebensbeginn in biblischer Sicht Die Geschichte eines Menschen beginnt nicht erst mit seiner Geburt, so gewiss diese eine markante Zäsur und einen Statuswechsel in seinem Leben bedeutet, sondern schon davor. Es entspricht nicht nur systemtheoretischen oder phänomenologisch-hermeneutischen Einsichten, sondern auch der biblischen Tradition und darum christlicher Anthropologie, den Menschen als ein geschichtliches Wesen zu betrachten, dessen Dasein und Personsein dadurch charakterisiert ist, dass es eine Geschichte hat, zu der auch die früheste Entwicklungsphase gehört. Außerdem ist zu bedenken, dass Personalität einerseits ein Zuschreibungsbegriff ist und andererseits eine dialogische oder intersubjektive Struktur hat. Personsein ist ein Beziehungsbegriff, hinter dem die Einsicht steht, dass die Entwicklung eines Individuums zur Person nur möglich ist, wenn dieses bereits zuvorkommend als solches angesehen und behandelt wird. Das sogenannte Potentialitätsargument besitzt also ein gewisses Wahrheitsrecht, wenn die Potentialität des Person-

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

seins nicht biologisch-genetisch oder naturrechtlich bzw. metaphysisch behauptet, sondern als Maxime des sozialen Verhaltens aufgestellt wird. Das beginnt bei der Einstellung der Schwangeren zu dem in ihr heranwachsenden Kind und reicht bis zum Umgang von Forschern mit einem in vitro gezeugten Embryo.120 Für die theologische Urteilsbildung spielen auch auf ethischem Gebiet die Texte der Bibel eine Schlüsselrolle, weil sie für den christlichen Glauben und seine gedankliche Rechenschaft normativen Rang haben. Das theologische Kriterium der Schriftgemäßheit ist freilich von einem Biblizismus zu unterscheiden, der jede theologische Aussage mit einem Bibelzitat zu begründen versucht. Das brächte die Theologie und die Kirchen in bioethischen Fragen in einige Verlegenheit. Denn die Bibel weiß bekanntlich noch nichts von Embryonen, auch nicht von Eizellen, die beim Menschen erst 1827 entdeckt wurden. Schriftgemäß ist eine Theologie, die einerseits das Gesamtzeugnis der Bibel im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen zu hören und zu verstehen versucht und andererseits die heutige Lebenswirklichkeit im Licht des biblischen Zeugnisses zu deuten wagt. Neben der Schriftgemäßheit ist darum Wirklichkeits- oder Situationsgemäßheit das zweite Kriterium theologischer Urteilsbildung.121 Diese vollzieht sich in einem hermeneutischen Zirkel. Das christliche Menschenbild, auf das sich kirchliche Stellungnahmen zur Bioethik berufen, ist demgegenüber zumeist ein Gemisch aus biblischen Motiven, katholischem Naturrechtsdenken und einer kantischen Interpretation des Menschenwürdebegriffs. In diesem Zusammenhang muss ein eklektizistischer Umgang kirchlicher Verlautbarungen mit biblischen Texten kritisiert werden.122 Man weist zum Beispiel darauf hin, dass „Menschenwürde“ ein säkulares Äquivalent für „Gottebenbildlichkeit“ ist und zitiert als Beleg Gen 1,27. Die stereotype Zitation dieses Bibelwortes, die kurzschlüssige Gleichsetzung der Gottebenbildlichkeit mit dem seinerseits klärungsbedürftigen Personbegriff und seine umstandslose Übertragung auf Blastozysten sind jedoch kaum das Ergebnis solider Exegese. Die eingehende Beschäftigung mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Bibelauslegung, die auf die Vielschichtigkeit biblischer Aussagen über den Lebensbeginn hinweist123, sucht man in den ökumenischen Texten zur Bioethik vergebens. Die wissenschaftliche Exegese weist darauf hin, dass der Gedanke der Gottebenbildlichkeit kein Allgemeingut biblischen Denkens ist, sondern ————— 120

Zum Folgenden vgl. U. Körtner, „Lasset uns Menschen machen“, 104ff. Vgl. F. Mildenberger, Grundwissen, 27. 122 Vgl. dazu auch M. Heimbach-Steins/G. Steins, Ornament, 98. 123 Siehe dazu H. Utzschneider, Beginn des Lebens; A. Lindemann, Schwangerschaftsabbruch. 121

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sowohl im Alten Testament bzw. der jüdischen Bibel als auch im Neuen Testament eine theologische Spitzenaussage ist, die – das mag überraschen – eine allenfalls marginale Rolle spielt. Auch wenn das systematischtheologische Gewicht derartiger Aussagen in keiner Weise geschmälert werden soll, ist doch zu beachten, dass die Bibel, zumal das Alte Testament, vom Lebensbeginn „nicht nur auf der Ebene theologischer Begründungen, sondern viel konkreter, auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung alltäglicher Phänomene wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt“ redet.124 Von der Bibel ist zu lernen, wie theologische Aussagen lebensweltlich eingebettet und vermittelt werden müssen. Es ist exegetisch fragwürdig, wenn ontologische oder metaphysische Grundannahmen in biblische Texte eingetragen werden, um diese einer systematisch-theologischen Gesamtinterpretation biblischer Theologie dienstbar zu machen. Texte wie Psalm 139 oder Hiob 10 liefern keine naturwissenschaftliche Beschreibung der embryonalen Entwicklung im modernen Sinne, sondern sind Beispiele für die hymnische Sprache religiöser Poesie. Auch widerspricht es den biblischen Texten, wenn der ontologische und moralische Status von Embryonen abstrakt diskutiert wird. Der Mensch wird in der Bibel als ein Beziehungswesen gesehen, dessen Menschwerdung und Leben ein Prozess und ein Beziehungsgeschehen sind.125 Aus alttestamentlicher Sicht ist der Lebensbeginn ein mehrdimensionales Geschehen. Es hat eine soziale Dimension, eine biologische und eine schöpfungstheologische Dimension: „1. Der Mensch geht aus der intimen Gemeinschaft der Eltern hervor, wächst im Mutterleib heran und bringt sein Leben in die größere Gemeinschaft der Familien und Sippen ein. In dieser Gemeinschaft ist er von seiner Zeugung an aufgehoben (soziale Dimension). 2. Der Lebensbeginn ist an stoffliche, wir würden sagen: ‚natürliche‘ Substrate gebunden, den Samen und den Mutterleib. In dieser stofflichen Umgebung und aus ihr heraus wird der Mensch, wie es gelegentlich in einer durchaus technischen Metapher [...] (vgl. 5. Mose 25,9) heißen kann, ‚gebaut‘ (biologische Dimensi-

————— 124

H. Utzschneider, Beginn des Lebens, hier 136. Kirchliche Stellungnahmen blenden auch gern den Umstand aus, dass das Alte Testament der Christen die Bibel der Juden ist. Die jüdische Auslegung der einschlägigen Stellen, die gern von christlicher Seite für den Personstatus von Embryonen und sogar von befruchteten menschlichen Eizellen im Reagenzglas ins Feld geführt werden, weicht von kirchlichen Dokumenten teilweise erheblich ab. Nach jüdischer Auffassung ist die Geburt die entscheidende Zäsur, mit der das Leben eines Menschen beginnt. Dafür glaubt man sich durchaus auf die jüdische Bibel berufen zu können. Daher werden auch in Fragen der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik im Judentum Positionen vertreten, die zwar im Widerspruch zur lehramtlichen Position der römisch-katholischen Kirche stehen, jedoch auch von einzelnen evangelischen Ethikern eingenommen werden. Es ist gerade das von der evangelischen Theologie betonte Kriterium der Schriftgemäßheit, welches unterschiedliche Sichtweisen des Lebensanfangs zulässt, weil die biblischen Grundlagen einer christlichen Anthropologie keineswegs so eindeutig sind, wie es kirchliche Stellungnahmen häufig unterstellen. 125

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

on). [Vgl. Dtn 25,9, wo die Zeugung eines Kindes mit einem Hausbau verglichen wird, Anm. d. Verf.] 3. Der Mutterleib ist schließlich auch der diskrete Ort, an dem durch göttliches Wirken, jedenfalls aber auf wunderbare und unverfügbare Weise das Individuum, die Person gebildet wird, die später zu sich selbst ‚Ich‘ zu sagen vermag (‚schöpfungstheologische‘ Dimension). In allen drei Dimensionen ist der Lebensbeginn kein isolierbarer Augenblick, kein Zeitpunkt, sondern eine Lebensphase, ein Prozess, in dem der Mensch biologisch Gestalt gewinnt, sie über seine Eltern einem sozialen Kontext einstiftet und – in der Rückschau des Erwachsenen – durch Gottes Schöpferhand seine Personalität und Individualität, seine Würde, empfängt.“126

Keineswegs wird aber das Schöpfungshandeln Gottes mit dem biologischen Zeugungsakt identifiziert oder darauf reduziert. Es verbindet sich vielmehr in besonderer Weise mit der Geburt. Gott erscheint in den Psalmen in der Rolle des Geburtshelfers (Ps 22,10f; 71,5f).127 Manche biblischen Schöpfungsaussagen verwenden die metaphorische Vorstellung von einer „Schöpfung durch Geburt“128, die neben den häufigeren handwerklichen Schöpfungsvorstellungen steht. Der Mensch aber wird durch sein Geborensein charakterisiert. Wendungen wie „aus dem Mutterleib“ oder „von Mutterleib an“ sind zugleich „im wörtlichen Sinn konkrete Bezeichnungen für die Geburt aus dem Mutterleib und beschreiben metaphorisch den zeitlichen Anfangspunkt der menschlichen Existenz und das Leben in seiner Gesamtheit.“129 Das Geborensein des Menschen aber ist im Alten Testament letztlich ein Aus-Gott-Geborensein. Biblisch gesprochen liegt der Ursprung jedes Menschen in Gott und seiner zuvorkommenden Gnade. In diesem Sinne ist das Wort aus Psalm 139,16 zu verstehen: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ Dieser transzendentale Ursprung ist aber nicht mit dem zeitlichen Anfang oder auch dem Abschluss eines biologischen Prozesses wie Zeugung oder Geburt zu verwechseln oder gleichzusetzen. Ein Ursprung lässt sich niemals beobachten, sondern immer nur retrospektiv als vollzogenes Ereignis feststellen, als plötzlicher Umschwung oder als qualitative Neubestimmung einer Gesamtsituation.130 So macht auch der Psalmist eine retrospektive Aussage über seinen geheimnisvollen Ursprung, die keine naturwissenschaftliche Hypothese, sondern ein Bekenntnis, ein Lobpreis ist. Und auch rein embryologisch muss man sagen, dass zwar jeder geborene Mensch an seinem Anfang eine Zygote war, dass sich aber nicht jede befruchtete Eizelle zu einem Menschen entwickelt. ————— 126

H. Utzschneider, Beginn des Lebens, 139f. Vgl. M. Grohmann, „Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen“. 128 A. Grund, „Aus Gott geboren“. 129 M. Grohmann, „Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen“, 77f. 130 Zur Phänomenologie des Ursprungs vgl. G. Figal, Gegenständlichkeit, 31ff (§ 4). 127

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Unbestimmtheit des Anfangs

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Dass sich die Zygote nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickle, ist daher eine bloße Setzung mit lebensweltlich fragwürdigen Konsequenzen. Überhaupt zeigt eine Durchsicht der verschiedenen Positionen, die in der Frage des Personstatus von Embryonen eingenommen werden, dass ihre Bedeutung für die bioethische Entscheidungsfindung häufig überschätzt wird.131 Was wir sehen, ist immer mehr als die bloße Empirie. Ob wir in einem Embryo lediglich einen Zellhaufen oder aber einen werdenden Menschen sehen, hängt immer schon von unseren Intentionen und Deutungsmustern ab. Die Alternative besteht nicht zwischen der vermeintlich objektiven Grenzziehung bei der Kernverschmelzung und anderen, scheinbar willkürlichen Definitionen des Lebensanfangs, da in jedem Fall empirischnaturwissenschaftliche Daten und anthropologische Deutung zu unterscheiden sind. Deshalb kommt keine der eingenommenen Positionen ohne Zusatzannahmen aus.132

2.5.2 Anfang und Ursprung Philosophisch wird die These eines durchgehenden und jenem geborener Personen vergleichbaren moralischen Schutzanspruches während der Gesamtphase der Embryonalentwicklung ab der Befruchtung meist durch die Kombination des sogenannten Potentialitätsarguments mit dem Kontinuitäts- und dem Identitätsargument zu begründen versucht. Diese Argumente sind jedoch weder für sich genommen noch in ihrer Kombination stichhaltig und können die daraus gezogenen Schlussfolgerungen nicht schlüssig begründen. In Wahrheit unterliegt der Anfang eines individuellen Menschenlebens einer prinzipiellen, keineswegs nur einer zeitlichen Unbestimmbarkeit. Es ist daher irreführend, wenn bereits die befruchtete Eizelle nach der Kernverschmelzung oder der durch die ersten Teilungen entstehende Zellhaufen (Morula) umstandslos als Embryo bezeichnet wird. Erst nach mehreren Tagen, wenn sich die Morula zu einer Zellblase (Blastozyste) entwickelt hat, bilden sich einerseits eine Frühform des eigentlichen Embryos (Embryoblast) und andererseits das Frühstadium von Plazenta und Nabelschnur ————— 131

Vgl. dazu auch R. Anselm/U. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Wer die Charakterisierung von Embryonen als „Zellhaufen“ kritisiert und moniert, dass mit Sprache Politik gemacht wird, sollte selbstkritisch einräumen, dass auch die in kirchlichen Stellungnahmen anzutreffende Sprachregelung, wonach es sich bei Embryonen und sogar schon bei befruchteten Eizellen (Zygoten) um „embryonale Menschen“ handelt, eine Form der Sprachpolitik ist, die als gegeben annimmt, was allererst zu beweisen wäre. Die Gleichsetzung von Zygoten – gleich ob in vivo oder in vitro – mit geborenen Menschen läuft auf eine petitio principii hinaus. 132

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

(Trophoblast) aus. Frühestens jetzt macht es überhaupt Sinn, von einer neuen Individualität zu sprechen, obwohl auch in diesem Entwicklungsstadium noch eine Mehrlingsbildung möglich ist.133 Die Möglichkeit der Mehrlingsbildung wird gern als Argument für einen strikten Embryonenschutz ohne jede Ausnahme angeführt, weil die befruchtete Eizelle eben nicht nur ein, sondern möglicherweise sogar mehrere Individuen oder „embryonale Menschen“ repräsentiere. Wir wollen diese Annahme überprüfen, indem wir betrachten, was bei der Präimplantationsdiagnostik im 8-Zell-Stadium geschieht, wenn aus dem kleinen Zellhaufen eine Zelle zu Untersuchungszwecken entfernt wird. Ist die von der übrigen Morula isolierte Zelle als Teil eines Individuums zu betrachten oder liegt ab dem Moment der Trennung wegen ihrer Totipotenz ein weiteres Individuum vor? Und was geschieht, wenn wir einmal annehmen, der handelnde Arzt würde sich anders besinnen und die entnommene Zelle in den Embryo zurückbefördern? Wo bleibt dann das zweite Individuum? Die Pointe dieses Gedankenexperiments besteht darin, dass man im Anfangsstadium der Embryonalentwicklung eben noch nicht von Identität oder Individualität sprechen kann. Was den ontologischen Status der zu Untersuchungszwecken abgetrennten Zelle betrifft, hängt es also ganz von der Handlungsabsicht des Mediziners ab, ob sie als Teil des zu untersuchenden Frühembryos oder aber als weiterer Embryo zu gelten hat. Der ontologische Status von frühen Embryonen in vitro hängt also generell in erheblichem Maße von den Intentionen der handelnden Personen ab.134 Auch zeigt das Gedankenexperiment, weshalb Totipotenz keine hinreichende Bedingung für die Existenz eines menschlichen Individuums und Menschenwürde ist. ————— 133

Vgl. N. Knoepffler, Forschung an menschlichen Embryonen, 45ff. Was den gegen diese Argumentation erhobenen Einwand betrifft, wonach alle nach der Befruchtung liegenden Zäsuren während der Embryonalentwicklung, an denen ein abgestuftes Schutzniveau anknüpfen könnte, willkürlich seien, ist dagegen zu halten, dass das Fehlen eindeutiger biologischer Einschnitte noch kein taugliches Argument dafür abgibt, weshalb der rechtliche Schutz des Embryos nicht in Abhängigkeit vom Fortschreiten der Embryonalentwicklung abgestuft gestaltet werden könnte. Die Rechtsordnung steht vielfach vor der Notwendigkeit, in einer kontinuierlich ablaufenden Entwicklung normative Schwellen festzulegen, in denen sich ein unterschiedliches normatives Schutzniveau manifestiert. Träfe es tatsächlich zu, dass der bloße empirische Befund einer kontinuierlichen Entwicklung jede normative (und letztlich auf einer sozialen Bewertung beruhende) Abstufung einzig und allein deshalb verbietet, weil die rechtliche Abstufung mangels eindeutiger biologischer Kriterien immer auch etwas anders ausfallen könnte, dann wäre eine Formulierung gesetzlicher Fristen ebenso unzulässig wie die Formulierung von Geschäftsfähigkeitsgrenzen. Beispielsweise liegt das Modell eines stufenweise ansteigenden rechtlichen Schutzes in Österreich über weite Strecken auch der geltenden Rechtsordnung zugrunde, insofern nämlich – um nur ein Beispiel herauszugreifen – ein (strafrechtlicher) Schutz des Embryos vor der Nidation mangels ausreichender Schutzwürdigkeit überhaupt fehlt, der Schutz der Leibesfrucht nach der Nidation mit fortschreitender Schwangerschaftsentwicklung schrittweise zunimmt und erst ab der Geburt in den vollen Rechts- und Grundrechtsschutz der „Person“ übergeht. 134

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Unbestimmtheit des Anfangs

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Mit einer dualistischen Abspaltung des Personseins von der Leiblichkeit hat die These von der Unbestimmtheit bzw. Unbestimmbarkeit des Anfangs ebenso wenig zu tun wie mit einem monistischen Biologismus oder einem „moralischen Fehlschluss“. Das Abstellen auf Identitäts- und Kontinuitätsargumente läuft vielmehr selbst auf einen naturalistischen Fehlschluss hinaus, weil dabei vernachlässigt wird, dass sich befruchtete Eizellen außerhalb des Mutterleibes gar nicht zu einem Menschen entwickeln können und weil die einzig feststellbare Identitätsbeziehung zwischen einem frühen Embryo und dem geborenen Menschen in der Identität seines Genoms besteht. Die Gefahr des Biologismus lauert gerade in Stellungnahmen der katholischen Kirche und der EKD zu Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik, und zwar ironischerweise deshalb, weil sie das Thema der Beseelung, das doch für die klassische theologische Anthropologie entscheidend war, ausklammern. Das ist auch das Problem ihrer philosophischen Sekundanten, die wie Robert Spaemann scharfsinnig argumentieren, ein Etwas könne nicht zu einem Jemand werden.135 Die vormoderne katholische Theologie wusste das doch auch und antwortete mit der Idee der Sukzessivbeseelung. Auch andere Beseelungstheorien, die zum Beispiel von der altprotestantischen Orthodoxie vertreten wurden, erlaubten es der vormodernen Theologie, den Unterschied zwischen der biologischen und der schöpfungstheologischen Dimension der Menschwerdung zu wahren. Heute möchte man die Beseelung mit der Befruchtung oder der Kernverschmelzung, das heißt die biologische mit der schöpfungstheologischen Dimension zusammenfallen lassen. Aber das muss schon deshalb zwangsläufig zu Konfusionen führen, weil embryologisch betrachtet keineswegs bereits mit dem Entstehen eines neuen Genoms ein neues Individuum existiert. Theologisch gesprochen manifestiert sich in der Unbestimmtheit des Lebensanfangs das Geheimnis der menschlichen Person.136 Ihr transzendenter Ursprung fällt nicht mit einem zeitlichen Anfang zusammen. Zwar gehört nach biblischer Auffassung die Leiblichkeit konstitutiv zum Menschsein, und die leibliche Existenz des Menschen ist eine geschichtliche, d.h. eine den Körper, seine Entwicklung und seine Veränderungen einschließender Prozess. Die menschliche Personalität lässt sich aber nicht mit den Mitteln des naturwissenschaftlich-kausalen Denkens erfassen, sondern bleibt gegenüber dieser Ebene der Weltdeutung und des Weltumgangs transzendental.137 Ihre Geburtlichkeit fällt weder mit der Zeugung noch mit der Geburt ————— 135

R. Spaemann, Personen, bes. 252ff. Vgl. dazu die Denkschrift der Evangelischen Kirche A. u. H.B. in Österreich „Verantwortung für das Leben“, Abschnitt 4. Siehe ferner U. Körtner, Unverfügbarkeit, 103ff. 137 Darin stimme ich Johannes Fischer ausdrücklich zu. Vgl. J. Fischer, Forschung mit embryonalen Stammzellen, 113. 136

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Leiblichkeit und Geburtlichkeit der Person

zusammen, gelangt doch der Mensch nach neutestamentlichem Zeugnis erst dann zu seiner Bestimmung, wenn er neu geboren wird aus dem göttlichen Geist (Joh 3,5–8).

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3 Phänomenologie der Geschöpflichkeit

3.1 Empfänglichkeit Nach einer gewichtigen philosophischen Tradition, die schon im 1. Kapitel ausführlich erörtert wurde, ist es die praktische, d.h. im moralisch reflektierten Handeln sich zeigende Vernunft, die den Menschen kennzeichnet und auszeichnet. Genauer gesagt: Im Handeln bestimmt der Mensch sich selbst. Die Auffassung, wonach Menschsein gleichbedeutend mit Tätigsein ist, hat auch in der Theologie Einzug gehalten, so z.B. bei Karl Barth. „Denn der Mensch“, lautet Barths grundsätzliche Feststellung, „existiert als Person, indem er handelt“1. Anders ausgedrückt: „Als Mensch existieren heißt ja handeln. Und Handeln heißt wählen, heißt sich entscheiden.“2 Bei Barth ist darum – ähnlich wie z.B. im Existentialismus – die Anthropologie unmittelbar mit der Ethik verschränkt. Existieren heißt nach Barth „also ethisch existieren“3. Folgerichtig interpretiert Barth unsere Existenz phänomenologisch als Akt, dessen autonomes Subjekt der Mensch ist. Freilich versteht Barth den Menschen doch auch als Geschöpf Gottes, das sein Leben sich nicht selbst gegeben, sondern empfangen hat. Im Blick darauf, dass der Mensch sich selbst gegeben ist, spricht Barth von „reiner Rezeptivität“4. Sie charakterisiert nicht nur das natürliche Dasein des Menschen, sondern auch seine Erlösung und den Empfang der göttlichen Gnade. Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel sprechen von der Grundpassivität des Menschen5, zu der gehört, dass wir ohne unser Zutun geboren werden und sterben müssen. Bei Friedrich Schleiermacher heißt diese Grundpassivität „schlechthinnige Abhängigkeit“6. Sie unterscheide sich kategorial von allen sonstigen Abhängigkeiten, dass sie überhaupt die Bedingung unseres Daseins ist. Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit – gemeint ist das intuitive Bewusstsein derselben – setzt Schleiermacher mit dem Gottesbewusst-

————— 1

K. Barth, KD II/2, 572; vgl. ders., KD III/2, 109ff.216. KD II/2, 594. 3 KD III/2, 108. 4 A.a.O., 207. 5 Vgl. E. Jüngel, Tod, 116. G. Ebeling, Luther, 177 spricht von der unser „Sein konstituierende[n] Passivität“. 6 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube I, 23ff (§ 4). 2

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Phänomenologie der Geschöpflichkeit

sein gleich. „Gott“ ist nach Schleiermacher der Name für das Woher unserer schlechthinnigen Abhängigkeit. Reine Rezeptivität oder Passivität zeigt sich nicht nur an den Grenzen des Lebens7, sondern auch mitten im Leben. Alle Menschen sind auf Liebe und Vergebung angewiesen. Wohl können wir andere lieben oder ihnen verzeihen, und in gewisser Hinsicht können wir uns auch selbst lieben oder verzeihen. Aber die Liebe des Anderen zu mir oder die Vergebung des Anderen, derer ich bedarf, kann ich mir selbst nicht verschaffen. Sie lässt sich nicht erzwingen, sondern kann allenfalls erbeten und als rein kontingentes Widerfahrnis empfangen werden. Erst recht gilt dies für die Beziehung des Menschen zu Gott, besteht doch zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf ein prinzipiell asymmetrisches Verhältnis, auch dann, wenn man in biblischer Tradition vom Menschen als Partner Gottes spricht, wie es Karl Barth tut.8 Denn der Grund dieser Partnerschaft liegt in der freien Gnadenwahl Gottes, der den Menschen als seinen Partner erschaffen und ihn zu seinem Partner bestimmt hat. Insofern ist aber doch die These, der Mensch existiere als Person, indem er handle, korrekturbedürftig. Zumindest existiert der Mensch nicht ausschließlich, indem er handelt. Das gilt nicht nur im Blick auf die Gottesrelation des Menschen, sondern es gilt auch für sein In-der-Welt-Sein als solches, d.h. auch dann, wenn dieses nicht als Sein von Gott her verstanden wird, wie es der christliche Glaube tut. Die menschliche Grundpassivität zeigt sich nämlich schon in (all)täglichen, in der philosophischen wie in der theologischen Debatte zumeist vernachlässigten Lebensvorgängen, ohne welche der Mensch nicht zu existieren vermag, die sich aber weder in der Kategorie des Aktiven noch derjenigen des Passiven begrifflich fassen lassen. Insofern ist der Begriff der Grundpassivität sogar irreführend, weil er antithetisch auf denjenigen der Aktivität bezogen ist. Schleiermachers Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit verdient unter diesem Gesichtspunkt den Vorzug.

3.2 Wachen und Schlafen Bei den angesprochenen Lebensvollzügen handelt es sich um Vorgänge, die einem Subjekt zuzuschreiben sind, ohne – wie es der Begriff der Handlung voraussetzt – Selektionsakte zu sein. Sie werden sprachlich durch aktive Verbformen ausgedrückt, ohne dass durch sie eine wirkliche Handlung, ein intentionaler Selektionsakt beschrieben würde. Andererseits handelt es sich ————— 7 8

Hierauf konzentriert sich die Analyse bei Ebeling und Jüngel. KD III/2, 242ff (§ 45). Vgl. dazu W. Krötke, Gott und Mensch als „Partner“.

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Wachen und Schlafen

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um Lebensvollzüge von als Subjekt benannten Personen, also nicht um subjektlose Vorgänge. Analog zu Handlungen werden sie durch aktive Verbformen einer Person zugeschrieben. Dass es sich gleichwohl nicht um wirkliche Handlungen handelt, wird auf der semantischen Ebene dadurch angezeigt, dass anstelle personaler Wendungen neutrische Formulierungen treten können, wie auch dadurch, dass manche dieser Lebensvollzüge nicht in der 1. Person singular oder plural Indikativ Präsens ausgesagt werden können. Wir wollen einige Beispiele näher untersuchen. Zu den angesprochenen Lebensvollzügen jenseits von menschlicher Aktivität und Passivität gehört das Schlafen.9 Gegen die These, der Mensch existiere ausschließlich, indem er handle, ist einzuwenden: Der Mensch existiert auch, wenn er schläft. Schlafend existiert er immerhin acht oder gar mehr Stunden am Tage! Diese Lebenszeit und damit ein erheblicher Teil menschlichen Daseins wird ausgeblendet, wenn man das Menschsein nur nach seiner Aktivität bemisst. Umgekehrt ist der Schlaf eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass der Mensch überhaupt handeln kann. Eine Person, die nicht ausgeschlafen oder völlig übernächtigt ist, ist, wie jeder weiß, nur noch bedingt oder gar nicht mehr entscheidungs- und handlungsfähig.10 Sprachlich fällt auf, dass man von sich selbst das Schlafen zwar aktivisch, jedoch niemals in der 1. Person Singular Präsens aussagen kann. Der Satz: „Ich schlafe zur Zeit“, ist vielleicht eine scherzhafte Behauptung, kaum aber eine sinnvolle Proposition. Wer umgekehrt jemanden, von dem er nicht sicher ist, ob er schläft, fragt: „Schläfst du?“, wird im Ernst ja wohl nicht als Antwort ein Ja erwarten. Über unseren eigenen Schlaf können wir im Präsens stets nur in der Verneinung, sonst aber nur imperfektisch, futurisch, optavisch oder konjunktivisch sprechen. Wenn also der Schlaf keine Handlung ist, so ist er darum doch kein subjektloser naturhafter Vorgang. Er wird nicht nur einem anderen Menschen prädikativ zugesprochen, sondern auch von diesem selbst als ihm eigener Lebensvollzug verstanden. Das Schlafen ist nämlich, solange der Schlaf noch nicht eingetreten ist, durchaus Gegenstand des Wollens oder Wünschens. Wir können vom Schlafen als von etwas sprechen, das wir tun möchten, ohne dass der Vollzug des Schlafens selbst eine wirkliche Handlung ist. Es ist aber auch nicht das Resultat einer Handlung, können wir doch das Einschlafen nicht erzwingen, sondern bestenfalls durch geeignete Mittel stimulieren. Der Schlaf wird nicht durch einen Akt der Entscheidung bewirkt, sondern „tritt ein“, wie wir sagen. Die mit dem Einschlafen ver————— 9 Zur religionsgeschichtlichen Sicht des Schlafes vgl. G. Lanczkowski, Art. Schlaf; G. Ahn, Art. Schlaf. 10 Vgl. S. Coren, Die unausgeschlafene Gesellschaft.

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Phänomenologie der Geschöpflichkeit

bundene Passivität wird durch entsprechende Metaphern ausgedrückt, die davon sprechen, dass wir „vom Schlaf übermannt“ werden (passive Wendung!) oder „in tiefen Schlaf fallen“ (das Fallen ist keine Handlung, sondern ein Widerfahrnis). Ein mit dem Schlaf nicht selten verbundener Lebensvollzug ist das Träumen.11 Auch dies kann, wenn nicht im uneigentlichen Sinne der Tagträume oder des Ausmalens künftiger Ereignisse, selbstreflexiv nicht im Präsens ausgesagt werden. Dass der Traum nicht eigentlich eine Handlung ist, bringt unsere Sprache zum Ausdruck, die feinsinnig davon reden kann, dass es uns geträumt hat. Wiewohl der Traum ein höchst individuelles Erlebnis ist, bleibt es ein Widerfahrnis. Träume lassen sich durch geeignete Mittel (z.B. Drogen) stimulieren, nicht aber durch einen Willensakt hervorrufen. Das Träumen ist kein Selektionsakt, gleichwohl aber ein personales Geschehen. Gerade der Schlaf macht deutlich, dass der Mensch keineswegs nur existiert, indem er handelt. Umgekehrt aber kann der Mensch nur handeln, indem er existiert. Und dafür ist der Schlaf als Regenerationsphase eine lebenswichtige Voraussetzung. Der Schlaf ist freilich keine hinreichende oder gar notwendige Bedingung menschlichen Handelns. Im Gegenteil sind ja alle Handlungsmöglichkeiten während des Schlafens ausgeschlossen. Sich im Schlaf herumzudrehen, zu sprechen (oder zu schnarchen), gar schlaf zu wandeln sind keine bewussten, intentionalen Wahlakte, per definitionem also keine Handlungen. In der Religionsgeschichte ist daher die Vorstellung verbreitet, dass im Schlaf die Seele, das Zentrum der handlungsfähigen Person, den Körper verlasse. Der Schlaf ist eine tägliche Erfahrung der Endlichkeit. In der griechischen Antike ist Hypnos, der Gott des Schlafes, bekanntlich der Zwillingsbruder des Todesgottes Thanatos. Wo die Vorstellung vom Entweichen der Seele aus dem Körper beim Eintritt des Schlafes herrscht, schwebt der Schlafende in höchster Gefahr. Er könnte so plötzlich geweckt werden, dass die Seele nicht rechtzeitig zurückkehren kann; dann müsste der aus dem Schlaf Gerissene unweigerlich sterben. Lebensgefahr besteht nach einer bei Naturvölkern vertretenen Vorstellung auch, wenn die Lage oder das Äußere des Schlafenden so verändert wird, dass seine Seele den Körper nicht wiederfindet oder vor ihm zurückschreckt.12 Religiös gesprochen ist es darum eine Gnade, ungestört schlafen und gesund und neu zu Kräften gekommen vom Schlaf aufzustehen. Ps 127,2 ————— 11 Zur Traumforschung und religiösen Traumdeutung siehe Th. Wagner-Simon/G. Benedetti (Hg.), Traum und Träumen. Zur Leiblichkeit des Traumzustandes vgl. H. Schmitz, System der Philosophie II/1, 195–199. 12 Vgl. G. Lanczkowski, Art. Schlaf, Sp. 1418.

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Lebensvollzüge und Lebensführung

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betrachtet den ungestörten Schlaf als eine Gabe Gottes.13 Kulturgeschichtlich gesehen ist der Tiefschlaf, worauf H. Blumenberg aufmerksam macht, eine Errungenschaft des Höhlenmenschen. „Sowohl der Urwald als auch die Savanne sind Gegenden diffuser Aufmerksamkeit, der gedämpften Wachsamkeit noch im Schlaf. [...] Im Schutz der Höhlen beginnt der Frühmensch mit einer neuen Form des Schlafs, dem geborgenen Tiefschlaf, einer Kulturform des Schlafes, den sich kein anderes ‚feindbezogenes‘ Lebewesen leisten kann.“14

Handlungstheoretisch betrachtet ist der Schlaf keine Handlung, sondern eine lebensnotwendige Unterbrechung unseres Tätigseins. Notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung menschlichen Handelns ist dagegen das Wachsein. Menschliches Leben vollzieht sich grundlegend im Wechsel zwischen Wachen und Schlafen.15 Aber auch das Wachsein ist ja keine Handlung. Wir sind es vielmehr oder sind es nicht. Ebenso wenig wie wir auf Grund einer Wahl den Schlaf herbeiführen können, können wir uns für das Erwachen und das anschließende Wachsein entscheiden. Wer schläft kann sich nicht selber wecken.

3.3 Lebensvollzüge und Lebensführung Weitere Lebensvollzüge, die die Existenz eines Menschen mit ausmachen, ohne doch Handlungen zu sein, sind das gewöhnliche Atmen (man kann freilich die Atmung auch bewusst steuern), unsere Triebe und Affekte. Nur eine künstliche Trennung kann sie vom eigentlichen Selbst abspalten. Sie sind aber auch nicht dadurch zu beseitigen, dass sie vom denkenden Subjekt vollständig in Handlungen überführt werden könnten. Man nehme nur den Hunger oder den Durst als Beispiel, von denen wir wie vom Träumen neutrisch sagen können, dass es uns hungert oder dürstet. Ebenfalls keine Handlungen, gleichwohl wesentliche Konstitutionsbedingungen menschlicher Existenz sind die Stimmungen. Seit Kierkegaard ist vor allem die Stimmung der Angst vielfältig beschrieben und analysiert worden. Zum

————— 13 Luther übersetzt: „Seinen Freunden gibt er [der Herr] es im Schlaf.“ Wörtlich aber heißt es: „Seinen Freunden gibt Jahwe Schlaf“! Zu einer Theologie des Schlafes siehe auch U. Körtner, Liebe, Schlaf und Tod. 14 H. Blumenberg, Höhlenausgänge, 27f. Siehe auch R. Bilz, Paläoanthropologie I, 181f, der die Vermutung äußert, der Selektivschlaf der Ammen sei ein Rest eines objektbezogenen wachsamen Schlafes. Die phylogenetisch dem Höhlenschlaf vorausliegende Disposition kehre auch dann wieder, wenn jemand, wie wir sagen, „vor Sorgen nicht schlafen kann“. 15 Zum Vorgang des Erwachens vgl. H. Schmitz, System der Philosophie II/1, 211–217.

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Phänomenologie der Geschöpflichkeit

Menschsein gehören aber auch die Hoffnung, die Freude, das Gefühl des Glücks oder ekstatische Erlebnisse.16 Einen weiteren Bereich der sogenannten Grundpassivität oder Rezeptivität des Menschseins bilden die sinnlichen Wahrnehmungen. Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, das alles sind Lebensvollzüge, ohne die kein Mensch handlungsfähig wäre, die selbst aber keine Handlungen darstellen. Sinneseindrücke sind andererseits aber auch nicht, wie das Wort „Eindruck“ nahelegt, bloße Formen des Erleidens. Die Sprache wechselt auch in diesen Fällen zwischen aktivischen und neutrischen Wendungen: „Ich friere“ – „mich friert“. Die bisher angeführten Lebensvollzüge unterscheiden sich deutlich von kontingenten Vorgängen anderer Art wie denjenigen des Fallens, Umfallens, Stolperns, Stürzens, Anstoßens. Bei diesen handelt es sich um Vorgänge oder Widerfahrnisse akzidentieller Art. Sie können gelegentlich vorkommen, müssen es aber nicht notwendigerweise. Anders dagegen die zuvor untersuchten Lebensvollzüge. Sie sind dem menschlichen Dasein wesentlich. Ohne sie gibt es keine menschliche Existenz und somit keine Subjekte möglicher Handlungen. Die von uns so genannten Lebensvollzüge sind, wie gesehen, zwar keine Handlungen. Wohl aber können wir uns zu ihnen handelnd verhalten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Nicht-Handlungen der angesprochenen Lebensvollzüge vollständig in Handlungen überführen lassen. Wäre dies möglich, so würde sich der Mensch allerdings durch sein eigenes Handeln konstituieren und somit zum Schöpfer seiner selbst. Dies aber ist eine Illusion, welche das neuzeitliche Weltverhältnis auf das Selbstverhältnis überträgt. Kierkegaard hat das menschliche Dasein beschrieben als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. In dieses dialektische Selbstverhältnis ist der Leib einbezogen, damit aber wachen und schlafen, hungern und dürsten, sich ängstigen und freuen, schmecken und fühlen, hören, sehen und riechen. Diese Lebensvollzüge können nicht vollständig, wohl aber teilweise in Handlungen überführt, d.h. vom Subjekt intentional und zweckhaft gewählt werden. Man kann z.B. müde sein und sich doch entscheiden noch eine Weile wach zu bleiben. Man kann sich wachhalten, z.B. wenn man Wache halten muss. Wir können willentlich hungern oder zumindest mit dem Essen warten. Wir können willentlich auf das Trinken verzichten. Wir können ganz allgemein gesprochen Askese üben. Wir können auch versuchen, die Angst zu überwinden oder uns zumindest nicht in sie hineinzusteigern. Wir können willentlich etwas oder jemanden anschauen, können hinsehen und ————— 16 Zu unterschiedlichen Formen der Ekstase vgl. H. Schmitz, System der Philosophie III/1, 166–193 (§ 124).

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Lebensvollzüge und Lebensführung

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beobachten, hinhören, aufmerksam lauschen oder zuhören. Wir können willentlich riechen oder etwas abschmecken, etwas berühren und abtasten. Wir können uns warm anziehen oder Kühlung verschaffen. Indem solchermaßen die angesprochenen Lebensvollzüge zum Gegenstand von Handlungen werden, werden sie auch zum moralischen Problem und somit zum Thema unserer bewussten Lebensführung. Wer sich beispielsweise übermüdet hinter das Lenkrad seines Fahrzeugs setzt und einen Unfall verursacht, macht sich schuldig. Das bewusste Verhältnis zu unseren grundlegenden Lebensvollzügen ist unter Umständen mithin auch eine Frage des Rechts. Wer sich als Wachhabender nicht wachzuhalten versucht, verletzt seine Pflicht. Wer weiß, dass er demnächst Wache halten muss, hat dafür zu sorgen, dass er zu diesem Zeitpunkt ausgeschlafen ist. Auch der Umgang mit der Angst ist insofern eine moralische Frage, als Angst nicht zur Feigheit führen darf. Und schließlich ist auch die Triebbefriedigung einer moralischen Bewertung zugänglich. Das gilt nicht etwa nur für den Sexualtrieb, sondern auch für Hunger und Durst, wo nicht nur das Ob, sondern auch das Was ein Gegenstand moralischer Reflexion sein kann, die bis zu der sozialen Dimension der Sattheit der Reichen und des Hungers der Armen reicht. Der moralischen Beurteilung zugänglich ist ferner unsere sinnliche Wahrnehmung, gibt es doch das verantwortungslose Wegschauen und Überhören ebenso wie das schamlose Hinsehen, den Voyeurismus oder die Sensationslust. Auch wenn somit die grundlegenden Lebensvollzüge zum Gegenstand der Ethik werden, lassen sie sich doch nicht vollständig in Handlungen überführen. Menschsein und menschliches Leben sind eben nicht mit autonomer Lebensführung identisch, sondern umfassen neben unseren Handlungen auch die konstitutiven Lebensvollzüge, in denen wir uns immer schon vorfinden. Wir können zwar in bestimmten Fällen willentlich hinschauen oder wegsehen, aber das Sehen nicht an sich aufgeben, ebenso wenig wie das Hören oder das Atmen. Wir können die Triebbefriedigung hinauszögern oder unsere Triebe umgekehrt prophylaktisch befriedigen, sie aber nicht dauerhaft abstellen. Wir können die Zeiten des Schlafens und Wachseins beeinflussen, den grundlegenden Lebensrhythmus von Schlafen und Wachen aber weder hervorrufen noch unterbinden. Dass sich die unseren grundlegenden Lebensvollzügen innewohnende Grundpassivität nicht gänzlich in unser Handeln überführen lässt, gilt nun aber auch von unserem Geborensein, unserem Leiden und unserer Mortalität. Es gibt eine Interpretation, wonach selbst das Leiden und Sterben als Wahlakte des Menschen verstehbar seien.17 In der Tat können wir, selbst ————— 17 So z.B. K. Rahner, Theologie des Todes, 36ff im Anschluss an M. Heideggers Deutung des Todes in „Sein und Zeit“.

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Phänomenologie der Geschöpflichkeit

noch als Todkranke, uns zu beidem verhalten. Wir können freiwillig leiden, das Leiden bejahen, eine Krankheit erdulden, eine unheilbare Krankheit annehmen, wobei im Umgang mit Leiden und Krankheit eine Fülle von Entscheidungen (z.B. medizinischer Art) zu treffen sind. Das Leiden ist eine Tat, wo es Menschen willentlich auf sich nehmen. Dessen ungeachtet kann das Leiden aber auch ein ausschließliches Widerfahrnis sein, zumal dort, wo das Bewusstsein eingeschränkt, teilweise oder gar vollständig ausgeschaltet ist. Auch das Sterben kann eine menschliche Tat sein, sei es, dass es bejaht, sei es, dass es willentlich herbeigeführt wird. Aber im Vorgang des Sterbens selbst – und das gilt auch für die Selbsttötung – ist dieses zumeist ein reines Erleiden. Erstaunlicherweise wird viel über das Sein des Menschen zum Tode, aber nur wenig über sein Sein von der Geburt her nachgedacht, das Gegenstand des vorigen Kapitels war. Zwar sind, wie das Sterben, auch Zeugung und Geburt immer mehr in die Verfügungsgewalt des Menschen geraten. Seine eigene Geburtlichkeit ist jedem Menschen jedoch gänzlich entzogen. Anders als unseren Tod können wir unsere eigene Geburt nicht herbeiführen. Sie ist niemals als Tat eines Subjekts beschreibbar, sondern liegt im Moment, wo sich das Subjekt seiner selbst als eines Handlungsträgers bewusst wird, längst schon als einmaliges und unwiderrufliches Ereignis zurück. Das Geborensein ist durch keine Tat des Menschen reproduzierbar. Im Blick auf den Anfang des je eigenen Lebens ist noch deutlicher als im Blick auf dessen Ende eine Grundpassivität erkennbar, die jedes aktive Moment ausschließt. Gleichwohl haben wir uns auch zu unserer Geburtlichkeit zu verhalten, ohne sie nachträglich zu einer Handlung machen zu können. Wir feiern beispielsweise unseren Geburtstag und messen die Länge unseres Lebens, indem wir die Jahre seit unserer Geburt zählen. Wir können uns mit unserer Herkunft auseinandersetzen. Unser Verhalten den Eltern gegenüber ist schließlich eine Weise, sich zur eigenen Nativität zu verhalten, durch welche diese eine soziale Dimension gewinnt. Das Dass unseres Daseins aber bleibt unserem Handeln entzogen. Das gilt ohne Einschränkung, wie wir uns vergegenwärtigt haben, von unserer Geburtlichkeit. Es trifft aber ebenso auf unsere Sterblichkeit zu, die auch durch eine Selbsttötung nicht herbeigeführt, sondern lediglich vollendet bzw. beendet wird. Dasein ist Geborensein, das in Gewesensein überführt wird. Das Gewesensein aber ist durch keine Tat begründbar und vor allem durch keine Tat aufhebbar. Insofern die Grundpassivität des Menschen die Alternative von Aktivität und Passivität übersteigt, sollte der Begriff durch einen weniger missverständlichen ersetzt werden. Aber auch der von Barth verwendete Begriff der reinen Rezeptivität bedarf einer Modifizierung, insofern unsere phänome-

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Eschatologische Geschöpflichkeit

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nologische Analyse gezeigt hat, dass der Mensch eben nicht nur, wie Barth meint, existiert indem er handelt. Das Wesen reiner Rezeptivität, wie es sich uns anhand der untersuchten Lebensvollzüge dargestellt hat, lässt sich vielleicht am besten als Gegebensein bestimmen, wobei dieser Begriff freilich die Frage nach dem Geber aufwirft und darum eher ein theologischer als ein philosophischer ist. Dasein heißt Gegebensein. Das Dasein ist, indem es sich selbst gegeben ist. Alles Handeln aber setzt solches Sichselbst-Gegebensein voraus. Im Handeln verhält der Mensch sich zu sich selbst. Dass er sich zu sich selbst verhalten kann, setzt voraus, dass er sich selbst gegeben ist.

3.4 Eschatologische Geschöpflichkeit Theologisch wird die reine Rezeptivität des Menschen, sein Gegebensein, sowohl in der Schöpfungs- und Erhaltungslehre als auch in der Rechtfertigungslehre reflektiert. Wie in ihrem Rahmen Gott als das Vonwoher reiner Rezeptivität zu denken ist, kann hier nicht weiter erörtert werden.18 Wir wollen zum Abschluss vielmehr fragen, auf welche Weise die Rechtfertigungslehre das Gegebensein menschlichen Daseins und damit die Konstitutionsbedingungen menschlichen Handelns zur Sprache bringt. Qualifiziert die Schöpfungslehre den Menschen als Geschöpf Gottes, so die Rechtfertigungslehre als eine neue Schöpfung.19 Auch diese ist durch Geburtlichkeit und Tod gekennzeichnet. Bemerkenswerterweise aber kehrt die Rechtfertigungslehre deren unserer Erfahrung zugängliches Gefälle um. Die neue oder auch eschatologische Geschöpflichkeit des gerechtfertigten Sünders zeichnet sich dadurch aus, dass bei ihr die mortificatio der vivificatio vorausgeht. Paulus drückt die Mortalität eschatologischer Existenz durch seine Erklärung aus, wonach in Christus der sündige Mensch der Sünde und dem Gesetz gestorben sei.20 Der Tod kann für Paulus aber nur deshalb eine Deutekategorie des Rechtfertigungsgeschehens sein, weil er ihn als reines Erleiden auffasst. Paulus appelliert gerade nicht an den Sünder, er selbst solle sich töten, seine Begierden oder die Sünde in sich zum Absterben bringen, sondern konfrontiert den Glaubenden21 mit seiner eschatologischen Mortalität, die darin besteht, dass er ein für allemal der Sünde bereits gestorben ist.22 Anders als die geschöpfliche Mortalität besteht die eschatolo————— 18

Siehe dazu U. Körtner, Der verborgene Gott, 117–141, bes. 138ff. Vgl. 2Kor 5,17. 20 Vgl. Röm 5–7. 21 Die Glaubenden sind aber nach Röm 6,3f die Getauften, und zwar die auf den Tod Christi Getauften. 22 Vgl. Röm 6,10f. 19

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Phänomenologie der Geschöpflichkeit

gische also nicht im Tod als einer noch ausstehenden Möglichkeit, sondern als einem soteriologischen Faktum. Dieses aber ist dem Glaubenden ausschließlich gegeben und somit seinem Handeln entzogen. Nur unter dieser Voraussetzung ist die eschatologische Existenz nach Paulus nicht nur ein Sein vom Tode her, sondern wie das geschöpfliche Dasein ein solches zum Tode hin. Die etwa in Röm 8,13 geforderte Tötung der sündigen Existenz ist nicht die Bedingung des Heils, sondern lediglich die Realisierung des bereits eingetretenen Todes innerhalb der Zeitlichkeit menschlicher Existenz. Dementsprechend werden Krankheit und Leiden nicht, wie sonst üblich, als Vorboten des bevorstehenden Todes, sondern als Auswirkungen des bereits eingetretenen, nämlich in Christus eingetretenen Todes gedeutet.23 Wie wenig aber die eschatologische Existenz als Tat des Menschen aufgefasst werden kann, erhellt daraus, dass die Mortalität des gerechtfertigten Sünders mit seiner eschatologischen Nativität zusammenfällt. Ihr neutestamentlicher Begriff ist derjenige der Wiedergeburt, der vor allem im johanneischen Schrifttum verwendet wird.24 Das neue Geschöpf, von dem Paulus 2Kor 5,17 spricht, tritt durch eine neue Geburt in die Welt, welche sachlich mit seinem Sterben in Christus zusammenfällt. Eben darum ist die Taufe sowohl Symbol des eschatologischen Todes wie auch der eschatologischen Wiedergeburt.25 Die neutestamentliche Rede von der Geburtlichkeit eschatologischer Existenz unterstreicht vollends, dass jedes menschliche Handeln als Konstitutionsbedingung gerechtfertigten Daseins ausgeschlossen ist. Der gerechtfertigte Sünder kann und muss sich sogar zu seiner Wiedergeburt wie zu seinem eschatologischen Tod verhalten, wie die neutestamentlichen Paränesen bewusst machen.26 Doch seine Erlösung, d.h. seine gerechtfertigte Existenz ist dem Glaubenden schlicht gegeben. Aus Glauben leben27 heißt darum, sich selbst als gerechtfertigt gegeben sein. Es bedeutet aber weder durch sich selbst gegeben, noch durch sich selbst gerechtfertigt zu sein. Eben darum ist zur Beschreibung des sich selbst als gerechtfertigt Gegebenseins vom Handeln Gottes als des Gebers zu sprechen, und zwar, wie unsere Beobachtungen zur eschatologischen Mortalität und Nativität gezeigt haben, exklusiv.

————— 23

Vgl. 2Kor 4,10–12. Vgl. Joh 3,3–7; dazu Joh 1,13; 1Joh 3,1ff; 5,1–5. Siehe auch 1Petr 1,3. 25 Vgl. einerseits Röm 6, andererseits Joh 3,3–7; 1Joh 5,6ff. 26 Für unsere Frage nach Phänomenen menschlicher Grundpassivität ist es bemerkenswert, dass Luther unter theologischem Gesichtspunkt das Schlafen zu den guten Werken rechnen kann! Vgl. M. Luther, Sermon von den guten Werken (1520), WA 6, 205. 27 Zur Formulierung vgl. Röm 1,17; Gal 3,11 im Anschluss an Hab 2,4. 24

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4 Leibsorge und Seelsorge

4.1 Krankheit, Kultur und Religion Die Kulturgeschichte von Krankheit und Gesundheit ist bis in die Moderne weitgehend auch Religionsgeschichte.1 Erst die naturwissenschaftlich begründete moderne Medizin führt zu einer Trennung von Medizin und Religion, damit aber auch von Heil und Heilung, sofern nicht die Aufwertung der Gesundheit zum höchsten Gut ihrerseits als neue Form von Religion und Transzendenzsuche im Diesseits einer Gesellschaft verstanden werden muss, die unter Transzendenzverlust leidet. Aber auch bei den unterschiedlichen Spielarten einer Alternativ- oder Ganzheitsmedizin, die sich gegen das technokratische Denken der sogenannten Schulmedizin richtet, sind die religiösen Konnotationen unübersehbar. Inzwischen beginnt man sich aber auch in der medizinischen Wissenschaft wieder für die religiöse Dimension von Krankheit und Gesundheit zu interessieren. Es gibt eine Reihe von Studien zu Religiosität und Gesundheit, in denen zum Beispiel die therapeutische Wirkung von Gebeten untersucht wird.2 Generell wird unterstellt, dass die persönliche Religiosität oder Spiritualität einen positiven Einfluss auf den Therapieverlauf bzw. auf die Bewältigung einer Krankheit und auch den Prozess des Sterbens hat. Namentlich die Palliativmedizin bzw. ein ganzheitliches Konzept von Palliative Care rechnet die Sorge um die spirituellen Bedürfnisse des Patienten neben den physischen, psychischen und sozialen Aspekten zu den integralen Bestandteilen des helfenden Handelns. Auch Konzepte einer interkulturellen Medizin und Pflege schließen die Berücksichtigung der religiösen oder spirituellen Bedürfnisse und Überzeugungen der Patienten ein. Kultursensible Pflege ist immer auch religionssensible Medizin und Pflege.3 Diese berücksichtigt die soziokulturell und religiös z.T. sehr unterschiedlichen Sichtweisen von Körper, Geist und Seele (z.B. westliches Personkonzept/Menschenbild in asiatischen Religionen), des Verhältnisses von Mensch und Natur (Mikrokosmos/Makrokosmos), von Krankheit, Gesundheit, Behinderung und ihren Ursachen ————— 1 Das folgende Kapitel entspricht mit einer geringfügigen Erweiterung meinem Aufsatz „Spiritualität, Religion und Kultur – eine begriffliche Annäherung“. 2 Vgl. in diesem Kapitel Anm. 42f. 3 Vgl. dazu ausführlich U. Körtner, Pflegeethik, 103ff.

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Leibsorge und Seelsorge

(insbesondere von psychischen Erkrankungen). Unterschiede zeigen sich in Fragen der Ernährung, in der Sichtweise von Sexualität, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch und Geburt, im Verhältnis der Geschlechter, bei der Verhältnisbestimmung von Individuum und Gemeinschaft, z.B. wenn es darum geht, welche Rolle Familienangehörige (Familienoberhaupt) bei medizinischen Entscheidungen spielen. Westliche „Schulmedizin“ steht neben traditioneller Ethnomedizin (z.B. Schamanismus, Traditionelle Chinesische Medizin) sowie den davon teilweise beeinflussten Spielarten einer „alternativen“ oder „komplementären“ Medizin. Die Grenzen zwischen Komplementärmedizin und neureligiöser Esoterik sind teilweise fließend. Patienten, Patientinnen und ihre Angehörigen brauchen unter Umständen nicht nur psychologischen, sondern auch seelsorgerlichen Beistand. Die Kooperation mit der Krankenhausseelsorge – nicht nur mit Vertretern und Vertreterinnen der christlichen Kirchen, sondern auch anderer Religionsgemeinschaften – gehört zu einem guten therapeutischen und pflegerischen Prozess. Heilung und Gesundung haben auch mit der religiösen Frage nach dem Heil zu tun, ohne dass sich hierfür die Pflegenden selbst zuständig fühlen müssen. Eine gute Pflege stellt sich aber auch die Frage, wie den religiösen Bedürfnissen der Patienten und Patientinnen im medizinischen und im pflegerischen Handeln Raum gegeben wird. 1995 nahm die Weltgesundheitsorganisation den Komplex „spirituality/religion/personal beliefs“ als eigenen Bereich in ihren Fragebogen zur Erhebung von gesundheitsbezogener Lebensqualität auf, weil ihn viele Patienten für wichtig halten.4 Kulturelle und religiöse Prägungen können das Auftreten von Krankheiten beeinflussen. Als Beispiel sei das gehäufte Auftreten von genetisch bedingten Stoffwechselerkrankungen als Folge einer religiös tolerierten oder gar geförderten Konsanguinität erwähnt. Um so mehr stellt sich die Frage, welchen Beitrag Religionsgemeinschaften und ihre Repräsentanten zur Förderung der „Compliance“ bei Migranten leisten können.5 Was ihre Integration in den westlichen Medizinbetrieb erschwert, sind bisweilen Unkenntnis und Vorurteile gegenüber fremden Religionen auf Seiten von Ärzten und Pflegekräften. Freilich gibt es „den“ muslimischen Patienten ebenso wenig wie „den“ christlichen oder buddhistischen Patienten. Schwierigkeiten, sich zum Beispiel den Gegebenheiten in österreichischen Krankenhäusern anzupassen, haben eher kulturelle als religiöse Ursachen. So sehr Religion auch ein Bestandteil der Kultur ist, muss doch zwischen Religion und Kultur unterschieden werden. ————— 4

WHO-Fragebogen WHOQOL-100. Vgl. dazu F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 121ff; U. Körtner/F. Aksu/P.J. Scheer, Leidens- und Krankheitsverhalten, 34–41. 5

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Spiritual Care

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Was zum Beispiel Muslime betrifft, so fallen, wie empirische Untersuchungen zeigen, nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in einer krankenhausinternen Öffentlichkeit Vorstellungen von Islam und Migrant häufig zusammen. „Eine mögliche Problemorientiertheit macht sich also eher am Ausländerstatus eines Patienten als an seiner tatsächlichen Religionszugehörigkeit fest. Fast zwangsläufig kann daher auf religiöse Vorschriften wenig Rücksicht genommen werden, weil diese nicht als religionsspezifisch zum Bewusstsein der Verantwortlichen gelangen.“6

Zwar lassen sich spezielle Wünsche bezüglich der Ernährung leicht erfüllen, ohne dass von den Patienten gleich ein religiöses Bekenntnis gefordert wäre. Weitere Forderungen zum Beispiel nach religionsspezifischer Hygiene oder besonderen Pflegewünschen bleiben aber oftmals unberücksichtigt, selbst wenn man ihnen ohne größere Umstände nachkommen könnte. Generell ist zu bedenken, dass ein souveräner Umgang mit Andersgläubigen die Vertrautheit mit der eigenen Religion voraussetzt. Diese lässt sich aber bei vielen Kirchenmitgliedern und auch bei kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. bei Mitarbeitenden in diakonischen Einrichtungen längst nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen. Nicht nur die moderne Gesellschaft, sondern z.B. auch die Kirchen selbst sind von der Pluralisierung in Glaubens- und Lebensfragen erfasst.

4.2 Spiritual Care Medizinethische Probleme bewegen sich auf drei Ebenen: auf der personalen Ebene bzw. der Ebene interaktioneller Beziehungen, z.B. zwischen Arzt und Patient, auf der strukturellen oder institutionellen Ebene, auf der z.B. das Krankenhaus oder das gesamte Gesundheitswesen als Systeme oder Organisationen in den Blick treten, und schließlich auf der kulturellen Ebene, auf der Einstellungen und Werthaltungen, d.h. aber auch weltanschauliche oder religiöse Grundorientierungen angesiedelt sind.7 Diese Grundeinstellungen und Wertvorstellungen prägen sowohl die personale als auch die strukturelle Ebene. Das Thema „Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett“ ist auf allen drei Ebenen angesiedelt. So sehr der einzelne Patient im Mittelpunkt des medizinischen Geschehens und helfenden Handelns steht und stehen soll, so sehr müssen doch die konkreten Orte helfenden und heilenden Handelns, die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen mit ————— 6 7

I. Wunn, Muslimische Patienten, 188f. Vgl. E. Amelung, in: ders. (Hg.), Ethisches Denken, 19–53; D. Ritschl, Theorie, 134.

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Leibsorge und Seelsorge

berücksichtigt werden. Das gilt nicht nur für die Strukturen und Arbeitsbedingungen z.B. in einem Krankenhauses oder Pflegeheim, sondern für das Gesundheitswesen insgesamt. Dem tragen die verschiedenen Konzepte von „spiritual care“ Rechnung, die in den USA und Großbritannien entwickelt worden sind. Inzwischen hat die Diskussion auch den deutschsprachigen Raum erreicht. In ihr geht es auch darum, die Aufgabe und Rolle der Seelsorge im Krankenhaus neu zu bestimmen. Wie Traugott Roser schreibt, besteht die eigentliche Neuerung in der Begründung von Seelsorge „darin, dass nicht mehr allein vom Recht des Patienten auf seelsorgerliche Begleitung als Konkretion der Religionsfreiheit her argumentiert wird, sondern ein institutionelles und nach Kriterien einer Institution (Qualitätsmanagement) zu beschreibendes Interesse angeführt wird, das seinerseits konsequent patientenorientiert ist in dem Sinne, dass die subjektive Zufriedenheit und Lebensqualität von Patienten zentrale Bedeutung für das Verständnis von Qualität haben.“8

„Spiritual care“ ist also als systemischer Begriff zu verstehen, mit dessen Hilfe die Seelsorge der verschiedenen Religionsgemeinschaften organisational in das System Krankenhaus integriert werden soll. Das Konzept der Spiritual Care erfordert allerdings einige begriffliche Klärungen und wirft auch eine Reihe von religionstheoretischen und theologischen Fragen auf. In den USA wird zwischen konservativen und liberalen Theologen über das Für und Wider von „spiritual care“ im Unterschied zur „pastoral care“, d.h. einer konfessionell geprägten Seelsorge diskutiert.9 Dabei spielt die Palliativmedizin bzw. „Palliative Care“ eine Vorreiterrolle. Auch im deutschsprachigen Raum deutet sich in der Hospizbewegung eine Lösung der konfessionellen Bindung der Seelsorge zugunsten einer „spiritual care“ an, die an keine feste religiöse Tradition gebunden ist.10 Welche strukturellen Konsequenzen dies für die Krankenhausseelsorge auf Dauer nach sich zieht, bleibt abzuwarten. Die hier aufbrechenden Fragen stehen im Zusammenhang mit der Debatte über die vermeintliche Wiederkehr der Religion und Behauptungen über einen Megatrend Spiritualität.11 Sie führt aber auch in das Zentrum der religionstheologischen Debatte über exklusivistische, inklusivistische und pluralistische Modelle einer Theologie der Religionen.12 Während auf der einen Seite theologische, aber auch religionssoziologische Kritik an allzu ————— 8 T. Roser, Spiritual Care, 264. Zum ganzen siehe auch ders./E. Frick (Hg.), Spiritualität und Medizin. 9 Vgl. die Beiträge in Christian Bioethics 9, Nr. 1, April 2003. 10 Vgl. U. Körtner, Sterben in der modernen Stadt, 205ff. 11 Vgl. ders., Wiederkehr der Religion? 12 Vgl. Chr. Danz/ders. (Hg.), Theologie der Religionen.

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Begriffliche Unschärfen

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unscharfen Begriffen von Religiosität und Spiritualität geübt wird, welche die Relevanz geprägter religiöser Traditionen und ihrer kognitiven Gehalte für die individuelle Religiosität unterschätze13, lautet die gegenteilige Kritik, die bisherigen Konzepte von „spiritual care“ seien in Wahrheit christlich geprägt und würden lediglich die Dominanz christlicher Formen der Kranken(haus)seelsorge gegenüber anderen religiösen Traditionen festigen.14

4.3 Begriffliche Unschärfen Hinter der Diskussion über die Schärfe bzw. Unschärfe der Begriffe „Spiritualität“, „Religiosität“ und „Religion“ stehen keineswegs nur wissenschaftliche Interessen der Theoriebildung, sondern auch pragmatische Interessen, stellen sich doch praktische Fragen nach den für „spiritual care“ zuständigen und kompetenten Berufsgruppen, nach organisatorischer Einbindung und Rekrutierung von Seelsorgern (Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft, Beauftragung durch eine Religionsgemeinschaft), nach Inhalten, Methoden und Bezugswissenschaften der Aus-, Fort- und Weiterbildung (Theologie, Religionswissenschaft, Philosophie, Psychologie und Psychotherapie). Wie in der allgemeinen religionssoziologischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Debatte ist auch im Bereich von Medizin und Spiritual Care recht vieldeutig und unscharf von Spiritualität die Rede. Nicht nur in der Literatur zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität sucht man vergeblich nach einer einheitlichen Definition. Die vielgestaltige spirituelle Szene, die von christlicher Frömmigkeitspraxis über fernöstliche Religiosität und Schamanismus bis zu den unterschiedlichsten Formen von Esoterik, New Age und Psychotherapien, von ignatianischen Exerzitien bis zur transpersonalen Psychologie reicht und alle möglichen Formen von kleinen und großen Transzendenzerfahrungen umfasst, lässt sich wohl kaum auf einen einheitlichen Nenner bringen. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Bewegungen und Trends allerdings ein Unbehagen in der modernen, von Naturwissenschaften und Technik geprägten Kultur, der Protest gegen den materialistischen Reduktionismus und die Zersplitterung des Menschen und seiner Lebenswelt in physische, psychische und soziale Teilsysteme, die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit ————— 13 Vgl. H.T. Engelhardt Jr., Generic Chaplaincy; K.W. Schmidt/G. Egler, A Christian for the Christians? Zur grundsätzlichen Bedeutung konkreter religiöser Inhalte für individuelle religiöse Erfahrungen siehe auch S. Heine, Religionspsychologie, 139. 14 Vgl. G. Glicksman/A. Glicksman., Apples and Oranges.

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Leibsorge und Seelsorge

und der Überwindung von erkenntnistheoretischen und lebensweltlichen Dualismen wie Subjekt und Objekt, Leib und Seele, Immanenz und Transzendenz. Historisch wurzelt die zeitgenössische Suche nach Spiritualität in der New-Age- und der Hippiebewegung der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, weiter gefasst aber in der abendländischen Romantik als Reaktion auf die nachaufklärerische Moderne und die ihr zugehörigen permanenten Modernisierungsschübe. Im Kontext von Krankenhausseelsorge und Spiritual Care hält Traugott Roser gerade die Unschärfe des Begriffs „Spiritualität“ für seine Stärke. Sie bestehe in seiner Anschlussfähigkeit für die unterschiedlichsten Formen der Sinnsuche und Sinngebung in einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft. Der Begriff stehe ganz allgemein für radikale Individualität in einem Umfeld, das in Diagnostik, Therapie und Pflege auf Verallgemeinerungen und Vergleichbarkeiten geeicht sei. In seiner Unschärfe diene der Begriff der Spiritualität der Bestimmung des Unbestimmbaren, der Markierung von Differenzen, ohne welche Freiheit und Individualität nicht denkbar und vor allem nicht erfahrbar seien. Theologisch deutet Roser die durch die Spiritualitätssemantik thematisierte Unbestimmbarkeit als Unverfügbarkeit, die den Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes auszeichne, d.h. als weltoffenes, auf Beziehung (einschließlich transzendenter Beziehungen) angelegtes, aber auch fragmentarisches, nämlich verwundbares und endliches Wesen.15 Unverfügbarkeit ist aber auch ein anderes Wort für Kontingenz, die z.B. im Gelingen und Scheitern therapeutischer Prozesse erfahren wird. Spiritual Care definiert Roser als „Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis“16.

4.4 Spiritualität, Religiosität und Religion Bei allem Verständnis für Anschlussfähigkeit in pluralistischen Lebenswelten und Diskursen halte ich doch das Bemühen um begriffliche Unterscheidungen sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus pragmatischen Gründen für notwendig. So gilt es meines Erachtens bei allen Überschneidungen, die faktisch bestehen, zwischen Spiritualität, Religiosität und Religion zu differenzieren, weil andernfalls sowohl die Gegenstände möglicher Erkenntnis als auch die Bestimmung von unterschiedlichen Aufgabengebieten und Kompetenzen im Bereich des Gesundheitshandelns unmöglich werden. Wer z.B. wie der evangelische Theologe Manfred Josuttis in der Aufnahme von ————— 15 16

Vgl. T. Roser, Spiritual Care, 252. A.a.O., 9 u. 278.

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Spiritualität, Religiosität und Religion

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Rupert Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder und der fernöstlichen Chakrenlehre den Geist Gottes als kosmisches Kraftfeld auffasst und den Seelsorger für einen Führer ins Heilige hält17, klammert nicht nur die soziale und politische Dimension im Verständnis des menschlichen Körpers und der menschlichen Seele aus, sondern übergeht, wie Christoph Schneider-Harpprecht mit Recht kritisiert, „in der Attitüde scheinbar allmächtiger spiritueller Heiler die Heilungsbemühungen von Ärzten und Therapeuten“18. Diese Form von Spiritualität ist selbst reduktionistisch, weil sie auf einem ontologischen Monismus basiert, der letztlich nur eine Variante des kritisierten naturwissenschaftlichen Materialismus oder Physikalismus ist. „Die monistische Perspektive der den Kosmos durchflutenden göttlichen Vitalkräfte, mit denen sie sich verbündet“, dispensiert diese Form von Spiritual Care „anscheinend von der Frage nach den Perspektiven der anderen.“19 Vorsicht ist auch gegenüber der These von Seelsorge als Leibsorge geboten, die Elisabeth Naurath vertritt.20 Seelsorge hat zwar, wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein sollte, immer den ganzen Menschen – das heißt den Menschen in seiner Leiblichkeit – in den Blick zu nehmen. Leiblichkeit aber lässt sich nicht auf den Leib reduzieren, wie schon in den zurückliegenden Kapiteln gezeigt wurde. Als Leib ist der Mensch immer stets mehr als nur dieser, worauf Begriffe wie „Seele“ oder „Geist“ hinweisen. Daher ist Seelsorge eben nicht mit Leibsorge identisch. Zwar ist es zu begrüßen, wenn sich die Seelsorge verstärkt auf die leibliche Dimension menschlicher Existenz besinnt. Doch wird der menschliche Körper in sozialen Diskursen geformt. „Eine Seelsorge, die sich in Entsprechung zur Inkarnation Gottes in dem Körper Jesu von Nazareth als Leibsorge versteht, kommt an der sozialen und sprachlichen Dimension nicht vorbei.“21 Erst in ihr werden der Körper und die Kräfte und Mächte, die ihn formen und zur sozialen Realität werden lassen, thematisch. Im Übrigen sind die Möglichkeiten der Seelsorge, auf den Leib einzuwirken begrenzt. Unbeschadet einer neuen Wertschätzung von körperlicher Zuwendung auch in der evangelischen Seelsorge – man denke an körperliche Gesten wie das Handauflegen beim Segen, an Bekreuzigung und Krankensalbung oder den Einsatz von ätherischen Ölen, Klang und Musik – hat doch die Seelsorge ihren Schwerpunkt im Gespräch. Und auch wenn die Einsichten der Psychosomatik in der Seelsorge eine Rolle spielen, kann ————— 17

Vgl. M. Josuttis, Segenskräfte, 39.52f.232. Chr. Schneider-Harpprecht, Leib-Sorge?, 219. 19 A.a.O. 20 Vgl. E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge. 21 Chr. Schneider-Harpprecht, Leib-Sorge?, 221. 18

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Leibsorge und Seelsorge

doch nur in eingeschränktem Maße behauptet werden, dass Seelsorge eine unmittelbare Form der Leibsorge wie z.B. die somatische Medizin ist. Zudem ist religionstheoretisch zwischen Spiritualität, Religiosität und Religion zu unterscheiden. Ohne solche Unterscheidungen entpuppen sich nämlich die von Religionsforschern behaupteten Phänomene und Trends wie der vermeintliche Megatrend Religion bzw. Megatrend Spiritualität als bloße Folge der von den Forschern selbst geschaffenen Semantiken. Wenn Spiritualität oder auch Religion alles ist, was Religionsforscher oder die von ihnen befragten Personen dafür halten, ist am Ende alles und nichts religiös oder spirituell. Darin offenbart sich nicht nur die Schwäche eines rein funktionalistischen Religions- oder Spiritualitätsbegriffes22, sondern auch die Problematik der ihnen zugrunde liegenden anthropologischen und ontologischen Prämissen.23 Letztlich soll Religiosität oder Spiritualität als anthropologische Konstante behauptet werden, auch um den Preis, dass Religionsforscher glauben, Menschen, die sich selbst nicht für religiös oder „spirituell“ halten, besser zu verstehen als diese sich selbst. So entstehen Konstrukte wie eine „religio potentialis“, die man auch noch jenen attestiert, denen man beim besten Willen keine religiöse Praxis nachsagen kann.24 Zwar ist es ratsam, religionssoziologisch und theologisch mit einem weit gefassten Religionsbegriff zu arbeiten, der sich nicht auf Religionsgemeinschaften, ihre Glaubensüberzeugungen und ihre religiöse Praxis beschränkt. Was sich aber mit dem Religionssoziologen Detlef Pollack oder auch dem evangelischen Theologen Ingolf U. Dalferth bestreiten lässt, ist die Unausweichlichkeit oder Notwendigkeit von Religion.25 Religion, so die These Pollacks, ist eine spezifische Antwort auf die Sinnfrage bzw. auf das Kontingenzproblem unter anderen, nichtreligiösen Lösungen. Von Religion spricht Pollack, wenn versucht wird, die Kontingenzproblematik mit Hilfe der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz bzw. „durch Bezug auf das Unerfassbare“ zu bewältigen.26 Pollack kombiniert also einen funktionalen mit einem substantiellen Religionsbegriff, um diesen einerseits weit genug halten, andererseits aber auch eingrenzen zu können. Dies scheint mir auch für Theologie und Seelsorge ein fruchtbarer Ansatz zu sein. Auch die eingangs angesprochene Unterscheidung zwischen Religion und Kultur ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen. Aus mehreren Gründen ist z.B. der populären These Samuel Huntingtons vom ————— 22

Vgl. D. Pollack, Säkularisierung, 48. Vgl. auch S. Heine, Religionspsychologie, 304.333. 24 Vgl. R. Polak (Hg.), Megatrend Religion? 25 Vgl. I.U. Dalferth, Notwendig religiös? 26 D. Pollack, Säkularisierung, 48. 23

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Spiritualität, Religiosität und Religion

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Kampf der Kulturen („clash of civilizations“) zu widersprechen27, zum einen, weil sie Kulturen – ähnlich wie seinerzeit Oswald Spengler28 – als autarke, in sich abgeschlossene Entitäten behandelt, wo doch in Wahrheit jede Kultur von interkulturellem Austausch lebt, zum anderen aber, weil sie faktisch Kultur und Religion gleichsetzt. Religion ist eine Form der Kultur und „kann nur als eine kulturelle Form Gestalt gewinnen und in Erscheinung treten“29. Deutungstheoretische Konzeptionen von Religion gehen davon aus, dass in der Religion zum Zweck der Sinnvergewisserung dasjenige thematisch wird, was allen Kulturprozessen zugrunde liegt, nämlich das Deuten und Interpretieren von Wirklichkeit. Im Sinne der Symboltheorie Ernst Cassirers lässt sich aber argumentieren, dass sich die symbolischen Formen von Mythos, Religion, Kunst oder Wissenschaft nicht aufeinander zurückführen lassen, sondern eine „unveräußerliche[…] Vielheit“30 darstellen. Weder die Wissenschaft noch die Religion dürfen also als symbolische Form privilegiert werden, so dass sich auch die Vielfalt kultureller Erscheinungen und Symbolsysteme nicht reduktionistisch aus der Religion herleiten lässt.31 Darüber hinaus ist innerhalb der Religion eine Reihe von Unterscheidungen vorzunehmen. Abgesehen davon, dass es nicht die eine Religion als anthropologische Konstante gibt, deren Wesen die gemeinsame Basis aller konkreten historischen Religionen wäre, lassen sich in den verschiedenen Religionen drei Formen unterscheiden, nämlich die institutionalisierte oder organisierte Religion, die öffentliche Religion oder die Religion der Gesellschaft sowie die individuelle oder private Religion.32 Letztere wird heute auch als Spiritualität bezeichnet. Jedoch ist es sinnvoll und auch durchaus möglich, zwischen Spiritualität und Religiosität terminologisch zu unterscheiden, auch wenn es begriffsgeschichtlich und phänomenologisch zahlreiche Überschneidungen und unscharfe Ränder gibt. Manche Autoren halten Religiosität für den weiteren Begriff33, viele jedoch den Begriff der Spiritualität für den umfassenderen.34 Letzteres ist dann plausibel, wenn man unter Spiritualität nicht nur subjektive religiöse ————— 27

S. Huntington, Kampf der Kulturen. Zur Kritik siehe u.a. G. Kepel, Die Rache Gottes; M. Riesebrodt, Rückkehr der Religion. 28 O. Spengler, Untergang des Abendlandes. 29 Chr. Danz, Deutung der Religion, 136, der das Verhältnis von Kultur und Religion in Anlehnung an Paul Tillich so bestimmt, „dass Religion die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion darstellt“ (ebd.), diese Formel aber nicht substantialistisch missverstanden wissen will. 30 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, 7. 31 Vgl. Chr. Danz, Deutung der Religion, 134. 32 Für das Christentum vergleiche dazu D. Rössler, Grundriß, 90ff. 33 Vgl. A.A. Bucher, Psychologie der Spiritualität. 34 Vgl. Chr. Zwingmann, Spiritualität/Religiosität, 218.

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Leibsorge und Seelsorge

Glaubenserfahrungen und Überzeugungen fasst, die von organisierter Religion und ihren geprägten Traditionen und Glaubensinhalten ohnehin nochmals zu unterscheiden ist, sondern auch Formen des Sinnerlebens, der Lebenszufriedenheit und des Selbstwertgefühls, ein intensives Naturerleben oder soziale Einstellungen, die von den Subjekten, die sie haben oder teilen, nicht ausdrücklich als religiös verstanden werden, weil ein ausdrücklicher Bezug auf eine übernatürliche Wirklichkeit negiert wird. Im Anschluss an eine Definition von David B. Larson unterscheidet die Wiener interreligiöse Ärzteplattform zwischen Religion, Religiosität und Spiritualität. Sie versteht unter Religion „ein organisiertes System von Glauben, Praxis und Symbolen, das helfen soll, einer höheren Macht näherzukommen“, unter Religiosität „eine persönliche Einstellung […], welche einen Sammelbegriff für religiöses Bewusstsein und Verhalten darstellt“, und unter Spiritualität „eine persönliche sinnstiftende Grundeinstellung, die transzendierende Selbstreflexion darstellt, welche religiöses Denken beinhalten kann, aber nicht muss“35. Nicht selten überlappen sich freilich die als „Spiritualität“ und als „Religiosität“ bezeichneten Erfahrungsbereiche. Schon begriffsgeschichtlich ist daran zu erinnern, dass es sich bei „Spiritualität“ von Haus aus um einen religiösen, genauer gesagt um einen christlich geprägten Terminus handelt. Das lateinische Adjektiv „spirit(u)alis“ ist die Übersetzung des griechischen pneumatikós und steht im Neuen Testament bei Paulus für das christliche Leben aus dem Geist, nämlich dem Geist Gottes bzw. dem Geist Christi, dem das fleischlich gesinnte Leben des Unglaubens gegenübersteht.36 Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts lässt sich im Französischen das Substantiv „espiritualité“ nachweisen, bald darauf auch Äquivalente im Italienischen und im Englischen.37 Das französische „spiritualité“ tritt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an die Stelle der Begriffe „dévotion“ und „piété“, die dem deutschen Wort „Frömmigkeit“ entsprechen. Insbesondere sind die asketischen und mystischen Traditionen des Christentums gemeint. Über das Französische, Italienische und Spanische wandert der Begriff schließlich in den Sprachgebrauch des deutschsprachigen Katholizismus ein, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dann auch in die evangelische Theologie und Kirche, wo nun Formen einer eigenständigen „evangelischen Spiritualität“ entwickelt werden, die im ökumenischen Austausch mit den Traditionen der übrigen christlichen Konfessionen stehen.38 ————— 35

Chr. Gisinger u.a., Seelsorge und Spiritualität, 28. Vgl. 1Kor 2,13–3,1 u.ö. 37 Zur Begriffsgeschichte vgl. K.-F. Wiggermann, Art. Spiritualität; U. Köpf, Art. Spiritualität 36

I. 38 Vgl. G. Ruhbach, Theologie und Spiritualität; H-M. Barth, Sehnsucht; ders., Spiritualität; P. Zimmerling, Evangelische Spiritualität.

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Spiritualität, Religiosität und Religion

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Historisch betrachtet handelt es sich bei christlicher Spiritualität immer um die Frömmigkeit einer klar umgrenzten Personengruppe. Dagegen lässt sich das Wort „Volksfrömmigkeit“ schlecht durch „Spiritualität“ ersetzen.39 Der historische Ursprungsort einer besonderen Spiritualität und verschiedener Schulen der Spiritualität sind die christlichen Orden und Kommunitäten. Im strengen Sinne des Wortes ist Spiritualität bis heute „ein elitäres Phänomen in der Gesch[ichte] christl[icher] Frömmigkeit“40. Davon abweichend lässt sich seit etwa 1870 im angelsächsischen Sprachraum ein veränderter Sprachgebrauch beobachten. Hier steht „spirituality“ für eine konfessionell ungebundene, individuelle Religiosität, die auf unmittelbarer, persönlicher Transzendenzerfahrung beruht und die Innerlichkeit wahrer Religion betont.41 Während der Begriff „Religion“ im Zusammenhang mit der neuzeitlichen historisch-genetischen Religionskritik mit negativen Konnotationen belastet ist, steht „Spiritualität“ im heutigen Sprachgebrauch für die positiven Seiten von Religion, nicht selten verbunden mit einer kritischen Haltung gegenüber den Kirchen und den monotheistischen Religionen, denen allgemein Intoleranz und Gewaltbereitschaft nachgesagt werden, die mit ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch zusammenhängen sollen. Viele Zeitgenossen sehen in „Spiritualität“ eine nichtchristliche, an keine Kirche oder Dogmatik gebundene, tolerante, lebensdienliche und gesundheitsfördernde, individualismus- und pluralismusfreundliche Form von Religiosität. Wie selbstverständlich wird der Begriff heute auf nichtchristliche Religionen, insbesondere auf fernöstliche, angewendet. Dass das Wort eigentlich aus dem Christentum stammt, wird häufig völlig übersehen. Die problematische Übertragung eines von Hause aus christlichen Begriffs auf nichtchristliche Religionen erweckt den Eindruck, als stimmten alle Religionen im Wesentlichen überein, wobei das Wesen von Religion in einem eher diffusen Sinne als „mystisch“ bestimmt wird. Dass es dabei zur Verzeichnung und Vereinnahmung fremder Religionen kommt, scheint vielen Menschen gar nicht bewusst zu sein. Die heutige Religionswissenschaft ist an dieser Stelle weitaus zurückhaltender als manche Vertreter einer synkretistischen Theologie der Religionen.42

————— 39

Vgl. U. Köpf, Art. Spiritualität II, Sp. 1591. A.a.O., Sp. 1593. 41 Vgl. C. Benke, Was ist (christliche) Spiritualität?. 42 Zum Synkretismusproblem allgemein siehe V. Drehsen/W. Sparn (Hg.), Schmelztiegel; K.P. Jörns, Die neuen Gesichter Gottes; U. Körtner, Synkretismus. 40

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Leibsorge und Seelsorge

4.5 Die Ambivalenz von Religion und Spiritualität Fragwürdig ist auch die These, wonach Spiritualität in jedem Fall positive Auswirkungen auf die seelische oder körperliche Gesundheit hat. Studien, die diesen Zusammenhang empirisch erhärten wollen, sehen sich wissenschaftstheoretischen und methodologischen Rückfragen ausgesetzt. Das gilt zum Beispiel für verschiedene Studien, welche die therapeutische Wirkung von Gebeten untersucht haben. Ob Gott existiert oder nicht, können diese Untersuchungen ohnehin nicht beantworten. Der allfällige Nachweis einer therapeutischen Wirkung von Gebeten ist kein Gottesbeweis, sondern lässt sich auch als Placebo-Effekt erklären. Im Übrigen sind die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zur therapeutischen Wirkung von Gebeten widersprüchlich. Während zum Beispiel eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie den Nachweis führen zu können glaubt, dass regelmäßige Rosenkranzgebete oder meditative Mantras positive Effekte auf das Herzund Kreislaufsystem haben43, führen andere Studien zu dem Ergebnis, dass Gebete – zumindest bei Herzpatienten – keine nachweisliche Heilwirkung entfalten.44 Abgesehen von der Frage nach dem Design und der Aussagekraft der genannten Studien ist grundsätzlich festzustellen, dass medizinische und psychologische Untersuchungen zur Wirkung von Gebeten oder zur seelischen Stärkung von Patienten durch ihren Glauben nichts über die Wahrheit einer Religion, sondern bestenfalls etwas über ihre mögliche individuelle Wirkung aussagen. Eine positive Wirkung auf Therapierverlauf und Coping hat z.B. auch der Humor. Man denke nur an die Arbeit der CliniClowns und der „Rote Nasen Clown Doctors“.45 Man könnte aber natürlich genauso gut die angsterzeugende oder -verstärkende Wirkung bestimmter religiöser Vorstellungen – man denke an religiöse Schuld- und Sündenvorstellungen, an Vorstellungen von göttlichen Strafen, Hölle und Fegefeuer – und ihre negativen Auswirkungen auf Krankheitsverläufe untersuchen. Die religiösen Wahnwelten von Psychotikern sind ebenfalls ein hinlänglich bekanntes Forschungsfeld.46 Negative Auswirkungen auf die Heilungs- und Überlebenschancen hat auch die Verweigerung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen aus religiösen Gründen, z.B. die prinzipielle Ablehnung von Bluttransfusionen durch Zeugen Jehovas. Die Wech————— 43

L. Bernardi/P. Sleight u.a., Beyond science? M.W. Krucoff u.a., Music, imagery, touch, and prayer; H. Benson u.a., Study of the Therapeutic Effects of Intercessory Prayer. 45 Informationen unter https://www.cliniclowns.at/ (18.8.2008) und http://www.rotenasen.at/ int/at (18.8.2008). 46 Siehe nur den klassischen Fall des Daniel Paul Schreber und seine Analyse bei S. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen. Vgl. ferner C. Kulenkampff, Entbergung, Entgrenzung, Überwältigung; A. Storch/C. Kulenkampff, Zum Verständnis des Weltuntergangs. 44

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Die Ambivalenz von Religion und Spiritualität

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selwirkungen zwischen Religion, Gesundheit und Krankheit sind also einigermaßen komplex.47 Einfachen Antworten und Erklärungen ist grundsätzlich zu misstrauen, und das nicht nur aus naturwissenschaftlicher, sondern auch aus theologischer Sicht, sind doch die Ambivalenzen jeglicher Formen von Religion nicht nur ein Thema der modernen Religionskritik, sondern auch der Theologie, jedenfalls im Christentum. Nicht nur religiöse Vorstellungen von einem strafenden Gott oder ewigen Höllenqualen, sondern auch bestimmte Formen von Esoterik und Alternativmedizin können gesundheitsschädliche Folgen haben.48 So gibt es z.B. auf dem Gebiet der Psychoonkologie fragwürdige, ja geradezu kriminelle Beispiele.49 Die zeitgenössische Esoterik-Szene ist teilweise von rechtsradikalen, sozialdarwinistischen und rassistischen Ideen durchsetzt.50 Sofern die Quelle zu den kosmischen Kräften der Natur im Individuum liegen soll, wird wohl an die Eigenverantwortung des Einzelnen für sein individuelles Geschick appelliert, z.B. indem Krankheit als Selbstheilung gedeutet wird, doch die sozialethische Dimension der Weltverantwortung tritt ganz in den Hintergrund. Angesichts der geschichtlichen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts, des Endes der großen politischen Ideologien und anonymer Prozesse wie der Globalisierung ist diese Haltung durchaus verständlich. Eine Spiritualität, welche auf die Natur, die Evolution oder die Wendezeit im Zeichen des Wassermannes setzt, entlastet die Menschen von ethischer Verantwortung, schlägt oft aber auch in Zynismus oder eindeutig rechtsradikales Gedankengut um.51 Da ist dann plötzlich von unvermeidlichen Opfern des Übergangs die Rede, und gemeint sind z.B. Aids-Tote. „Es wird“, so schreibt Elisabeth Kübler-Ross in ihrem Buch über Aids, „die Zeit kommen, da die Spreu vom Weizen geschieden wird, bevor große Veränderungen sich auf diesem Planeten vollziehen“52. Oder ein genetischer Defekt wie die Trisomie 21 wird damit erklärt, dass der Betroffene in einem früheren Leben zu selbstsüchtig war und nun sein schlechtes Karma abtragen muss.53 Spätestens an dieser Stelle wird die strukturelle Mitleidlosigkeit ————— 47 Generell zu Phänomenen des negativen religiösen Copings vgl. D. Edmondson/C.L. Park/T.O. Blank/J.R. Fenster/M.A. Mills, Deconstructing spiritual well-being. 48 Unter Gesichtpunkten des Konsumentenschutzes vgl. auch Stiftung Warentest/Verein für Konsumenteninformation, Die Andere Medizin. Nutzen und Risiken sanfter Heilmethoden (in Zusammenarbeit mit K. Federspiel u. V. Herbst), Berlin 41996. 49 Man denke nur an den gerichtlich verurteilten Arzt Ryke Geerd Hamer. Vgl. R.G. Hamer, Krebs. Krankheit der Seele. Kurzschluss im Gehirn, dem Computer unseres Organismus. Die eiserne Regel des Krebses, Köln 41989. 50 Vgl. O. Schröm, Rechter Wahn, 63. 51 Vgl. auch die Kritik von S. Heine, Erfahrung Gottes. 52 E. Kübler-Ross, Aids, 286f. 53 Dies behauptet der Esoteriker Peter Michel in seinem Buch „Karma und Gnade“, der bei O. Schröm, Rechter Wahn, 63 zitiert wird.

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Leibsorge und Seelsorge

ganzheitlichen Denkens offenbar, die der evangelische Theologe Henning Luther kritisiert hat.54 Die berechtigte Kritik an negativen Erscheinungen und Folgen von Religion oder Spiritualität kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt und sich nicht auf Stoffwechselvorgänge und die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduzieren lässt. Auch lässt sich nicht bestreiten, dass Menschen im Einzelfall aus ihrem religiösen Glauben Kräfte schöpfen können – können, nicht müssen! –, die ihnen helfen, Lebenskrisen wie zum Beispiel eine schwere Krankheit zu meistern, vielleicht auch, ein unheilbares Leiden oder eine Behinderung zu akzeptieren, ohne daran seelisch zu zerbrechen. Religion kann eine positive Auswirkung auf das „coping“ haben, auch wenn zunächst offen bleiben muss, ob oder wie sich dieser Effekt naturwissenschaftlich messen lässt.

4.6 Ein erweiterter Begriff von Spiritualität in Medizin und Pflege Ein materialistischer Reduktionismus, der die Sinnfrage und die Dimension der Transzendenz ausblendet, ist ebenso problematisch wie manche Konzeptionen der Ganzheitlichkeit, die alle Krankheiten auf psychische oder spirituelle Ursachen zurückführen wollen. Eine Spiritualität, die positives Denken als Wunderwaffe gegen alle somatischen Erkrankungen propagiert, verkennt den Unterschied zwischen Heil und Heilung und ist nach meinem theologischen Verständnis ebenso reduktionistisch wie der neuzeitliche Materialismus. Problematisch ist auch die von Alexander Lowen, einem Schüler Wilhelm Reichs, propagierte Idee der „Spiritualität des Körpers“55, welche nicht nur die moralische Qualität von Aggression, Sexualität und religiöser Ekstase ausblendet, sondern auch fragwürdige Konsequenzen für Menschen hat, die körperlich behindert, verstümmelt oder entstellt sind. Auch verträgt sich die bioenergetische Ästhetik der Harmonie des Körpers „schlecht mit dem Bild des Körpers des gekreuzigten Christus als Urbild des entfremdeten, entstellten, behinderten und sterbenden Menschen“56. Erkenntnistheoretisch wie praktisch muss um des Lebens willen die Eindimensionalität zugunsten der Mehrdimensionalität überwunden werden. Anstelle einer fragwürdigen Ganzheitsmedizin ist aber nach meinem Dafürhalten ein Konzept von integrativer Medizin zu stellen, das auf Mehrdimensionalität zielt.57 Praktisch bedeutet dies, dass nicht nur somatische ————— 54

H. Luther, Leben als Fragment. A. Lowen, Spiritualität des Körpers. 56 Chr. Schneider-Harpprecht, Leib-Sorge?, 213. Zu einer christologisch motivierten Ästhetik des Hässlichen vgl. auch U. Körtner, Unverfügbarkeit, 32. 57 Vgl. U. Körtner, Wie lange noch?, 53ff. 55

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Ein erweiterter Begriff von Spiritualität in Medizin und Pflege

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Medizin und Psychotherapie, sondern dass auch Medizin, Philosophie und Theologie noch stärker als zur Zeit miteinander ins Gespräch kommen müssen, und zwar nicht nur auf dem Gebiet einer im wesentlichen auf Risikoabschätzung reduzierten medizinischen Ethik, sondern im Bereich anthropologischer Grundfragen. Das Recht auf seelsorgerliche oder spirituelle Begleitung gehört zu den gesetzlich verankerten Patientenrechten. An die Stelle hochgradiger Arbeitsteilung muss das Teamwork von Gesundheitsberufen und religiöser Seelsorge treten, wenn der Mensch als Person nicht aus dem Blickfeld geraten soll. Die Rechnung, wonach Heil und Heilung säuberlich zu trennen sind, so dass ausschließlich die Medizin für Gesundheit und Heilung, die Theologie allenfalls für Heil und Erlösung zuständig ist, geht in der bisherigen, gewissermaßen kantischen Form nicht auf. Gesundheit und Heil, Heilung und Erlösung, Sein und Sinn betreffen den in sich unteilbaren Menschen, der mehr ist als die Summe seiner anatomischen, psychischen und mentalen Teile. In welchem Sinne lässt sich theologisch verantwortlich von Spiritualität in der Medizin sprechen? Einige Elemente seien benannt: 1. „Professional attitudes“ Das Wort Spiritualität kommt vom lateinischen „spiritus = Geist“. Gemeint ist der göttliche Geist, der auch im Menschen Platz greifen will und soll. Zur Spiritualität gehört die Frage, aus welchem Geist heraus ich meine Arbeit tue, meinen Beruf ausübe und anderen Menschen begegne. Neudeutsch gesprochen hat Spiritualität etwas mit den „professional attitudes“ von Ärzten und Pflegenden zu tun. Empathie, Nächstenliebe, Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit sind Geistesgaben, die nach meinem Verständnis die Grundhaltung von Medizinern und Pflegenden prägen sollten. 2. Endlichkeit akzeptieren Spiritualität weiß um den Geschenkcharakter von Leben und Gesundheit, um ihre Unverfügbarkeit und Kontingenz. Bei aller Professionalität ist doch das Gelingen therapeutischer Prozesse eine Gnade und Grund zu Demut und Dankbarkeit. Ein alter Spruch lautet: „Medicus curat, natura sanat, Deus salvat“. Heilung liegt nicht allein in Menschenhand. Spiritualität in der Medizin bedeutet, die eigene Endlichkeit, d.h. aber auch die Endlichkeit der Heilkunst zu akzeptieren und die Heilkunst nicht zur Heilslehre zu überhöhen. Spiritualität besteht darin, dass sich Ärzte und Patienten wechselseitig von übertriebenen Erwartungen entlasten und auch lernen, mit dem Scheitern und mit Misserfolgen umzugehen. Besonders virulent ist diese Frage im Fall von unheilbarer oder chronischer Krankheit.

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Leibsorge und Seelsorge

3. Medizin – eine Kunst Zur Spiritualität gehört die Einsicht, dass Medizin und Pflege nicht nur eine Technik, sondern auch eine Kunst sind, die wie alle Kunst auch der Inspiration und des Kairos, des rechten Augenblicks und der Fügungen bedarf. „Häufig gilt unausgesprochen die Überzeugung, Ärzte oder Pflegende würden Probleme einfach sachgerecht, das heißt fachlich lösen. Wäre dies tatsächlich der Fall, dann hätten wir es bei den Ärzten mit Medizintechnikern zu tun, die den Namen Arzt nicht verdienen würden, und bei den Pflegenden mit Pflegerobotern, die den Namen Schwester oder Pfleger nicht verdienen würden.“58

4. Die Ressource Vertrauen Spiritualität in Medizin und Pflege hat ganz wesentlich mit der Ressource Vertrauen zu tun, ohne die therapeutische und pflegerische Prozesse nicht gelingen können. Ärzte und Pflegende benötigen Selbstvertrauen und Vertrauen in ihre Fähigkeiten und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Patienten und ihre Angehörigen brauchen Vertrauen in die Heil- und die Pflegekunst der Ärzte und Pflegekräfte. Vertrauen ist akzeptierte Abhängigkeit, wie der Mediziner und evangelische Theologe Dietrich Rössler einmal geschrieben hat.59 Darin liegt ein Hinweis auf das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit, das der große protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher als Wesen der Religion beschrieben hat. Vertrauen ist, wenn man so will immer auch eine Glaubenssache. Glaube nicht nur an die Kompetenz eines Arztes, sondern der Glaube an Gott als Tiefendimension unseres Daseins ist der letzte Grund für alles Vertrauen. Zur Spiritualität gehört es, diese Tiefendimension menschlichen Vertrauens und Hoffens freizulegen, nach Quellen des Vertrauens zu suchen. Zur Spiritualität gehört ebenso, sich den vielfältigen Ängsten, den eigenen wie den fremden zu stellen, statt die Angst, die Lebensangst, die doch immer auch Todesangst ist, zu tabuisieren, wie dies in unserer Gesellschaft und im medizinischen Alltag häufig geschieht. 5. Kommunikation Spiritualität bedeutet Kommunikation, Kommunikation zwischen Mensch und Gott und zwischen den Menschen untereinander. Der Geist stiftet und eröffnet Kommunikation. Er ist die Atmosphäre, in der die Kommunikation zwischen Arzt und Patient stattfindet. Sein Wirken ereignet sich zwischen Arzt und Patient. Der Geist ist das Zwischen menschlicher Kommunikation, ————— 58 Kath. Krankenhausverband Deutschlands e.V./Deutscher Evangelischer Krankenhausverband e.V., Ethik-Komitee im Krankenhaus, 9. 59 D. Rössler, Der Arzt, 46.

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Spiritualität und ethische Kompetenz in der Krankenhausseelsorge

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das Ich und Du ebenso verbindet wie voneinander abgrenzt und unterscheidet. 6. Spiritualität als organisationstheoretisches Thema Spiritualität hat nicht nur mit der Haltung und Einstellung des Einzelnen, des Patienten, des Arztes oder der Pflegenden zu tun, sondern auch mit der Kultur einer medizinischen oder pflegerischen Einrichtung. Wir sprechen gelegentlich von dem Geist, der in einem Haus herrscht. Spiritualität ist somit auch ein organisationstheoretisches Thema. Strukturen, ja schon die Architektur eines Hauses sind gewissermaßen Objektivationen des Geistes. Sie vermitteln eine bestimmte Atmosphäre, ermöglichen, fördern oder verhindern Kommunikationsprozesse. Zur Dimension der Spiritualität gehört eben auch die Frage nach den Strukturen, den Arbeits- und Lebensbedingungen in einer Klinik oder einem Pflegeheim. Und schließlich zählt dazu auch die handfeste Frage, welche Budgets für Angebote der Seelsorge sowie der entsprechenden Fort- und Weiterbildung zur Verfügung stehen.

4.7 Spiritualität und ethische Kompetenz in der Krankenhausseelsorge Krankenhausseelsorge nimmt heute für sich nicht nur kommunikative Kompetenz, Deutungskompetenz, liturgische Kompetenz und interreligiöse Kompetenz in Anspruch, sondern ausdrücklich auch eine ethische Kompetenz, so z.B. in Kapitel IV der Leitlinien für die Krankenhausseelsorge der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).60 Nach Auffassung dieser Leitlinien umfasst die ethische Kompetenz der Krankenhausseelsorge sowohl die Strukturen und Verfahren ethischer Entscheidungsfindung als auch den Gehalt der Urteile. Sofern die Krankenhausseelsorge selbst Position beziehe, geschehe dies „sowohl im Sinne einer Ethik der Profession als auch einer Ethik der Organisation“61. Dazu müsse sie „mit den Grundlinien wissenschaftlich-ethischer Argumentation ebenso vertraut sein wie mit den infrage stehenden Sachverhalten“62. Was genau mit einer „Ethik der Profession“ gemeint ist, lassen die EKD-Leitlinien allerdings offen. Geht es nur um die Berufsethik von Medizinern, Pflegenden und anderen im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen, oder ist auch an eine besondere Berufsethik von Pfarrerinnen und Pfarrern bzw. der Krankenhausseelsorge gedacht?

————— 60

Kraft zum Menschsein. A.a.O., 24 (Abschnitt 18). 62 Ebd. 61

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Leibsorge und Seelsorge

Und wie verhält sich eine reflektierende Ethik der Profession zum jeweiligen Berufsethos? Dazu fehlen nähere Ausführungen.63 Ehrfurcht vor dem Leben, Achtung vor der Würde und Unverfügbarkeit menschlichen Lebens in all seinen Stadien, aber auch Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten werden als grundlegende Prinzipien einer Ethik im Krankenhaus formuliert. Kriterien für Ermessensentscheidungen sollen aus konkreten Vorstellungen vom „guten Leben“ entwickelt werden. Die christliche und spezifisch evangelische Perspektive der Krankenhausseelsorge kommt in der Betonung der Unvermeidbarkeit menschlicher Schuld zum Ausdruck, verbunden mit der Ermutigung zur eigenverantwortlichen Entscheidung, die es solidarisch zu begleiten gelte.64 Im Sinne der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben formulieren die EKD-Leitlinien einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber Ethik und Moral überhaupt. Das hieraus resultierende Grundverständnis von Ethik ist eine theologisch begründete Form der Verantwortungsethik, die einem „platten Utilitarismus“ ebenso eine Absage erteilt wie dem „Terror der Tugend“.65 Abgesehen davon, dass Grundbestimmungen der ethischen Kompetenz der Krankenhausseelsorge entfaltungs- und erläuterungsbedürftig sind, stellt sich doch auch die Frage, auf welchem Wege die Krankenhausseelsorge zu ihrer ethischen Kompetenz gelangt, die sie für sich reklamiert. Zur Qualitätsentwicklung in der Krankenhausseelsorge gehören unseres Erachtens konkrete Überlegungen zur ethischen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Dabei plädieren wir grundsätzlich für ein interdisziplinäres und multiprofessionelles Konzept der Ethikausbildung. Zu Recht stellen die EKD-Leitlinien fest, dass Grundkenntnisse der wissenschaftlich-ethischen Argumentation eine wesentliche Voraussetzung für ethische Kompetenz sind. Ethische Grundkenntnisse werden im Theologiestudium vermittelt. Allerdings ist festzustellen, dass die Ethikausbildung im Rahmen des evangelischen Theologiestudiums im Vergleich mit der katholischen Theologie einen deutlich geringeren Stellenwert hat. Die Ambivalenz jeglicher Moral und Ethik zu betonen, wie es die EKD-Leitlinien tun, ist gut evangelisch und auch rechtfertigungstheologisch gut begründet. Zur Lebensführung im christlichen Sinne gehört das Wissen darum, dass die Vollendung des Lebens, sein „Gelingen“, wie man heute gern sagt, die unser Handeln motivierende Hoffnung ist, ohne doch von uns selbst geleistet werden zu können. Sofern Ethik letzteres suggeriert, bleibt es auch die ureigene Aufgabe der Seelsorge, im Sinne der reformatorischen Unter————— 63

Siehe dazu U. Körtner, Moral. Vgl. dazu auch U. Körtner, Sündenvergebung. 65 Kraft zum Menschsein, 24 (Abschnitt 18). 64

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Spiritualität und ethische Kompetenz in der Krankenhausseelsorge

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scheidungen von Gesetz und Evangelium, von Person und Werk, vor zuviel Moral zu warnen.66 Evangelische Theologie steht freilich in der Gefahr, aus einer einseitigen Hermeneutik des Verdachts gegenüber aller vermeintlichen Gesetzlichkeit die lebensdienliche Funktion des Gesetzes und damit auch der Ethik zu verkennen. Bis in die aktuellen Debatten über die Reform des Theologiestudiums hinein ist die schwache Stellung des Faches Ethik und seine Marginalisierung zu beklagen. Sodann muss man fragen, wie es um konkrete Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Ethik im Pfarrberuf wie speziell in der Krankenhausseelsorge bestellt ist. Hier besteht Verbesserungsbedarf. Was die Krankenhauseelsorge betrifft, so ist an ein Modell der Kompetenzentwicklung zu denken, das sich an dem Modell der Stufen zur Pflegekompetenz von Patricia Benner orientiert.67 „From Novice to Expert“ heißt eines der wichtigsten Werke zum philosophischen und pflegewissenschaftlichen Verständnis der zeitgenössischen Gesundheits- und Krankenpflege.68 Seine Verfasserin ist Patricia Benner. Im Anschluss an das Modell der Brüder H.L. und S.E. Dreyfus entwickelt Benner ein Stufenmodell des Kompetenzerwerbs in der Krankenpflege: Stufe 1: Neuling Stufe 2: Fortgeschrittene Anfängerin / fortgeschrittener Anfänger Stufe 3: Kompetente Pflegende Stufe 4: Erfahrene Pflegende Stufe 5: Pflegeexpertin / Pflegeexperte Benners Modell setzt voraus, dass man die Stufen vom Neuling zum Experten im Berufsleben nicht nur einmal, sondern durchaus mehrmals durchlaufen kann. Wenn z.B. eine erfahrene Schwester oder ein erfahrener Pfleger, die jahrelang auf einer Internistischen Station gearbeitet haben, zur Intensivmedizin wechseln, um sich dort weiterbilden zu lassen, sind sie auf der neuen Station zunächst in gewissem Ausmaß wieder Neulinge oder allenfalls kompetente Pflegende. Das Stufenmodell ist also kontextbezogen. Auch wird sich die bzw. der eine Pflegende schneller als der oder die andere vom Neuling zum erfahrenen Pflegenden oder gar zur Pflegeexpertin entwickeln, und nicht alle werden die Stufe der Pflegeexpertin oder des Pflegeexperten erreichen. ————— 66

Vgl. auch die negative Funktionsbestimmung der Ethik bei N. Luhmann, Paradigm lost, 41. Zum Folgenden vgl. U. Körtner, Pflegeethik, 127–136. 68 P. Benner, Stufen. 67

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Leibsorge und Seelsorge

Angesichts der zunehmenden Professionalisierung und Institutionalisierung von Bereichsethiken wie der Medizin- und der Pflegeethik liegt es nahe, sich auch über Stufen zur Ethikkompetenz Gedanken zu machen. Ein gewisses Maß an ethischer Kompetenz ist in der Medizin oder der Pflege nicht nur für die eigene Entscheidungsfindung vonnöten, sondern auch für die Funktion der Beratung von Kranken, Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Medizinische Beratung und Pflegeberatung sollten eine gewisse Kompetenz zur ethischen Beratung einschließen. Entsprechendes gilt für die Krankenhausseelsorge. Die Ausbildung einer medizin- und pflegeethischen Kompetenz, aber auch der Ethikkompetenz von Krankenhauseelsorgerinnen und -seelsorgern kann nur mit dem fortschreitenden Erwerb beruflicher Kompetenz Hand in Hand gehen. Entsprechend Benners Stufenmodell vom Anfänger zum Pflegeexperten sollte auch die ethische Kompetenz gefördert und entwickelt werden. Neben entsprechenden Unterrichts- und Weiterbildungsangeboten gehört dazu die praktische Einübung ethischer Urteilsbildung, z.B. in Form regelmäßiger Rounds, in denen Fallbeispiele diskutiert werden. Da sich ethische Kompetenz nicht einfach naturwüchsig entwickelt, ist auch die Möglichkeit von Ethiklehrgängen zu fördern, die mit einem Zertifikat abschließen. Wie das Pflegeexpertentum setzt auch ethische Urteilsfähigkeit nicht nur den Erwerb von theoretischem Wissen und Methodenkenntnissen voraus, sondern auch Erfahrung. Wer über entsprechende Erfahrung verfügt, weiß nicht nur mit ethischen Konflikten reflektiert umzugehen, sondern hat auch gelernt, die Einzelsituation angemessen einzuschätzen und zwischen Regelfall und Grenzfall zu unterscheiden. Zum Expertentum auf dem Gebiet der Ethik gehört es, die Grenz- und Einzelfälle wahrzunehmen, die sich nicht unter allgemeine Regeln fassen lassen. Der Begriff des Ethikexperten oder der Ethikexpertin darf freilich nicht so missdeutet werden, als solle auf dem Gebiet von Moral und Ethik eine neue Form der Expertokratie errichtet werden. Wenn es um moralische Fragen geht, um Fragen von Krankheit und Gesundheit, von Leben und Tod, sind wir alle immer schon Expertinnen und Experten, sofern wir nämlich unmittelbar betroffen oder beteiligt sind. Entsprechend der Unterscheidung von Ethik und Moral wäre es ein Unding zu behaupten, dass jemand ohne ethische Expertise nicht zu einer verantwortlichen Entscheidung fähig wäre. Die besondere ethische Kompetenz besteht aber darin, gemeinsam mit anderen zu einer begründeten Entscheidung in ethischen Konfliktsituationen zu gelangen und Menschen bei schwierigen moralischen Entscheidungen beraten zu können. Benners Modell der fünf Stufen der Pflegekompetenz eignet sich auch für ein Modell der Ethikkompetenz in der Klinischen Ethik, weil es situativ

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Spiritualität und ethische Kompetenz in der Krankenhausseelsorge

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und interpretativ ist.69 Vor der normativen Urteilsbildung hat die deskriptivhermeneutische Analyse eines ethischen Problems zu stehen. In Abwandlung des Modells von Patricia Benner lassen sich fünf Stufen der Ethikkompetenz im Krankenhaus unterscheiden: Stufe 1: Neuling Berufsanfänger in der Grundausbildung. Sie müssen zunächst lernen, was konkret ein ethisches Problem ist bzw. was in einer konkreten Situation der ethische Aspekt des Problems (im Unterschied zu den pflegetechnischen oder medizinischen Aspekten) ist. Ziele der Ausbildung: Vermittlung ethischer Grundbegriffe, Prinzipien und Regeln sowie der unterschiedlichen ethischen Konzeptionen; Einführung in die Grundlagen und Aufgaben der klinischen Ethik. Stufe 2: Fortgeschrittener Anfänger Menschen in der Endphase ihrer Berufsausbildung, die nicht nur über theoretisches Elementarwissen auf dem Gebiet der Ethik verfügen, sondern auch schon so viele Situationen kennen gelernt und bewältig haben, dass sie in der Lage sind, die wiederkehrenden bedeutungsvollen situativen Bestandteile einschließlich der ethischen Aspekte zu erkennen und in konkreten Situationen das ethische Problem beschreiben können. Ziele der Ausbildung: Einübung ethischer Kompetenzen anhand von Fallbeispielen. Stufe 3: Ethikkompetente Personen im Krankenhaus Berufstätige mit mehrjähriger Berufserfahrung, die ihr ethisches Wissen und ihre situative Urteilsfähigkeit durch Teilnahme an regelmäßigen Rounds schulen, in denen Fallbeispiele aus der eigenen Praxis oder auch Beispiele aus der Literatur durchgespielt werden. Sie sind nicht nur in der Lage, ethische Probleme rückblickend zu analysieren und die Einzelaspekte ethisch zu gewichten sowie Handlungsalternativen ethisch zu begründen, sondern können auch vorausschauend die ethischen Aspekte und die ethischen Konflikte, die sich aus der weiteren Entwicklung eines konkreten Falles ergeben können, in die Planung ihres Handelns einbeziehen. Ziele der Fortbildung: Neben regelmäßigen Rounds Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen auf dem Gebiet der Medizinethik oder der Pflegeethik bzw. der klinischen Ethik.

————— 69

Vgl. P. Benner, Stufen, 58ff.

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Leibsorge und Seelsorge

Stufe 4: Ethisch erfahrene Berufsangehörige im Krankenhaus In der Ethik erfahrene Berufsangehörige lassen sich von ethischen Maximen leiten, deren rechter Gebrauch ein tiefer gehendes Verständnis der Gesamtsituation erfordert. Auch verfügen sie über ausreichende Erfahrungen mit Ethikgesprächen und beherrschen die Verfahrensregeln für einen ethischen Diskussionsprozess z.B. im Team oder in einem Ethikkomitee. Sie erkennen aufgrund ihrer Erfahrung, ob ein Einzelfall von der Regel abweicht und können im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit auch mit ethischen Grenzfällen kompetent umgehen. Sie haben Erfahrung mit ethischen Dilemmata und den Grenzen glatter ethischer Lösungen, an denen Verantwortungsübernahme nicht frei von moralischer Schuld ist. Ziele der Fortbildung: Vor allem regelmäßige Rounds, in denen Fallbeispiele aus der eigenen Praxis diskutiert werden, aber auch Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen auf dem Gebiet der klinischen Ethik. Stufe 5: Ethik-Experten im Krankenhaus Berufsangehörige, die neben der praktischen Erfahrung über ein vertieftes theoretisches Wissen verfügen. Sie sind in der Lage, ethische Probleme intuitiv zu erfassen und Einzelsituationen ethisch in einem größeren Kontext zu interpretieren. Sie sind auch ausgewiesenermaßen für die Mitarbeit in Ethikkommissionen und Klinischen Ethikkomitees qualifiziert. Ziele der Fort- und Weiterbildung: Berufliche Weiterbildung auf dem Gebiet der klinischen Ethik, bzw. der Medizin- oder der Pflegeethik in Form von außeruniversitären Lehrgängen, die mit einem Zertifikat abschließen, in Form von Hochschullehrgängen oder in Form einer Schwerpunktbildung im Rahmen eines Studiums. Ob es nun um die ethische Kompetenz von Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorgern, von Ärztinnen und Ärzten oder von Pflegenden geht: Wünschenswert ist ein Gesamtkonzept, das zwischen Grundstufe und Aufbaustufen unterscheidet und neben regelmäßigen Fortbildungen in Form von Rounds Ausbildungsmodule enthält. Eine akademische bzw. universitäre pflege- oder medizinethische Ausbildung lässt sich dann nochmals in Grund- und Aufbaustufen, vom Grundstudium bis zur Promotion, untergliedern. Auch hier gibt es also wieder Stufen vom Neuling zum Experten oder zur Expertin. Zum klinischen Ethik-Experten wird man aber auch nicht nur durch ein reines Theoriestudium. Ein vertieftes Studium der Pflegeethik, der Medizinethik oder der Klinischen Ethik muss auch Praxiselemente (Rounds, Praktika, Projekte, berufsbegleitendes Studium) enthalten. Es sei nochmals betont, dass bei diesem Modell der Aus-, Fort- und Weiterbildung ein integrativer Ansatz von Ethik im Krankenhaus vorausgesetzt wird, kein Säulenmodell, das Medizinethik, Pflegeethik und Krankenhaus-

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Spiritualität und ethische Kompetenz in der Krankenhausseelsorge

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seelsorge unvermittelt nebeneinander stellen würde. So wie Ärzte, Pflegende und Krankenhausseelsorger im Berufsalltag ständig miteinander kooperieren, müssen medizin- und pflegeethische Fragen bzw. Fragen der Klinischen Ethik einschließlich ihrer religiösen Dimension in ihrem inneren Zusammenhang gesehen werden. Für die Aus-, Fort- und Weiterbildung heißt dies, dass interprofessionelle Bildungsangebote zu entwickeln sind, an denen Ärzte, Pflegende und Krankenhauseelsorger gemeinsam teilnehmen. So gewiss die Krankenhausseelsorge für sich ethische Kompetenz in Anspruch nehmen darf, so wenig darf sie die ethische Kompetenz exklusiv für sich allein reklamieren.

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5 Mit Krankheit leben

5.1 Die Konstruktion von Gesundheit und Krankheit Schon Jesus wusste: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“ (Lk 5,31)1. Auch die moderne Medizin lebt genau genommen nicht von der Gesundheit, sondern von der Krankheit. Mögen sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen in Deutschland auch inzwischen „Gesundheitskasse“ nennen, bestimmt sich der Inhalt dessen, was unter Gesundheit verstanden wird, noch immer von der Krankheit her. „Gesundheit“ ist die teleologische, „Krankheit“ die legitimatorische Kategorie der Medizin.2 Diese ist weder eine reine Naturwissenschaft noch eine Geisteswissenschaft, sondern eine praktische oder Handlungswissenschaft. Die Feststellung von Krankheit und Gesundheit aufgrund ärztlicher Beobachtung erfolgt daher keineswegs zweckfrei, wie es idealtypisch bei einer theoretischen Wissenschaft der Fall ist (auch wenn selbst hier die Zweckfreiheit eine problematische Maxime ist), sondern immer schon aus der Handlungsperspektive, vorderhand mit der Absicht, die eigene Zuständigkeit zu reklamieren oder abzuweisen.3 Allgemein lässt sich die Erfahrung von Krankheit als Krise im menschlichen Dasein, als Beeinträchtigung oder Verlust selbstbestimmter Lebensund Handlungsfähigkeit charakterisieren. Gesundheit bezeichnet demgegenüber das Wohlbefinden einer uneingeschränkten Vitalität und Aktionsfähigkeit. Interessanterweise lässt sich die Erfahrung von Krankheit leichter beschreiben als diejenige der Gesundheit. Hans-Georg Gadamer hat von der Verborgenheit der Gesundheit gesprochen.4 Diese erschließt sich gleichsam nur via negationis über die Erfahrung ihres vorübergehenden oder dauerhaften Verlustes. So schrieb der französische Chirurg René Leriche, Gesundheit sei „ein Leben unter dem Schweigen der Organe“5, und David B. Morris ergänzt: „Ein vollständiges Wohlergehen entzieht sich vielleicht einfach ————— 1 Vgl. auch die Parallelen in Mk 2,17; Mt 9,12, wo anstelle von den Gesunden (¸HJBePUOFK) von den Starken (dTDºPOUFK) gesprochen wird. – Eine Vorfassung des Kapitels ist unter dem Titel „Mit Krankheit leben. Der Krankheitsbegriff in der medizinethischen Diskussion“ erschienen, in: ThLZ 130, 2005. 2 Vgl. A. Labisch/N. Paul, Art. Medizin 1, 631. 3 Vgl. W. Wieland, Diagnose. 4 H.-G. Gadamer, Verborgenheit der Gesundheit. 5 Zitiert nach D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 56.

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Die Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

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der Wahrnehmung. Im Gegensatz zur Krankheit läuft Gesundheit prinzipiell Gefahr, langweilig zu erscheinen: ein Leben ohne Prüfungen, ein Film ohne Ton.“6 Ähnlich betont der Medizinethiker und Medizinhistoriker Dietrich v. Engelhardt die positive Funktion, welche die Krankheit individuell und kulturell haben kann. „Krankheiten verleihen der Beziehung von Körper und Kultur neue Dimensionen. Im Kranksein wird dem Menschen sein Körper oft erst bewusst. [...] Das durch Krankheit veränderte Körpergefühl verändert das Raum- und Zeitgefühl wie die sozialen Kontakte und das Selbstbild des Kranken.“7

Auch die Soziologin Farideh Akashe-Böhme und ihr Mann, der Philosoph Gernot Böhme deuten in ihrem Buch Mit Krankheit leben Krankheiten als ausgezeichnete Form der Leiberfahrung in einer von Leibvergessenheit geprägten Zivilisation.8 „Krankheit“, so Morris, „definiert uns in gewisser Weise. Sie sagt uns, wer wir sind. [...] Anders als Roboter und Kaninchen erkrankt der Mensch häufig und nicht selten für lange Zeit, was weniger ein Fehler in unserem Bauplan als eine unserer typischen Eigenschaften zu sein scheint.“9 Für das Ehepaar Böhme erschließt sich in der Krankheit der grundlegende „Lastcharakter des Daseins“, von dem Martin Heidegger gesprochen hat und dessen Bewältigung zu einem guten Leben gehöre.10 Krankheit ist somit nicht nur ein unabänderlicher Teil des Lebens, sondern ihr wird für die menschliche Existenz und Lebensführung eine positive, um nicht zu sagen pädagogische Funktion zugeschrieben, die man als nachchristliche Transformation des Gedankens von Krankheit als göttlichem Erziehungsmittel interpretieren kann. Vordergründig betrachtet verhalten sich Gesundheit und Krankheit zueinander wie Norm und Abweichung.11 Doch worin die Norm und worin die Abweichung besteht, hängt vom jeweiligen Bezugssystem und Interpretationsrahmen ab. Daher verbietet sich z.B. die Ontologisierung des Gegensatzes zwischen Krankheit und Gesundheit. Sprachanalytisch betrachtet besteht nämlich zwischen der substantivischen Rede von „Krankheit – Gesundheit“ und der prädikativen Rede „krank – gesund“ ein gewichtiger Unterschied. Die englische Sprache und die neuere Medizinsoziologie kennen den Unterschied zwischen Krankheit (disease) und Kranksein (ill————— 6

Ebd. D. v. Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 13. 8 F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 16ff. 9 D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 7. 10 F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 19ff. 11 Vgl. G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische. 7

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Mit Krankheit leben

ness).12 Aus Sicht der Medizin kann jemand eine Krankheit haben, ohne sich subjektiv krank zu fühlen. Nach Auffassung der Psychosomatik bzw. der sogenannten anthropologischen Medizin (Viktor v. Weizsäcker, Thure v. Uexküll, Wolfgang Wesiak) sind nicht von der Person abgespaltene Krankheiten, sondern ist der kranke Mensch das Thema der Medizin.13 Ist Gesundheit nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben (Dietrich Rössler)14, dann kann es gesunde Kranke und kranke Gesunde geben.15 Die Bestimmung von „krank“ oder „gesund“ findet in zwischenmenschlicher Kommunikation statt, konkret in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, die ihrerseits eingebunden ist in das gesellschaftliche Gesundheitssystem. Entsprechend kann die konkrete Bestimmung von Krankheit und Gesundheit auf drei Ebenen erfolgen. Nach Karl Jaspers ist es in erster Linie der Patient, welcher über das Vorhandensein von Gesundheit oder Krankheit befindet, da letztendlich er bestimme, wann er krank ist.16 Nach Viktor v. Weizsäcker liegt die Feststellung von Krankheit und Gesundheit beim Arzt, der sich im Kommunikationsgeschehen ein Bild vom Kranken macht: „Ich nenne (!) den krank, der mich als Arzt anruft und in dem ich als Arzt die Not anerkenne. Für die Urteilsaussage ‚dieser ist krank‘ ist ‚die bestimmende Kategorie‘: der Arzt.“17 Dieser ist freilich ebenso wie der Patient eingebunden in das medizinische Versorgungssystem einer Gesellschaft, so dass man mit gleichem Recht behaupten kann: „Der Krankheitsbegriff, so unscharf er auch immer sein mag und so sperrig er sich für die konkreten Abgrenzungsnotwendigkeiten eines Versorgungssystems darstellt, wird, solange es die gesetzliche Krankenversicherung gibt, vom Versorgungssystem selbst definiert.“18

Krankheit und Gesundheit sind also letztlich eine gesellschaftliche Konstruktion, nicht ein rein biologischer Tatbestand. „Medizin ist Naturgeschichte und Kulturgeschichte, sie kann nicht auf Biologie oder Physik begrenzt werden. Gesundheit und Krankheit“ – so Dietrich v. Engelhardt – „sind stets deskriptive und zugleich normative Begriffe, sind Seins- und Werturteile – für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft.“19 Aus ————— 12

Zu dieser Unterscheidung vgl. E.J. Cassell, „Illness and Disease“; U. Gerhardt, Gesellschaft und Gesundheit. 13 Vgl. P. Hahn (Hg.), Psychosomatische Medizin; Th. v. Uexküll/R. Adler (Hg.), Psychosomatische Medizin. 14 D. Rössler, Der Arzt, 63. 15 Vgl. F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 8. 16 Vgl. K. Jaspers, Die Idee des Arztes. 17 V. v. Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke, 13. 18 E. Amelung, in: ders. (Hg.), Ethisches Denken, 36. 19 D. v. Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 7.

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Die Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

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soziologischer Sicht würdigt Jost Bauch diesen Umstand in seiner Aufsatzsammlung Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliche Konstruktion. Jede Gesellschaftsformation produziert demnach ihr eigenes Krankheitsspektrum. Bauch analysiert das heutige Verständnis von Krankheit und Gesundheit im Rahmen einer systemtheoretischen Analyse des modernen Gesundheitswesens. Er versteht Medizinsoziologie als Gesellschaftskritik. So fragt er im Anschluss an Niklas Luhmann nach dem blinden Fleck der Gesundheitswissenschaften bzw. nach dem Reflexionsdefizit des Gesundheitswesens und seinen gesundheits- und biopolitischen Konsequenzen. „Das Reflexionsdefizit besteht darin, dass diese Disziplinen die Zielformel von der Gesundheit als dem höchsten Gut so gut wie gar nicht kritisch hinterfragen.“20 Infolge dieses Mangels an Reflexion wird Gesundheit zur „Hypermoral“ (Arnold Gehlen), der eine Tendenz zur totalitären Gesellschaft innewohnt: „Wenn uns die Gesundheit die Regeln für eine gute Gesellschaft und für ein ‚gelingendes Leben‘ vorgibt, dann ist der Totalitarismus nicht weit. Kann ein Leben mit Krankheit und Behinderung nicht ‚gelingend‘ – was immer man sich da vorstellen mag – sein?“21 Wenngleich Krankheit und Gesundheit stets auch eine soziale und kulturelle Erscheinung sind, wäre doch die vollständige Ablösung des Krankheitsbegriffs von biologisch beschreibbaren somatischen bzw. organischen Sachverhalten unhaltbar. Andernfalls hätte eine naturwissenschaftlich fundierte Medizin kein Kriterium mehr, anhand dessen sie über ihre Zuständigkeit entscheiden könnte. Auch würden die theoretischen Voraussetzungen ihrer Methoden entfallen, deren Anwendung damit aber sinnlos bzw. völlig unkontrollierbar wäre. Freilich sind Biologie und Natur dabei keine statischen oder überzeitlichen Größen, sondern auch sie unterliegen dem kulturellen Wandel, wie David B. Morris eindrucksvoll zeigt. Die Einwirkungen der menschlichen Kultur auf die Natur führen nicht nur zu veränderten Interpretationen, sondern zu Eingriffen in Natur und Umwelt, wodurch die Ausbreitung von Krankheiten, aber auch ihre Gestalt verändert werden. Alte Krankheiten verschwinden, völlig neue entstehen. Morris plädiert daher für ein biokulturelles Krankheitsmodell, das auch die spezifischen Bedingungen von Krankheit und Gesundheit in der postmodernen Gesellschaft verstehen lehrt.22 Würdigt man zusätzlich die Eigenständigkeit der Psyche bzw. unterscheidet man von biologischen und sozialen Systeme nochmals im Sinne Luhmanns psychische Systeme, gelangt man schließlich zu einem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell, wie es Jürg Willi und ————— 20

J. Bauch, Krankheit und Gesundheit, 8. A.a.O., 4. 22 Vgl. D.B. Moris, Krankheit und Kultur, 79ff. 21

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Mit Krankheit leben

Edgar Heim oder auch Johannes Bircher und Karl-Heinz Wehkamp vorschlagen.23 Ein biokulturelles bzw. bio-psycho-soziales Modell von Krankheit und Gesundheit verbessert das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Krankheit und sozialer Stellung, zwischen Krankheit und Geschlecht (in der doppelten Bedeutung von gender und sex) oder auch für die Besonderheiten von Krankheit im Alter. Männer haben z.B. eine durchschnittlich geringere Lebenserwartung als Frauen, diese dagegen eine höhere Morbidität als Männer. Eine Differenzierung der Krankheiten nach Geschlechtern hat sich aber nicht nur am biologischen Geschlecht zu orientieren, sondern auch an unterschiedlichen Krankheitsverläufen, die von sozialen bzw. kulturellen Geschlechterrollen abhängen.24 Wie das Geschlecht ist auch das Alter, wie die Gerontologie zeigt, eine kulturell geprägte und sich in der modernen Gesellschaft stark verändernde Lebensphase. Altersspezifische Krankheiten und Krankheitsverläufe unterliegen einem biokulturellen Wandel.25 Dass Menschen mit niedrigem Einkommen und schlechter Bildung ein höheres Krankheitsrisiko als z.B. Akademiker haben, ist bekannt. Besonderes Augenmerk ist aber auch auf die spezifischen Krankheitsrisiken und Versorgungsprobleme von Migranten zu richten, die mit Ausgrenzung, Stigmatisierung und kulturellen Unterschieden zusammenhängen und schon bei Sprachproblemen beginnen.26 Generell besteht zwischen medizinischer Krankheitslehre und Diagnostik auf der einen Seite und gesellschaftlichen Wertvorstellungen auf der anderen Seite ein kompliziertes Wechselspiel. Die hierbei eingetretenen Veränderungen und Erweiterungen der Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ führen in der hochtechnisierten modernen Gesellschaft zu einer ständigen Ausdehnung der Reichweite medizinischer Verantwortung. Die Erfolgsgeschichte der modernen Medizin hat dazu geführt, dass diese im Bereich von Krankheit und Gesundheit – wenn auch nicht vollständig, so doch weitgehend – das Definitions- und Handlungsmonopol erlangt hat. Selbst die Definition von Leben und Tod wird inzwischen der Medizin übertragen, wie entsprechende Bestimmungen z.B. des deutschen Organtransplantationsgesetzes zeigen. Abweichende Deutungssysteme und Sinnwelten wer————— 23 Vgl. J. Willi/E. Heim, Psychosoziale Medizin; J. Bircher/K.-H. Wehkamp, Das ungenützte Potential der Medizin. Ihre Definition lautet: „Gesundheit ist ein dynamischer Zustand von Wohlbefinden, bestehend aus einem biopsychosozialen Potential, das genügt, um die alters- und kulturspezifischen Ansprüche des Lebens in Eigenverantwortung zu befriedigen. Krankheit ist der Zustand, bei dem das Potential diesen Ansprüchen nicht genügt“ (53). 24 Vgl. dazu F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 93ff, sowie D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 171ff und seine Analyse der Biologie der Magersucht. 25 Vgl. D. Ritschl, Theorie, 232ff.248ff. 26 F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 113ff.

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Krankheit, Schmerz und Leiden

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den dementsprechend „nihiliert“27 oder nur noch als Außenseiterpositionen wahrgenommen. Als oberster Lebensinhalt gilt heute vielen Menschen: „Hauptsache gesund!“ Abgesehen davon, dass man die dahinter stehende Gedankenlosigkeit oder auch geradezu religiöse Vergötzung der Gesundheit kritisieren kann, lässt sich die These vertreten, dass diese Maxime zwangsläufig krank macht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit nicht etwa nur als „Freisein von Krankheit und Gebrechen“, sondern als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“28. Zustimmung verdient diese Definition insoweit, als sie den für das vormoderne Gesundheitsverständnis grundlegenden Begriff der „integritas“ aufgreift. Ein auf den somatischen Bereich reduziertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit ist in der Tat abzulehnen. Die Ansicht, das Ziel medizinischen Handelns müsse die Herstellung eines Zustandes des Glücks und der Vollkommenheit sein, ist freilich utopisch. Nimmt man die Gesundheitsdefinition der WHO ernst, dürfte wohl kaum ein Mensch auf Erden wirklich gesund sein.29 Je umfassender und „ganzheitlicher“ Gesundheit definiert wird, desto größer die Zahl derer, deren Gesundheitszustand diesem Kriterium nicht genügt. Das hat, wie der Medizinjournalist Jörg Blech, feststellt, handfeste ökonomische Konsequenzen: „Die Gesundheit wird zu einem Zustand gemacht, den keiner mehr erreichen kann, für den man in Deutschland aber mittlerweile durchschnittlich mehr als 14 Prozent des Gehalts an die Krankenkassen abgeben muss.“30 Ein utopischer Gesundheitsbegriff und seine paradoxen Folgen sind aus Blechs Sicht eindeutig ein Wohlstandsphänomen: „Je reicher ein Land ist und je mehr Geld eine Gesellschaft in das Gesundheitssystem pumpt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich ihre Mitglieder krank fühlen.“31

5.2 Krankheit, Schmerz und Leiden Zu den körperlichen Symptomen von Krankheit gehört der Schmerz. In ihm brechen die Organe ihr Schweigen. Wie die Krankheit ist auch der Schmerz ————— 27

Vgl. P.L. Berger/Th. Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion. Zitiert nach D. v. Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 88. Die Definition stammt bereits aus dem Jahr 1947. 29 So schon die Kritik bei K. Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter, 53: „Solche Gesundheit gibt es nicht. Nach diesem Begriff sind in der Tat alle Menschen und jederzeit irgendwie krank.“ 30 J. Blech, Krankheitserfinder, 18. 31 A.a.O., 217. 28

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Mit Krankheit leben

bio-kulturell zu verstehen.32 Auch er ist Natur und Kultur zugleich und bedarf der Interpretation. So gibt es eine Kulturgeschichte des Schmerzes, die z.B. Dietrich von Engelhardt nachzeichnet.33 Krankheit und Schmerz sind zu unterscheiden, können aber auch zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmelzen. Das gilt vor allem für chronische Schmerzen, die von akuten Schmerzen zu unterscheiden sind. Die moderne Schmerzmedizin geht davon aus, dass der Schmerz in vielen Fällen nicht etwa nur als Symptom von Krankheit, sondern selbst als Krankheit begriffen werden muss. Statistisch betrachtet verursachen Schmerzkrankheiten im Gesundheitswesen hohe Kosten. Chronische Rückenschmerzen sind auch eine häufige Diagnose für Frühverrentung. Schmerzen müssen nicht notwendigerweise eine somatische Ursache, sondern können auch eine psychische Ursache haben. Es gibt z.B. einerseits Patienten mit somatischen Befunden des Stützapparates, die dennoch schmerzfrei sind, während andererseits bei vielen Patienten, die über chronische Rückenschmerzen klagen, keine organischen Befunde vorliegen. Ein biokulturelles bzw. bio-psycho-soziales Modell des Schmerzes lehrt uns, den Schmerz nicht nur als Symptom, auch nicht nur als Krankheit zu begreifen, sondern wie Krankheit auch als Metapher zu verstehen und zu deuten.34 Das bedeutet aber auch, dass individuelle oder kollektive Bedeutungszuschreibungen die Schmerzerfahrung wesentlich beeinflussen können. Wie grundsätzlich zwischen Krankheit und Schmerz zu unterscheiden ist, so auch zwischen Krankheit und Leiden. Entsprechend der Unterscheidung zwischen „disease“ und „illness“ kann man eine Krankheit haben, ohne an ihr zu leiden. Das Leiden ist aber auch vom Schmerz zu unterscheiden, insoweit man auch Schmerzen haben kann ohne zu leiden oder leiden, ohne Schmerzen zu haben. „Leiden kann also nicht einfach als gesteigerter Schmerz definiert werden.“35 Die Frage des Leidens hat die moderne Medizin – sieht man von der Psychosomatik ab – aus ihrem Zuständigkeitsbereich weitgehend ausgegrenzt und an die Seelsorge oder an die Psychotherapie verwiesen. Nach Ansicht von Morris muss „eine postmoderne Sicht des Leidens auf einer ernsthaften Diskussion des Erzählens aufbauen“36. Dazu gehört auch die Kritik an der Auffassung, Leiden sei wesentlich stets privater Natur. Aids ist ein Beispiel dafür, wie die Leiden einer bestimmten Patientenpopulation und ihre Stigmatisierung – in diesem Fall aufgrund der verkürzenden Verbindung von Aids und (Homo)Sexualiät ————— 32

Vgl. D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 121ff. D. v. Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 102ff. 34 Vgl. S. Sontag, Krankheit als Metapher. Krankheit bedeutet bei Sontag, wie der englische Originaltitel besagt, „illness“. 35 D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 234. 36 A.a.O., 236. 33

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Krankheit und Erzählung

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– öffentlich gemacht und in bestimmten kulturellen Genres thematisiert werden. Das Problem des Leidens führt zur Frage nach dem Sinn von Krankheit, zum Problem der Schuld und von Schuldgefühlen, sowie zum mehrschichtigen Begriff des Opfers (victim oder sacrifice) und der Opferrolle, die Kranken zugeschrieben wird, oder die sich selbst zuschreiben. Trotz seiner Verknüpfung mit biologischen Prozessen ist Leiden also keine feststehende Größe, „sondern ein fließender sozialer Zustand: ein Status, den wir einem anderen zubilligen oder verweigern“37. Dabei spielen Werthaltungen einschließlich religiöser Grundorientierungen eine erhebliche Rolle.

5.3 Krankheit und Erzählung Jede Krankheit ist Teil einer Biographie. Die Krankengeschichte geht über die Datensammlung in der Krankenakte weit hinaus. Nicht nur sind die Ursachen von Krankheit möglicherweise in der Biographie eines Patienten zu suchen, sondern Krankheiten strukturieren auch das Leben. „Das war vor, das nach meiner Operation“, sagt jemand. Im Kontext einer Lebensgeschichte bekommt Krankheit ihren spezifischen Sinn. Krankheiten sind Krisenerfahrungen, die einem Leben eine ganz neue Richtung geben können. Und schließlich kann Krankheit geradezu zu einer Lebensform werden, wenn sie einen chronischen oder progredienten Verlauf nimmt. Die Krankheit in das eigene Leben bzw. in die Selbstsicht zu integrieren, stellt den Einzelnen, aber auch seine Familie oder Umgebung vor eine große Herausforderung. Sie kann aber, besonders im Fall von Demenzerkrankungen, die Persönlichkeit des Patienten radikal verändern, bis dahin, dass die Identität der Person, die der betroffene Mensch einmal war, fraglich wird. Die ethischen Fragen, die sich hieraus für die Reichweite von Patientenverfügungen und das Problem des mutmaßlichen Willens z.B. von Alzheimer-Patienten im fortgeschrittenen Stadium ergeben, seien hier nur genannt, ohne sie weiter zu diskutieren. Bereits im 2. Kapitel wurde Dietrich Ritschls story-Konzept ausführlicher dargestellt. Es verdeutlicht nochmals, wie sehr Krankheit und Gesundheit Konstruktionen sind.38 Die Lebensgeschichte wird, indem sie erzählt wird, in eine Form gebracht und stilisiert. Es gibt schließlich keine formlosen Erzählungen, sondern unterschiedliche Erzählformen und -gattungen. ————— 37

A.a.O., 263. Allerdings überrascht es ein wenig, dass der Krankheitsbegriff selbst in Ritschls Arbeiten gegenüber einem differenzierten Begriff von Heilung eine untergeordnete Rolle spielt. Vgl. D. Ritschl, Theorie, 219ff. 38

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Mit Krankheit leben

Auch die verschiedenen Krankheiten lassen sich unter erzähltheoretischem Blickwinkel nach Genres oder Gattungen unterscheiden. Herzinfarkte, Krebserkrankungen und Knochenbrüche haben ihre jeweils spezifische Erzählform. Die individuelle Krankheitsstory lässt sich einer größeren Gattung zuordnen. Und schließlich kann auch die Medizin bzw. das Gesundheitswesen erzähltheoretisch analysiert werden. Die moderne Medizin wird zumeist als Fortschrittsgeschichte stilisiert, als Geschichte eines großen Feldzuges und fortgesetzter Etappensiege gegen den Feind, der in Form von Bakterien oder entarteten Zellen den menschlichen Lebensraum zu erobern sucht. Da gibt es Geschichten von Helden und Opfern, von Sieg und Niederlage. Sowohl Ritschl als auch Morris plädieren daher für ein narratives Konzept medizinischer Ethik. Morris spricht von einer „narrativen Bioethik“39 und interpretiert „das Erzählen als Medium des moralischen Wissens“40. Schon die Schilderung der eigenen Krankheit stellt nach seiner Auffassung eine moralische Handlung dar, die dem Kranken eine Neugestaltung seines Lebens ermöglicht. Dazu braucht er Menschen, z.B. Ärzte, die ihm aufmerksam und verständnisvoll zuhören. Auch dies ist eine ethische Aufgabe. Zu den Aufgaben der Medizinethik gehört es nach Morris, auch von den Schattenseiten der modernen Medizin und von den schmerzlichen Augenblicken des Scheiterns und der Niederlagen zu erzählen. Während bei Morris – postmodern – die Fragilität und Fragmenthaftigkeit der Erzählung im Vordergrund steht, dominiert bei Ritschl eine eschatologische Totalperspektive, in die auch die Geschichten von abgebrochenen oder falsch gelaufenen Lebens- und Krankheitsgeschichten eingebettet ist. Kriterium dafür sind Geschichten „gelungenen Lebens“41, und die Totalstory Gottes ist eine Meta-Story des gelingenden Lebens. Aus ihr sollen sich auch universale Prinzipien medizinischer Ethik ableiten lassen, die den modernen ethischen Pluralismus eindämmen.42 An dieser Stelle brechen allerdings gewichtige theologische Fragen auf, auf die wir im 6. Abschnitt zurückkommen werden. Das Storykonzept nötigt dazu, alte Fragen christlicher Eschatologie und christlicher Geschichtstheologie neu zu stellen. Wie kann eine universale Eschatologie formuliert werden, deren Geschichtsverständnis nicht totalitär ist und nicht möglicherweise ungewollt die totalitaristische Tendenz einer „salutokorrekten Gesellschaft“43 fördert, die Gesundheit zum höchsten Gut und das Gesundsein zur moralischen Pflicht erklärt? Wie lässt sich die Erfahrung der Fragmenthaftigkeit menschlichen Lebens, ————— 39

D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 303ff. A.a.O., 314. 41 D. Ritschl, Theorie, 43. 42 Vgl. a.a.O., 135ff. 43 J. Bauch, Krankheit und Gesundheit, 4. 40

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Krankheit und Religion

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auch der Bruchstückhaftigkeit und Vorläufigkeit von Krankheit und Gesundheit, mit der eschatologischen Perspektive einer vom Menschen selbst nicht zu leistenden Vollendung verbinden?

5.4 Krankheit und Religion Medizinethische Probleme bewegen sich auf drei Ebenen: auf der personalen Ebene bzw. der Ebene interaktioneller Beziehungen, z.B. zwischen Arzt und Patient, auf der strukturellen oder institutionellen Ebene, auf der z.B. das Krankenhaus oder das gesamte Gesundheitswesen als Systeme oder Organisationen in den Blick treten, und schließlich die kulturelle Ebene, auf der Einstellungen und Werthaltungen, d.h. aber auch weltanschauliche oder religiöse Grundorientierungen angesiedelt sind.44 Diese Grundeinstellungen und Wertvorstellungen prägen sowohl die personale als auch die strukturelle Ebene. Das Verhältnis von Krankheit und Religion wurde bereits im vorigen Kapitel eingehend diskutiert. Die dortigen Analysen sind im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Diskussion zum Verständnis von Krankheit und Gesundheit noch ein wenig fortzuführen. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach dem Zusammenhang von Krankheit und Schuld bzw. Krankheit und Sünde, sondern auch um die Frage nach der möglichen Verbindung von Heil und Heilung.45 Gerade für das Christentum liegt der enge Zusammenhang von Heilung und Glaube auf der Hand. Adolf v. Harnack hat den Missionserfolg des ältesten Christentums in erheblichem Maße auf die zentrale Stellung von Heilung und Erlösung in der christlichen Botschaft, auf die Darstellung Christi als Heiland und Arzt und auf die damit verbundene Gegenüberstellung von Christus und Asklepios zurückgeführt.46 Eugen Biser hat das Christentum geradezu als „therapeutische Religion“ bezeichnet.47 In der charismatischen Bewegung und in den Pfingstkirchen spielt das Thema der Glaubensheilungen eine ganz zentrale Rolle, und auch andere Kirchen wenden sich dieser Fragestellung in letzter Zeit wieder verstärkt zu. ————— 44

Vgl. E. Amelung, in: ders. (Hg.), Ethisches Denken, 19–53; D. Ritschl, Theorie, 134. Siehe dazu ausführlich U. Körtner, Wie lange noch?, 53ff. 46 A. v. Harnack, Mission, 129ff. Das Verständnis von Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter hat Michael Dörnemann untersucht (M. Dörnemann, Krankheit und Heilung). Der Krankheitsbegriff selbst spielt in seiner Monographie allerdings nur indirekt eine Rolle, konzentriert sich Dörnemanns Untersuchung doch vor allem auf das Motiv des „Christus medicus“. 47 E. Biser, Heilkraft, 534. 45

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Mit Krankheit leben

Nach christlichem Verständnis sind Heil und Gesundheit einerseits voneinander zu unterscheiden, andererseits jedoch komplementär aufeinander bezogen. Damit gerät das christliche Heilsverständnis in ein kritisches Gegenüber nicht nur zu einem materialistischen, sondern auch zu einem spiritualistischen Verständnis von Krankheit und Gesundheit, wie es nicht nur in den neognostischen Bewegungen des New Age, sondern auch in der charismatischen Bewegung innerhalb des heutigen Christentums anzutreffen ist. Wenn Leiblichkeit das Ende der Werke Gottes ist (Friedrich Christoph Oetinger)48, Heil und Wohl des Menschen sowohl zu unterscheiden als auch einander zuzuordnen sind, so ist eine rein spirituelle Sicht von Krankheit und Gesundheit nicht weniger verkürzend wie eine mechanistisch-physiologische. Zwar besteht nach neutestamentlicher Auffassung ein Zusammenhang zwischen Sünde und physischem Übel. Auch werden Krankheiten in der biblischen Überlieferung auf die Wirkung von Dämonen und damit auf die transpersonale Macht des Bösen zurückgeführt. Indem aber ein unmittelbarer Tun-Ergehen-Zusammenhang bestritten wird49, impliziert das neutestamentliche Heilsverständnis der Sache nach eine Kritik der Annahme, dass Krankheit und Gesundung monokausal auf geistige Ursachen zurückzuführen seien. Ein derart spirituelles Verständnis von Krankheit und Gesundheit verkehrt die Bedeutung des Oetingerschen Satzes von der Leiblichkeit als dem Ende der Werke Gottes unter der Hand in sein Gegenteil. Denn die monokausale Erklärung der Sphäre des Leiblichen als Materialisierung des Geistigen führt faktisch zu einer gnostischen Abwertung des Leiblichen, wie sie aus der Gnosis oder aus der christlichen Theologiegeschichte von Origenes her bekannt ist. Die biblisch begründete Unterscheidung und Zuordnung von Heil und Heilung bedeutet, dass jeder monokausalen Erklärung von Gesundheit und Krankheit, damit aber auch jeder eindimensionalen Therapieform zu widersprechen ist. Der Mensch ist eine spannungsvolle, dialektische Einheit von Leib und Seele. Weder ist er reiner Geist, noch ist er reiner Leib, sondern er ist eine selbstbezügliche leibseelische Einheit. Sowenig Krankheiten deshalb von der Person und Biographie der betroffenen Person isoliert werden können, sowenig lassen sich sämtliche Krankheiten auf ein Missverhältnis zwischen Seele und Leib oder eine seelische Störung zurückführen. Aus gutem Grund äußert sich daher z.B. Dietrich Ritschl kritisch zur umstrittenen Psycho-Onkologie.50 Dass sich statistisch ein Zusammenhang zwischen Kanzerogenese und bestimmten Verhaltenstypen von Patienten nachweisen ————— 48 F.Chr. Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Zur Interpretation dieses vielfach zitierten Satzes siehe M. Krieg, „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“. 49 Vgl. Joh 9,1–3; Lk 13,1–5. 50 D. Ritschl, Theorie, 166f.

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Die fortschreitende Medikalisierung des Lebens

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lässt, der therapeutische und medizinethische Relevanz hätte, wird von Fachleuten bezweifelt. Prädiktiven Wert – was ja für die Gesundheitsvorsorge interessant wäre – haben psychoonkologische Studien offenbar nicht.

5.5 Die fortschreitende Medikalisierung des Lebens Die Definitionsmacht der modernen Medizin äußert sich in einer zunehmenden Pathologisierung von physiologischen und psychischen Zuständen, von Einzelpersonen und ganzen Bevölkerungsgruppen. Dadurch weitet die Medizin ihren Zuständigkeitsbereich fortwährend aus. Allerdings gibt es auch Beispiele für ihre Selbstbeschränkung. Erinnert sei z.B. daran, dass die WHO vor längerer Zeit die Homosexualität aus ihrer Liste der Krankheiten gestrichen hat. Zahlreiche Gegenbeispiele lassen sich dagegen aus dem Gebiet der Reproduktionsmedizin, der Genetik und der prädiktiven Medizin anführen. Sterilität gilt zunehmend als behandlungsbedürftige Krankheit, bis dahin, dass inzwischen der Rechtsanspruch auf die Übernahme der Kosten für eine In-Vitro-Fertilisation durch die Krankenkassen formuliert wird. Gut beobachten lässt sich die fortschreitende Medikalisierung des Lebens auf dem Gebiet der Genetik. Streng genommen gibt es wohl keinen Menschen ohne irgendwelche sogenannten Gendefekte, auch wenn diese nicht immer zu einer gravierenden Krankheit führen müssen. Die Unvollkommenheit, welche zum Menschsein gehört, zeigt sich also schon im molekulargenetischen Bereich. Während einerseits gerade seriöse Genetiker vor einem Gen-Reduktionismus warnen, weil der Mensch eben nicht durch sein Genom definiert und determiniert wird, lässt sich andererseits von der Genetik her einsichtig machen, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Behinderung und Nichtbehinderung fließend ist. Wollte man die Grenze aufgrund von genetischen Kriterien ziehen, so müsste man sagen, dass letztlich alle Menschen behindert sind. Gerade aus Sicht der Genetik gilt: Nobody is perfect. Weil es im Verlauf der Zellteilungen, die unser Körper im Laufe unseres Lebens durchläuft, immer wieder zu Mutationen kommt, bleibt übrigens auch die Idee, einen genetisch vollkommenen Menschen züchten zu können, eine Illusion. Die Forschung schreitet inzwischen von der Genetik zur Genomik und zur Proteomik voran. Genomik erforscht die konkrete Funktionsweise von Genen in Zellen und Zellverbänden und das Wechselspiel zwischen den verschiedenen Genen in unterschiedlichen Milieus. Ein weiterer Entwicklungsschritt ist die Proteomik. Als Proteom bezeichnet man die Gesamtheit aller Eiweißmoleküle, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle

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Mit Krankheit leben

vorhanden sind. Deren Wechselwirkungen sind noch komplexer als die der Gesamtheit aller Gene, des sogenannten Genoms. Die Genomforschung und ihre Anwendung bis hin zur Genomik und Pharmakogenomik eröffnen Chancen für neue Therapieansätze, die ethisch durchaus zu begrüßen sind. Gleichzeitig fördert der genetische Fortschritt aber auch problematische Tendenzen zur Pathologisierung des natürlichen Lebens. Die britischen Mediziner David Melzer und Ron Zimmern warnen zu Recht vor der Gefahr, dass Menschen aufgrund von Gentests medikalisiert und für krank erklärt werden. „Indem die genetische Wissenschaft zeigt, daß das Genom eines jeden unterschiedlich ist und wir alle in gewisser Hinsicht ‚abnorm‘ sind, zwingt sie uns auf einer fundamentalen Ebene dazu, das Konzept der Normalität als solches zu überdenken.“51 Der Schritt von der Genetik zur Genomik zeigt, dass die deterministische Annahme, wonach Gene unser Schicksal bestimmen und dass ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen genetischen Abweichungen und dem Ausbruch von Krankheiten oder Behinderungen besteht, naturwissenschaftlich betrachtet falsch ist. Zwar gibt es unzählige Studien, die einen Zusammenhang zwischen Genvarianten und bestimmten Erkrankungsrisiken postulieren. Nicht selten stellt sich jedoch heraus, dass deren Ergebnisse nicht reproduzierbar sind. Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen manifesten chromosomalen oder genetischen Störungen und genetischen Dispositionen, die irgendwann einmal zu irgendeiner Form von Symptomen führen könnten, fließend sind. Bezeichnenderweise hat die prädiktive (vorhersagende) Medizin eine neue Kategorie von Menschen geschaffen, den „unpatient“. Sie besagt, dass es im Grunde gar keine gesunden Menschen mehr gibt, sondern nur potentiell oder manifest Kranke. Zu einem ähnlichen Ergebnis führen auch neue interdisziplinäre Sichtweisen von chronischer Krankheit und Behinderung. Die WHO vertritt inzwischen ein entsprechendes Konzept, wonach jeder Mensch mehr oder weniger eingeschränkt ist bzw. im Alter sein wird.52 Zwischen Gesundheit und (chronischer) Krankheit bzw. Behinderung gibt es also nur fließende Übergänge. Ähnlich sehen es auch Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme. Da fast jeder Mensch – jedenfalls jenseits der Jugend – irgendeine Krankheit hat, soll sie „als Randbedingung des Lebensvollzugs akzeptiert“ und nicht nur als vorübergehende Störung angesehen werden.53 Die binäre begriffliche Unterscheidung, mit welcher, systemtheoretisch betrachtet, die Medizin und das übrige Gesundheitswesen operieren, wird ————— 51

D. Melzer/R. Zimmern, Genetics and Medicalisation. Vgl. M. Zaumseil, Ein neues Verständnis, 18. 53 F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 42. 52

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Die fortschreitende Medikalisierung des Lebens

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somit auf folgenreiche Weise ausdifferenziert. Geht man von der Gesundheitsdefinition der WHO oder von den Grundgedanken der Präventivmedizin und der prädiktiven Medizin aus, gibt es zahllose Menschen, die zwar nicht unbedingt krank sind – und folglich z.B. auch nicht vom Arzt „krankgeschrieben“ werden, aber eben auch nicht wirklich gesund sind. Aus der einfachen Alternative von „krank“ und „gesund“ entsteht ein begriffliches Geviert von „gesund“ – „nicht gesund“, „krank“ – „nicht krank“. Heute kann man nicht gesund sein, ohne deshalb krank zu sein. Man kann nicht krank sein, ohne deshalb wirklich gesund zu sein. Auch die bereits erwähnte medizinsoziologische Unterscheidung zwischen objektiver Krankheit (disease) und subjektiv erlebtem Kranksein (illness) verliert ihre Eindeutigkeit. Sie setzt voraus, dass sich medizinisches Wissen nach klaren Kriterien in objektives und subjektives Wissen einteilen lässt. „Aus postmoderner Sicht“ – so Morris – „sind Ärzte und medizinische Forscher trotz aller Bemühungen, verifizierbare Ergebnisse zu erzielen, nicht völlig objektiv, ebenso wie die Erfahrung des Patienten – trotz der Erkenntnis, dass der Mensch die Welt gefiltert durch sein eigenes Ich wahrnimmt – niemals nur subjektiv ist.“54 In seinem Buch Die Krankheitserfinder warnt der Medizinjournalist J. Blech vor der Art und Weise, wie Gesunde von einer medizinisch-pharmazeutischen Allianz zu Patienten gemacht werden. Blech kritisiert, dass Krankheiten aus merkantilem Interesse regelrecht erfunden werden, z.B. indem man normale Prozesse des Lebens wie Geburt, Altern, Sexualität, Nicht-Glücklichsein und Tod sowie zahlreiche Befindlichkeitsstörungen zu behandlungsbedürftigen Krankheiten erklärt. Blech listet fünf Spielarten der Medikalisierung des Lebens auf55: 1. Normale Prozesse des Lebens werden als medizinische Probleme verkauft. 2. Persönliche und soziale Probleme wie z.B. Schüchternheit oder Hyperaktivität bei Kindern werden zu medizinischen erklärt. 3. Mögliche Gesundheitsrisiken – z.B. Cholesterinwerte – werden als Krankheit verkauft. 4. Seltene Symptome werden zu grassierenden Volkskrankheiten hochgespielt. 5. Leichte Symptome werden als Vorboten schwerer Leiden gedeutet. Unter anderem weist Blech auf die Gefahren hin, die von expandierenden Gentests ausgeht, die heute schon über das Internet angeboten werden. Auch Mediziner warnen vor dem Geschäft mit der Angst, das manche Anbieter von Gentests im Internet betreiben.56 Die Seriosität einiger Gentests, mit deren Hilfe zum Beispiel Polymorphismen diagnostiziert werden sollen, vor allem aber ihre Aussagekraft, ist auch unter Fachleuten umstritten. ————— 54

D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 42. Vgl. J. Bech, Krankheitserfinder, 24ff. 56 R. Leinmüller, Gentests; H. Berth/A. Dinkel/F. Balck, Gentests für alle? 55

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Mit Krankheit leben

Nicht selten handelt es sich um rein statistische Aussagen über mögliche gesundheitliche Risiken, das heißt um Wahrscheinlichkeitsaussagen, aus der für den Lebensverlauf und die Gesundheitsvorsorge der Individuen seriöserweise keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten. Um der bedenkenlosen Medikalisierung und Pathologisierung von im Grunde natürlichen Vorgänge und Diversitäten Einhalt zu gebieten, ist es notwendig, einen Begriff von Nicht-Krankheiten zu entwickeln. Zu diesem Thema hat R. Smith 2002 eine Umfrage unter britischen Ärzten gemacht, deren Ergebnisse im Britisch Medical Journal veröffentlicht worden sind.57 Smith definiert Nicht-Krankheiten als „ein menschlicher Vorgang oder ein Problem, das von manchen als Erkrankung beurteilt wird, obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre“. Als Beispiele für Nicht-Krankheiten nennt Smith nicht nur Tränensäcke oder Haarausfall, sondern auch das Altern und die Menopause. Gerade vor dem Hintergrund der expandierenden Anti-Aging-Medizin hat die Diskussion über Nicht-Krankheiten einige Brisanz.

5.6 Utopischer Gesundheitsbegriff und mythisches Ganzheitsideal Einer scharfen theologischen Kritik unterzieht Gunda Schneider-Flume den utopischen Gesundheitsbegriff der WHO.58 Mit ihrer Kritik steht sie nicht allein.59 Den allgemein verbreiteten Wunsch: „Hauptsache gesund“, deutet sie als Beispiel für die „Tyrannei des gelingenden Lebens“60. Sie macht sich die bereits zitierte Definition des Arztes und Theologen Dietrich Rössler zu eigen, wonach Gesundheit nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Kraft ist, mit ihnen zu leben.61 Gesundheit als Kraft, mit Störungen zu leben, ist für Schneider-Flume freilich keine Leistung, sondern Gabe, wie umgekehrt auch Krankheit keine Frage der Schuld und des Versagens ist, sondern ein Widerfahrnis. Krankheit wie Gesundheit verweisen auf die grundlegende Erfahrung von Passivität und Rezeptivität, durch welche die einseitige Sicht des Lebens aus dem Blickwinkel der menschlichen Selbstbestimmung relativiert wird. Schneider-Flumes Kritik richtet sich grundlegend gegen die Idee des gelingenden Lebens, die bis in die kirchliche Sprache weit vorgedrungen ist.

————— 57

R. Smith, In search of „non-disease“. G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 85ff. 59 Vgl. z.B. U. Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“, 100ff; U. Eibach, Heilung, 50ff. 60 G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 82ff. 61 Vgl. D. Rössler, Der Arzt, 32; G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 95. 58

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Utopischer Gesundheitsbegriff und mythisches Ganzheitsideal

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Sie weiß sich darin mit dem Praktischen Theologen H. Luther einig.62 Nicht dass es im Leben kein Gelingen geben kann oder darf. „Aber die Befähigung, Pläne erfolgreich zu verwirklichen und Unternehmen zum Gelingen zu verhelfen oder auch misslingen zu lassen, berechtigt nicht dazu, das Leben selbst als ganzes unter das Urteil des Gelingens zu stellen und damit die Tyrannei des gelingenden Lebens als alles beherrschend zu etablieren.“63

Schon Dieter Schellong hat vor etlichen Jahren darauf aufmerksam gemacht, wie gemein im Grunde der Jargon des gelingenden Lebens sei, weil es dann ja offenbar auch misslingendes Leben gibt, über das nur ein negatives Gesamturteil gesprochen werden kann.64 Ein solches Totalurteil wirkt gerade auf Schwerkranke, chronisch Kranke oder Menschen mit schweren Behinderungen besonders zynisch. Schneider-Flume bezieht sich unter anderem auf Henning Luthers Kritik am Mythos der Ganzheitlichkeit. Tatsächlich ist mit Luther zu fragen, ob die modernen Ideale der Vollkommenheit und Ganzheit, die sich im utopischen Gesundheitsbegriff unserer Gegenwart widerspiegeln, nicht in Wahrheit zerstörerisch statt heilend sind. „Zerstören sie nicht das uns lebbare Leben? Unser Leben mit all seinen Brüchen, Fehlern, Unvollkommenheiten, Schwächen? Hindern uns nicht die Illusionen von Vollkommenheit und Ganzheit am Leben? Drohen wir nicht an unseren Illusionen zu scheitern? Ist der Mythos der Ganzheit nicht eine einzige Lebenslüge, die unsere schüchternen und unvollkommenen Tastversuche, unseren Versuch zu leben, im Keim erstickt und abtötet?“65 Kritische Rückfragen sind daher auch an das Postulat und Selbstverständnis einer sogenannten ganzheitlichen oder holistischen Medizin zu richten, auch wenn ihre Kritik an der in Theorie und Praxis der sogenannten Schulmedizin herrschenden Atomisierung und Entpersonalisierung des kranken Menschen grundsätzlich Zustimmung verdient. Nicht Krankheiten oder kranke Organe, sondern kranke Menschen sind das Objekt medizinischen Handelns. Der kranke Mensch aber ist, wie die psychosomatische Medizin völlig zu Recht geltend macht, nicht das bloße Objekt von Krankheit und Heilung, sondern deren Subjekt. Entsprechend muss die heutige Medizin von einer krankheitsorientierten Heiltechnik zur krankenorientierten Heilkunde weiterentwickelt werden.66 ————— 62

Vgl. H. Luther, Identität und Fragment. G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 12. 64 D. Schellong, Krise der Ehe, 68f. 65 H. Luther, Leben als Fragment, 263. 66 Vgl. dazu H. Schipperges, Gesundheit – Krankheit – Heilung, 68ff.; J. Mayer-Scheu/R. Kautzky (Hg.), Vom Behandeln zum Heilen. 63

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Gleichwohl ist das Konzept einer Ganzheitsmedizin kritisch nach seinen anthropologischen Prämissen und der Zielsetzung therapeutischer Maßnahmen zu befragen. Fragwürdig ist der Ansatz einer holistischen Medizin jedenfalls dann, wenn er auf der These beruht, der Mensch sei im Grunde seines Wesens heil und gut, so dass er sich eigentlich aus eigener Kraft heilen könne und die Aufgabe therapeutischen Handelns lediglich in der Beseitigung von Hemmungen auf dem Weg zu voller Selbstverwirklichung bestehe.67 Theologisch wird man daher auch der psychosomatischen These von Krankheit als Selbstheilung nicht vorbehaltlos zustimmen können.68 Sie impliziert nämlich ein Verständnis von Gesundheit und Heilung, welches Gesundheit mit selbstzentrierter Integrität, diese aber mit Heil im religiösen Sinne gleichsetzt, so dass Heilung bzw. Selbstheilung zur Erlösung bzw. Selbsterlösung wird. Letztlich lässt sich die Idee des gelingenden Lebens auf die aristotelische Tradition einer teleologischen Ethik zurückführen, welche das menschliche Leben und menschliche Lebensführung unter eine Totalperspektive stellt. So erklärt Robert Spaemann: „Das Leben als ein Ganzes unter dem Gesichtspunkt seines vollkommenen Gelingens zu betrachten, ist für die Philosophie von Anfang an konstitutiv.“69 Aber auch die theologische Ethik Trutz Rendtorffs ist diesem Denkansatz verpflichtet, wobei das Gelingen lediglich modifiziert wird als kontrafaktische Antizipation des Gelingens, die durch Jesus Christus repräsentiert und als Rechtfertigungslehre theoretisch ausgestaltet wird.70 Dagegen steht jedoch der Tod Jesu am Kreuz, der gar nichts von einem gelingenden Leben an sich hatte. Zumindest nach der Darstellung im Markusevangelium ist es Jesus am Ende nicht gelungen, dem Leiden einen Sinn zu geben und das Sterben harmonisch und selbstbestimmt in das eigene Leben zu integrieren, wie es heute in der Seelsorge-, Lebenshilfe- und Sterbebegleitungsliteratur immer wieder propagiert wird.71 Die Osterbotschaft aber besagt, dass der Wert des Lebens und seine Würde gerade nicht vom Gelingen oder Misslingen menschlicher Lebensführung und Selbstverwirklichung abhängen, sondern von der Teilhabe am Leben Gottes und seiner Fülle. Christliche Eschatologie lebt zwar von Bildern der Erfüllung und Vollendung, aber diese dürfen nicht zu einer metaphysischen Theorie der Sinntotalität umgedeutet werden.72 Sofern Sinntotalität in meta————— 67

Zur Kritik siehe auch U. Eibach, Heilung, 50ff. Vgl. D. Beck, Krankheit als Selbstheilung. 69 R. Spaemann, Glück, 85. 70 Vgl. T. Rendtorff, Ethik I, 96. 71 Vgl. G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 105: „Man muss immer wieder darauf hinweisen, dass Jesus von Nazareth diesem Ideal nicht gerecht geworden ist.“ 72 So z.B. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 206. Zur Kritik an Pannenberg siehe F. Wagner, Was ist Religion?, 471ff, sowie G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 114ff. 68

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Utopischer Gesundheitsbegriff und mythisches Ganzheitsideal

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physischen Kategorien gedacht wird, gilt gerade aus der Sicht einer biblisch begründeten Eschatologie die Feststellung Theodor W. Adornos: „Das Ganze ist das Unwahre.“73 Einer grundlegenden Kritik unterzieht auch der Medizinsoziologe J. Bauch die Eschatologie der durch Transzendenzverlust gekennzeichneten salutokorrekten Gesellschaft, in der das Naturrecht des aufgeklärten Absolutismus grüßen lässt: „Wenn die Menschen durch sanitaristische Sozialisationsbedingungen und genetische Merkmalsplanung alle gesund und normiert sind, ist dann noch Gesellschaft, so wie wir glauben, sie zu kennen, möglich? Wenn Abweichungen minimiert werden, gibt es dann noch gesellschaftliche Evolution oder Geschichte? Oder befinden wir uns dann im post-histoire? [...] Wenn durch Normierungen die Kontingenzformel für Kommunikation zunehmen eingeschränkt wird, dann ist die Gesellschaft zu einer letzten Ordnung gekommen und damit totalitär.“74

Vor dem Hintergrund eigener Krankheitserfahrung wehrt sich SchneiderFlume gegen die verbreitete Forderung, dass Krankheit in jedem Fall in das eigene Leben integriert werden müsse und ihr unbedingt ein Sinn abzugewinnen sei. „Mit der Forderung nach Sinngebung steht der Umgang mit Krankheit unter einem Erfolgsdruck und Kranken wird aufgebürdet, was kein Gesunder von Krankheit eingestehen würde, nämlich dass ihr ein Sinn abzugewinnen sei.“75 Der Sinn von Krankheit und Leiden muss dann vom Kranken selbst ständig geleistet und aufrecht erhalten werden. Dementsprechend kritisch äußert sich Schneider-Flume auch zum Konzept des „coping“, d.h. des Fertigwerdens mit Krankheit, das in der Literatur zum Umgang mit chronischer Krankheit begegnet. Dietrich v. Engelhardt versteht unter „coping“ „eine glückende, positive und nicht nur neutrale Reaktion auf Probleme und Krisen“76. Dementsprechend sei auch Krankheit in das eigene Lebens- und Selbstverständnis zu integrieren. Auch plädiert v. Engelhardt für eine Diätetik als „Stilistik des Lebens“ bzw. als „ganzheitliche Lebenskunst, die Krankheit und Sterben umfasst, die Natur und Kultur verbindet“77. Aus Schneider-Flumes Sicht sind solche Forderungen ebenso problematisch wie die Idee eines „gelingenden bedingten Gesundseins“ bei chronischer Krankheit.78 Dies sei ein „Gelingen auf Kosten des Realitätssinns“79. Chronische Krankheit sei „entgegen aller Beschönigung der bleibende ————— 73

Th.W. Adorno, Minima Moralia, 57. J. Bauch, Krankheit und Gesundheit, 11. 75 G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 97. 76 D. v. Engelhardt, Mit der Krankheit leben, 9. 77 Ders., Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 175. 78 Vgl. F. Hartmann, „Qualität“ von Leben. 79 G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 98. 74

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Mit Krankheit leben

Stachel im Fleisch, wie der Apostel Paulus sagt“80. Wo es irgend möglich ist, müsse Krankheit bekämpft und ihr das Recht auf das Leben bestritten werden, weil sie die Kraft zum Leben einschränkt und somit lebenswidrig ist. Werden Gesundheit und Integration von Krankheit zum Gegenstand der Selbstverwirklichung erklärt, hat dies erhebliche soziale Auswirkungen. Der Einzelne wird dann nämlich zum eigenverantwortlichen Produzenten seiner Gesundheit. Dies führt dazu, worauf auch Jörg Blech hinweist, dass die Ursache sämtlicher Gesundheitsprobleme und die Lösungen ausschließlich beim Individuum gesucht werden. „Die Schuld für Probleme und Krankheiten wird auf das Individuum abgewälzt – während Politik und Gesellschaft sich aus der Verantwortung stehlen.“81 Darin zeigt sich abermals die strukturelle Mitleidslosigkeit des Ganzheitsideals, vor der H. Luther gewarnt hat.

5.7 Ethik des Krankseins So berechtigt der Protest gegen die Tyrannei des gelingenden Lebens auch ist, so wenig Grund besteht, den Begriff der Bewältigung von Krankheit überhaupt abzulehnen. Auch der Begriff der Lebensführung muss nicht zwangsläufig mit der Ideologie des gelingenden Lebens verbunden sein. Von Lebensführung lässt sich mit Johannes Fischer jedenfalls dann theologisch verantwortbar sprechen, wenn im Unterschied etwa zur Konzeption Trutz Rendtorffs die für den christlichen Glauben und seine Anthropologie grundlegende Erfahrung menschlicher Grundpassivität und Rezeptivität mitbedacht wird. „Lebensführung ist dann immer auch ein Geführt-Werden, oder besser: Sie ist ein Sich-führen-Lassen, das sowohl ein passivisches Moment wie ein Moment der Eigenverantwortung enthält“.82 In diesem Sinne ist nun auch das Leben mit Krankheit eine ethische Aufgabe. Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme sprechen geradezu von einer „Ethik des Krankseins“.83 Sie stellt sich in besonderem Maße im Umgang mit chronischer Krankheit. Ist Krankheit ein fester Bestandteil des Lebens, dann lässt sich das Kranksein selbst als eine besondere Form der „Lebenskunst“ deuten. Dieser Gedanke begegnet häufig in der gegenwärtigen bioethischen Literatur. Das Ehepaar Böhme nimmt dabei Anleihen bei ————— 80

A.a.O., 97. J. Blech, Krankheitserfinder, 223. 82 J. Fischer, Theologische Ethik, 136. Vgl. dazu auch das Wort des Auferstandenen an Petrus in Joh 21,18 und den Bericht des evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer über seine Kriegsgefangenschaft (H. Gollwitzer, ... und führen, wohin du nicht willst). 83 F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 85. 81

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Ethik des Krankseins

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der Stoa.84 Es gelte, die Krankheit einerseits als Widerfahrnis ernst zu nehmen, andererseits aber als je meine Krankheit anzunehmen. Weiterführend sind die Ausführungen Akashe-Böhmes und ihres Mannes zum Autonomiebegriff. Gegenüber paternalistischen Medizinkonzepten spielt die Autonomie des Patienten in den gegenwärtigen medizinethischen Debatten – gerade auch in der Diskussion über Therapieabbruch, Sterbehilfe und Patientenverfügungen – eine tragende Rolle. Oftmals besteht die Gefahr, dass von einem abstrakten Autonomiebegriff ausgegangen wird, welcher der tatsächlichen Hilfs- und Schutzbedürftigkeit kranker Menschen nicht gerecht wird. Gehört Krankheit zum Leben dazu, ist, wie das Ehepaar Böhme argumentiert, nicht Autonomie, sondern Souveränität das angemessene Persönlichkeitsideal. „Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten hinnehmen kann.“85 Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können. Wie die Hilfsbereitschaft gehört auch die Hilfsbedürftigkeit zu den grundlegenden Merkmalen menschlichen Lebens. Von Beginn an zeichnet sich unser Leben durch eine „chronische Bedürftigkeit“ und eine „unendliche Angewiesenheit“ aus.86 Nicht nur in den ersten Lebensmonaten und -jahren, im Krankheitsfall oder bei Unfällen, in Notlagen und akuten Krisen und zunehmend am Lebensende, sondern auch in guten Zeiten sind Menschen auf wechselseitige Hilfe und Unterstützung angewiesen. Konzeptionen einer „Care“-Ethik, die vor allem in der heutigen Medizinethik eine wichtige Rolle spielen, setzen voraus, dass Sorge, lateinisch „cura“, im Sinne der Selbstsorge und der Fürsorge, ein entscheidendes Grundmotiv menschlicher Lebensführung ist.87 Das Ethos des Helfens gründet ganz wesentlich in der Erfahrung unserer Verletzlichkeit, der eigenen wie der Verletzlichkeit des Anderen.88 Wechselseitige Hilfsbedürftigkeit ist gerade kein Mangel, sondern im Gegenteil eine Grundbedingung menschlicher Lebensfülle und menschlicher Daseinserfüllung. Zeiten eigener Krankheit, aber auch die Erfahrung der Krankheit des Anderen machen uns dies auf besonders eindringliche Weise bewusst.

————— 84

Vgl. a.a.O., 137ff. F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 62; vgl. 85. 86 W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, 11. Im Anschluss daran J. Ziemer, In Freiheit helfen, 85

7. 87

Vgl. dazu W.T. Reich, History; ders., Historical Dimensions. Auf die Bedeutung der Verletzlichkeit des Menschen für Moral und Ethik haben in der neuern Philosophie vor allem E. Levinas, P. Ricœur und J. Habermas hingewiesen. 88

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6 Krankheit und Marginalisierung

6.1 Der Marginalisierungsbegriff im Kontext der Medizin „Marginalisierung“ ist ein Begriff der modernen Soziologie, aber auch ein Kampfbegriff in politischen Auseinandersetzungen.1 Unter Marginalisierung werden Prozesse verstanden, bei dem Bevölkerungsgruppen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und benachteiligt werden, sei es auf wirtschaftlichem, auf politischem oder auf kulturellem Gebiet.2 Marginalisierung wird auch als Problem des Gesundheitssystems diskutiert. Nicht nur in armen Ländern, sondern auch für reiche Länder mit ausgebauten Sozialsystemen werden Phänomene der Marginalisierung beschrieben. Medizinsoziologische und sozialmedizinische Untersuchungen beschreiben die besonderen Gesundheits- und Versorgungsrisiken von Migranten, von ärmeren Schichten mit niedrigem Bildungsstand oder auch die Diskriminierung bestimmter Krankheitsträger wie z.B. Aidspatienten. Soziologisch betrachtet ist Marginalisierung eine soziale Konstruktion, die normative Wertungen enthält. Ihr Ergebnis wird als Marginalität bezeichnet. Beide Begriffe setzen das Bild von der Mitte und den Rändern der Gesellschaft voraus. Aus der Sicht derer, die sich zur Mitte der Gesellschaft rechnen, wird die Randposition der von den gesellschaftlichen Normen abweichenden Personen und Gruppen gern für selbstverschuldet gehalten: „Wer die Mitte besetzt, ist aller Ehren wert; wer an den Rand gerät, wird mit Schuld beladen und in Acht und Bann getan.“3 Die Lage der Marginalisierten kann aber auch in der Opfersemantik beschrieben werden, sei es von den Betroffenen selbst, sei es von Gruppen und Institutionen, die sich für sie einsetzen. Der Begriff der Marginalisierung ist daher nicht nur eine soziologische Beschreibungskategorie, sondern auch ein politischer Kampfbegriff. Das gilt es zu beachten, wenn über tatsächliche oder vermeintliche Marginalisierung im Gesundheitswesen gesprochen wird. Es ist daher allerdings die Frage zu diskutieren, wie weit es sich beim marginalisierten Patienten um eine Realität im medizinischen Alltag oder aber um eine polemische Fiktion ————— 1 Das Kapitel fußt auf meinem Aufsatz „Der marginalisierte Patient – medizinische Realität oder polemische Fiktion?“ (ZME 54, 2008). 2 Vgl. K.-P. Pfeiffer (Hg.), Vom Rande her?. 3 W. Lipp, Art. Marginalität, Sp. 793.

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Die Marginalisierung des Patienten

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handelt. Sie lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern muss auf differenzierte Weise gestellt werden. Erst bei sorgfältiger Analyse der unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen von Marginalisierung im Gesundheitssystem gesprochen wird, lässt sich die Frage beantworten, wie berechtigt die Rede von marginalisierten Patienten und Patientengruppen tatsächlich ist oder nicht. Wie sinnvoll ist es beispielsweise, die Anliegen der Gendermedizin, welche die grundlegende Bedeutung des sozialen Geschlechts in medizinischer Forschung, Diagnostik und Therapie herausstellt, unter dem Begriff der Marginalisierung zu diskutieren? Und führt die Marginalisierungssemantik nicht zu einer moralischen Aufladung medizinsoziologischer und gesundheitspolitischer Diskurse? Sollte die Medizinethik nicht wie alle Ethik im Sinne Niklas Luhmanns vor zuviel Moral warnen4 und daher gegenüber dem Marginalisierungsbegriff größte Zurückhaltung üben? In diesem Sinne setzt sich der vorliegende Beitrag das Ziel, die Leistungsfähigkeit, aber auch die Ambivalenzen des Marginalisierungsbegriffs im Kontext von Medizin und Medizinethik zu analysieren. Die Rede vom marginalisierten Patienten oder von marginalisierten Patientengruppen hat eine dreifache Bedeutung: Erstens sind Patientengruppen gemeint, die von unserem Gesundheitssystem, sei es in der Therapie, sei es in der Forschung, gegenüber der Mehrheit der Patienten vernachlässigt werden. Man denke zum Beispiel an Patienten mit einer besonders seltenen und daher kaum erforschten Krankheit. Zweitens geht es darum, dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer Erkrankung gesellschaftlich marginalisiert und stigmatisiert werden. Aids oder psychische Erkrankungen führen noch immer zur Stigmatisierung und damit auch zur Marginalisierung von betroffenen Patienten. Drittens ist schließlich auch davon zu reden, dass der Medizinbetrieb den Menschen als Patienten in gewisser Hinsicht grundsätzlich marginalisiert. Das ist eine soziologische Erkenntnis, die sich vor allem der funktionalen Systemtheorie verdankt.

6.2 Die Marginalisierung des Patienten Das Problem der Marginalisierung betrifft nicht nur einzelne Patientengruppen, sondern markiert ein Grundsatzproblem der modernen Medizin. In gewisser Hinsicht werden Menschen in der Rolle des Patienten grundsätzlich marginalisiert. Diese These mag zunächst überraschen oder spontanen Widerspruch hervorrufen. Steht der Mensch nicht ganz im Mittelpunkt einer humanen Medizin? Ist nicht der Patient nach übereinstimmender Sicht von Medizin, Ethik und Recht das Subjekt des therapeutischen Geschehens ————— 4

Vgl. N. Luhmann, Paradigm lost, 41.

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Krankheit und Marginalisierung

und nicht das Objekt? Steht nicht die Autonomie des Patienten an der Spitze aller medizinethischen Prinzipien? Und hat nicht in den vergangenen Jahrzehnten eine Veränderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses von einem Modell der paternalistischen Fürsorge und Bevormundung zum Modell eines partnerschaftlichen Miteinanders stattgefunden? Das alles ist nicht zu bestreiten. Zwischen Theorie und Praxis klafft bisweilen jedoch eine Lücke. Auch dürfen die beschriebenen Veränderungen im Arzt-Patienten-Verhältnis nicht statisch als abgeschlossene Entwicklung betrachtet werden. Die Forderung nach stärkerer Beachtung der Patientenautonomie, zum Beispiel auch am Lebensende, ist als Reaktion auf die reale oder vermeintliche Gefahr der Marginalisierung des Patienten und seines Selbstbestimmungsrechtes zu sehen. Dass „der Mensch“ im Mittelpunkt der Medizin steht, ist medizinische und medizinethische Rhetorik. Die Prinzipien der Menschenwürde und Personwürde werden in medizinethischen Debatten ständig bemüht. Der Mensch als Person aber kommt im medizinischen Alltag faktisch nur am Rande vor. Hier ist nicht von der Person, sondern vom Patienten, von Krankheitsfällen und vom Patientengut die Rede. Dies ist zunächst eine medizinsoziologische Feststellung, kein moralisches Werturteil. Wenn im folgenden einige Beobachtungen zur Marginalisierung der Person des Patienten aus systemtheoretische Sicht angestellt werden, sollten diese gerade nicht vorschnell in einem moralisierenden Sinne gelesen und als oberflächliche Polemik gegen den modernen Medizinbetrieb missverstanden werden. Nach offizieller Lesart werden kranke Menschen gepflegt und therapiert, nicht Krankheiten. In der beruflichen Praxis verhält es sich faktisch aber nicht selten umgekehrt. Die Patientin oder der Patient erscheint dann gewissermaßen nur als Träger einer Krankheit oder als deren Anhängsel. Er wird nicht in seiner Individualität gesehen, sondern als Fall, der allgemeinen Standards der Therapie und der Pflege untergeordnet wird. Sofern er sich als Person mit ihren individuellen Ängsten, Wünschen und Hoffnungen zu Wort meldet, droht er geradezu als Störfaktor eines reibungslosen Klinikablaufs wahrgenommen zu werden. Ethik in der Medizin und in der Pflege ist notwendig, um dieser permanenten Gefahr entgegenzuwirken. Dass der Mensch als Person keineswegs im Zentrum der Medizin oder auch anderer gesellschaftlicher Systeme steht, ist eine aus der funktionalen Systemtheorie Niklas Luhmanns bekannte These. Luhmann unterstellt, dass es überhaupt Systeme gibt5, die nicht statisch als eine aus Teilen zusammengesetzte Einheit, sondern funktional als Form der Selbstorganisation zu deuten sind. Luhmann unterscheidet zwischen Maschinen, Organismen, ————— 5

N. Luhmann, Soziale Systeme, 16.

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sozialen und psychischen Systemen.6 Unter sozialen Systemen versteht er Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften.7 Luhmanns Theorie sozialer Systeme kann hier nicht im Einzelnen entfaltet und kritisch gewürdigt werden. Wir greifen nur einige Elemente heraus, die für unser Nachdenken über heutige Grundlagen und Aufgabenstellungen der Sozialethik von Bedeutung sind. Dazu gehört die Unterscheidung von System und Umwelt und deren Wechselspiel, sowie die Theorie autopoietischer, d.h. selbstbezüglicher Systeme – Luhmann nennt sie „selbstreferentiell“. Die gesellschaftliche Entwicklung ist nach Luhmann durch eine fortschreitende „Ausdifferenzierung“ sozialer Systeme gekennzeichnet, die sich wechselseitig als Umwelt betrachten und sich in einem wechselseitigen Prozess der Anpassung, aber eben auch der Eigensteuerung und Eigenentwicklung befinden. Die Gesellschaft ist nach Luhmann nicht als eine übergeordnete Einheit, d.h. ihrerseits als ein Makrosystem zu betrachten, innerhalb dessen Einzelsysteme nach dem Delegationsprinzip entstünden. Vielmehr ist die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme ein ungesteuerter Prozess. Vom einzelnen System aber gilt nach Luhmann: „Das System entsteht, etsi Deus non daretur.“8 Im Anschluss an Humberto R. Maturanas Theorie autopoietischer Systeme werden auch soziale Systeme als offene, aber sich eigengesetzlich fortentwickelnde Systeme interpretiert. Die von Max Weber und anderen für die Teilsysteme der Gesellschaft postulierte, in ethischer Hinsicht heftig umstrittene Eigengesetzlichkeit9 wird also von Luhmann in der Weise neu gedeutet, dass die Eigengesetzlichkeit keine ein für allemal feststehende Norm, sondern eine im Fluss befindliche Form der Selbstbezüglichkeit ist, die jeweils auf einem bestimmten binären Code beruht. Für die Wirtschaft z.B. handelt es sich um den Code „zahlen/nicht zahlen“, für das Rechtssystem um „Recht/Unrecht“, für die Wissenschaft um „wahr/falsch“. Die Medizin als soziales System wiederum operiert mit dem binären Code „gesund/krank“, wobei Gesundheit die teleologische und Krankheit die legitimatorische Kategorie ist.10 Über den Begriff der Krankheit definiert die Medizin ihre Zuständigkeit und legitimiert ihr Handeln. Die Wiederherstellung oder Erhaltung der Gesundheit aber ist das Ziel des medizinischen Handelns. Dass die Eigengesetzlichkeit sozialer Systeme funktioniert, etsi Deus non daretur, nimmt im Grunde schon Max Weber an. Von Luhmann wird nun der Gedanke der Eigengesetzlichkeit in der Weise weiterentwickelt, dass ————— 6

Ebd. Ebd. 8 A.a.O., 151. 9 Vgl. F. Lau, Art. Eigengesetzlichkeit, Sp. 354–356; M. Honecker, Einführung, 314ff. 10 Vgl. A. Labisch/N. Paul, Art. Medizin 1, 631. 7

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nicht etwa menschliche Personen die eigentlichen Handlungssubjekte sozialer Systeme sind, sondern dass diese selbst als unpersönliche Handlungsaktanten zu betrachten sind. Personen sind nach Luhmann nicht ein Element sozialer Systeme, sondern deren Umwelt. Zu beachten ist, dass Luhmann zwischen Personen und Menschen unterscheidet. Personen sind nach seiner Theorie Systeme, Menschen dagegen nicht, und zwar deshalb, weil es nach Luhmanns Verständnis keine Systemeinheit von mechanischen und bewussten, von chemischen und sinnhaft-kommunikativen Operationen geben kann. „Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen, aber er ist kein System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden.“11 Anhand seines Personbegriffs erläutert Luhmann auch sein Verständnis von Moral und Ethik. Moral steuert über den Code „gut/böse“ die Zuteilung von Achtung, die einer Person als solcher entgegengebracht wird. Ethik wiederum ist die selbstreflexive, d.h. selbst moralhaltige Theorie der Moral. Im Anschluss an Talcott Parsons unterscheidet Luhmann zwischen Achtung (esteem) und Respekt (approval). Während Menschen Respekt aufgrund einer bestimmten Leistung oder Funktion – z.B. als Facharbeiter, Arzt, Politiker oder Sportler – entgegengebracht wird, bezieht sich Achtung auf „die ganze Person. soweit sie als Teilnehmer von Kommunikation geschätzt wird.“12 Luhmanns funktionale Systemtheorie gerät an dieser Stelle in einige gedankliche Schwierigkeiten, die hier nicht diskutiert werden können.13 Die Rede von der „ganzen Person“ ist nicht weniger problematisch als die Rede vom „ganzen Menschen“, die Luhmann als Ausdruck einer „alteuropäischen Denkweise“ kritisiert. Faktisch kommt der Mensch, den er aus seiner Theorie der sozialen Systeme ausschließen möchte, an verschiedenen Stellen seiner Theorie gewissermaßen durch die Hintertür wieder hinein. Und was Luhmanns Personbegriff betrifft, so lässt sich mit Walter ReeseSchäfer einwenden: „Auch die Person ist heute zerlegt und kommt als Ganzes höchstens noch im Theater vor.“14 Dessen ungeachtet halte ich Luhmanns systemtheoretische These für zutreffend, dass sich Person und Gesellschaft oder gesellschaftliches Subsystem nicht wie Element und Relation, sondern wechselseitig wie System und Umwelt zueinander verhalten. Und zutreffend ist auch die Diagnose, wonach Moral und Ethik keine eigenständigen sozialen Systeme darstellen, sondern sich gewissermaßen parasitär an die verschiedenen Systeme wie ————— 11

N. Luhmann, Soziale Systeme, 67f. Ders., Paradigm lost, 18. 13 Vgl. dazu U. Körtner, Wozu Ethik?, 195f. 14 W. Reese-Schäfer, Luhmann, 119. 12

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zum Beispiel die Medizin und das Gesundheitssystem anlagern. Daraus erklärt sich auch die prekäre Rolle der Ethik in der Medizin, in der Wirtschaft oder in der Politik. Halten wir also fest: Im System der Medizin und seinem Alltag kommen Menschen nicht als „ganze Person“ vor, sondern als Rollenträger, sei es als Patient, sei es als Arzt oder als Pflegekraft. Indem Menschen zu Patienten erklärt und medikalisiert werden, werden sie einerseits in das soziale System „Medizin“ eingeschlossen, zugleich aber auf eine bestimmte Rolle reduziert und insofern marginalisiert. In diesem Zusammenhang ist besonders auf die Funktion der Sprache zu achten. Diese bildet Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern stellt Wirklichkeit in gewisser Weise erst her. Als Beispiel wähle ich die Diagnose der Verwirrtheit. Verwirrtheit ist in besonderem Maße eine pflegeethische Problematik, weil es sich bei ihr um eine Pflegediagnose, nicht um eine medizinische Diagnose handelt.15 Verwirrtheit ist keine psychische Erkrankung, sondern ein Symptom, das eine Reaktion auf körperliche oder psychische Erkrankung, aber auch auf psychisch oder sozial irritierende Faktoren oder auf eine Beziehungsstörung, z.B. in der Familie, sein kann. Psychiatrisch wird Verwirrtheit als zeitliche, örtliche und situative Orientierungsstörung beschrieben, die häufig mit Bewusstseinstrübung einhergeht. Die spezifisch pflegeethische Problematik besteht darin, die Achtung vor der Würde des Menschen und der Person im praktischen Umgang mit verwirrten alten Menschen nicht nur theoretisch zu postulieren, sondern im Pflegealltag tatsächlich zu praktizieren. Der Grundsatz der Patientenzentriertheit und die Anerkennung auch des verwirrten Menschen als Subjekt der Pflege werden von der Umgebung und auch von den Pflegenden möglicherweise als Überforderung empfunden. Zwischen der Pflegediagnose „verwirrter Mensch“ und dem Leiden des Betroffenen besteht eine Wechselwirkung. Einerseits gilt Verwirrtheit als Kriterium der Pflegebedürftigkeit, d.h. der Zuwendung, andererseits ist sie ein sozial diskriminierendes Etikett, welches als Vorwand dient, Menschen zu pathologisieren und für entscheidungsunfähig zu erklären, d.h. eine Betreuung oder sogar die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung oder in ein Pflegeheim anzuordnen. Die Diagnose „Verwirrtheit“ kann als Vorwand dienen, unliebsame, „schwierige“ alte Menschen zu meiden und aus der Familie oder von der Station abzuschieben. Zumal wenn eine lediglich vorübergehende Desorientierung verallgemeinert wird, ist die Diagnose „Verwirrtheit“ unter Umständen sogar die Ursache für den geistigen Abbau einer Patientin oder eines Pflegeheim-Bewohners, weil die ————— 15

Vgl. E. Grond, Pflege, 9.

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von dieser Diagnose beeinflussten Pflegemaßnahmen die Unselbständigkeit und Abhängigkeit fördern. Die Gefahr, dass der Patient als Person marginalisiert wird, besteht auch sonst im medizinischen und klinischen Alltag. Zwar wird immer betont, der Patient und sein Wille stehe im Sinne des „informed consent“ im Mittelpunkt des ärztlichen und pflegerischen Handelns. In der Praxis aber wird von diesem Grundsatz nach wie vor immer wieder abgewichen. Mangelhafte Patientenaufklärung, oftmals mit Zeitmangel der aufklärenden Ärzte begründet, oder auch die Einbeziehung von Dritten, zum Beispiel von Angehörigen, die dazu eigentlich gar nicht befugt sind, in Entscheidungen über Aufnahme, Fortsetzung oder Beendigung einer Therapie führen dazu, dass das Prinzip der Patientenautonomie unterlaufen wird. In manchen Fällen wird dann eben nicht der Patient behandelt, sondern therapiert werden Angehörige, die vielleicht nicht akzeptieren können, dass ein Mensch sterben muss. Nicht selten behandelt der Arzt im Grunde sich selbst, wenn er zum Beispiel bei einem Sterbenskranken die Therapie fortsetzt, um einem Konflikt mit Angehörigen aus dem Weg zu gehen. Auch die Diskussion über Patientenverfügungen und ihre Verbindlichkeit muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Vordergründig geht es in der Debatte über Reichweitenbegrenzungen und die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen um den Konflikt zwischen Patientenautonomie und ärztlicher Fürsorgepflicht. Systemtheoretisch betrachtet geht es dabei aber auch um die Frage, wie störungsfreundlich der medizinische Betrieb gegenüber dem Patienten als „ganzer Person“ ist. Ähnliche Fragen stellen sich, wenn es um die Integration von Palliative Care in den üblichen Klinikbetrieb geht, insbesondere auf einer Intensivstation. Sobald die Rücksicht auf die Individualität der Person den Anlauf im Klinikbetrieb allzu sehr zu stören droht, kommen mehr oder weniger subtile Strategien zur Marginalisierung des Patienten zum Einsatz.

6.3 Marginalisierte Patientengruppen Nun gib es freilich auch bestimmte Patientengruppen, die in besonderer Weise marginalisiert werden, sei es in der medizinischen Versorgung, sei es in der medizinischen Forschung: Man denke nicht nur an Kinder, Frauen, Migrantinnen und Migranten, sondern auch an Menschen mit besonders seltenen Krankheiten. Beginnen wir mit dem Thema des Kindes in der medizinischen Forschung. Im Zusammenhang mit der bis heute von Österreich nicht ratifizierten Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates (MRB)

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Marginalisierte Patientengruppen

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wird über die ethische Zulässigkeit fremdnütziger Forschung an nicht zustimmungsfähigen Personen diskutiert. Darunter fallen insbesondere Kinder, Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen, für die ein Sachwalter bestellt wird, oder auch Personen, die das Bewusstsein verloren haben, wie z.B. Patienten mit einem apallischen Syndrom. Dass diese Personengruppen in hohem Maße schutzbedürftig sind, steht außer Streit. Von daher ist das Verbot der fremdnützigen Forschung im Grundsatz ethisch richtig. Allerdings muss auch die Gefahr gesehen werden, dass die genannten Patientengruppen gerade durch das Anliegen eines optimalen Schutzes vor Fremdbestimmung und ethisch unzulässiger Instrumentalisierung vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen werden. Das unbedingt zu unterstützende Bemühen, jeder Marginalisierung und Diskriminierung dieser Menschen entgegenzutreten, kann unter der Hand genau auf ihre Diskriminierung hinauslaufen. Da zum Beispiel neue Arzneimittel vor ihrer Zulassung nicht an Kindern getestet werden dürfen, erfolgt die Verwendung von Medikamenten in der Kinderheilkunde nicht selten im „therapeutischer Blindflug“. Kritisiert wird aber auch das mangelnde Interesse der Pharmaindustrie an Studien an Kindern und Jugendlichen in Fällen, in denen eine Testung ethisch durchaus zulässig erscheint. Eine neue EU-Verordnung soll die Sicherheit von Medikamenten für Kinder und Jugendliche erhöhen.16 Mehr als die Hälfte aller Medikamente sind nicht speziell für Kinder und Jugendliche zugelassen. Wirksamkeit und Unbedenklichkeit werden nicht geprüft. Angaben über altersgerechte Dosierungen fehlen. Die neue Kinderarzneimittelverordnung unterscheidet drei Kategorien von Arzneimitteln: Bei neuen Medikamenten werden die Pharmakonzerne verpflichtet, diese gesondert an Kindern zu testen, sofern die Krankheit, für deren Behandlung das Medikament zugelassen werden soll, auch bei Kindern vorkommt. Das Verfahren sieht vor, dass der Hersteller dem Pädiatrieausschuss der europäischen Zulassungsagentur EMEA zunächst ein pädiatrisches Prüfkonzept („paediatric investigation plan“) vorlegt. Für Arzneimittel, die schon auf dem Markt, aber noch patentgeschützt sind, können die Zulassung für die Anwendung bei Kindern und die Verlängerung des Patentschutzes nachträglich beantragt werden. Medikamente mit bereits abgelaufenem Patentschutz, die an die Anwendung bei Kindern speziell angepasst werden, können für diesen Gebrauch erneut einen Datenschutz von zehn Jahren bekommen. Auf diese Weise möchte die EU finanzielle ————— 16 Verordnung (EG) Nr.1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.Dezember 2006: http://ec.europa.eu/enterprise/pharmaceuticals/eudralex/vol-1/reg_2006_1901/ reg_2006_1901_de.pdf (Zugriff: 23.7.2009).

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Anreize schaffen, welche die Bereitschaft der Pharmaindustrie zu eigenen Studien an Kindern steigern sollen. Marginalisiert sind in unserem Gesundheitssystem aber nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Migranten und in bestimmter Hinsicht auch Frauen. Was diese betrifft, mag man sich am Begriff der Marginalisierung stoßen, repräsentieren sie doch mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Doch auch wenn der Anteil an Medizinerinnen in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist, dominiert in vielen bereichen der Medizin noch immer ein männlicher Blick das Verständnis von Krankheit und Gesundheit sowie des menschlichen Körpers. Dem Thema der gendersensiblen Medizin wird im 7. Rahmenprogramm der EU, aber auch im Programm der neuen österreichischen Bundesregierung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dazu gehört zum Beispiel ein geschlechterspezifischer Blick auf die medizinisch unterstützte Fortpflanzung und das Partizipationsrecht der Frauen, wenn es um die „Ressource Eizelle“, um Eizellspende, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen geht. Erwähnt seien auch Fragestellungen der genderspezifische Medikamentenforschung im Bereich von Genetik, Genomik und Pharmakogenomik. Generell ist zu betonen, dass Genderfragen nicht nur die Gesundheit und das Krankheitsrisiko von Frauen, sondern auch die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten von Männern betreffen. Als neuer Zweig der Medizin beginnt sich die Gender-Medizin zu etablieren. Sie setzt sich zum Ziel, bislang entwickelte Forschungsfragen, Diagnose- und Therapieansätze durch einen geschlechtssensiblen Blick auf Gesundheit und Krankheit aus biologischer und psychosozialer Sicht zu ergänzen.17 Bereits in den 90er Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) begonnen, sich der Gender-Thematik zu widmen. 1996 wurde eine „Gender Working Group“ ins Leben gerufen. Eine Differenzierung der Krankheiten nach Geschlechtern hat sich aber, wie schon im vorigen Kapitel erwähnt wurde, nicht nur am biologischen Geschlecht zu orientieren, sondern auch an unterschiedlichen Krankheitsverläufen, die von sozialen bzw. kulturellen Geschlechterrollen abhängen.18 Gender-Medizin betrachtet geschlechtsspezifische Fragen der Medizin im Rahmen eines interdisziplinären Konzeptes von Public Health. Krankheiten und Gesundheitsprobleme werden durch psychische und psychosoziale Faktoren, aber auch durch das soziale und gesundheitspolitische Umfeld beeinflusst. Das gilt für die Gesundheit von Frauen ebenso wie für diejenige von Männern. Es geht ————— 17 Vgl. A. Rieder/B. Lohff (Hg.), Gender Medizin; K. Hurrelmann/P. Kolip (Hg.) Geschlecht; P. Kolip/T. Altgeld, Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung. 18 Vgl. dazu F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 93ff, sowie D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 171ff und seine Analyse der Biologie der Magersucht.

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Marginalisierte Patientengruppen

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nicht allein um die unterschiedliche Häufigkeit von Erkrankungen oder die Morbiditätsrate bei Männern und Frauen, auch nicht nur um die unterschiedliche Lebenserwartung, sondern auch um spezifische Zusammenhänge von Krankheit und sozialer Lage.19 Zu den soziokulturellen Faktoren, die für die spezifischen Krankheitsrisiken und Versorgungsprobleme von Migranten verantwortlich sind, gehört auch die Religion, wenngleich oft nur mittelbar. Auch gibt es „den“ muslimischen Patienten ebensowenig wie „den“ christlichen oder buddhistischen Patienten. Und schließlich haben, wie schon im 4. Kapitel ausgeführt wurde, Schwierigkeiten, sich den Gegebenheiten in einem deutschen, Schweizer oder österreichischen Krankenhaus anzupassen, eher kulturelle als religiöse Ursachen. Die unterschiedlichen Sichtweisen von Krankheit und Gesundheit machen Konzepte einer interkulturellen bzw. multikulturellen Medizin und Pflege erforderlich.20 Medizin und Pflege in einer multikulturellen Gesellschaft setzt nicht nur den Respekt vor anderen Kulturen und Religionen voraus, sondern erfordert auch ein hohes Maß an hermeneutischer Kompetenz. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen, welches schon beim Problem der Sprache bzw. der Fremdsprachen beginnt. Doch schon in der eigenen Sprache machen wir die Erfahrung, dass zwei Menschen, wenn sie das Gleiche sagen, darum noch lange nicht dasselbe meinen. Erst recht gilt dies bei Übersetzungsproblemen. Verschiedene Sprachen repräsentieren verschiedene Lebensformen und Lebenswelten. Nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb derselben besteht eine Vielfalt von Lebensformen, Lebensstilen und moralischen Einstellungen. Vor dem moralischen Urteil hat das Bemühen um das Verstehen des Anderen, konkret der Patientin oder des Patienten und seiner soziokulturellen Prägung zu stehen (kultur- und religionssensible Medizin und Pflege). Es ist die Frage, wie für sie oder ihn im Rahmen seiner Vorstellungswelt eine optimale Therapie und Pflege möglich ist, ohne dabei die Prämissen der eigenen Medizin und des eigenen Pflegekonzepts verleugnen zu wollen. Aus ganz anderen Gründen als Migrantinnen und Migranten gehören auch Menschen mit seltenen Krankheiten zur Gruppe der marginalisierten Patienten. Bei ihnen geht es nicht um kulturelle Diskriminierung, sondern um Allokationsprobleme. Diese Patienten sind in unserem Gesundheitssystem insofern benachteiligt, als es oftmals schwierig ist, für ihre Therapie die notwendige Forschung zu betreiben. Die hohen Investitionen, die zur Entwicklung neuer Medikamente erforderlich sind, rechnen sich nur, wenn ————— 19 20

S.o. Kapitel 5, 1. Abschnitt, 114ff. Vgl. S. Alban/M.M. Leininger/Ch.L. Reynolds, Multikulturelle Pflege.

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ein entsprechender finanzieller Gewinn zu erwarten ist. Die privatwirtschaftlich finanzierte Forschung, aber auch die öffentlich subventionierte Forschung konzentriert sich zumeist auf Krankheiten, von denen größere Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Die Marginalisierung von Patienten und Patientengruppen ist ein ethisches Problem, das sich auch sonst in Verbindung mit der Ressourcenallokation in der medizinischen Forschung und Versorgung stellt. Schließlich sind auch die Unheilbaren und „Austherapierten“ – welch ein Unwort – zu erwähnen, die sich einer auf Heilung fixierten Medizin bzw. dem Konzept kurativer Medizin nicht einfügen lassen.21 Die Marginalisierung und Ausgrenzung von Patienten und Pflegebedürftigen zeigt sich historisch betrachtet auch in ihrer Hospitalisierung, der Michel Foucault in seinen Studien nachgegangen ist.22 In der Psychiatrie wie in der Geriatrie gab und gibt es seit längerem Bestrebungen, der Hospitalisierung entgegenzuwirken, zum Beispiel durch neue Wohnmodelle und neue Versorgungskonzepte, die eine größere Durchlässigkeit zwischen intramuraler und extramuraler, zwischen stationärer und ambulanter Betreuung gewährleisten. Psychiatrie und Geriatrie sind aber immer noch Beispiele dafür, wie Menschen an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit gedrängt werden. Mit spektakulären Berichten über Erfolge auf dem Gebiet der Stammzellforschung lässt sich eben immer noch mehr Renommée erzielen als mit Vorschlägen zur Verbesserung der Pflege multimorbider Bewohner von Pflegeheimen. „Pflegenotstand“ und Pflege in der Grauzone halblegaler und illegaler Beschäftigungsverhältnisse sind nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern trauriger Alltag. Nachholbedarf besteht hierzulande auch immer noch auf dem Gebiet einer umfassenden Palliativersorgung, trotz der in den vergangenen Jahren auf diesem Feld unternommenen Anstrengungen. Das alles sind gesundheits- und sozialpolitische Probleme, die sich medizinimmanent allein nicht lösen lassen.

6.4 Soziale Marginalisierung Mit den zuletzt angestellten Überlegungen haben wir bereits die dritte Dimension unseres Themas erreicht. Marginalisierung von Patienten gibt es nicht nur innerhalb des Gesundheitssystems, sondern auch in der Gesellschaft als ganzer. Sozialer Abstieg und soziale Ausgrenzung können die Folge von Krankheit, der mit ihr verbundenen Arbeitsunfähigkeit oder der Einschränkung der Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit sein. Wird ————— 21 22

Siehe dazu K. Dörner (Hg.), Die Unheilbaren; U. Eibach, Heilung, 144ff. Vgl. M. Foucault, Geburt der Klinik; ders., Psychologie und Geisteskrankheit.

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Soziale Marginalisierung

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Krankheit im Fall von chronischer oder unheilbarer Krankheit zur Lebensform, ändern sich auch die Sozialbeziehungen grundlegend. Das betrifft nicht nur das enge persönliche Umfeld – zum Beispiel die Familie –, sondern auch Beruf und soziale Stellung. Über der Erkrankung eines Angehörigen können Familien zerbrechen. Nicht selten führt zum Beispiel eine fortschreitende multiple Sklerose zur Scheidung. Zum Verlust des Arbeitsplatzes gesellt sich der Beziehungsverlust. Ähnlich liegen die Dinge bei Pflegebedürftigkeit im Alter. Lange vor dem physischen Tod tritt häufig der soziale Tod ein. Es sind nicht nur die physischen Leiden, die das Leben von Pflegebedürftigen und Sterbenden zur Qual machen, sondern es ist auch ihre Einsamkeit, die der Soziologe Norbert Elias eindrucksvoll beschrieben hat.23 Marginalisierung und Stigmatisierung sind dann ein besonders virulentes Problem, wenn Krankheit und moralische oder auch religiöse Ächtung eine Verbindung eingehen. Das gilt zum Beispiel für Suchtkranke oder auch für Aids-Patienten. Suchterkrankungen wie Alkohol- und Drogenabhängigkeit führen nicht nur zu sozialem Abstieg, sondern nicht selten auch in die Kriminalität. Archaische Fragen nach dem Verhältnis von Krankheit und schuldhaftem Verhalten, die sich auch sonst bei Betroffenen einstellen können, werden im Fall von Drogenkrankheit und Drogenkriminalität besonders laut. Von der Marginalisierung sind nicht nur die Patienten selbst, sondern auch Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und sonstige Betreuer betroffen, die sich um diese Personengruppen bemühen. Frei nach dem bekannten Song aus Bertold Brechts „Dreigroschenoper“ gilt eben auch für gesellschaftliches und fachliches Ansehen in der Medizin: „Denn man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Aids ist ein weiteres Beispiel dafür, wie moralische Ächtung zur gesellschaftlichen Stigmatisierung und Marginalisierung von Patienten führt.24 Als die Krankheit in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt wurde, galt sie zunächst als Krankheit der Homosexuellen, dann auch der Prostituierten. Von manchen Kirchenvertretern wurde die Immunschwäche als Strafe Gottes für einen unmoralischen Lebenswandel und ein widernatürliches Sexualverhalten betrachtet. Aids ist nicht nur eine Krankheit, sondern auch eine gesellschaftliche Metapher, die laut Susan Sontag einen zweifachen Ursprung hat. Die Krankheit wurde nämlich einerseits als von außen – aus Afrika – kommender Feind, andererseits als „Verunreinigung“ verstanden.25 Die an Aids Erkrankten galten und gelten zum Teil immer noch nicht nur als Opfer, sondern zugleich als Täter. Zugleich zeigt die ————— 23

Vgl. N. Elias, Einsamkeit der Sterbenden. Vgl. D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 231ff. 25 Vgl. S. Sontag, Aids, 19. 24

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Krankheit und Marginalisierung

Geschichte von Aids aber auch, wie es gelingen kann, der Stigmatisierung eine Patientenpopulation erfolgreich entgegenzuwirken. Mit dem Slogan „Schweigen = Tod“ begannen die Aids-Aktivisten in den 80er Jahren der Diskriminierung entgegenzutreten. Es stellt sich die Grundsatzfrage, wer den marginalisierten Patienten und Patientengruppen in unserer Gesellschaft eine Stimme verleihen kann. Das ist nicht nur die Aufgabe von Selbsthilfegruppen, sondern sicher auch die Aufgabe der Medizinethik. „Die Stimme“, so schreibt David B. Morris, „gehört zu den wertvollsten menschlichen Gaben, deren uns das Leiden beraubt, denn damit wird uns viel mehr genommen als nur die Hoffnung, dass andere uns verstehen und beistehen werden. Schweigen und der Verlust der Stimme können letztlich zur völligen Zerstörung des Selbst führen.“26 Im Rahmen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit gibt es nun freilich auch einen Kampf der Marginalisierten um die knappe Ressource Aufmerksamkeit.27 Nicht nur finanzielle und personelle Ressourcen, sondern auch Aufmerksamkeit, z.B. in den Medien, ist ein knappes Gut. Die verschiedenen Patientengruppen haben und benötigen ihre Lobbies, die ihnen im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, Spenden und Forschungsgelder zur Seite stehen. Auch unter den Marginalisierten gibt es Starke und Schwache, Erfolgreiche und Erfolglose. Aus ethischer Sicht ist in diesem Zusammenhang auf die Ambivalenz der Opferrhetorik hinzuweisen. Marginalisierte gelten in erster Linie als Opfer, die unser Mitleid verdienen. „Heutzutage will offenbar fast jeder, dem es irgendwie schlecht geht, als Opfer gelten.“28 Die Folgen dieses Trends sind ambivalent. Einerseits verschärft die Stilisierung als Opfer die Erfahrung der Krankheit und der mit ihr möglicherweise verbundenen sozialen Ausgrenzung, andererseits schafft sie einen sozialen Kontext, in dem Betroffene ihr Leiden offensiv in eine Erzählung der Unterdrückung und des Widerstands umdeuten können. Problematisch ist es aber, wenn eine Gesellschaft menschliches Leiden zum Anlass nimmt, um bestimmte Menschen dauerhaft in der Opferrolle zu halten. Auch dies ist eine Form der Marginalisierung von Patienten.

————— 26

D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 243. Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit siehe G. Franck, Ökonomie. 28 D.B. Morris, Krankheit und Kultur, 258. 27

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Gerechtigkeit im Gesundheitswesen

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6.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen Die Marginalisierung von Patienten zu überwinden, ist ebenso eine medizinethische, eine medizinrechtliche wie eine gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe. Medizinethisch betrachtet besteht die beständige Herausforderung, nicht nur den Patienten als Subjekt ernst zu nehmen und seine Autonomie zu stärken, sondern überhaupt die Rollen des Arztes und des Patienten kritisch zu reflektieren. Selbstverständlich kann der medizinische Betrieb nicht funktionieren, wenn Arzt und Patient nicht die für sie vorgesehene Rolle spielen. Zu einem ethisch reflektierten Arzt-Patienten-Verhältnis gehört es aber, dass weder der Patient noch der Arzt auf ihre jeweilige Rolle reduziert, sondern immer auch als Mensch, als „ganze Person“ gesehen und geachtet werden. Die „Betriebsstörungen“, die im medizinischen Alltag dann auftreten, wenn sich die Person – als das Kontingente und nicht in das System Integrierbare – zu Wort melden, dürfen nicht einfach ausgeblendet werden, sondern müssen in einer humanen Medizin ihren Platz haben. Im Sinne der gruppendynamischen Methode der themenzentrierten Interaktion möchte ich sagen: Störungen haben Vorrang. Damit der Patient nicht auf die Rolle des Leidenden, des Opfers und des Objekts reduziert wird, muss er freilich auch befähigt werden, seine Selbstbestimmung auszuüben und sich als Subjekt seiner Krankheit und seiner Therapie zu verhalten. Autonomie gilt zwar seit Kant als grundlegende Bestimmung unseres Menschenbildes, sie ist aber in der Realität eine fragile Eigenschaft. So stellt sich im medizinischen Alltag die Frage, wie die Autonomie von Patienten aktiv gefördert oder, wo sie beeinträchtigt ist, gestärkt und wiedererlangt werden kann. Dazu bedarf es nicht nur einer entsprechenden Kommunikation zwischen Arzt und Patient, zwischen Patient und Pflegenden, sondern auch des Rechtes, das heißt der Stärkung und Weiterentwicklung allgemeiner und spezieller Patientenrechte. Die gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe besteht darin, für Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu sorgen. Der Theorie nach haben alle Menschen den gleichen Anspruch auf Zugang zum Gesundheitssystem und auf die bestmögliche medizinische Versorgung. Tatsächlich aber gibt es soziale Ungleichheiten. Die Zwei- oder Mehrklassenmedizin, vor der immer wieder gewarnt wird, ist im Grunde immer schon eine Realität. Auf den Zusammenhang zwischen niedrigem Einkommen, geringer Bildung und erhöhtem Krankheitsrisiko wurde ebenso verwiesen wie auf die prekäre Gesundheitssituation von Migranten. Erinnert sei auch daran, dass es nicht nur in den immer wieder als Negativbeispiel angeführten USA, sondern inzwischen auch in Österreich eine nicht unerheblich Zahl von Menschen ohne Krankenversicherung gibt.

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Krankheit und Marginalisierung

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen lässt sich nicht auf Verteilungsgerechtigkeit oder auf die Alternative zwischen dieser und der Tauschgerechtigkeit reduzieren. Wenn heute zu recht mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen gefordert wird, bei der Prävention ebenso wie bei der Therapie und ihrer Finanzierung, so bleibt diese Forderung abstrakt und unsozial, wenn nicht zugleich von der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit gesprochen wird. Damit Menschen aus sozial schwachen Schichten Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können, müssen sie dazu allererst befähigt werden. Um die dafür notwendige Bildung und das entsprechende Einkommen zu erlangen, bedarf es einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik. Ohne eine solche bleibt die politische Maßgabe eines Umbaus und einer Verschlankung des Sozialstaats ebenso zynisch wie die Forderung nach Kostendämpfung im Gesundheitswesen auf dem Rücken der Patienten, welche soziale Ungleichheiten verstärkt. In der bisherigen Diskussion über Teilhabegerechtigkeit lassen sich zwei grundlegend verschiedene Konzepte unterscheiden.29 Das erste schließt an die neuere Sozialstaatsdebatte und einige philosophische Theorien an, die im Sinne einer Güterlehre und empfängerzentriert argumentieren. Aufgabe des Staates ist es demnach, Grundrisiken des Lebens abzudecken und durch eine Politik der Umverteilung und spezifischen Förderung Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung und Arbeit zu schaffen. Dieses Modell von Teilhabegerechtigkeit orientiert sich an menschlichen Grundbedürfnissen und garantiert bestenfalls eine Grundsicherung, spart aber die Frage nach einer prinzipiellen Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit aus. Das zweite Verständnis von Teilhabegerechtigkeit beruft sich demgegenüber auf John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Der Sozialstaat hat demnach die Aufgabe, institutionelle Schritte hin zur Verwirklichung fundamentaler Gerechtigkeit zu machen. Das politische Ziel besteht darin, „in den Basisinstitutionen die Idee der Gesellschaft als faires System der Kooperation zwischen Bürgern umzusetzen, die als freie und gleiche Personen gesehen werden. Um das zu erreichen, müssen diese Institutionen dafür sorgen, dass genügend Produktionsmittel nicht nur in die Hände weniger, sondern von Anfang an in die Hände aller Bürger gelegt werden, so dass sie als Gleiche voll kooperierende Angehörige der Gesellschaft sein können. Zu diesen Mitteln gehört nicht nur reales, sondern auch menschliches Kapital, d.h. Wissen und Kenntnis der Institutionen, Bildung und geschulte Fertigkeiten.“30

Was Rawls vorschwebt, ist also nicht nur eine Grundversorgung aller Bevölkerungsschichten, sondern auch eine Stärkung der politischen Teilhabe————— 29 30

Vgl. dazu R. Forst, Kontexte; ders., Die erste Frage. J. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 217f.

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Gerechtigkeit im Gesundheitswesen

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möglichkeiten derer, die über die geringsten Einkommensmöglichkeiten verfügen, sowie strukturelle Verbesserungen der Institutionen von Bildung und Ausbildung, der Verteilung von Arbeit und der Mitbestimmungsmöglichkeiten bei zentralen ökonomischen Entscheidungen. Es ist nun aber gerade die Stigmatisierung und soziale Marginalisierung aufgrund von Krankheit, die im vorigen Abschnitt beschrieben wurde, eine Ursache dafür, dass bestimmte Personengruppen de facto aus dem politischen System ausgeschlossen oder zumindest an seinen Rand gedrängt werden. Im Alltag ist die Teilhabe dieser Menschen an politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen erheblich eingeschränkt oder praktisch gar nicht gegeben. Insofern ist soziale Marginalisierung aufgrund von Krankheit eine demokratiepolitische Herausforderung. Im Sinne von Rawls ist zu sagen, dass es für eine Ethik des Gesundheitswesens nicht nur darum geht, allen Menschen eine medizinische Mindestversorgung zu garantieren. Vielmehr sind alle bestehenden gesellschaftlichen Institutionen, also auch das Gesundheitswesen, gleichermaßen rechtfertigungsoffen wie rechtfertigungsbedürftig. So führt uns das Nachdenken über marginalisierte Patienten zu der Grundsatzfrage, ob die soziale Grundstruktur unseres Gesundheitssystems (noch) hinreichend gerechtfertigt ist. Die funktionale Systemtheorie Niklas Luhmanns legt ihr besonderes Augenmerk auf die Frage, wer oder was von einem sozialen System ausgeschlossen oder eingeschlossen ist. Marginalisierte Patienten lenken unseren Blick genau auf die Problematik von Ausschluss und Einschluss nicht nur im Gesundheitswesen, sondern überhaupt in unserer Gesellschaft. Wer der Marginalisierung von Patienten wirkungsvoll entgegentreten will, wird um eine Grundsatzdebatte über soziale Gerechtigkeit nicht herumkommen.

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7 Personsein im Wachkoma

7.1 Subjekt – Mensch – Person Zu den Grundregeln heutiger Medizin- und Pflegeethik gehört der Grundsatz, dass der Patient oder Klient nicht Objekt, sondern Subjekt des therapeutischen und pflegerischen Handelns ist. Die Prinzipien der Patientenautonomie und des informed consent sollen diesem Grundsatz Geltung verschaffen. Gilt die Idee von der Subjektstellung des Patienten auch für Menschen mit einem apallischen Syndrom bzw. im Wachkoma?1 Oder markiert der Verlust des Bewusstseins die Grenzen des Konzepts von Subjekthaftigkeit und Autonomie des Patienten? Sollte dies bestritten werden: Welche praktischen Folgen hat es für den klinischen Alltag, wenn auch Wachkomapatienten als Subjekt des therapeutischen und pflegerischen Geschehens betrachtet werden? In einem ersten Schritt sind die Begriffe „Subjekt“, „Mensch“ und „Person“ zu klären, wobei wir an die grundlegenden Ausführungen im 2. Kapitel anknüpfen können. In einem zweiten Schritt sollen die Begriffe „Autonomie“ und „Selbstbestimmung“ bestimmt werden, bevor wir im dritten Abschnitt dieses Kapitels auf praktische Konsequenzen für den Umgang mit Wachkomapatienten eingehen. Beginnen wir mit dem Begriff des Subjekts. Wir unterscheiden zwischen Subjekt und Objekt oder auch adjektivisch zwischen subjektiv und objektiv. In unserem Zusammenhang ist auch die erkenntnistheoretische Gleichsetzung des Subjekts mit dem Erkennenden und des Objekts mit dem Erkannten wichtig. Das Wort „Subjekt“ ist die Eindeutschung des lateinischen „subiectum“, das wiederum auf das griechische hypokeímenon zurückgeht. Beide Ausdrücke bedeuten „das Zugrundeliegende“. In der Geschichte der Philosophie wurde der Begriff ursprünglich nicht erkenntnistheoretisch, also auf den Menschen als erkennendes Wesen, sondern ontologisch oder metaphysisch gebraucht. Ursprünglich entsprach der Subjektbegriff also eher unserem heutigen Begriff des Objekts. In der neuzeitlichen Philosophie wandelte sich der Subjektbegriff aber zu einer erkenntnistheoretischen Kategorie. In diesem Zusammenhang ent————— 1

Vgl. auch U. Körtner, „Lasst mich bloß nicht in Ruhe“.

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Subjekt – Mensch – Person

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stand auch der moderne Begriff der Subjektivität. Dieser steht für das erkennende Ich bzw. für das menschliche Selbst. Bei Immanuel Kant ist das Ich das Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Erkenntnis wird durch das Bewusstsein entworfen. Das Ich und die Subjektivität sind aber auch moralische Kategorien bzw. Kategorien der praktischen Vernunft. In der Tradition Johann Gottlieb Fichtes wird die Willensfreiheit als Wesenskern von Subjektivität verstanden. Der Mensch ist nach Ansicht des Philosophen Peter Bieri in dem Maße Subjekt, wie es ihm gelingt, dasjenige zu wollen, was seinem Urteil entspricht.2 An dieser Stelle ist noch eine Zwischenbemerkung zum Begriff des Bewusstseins einzufügen. Philosophie und Hirnforschung unterscheiden vier Formen des Bewusstseins, nämlich das Bewusstsein als Wachheit (bei Bewusstsein sein), das kognitive oder intentionale Bewusstsein (glauben, dass …; wünschen, dass …), das phänomenale Bewusstsein (die Erfahrung, wie etwas aussieht, wie es schmeckt, wie es sich anhört usw.) und schließlich das Selbstbewusstsein (das Bewusstsein seiner selbst als ein und derselben Entität über die Zeit hinweg).3 Werden Selbstbewusstsein, Erkenntnisfähigkeit und Willensfreiheit als notwendige Bedingungen der Subjektivität aufgefasst, stellt sich die Frage, ob Wachkomapatienten der Status eines Subjekts abzusprechen ist. Nun wird der Begriff des Subjekts bisweilen auch synonym zum Personbegriff verwendet. Also steht die Frage im Raum, ob Menschen, die dauerhaft das Bewusstsein verloren haben, noch als Personen zu gelten haben oder nicht. Im Hintergrund heutiger medizin- und pflegeethischer Debatten steht die schon im ersten und zweiten Kapitel dargestellte Alternative zweier Personbegriffe. Nach dem ersten Konzept ist Personsein gleichbedeutend mit Menschsein, welches sich jeder rein biologischen Beschreibung entzieht. Nach Immanuel Kant ist jeder Mensch eine Person mit einer unveräußerlichen Würde. Aufgrund seiner Fähigkeit und seiner Verpflichtung zur Moral hat das menschliche Dasein einen „Zweck an sich selbst“4. Dass Personalität und Moralität das Menschsein und seine Würde ausmachen, gilt nach kantischer Tradition für jedes menschliche Individuum unabhängig von seinen geistigen Fähigkeiten. Zwischen Personsein und Menschsein lässt sich nicht unterscheiden. Vielmehr sind, wie schon im 2. Kapitel im Anschluss an Peter F. Strawson argumentiert wurde, „Mensch“ und „Person“ einander wechselseitig interpretierende Begriffe, die keineswegs durch Kombination ursprünglicherer Begriffe entstehen, sondern „logisch primi————— 2

P. Bieri, Handwerk. Vgl. M. Pauen, Grundprobleme, 29ff. 4 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 60. 3

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Personsein im Wachkoma

tiv“ sind.5 Das Personsein besteht also nicht in der Summe einzelner Eigenschaften. Davon abweichend gibt es ein zweites Personkonzept, das auf den Philosophen John Locke zurückgeht. Hiernach ist Personsein nicht ohne weiteres mit dem Menschsein identisch, sondern an bestimmte Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Zukunftsbewusstsein und Erinnerungsvermögen gebunden. Mit diesen Eigenschaften verbindet sich einerseits die Identität der Person, andererseits der Begriff des Interesses. Personen gelten nach diesem Konzept nur so weit als berücksichtigungswürdig, wie sie Interessen haben. Die Konsequenz eines solchen Personbegriffs besteht darin, dass Menschen mit apallischem Syndrom, Embryonen im frühen Entwicklungsstadium und möglicherweise sogar Schlafenden der Personstatus aberkannt wird. Beide Personkonzepte verweisen, wie wir im 2. Kapitel schon sahen, auf eine unterschiedliche Haltung hin, die wir gegenüber anderen Menschen einnehmen. Das zweite Konzept ist aus der distanzierten Beobachterperspektive formuliert, das erste aber aus der Teilnehmerperspektive dessen, der mit dem Anderen zu kommunizieren versucht. Die Beobachterperspektive erweist sich jedoch als unzureichend, weil unser eigenes Personsein immer schon davon abhängt, dass wir an einer Kommunikationsgemeinschaft von Personen teilhaben, in welcher wir uns wechselseitig auf unser Tun und Lassen ansprechen und somit zur moralischen Rechenschaft auffordern. In dieser Teilhabe an zwischenmenschlicher Kommunikation ist, wie schon ausgeführt wurde, nach Immanuel Kant die Würde der Person begründet. Dieses Verständnis von Personsein und Menschenwürde entspricht auch der christlichen Auffassung vom Menschen als Person, deren Würde nicht in irgendeiner besonderen Fähigkeit oder Eigenschaft begründet ist, sondern in der personalen Beziehung Gottes zum Menschen als seinem Geschöpf und Ebenbild. Das Personsein des Menschen ist freilich nicht auf seine Moralfähigkeit zu begrenzen, sondern ist – so die Grundthese des vorliegenden Buches – mit der leiblichen Existenz gegeben. Was den Leib und die Psyche betrifft, ist von der Person einerseits zu unterscheiden und betrifft andererseits immer auch die Person selbst. Eben darum folgt aus der Würde der Person das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit. Zugleich ist der Leib der Träger unserer Personalität, das Zeichen ihrer sozialen Präsenz und das Medium von Kommunikation. Er ist und bleibt dies auch bei Menschen mit schwerer Demenz oder bei Wachkomapatienten.

————— 5

S.o. Kapitel 2, 2. Abschnitt, 48ff.

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Autonomie – Selbstbestimmung – Souveränität

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7.2 Autonomie – Selbstbestimmung – Souveränität Wie steht es nun mit der Autonomie als vermeintlicher Bedingung des Personseins und damit des Subjektstatus von Patienten? Zunächst ist festzustellen, dass der Autonomiebegriff im medizin- und pflegeethischen Kontext oft sehr unscharf verwendet wird. Im strikten Sinne bedeutet Autonomie soviel wie Selbstgesetzgebung. Ein autonomer Mensch ist demnach einer, der ausschließlich nach den Gesetzen lebt, die er sich selbst gegeben und für verbindlich erklärt hat. Es leuchtet ein, dass dieser Begriff für viele Alltagssituationen in Medizin und Pflege überzogen ist. Von Autonomie sollte man nur im Blick auf bestimmte Aspekte des Lebens sprechen, zum Beispiel im Blick auf die politische Selbstgesetzgebung eines Staates oder in Blick auf die moralische Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft.6 Begrifflich sollte also klarer, als dies zumeist in der medizinethischen Literatur geschieht, zwischen Autonomie als Selbstgesetzgebung des moralischen Subjekts und der Selbstbestimmung als konkreter Ausübung oder Inanspruchnahme der Autonomie unterschieden werden. Der Medizinethiker Arnd T. May führt dazu aus: „Ein autonomer Mensch kann selbstbestimmt handeln, muss es aber nicht. Autonomie darf nicht als Eigenschaft im Sinne eines Ausschlusskriteriums angesehen werden, die der gesunde Mensch besitzt und der kranke Mensch nicht hat.“7 Würde, Freiheit und Autonomie im Sinne von Unverfügbarkeit und Selbstbestimmung des Menschen sind nicht von Alter, Fähigkeiten oder Leistungen abhängig. So verstanden besteht auch kein notwendiger Gegensatz zwischen Autonomie und Abhängigkeit, wie sie in gewisser Weise jede Arzt-PatientenBeziehung kennzeichnet. Überhaupt ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, auch für einen erfolgreichen Pflegeprozess das Vorhandensein von Vertrauen. Vertrauen aber, so der Medizinethiker und Theologe Dietrich Rössler, ist akzeptierte Abhängigkeit.8 Diese Definition berührt sich sachlich mit dem bereits im 5. Kapitel erwähnten Konzept der Souveränität.9 Die faktische Abhängigkeit des hilfsbedürftigen Menschen darf freilich nicht zur Entmündigung des Patienten führen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielmehr so zu gestalten, dass die Selbstbestimmung des Patienten im Rahmen seiner akzeptierten Abhängigkeit gestärkt wird. Die Situation von Hilfsbedürftigkeit und Hilfeleistung hat stets mit Machtfragen zu tun. Die Hilfsbedürftigkeit ist durch Schwäche und Abhän————— 6

W. Härle, Patienten„autonomie“, 47. A.T. May, Patientenverfügungen, 2. 8 D. Rössler, Der Arzt, 46. 9 S.o. Kapitel 5, 7. Abschnitt, 132ff. 7

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Personsein im Wachkoma

gigkeit bis hin zur Ohnmacht charakterisiert. Zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen besteht eine asymmetrische Beziehung, über die z.B. auch die Leitvorstellung der Patientenautonomie nicht hinwegtäuschen kann. Es wäre verfehlt, das Phänomen der Macht in Medizin und Pflege überhaupt leugnen oder ablehnen zu wollen. Wer heilen oder helfen will, will schließlich zugunsten der Patientin oder des Pflegebedürftigen die Situation verändern und verbessern. Dazu bedarf es der Macht, Veränderungen bewirken zu können, und der heilenden Kräfte, die von Medizin und Pflege ausgehen.10 Es lassen sich aber zwei Formen der Macht unterscheiden, nämlich einerseits eine der Medizin oder der Pflege innewohnende Macht, die dem Patienten oder der Patientin zur Wiedererlangung von Selbstständigkeit verhelfen will, und eine Form der Macht, die Zwang und Abhängigkeit zum Ziel hat. Die Ambivalenz der helfenden Macht besteht darin, dass sie selbst zum Zwang und zur Herrschsucht pervertieren kann. Gerade der Versuch, einem Menschen zur Selbsthilfe zu helfen, kann an die Grenze des Zwangs stoßen, z.B. wenn der oder die Pflegende Übungen mit Patienten oder Patientinnen macht und sie antreibt, Dinge zu tun, die für die Pflegebedürftigen mit Schmerzen verbunden sind, so dass sie sie von sich aus nicht zu tun bereit wären. Auf der einen Seite steht das Prinzip der Nichtdirektivität, auf der anderen Seite die paternalistische Manipulation, die sich gerade aufgrund der Hilfsbedürftigkeit oftmals gar nicht ganz vermeiden lässt.

7.3 Wachkomapatienten als Subjekte ernst nehmen Was bedeutet es nun konkret, Wachkomapatienten als Subjekte ernst zu nehmen? Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass sich der Subjektstatus des Patienten nicht auf einen verengten Begriff von Autonomie oder Selbstbestimmung reduzieren lässt. Seine Lebensäußerungen sind auch dann als personale und subjekthafte Äußerungen zu verstehen, wenn sie nicht im juristischen Sinne als Ausdruck von bewusstseinsabhängiger Selbstbestimmung aufzufassen sind. Zwischenmenschliche Kommunikation, welche das Gegenüber als Person ernstnimmt und wertschätzt, ist auch mit einem Menschen möglich, der das Bewusstsein verloren hat, weil sich personale Kommunikation nicht auf die verbale und kognitiv gesteuerte Kommunikation reduzieren lässt. Im Fall des sogenannten Wachkomas, korrekt gesprochen: des apallischen Syndroms, handelt es sich übrigens weder um ein Koma im strikten Sinne des medizinischen Begriffs und schon gar nicht um eine Zustand, der ————— 10

Vgl. P. Benner, Stufen, 202ff; U. Körtner, Pflegeethik, 85ff.

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Wachkomapatienten als Subjekte ernst nehmen

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mit den Hirntod gleichzusetzen wäre. Irreführend ist allerdings auch der englische Terminus des „irreversible vegetative state“, zum einen deshalb, weil das apallischen Syndrom keineswegs in allen Fällen irreversibel ist, zum anderen, weil auch im Zustand des Wachkomas Aktivitäten in der Großhirnrinde beobachtet werden.11 Eine britische Forschergruppe hat sogar Daten veröffentlicht, die darauf schließen lassen, dass bei manchen Wachkomapatienten ein Bewusstsein für sich selbst und ihre Umgebung vorhanden ist.12 Grundsätzlich ist zu sagen, dass schon die bloße Gegenwart eines Menschen im apallischen Zustand, dann aber auch viele nonverbale Signale von uns als Aufforderung zur Kommunikation verstanden werden sollten. Das gilt nicht nur für medizinische Therapie und Pflege, z.B. bei der basalen Stimulation, sondern auch für die Körperarbeit im Rahmen der Physiotherapie.13 Körperarbeit in Therapie und Pflege ist eben mehr als die bloße Versorgung oder „Behandlung“ eines Organismus. Sie hat die Qualität eines Gespräches. Selbst noch im Zustand des apallischen Syndroms gilt der Satz Friedrich Hölderlins, dass „ein Gespräch wir sind“14. Wohlgemerkt: Wir führen nicht nur ein Gespräch, sondern wir sind ein Gespräch. Eben das meint „Leibliche Vernunft“, von der wir im ersten Kapitel gesprochen haben. Vor allem das menschliche Antlitz hat nach Ansicht des Philosophen Emmanuel Levinas die Struktur des Appells.15 Es kann aber nicht nur als Aufforderung zur Kommunikation verstanden werden, sondern es erzählt uns auch auf besonders prägnanter Weise etwas von der Lebensgeschichte eines Menschen. „Des Menschen Antlitz enthält in Kurzschrift seine ganze Biographie“, schreibt Theodor Bovet.16 Das Gesicht eines Wachkomapatienten oder auch eines alten und vielleicht dementen Menschen, das von Falten durchfurcht ist, kann sprechend sein, weil es von im Guten bestandenen Lebensschwierigkeiten Zeugnis gibt. Verhärmte Gesichtszüge erzählen uns von Enttäuschungen, Verlusten und Verbitterung. Wie dem Antlitz ist auch dem übrigen Körper die Lebens- und Leidensgeschichte eines Menschen eingeschrieben. So verkörpert auch der menschliche Leib als ganzer den sich an uns richtenden Appell zur Kommunikation. Und insofern sind der Patient und die von ihm ausgehenden Signale zunächst einmal zu ver————— 11

Zum Krankheitsbild siehe einführend P. Nydahl, Wachkoma. A.M. Owen/u.a., Detecting Awareness. 13 Vgl. P. Davies, Wieder aufstehen. 14 F. Hölderlin, Friedensfeier („Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch“), in: ders., Sämtliche Werke II, 426–432, hier 430. 15 Vgl. E. Levinas, Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i.Br. 1998. 16 Th. Bovet, Die Ehe, 139, in einer Betrachtung zu den Falten im Antlitz seiner Frau. 12

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Personsein im Wachkoma

stehen als Aufforderung, ihn nicht in Ruhe zu lassen- und das heißt eben auch: ihn nicht sterben zu lassen. Wachkomapatienten als Subjekte ernst zu nehmen, setzt allerdings ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, an Sensibilität und Einfühlungsvermögen voraus.17 Therapie und Pflege von Patienten mit apallischem Syndrom verlangen jedenfalls nicht nur medizinische und pflegerische Fachkompetenz, sondern auch eine hermeneutische Kompetenz.18 Wie weit Signale und Reaktionen, die vom Patienten ausgehen, als personale Mitteilung interpretiert oder als bloße Körperreaktionen begriffen werden, ist in hohem Maße deutungsabhängig.19 Solche Deutungen hängen unter anderem von der Kenntnis der Lebensgeschichte eines Menschen ab und davon, welche Beziehung im Verlauf der therapeutischen und pflegerischen Betreuung des Patienten aufgebaut worden ist. Bei aller Vorsicht gegenüber unseren Interpretationskonstrukten scheint es durchaus möglich zu sein, eine Art von Willensäußerung auch bei solchen Menschen wahrzunehmen, die zu keinen kognitiven Leistungen fähig sind. Anzeichen von Lust oder Unlust müssen als personhafte Äußerungen ernstgenommen und dürfen nicht als bloße Körperreaktionen abgewertet werden. In diesem Sinne scheint eine interpersonale Kommunikation mit Wachkomapatienten möglich zu sein, ohne dafür in jedem Fall die juristische Denkfigur des mutmaßlichen Patientenwillens bemühen zu müssen. Denn in der Tat lässt sich fragen, ob diese Kategorie bei lang anhaltender Bewusstlosigkeit überhaupt noch tragfähig ist. Ist es bei einem Patienten, der schon seit vielen Jahren im Koma liegt, überhaupt noch sinnvoll, einen mutmaßlichen Willen zu unterstellen? Oder muss er im juristischen Sinne nicht ganz als Objekt paternalistischer Fürsorge begriffen werden?20 Die gleiche Frage stellt sich bei Demenzkranken.21 Vermutlich ist die Frage in dieser Form falsch gestellt. Unbeschadet der juristischen Besachwalterung eines Wachkomapatienten gibt es eine Ebene der Kommunikation, auf der sehr wohl gefragt werden kann, ob der betroffene Mensch zum Beispiel zu verstehen gibt, dass er in Ruhe gelassen werden will, so dass zu entscheiden ist, ob Ärzte, Pflegende und Angehörige diesen Signalen Rechnung tragen wollen oder nicht. Ein gesondertes Thema ist die Befolgung von Patientenverfügungen, wobei das österreichische Gesetz zwischen verbindlichen und beachtlichen Verfügungen unterscheidet. In Österreich ist vom Gesetz her klar, dass eine verbindliche Verfügung, die ein Wachkomapatient errichtet hat, zu befol————— 17

Vgl. A. Zieger, Grenzbereiche. Vgl. A. ders., Philosophie und Praxis. 19 Vgl. H.-J. Hannich, Bewußtlosigkeit und Körpersprache. 20 Zu ethischen und rechtlichen Einzelfragen vgl. auch W. Höfling (Hg.), Wachkoma. 21 Vgl. P. Dabrock, Formen der Selbstbestimmung. 18

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Wachkomapatienten als Subjekte ernst nehmen

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gen ist, dass diese Verfügung ihre Gültigkeit nicht verliert, wenn sie nach Ablauf der gesetzlichen Frist von fünf Jahren nicht erneuert werden kann, und dass auch die Verweigerung oder die Einstellung der Ernährung durch eine PEG-Sonde Gegenstand einer solchen Verfügung sein kann.22 Gleiches gilt für Patienten mit Demenz. Die Frage von Therapiebegrenzung oder Therapieabbruch lässt sich aber nicht auf das Problem der Patientenverfügungen reduzieren. Dass es nicht angeht, das apallische Syndrom unter dem Begriff „irreversibles tödliches Leiden“ zu subsumieren, sollte medizinisch, ethisch und rechtlich außer Streit stehen. Der Schutz des Lebensrechtes von Wachkomapatienten darf freilich auch nicht zu einer Lebenspflicht umgemünzt werden, die den Patienten um jeden Preis am Leben erhalten will. Zwar wird von medizinischer Seite betont, dass es beim apallischen Syndrom keine hundertprozentige Diagnose- und Prognosesicherheit gibt. Es verbietet sich daher, von einem irreversiblen Koma zu sprechen. Diese Feststellung kann freilich nicht zur Rechtfertigung dienen, jede Therapiebegrenzung auszuschließen. Inwiefern ein Patient im komatösen Zustand zu verstehen gibt, dass er in Ruhe gelassen werden will, und inwieweit solche Wahrnehmungen in die Entscheidung über die Fortsetzung oder Beendigung therapeutischer Maßnahmen einfließen darf, lässt sich nur von Fall zu Fall entscheiden. Schließlich geht es nicht um das Abstraktum „apallisches Syndrom“, sondern um einen konkreten Menschen mit seiner Persönlichkeit, bei dem dieses Syndrom unbeschadet seiner allgemeinen Beschreibbarkeit individuell ausgeprägt ist.23 Den einzelnen Patienten in seiner Subjekthaftigkeit ernst zu nehmen, wenn es darum geht, ihn in Ruhe zu lassen oder nicht – und d.h. dann irgendwann auch, ihn in Ruhe sterben zu lassen –, setzt aber, wie gezeigt wurde, einen differenzierten Gebrauch der Begriffe „Subjekt“, „Person“ oder „Autonomie“ voraus, der die engen Grenzen des Rechts übersteigt.

————— 22 23

Vgl. U. Körtner, Patientenverfügungen; ders., Lebensrecht, nicht Lebenspflicht. Vgl. A. Zieger, Persönlichkeit; J. Wallner, Health Care, 249.

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8 Leiblichkeit und Verlust im Alter

8.1 Verluste im Alter Als besonders markante Erfahrung der Leiblichkeit wird im folgenden das Altern in den Blick genommen, wobei auch dieses eben kein rein körperlicher Vorgang ist, sondern immer den ganzen Menschen in seiner leiblichseelischen Einheit und auch in seiner Sozialität, seinen Beziehungen betrifft. Die Leiblichkeitserfahrungen des Alters sind nicht nur, aber in hohem Maße doch auch Verlusterfahrungen. Wer von Verlusten im Alter spricht, steht freilich in der Gefahr, ein defizitorientiertes und negatives Bild vom Altern zu bestärken, das die Alternsforschung der letzten Jahrzehnte zugunsten eines ressourcenorientierten und positiven Altersbild zurechtgerückt hat.1 Tatsächlich darf man sich das Alter nicht bloß und primär als Lebensphase fortgesetzter Verluste vorstellen. Auch gibt es das Alter gar nicht, wie uns die moderne Gerontologie belehrt, sondern unterschiedliche Phasen und Verläufe des Alterns.2 Hinzukommt, dass Verlusterfahrungen, die schwere Lebenskrisen auslösen können, keine Besonderheit des Alters sind, sondern in jeder Lebensphase auftreten können. Umgekehrt erleben Menschen im Alter neue Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Es gibt im Alter eben nicht nur einen Verlust, sondern auch einen Gewinn von Lebensqualität. Untersuchungen zeigen, dass die gemessene Lebenszufriedenheit im Alter nicht grundsätzlich geringer ist als bei jüngeren Menschen. Freilich ergibt sich für die „jungen“ Alten und hochbetagte Menschen im sogenannten „vierten Lebensalter“ ab dem 80. Lebensjahr ein durchaus unterschiedliches Bild: „Während das dritte Lebensalter durchaus im Sinne der späten Freiheit charakterisiert werden kann, die aus dem Fortfallen externer Verpflichtungen in Beruf und Familie erwächst, ist das vierte Lebensalter eher im Sinne einer Kumulation von Herausforderungen und Verlusten zu charakterisieren.“3

————— 1 Vgl. P.B. Baltes/J. Mittelstraß (Hg.), Zukunft des Alterns; K.U. Mayer/P.B. Baltes (Hg.), Berliner Altersstudie; Th. Rentsch/E. Birkenstock, Ethische Herausforderungen (dort 614ff: Das negative und das positive Paradigma des Alterns in antiken und modernen Reflexionen). 2 Einführend siehe A. Kruse, Psychologische Alternstheorien; G.M. Backes/W. Clemens, Soziologische Alternstheorien. 3 A. Kruse, Chancen und Grenzen, 433.

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Verluste im Alter

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Das trifft insbesondere für Frauen zu, die abgesehen von körperlichen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen häufiger als Männer vom Risiko der Armut bedroht sind. Auch besteht ein wesentliches Merkmal der für das höhere Alter typischen Verluste darin, dass sie sich nicht nur unwiderruflich sind, sondern auch der Handlungskontrolle der von ihnen Betroffenen entziehen.4 Überhaupt ist zunehmender Kontrollverlust – sei es der Kontrolle über den eigenen Körper und seine Funktionen, sei es das eigene Erinnerungsvermögen, sei es schließlich die Einsichts- und Urteilsfähigkeit oder das Bewusstsein überhaupt – die Hauptangst alter Menschen. Zu den Verlusten im Alter zählen der Verlust sozialer Rollen, vor allem der Berufsrolle, der Verlust der körperlichen oder auch der geistigen Kräfte, Veränderungen im Körperbild und den Körperfunktionen, sensorische und motorische Einbußen, der Verlust nahestehender Menschen – z.B. des Ehepartners, von Angehörigen und Freunden –, aber auch das Schwinden der verbleibenden Lebenszeit. Generell kennzeichnet es die Grundsituation von Menschen im fortgeschrittenen Alter darin, dass sie im Unterschied zu jüngeren Menschen mit einer größeren Zahl von „exit events“ statt „entrance events“ zurechtkommen müssen.5 Soziologisch betrachtet, ergibt sich im Blick auf die Korrektur negativer Alternsbilder, die ihr Augenmerk einseitig auf Erfahrungen des Verlustes, von Defiziten und Gebrechlichkeit richten, ein durchaus zwiespältiges Bild.6 Einerseits ist es erfreulich, wenn das Alter eine neue gesellschaftliche Wertschätzung erfährt. Andererseits spricht der Boom von Anti-AgingMedizin und sonstigen Formen der Alternsprophylaxe dafür, dass eine negative Sicht des Alters, die bis zur Diskriminierung alter Menschen reicht, lediglich von der jüngeren auf die ältere Gruppe der alten Menschen verlagert wird. Alt sind eigentlich immer nur die anderen. Anti-Aging und das neue Leitbild der jungen Alten bleiben dem gesellschaftlichen Ideal ewiger Jugend verhaftet. Positiv wird lediglich bewertet, dass man auch in einem Alter jenseits von 65 Jahren „jung bleiben“ kann. Wirklich „alt“ sein wird jedoch in der Regel nach wie vor nicht positiv erlebt. Die Vorurteile des „Ageism“7, d.h. der Diskriminierung alter Menschen, richten sich nun gegen die Hochbetagten, deren Bild mit Gebrechlichkeit gleichgesetzt wird. Das sind „die Pflegebedürftigen“, die „abgebaut“ haben. „In der Abwertung jener Menschen, die hilfsbedürftig oder pflegebedürftig sind, spiegeln sich auch die Auswirkungen der persönlichen Distanzie————— 4

S.-H. Filipp, Verlustbewältigung, 111. R.R. McCrae, Age differences, 456. 6 Vgl. U. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 159–175. 7 Vgl. F.J. Illhard, Ageism. 5

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rung von negativen gesellschaftlichen Alternsbildern wider.“8 Dies hat unter Umständen zur Folge, dass den „alten Alten“, den gebrechlichen und in hohem Maße auf Hilfe angewiesenen Menschen wesentliche Eigenschaften menschlicher Existenz abgesprochen werden. Ein Indikator dafür ist es, wenn Menschen die Ansicht äußern, bestimmte Zustände von Gebrechlichkeit seien kein menschenwürdiges Leben mehr. Der Gedanke der Menschenwürde, der doch bedeutet, dass das Lebensrecht und die Würde jedes Menschen unabhängig von seiner Herkunft, seinem sozialen Rang, seinem Geschlecht, seinem Alter und seiner geistigen und körperlichen Verfassung zukommt, verkehrt sich in diesem Fall zu einem Kriterium, um zwischen vermeintlich lebenswertem und lebensunwertem Leben zu unterscheiden. Nicht von ungefähr wird über die ethische Zulässigkeit von Euthanasie und ärztlicher Suizidbeihilfe gerade im Zusammenhang mit gebrechlichen und altersdementen Menschen diskutiert. So korrekturbedürftig ein Bild vom Alter als Phase fortgesetzter Verlusterfahrungen ist, so problematisch wäre es, die Realität von Verlusten im Alter herunterzuspielen oder zu tabuisieren. Statt jedoch ungeprüft irgendwelchen Stereotypen von Verlusten im Alter und dem Umgang mit ihnen aufzusitzen, ist es notwendig, sich ein differenziertes Bild der tatsächlichen Lebensverhältnisse alter Menschen in ihrer ganzen Vielseitigkeit zu machen. Umgang mit Verlusten im Alter bedeutet freilich nicht immer und unbedingt, dass sie positiv verarbeitet und bewältigt werden können. Wie auch sonst im Leben ist das Alter vom Risiko und Erfahrungen des Scheiterns nicht ausgenommen. Es geht also nicht nur um die Frage, anhand welcher Kriterien das „Gelingen“ von Verlustbewältigung überhaupt gemessen werden soll9, sondern auch darum, dass Versuche des Copings an ihre Grenzen stoßen können. Für die Altenseelsorge stellt sich die Frage, auf welche Weise sie zur Bewältigung von Verlusten im Alter, aber auch zum Ertragen des Scheiterns von Bewältigungsversuchen beitragen kann. Seelsorge hat grundsätzlich die Aufgabe, dem Einzelnen das Evangelium von der Liebe und bedingungslosen Zuwendung Gottes zu bezeugen und ihn zum Leben zu ermutigen. Ihre Aufgabe ist es auch, den Mutlosen zu helfen, neue Kräfte zu mobilisieren oder neue Ressourcen zur Bewältigung des Lebens zu entdekken. Gegenüber einem einseitigen Erfolgsdenken hat die Seelsorge freilich das kritische Potential des Evangeliums geltend zu machen, dass doch die Annahme des Menschen selbst noch im radikalen Scheitern zusagt. Im Umgang mit Verlusten im Alter wie auch mit den Grenzen ihrer Bewältigung kommt die Einsicht in die Fragmenthaftigkeit unserer Existenz ————— 8 9

A. Kruse/E. Schmitt, Art. Alter/Altern, 132. Vgl. S.-H. Filipp, Verlustbewältigung, 100.

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Gelingendes Altern – gelingendes Leben?

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ins Spiel, die im weiteren Verlauf dieses Kapitels näher beschrieben wird. Die Perspektive, aus welcher nach christlicher Überzeugung die Bruchstückhaftigkeit und Unvollkommenheit unseres Lebens zu betrachten ist, ergibt sich aus der biblischen Hoffnung auf Vollendung, für welche im Neuen Testament die Bilder vom Reich Gottes und vom ewigen Leben gebraucht werden. Diese eschatologische Perspektive gibt den nachfolgenden Reflexionen über den Umgang mit Verlusten im Alter die Richtung vor.

8.2 Gelingendes Altern – gelingendes Leben? Aus theologischer Sicht problematisch ist die Vorstellung eines gelingenden oder erfolgreichen Alterns, das die Bewältigung von Verlusten einschließt. Gewiss ist Erfolg etwas, was jeder Mensch braucht, aber abgesehen davon, dass Erfolg im Leben nicht garantiert ist, gibt es auch Misslingen und Misserfolge. Die Rede vom erfolgreichen Altern suggeriert, als sei der Alternsprozess ein planbares oder lenkbares Projekt, bei dem der alternde Mensch Feder führt. So wünschenswert Kreativität und Produktivität im Alter auch sind, so fragwürdig ist doch die Rede vom produktiven Alter, von Lebensinvestment, Optimierung und Lebensbilanz, welche Begriffe aus dem Arbeits- und Wirtschaftsbereich auf die letzte Lebensphase überträgt und damit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche Vorschub leistet.10 Zu Recht hält der Wiener Gerontologe Leopold Rosenmayr den Begriff „erfolgreich“ für einen unpassenden Begriff, um das Altern zu charakterisieren, weil das Altern zwar gestaltbar, aber nicht insgesamt planbar und lenkbar ist und sich deshalb auch einer Bewertung entzieht.11 Aufgabe der Seelsorge ist es gewiss nicht, dem Menschen seine tatsächlichen Stärken auszureden und seine Erfolge madig zu machen, aber gewiss auch nicht, selbst noch im Alter Menschen unter den Leistungsdruck einer ökonomischen Logik zu setzen. Die unbedachte Rede vom erfolgreichen oder produktiven Altern hängt letztlich mit der Idee des gelingenden Lebens zusammen, die heute weiter Verbreitung findet. Ein gelingendes Leben ist auch das Hauptziel verschiedener psychotherapeutischer Konzepte.12 Darunter wird zumeist ein Leben verstanden, in dem sich der innere Wunsch und Drang zur Selbstverwirklichung entfalten kann. Die Idee des gelingenden Lebens begegnet uns auch in der Seelsorge. Diese kann geradezu als Hilfe für die Gestaltung eines ————— 10

Vgl. U. Schmitt-Pridik, Hoffnungsvolles Altern, 78f. L. Rosenmayr, Wandlungen, 100. 12 Aus der Fülle der Veröffentlichungen siehe z.B. V. Kast, Leidenschaft. 11

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gelingenden Lebens verstanden werden.13 Aber auch die Philosophie kommt bisweilen als eine säkulare Form der Lebensberatung in Sachen gelingendes Leben daher.14 Im Kontext der Seelsorge markiert die Vorstellung des gelingenden Lebens den Wechsel von psychoanalytischen zu narzissmustheoretischen Seelsorgekonzepten, der innerhalb der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat. An die Stelle der Schuldproblematik und der Konflikte von Ich, Es und Über-Ich tritt das Ziel eines lebenslangen Reifungs- und Selbstfindungsprozesses. Theorien eines reifen Narzissmus und der Behebung von Narzissmusstörungen konvergieren mit einer eudämonistischen Ethik, die sich am Begriff des Glücks oder des guten Lebens orientiert. Sie hat eine bis in die Antike zurückreichende Tradition und erlebt seit Jahren ihre breitenwirksame Renaissance.15 Die Rede vom gelingenden Leben begegnet auch im kirchlichen und diakonischen Milieu. Sie kommt in vielen Predigten und erbaulichen Büchern vor16, ohne dass ernsthaft die Frage gestellt wird, ob diese Idee tatsächlich so biblisch und christlich ist, wie man immer behauptet.17 Fragwürdig ist auch die Interpretation des Alterns als „Werden zu sich selbst“18, die der Philosoph Thomas Rentsch vorschlägt, obwohl sie sich ausdrücklich auf das Gespräch mit der Theologie einlässt und um die philosophische Reformulierung theologischer Grundgedanken wie Schuld und Vergebung, Gnade, Geschöpflichkeit und ewiges Leben bemüht.19 Ausdrücklich fundiert er seine Ethik des Alterns in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition eudämonistischer Ethik.20 Auch wenn Rentsch die Gebrochenheit des Selbstwerdungsprozesses im Altern betont21, ist es nach seiner Theorie doch der Mensch selbst, der die einmalige Ganzheit des Lebens als „eine ständige Interpretationsaufgabe“ anzunehmen und zu erfüllen hat.22 Während der christliche Glaube davon spricht, wie Gott die Identität des Menschen stiftet und ihn aus Schuld und Sünde rettet, ist es nach Rentsch der Mensch selbst, dessen Lebensmühe und Lebensernst darin besteht, „sich aus den mannig————— 13

Siehe z.B. R. Lödel, Seelsorge. Siehe z.B. G. Ropohl, Sinnbausteine. 15 Siehe z.B. W. Schmid, Lebenskunst; ders., Mit sich selbst befreundet sein; ders., Glück. Zur theologischen Diskussion vgl. J. Lauster, Gott und das Glück. 16 Siehe z.B. A. Grün, Glückseligkeit; F. Schorlemmer, Lass es gut sein. 17 Vgl. dazu H. Luther, Identität und Fragment; G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Siehe oben Kapitel 5, 6. Abschnitt, 128ff. 18 Th. Rentsch, Philosophische Anthropologie. 19 A.a.O., 303. 20 A.a.O., 288. 21 Vgl. a.a.O., 298.302. 22 Ders., Altern als Werden, 56. Rentschs Philosophie des Alter(n)s ist durch Karl Jaspers und seine Philosophie der Grenzsituationen beeinflusst. 14

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Gelingendes Altern – gelingendes Leben?

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fach gegebenen Möglichkeiten des Sich-Verfehlens herauszuarbeiten und dauerhaft zu befreien“23. Die Seelsorge im Allgemeinen wie auch die Altenseelsorge im Besonderen haben gute Gründe, sich zur Idee des gelingenden Lebens kritisch zu verhalten. Es sind doch gerade Erfahrungen eines fragmentierten Lebens, des Misslingens und von „Bruchbiographien“24, mit denen die Seelsorge immer wieder konfrontiert wird. Nicht nur Konflikte bei der Lebensführung, sondern Erfahrungen von Versagen und Schuld, von Leiden und Ohnmacht lassen Menschen nach seelsorgerlichem Beistand suchen. So gewiss sie Rat und Lebenshilfe suchen, auch Hilfe bei der Klärung ethischer Fragen, so gewiss brauchen Menschen auch Trost und Solidarität in Situationen, die sich gar nicht oder jedenfalls nicht sogleich durch menschliches Handeln verändern lassen. Auch die sogenannten Kontingenzen des Lebens lassen sich nicht immer „bewältigen“, sondern können manchmal bestenfalls ausgehalten und von anderen Menschen mitgetragen und erduldet werden. Wie in allen Phasen des Lebens, so vollzieht sich auch im Alter der Umgang mit Verlusten im Spannungsfeld zwischen Widerstand und Ergebung, wie es Dietrich Bonhoeffer beschrieben hat. Bei ihm lesen wir: „Ich habe mir [...] oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ‚Schicksal‘ und der ebenso notwendigen Ergebung liegen. Der Don Quijote ist das Symbol für die Fortsetzung des Widerstandes bis zum Widersinn, ja zum Wahnsinn – ähnlich Michael Kohlhaas, der über der Forderung nach seinem Recht zum Schuldigen wird [...] der Widerstand verliert bei beiden letztlich seinen realen Sinn und verflüchtigt sich ins Theoretisch-Phantastische; der Sancho Pansa ist der Repräsentant des satten und schlauen Sichabfindens mit dem Gegebenen. Ich glaube, wir müssen das Große und Eigene wirklich unternehmen und doch zugleich das selbstverständlich- und allgemein-Notwendige tun, wir müssen dem ‚Schicksal‘ – ich finde das ‚Neutrum‘ dieses Begriffes wichtig – ebenso entschlossen entgegentreten wie uns ihm zu gegebener Zeit unterwerfen. Von ‚Führung‘ kann man erst jenseits dieses zwiefachen Vorgangs sprechen, Gott begegnet uns nicht nur als Du, sondern auch ‚vermummt‘ im ‚Es‘, und in meiner Frage geht es also im Grunde darum, wie wir in diesem ‚Es‘ (‚Schicksal‘) das ‚Du‘ finden, oder m.a.W., […] wie aus dem ‚Schicksal‘ wirklich ‚Führung‘ wird. Die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung sind also prinzipiell nicht zu bestimmen; aber es muß beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden. Der Glaube fordert dieses bewegliche, lebendige Handeln. Nur so können wir uns[ere] jeweilige gegenwärtige Situation durchhalten und fruchtbar machen.“25

————— 23

Ders., Philosophische Anthropologie, 295. G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar, 49, im Anschluss an U. Beck/E. Beck-Gernsheim, Individualisierung. 25 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 333f. 24

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Das aber bedeutet, dass Seelsorge und Ethik auch die Grenzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten und aktiver, bewusster Lebensführung, und d.h. auch die Grenzen des Ethischen, stets mitzubedenken haben. Von der Dialektik von Widerstand und Ergebung ausgehend, muss auch der Begriff der Lebensführung theologisch bedacht werden, der in Ethik und Seelsorge heute eine wichtige Rolle spielt.26 Nun trifft es zweifellos zu, dass das menschliche Leben mehr ist als die Summe isolierbarer Handlungen. Die einzelne Handlung ist eingebettet in die individuelle Biographie und gewinnt ihren Sinn im Rahmen dieses Kontextes. Gegen ein Verständnis von Ethik als Theorie menschlicher Lebensführung lässt sich freilich einwenden, dass der Begriff der Lebensführung zu stark am Individuum ausgerichtet ist.27 Die Begründungsprobleme heutiger Ethik rühren gerade daher, „daß das überkommene Konzept der Person, wonach diese das organisierende Zentrum des Handelns und somit auch der Ort ethischer Verantwortung ist, mit der Realität vergesellschafteten Handelns nicht mehr zusammenstimmt“28. Der Gedanke einer durchgängigen Identität menschlicher Lebensführung scheitert heute daran, dass der einzelne seines Lebens keineswegs zu jedem Zeitpunkt mächtig ist. Kontingenzerfahrungen, die nicht nur von Naturereignissen, sondern auch von der Unübersichtlichkeit und Komplexität der modernen Lebensverhältnisse herrühren, führen zu der Einsicht, dass der faktische Lebensverlauf nur zum Teil das Resultat bewusster Lebensführung ist. Wohl gibt es nicht nur einzelne Handlungen, sondern auch Handlungsweisen.29 Auch lassen sich Lebensweisen bzw. Lebensstile unterscheiden.30 Aber der faktische Lebensverlauf ist mehr als die Summe unserer Handlungen und nur zum Teil das Resultat unseres Planens und Wollens. Das gilt auch für die Gesellschaft, in deren Kontext das Einzelleben eingebettet ist. Wohl sind Gestalt und Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme die Folge menschlicher Handlungen, aber nicht das Ergebnis bewusster Entscheidungen eines Kollektivsubjektes „Gesellschaft“. Insofern ist die gesellschaftliche Entwicklung einerseits vom Handeln ihrer Mitglieder abhängig und andererseits ihrem Handeln entzogen bzw. vorgegeben. Zum Umgang mit Verlusten – und das nicht nur im Alter – gehört aus Sicht des christlichen Glaubens eben nicht nur das aktive Moment der Ei————— 26 Einflussreich ist die Definition des evangelischen Theologen Trutz Rendtorff von Ethik als Theorie der menschlichen Lebensführung. Vgl. T. Rendtorff, Ethik I, 13ff. Den Begriff der Lebensführung übernimmt Rendtorff von Max Weber (15). 27 Vgl. U. Körtner, Evangelische Sozialethik, 40ff. 28 J. Fischer, Theologische Ethik und Christologie, 504. 29 Vgl. E. Herms, Gesellschaft gestalten, XVII. 30 Vgl. D. Korsch, Religion mit Stil, 1ff.

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genverantwortung, so gewiss im Sinne eines ressourcenorientierten Modells von Altenarbeit und Seelsorge die Handlungsfähigkeit der Betroffenen zu stärken und zu unterstützen ist, sondern auch das passivische Moment des Sich-führen-Lassens, von dem schon im 5. Kapitel die Rede war.31 Konkret bedeutet dies, über die positive Funktion von Abschied und Trauer, von Resignation und Gelassenheit nachzudenken, aber auch, nach dem Grund und Inhalt von Hoffnung im Alter zu fragen.

8.3 Abschied und Trauer Das Alter, jedenfalls das hohe Alter der vierten Lebensphase, ist eine Zeit permanenter Abschiede. Letztlich bedeutet Altern den „Abschied von früheren Lebensphasen“ 32. Zugleich ist die für uns Menschen immer unvorhersehbare Zukunft dadurch charakterisiert, dass sich die verbleibende Lebenszeit dramatisch verkürzt. Alte Menschen erleben nicht nur das Verrinnen, sondern das Ausrinnen der Zeit. „Für viele ältere Menschen ergibt sich die Neuartigkeit einzelner Belastungen auch dadurch, daß diese nicht ‚aufgehoben‘ werden können, sondern endgültige Grenzen darstellen.“33 Damit radikalisiert sich die allgemein menschliche Erfahrung der Zeitlichkeit und Endlichkeit. Im zwischenmenschlichen Bereich treten zunehmend Verluste nahestehender Menschen auf. Es sind die Angehörigen der eigenen Generation, die abtreten. Die Welt der Jungen wird den Zurückbleibenden – schon aufgrund der rasanten Entwicklungsdynamik der modernen Gesellschaft – immer fremder. Sehr alte Menschen beklagen, dass sie sich mit niemandem mehr so recht unterhalten können, weil gemeinsame Erfahrungshorizonte und persönliche Bekanntschaft fehlen. Die Kontexte und Sprachkonventionen zerbrechen. Das Altwerden geht also mit Vereinzelung und Fremdwerden in der Welt einher.34 Der alte Mensch wird damit zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen, womit freilich ebenso sehr eine Erfahrung der Selbstfindung wie der Selbstentfremdung verbunden sein kann.35 Wer sich aufmerksam im Spiegel betrachtet, sieht schon früh die ersten Zeichen körperlicher Veränderung. Wie Menschen ihren alternden Körper erleben, wirkt sich auf ihr Selbstbild, ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl aus. Sehr alten Menschen beschert ihr ————— 31

Vgl. oben Kapitel 5, 7. Abschnitt, 132ff. Thomas Rentsch/E. Birkenstock, Ethische Herausforderungen, 619. 33 A. Kruse, Entwicklungspotentialität, 71. 34 Vgl. J. Améry, Altern, 87ff. 35 Vgl. a.a.O., 38ff. 32

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hinfälliger Körper „endlose Abschiede“36, die Trauer, aber auch Ängste auslösen. Die Angst vor zunehmender Hilfsbedürftigkeit, vor Abhängigkeit, vor Kontrollverlust, vor Verlust der Autonomie und letztlich der eigenen Würde ist nur zu verständlich. Während der Tod nahestehender Menschen unausweichlich und nicht zu beeinflussen ist, führt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper in ein beständiges Ringen, wie lange man gegen den Verfall ankämpfen oder wann ihn akzeptieren soll. Das Ringen zwischen Standhalten und Aufgeben kommt freilich nicht nur im hohen Alter vor. Es betrifft auch jüngere Menschen, die an einer fortschreitenden oder chronischen Krankheit leiden, sei es eine Krebserkrankung oder eine neurologische degenerative Erkrankung wie multiple Sklerose oder Parkinson. Wie lange kann und soll ich mich gegen eine Gehhilfe wehren, wie lange gegen den Rollstuhl oder einen Dauerkatheter? Wie lange gegen ein Hörgerät oder gegen Hilfe im Haushalt? Die Situation ist paradox. Auf der einen Seite kann gerade die Akzeptanz dauerhafter körperlicher und funktioneller Beeinträchtigungen zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen, weil man nun endlich bereit ist, technische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, welche die Unabhängigkeit und Mobilität fördert. Auf der anderen Seite ist mit der Inanspruchnahme technischer Hilfsmittel oder pflegerischer Unterstützung das Eingeständnis verbunden, dass es nie wieder so werden wird, wie es einmal war. Die neuen Lebens- und Handlungsmöglichkeiten sind nicht ohne einen schmerzhaften Abschied zu haben, mit dem auch Trauer verbunden ist. So gibt es im Alter selbst noch angesichts fortschreitender Gebrechlichkeit Lebensperspektiven und Entwicklungspotentiale.37 Ihr Preis ist freilich der – heilsame – „Verzicht, den eigenen Körper zu manipulieren, um dem Bild des ewig jung aussehenden, gesund und fit bleibenden Körpers zu genügen, dem Alter und Tod nichts anhaben können“38. Zu den Abschieden im Alter gehört unter Umständen auch die Übersiedlung von der eigenen Wohnung in ein Alten- und Pflegeheim. Und auch hier kann es nochmals zu einem Ortwechsel kommen, wenn ein betagter Mensch von seiner Altenwohnung oder seinem Zimmer, in dem er noch ein relativ selbständiges Leben führen konnte, auf eine Pflegestation verlegt werden muss. In jungen Jahren sind Ortswechsel vielleicht durch Ausbildung und berufliche Mobilität erzwungen, verbunden oftmals mit Karrieremöglichkeiten. Auch Heirat und Familiengründung können der Grund sein, den Wohnort zu wechseln. Später wird vielleicht die erste Wohnung ————— 36

S. Blum-Lehmann, Hinfälligkeit, 202. Vgl. auch die theologischen Überlegungen zum Gottesdienst in Leiblichkeit und Lebenslauf bei H.-M. Rieger, Altern anerkennen und gestalten, 129ff. 38 S. Blum-Lehmann, Hinfälligkeit, 206. 37

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gegen eine größere und schöner gelegene eingetauscht, oder der Traum vom Eigenheim wird Wirklichkeit. All diese Ortswechsel können auch mit Trennungen und Abschieden von Nachbarn, Freunden, Arbeitskollegen und Verwandten verbunden sein. Doch im Fall der altersbedingten Übersiedlung in ein Alten- oder Pflegeheim liegen die Dinge anders. Gewiss, auch hier können durchaus positive Erfahrungen gemacht werden. Ein bis dahin einsam lebender alleinstehender Mensch findet neue Gemeinschaft und vielleicht neue Bekannte. Er kann die Befreiung von der selbständigen Haushaltsführung als Entlastung erleben. Aber das Altersheim oder gar die Pflegeabteilung wird für den alten Menschen auch zur Endstation seines Lebens. Auch erfolgt die Einweisung in ein Heim nicht selten eher unfreiwillig, z.B. gleich im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt. Es ist richtig, dass Pflegeheime nicht bloß als Institutionen der Betreuung und Versorgung, sondern als Lebensräume begriffen und gestaltet werden. Alten- und Pflegeheime sind aber nicht nur Lebensorte, sondern auch Sterbeorte. Schätzungen gehen davon aus, dass in unseren Breitengraden etwa 50 Prozent der Menschen im Krankenhaus und 20 Prozent im Pflegeheim sterben. Das Eintrittsalter in die Heime ist ständig angestiegen und liegt heute im Durchschnitt bei über 85 Jahren, während die durchschnittliche Verweildauer auf knapp über zwei Jahre gesunken ist.39 Pflegeheime sind Orte des institutionalisierten Sterbens. Die Aufgabe besteht darin, eine diesen Orten angemessene Abschiedskultur zu entwickeln, welche sich nicht auf die Begleitung während des Sterbens beschränkt, sondern auch die Phasen vor und nach dem Sterben einbezieht. Sie darf sich auch nicht nur auf die Sterbenden und ihre Angehörigen konzentrieren, sondern muss auch die Mitbewohner und das Personal einbeziehen. Karin Wilkening und Roland Kunz haben das Modell eines Netzwerkes Abschiedskultur entwickelt, in das die Bewohner, die Angehörigen und die Pflegekräfte, aber auch die Leitung des Hauses, Ehrenamtliche und das Heimumfeld, sprich: Ärzte, Seelsorger und Bestatter eingebunden sind.40 Als Ziel formulieren sie, dass das Sterben möglichst gewaltfrei geschieht41, und dass die Menschen nach Möglichkeit nicht lebensmüde, sondern lebenssatt sterben können. Wann das Sterben beginnt, ist in Pflegeheimen freilich oft nicht präzise zu bestimmen, zumal in Fällen von langer chronischer Krankheit oder bei einer Demenz. Daher erscheint es sinnvoll, „die Aufgabe der ‚Lebenssättigung‘ bereits am Tag des Heimeinzugs zu begin-

————— 39

Vgl. K. Wilkening/R. Kunz, Sterben im Pflegeheim, 17. Vgl. a.a.O., 114ff. 41 A.a.O., 23f. 40

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nen. Unter diesem Blickwinkel beginnt Sterbebegleitung – oder eben besser umfassende ‚Abschiedskultur‘ – am Tag des Einzugs.“42 Abschied und Trauer sind, wie auch in früheren Lebensphasen, nicht nur mit Depressivität, sondern auch mit Wut und Aggression verbunden. Dauerhaftes Leiden kann Menschen psychisch verändern. Schon immer vorhandene Charakterzüge treten schärfer hervor. Es gibt eben nicht nur altersmilde Menschen, sondern auch zornige und boshafte Alte. In die Trauer kann sich der Neid mischen, dass Altersgenossen ihren Ehepartner noch haben oder noch besser zu Fuß und beieinander sind. Altenseelsorge hat die Aufgabe, alte Menschen in ihrer Trauer zu begleiten und in ihrem Ringen zwischen Widerstand und Ergebung zur Seite zu stehen. Sie soll Möglichkeiten schaffen, dass Trauer überhaupt aufkommen und zugelassen werden kann. Aber auch Wut und Aggression, Schmerz und Klage haben in der Altenseelsorge ihren Ort. In diesem Zusammenhang sei an den Reichtum der Psalmen erinnert. Man denke z.B. an Psalm 71, der um Gottes Hilfe im Alter bittet43, oder auch an Psalm 77. Dort schildert der Beter seine Not, seine Leiden und Ängste. Zugleich gedenkt er früherer Zeiten und vergangener Jahre in der Hoffnung, dass Gott ihn nicht vergessen und verstoßen möge. Der alttestamentliche Psalter, das Gebetbuch der Juden wie der Christenheit, enthält ja nicht nur Gebete, in denen sich ein unbedingtes Vertrauen zu Gott ausspricht, sondern auch Texte der Klage und der Anklage. Und auch die alttestamentliche Weisheitsliteratur spricht nüchtern vom Alter als den Tagen, von denen Menschen sagen, dass sie ihnen nicht gefallen. Kohelet spricht vom Alter in düsteren Bildern, davon, dass sich die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne verfinstern, dass nach dem Regen gleich wieder dunkle Wolken aufziehen, dass die Hüter des Hauses zittern, die Starken sich krümmen, dass die Müllerinnen müßig stehen, weil sie so wenige geworden sind, dass sich das Gesicht derer, die durchs Fenster schauen, verfinstert, dass die Türen zur Gasse sich schließen und die Stimme der Mühle leiser und leiser wird, bis schließlich der silberne Strick zerreißt, die goldene Schale zerbricht, der Eimer an der Quelle zerschellt und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt.44 Die Sprache der Psalmen kann unseren eigenen Empfindungen Sprache verleihen. Sie schafft einerseits Raum, Trauer und negative Gefühle zuzulassen, und eröffnet zugleich eine Möglichkeit ihrer Bewältigung, indem sie alle Trauer und allen Schmerz vor Gott bringt. Das kann auf paradoxe Wei————— 42

A.a.O., 113. Zu Auslegung von Ps 71 im altenseelsorgerlichen Kontext siehe U. Schmitt-Pridik, Hoffnungsvolles Altern, 135ff. 44 Koh 12,1–8. Zu Auslegung des Textes im altenseelsorgerlichen Kontext siehe a.a.O., 153ff. 43

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se wie bei Hiob geschehen, der vor Gott Klage gegen – Gott führt. In Klage und Anklage sind wir mit unserem Schmerz nicht mehr allein, und darin kann auf paradoxe Weise ein Trost bestehen. „Seelsorge ist stets Teilnahme an einer anderen Biographie“45, welche notwendigerweise die Grenzen eines besonderen Amtes, seiner Funktionalität und Professionalität sprengt. Zum christlich motivierten Ethos des Seelsorgers gehört es, sich der Gebrochenheit einer fremden Biographie auszusetzen, die so – unbeschadet der Maxime distanzierter Nähe – als Beschädigung auch des eigenen Lebens erfahren wird.46 „In Klage und Verzweiflung liegt“, wie Henning Luther zu bedenken gibt, unter Umständen „mehr ehrliche Hoffnung als in Beteuerung von Sinn und Lebensgewissheit.“47 Wohl wahr: „Eine Seelsorge ohne Tränen dementiert den Trost, den sie verspricht.“48 Zur Lebensführung im christlichen Sinne gehört das Wissen darum, dass die Vollendung des Lebens, sein „Gelingen“, wie man heute gern sagt, die unser Handeln motivierende Hoffnung ist, ohne doch von uns selbst geleistet werden zu können. Freilich müssen Verluste im Alter nicht immer zu dramatischen Reaktionen führen, wie sie eher in jüngeren Lebensjahren zu erwarten sind. Verglichen mit jüngeren Menschen, deren Ehepartner verstirbt oder die bei denen eine schwere Krankheit ausbricht, empfinden alte Menschen die psychische oder existentielle Belastung häufig als geringer. Das liegt daran, dass Verlusterfahrungen im höheren Alter „on time“ auftreten und darum eher erwartet sind. Gleichaltrige sind in ähnlicher Weise betroffen, was den Verlust oft sogar zu einer ‚kollektiven‘ Erfahrung werden lässt. Auch haben sich die Menschen auf den möglichen Verlust und seine Folgen oft schon seelisch und praktisch eingestellt, so dass sie das Ereignis nicht völlig unvorbereitet trifft. „Verluste sind im Alter womöglich auch weniger einschneidend, indem sie nicht mehr so tiefgreifende Zäsuren im Leben erzeugen und ihr Wirkungsgrad – bezogen auf die vielen anderen Bereiche des Lebens – geringer sind als in jüngeren Lebensaltern.“49 Freilich gilt das nur, sofern Menschen bereit sind, sich beizeiten mit Alter und Tod auseinanderzusetzen, statt alle Gedanken an mögliche Hinfälligkeit und an das eigene Lebensende zu verdrängen. Die Verarbeitung von Verlusterfahrungen muss auch nicht immer mit starken Gefühlen der Trauer, sondern kann auch mit positiven Emotionen verbunden sein. Sigrun-Heide Filipp rechnet es „zu den Mythen der Bewältigungsforschung, daß Menschen nach Verlusterfahrungen Trauerarbeit ————— 45

D. Rössler, Grundriß, 215. Siehe dazu H. Luther, Leben als Fragment. 47 H. Luther, Lügen, 170. 48 Ebd. 49 S.-H. Filipp, Verlustbewältigung, 112. 46

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

leisten müssen und das Verlorene nur so loslassen können. Trauerarbeit können sich zwar unterschiedlich äußern, sei aber keinesfalls mit dem Erleben positiver Emotionen zu vereinbaren.“50 In empirischen Studien mehren sich die Hinweise, „daß das Auftreten und das Äußern gerade positiver Gefühle und Gedanken – auch im Prozeß des Trauerns – der Herstellung eines neuen Gleichgewichts dienlich und als Zeichen einer gelingenden Verlustverarbeitung zu deuten ist.“51 Für die Altenseelsorge ist es wichtig, sich auf das tatsächliche Verhalten und Empfinden des Gegenübers einzulassen, statt sein Verhalten an ungeprüften Verhaltenserwartungen zu messen, die das seelsorgerliche Handeln auf unangemessene Weise normieren könnte. Wo positive Emotionen, vielleicht auch Gefühle der Befreiung im Spiel sind – z.B. wenn vielleicht der Ehepartner nach langer Zeit der Pflegebedürftigkeit stirbt, die für den Hinterbliebenen und Angehörige mit großen Belastungen verbunden war –, soll man Menschen nicht gewaltsam Gefühle der Trauer einreden und auf diese Weise womöglich noch unberechtigte Schuldgefühle hervorrufen. Schließlich ist auch die Trauer kein Selbstzweck, sondern soll doch, wenn möglich, in die Verarbeitung des Verlustes münden. Trost ist die subjektive Erfahrung, dass die Störungen der menschlichen Grundbeziehungen überwunden, d.h. die negativen Auswirkungen von Leiden überwunden werden, sei es durch die Veränderung der äußeren Lebensumstände, sei es durch die Veränderung der inneren Einstellung des Trostbedürftigen.52 In theologischer Hinsicht ist Trost die Erfahrung, dass das Leiden durch die Rechtfertigung des Menschen durch Gott, d.h. durch die Neuorientierung der Identität des ganzen Menschen im Vollzug des Glaubens, relativiert wird.53 Das geschieht in eschatologischer Perspektive, wonach wir nicht schon im Schauen, sondern im Glauben leben54, getragen von der Hoffnung auf künftige Vollendung und der Gewissheit, dass uns nichts von der Liebe Gottes scheiden kann55. Unter diesem Vorzeichen stehen auch unsere menschlichen Versuche und Strategien, Verluste aktiv zu bewältigen oder zu kompensieren.

————— 50

A.a.O., 103. A.a.O., 103f. 52 Vgl. Chr. Schneider-Harpprecht, Trost, 8. 53 A.a.O., 10. 54 Vgl. 2Kor 5,7. 55 Vgl. Röm 8,28–39. 51

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Coping und Kompensation

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8.4 Coping und Kompensation Entgegen einer traditionell defizitorientierten Sicht des Alters setzt sich die heutige Gerontologie für eine ressourcenorientierte Sichtweise ein, welche die auch noch im hohen Alter vorhandenen Potentiale der Verlustbewältigung, der Selbstverantwortung und bestehende Entwicklungschancen betont. Andreas Kruse sieht gerade in der Verantwortung gegenüber sich selbst das Besondere des Alters.56 Das Gewicht der Gerontologie liegt auf der Eigenaktivität bzw. der Aktivierung alter Menschen. Das betrifft nicht nur die Selbstversorgung alter Menschen, sondern auch ihre soziale Rolle. Alte Menschen können sich neue Aufgaben suchen, nicht nur Hobbys pflegen, sondern auch soziale Verantwortung übernehmen, z.B. als ehrenamtlich Tätige oder in der Betreuung der Enkelkinder. Überhaupt ist das Hilfehandeln für andere eine Möglichkeit, eigene Bedrohungen oder Verluste zu bewältigen, wobei sich grundsätzlich beobachten lässt, dass Frauen und Männer mit altersspezifischen Verlusten unterschiedlich gut zurechtkommen. Jedenfalls gibt es Belege dafür, dass die Bereitschaft zu altruistischem Handeln mit dem Alter zunimmt, was sich z.B. in wachsender Spendenbereitschaft zeigt.57 Der Verlust nahestehender Menschen kann dazu führen, dass die verbleibenden sozialen Beziehungen intensiviert werden, dass z.B. alte Freundschaften aufgefrischt oder der Kontakt zu Geschwistern und anderen Verwandten stärker gepflegt wird. Auch Vereine oder Altenclubs wirken der Vereinsamung entgegen. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang die Altenarbeit von Kirchengemeinden zu würdigen, wobei in Kirche und Diakonie der intergenerationellen Arbeit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man denke an Projekte, bei denen Kindergartenkinder Menschen im Altersheim besuchen, oder integrative Schulprojekte diakonischen Lernens. So gibt es in Wien ein vom Evangelischen Gymnasium und dem Diakoniewerk Gallneukirchen verwirklichtes Projekt, bei dem die Schule und mehrere Wohngemeinschaften für pflegebedürftige Senioren unter einem Dach sind. Zu erwähnen sind auch zivilgesellschaftliche Initiativen für eine neue Nachbarschaftsbewegung, z.B. ambulante nachbarschaftsbezogene Wohngruppen oder Haushaltsgemeinschaften für Demente und andere pflegebedürftige Menschen.58 Auch Kreativität, Offenheit und Widerstandsfähigkeit gelten als Potentiale, die auch noch im Alter vorhanden ist. Veränderungsmöglichkeiten, um auf kognitive oder körperliche Beeinträchtigungen, z.B. nach Schlagan————— 56

A. Kruse, Chancen und Grenzen, 445. Vgl. S.-H. Filipp, Verlustbewältigung, 110. 58 Vgl. K. Dörner, Alter gestalten. 57

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

fall oder Sturz, zu reagieren, werden als „Rehabilitationspotential“ oder „Plastizität“ bezeichnet.59 Außerdem haben alte Menschen eine spezifische Form der Problemlösungskompetenz, die in der Forschung als kristalline Intelligenz bezeichnet wird. Sie beruht auf einem komplexen System logischer Verknüpfungen und dient einer stärker erfahrungsbezogenen Problemlösung, wogegen junge Menschen neue Sachverhalte eher durch hohe Reaktivität und schnelle Intuition lösen können.60 Auch ein Zuwachs an Weisheit, Lebenserfahrung und daraus resultierendem Selbstvertrauen werden als Potentiale zur Verlustbewältigung angesehen. Welche Entwicklungs- und Bewältigungspotentiale ein Mensch im Alter hat, hängt freilich in hohem Maße davon ab, wie er früher gelebt und welche Lebenseinstellung und Grundüberzeugungen er entwickelt hat. Die Herausforderung, Traumata oder Verluste zu bewältigen – auch Coping genannt – unterliegt im höheren Alter im Vergleich mit früheren Lebensphasen freilich einer Veränderung. Sie verschiebt sich von sogenannten assimilativen zu akkomodativen Bewältigungsformen. Während assimilative Bewältigungsformen die Kluft zwischen Ist-Zustand und erwünschtem Soll-Zustand durch aktive Veränderung der äußeren Umstände zu schließen versucht, zielen akkomodative Bewältigungsformen darauf ab, die aufgetretene Diskrepanz durch Veränderung der inneren Einstellung, durch Umdeutung und Sinnfindung oder dadurch zu überwinden, dass das Augenmerk auf die möglichen positiven Aspekte des Verlustes gerichtet wird.61 Im höheren Lebensalter verändern sich die Themen und Anliegen, mit denen sich Menschen beschäftigen. Ihre Daseinsthemen sind z.B., im Wechsel von Arbeit und Ruhe Genüge zu finden, den sozialen Lebenskreis aufrechtzuerhalten, nach persönlich zufriedenstellenden Aufgaben und Tätigkeiten zu suchen, sich mit der Endgültigkeit des eigenen Geschicks und der Endlichkeit des eigenen Daseins zu beschäftigen.62 In diesem Zusammenhang wird in der gerontologischen Literatur auf die positive Funktion von Religion und Glauben verwiesen. Manche Autoren vertreten die Ansicht, dass der Versuch, Halt im Glauben zu finden, eher für hochbetagte Menschen als für die sogenannten „jungen Alten“ zutrifft.63 Eine 1987 veröffentlichte Studie, bei der Sterbende über einen mehrmonatigen bis zweijährigen Zeitraum untersucht wurden, ergab fünf Verlaufsformen in der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod.64 Eine davon brachte Linderung der Todesängste durch Erfahrung von neuem Lebenssinn ————— 59

Vgl. A. Kruse, Chancen und Grenzen, 66. Vgl. a.a.O., 68f. 61 Vgl. J. Brandtstädter/G. Renner, Tenacious goal pursuit. 62 Vgl. H. Thomae, Individuum. 63 Vgl. U.M. Staudinger/A.M. Freund/M. Linden/I. Maas, Self, personality, and life regulation. 64 Vgl. A. Kruse, Coping. 60

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Coping und Kompensation

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und durch die Überzeugung, im Leben noch wichtige Aufgaben wahrnehmen zu können, z.B. durch Teilnahme an gemeinsamen Unternehmungen mit dem Ehepartner oder der Familie und praktische Vorkehrungen für die Zeit nach dem Tod. Bei diesen Patienten, die sich auch intensiv mit der gemeinsamen Geschichte mit dem Ehepartner auseinandersetzten, gewann auch die Religiosität im Laufe der Zeit einen immer höheren Stellenwert im eigenen Erleben. Allerdings ist generell auf die Ambivalenz von Religion hinzuweisen. Sie muss nicht unbedingt Ängste lindern, sondern kann auch Ängste fördern.65 Sigrun-Heide Filipp glaubt in der religiösen oder spirituellen Komponente von Bewältigungsstrategien ein Paradoxon zu erkennen: Wer bereit ist, sein Leben in die Hände einer höheren Macht zu legen, gewinne dadurch „Kontrolle“ wieder, die vordergründig verloren gegangen ist.66 Aber vielleicht sollte man doch besser von Kontingenzbewältigung sprechen, die Halt und Trost im endgültigen Verzicht auf Kontrolle findet. Wer sich im biblischen Sinne Gott anvertraut, glaubt ja nicht daran, Gottes Gedanken und Pläne durchschauen zu können, sondern vertraut auf Gottes Güte. Der Beter des 139. Psalms ist zwar davon überzeugt, dass Gott all seine Gedanken von ferne versteht und mit allen seinen Wegen vertraut ist, dass aber für ihn die Gedanken Gottes zu hoch sind.67 Diese Einsicht wird von Gott selbst bei Deuterojesaja bekräftigt, wenn er sagt: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege.“68 Der weitere Text artikuliert allerdings nicht die Rätselhaftigkeit und Undurchdringlichkeit des göttlichen Willens, als handelte es sich um eine blinde Schicksalsmacht, sondern das Unerwartete und Überraschende an Gottes Erbarmen und Vergebungswillen. Sachlich gehört das prophetische Wort aus Jes 55 mit Jer 29,11 zusammen, wo der Gott Israels den Menschen im Babylonischen Exil versichert: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht zum Unheil, um euch eine Zukunft zu geben und Hoffnung.“ Der Glaube, der sich an diese Zusage hält, bietet keine Sicherheit – auf die Kontrolle zielt –, sondern Gewissheit, selbst noch im Angesicht des Scheiterns menschlicher Coping- und Kompensationsbemühungen.

————— 65

Vgl. dazu oben Kapitel 4, 91ff. S.-H. Filipp, Verlustbewältigung, 119. 67 Ps 139,17f; vgl. Ps 40,6; 92,6. 68 Jes 55,8. 66

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

8.5 Resignation und Gelassenheit So berechtigt Gunda Schneider-Flumes Protest gegen die Tyrannei des gelingenden Lebens auch ist, so wenig Grund besteht, den Begriff der Bewältigung von Krankheit oder von Verlust im Alter überhaupt abzulehnen. In gewisser Weise sind das Leben mit Krankheit und Behinderungen wie auch die Bewältigung von Verlusten im Alter durchaus eine ethische Aufgabe. Sie stellt sich in besonderem Maße im Umgang mit chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit. An dieser Stelle wollen wir noch einmal den Begriff der Souveränität aufgreifen, den Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme als kritisches Korrektiv zum gängigen Autonomiebegriff ins Spiel bringen.69 Souveränität als selbstbestimmt akzeptierte Abhängigkeit ist ein Gedanke, der sich, wie schon gesehen, mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde trifft. Solche konkreten Abhängigkeitserfahrungen versteht der christliche Glaube als Hinweis auf die grundsätzliche Angewiesenheit und Empfänglichkeit geschöpflichen Daseins, das sich ganz und gar Gott verdankt und durch ihn gerechtfertigt wird.70 Der evangelische Theologe Karl Barth hat die Erfahrung der Endlichkeit und Begrenztheit des Lebens ausdrücklich in eine theologische Perspektive gerückt und ihnen einen positive Deutung gegeben. Barth versteht körperliche und geistige Beeinträchtigungen eben nicht bloß als „Memento mori“, als Mahnung also, sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden, sondern als heilsame Konfrontation mit Gott, aus der gerade inmitten von Endlichkeits- und Verlusterfahrungen ein Freiheitsgewinn möglich wird. In seiner „Kirchlichen Dogmatik“ schreibt Barth: „Begrenzt ist des Menschen Leben, begrenzt sein Auftrag, begrenzt auch seine Kraft zu dessen Ausführung: nicht von ungefähr, sondern von Gott – und also nicht zu des Menschen Unheil, sondern zu seinem Heil begrenzt. Kann es anders sein, als daß der Mensch irgend einmal, so oder so, konkret auf diese Grenze seines Lebens stoßen, daß er alt werden, abnehmen und eben damit seinem Schöpfer und Herrn, eben damit seiner Allmacht und seinem Erbarmen konkret begegnen muß? Muß? Geht es hier, recht verstanden, nicht auch – und ebenso wie bei seiner unbeeinträchtigten Bewegung innerhalb dieser Grenzen um ein Dürfen? Mehr noch: Könnte und müßte die echte Freiheit zum Leben nicht vielleicht gerade darin konkret Ereignis werden, daß es dem Menschen in der Beeinträchtigung seines Lebens vor Augen gestellt und zu Gemüte geführt wird: er hat sein Leben, er hat sich selbst nicht in seiner Hand; er ist

————— 69 F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben, 62; vgl. 85. Siehe oben Kapitel 5, 7. Abschnitt, 132ff. 70 Vgl. dazu auch die rechtfertigungstheologischen Überlegungen zur Angewiesenheit als Grundkategorie einer Ethik des Alterns von H.-M. Rieger, Altern anerkennen und gestalten, 68– 133.

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Resignation und Gelassenheit

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in der Hand Gottes, von ihr von allen Seiten umschlossen, auf ihn ganz angewiesen, aber gerade so zuverlässig von ihm gehalten? Fängt diese Freiheit nicht genau dort an, wo die Erkenntnis in harter Tatsächlichkeit auf den Plan tritt: ‚Christ will unser Trost sein!’? Und wenn nun eben die Krankheit als konkrete Gestalt der Unkraft, des Abbaus, der Behinderung seiner Kraft und seiner Kräfte, als die konkrete Gestalt des Altwerdens und Abnehmens die harte Tatsächlichkeit wäre, in der diese wahrhaft befreiende Erkenntnis auf den Plan tritt? Wenn sie nun nicht nur die Vorform und der Vorbote des Todes und des Gerichtes, sondern verborgen unter dieser Gestalt auch das Zeugnis von Gottes Schöpfergüte, auch die Vorform und der Vorbote des ewigen Lebens wäre, das er dem in den Grenzen seiner Zeit von ihm gnädig erhaltenen und geführten Menschen zugedacht und zugesagt hat?“71

Als Barth diese Zeilen schrieb, war er bereits 65 Jahre alt und setzte sich mit dem Gedanken auseinander, sein Lebenswerk, die „Kirchliche Dogmatik“ möglicherweise nicht mehr zum Abschluss zu bringen, was tatsächlich der Fall sein sollte.72 Die Haltung, die aus Barths Zeilen spricht, lässt sich als Zuversicht und Hoffnung, zugleich aber auch als Haltung der Resignation charakterisieren. Beides bildet keinen Widerspruch. Vielmehr gibt es eine Form der Resignation, die – ganz im Sinne von Bonhoeffers Ausführungen zur Dialektik von Widerstand und Ergebung – gerade als Ausdruck der Zuversicht, der Dankbarkeit und der Hoffnung zu verstehen ist; einer Hoffnung freilich, die sich gerade nicht auf das eigene Selbst und die eigenen – begrenzten und irgendwann schwindenden – Ressourcen stützt, sondern die auf eine von uns Menschen selbst nicht zu leistende höhere Vollendung hofft, wie sie uns im Neuen Testament verheißen ist. Resignation „ist der wissende Vollzug unserer Endlichkeit“, lautet eine treffende Definition des evangelischen Theologen Walter Mostert.73 „Die Resignation, die ja heiter sein und lachen kann, vermag unsere Endlichkeit als Eingelassensein in vorgegebene, geschenkte Welt zu verstehen. Sie erfährt Endlichkeit nicht als Begrenztheit, sondern als Zuneigung der Fülle des Seienden.“74 Ihr Wesen besteht nicht im Machen und Produzieren, sondern darin, die Güte des Gegebenen zu erspüren und dankbar anzunehmen. Sie stellt keine Dinge her, sondern macht sich etwas aus den Dingen, auch ————— 71

K. Barth, KD III/4, 424f. Vgl. das Vorwort zu KD III/4 (VII). Siehe auch das Vorwort zu KD IV/4 (Fragment), in dem Barth die Umstände schildert, die den Abbruch seiner Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik erzwungen haben. Neben seinem eigenen fortgeschrittenen Alter war dies vor allem der Umstand, dass seine Mitarbeiterin und Freundin Charlotte v. Kirschbaum dement geworden war (VIIf). 73 W. Mostert, Meditation, 46. Mostert charakterisiert die Resignation auch, eine Wendung Adornos aufgreifend, als „angestrengte Passivität“ (47). Aber der Begriff der Anstrengung klingt missverständlich, so als sei die Resignation doch von der Sorge umgetrieben, von der sie Mostert ganz richtig unterscheidet. 74 Ebd. 72

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

und gerade den kleinen Dingen des Alltags. Das Ethos der Resignation ist ein Ethos der Gelassenheit, des Sein-Lassens und des Loslassens. Insofern schafft Resignation Distanz und Freiheit bis zu jener letzten Freiheit, die darin besteht, das Leben selbst loslassen zu können, im Vertrauen darauf, dass wir nicht tiefer als in Gottes Hand fallen können. Häufig wird Resignation negativ bewertet und mit Depression, Hoffnungslosigkeit oder Mutlosigkeit und Verzagtheit gleichgesetzt. Tatsächlich ist Resignation jedoch eine lebensbejahende Einstellung, nicht Symptom psychischer Krankheit, sondern im Gegenteil das Anzeichen intellektueller Wachheit. „Resignare“ bedeutet im Lateinischen soviel wie „entriegeln“, „eröffnen“, „entsagen“. Resignation ist Verzicht, Entsagung oder Ergebung. Wie man sie psychologisch oder gar moralisch zu beurteilen hat, hängt von den konkreten Umständen ab. Verzicht und Entsagung können unsinnigerweise, vorschnell oder überflüssigerweise geleistet werden. Es gibt aber auch, woran Bonhoeffers Vergleich mit Don Quijote und Michael Kohlhaas erinnert, ein geradezu verzweifeltes Festhalten an Illusionen und trügerischen Hoffnungen; einen sinnlosen Widerstand gegen das Unvermeidliche, ein zerstörerisches Festhalten an falschen Idealen oder unerreichbaren Zielen. Resignation ist nicht mit Depression oder völliger Mutlosigkeit gleichzusetzen. Es handelt sich bei ihr gerade um die Überwindung von Depression, die in der Angst vor dem Verzicht, nämlich in Verlustangst bestehen kann. Wer wahrhaft resigniert, legt die Angst vor dem Verlust ab. Er verliert nicht alle Hoffnung, sondern weiß zwischen berechtigter und trügerischer Hoffnung zu unterscheiden. Er ist enttäuscht, gewiss, aber in einem heilsamen Sinne. Resignation besteht nicht in der Enttäuschung als solcher, sondern in ihrer Überwindung, besser gesagt: in ihrer Verwindung. Resignation ist die Schwester des Realismus. Sie ist ein Zeichen der Reife, weil sie die Folgerungen aus einer realistischen Selbsteinschätzung oder einer realistischen Einschätzung der Lage zu ziehen vermag, ohne daran zu zerbrechen. Fragwürdig ist ein Realismus ohne Hoffnung. Nicht minder fragwürdig aber ist eine Hoffnung ohne Realismus. Wer wahrhaft resigniert, hat es gelernt, mit narzisstischen Kränkungen zu leben und sein IchIdeal mit seiner Selbsteinschätzung in Einklang zu bringen. Resignation entreißt uns dem qualvollen Zirkel von Grandiositätsgefühlen und Depression. In diesem Sinne darf man von der Demut des Glaubens sprechen, die keineswegs eine Haltung der aktiven Lebensgestaltung oder das Bemühen, die konkrete Situation selbständig zu meistern, ausschließt. Im Gegenteil. Aber die Demut schließt die Bereitschaft zur Ergebung ein, so dass aus Lebensführung ein Geführt-Werden wird. Resignation äußert sich in Dankbarkeit für das Leben mit seinen Höhen und Tiefen. Sie zeigt sich darin,

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Resignation und Gelassenheit

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dass auch die eigenen Fähigkeiten und Erfolge als Geschenk und Gnade empfunden werden. Wir können auch von einer im Glauben begründeten Aussöhnung mit dem Natürlichen oder vom Einverständnis mit der Leiblichkeit sprechen. Gerade im Annehmen des hinfälligen Körpers und im Anerkennen von dessen Eigenbedeutung wird der alte Mensch über seine natürliche Leiblichkeit erhoben.75 Resignation ist z.B. ein Schlüsselbegriff in Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Zum Verhältnis von Resignation und Moral schreibt er: „Die geistige Freiheit dem Schicksal gegenüber ist die Resignation, die den Menschen gegenüber die innere Selbständigkeit, die uns selbst gegenüber die Sittlichkeit. […] Die Resignation dem Schicksal gegenüber und die innere Selbständigkeit gegen die Menschen sind die geistige Freiheit mehr nach der passiven Seite; in der Sittlichkeit nimmt sie aktiven Charakter an. Sittlichkeit ist nichts anderes, als daß der Mensch von sich und seinem Schicksal innerlich frei wird, um die Schicksale, die sich um ihn herum abspielen, mitzuerleben und Sorgen, Tätigkeit und Verantwortung in Hinsicht auf sie anzuerkennen und auf sich zu nehmen.“76

Schweitzer konkretisiert sein Verständnis von Resignation am Beispiel von Krankheit und Leiden. „Diejenigen, die über Nacht durch Krankheit oder anderes Schicksal zu den Unfreiesten der Unfreien wurden und nur noch zum Leiden bestimmte geistige Freiheit bewähren, leben uns, was wir als Zuversicht in uns tragen müssen, als Wirklichkeit vor. Äußerlich vernichtet, innerlich aufrecht, verkörpern sie eine vollendete Bejahung des Daseins und die reinste Hoheit des Menschentums. Der Friede, den sie in der Resignation errungen, teilt sich unmittelbar von Mensch zu Mensch mit.“77

Entschieden wendet sich Schweitzer gegen die Verwechslung von Resignation mit Abstumpfung. „Bei dieser läßt sich der Mensch in einem Zustand der Gefühls- und Willenlosigkeit in den Ereignissen wie in einem Strome dahintreiben. In der Resignation überwindet er sie, indem er sie innerlich verarbeitet. Er erwirbt die Kraft, zu tragen und zu verzichten, in dem immer klareren Wissen, daß sein Dasein nicht durch die Ereignisse, sondern durch die Art, wie er sie erlebt, bestimmt ist. Zur Resignation gelangen will heißen, in allem Schweren, was uns bewegt, mag es auch noch so sinnlos sein, einen Sinn für uns zu entdecken.“78

Die Rolle der Seelsorge besteht darin, Menschen dabei zu helfen, in ihrer konkreten Lebens- oder auch Leidenssituation Sinn zu entdecken und somit ————— 75 Vgl. T. Koch, Der Leib und die Natur, 304; H.-M. Rieger, Altern anerkennen und gestalten, 129–133. 76 A. Schweitzer, Epigonen, 178f. 77 A.a.O., 179. 78 A.a.O., 184.

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

zu einer Form der Resignation zu gelangen, die es ihnen ermöglicht, das eigene Leben und sich selbst zu bejahen – und zwar als von Gott bejaht. Seelsorge kann diesen Lebenssinn freilich nicht einfach in jeder Situation proklamieren oder dem Gesprächspartner gar vorschreiben. „Keiner“, so bemerkt Schweitzer treffend, „kann ihn dem anderen deuten.“79 Fragwürdig ist allerdings die Fortsetzung des Zitats: „Nur der Mensch selbst, dem sie gelten, vermag aus den unzusammenhängenden Tönen, die in dem Schicksal angeschlagen werden, die Melodie seines Lebens zu schaffen. Immer aber, wenn er nur Willen hat, auf sie hinzuhorchen und sie zu vereinigen, werden sie zuletzt in Harmonie für ihn erklingen.“80

Ist es wirklich der Mensch selbst, der die Melodie seines Lebens schafft? Und werden die unzusammenhängenden Töne unseres Lebensschicksals tatsächlich immer in Harmonie für uns erklingen, wenn wir nur lange und angestrengt genug hinzuhören bereit sind?81 An dieser Stelle verdient doch Dietrich Bonhoeffer den Vorzug, der die Fragmenthaftigkeit unseres Lebens biblisch gemäßer zur Sprache gebracht hat. In Anbetracht seines eigenen Schicksals und des frühen gewaltsamen Todes vieler seiner Schüler schrieb er 1944 an seine Eltern: „Unsere geistige Existenz […] bleibt […] ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören […], und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke z.B. an die Kunst der Fuge [sc. von Johann Sebastian Bach]. Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so daß schließlich – nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: ‚Vor Deinen Thron tret’ ich allhier‘ intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“82

Die Ganzheit unseres Lebens ist weder in jungen Jahren noch im Alter ein biblisch begründetes Ziel. Auch ist der Sinn unseres Lebens nicht das allei————— 79

Ebd. Ebd. 81 Schweitzers Verständnis von Resignation ist stark durch die Stoa geprägt. Nach seiner Auffassung besteht in dieser Hinsicht zwischen Christentum und Stoa letztlich kein Gegensatz. Vgl. A. Schweitzer, Epigonen, 185f. M.E. bestehen jedoch zwischen stoischer und christlicher Ethik durchaus Unterschiede, die nicht zuletzt in der frühchristlichen Eschatologie ihren Grund haben. 82 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 336. Bachs „Kunst der Fuge“ wurde mit dem genannten Choral tradiert. 80

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Glaube, Liebe, Hoffnung

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nige Ergebnis unserer Deutungsleistung. Nach biblischem Verständnis ist der Sinn unseres Lebens vielmehr eine Frage des Glaubens, d.h. aber unter Umständen einer kontrafaktischen Hoffnung, die im Hier und Jetzt keine Erfüllung findet. Es ist eben nicht so, dass die Harmonie und Ganzheitlichkeit unseres Lebens immer schon vorgegeben oder von uns deutend herzustellen wäre, sondern die Melodie unseres Lebens bricht ab, um Albert Schweitzers Vergleich noch einmal aufzugreifen. Und es kann bestenfalls unsere Hoffnung sein, dass sie von Gott vollendet oder in die von ihm komponierte Gesamtmusik als sinnvolles Fragment eingefügt wird. Das mag auch unsere Hoffnung sein, wenn andere Menschen sterben oder ihr Geist und ihre Person, wie wir sie kannten, schon vor ihrem physischen Tod durch Demenzkrankheit verlöschen, in Bewusstlosigkeit versinken; wenn – um im Bild zu bleiben – nur noch Melodiefetzen zu hören sind, zunehmend überlagert durch ein Rauschen, oder wenn die vordem so laut zu vernehmenden Töne leiser und leiser werden, bis wir sie nicht mehr hören. Auch wenn wir also, mit Albert Schweitzer gesprochen, anderen Menschen den Sinn ihres Lebens nicht deuten oder durch unsere Deutungsleistung schaffen können, besteht doch der Auftrag der Seelsorge darin, dem anderen vom Evangelium her den Sinn seines fragmentarischen Lebens als Verheißung (promissio) zuzusprechen. Zwischen Deutung als Interpretationsleistung des Subjekts und Zuspruch von Lebenssinn – auch gegen allen Augenschein – besteht ein qualitativer Unterschied.

8.6 Glaube, Liebe, Hoffnung „Alter hat Zukunft“, so der plakative Titel eines Aufsatzes des Alternsforschers Andreas Kruse.83 Die Rede ist bei ihm von Kreativität im Alter, vom Alter als Motor für Innovation, vom Recht auf lebenslanges Lernen und der Verpflichtung zu diesem, von Prävention, Nachhaltigkeit, Generationensolidarität und mitverantwortlichem Leben älterer Menschen. So wichtig diese Themen und Aufgaben auch sind, fragt doch die Theologie darüber hinaus, worin die Zukunft des Alters besteht. Hierbei sind zwei Begriffe von Zukunft zu unterscheiden, nämlich futurum und adventus.84 Sie bezeichnen zwei unterschiedliche Gestalten und Qualitäten von Zukunft bzw. zwei verschiedene Weisen, Zukunft zu erfahren. Futurum meint die Zukunft als Verlängerung der Gegenwart, das Mög————— 83

A. Kruse, Altern hat Zukunft. Vgl. E. Brunner, Das Ewige, 26ff; A. Rich, Bedeutung der Eschatologie, 4ff. Zum Ganzen siehe auch J. Moltmann, Theologie der Hoffnung. 84

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

liche, welches im Wirklichen seine Voraussetzung hat, das Werden als Fortsetzung des Gewordenen. Dagegen bezeichnet adventus eine andere Form der Zukunft, überhaupt Zukunft im strengen Sinne des Wortes, nämlich etwas, das auf uns zukommt und neue Möglichkeiten zuspielt, die nicht schon in der Gegenwart und der vorfindlichen Wirklichkeit angelegt sind. Das aber ist die Zukunft Gottes, von welcher die Bibel spricht. Durch Gottes Zukunft, sein Kommen, wird unsere endliche, planbare und gestaltbare Zukunft sowohl ermöglich als auch heilsam begrenzt und korrigiert. Der Gott Israels ist der Gott mit Zukunft als Seinsbeschaffenheit. „Ich werde sein, der ich sein werde“, lautet sein Name, den er Mose am brennenden Dornbusch offenbart.85 Es ist dieser Gott, der das Volk Israel aus der aussichtlosen Lage der Sklaverei in Ägypten befreit, und der das Volk aus dem Babylonischen Exil zurückführt in das gelobte Land, um ihm eine noch größere Zukunft zu verheißen. Es ist dieser Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist und sein Reich verheißen hat, um das die Christen mit Jesu Worten im Vaterunser bitten, einen neuen Himmel und eine neue Erde. Es ist diese Zukunft Gottes, in deren Horizont wir unser Leben führen bis ins hohe Alter. Es ist diese Verheißung, die über dem Ende unseres Lebens und dem Fragment unserer Lebensgeschichte steht. Sie ist auch der Horizont der Seelsorge, nicht nur der Altenseelsorge. Seelsorge versucht, diesen Horizont dem einzelnen Menschen so zu erschließen, dass er von ihm her und auf ihn hin sein Leben verstehen und führen kann. Ursula Schmitt-Pridik deutet das Exil als biblisches Hoffnungsbild für das Altern. „Erfahrungen“, schreibt sie, „die Menschen im und mit dem Exil gemacht haben, erinnern an Erfahrungen, die Menschen im Prozess des Alterns machen“86. Sie denkt dabei an „Erfahrungen von unwiederbringlichem Verlust, von Trauer und Klage, von Ausgrenzung, Entfremdung, Enteignung, Isolation, von bedrohter Identität, von Nachdenken, Erinnern, vom Finden neuer Orientierung, von Kreativität und Akzeptanz und von ‚Heimkehr‘“87. Das Exil ist tatsächlich eine geeignete Metapher, um die spezifischen Erfahrungen des Alters in den theologischen Horizont der göttlichen Verheißung zu stellen. Der Glaube hofft nicht ins Blaue hinein, sondern hält sich an das große und endgültige Ja, das Gott nach den Worten des Paulus in Jesus von Nazareth auf alle seine Verheißungen gesprochen hat, und sagt darauf hin: „Amen, das ist: es werde wahr.“88 Im 71. Psalm bittet der Beter: „Auch im ————— 85

Ex 3,14. U. Schmitt-Pridik, Hoffnungsvolles Altern, 243. 87 Ebd. 88 2Kor 2,20. Zur Erklärung des Amen vgl. Martin Luther, Vater unser im Himmelreich, 9. Strophe (EG 344). 86

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Glaube, Liebe, Hoffnung

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Alter, Gott, verlaß mich nicht, und wenn ich grau werde, bis ich deine Macht verkündige Kindeskindern, und deine Kraft allen, die noch kommen sollen.“89 Und als wollte Gott darauf antworten, spricht er in Jes 46,4: „Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan; ich will heben und tragen und erretten.“90 Und wiederum, als wolle er diese Erfahrung bestätigen, spricht der Beter im 71. Psalm: „Du läßt mich erfahren viele und große Angst und machst mich wieder lebendig und holst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde. Du machst mich sehr groß und tröstet mich wieder.“91 Das Lukasevangelium erzählt im Zusammenhang mit der Beschneidung Jesu von der hochbetagten Prophetin Hanna und von Simeon, die Gott preisen, als sie in Jesus den verheißenen Messias erkennen.92 Das zu wissen, genügt Simeon, um im Frieden sterben zu können: „Herr, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben dein Heil gesehen.“93 Die Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben, die sich im Neuen Testament auf die Auferweckung Jesu von den Toten gründet, ist im Alten Testament nur an wenigen Stellen angedeutet. Eine dieser Stellen findet sich im 73. Psalm, wo es heißt: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehre an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nicht nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“94.

In dieser Gewissheit gründet die Hoffnung des Glaubens, auch dann, wenn die Lebenskräfte schwinden und der Tod bevorsteht. Im 1. Korintherbrief spricht Paulus von Glaube, Hoffnung und Liebe, die bleiben, wobei allerdings nicht Hoffnung, sondern die Liebe die größte unter ihnen ist.95 Mit Liebe meint Paulus die Agape, d.h. die Liebe Gottes, oder sagen wir genauer, die selbstlose Liebe, die das Wesen Gottes ausmacht und in der alle zwischenmenschliche Liebe und Hingabe ihre Quelle hat.96 Von dieser Liebe sagt Paulus im Römerbrief, dass sie uns im Leben wie im Sterben ————— 89

Ps 71,18. Jochen Klepper hat dieses Bibelwort 1938 als Kirchenlied nachgedichtet („Ja, ich will euch tragen“; EG 380). Die dritte Strophe des Liedes spielt auch auf Ps 77,6 an. 91 Ps 71,20f. 92 Lk 2,22–38. 93 Lk 2,29f. 94 Ps 73,23–26. Die Zürcherbibel 2007 übersetzt V. 24–25: „Nach deinem Ratschluss leitest du mich, und hernach nimmst du mich auf in die Herrlichkeit. Wen hätte ich im Himmel! Bin ich bei dir, so begehre ich nichts auf Erden.“ 95 1Kor 13,13. 96 Vgl. 1Joh 4,7–21. 90

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Leiblichkeit und Verlust im Alter

umfängt und dass uns nichts von dieser Liebe scheiden kann. Von dieser Liebe getragen, besteht die Hoffnung des Alters darin, das Zeitliche segnen zu können.97

————— 97

So auch U. Schmitt-Pridik, Hoffnungsvolles Altern, 288.

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9 Leib und Leichnam

9.1 Tod und Tabu Ein wichtiger Gradmesser für die Einstellung einer Gesellschaft zum Tod ist der Umgang mit ihren Toten.1 Dieser sagt nicht nur etwas über die herrschende Sicht des Todes und des Lebens im Allgemeinen, sondern über den Umgang der Lebenden untereinander aus. Der Tod ist abstrakt, die Toten jedoch sind konkret. Die Forderung, den Tod nicht zu verdrängen, ist längst zum Allgemeingut geworden. Die Toten selbst aber sind nach wie vor tabu.2 Dieses Tabu betrifft nicht nur die Weise, in der Menschen persönlich von Verstorbenen Abschied nehmen und sich dabei der Begegnung mit dem Leichnam aussetzen, sondern z.B. auch die öffentliche Diskussion über die Transplantationsmedizin, in welcher die konkrete Vorgangsweise bei der Organentnahme, die für Ärzte wie Pflegekräfte psychisch äußerst belastend ist, weitgehend ausgeblendet wird. Nicht minder belastend aber ist das Wissen um die Prozedur der Organentnahme für die Hinterbliebenen wie für die Organempfänger. Vor dem Hintergrund des in unserer Gesellschaft tabuisierten Leichnams wird die Anziehungskraft von Ausstellungen verständlich, die Leichenpräparate zeigen. Sie ermöglichen den Besuchern die Begegnung mit dem Leichnam, ohne dass es sich um den Körper eines ihnen persönlich bekannten und nahestehenden Verstorbenen handelt. Die Annäherung an die tabuisierten Toten wird also auf einem Umweg gesucht. Solche Versuche der Enttabuisierung sind ebenso wie der Umgang mit dem menschlichen Leichnam im Allgemeinen nicht nur unter sozialpsychologischen und kulturhistorischen, sondern auch unter ethischen und theologischen Gesichtspunkten zu diskutieren.3 Hinter den ethischen Fragen, die z.B. durch die Ausstellung „Körperwelten“ – 2008 lief sie in Wien unter dem Titel „Bodies: Die Ausstellung“ – aufgeworfen werden, stehen anthropologische Grundfragen. Es stellt sich also die Frage, welches grundlegende ————— 1

Eine Vorfassung dieses Kapitel wurde veröffentlicht in: F.J. Wetz/B. Tag (Hg.), Körperwel-

ten. 2 Vgl. C. Thomas, Berührungsängste?; D. Tausch-Flammer/L. Bickel, Wenn ein Mensch gestorben ist. 3 Zum Folgenden vgl. auch G. Virt/U. Körtner, Pietät; dies., Die Lebenden und die Toten; U. Körtner, Bedenken, daß wir sterben müssen.

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Leib und Leichnam

Bild vom Menschen Gunther v. Hagens’ „Einblicke in den menschlichen Körper“ vermitteln. Die Exponate, ihre Präparation und öffentliche Präsentation, die Ästhetik der Plastination und das Ausstellungskonzept, stoßen den Betrachter an, über das Verhältnis des Menschen zu seinem Leib, über Leben und Tod nachzudenken und lenken seine Gedanken möglicherweise in eine bestimmte Richtung. Die Ausstellung spricht zwangsläufig die Ebene weltanschaulicher und religiöser Einstellungen an, weil die Begegnung mit dem Leichnam die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen, seinen Ängsten und Hoffnungen im Angesicht von Krankheit und Tod aufwirft. Neben der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich die öffentliche Ausstellung von Leichnamen ethisch rechtfertigen lässt, ob sie sich mit den Grundsätzen der Pietät und der Menschenwürde verträgt oder ihnen zuwiderläuft und möglicherweise auch religiöse Gefühle verletzt, ist aus Sicht der Theologie vor allem von Interesse, welche weltanschauliche Botschaft die „Körperwelten“ möglicherweise enthalten und wie sie theologisch zu beurteilen ist.

9.2 Körper und Leib Die biblische Tradition vermittelt die grundlegende anthropologische Einsicht, dass der Mensch leibhaftig existiert.4 Entgegen einem platonischen oder gnostischen Dualismus, der im Verlauf der Geschichte immer wieder die christliche Anthropologie zu überfremden drohte, vertritt die heutige Theologie konfessionsübergreifend die Auffassung, dass der Mensch eine leiblich-seelische Einheit darstellt. In dieser selbstbezüglichen Einheit wird der menschliche Körper als Leib erfahren. Der aus der Binnenperspektive des eigenen Daseins erfahrbare Leib ist aber, wie das vorliegende Buch zeigt, nicht identisch mit der Außenperspektive des menschlichen Körpers. „Körperwelten“, in die der Anatom v. Hagens Einblick gewähren will, sind etwas anderes als die von uns selbst erlebten und erfahrenen Leibwelten, die unsere Gefühle und Stimmungen, unser Wollen und Denken einschließen. So wäre eine der mit v. Hagens zu diskutierenden Fragen, in welchem Verhältnis der Außenblick des Beobachters und der Innenblick dessen, der beobachtet wird, stehen. Wie der Mensch leibhaftig lebt, so stirbt er auch leibhaftig. Im Tod zerfällt die seelisch-leibliche Einheit personaler Existenz. Was der Tod an sich ist, bleibt ein Geheimnis. Die Frage, welchen ontologischen Status das menschliche Bewusstsein oder seine Seele hat, wird heutzutage auch theologisch unterschiedlich beantwortet. Neben der traditionellen, auf den Pla————— 4

Zum Folgenden vgl. auch F. Wiplinger, Der personal verstandene Tod.

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Körper und Leib

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tonismus zurückreichenden Auffassung von einer zwar geschaffenen, jedoch unsterblichen Seele wird vor allem von kontinentaleuropäischen protestantischen Theologen die sogenannte Ganztodthese vertreten. So hat Eberhard Jüngel in seinem bekannten Buch Tod zur „Entplatonisierung des Christentums“5 aufgerufen und seine Leser vor folgende Alternative gestellt: „a) Wenn der Mensch stirbt, weil und insofern er Leib ist, dann legt sich die Konsequenz nahe, daß der Mensch nicht stirbt, weil und insofern er noch etwas anderes als Leib, weil und insofern er Seele oder Geist ist. [...] b) Wenn der Mensch stirbt, weil und insofern er Leib ist, dann ließe sich aber auch umgekehrt folgern, daß im Leib und als Leib der ganze Mensch dem Tode ausgesetzt ist.“6

Wirkungsvoll ist die Ganztod-Theorie schon von Karl Barth, Paul Althaus und Paul Tillich, aber auch von dem amerikanischen Prozesstheologen Charles Hartshorne vertreten worden. Die christlich erhoffte Auferstehung der Toten wird dementsprechend als radikale Neuschöpfung durch Gott verstanden oder aber als Verewigung des gelebten Lebens. Dabei ist es einzig Gott, der die Kontinuität und Identität zwischen irdischem und ewigem Leben herstellt, ohne dass es dafür einer unsterblichen Seele als den Tod überdauernder Substanz bedürfte.7 Diese theologische Sichtweise des Todes versucht zwischen den heutigen biologischen Kenntnissen über den Prozess des Sterbens und einem biblisch begründeten Todesverständnis zu vermitteln. Sie erkennt daher zum Beispiel den Hirntod – genauer gesagt den irreversiblen Ausfall des gesamten Gehirns – als hinreichendes Todeskriterium an.8 Mit der Neurobiologie stimmt sie darin überein, dass sogenannte Nahtod-Erlebnisse und „Out-of-body-experiences“, bei denen sich Menschen zeitweilig außerhalb ihres Körpers wähnen, kein Indiz oder gar einen Beweis für die Existenz einer unsterblichen Seele liefern.9 Auch wenn die genannten Phänomene neurobiologisch noch nicht restlos aufgeklärt sind, zeigen doch neuere Arbeiten, etwa von Detlef B. Linke10, dass es sich um subjektive Erlebnisse handelt, für die es eine rein naturwissenschaftliche Erklärung gibt. Auch besteht bei genauerer Prüfung kein systematischer Zusammenhang zwischen einer wirklichen Todesgefahr oder Todesnähe und Nahtoderfahrungen. Todgeweihte Patienten, „die sich lange auf den Tod vorbereiten kön————— 5

E. Jüngel, Tod, 73ff. A.a.O., 57f. 7 Es wird an der Ganztod-Theorie aber auch Kritik geäußert, so z.B. von Th. Mahlmann, Auferstehung der Toten; W. Härle, Dogmatik, 631f; 8 Vgl. U. Körtner, Bedenken, daß wir sterben müssen, 32ff. 9 So z.B. R.A. Moody, Leben nach dem Tod; ders., Nachgedanken; B. Jakoby, Das Leben danach; ders., Geheimnis Sterben. 10 D.B. Linke, Auf der Schwelle. 6

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Leib und Leichnam

nen, haben zwar oft Todesängste, aber keine der geschilderten Nahtoderfahrungen“11. Davon abgesehen müssen Nahtoderfahrungen subjektiv nicht unbedingt religiös gedeutet werden, schon gar nicht im Sinne der traditionellen christlichen Dogmatik. Das in ihnen auftauchende Bildmaterial variiert kulturell. Bestimmte Formen religiöser Erfahrung haben offenkundig eine biologische und neuropsychologische Basis. Doch folgt daraus, wie Gerhard Roth mit Recht feststellt, „weder zwingend, dass solche Erlebnisse irgendeinen realen Bezug haben, noch folgt daraus zwingend, dass der Glaube an Gott oder an ein Jenseits reine Illusion ist“12. Aus Sicht der theologischen Ganztod-Theorie verhält es sich nicht anders. Nach Auffassung der Ganztod-Theorie bedeutet der Tod also mehr als die Trennung von Leib und Seele. Vielmehr stirbt der ganze Mensch als leiblich-seelische Einheit, d.h. also auch diejenige Seite seines Daseins, die wir Seele nennen. Den Eintritt des Todes erkennen wir jedenfalls daran, dass der Leib eines Menschen irreversibel zu zerfallen begonnen hat. Was zurückbleibt, ist ein lebloser Körper, den wir Leichnam nennen. Die intensivste und persönlichste Erfahrung des Todes, die wir im Leben machen, ist wohl der Tod eines geliebten Menschen. Mit ihm stirbt ein Stück von uns, mit ihm geht ein Stück Welt unter, von ihm geht die größte Herausforderung aus, mitten im Leben uns selbst mit dem Tod und seinen Vorboten auseinanderzusetzen. An diese Erfahrung reichen in ihrer Intensität andere Erfahrungen von Sterben und Tod wohl kaum heran. Der Tote ist uns im Leichnam gegenwärtig, aber keineswegs nur in diesem. In jedem Leichnam ist uns etwas gegenwärtig, in dem sich eine Person ein Leben lang dargestellt und verwirklicht hat. Die verstorbene Person war im zurückliegenden Leben dieser Leib, und sie hatte diesen Leib zugleich. Die traditionelle katholische Moraltheologie ist stark von Thomas von Aquin beeinflusst. Bei ihm wie auch sonst in der Hochscholastik findet sich der Gedanke, dass im Tod nicht ein menschlicher Leib, sondern etwas zurückbleibt, das nur äquivok Leib genannt werden kann.13 Die reformatorische Theologie betont die Auferstehung des Leibes und dessen Identität auch im ewigen Leben, hebt aber zugleich hervor, dass die künftige Leiblichkeit eine gänzlich andere Gestalt und Qualität hat. Den Gedanken, dass die jetzige Gestalt des Menschenlebens vergeht, kann Martin Luther teilweise recht drastisch formulieren. Theologiegeschichtlich wirksam wurde ferner der von Johannes Calvin vertretene Standpunkt, dass bei der Auferstehung zwar die substantia des Leibes identisch, die qualitas jedoch ver————— 11

G. Roth, Sicht des Gehirns, 188. A.a.O., 191. 13 Vgl. Thomas v. Aquin, STh III, 25, 6 ad 3 u.ö. 12

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Pietät und Nächstenliebe

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ändert sein werde. Der nach Eintritt des Todes unbeseelte Leib ist aber nach reformatorischer Auffassung nicht mit der verstorbenen Person identisch.

9.3 Pietät und Nächstenliebe Ethisch stellt sich nun die Frage, ob es moralische Pflichten gegenüber dem Leichnam gibt, in denen sich jene Pflichten fortsetzen, die gegenüber der zuvor mit diesem Leib verbundenen Person bestanden. Andererseits betrifft der Umgang mit dem Leichnam auch unser Verhalten gegenüber Lebenden. Das sind zunächst diejenigen, die um einen Verstorbenen trauern. Zum anderen aber handelt es sich um jene, für die der Leichnam in irgendeiner Weise von medizinischem Nutzen sein kann, sei es in der medizinischen Ausbildung, in der Pathologie und Gerichtsmedizin, oder auch in der Transplantationsmedizin. Steht auf der einen Seite das Gebot der Pietät, so auf der anderen Seite die Forderung der Nächstenliebe; beide können im konkreten Einzelfall zueinander in Spannung treten. Im ethischen Diskurs über den Umgang mit dem Leichnam sollen die Interessen aller Beteiligten in bestmöglicher Weise berücksichtigt werden: die Interessen der Angehörigen, die Interessen der Medizin (an Forschung, Lehre, Entnahme von Organen und Gewebe), die Interessen der Bestatter, diejenigen der Gesellschaft, die um ihre Kultur, aber auch um die Feststellung der Todesursachen in bestimmten Situationen besorgt ist, und nicht zuletzt die Interessen des Toten, der postmortale Persönlichkeitsrechte hat, die sich nicht nur auf letztwillige Verfügungen über sein Eigentum, sondern auch auf seinen Leichnam erstrecken. Wenn wir die Frage nach moralischen Pflichten gegenüber dem menschlichen Leichnam stellen, dann muss zunächst nach der Begründung solcher Pflichten gefragt werden. Grundlegend ist auf die Würde des Menschen zu verweisen, die der neuzeitlichen Idee der Menschenrechte zugrunde liegt. Im Gedanken der Menschenwürde verbinden sich antik-philosophische, insbesondere stoische, Traditionen, die dem Menschen dignitas bzw. honor zusprechen, mit dem biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit.14 Seine Würde unterscheidet den Menschen nach jüdischer und christlicher Auffassung von allen übrigen Lebewesen und kommt andererseits allen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Stellung, von Geschlecht, Rasse, Religion, körperlicher oder geistiger Verfassung in gleicher Weise zu. Nach Immanuel Kant besitzt der Mensch nicht nur einen Wert, sondern eine unveräußerliche Würde, weil er als sittliches Freiheitswesen zum Vollbringen des Guten ermächtigt und aufgerufen ist. ————— 14

Vgl. Gen 1,27.

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Leib und Leichnam

Unabhängig von der Frage, ob sich der Gedanke der Menschenwürde, wenn überhaupt, nur religiös begründen lässt und ob diese als angeboren zu betrachten ist15, lässt sich zumindest negativ der Konsens erzielen, dass der Leichnam diese Würde offenbar nicht mehr besitzt, ist er doch ohne die durch ihn ehedem repräsentierte und agierende Person nicht ein moralisches Wesen. Dennoch stellt sich die Frage, ob der Leichnam an der Würde des Menschen in gewissem Umfang teilhat. Allerdings ist zu klären, in welcher Beziehung der Leichnam zur Person steht, die sich zu Lebzeiten in diesem Leib verwirklicht hat. Die christliche Tradition hat als Grundlage für das moralisch begründete Verhalten gegenüber dem menschlichen Leichnam die Pietät genannt. Diese wurde wiederum damit begründet, dass etwas von der Würde des Menschen symbolisch noch am Leichnam haftet. Das Bewusstsein der Pietät wird durch den Glauben an die Auferstehung des Leibes, aber gerade nicht des Leichnams (!), noch vertieft. Die Auferstehung der Toten wird im Christentum nicht als Fortsetzung der irdischen Leiblichkeit gedacht, sondern meint eine Wesensverwandlung des ganzen Menschen in seiner leiblich-seelischen, personalen Einheit. Ist zwischen Leib und Leichnam zu unterscheiden, so ist die Auferstehungshoffnung auch nicht abhängig von der Unversehrtheit des Leichnams, der im Verwesungsprozess ohnehin vollständig atomisiert wird. Das gilt es auch zu betonen im Blick auf die Opfer von Unfällen, Gewaltverbrechen oder Kriegshandlungen. Allerdings wurde die Leichenverbrennung in der katholischen wie in der evangelischen Kirche lange Zeit als Ausdruck glaubensfeindlicher Zeitströmungen abgelehnt. Die katholische Kirche hat sie lange Zeit ausdrücklich verboten.16 Erst 1963 wurde dieses Verbot durch eine Instruktion des Hl. Offiziums (heute die Glaubenskongregation) aufgehoben.17 Auch in der evangelischen Kirche ist die Feuerbestattung, die früher als Demonstration einer freidenkerischen bzw. agnostischen Haltung galt, kirchenrechtlich akzeptiert. Schon allein an diesem Wandel innerhalb der beiden großen christlichen Kirchen zeigt sich, dass Pietät gegenüber dem Leichnam keine Norm, sondern eine Haltung bzw. eine Tugend ist, mit der die Lebenden die Erinnerung der Verstorbenen pflegen. Starre Normen lassen sich aus dieser Haltung also keineswegs ableiten. Es entspricht unserem üblichen Verständnis der Würde und Selbstbestimmung jedes Menschen, dass sie die eigene ————— 15

Zur Kritik siehe F.J. Wetz, Die Würde der Menschen ist antastbar. CIC von 1917, can. 1203. 17 Instruktion des Hl. Offiziums vom 5.7.1963 (AAS 56, 1964, S.822f). Im neuen CIC von 1983 heißt es daher, dass das kirchliche Begräbnis nur jenen zu verweigern ist, die sich aus Gründen, die der christlichen Glaubenslehre widersprechen, für die Feuerbestattung entschieden haben. Vgl. CIC 1983, can. 1184, § 1,2o. 16

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Pietät und Nächstenliebe

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leibliche Integrität einschließt, und zwar über den Zeitpunkt des Todes hinaus. Doch erfordert Pietät keineswegs unabdingbar die körperliche Unversehrtheit des Leichnams. Das Recht auf Integrität des Leichnams besitzt keine absolute Gültigkeit, sondern kann zurücktreten hinter die Solidarität mit einem Schwerkranken oder gar vom Tode bedrohten Menschen im Hinblick auf eine Organtransplantation.18 Als allgemeinen Grundsatz kann festgehalten werden, dass die ethische Urteilsbildung für den Umgang mit dem Leichnam sowohl der Haltung der Pietät als auch dem Gebot der Nächstenliebe Rechnung zu tragen hat. Die Kategorie der Pietät zeigt an, dass eine Ethik des Sterbens und des Todes nicht allein deontologisch oder verantwortungsethisch begründet werden kann, sondern auch den Aspekt einer Tugend- und einer Güterlehre einbeziehen muss. Der Gedanke der unveräußerlichen Würde des Menschen besagt nach Kant, dass dieser niemals als bloßes Mittel zum Erreichen anderer Zwecke eingesetzt werden darf, sondern als Selbstzweck zu achten ist. Gilt dieser Grundsatz prinzipiell auch für unseren Umgang mit dem menschlichen Leichnam, so ist andererseits zu bedenken, dass die Würde des Menschen nach christlichem Verständnis eine Verpflichtung zur Nächstenliebe, d.h. zur Anerkennung der Würde des Mitmenschen einschließt.19 Auch ist zwischen der Verzweckung der Person und derjenigen des Leichnams zu unterscheiden. Sofern die Verzweckung des Leichnams im Dienst der Nächstenliebe geschieht, jedenfalls wenn sie vom Verstorbenen selbst verfügt worden ist, steht sie also zum Gedanken der Menschenwürde des Verstorbenen nicht notwendigerweise im Widerspruch. Diese Überlegungen rechtfertigen jedoch keineswegs einen beliebigen, willkürlichen Umgang mit dem Leichnam. Vielmehr verlangt jeder Eingriff in seine Unversehrtheit und damit in die postmortalen Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen eine ethische Rechtfertigung. Ohne entsprechend schwerwiegenden Grund steht jede Verletzung des menschlichen Leichnams im Widerspruch zu dessen personalem Symbolwert. Auch wenn der Leichnam nicht mit der verstorbenen Person identisch ist, so ist er doch ihr raumzeitlich intensivstes und konkretestes Zeichen. In diesem Symbolwert, der sich in symbolischen Handlungen im Rahmen von Trauer- und Bestattungsritualen zeigt, ist schließlich die moralisch geforderte Pietät gegenüber dem Leichnam begründet. Jede bewusste Entstellung oder gar Schändung desselben oder auch des Grabes, in dem er bestattet ist, steht im Widerspruch ————— 18 Vgl. „Organtransplantation“. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bonn/Hannover 1990. 19 Vgl. R. Anselm/Chr. Kupatt, An den Grenzen des Lebens.

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Leib und Leichnam

zur Haltung der Pietät. Ebenso stehen herabwürdigende Handlungen, wenn auch nur zum Scherz, der Ehrfurcht entgegen. Die dem Toten geschuldete Pietät verbietet es auch, seinen Leichnam zu einer käuflichen Sache zu machen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob mit menschlichen Leichen in „Crashtests“ Autounfälle simuliert werden dürfen. Nicht von der Hand zu weisen ist die Analogie zur medizinischen Forschung an Leichen zu Studienzwecken, wenn auf dieser Grundlage Puppen für künftige Crashtests besser konstruiert werden können, die der Erhöhung der Verkehrssicherheit und also der Rettung von Menschenleben dienen. Die Verwendung von Leichenteilen zu kosmetischen Zwecken dürfte kein entsprechend schwerwiegender Grund sein, um die Totenruhe zu stören. Das höchst komplizierte Einfrieren von Leichen in der Hoffnung, der künftige medizinische Fortschritt werde irgendwann einmal deren Wiederbelebung ermöglichen, dürfte eher als Skurrilität denn als unmoralisch zu bezeichnen sein. Ethisch unstrittig ist die Eröffnung und Zerlegung von Leichen zum Zwecke des anatomischen Unterrichts, der Untersuchung von Krankheiten oder auch von Verbrechen im Rahmen der forensischen Medizin. Bloße Neugier ist dagegen gewiss kein Grund, der es rechtfertigen würde, Leichen auszuschlachten und damit die Pietät zu verletzen. Auch abgesehen von den „Körperwelten“ wird derzeit eine intensive Diskussion über die ethische Legitimität der Zurschaustellung von Mumien, Eis- oder Moorleichen oder von anatomischen Präparaten in Museen geführt. Ein besonders makaberes Beispiel war lange Zeit die Ausstellung eines ausgestopften schwarzafrikanischen Dieners in einem Wiener Museum. Gab es früher sogenannte Kuriositätenkabinette, so verzeichnen heute Ausstellungen wie die „Körperwelten“ großen Zulauf. Erwähnt sei auch der Fall eines britischen Künstlers, der entwendete Leichenteile zur Anfertigung von Kunstobjekten verwendete, und 1998 von einem englischen Gericht verurteilt wurde – freilich nicht wegen Leichenschändung, sondern wegen Diebstahls der Leichenteile. Die Freiheit der Kunst wie umgekehrt der Hinweis auf das finanzielle Interesse der Ausstellungsveranstalter entscheidet noch nicht über Gut und Böse. Die ethische Urteilsbildung in einem zunehmend sensibel reagierenden gesellschaftlichen Umfeld, z.B. in eigens mit diesen Fragen befassten Ethikkommissionen, steht freilich noch am Anfang. Eine ethische Kriteriologie wird zu unterscheiden haben zwischen persönlicher Bekanntheit oder Anonymität des ausgestellten Menschen, zwischen Nähe und Ferne, in der wir zu einem Leichnam stehen. Es macht gefühlsmäßig einen Unterschied, ob es sich um einen anonymen Toten handelt, die Mumie einer namentlich bekannten Person der ägyptischen Antike, oder um

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Pietät und Nächstenliebe

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einen Menschen, zu dem wir direkt oder indirekt noch einen persönlichen Bezug haben. Auch spielt die Art und Weise, wie ein Mensch zu Tode gekommen ist, eine Rolle. Unter den in Museen zu besichtigenden Moorleichen befinden sich nicht wenige Opfer von Hinrichtungen. Ihre öffentliche Ausstellung soll aber ganz offensichtlich nicht denselben Zweck wie die in früheren Jahrhunderten übliche Zurschaustellung Hingerichteter erfüllen, die nicht nur der Abschreckung vor Verbrechen diente, sondern als öffentliche Schande zur Bestrafung des Delinquenten gehörte. Umgekehrt wird heute zu Recht Anstoß daran genommen, wenn sich in anatomischen Sammlungen Präparate befinden, die von Menschen stammen, die im Nationalsozialismus bei vorgeblichen medizinischen Menschenversuchen auf qualvolle Weise zu Tode gefoltert wurden. Hier lässt sich analog wie bei allen sonstigen Humanexperimenten argumentieren. Die Bestimmungen der HelsinkiTokyo-Deklaration sehen vor, dass Forschungsergebnisse, die von unethischen Menschenversuchen stammen, weder publiziert noch sonstwie medizinisch verwendet werden dürfen. Das gilt in analoger Weise für Präparate, die unter Verletzung der Menschenrechte gewonnen wurden, wie es im Nationalsozialismus der Fall war. Die ethische Urteilsbildung hat außerdem die Art und Weise zu berücksichtigen, in der ein Leichnam oder Leichenteile zur Schau gestellt werden. Eine ganz entscheidende Rolle spielt hierbei die Art der Beschreibung und Information. Es ist darauf zu achten, dass das ganze Arrangement zur Ehrfurcht vor dem Toten anhält und Nachdenklichkeit auf Seiten der Besucher anregt, die sich auf diese Weise wenigstens indirekt mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen können. Dass dazu ein Bedürfnis besteht, zeigen Interviews, die mit Besuchern der Ausstellung „Körperwelten“ geführt wurden.20 Wenn von Vertretern der Kirchen gegen diese Ausstellung z.T. massive Einwände erhoben werden, ist doch auch daran zu erinnern, dass die christliche Tradition die öffentliche Zurschaustellung der Reliquien, unter anderem ganzer Skelette, von Märtyrern und Heiligen zum Zwecke ihrer religiösen Verehrung kennt. Nicht die Tatsache einer solchen Zurschaustellung als solche, sondern ihr Zweck und ihre Gestaltung sind demnach aus Sicht theologischer Ethik das Problem. Zu bedenken ist auch, dass Pietät als Haltung niemals so präzise bestimmt werden kann wie eine ethische Norm. Man kann aber versuchen, negativ zu sagen, welche Handlungen der Pietät widersprechen. Allemal ist der hermeneutische Verstehenszirkel ethischer Aussagen zu bedenken, wonach Haltungen erworben werden durch die Entschlossenheit, in einem bestimmten Lebensbereich konsequent richtig zu handeln. Diese richtigen ————— 20

Vgl. E.-D. Lantermann, Bildende Wissenschaft.

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Leib und Leichnam

Handlungen lassen sich wiederum nicht ohne Rückgriff auf die in den Handlungen beschlossenen Werte und darin beschlossenen Sollensprämissen formulieren. Haltungen bzw. Tugenden können freilich nicht auf der individuellen Ebene abgelöst vom gesellschaftlichen Kontext erworben werden. Sie sind vielmehr soziokulturell relativ und historisch wandelbar. Eine Beschreibung dessen, was heute unter Pietät verstanden werden kann, muss daher auch auf gesellschaftliche und kulturelle Trends heutiger Sterbe- und Todeskultur eingehen. Auch dieser Aspekt ist in der ethischen und theologischen Diskussion über die Ausstellung „Körperwelten“ zu berücksichtigen.

9.4 Ein theologischer Blick auf die „Körperwelten“ Bei den christlichen Kirchen ist die Ausstellung „Körperwelten“, als sie erstmals 1997/98 in Mannheim zu sehen war, auf zum Teil heftige Kritik und scharfe Ablehnung gestoßen. Örtliche Kirchenvertreter befürchteten, unter dem Vorwand medizinisch-wissenschaftlicher Aufklärung könne der Tod zum Spektakel und großen Geschäft werden, bei welchem möglicherweise religiöse Gefühle verletzt würden. In Mannheim wurde aufgrund einer entsprechenden Intervention auf die geäußerten Befürchtungen Rücksicht genommen. Obwohl sie sich nach Ansicht des Landesbischofs der Evangelischen Landeskirche in Baden, Ulrich Fischer, nicht in der erwarteten Weise erfüllt haben, hält dieser seine Kritik unvermindert aufrecht.21 Fischer nimmt Anstoß an der gelegentlichen Überlagerung der wissenschaftlichen Aufklärungsabsicht durch die Verarbeitung von Leichen zu Kunstobjekten. Die Ästhetisierung des Leichnams aber erfülle die problematische Sehnsucht nach der „schönen Leiche“, die den gesellschaftlichen Schönheitswahn über den Tod hinaus treibe. Die Ästhetisierung des Todes aber verstelle den Blick auf die Fragmenthaftigkeit und die Beschädigungen menschlichen Lebens, während zugleich die nach jüdischer und christlicher Überzeugung bestehende Beziehung des Menschen zu Gott, seinem Schöpfer, missachtet werde. Die Umwandlung von Leichen zu unbegrenzt haltbaren Ganzkörper-Plastinaten sei eine schlechte Form der Unendlichkeit, welche die Sehnsucht nach Unsterblichkeit und den christlichen Auferstehungsglauben pervertiere, zugleich aber die gesellschaftlich verbreitete Unfähigkeit zu trauern verstärke, die sich in der Reduktion des Bestattungswesens auf die „saubere Entsorgung“ der Verstorbenen zeige. Eine Entsorgung bzw. saubere Verarbeitung von menschlichen Körpern könne es niemals geben, ohne das Personsein von Menschen zu beschädigen. Auch ————— 21

Vgl. U. Fischer, Spektakel.

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Ein theologischer Blick auf die „Körperwelten“

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wenn sich die nach ihrem Tode zu Ganzkörper-Plastinaten präparierten Menschen freiwillig und zu schriftlich festgelegten Bedingungen zur Verfügung gestellt hätten, sei zu fragen, ob die Würde des Menschen nur dann angetastet sei, wenn das individuelle Persönlichkeitsrecht missachtet werde, oder nicht vielleicht auch dadurch verletzt werden könne, dass eine autonom getroffene Entscheidung in ein würdeloses Gesamtgeschehen eingebettet sei. Selbst wenn v. Hagens und die Ausstellungsmacher dies nicht beabsichtigten, sei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die wissenschaftlich-aufklärerische Absicht von voyeuristischen Interessen überlagert werde. Am Ende werde nicht nur der Tod, sondern auch das Leben nur noch als Event und Spektakel wahrgenommen. Sind diese Einwände gegen die „Körperwelten“ aus Sicht der Fachtheologie berechtigt? Die Antwort fällt vor dem Hintergrund unserer grundsätzlichen Erwägungen zur theologischen Sicht des Todes und zur Pietät differenziert aus. Die geäußerten grundsätzlichen Bedenken gegen die öffentliche Ausstellung von Leichenpräparaten, die im Kern auf den Vorwurf der Missachtung der Menschenwürde hinauslaufen, sind in ihrer Pauschalität nicht stichhaltig. Zunächst sei daran erinnert, dass nicht Leichen, sondern künstliche Objekte gezeigt werden, die freilich mittels des Plastinationsverfahrens aus Leichen gewonnen werden. Leichen werden also nicht direkt gezeigt, sondern durch künstliche Objekte repräsentiert. Gunther v. Hagens Plastinationsverfahren lässt sich insofern mit der Moulagenkunst vergleichen.22 Während die Moulage jedoch nach dem Modell der Leiche bzw. einzelner Körperteile aus Wachs gefertigt wird, ist das Material, welches v. Hagens verwendet, eine Mischung aus organischem Stoff und Kunststoff. Die durch das Objekt repräsentierte Leiche ist partiell in diesem selbst präsent. Dieser Umstand wird in der Kontroverse um die ethische Beurteilung der Ausstellung „Körperwelten“ freilich in zwei Richtungen gedeutet. Gegenüber den Kritikern wird eingewandt, es würden gerade keine Leichen, sondern Artefakte gezeigt. Das Publikum aber wird durch das Versprechen der „Faszination des Echten“23 angelockt. Nicht das Plastinationsverfahren als solches, wohl aber das subtile Spiel der öffentlichen Ausstellung mit voyeuristischen Bedürfnissen ist ethisch bedenklich. Dass die Menschen, die sich freiwillig haben plastinieren lassen, durch die konkrete Art ihrer Präparation oder aber durch das Konzept der Ausstellung generell zum bloßen Schauobjekt degradiert würden, lässt sich m.E. ————— 22

Vgl. Th. Schnalke, Veröffentlichte Körperwelten, bes. 16ff. So der Untertitel des für die Ausstellung in Wien 1999 verfassten Ergänzungsbandes zum Katalog der „Körperwelten“. 23

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nicht behaupten.24 Etwas anderes ist freilich der wiederholt erhobene Vorwurf der ungeklärten Herkunft mancher Leichen. Die Frage, ob bei der Beschaffung von Leichen zu Plastinationszwecken ethische Regeln und gesetzliche Vorschriften eingehalten werden, ist aber von der ethischen Bewertung der Plastination ganzer Leichen zu unterscheiden. Aus der Weise, in der v. Hagens seine Exponate gestaltet, spricht weitgehend Achtung nicht nur gegenüber den Artefakten, sondern auch gegenüber den durch sie repräsentierten verstorbenen Personen wie auch gegenüber dem Ausstellungsbesucher.25 Einerseits sind die Ganzkörperplastinate hinreichend anonymisiert, um nicht mehr mit einer konkreten Person identifiziert werden zu können. So wird deren Intimsphäre und diejenige etwaiger Hinterbliebener ebenso gewahrt wie diejenige des Betrachters, weil zwischen ihm und der Person, zu der der ausgestellte Körper einst gehörte, eine Distanz bestehen bleibt. Andererseits vermitteln die Exponate den Eindruck von Lebendigkeit. Manche werden bei der Verrichtung von Tätigkeiten gezeigt, so z.B. die Figur des Schachspielers. Die Exponate unterstreichen gerade, dass in diesen Körpern einstmals Leben war und regen den Betrachter zu der Frage an, wer wohl dieser Mensch in seinem Leben war, was er dachte und fühlte, was er wollte und erreichte, hoffte und fürchtete. Gleichwohl handelt es sich um tote Körper bzw. um von ihnen gewonnene Artefakte. Ulrich Fischer ist darin zuzustimmen, dass über toten Körpern „ein Schimmer von Pietät“26 liegen sollte. Dies trifft aber m.E. für viele der Objekte durchaus zu. Nicht nur ein Schimmer der Pietät, sondern auch der Trauer liegt z.B. über dem Ganzkörperplastinat der gezeigten Schwangeren, das auch den Fötus in der geöffneten Gebärmutter zeigt. Mich jedenfalls hat beim Betrachten dieser Mutter und ihres Kindes ein Gefühl der Trauer befallen, der Trauer um eine unbekannte Frau, die jung hat sterben müssen, und um ihr Kind, das nie das Licht der Welt hat erblikken dürfen. Mein Mitgefühl galt auch jenen, die um diese Frau und ihr Kind getrauert haben und vielleicht heute noch trauern (wobei mich vor allem die Frage bewegt hat, ob der Vater des Kindes von seiner Existenz und dem Tod der Mutter wusste und wie er in diesem Fall zur Plastination gestanden hat). Pietät und Trauer fordern auch die übrigen ausgestellten Föten ab. Auch der Vorwurf, die Ausstellung kaschiere die Brüche und Unvollkommenheiten menschlichen Lebens, Krankheit und Leiden, trifft in dieser Pauschalität nicht zu. Zum einen werden zahlreiche Exponate geschädigter Organe präsentiert. Pathologische Fragestellungen nehmen durchaus einen ————— 24 Vgl. dazu auch F.J. Wetz, Würde des Menschen, 41f. Zu den rechtlichen Aspekten der „Körperwelten“ siehe B. Tag, Rechtliche Erwägungen. 25 So auch Th. Schnalke, Veröffentlichte Körperwelten, 23. 26 U. Fischer, Spektakel, 24.

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Ein theologischer Blick auf die „Körperwelten“

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breiten Raum ein. Zum anderen befinden sich unter den ausgestellten Föten nicht wenige Missbildungen. Diese werden aber keineswegs in der menschenverachtenden Manier eines Gruselkabinetts zur Schau gestellt, sondern so, dass der Respekt gewahrt bleibt und Trauer über ein Leben ermöglicht wird, dessen Entwicklung schon im Ansatz vereitelt wurde. Allerdings vermitteln selbst die pathologischen Präparate den Eindruck klinischer Sauberkeit und ästhetischer Annehmbarkeit. Weder die Ganzkörperpräparate noch die plastinierten Leichenteile verraten irgendetwas von erlittenen Schmerzen und Leiden. Sogar eine Raucherlunge oder ein Lebertumor, die zu einem qualvollen Ende geführt haben, werden durch die Technik der Plastination optisch reizvoll.27 Es ist daher notwendig, sich mit dem Vorgang der Ästhetisierung des Leidens und des Todes auseinanderzusetzen, der in der Ausstellung stattfindet. Ihre äußerste Steigerung findet sie dort, wo Leichen überhaupt, teilweise unter direkter Bezugnahme auf Werke der Kunstgeschichte, zu Kunstwerken verarbeitet werden – oder sagen wir besser: zu Artefakten, die einen künstlerischen Anspruch erheben, über den sich allerdings trefflich streiten lässt.28 Der wissenschaftlich-aufklärerische Anspruch, den v. Hagens für sein Unternehmen erhebt, wird in diesen Fällen durch seine künstlerischen Ambitionen völlig verdrängt. Die erläuternden Texte, die Exponaten wie dem Läufer oder dem expandierten und als Mobile arrangierten Leichnam einen vermeintlich wissenschaftlichen Wert beimessen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Objekte weder für Nichtmediziner noch für Mediziner einen didaktischen Nutzen haben. Vielmehr wird der menschliche Körper in den genannten Fällen zum Material für ein ästhetisches Spiel von fragwürdiger Qualität.29 Der Vorwurf, die Menschenwürde der Verstorbenen zu verletzen und ihre Körper für voyeuristische Zwecke zu missbrauchen, ist in diesen Fällen m.E. nicht von der Hand zu weisen. Aber auch abgesehen von den fragwürdigen künstlerischen Ambitionen v. Hagens’, der sich in die Tradition anatomischer Darstellungen der Renaissance und des Barock stellt und sich selbst nach dem Vorbild von Joseph Beuys inszeniert, stellt sich die Frage, wie die Ästhetisierung des Todes, welche die Ausstellung betreibt, zu beurteilen ist. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und auch mit der Möglichkeit, selbst einmal ein Patient zu sein, der an einer der dargestellten Krankheiten leiden könnte, wird durch die von der Ausstellung erweckte Illusion, nicht Krank-

————— 27

So auch Th. Schnalke, Veröffentlichte Körperwelten, 22. Zu den durch v. Hagens aufgeworfenen ästhetischen Fragen siehe B. Brock, Bildende Wissenschaft. 29 Vgl. auch Th. Schnalke, Veröffentlichte Körperwelten, 24. 28

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heit und Tod, sondern dem Leben zu begegnen, nicht erleichtert, sondern eher verhindert. Nicht nur die Gestaltung der Exponate, die zum Teil bei bestimmten Tätigkeiten gezeigt werden, sondern auch die Anlage der Ausstellung hat die Entdramatisierung des Todes zum Ziel. Die Ausstellung vermittelt nicht die Atmosphäre eines Anatomiesaales oder eines Mausoleums, sondern eines barocken Lustgartens, in welchem die Verstorbenen in verfremdeter Gestalt in einem lebensähnlichen Zustand posieren oder sich gar bewegen (wobei die Leben suggerierenden Bewegungen, die das Exponat eines Leichenmobiles gelegentlich bei Luftzug machen, doch eher makaber sind). Nicht die Unausweichlichkeit und Härte des Todes wird dem Ausstellungsbesucher vor Augen geführt, sondern es wird das Leben gepriesen. Die Exponate und die Gestaltung der Ausstellung vermitteln die Botschaft, dass das Leben weitergeht und dass selbst noch die Toten am Strom des Lebens partizipieren. Das emphatische Bekenntnis zum Leben wird auch durch die die Ausstellung überhaupt erst ermöglichende Technik der Plastination zum Ausdruck gebracht. Rein für sich genommen, ist an dieser Methode weder ethisch noch theologisch Anstoß zu nehmen. Sie eröffnet der medizinischen Anatomie und Ausbildung neue Möglichkeiten. So wie sie bei v. Hagens zum Einsatz kommt, ist sie jedoch weit mehr als nur ein neuartiges Präparations- und Konservierungsverfahren. Sie fixiert die Verstorbenen nicht im Moment ihres Todes, sondern vollzieht an ihnen eine Metamorphose. Eben diese Leistungsfähigkeit wird durch die Ausstellung gegenüber Nichtmedizinern unter Beweis gestellt und den Besuchern angepriesen. Im Ausstellungsraum selbst wird nicht nur das technische Verfahren der Plastination erläutert, sondern auch über die Möglichkeit informiert, den eigenen Körper für eine spätere Plastination zur Verfügung zu stellen. Die Intention der wissenschaftlich-medizinischen Aufklärung, welche v. Hagens vordergründig vertritt, hat in Wahrheit eine weltanschauliche bzw. religiöse Dimension, mit der man sich philosophisch und theologisch auseinandersetzen muss. Während im Christentum der Tod einerseits als natürliches Ende, andererseits aber als göttliches Gericht über den sündigen Menschen gesehen wird, als Feind des Lebens, der schlussendlich durch Gott selbst überwunden wird, welcher die Toten zu neuem Leben erweckt, hat der Tod bei v. Hagens jeden Schrecken verloren. Der Tod ist nur mehr eine Metamorphose. Dass die Toten, wie der Apostel Paulus erhofft hat, unverweslich auferstehen und ihre Leiber verwandelt werden30, ist nun dank des Plastinationsverfahrens technisch möglich. ————— 30

Vgl. 1Kor 15,35–49.

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Nach der Überlieferung des Lukasevangeliums wenden sich zwei Engel an die um Jesus von Nazareth trauernden Frauen, die zu seinem Grab gekommen sind: „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt worden.“31 Die „Osterbotschaft“ des Gunther v. Hagens lautet, dass Trauern das Lernen behindere und eine Art Auferstehung im Diesseits technisch machbar ist. An die Stelle der religiösen Hoffnung, Eingang ins Reich Gottes zu finden, tritt bei v. Hagens der Eingang in das Reich der Kunst. Die Metamorphose der Leichname zu Kunstobjekten entspricht der gesellschaftlichen Entwicklung, dass die Kunst im nachchristlichen Zeitalter für viele Menschen zur neuen Religion oder Nachreligion wird. In einer vom Transzendenzverlust gekennzeichneten Gesellschaft, für welche das Leben im Diesseits die letzte Gelegenheit ist32, verheißt die Plastinationstechnik die Wiedergewinnung von Transzendenz, einer diesseitigen Transzendenz. Theologisch ist zu fragen, ob dies nicht eine Form der schlechten Unendlichkeit ist. Zu diskutieren ist auch über das Konzept des natürlichen Todes, das hinter v. Hagens’ Ausstellungskonzept steht.

9.5 Zur Kritik der Idee des natürlichen Todes Mit dem Wandel der Todesbilder und Einstellungen zum Tod befassen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie zeigen auch, auf welche Weise der zu beobachtende Wandel der Sicht des Todes mit der Geschichte der Medizin verbunden ist. Unter den soziologischen Arbeiten zur Geschichte des Todes seien vor allem die monumentale Darstellung von Philippe Ariès33 sowie Norbert Elias’ Essay „Über die Einsamkeit der Sterbenden“34, ferner die etwas älteren Arbeiten von Alois Hahn35 und Werner Fuchs36 über die Todesbilder in der modernen Gesellschaft erwähnt. Nach Ansicht von Ariès ist die Kulturgeschichte des Todes in mehreren Stadien verlaufen.37 Parameter seiner Darstellung sind vier konstant bleibende psychologische Grundelemente, welche die Beziehung zwischen dem Selbstbewusstsein bzw. der Selbstsicht des Menschen und seiner Einstellung zum Tod bestimmen. Es sind dies nach Ariès 1. das Bewusstsein des ————— 31

Lk 24,5f. Vgl. M. Gronemeyer, Leben als letzte Gelegenheit. 33 Ph. Ariès, Geschichte des Todes. 34 N. Elias, Einsamkeit der Sterbenden. 35 A. Hahn, Einstellungen zum Tod. 36 W. Fuchs, Todesbilder. 37 Vgl. auch Ph. Ariès, Studien zur Geschichte des Todes; ders., Bilder zur Geschichte des Todes. 32

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Menschen von sich selbst, 2. die Verteidigung der Gesellschaft gegen die wilde Natur, 3. der Glaube an ein Leben nach dem Tode, 4. der Glaube an die Existenz des Bösen. Am Anfang der Kulturgeschichte des Todes steht das Modell des gezähmten Todes. Der Tod gilt als nah und vertraut, zugleich aber als abgeschwächt und kaum fühlbar. Das Sterben ist kein individueller Akt, sondern ein sozialer Vorgang, wobei die Gemeinschaft geeint ist im Kampf gegen die Natur, welche im Fall des Todes des Einzelnen wie bei Epidemien eine Bresche in den Verteidigungswall schlägt. Gezähmt wird der Tod durch die kollektiven Sterberituale, aber auch durch die Hoffnung auf eine postmortale Existenz und durch den Glauben an die Existenz des Bösen, welchem der Tod als Widerfahrnis zur Unzeit zugeschrieben wird. In einem zweiten Entwicklungsstadium verschiebt sich nach Ariès die Dimension des Schicksals von der Gemeinschaft auf das Individuum. Die Einsicht, dass wir alle sterben müssen, wird individualisiert: Ich muss sterben. Entsprechend verändern sich auch die Vorstellungen vom ewigen Leben und die Bestattungs- und Trauerbräuche, welche das Motiv der Abwehr des Todes verstärken. Seit dem 16. Jahrhundert tritt nach Ariès eine zunehmende Verwilderung des Todes ein. An ihrem Beginn steht das Modell des langen und nahen Todes. Was sich gegenüber dem frühen Mittelalter wandelt, ist die Einstellung zur Natur: Im Gefolge der neuzeitlichen Naturwissenschaften ist offenbar der Sieg über die oftmals als bedrohlich erlebte Natur errungen worden. Doch in Gestalt der Sexualität wie derjenigen des Todes bricht die scheinbar domestizierte Natur wieder in das zivilisierte Leben ein. Im 19. Jahrhundert bildet sich nach Ariès ein viertes Modell heraus, dasjenige des Todes des Anderen. Bedingt durch die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft und die mit der modernen Arbeitsteilung verbundene Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, wird auch der Tod über seine inzwischen erfolgte Individualisierung hinaus privatisiert. In der Romantik wird der Tod wie auch die Natur ästhetisiert. Seine Ästhetisierung hat aber zur Voraussetzung, dass der Tod nicht mehr prinzipiell mit dem Bösen in Verbindung gebracht wird und gleichzeitig der Glaube an die Hölle schwindet, während der Himmel sich zum Ort der Wiedervereinigung der durch den Tod Getrennten wandelt. Das 20. Jahrhundert beschreibt Ariès nun als Epoche des in sein Gegenteil verkehrten Todes. In ihr finden die Tendenzen des 19. Jahrhunderts ihre Fortsetzung. Allerdings wandelt sich die Ästhetik des Todes zur Ästhetik des Hässlichen. „Der Tod wurde schmutzig und dann medikalisiert.“38 Der Kampf gegen die Natur wird der in diesem Kampf scheinbar immer erfolgreicheren Medizin überlassen. Der Tod wird kaserniert, der Ekel vor dem Tod durch die Scham abgelöst. Diese Scham angesichts des Todes ist nach ————— 38

Ph. Ariès, Geschichte des Todes, 786.

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Zur Kritik der Idee des natürlichen Todes

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Ariès aber die unmittelbare Folge der definitiven Abdankung des Bösen. Wie Krankheit, Leiden und das Böse gehört auch der Tod nicht länger zum metaphysischen malum, sondern zu den „Fehlleistungen der Gesellschaft, die sich durch ein wirksames System der Überwachung (und Bestrafung) schon eliminieren lassen würden“39. Was aber wird aus dem Tod, wenn es das Böse gar nicht mehr gibt? Ariès sieht zwei Tendenzen: „Die erste ist ein massives Eingeständnis der Ohnmacht.“40 Über den Tod hat sich ein dumpfes Schweigen gebreitet, ohne dass der Tod oder die Todesangst dadurch ausgelöscht wären. Eine gegenläufige Tendenz aber besteht in dem Versuch, das Schweigen zu brechen, den Tod aus seiner Kasernierung zu befreien und zu „humanisieren“. Man möchte den Tod als notwendigen Bestandteil in das Leben reintegrieren, ohne ihn wie in früheren Zeiten mit dem Bösen in Verbindung zu bringen. Die moderne Leitvorstellung, welche auch in die Medizin hineinwirkt, ist diejenige eines „diskreten, aber würdigen Endes eines befriedigten Lebens“, vom „Abschied von einer hilfreichen Gesellschaft, die nicht mehr zerrissen noch allzu tief erschüttert wird von der Vorstellung eines biologischen Übergangs ohne Bedeutung, ohne Schmerz noch Leid und schließlich auch ohne Angst“41. Bedenkt man die soziokulturellen Zusammenhänge der modernen Sicht des Todes, so wird man Zurückhaltung gegenüber der häufig vertretenen These von der Verdrängung des Todes üben müssen, die vor allem in Theologenkreisen beliebt ist.42 Nicht nur wird, wovor schon Dietrich Bonhoeffer eindringlich gewarnt hat, die Theologie sich hüten müssen, die vermeintliche Verdrängung des Todes mit dem neuzeitlichen Atheismus bzw. der Säkularisierung in Verbindung zu bringen und als Beweis dafür zu werten, dass der moderne Mensch ohne Gott an seiner Existenz und ihrer Endlichkeit verzweifeln muss.43 Für die Religion hat eine solche Argumentation nämlich die fatale Folge, von Defizienzerfahrungen abhängig gemacht und auf das Terrain sogenannter letzter Fragen verbannt zu werden. Zum anderen übersieht die Verdrängungsthese, dass die Haltung zum Sterben und das Bild des Todes in der modernen Gesellschaft ohne Bezug auf die heute vergleichsweise größere Sicherheit und Vorhersehbarkeit des individuellen Lebensverlaufs und auf die durchschnittlich hohe Lebenserwartung gar nicht zu verstehen ist.44 Andererseits hat die Scheu vor dem Tod in unserer modernen Gesellschaft zweifellos ganz spezifische Züge angenommen. ————— 39

A.a.O., 788. Ebd. 41 A.a.O., 789. 42 Vgl. u.a. M. Scheler, Tod und Fortleben. 43 Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 454f.509–512. 44 Vgl. N. Elias, Einsamkeit der Sterbenden, 17. 40

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Doch die Verdrängung und Verdeckung der Endlichkeit des individuellen menschlichen Lebens ist gewiss nicht erst, wie manchmal behauptet wird, eine Eigentümlichkeit des 20. Jahrhunderts, sondern „wahrscheinlich so alt wie das Bewusstsein dieses Endes – wie die Voraussicht des eigenen Sterbens – selbst“45. Die These von der Verdrängung des Todes ist also viel zu pauschal, um den heutigen Einstellungen zu Tod und Sterben gerecht zu werden. Umgekehrt ist die von Ariès beschriebene Tendenz zur Reintegration des Todes in das gesellschaftliche Leben bzw. zu seiner Enttabuisierung nicht weniger problematisch wie seine Verdrängung. Gerade die Idee der Natürlichkeit des Todes, die heute zu einer gesellschaftlichen Leitvorstellung aufgestiegen ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als fragwürdig, weil sie einen problematischen Naturbegriff zur Voraussetzung hat und dazu angetan ist, die Destruktivität des Todes zu verschleiern. Wie die Idee des natürlichen Todes als solche ist auch ihr Handlungssinn kritisch zu diskutieren, nicht zuletzt im Blick auf die Konsequenzen für die medizinische Ethik. Die moderne Idee des natürlichen Todes hat einen doppelten Inhalt. Sie beansprucht, aufgeklärtes rationales Todeswissen wie gesellschaftliche Utopie in einem zu sein. Der Deutung des Todes als biologisch natürliches Lebensende korrespondiert die Zielvorstellung einer egalitären Gesellschaft, in welcher der Tod zur Unzeit durch physische oder strukturelle Gewalt, gesundheitsschädliche Produktionsverhältnisse und vermeidbare Krankheiten ausgeschlossen ist, so dass der Tod als natürliches Ende eines ausgeschöpften und sinnerfüllten Lebens akzeptiert werden kann. Es kann nicht strittig sein, dass der Schutz des Lebens, die Bekämpfung von Krankheiten und die Verbesserung der Lebensverhältnisse mit dem Ziel, die Lebenserwartung möglichst vieler Menschen zu erhöhen, sowie die Herstellung menschenwürdiger Lebensverhältnisse ethisch zu bejahende Handlungsziele sind. Problematisch an der Idee des natürlichen Todes ist jedoch, dass es sich bei dieser letztlich in der Tradition des neuzeitlichen Materialismus stehenden Vorstellung um den utopischen Versuch handelt, „den Tod mit dem Glück zu versöhnen“46. In der Ausstellung „Körperwelten“ findet diese Utopie ihren ästhetischen Ausdruck. Selbst der vorzeitige Tod – z.B. einer Schwangeren – soll seinen Schrecken verlieren. Die Versöhnung von Tod und Glück aber muss misslingen, weil sie zum einen einer fragwürdigen Idee von der Ganzheitlichkeit menschlichen Lebens aufsitzt, und weil sie zum anderen aus der illusorischen Hoffnung auf die gesellschaftliche Beseitigung des Bösen gespeist wird. Nur wenn das Böse wirklich eliminiert werden könnte – so wie alle Spuren von Leid und Schmerzen ————— 45 46

A.a.O., 55. Ph. Ariès, Geschichte des Todes, 789.

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in der Ausstellung „Körperwelten“ – wäre die Idee des friedlichen Verlöschens im hohen Alter eine sinnvolle Utopie. Davon abgesehen liegt der Idee des natürlichen Todes ein widersprüchlicher Naturbegriff zugrunde. Einerseits gilt es zu bedenken, dass der Naturbegriff in ethischen Zusammenhängen problematisch ist, weil er leicht zu naturalistischen Fehlschlüssen verleitet, welche Seinsaussagen in Sollensaussagen verkehren. Aus der Gegebenheit natürlicher Verhältnisse lassen sich keine ethischen Forderungen ableiten. Im Übrigen begegnet uns die Natur niemals als solche, sondern immer schon als kulturell überformte, so dass der Mensch in der Natur, die er als moralische Instanz in Anspruch nimmt, dem Resultat seines eigenen Handelns begegnet, für welches er gerade nach Maßstäben der moralischen Beurteilung sucht. Ganz praktisch tritt besagte Widersprüchlichkeit des Naturbegriffs darin zutage, dass das Handlungsziel, den Tod möglichst weit hinauszuschieben, gerade nicht dadurch erreicht werden kann, dass man der Natur ihren freien Lauf lässt, sondern im Gegenteil nur unter enormen kulturellen Anstrengungen, indem man die medizinische Forschung intensiviert, an technischen Innovationen arbeitet und den allgemeinen Wohlstand hebt. „Der heute geforderte ‚natürliche Tod‘ ist in Wahrheit ja der künstliche Tod, denn er ist die Frucht der kunstvollen Selbstmanipulation des Menschen und seiner Lebensumstände.“47 Unter diesem Blickwinkel muss auch v. Hagens’ ästhetischer Einsatz der Plastinationstechnik diskutiert werden. Die suggerierte Natürlichkeit seiner Exponate ist in Wahrheit das Resultat eines hochartifiziellen Verfahrens, durch welches Natur nicht abgebildet, sondern erzeugt wird. In Fortführung der kulturgeschichtlichen Thesen von Philippe Ariès möchte ich die These vertreten, dass das heute gesellschaftlich konsensfähige Modell des natürlichen Todes und seine ästhetischen Repräsentationen in Wahrheit eine Erscheinungsform des verwilderten Todes sind, mit welchem der Mensch letztlich um seines Menschseins willen keinen Frieden machen kann. „Der Glaube an das Böse war“, wie Ariès geschrieben hat, „notwendig gewesen, um den Tod zu zähmen. Die Abschaffung des Bösen hat den Tod in den Zustand der Wildheit zurückversetzt.“48 Eben die Abschaffung des Bösen erweist sich aber als eine Illusion, und es ist bezeichnend, dass das Böse in der Gegenwart neu als Thema entdeckt wird.49 Allen Gesellschaftsutopien der Moderne zum Trotz erlebt das Böse seine Renaissance. Verflogen ist der Optimismus der vergangenen Jahrzehnte, das Böse sei nur ein sogenanntes, das zwar nicht schon durch seine Umbenennungen, wohl aber durch pädagogische Anstrengungen, psychoanalyti————— 47

J. Schwartländer, Tod, 11. Ph. Ariès, Geschichte des Todes, 789. 49 Siehe dazu ausführlich U. Körtner, Wie lange noch?, 7–30. 48

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sche Aufklärung und politische Reformen, wenn schon nicht vollständig beseitigt, so doch minimiert werden könnte. Das Böse erweist sich als aufklärungs- und therapieresistent. So radikal es ist, so wenig ist ihm mit Radikalkuren beizukommen, welche allemal im Namen des Guten, der Gerechtigkeit oder auch der Religion verordnet werden. Radikale Versuche, das Böse an der Wurzel zu packen und auszumerzen, haben sich noch stets als perfide Steigerung des Bösen entpuppt, welchen keineswegs das Böse, sondern Menschen und die Menschlichkeit zum Opfer fallen. Auch die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist von dieser Aporie nicht ausgenommen, läuft doch der Versuch, den Tod zu humanisieren, faktisch immer wieder auf die Anwendung von Gewalt und Tod hinaus, sei es, dass der Tod zur Unzeit als Mittel revolutionärer Veränderungen eingesetzt oder aber der Tod aus Mitleid zugefügt wird. Es ist also die Radikalität des Bösen, welche die Kategorie des Natürlichen und mit ihr die Idee des natürlichen Todes zweideutig werden lässt. Dass gerade die Idee des natürlichen Todes und der Versuch der Humanisierung des Todes zu seiner Verwilderung führen, zeigt sich an den ethischen Dilemmata heutiger Medizin. Je erfolgreicher die Medizin bei der Verlängerung des Lebens ist, desto mehr gerät das medizinische Handeln in Dilemmasituationen. Die Möglichkeiten der Lebensverlängerung verhalten sich nicht selten umgekehrt proportional zur Würde und Lebensqualität des verlängerten Lebens. Und die Zielperspektive, am Ende eines langen Lebens das friedliche Erlöschen zu ermöglichen, wird durch den Zwang zur Manipulation des Sterbens konterkariert, der in Grenzsituationen die Grenze zwischen Sterbenlassen und Töten verschwimmen lässt, wenn es um die Frage des Behandlungsabbruchs geht. Unter der Hand verkehrt sich die durch die moderne Medizin geweckte Hoffnung auf den natürlichen Tod zur Angst vor einem qualvollen und übermedikalisierten Lebensende. Die moderne Medizin partizipiert an jener Ambivalenz neuzeitlicher Autonomie, welche der Philosoph Odo Marquard als Wiederkehr des Schicksals beschrieben hat. Die Moderne versteht sich als Zeitalter der Machbarkeit. Ihr Weg führt zunächst „vom Fatum zum Faktum, vom Schicksal zum Machsal“50. Doch erweist sich der Prozess, die eigene Lebenswelt immer mehr in menschlichen Handlungssinn zu überführen, als janusköpfig. Je mehr nämlich die Lebenswelt des Menschen das Resultat seines eigenen Handelns ist, desto mehr werden neue Kontingenzen erzeugt, die von ihm selbst nicht intendiert sind. Je mehr der Mensch über das Leben verfügen möchte, desto unverfügbarer werden die Vorgaben und Folgen seines Handelns.51 Und so mündet die medizinische Entwicklung, welche die Realisie————— 50 51

O. Marquard, Ende des Schicksals?, 67. Vgl. a.a.O., 81.

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rung des natürlichen Todes zum Ziel hat, genau gegenläufig in die heutige Debatte um die – zumindest – partielle Legalisierung der aktiven Euthanasie sowie über die Kriterien des Abbruchs therapeutischer Maßnahmen. Sofern der Begriff der Natürlichkeit für die Kontingenz des Gegebenen steht, ergibt sich die paradoxe Situation, dass dieses Kontingente das Resultat menschlichen Handelns ist. Eben darum aber ist die hinter der Utopie des natürlichen Todes stehende Hoffnung, es könne der Tod mit dem Glück versöhnt werden, zum Scheitern verurteilt. Die Botschaft des christlichen Glaubens hat nicht zuletzt darin ihre Pointe, dass sie die Möglichkeit einer Versöhnung von Tod und Glück bestreitet. Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen Tod und Sterben. „Mit dem Sterben fertigwerden“, so hat Bonhoeffer zu bedenken gegeben, „bedeutet noch nicht mit [dem] Tod fertigwerden. Die Überwindung des Sterbens ist im Bereich menschlicher Möglichkeiten, die Überwindung des Todes heißt Auferstehung. Nicht von der ars moriendi, sondern von der Auferstehung Christi her kann ein neuer reinigender Wind in die gegenwärtige Welt wehen.“52 Wenn man versucht, die existentiale Bedeutung einer derartigen Aussage zu bestimmen, darf man es vielleicht so sagen: Unbeschadet seiner wesenhaften Fragmenthaftigkeit bleibt das menschliche Leben nicht unvollendet. Vollendung erlangt das menschliche Leben jedoch weder durch das Tun des Menschen, noch durch den Versuch, den eigenen Tod als heroische Tat auf sich zu nehmen, sondern einzig dadurch, dass die Beziehung Gottes zum Menschen mit dessen Tod nicht endet, vielmehr von allen Zweideutigkeiten befreit wird und an jener Lebensfülle Anteil bekommt, welche Gott selber ist. Die Entscheidung, sich nach dem Ableben plastinieren zu lassen, mag eine Weise sein, mit dem Sterben fertig zu werden. Der Tod selbst aber lässt sich so nicht zähmen. In der schlechten Unendlichkeit der Plastination wird die Leiblichkeit und Endlichkeit des Menschen gerade nicht erfahren, sondern verkannt.

————— 52

D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 270.

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10 Epilog: Ethik und Anthropologie

Eine der Hauptschwierigkeiten im bioethischen und biopolitischen Diskurs der modernen, pluralistischen Gesellschaft besteht darin, dass weder eine allgemeinverbindliche religiöse noch eine allgemeingültige metaphysische Grundorientierung vorausgesetzt werden kann. Wie die bioethischen Erkundungen des vorliegenden Buches zeigen, kann dieser Mangel auch nicht durch eine Phänomenologie oder einer ethischen Theorie der Leiblichkeit ausgeglichen werden. Am ehesten noch kann man sich auf die Idee der Menschenrechte berufen, welche in modernen Gesellschaften an der Schnittstelle von Ethik und Recht als mittlere ethische Axiome fungieren. Weil die Menschenrechte gleichermaßen begründungsoffen wie begründungsbedürftig sind, können sie aus unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Traditionen heraus im Sinne eines „overlapping consensus“ (John Rawls) akzeptiert werden. Eine quasi naturrechtliche Berufung auf den Leib des Menschen als ethische Grundnorm ist dagegen, wie gezeigt wurde, zum Scheitern verurteilt. Im Kern aller bio- und medizinethischen Diskussionen geht es um Grundfragen der Anthropologie. Was der Mensch ist, was er sein kann, soll oder will, steht jedoch nicht von vornherein fest, muss in allen ethischen Konflikten um medizinische und technische Innovationen, in politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Umbrüchen immer wieder neu durchbuchstabiert werden. Die in bioethischen Diskussionen häufig gestellte Frage, ob oder wie weit der medizinische Fortschritt mit einem bestimmten Menschenbild, zum Beispiel dem christlichen, vereinbar sei, greift zu kurz. Genauso muss man nämlich auch fragen, welches Menschenbild mit der inneren Dynamik der technologischen Gesellschaft vereinbar ist und welchen Transformationen Menschenbilder, die eine ethische Orientierung zu geben versprechen, in Geschichte und Gegenwart ausgesetzt sind. Auch ein christliches Menschenbild gibt es nicht im Singular, sondern in verschiedenen Varianten, die noch dazu etliche historische Umformungsprozesse durchlaufen haben. Der evangelische Theologie Wolfgang Trillhaas hat die Ansicht vertreten, alle Ethik sei „in jedem Sinne angewandte Anthropologie“1. Der Begriff der Anwendung ist freilich ebenso missverständlich, wie der heute ————— 1

W. Trillhaas, Ethik, Berlin 31970, 19.

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gebräuchliche Begriff einer angewandten Ethik (im Englischen „applied ethcis“). Er erweckt den Eindruck, als ginge es lediglich darum, ein irgendwie schon feststehendes Menschenbild kasuistisch auf praktische Probleme der Lebensführung anzuwenden. Medizin- und Bioethik lassen sich zutreffender als Bereichsethiken bezeichnen. Der von Julian Nida-Rümelin eingeführte Begriff der Bereichsethik2 setzt voraus, dass uns unterschiedliche Praxisfelder „mit unterschiedlichen Arten von Problemen konfrontieren, die unterschiedliche Arten der ethischen Reflexion erfordern“3. Wie der Sachstand bioethischer Probleme, so ist auch die Moral einem geschichtlichen Wandel unterworfen, was aber nicht bedeutet, dass es moralische Grundüberzeugungen gibt, die über lange Zeiträume Bestand haben. So wenig es darum gehen kann, die Moral bzw. das Ethos den vermeintlichen „Sachzwängen“ der unterschiedlichen Praxisbereiche anzupassen, so wenig kann das Ziel ethischer Reflexion darin bestehen, „den moralischen Status quo festzuschreiben und zu fixieren. Vielmehr ist sie genötigt, moralische Standards des tradierten Ethos ständig kritisch zu überprüfen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche und individuelle Praxis zu untersuchen.“4 Mensch sein heißt immer auch Mensch werden. Nach christlichem Verständnis ist damit eine eschatologische Differenz angesprochen, wonach wir nie sind, die wir zu sein scheinen oder zu sein meinen, sondern die sind, die wir in den Augen Gottes sind.5 Es wird uns zugesagt, Ebenbild und Kinder Gottes zu sein. Doch wer wir tatsächlich sind, bleibt uns in diesem Leben letztlich verborgen. Die Bestimmung des Menschen geht nach biblischer Auffassung jedenfalls über seine physische Existenz hinaus. Wie der Mensch unterliegt auch sein Leib im Laufe seines Lebens Prozessen des Werdens und Vergehens, des Reifens und des Verfalls. Die Geschichte eines Menschen hinterlässt an seinem Körper ihre Spuren. Dass Menschsein im Werden ist, zeigt sich auch am Schicksal unseres Körpers. Im Sinne der Polarität von Freiheit und Schicksal, die im ersten Kapitel zur Sprache kam, ist unser Leib Gabe und Aufgabe zugleich. Weil wir unser Leben nicht bloß erleiden, sondern es aktiv führen müssen, gehört auch der bewusste Umgang mit dem eigenen Körper zur Aufgabe menschlicher Lebensführung. Christliche Lebensführung ist von der Einsicht getragen, dass der Mensch seiner selbst im letzten nicht mächtig ist. Gerade der eigene Leib kann zur Quelle und zum Ort dieser Erfahrung werden. Der christlichen Einstellung zum eigenen Leib, zu Leben und Tod, ————— 2

Vgl. J. Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik, 63. J. Fischer, Gegenseitigkeit, 34. Siehe auch K. Bayertz, Praktische Philosophie. 4 M. Honecker, Dreiständelehre, 272. 5 Vgl. R. Bultmann, Weihnachten, 79. 3

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Krankheit und Gesundheit, entspricht ein Handeln, das sich, wie an verschiedenen Stellen im vorliegenden Buch näher ausgeführt worden ist, in der Spannung zwischen Widerstand und Ergebung bewegt und dabei auf eine letzte, von uns Menschen nicht leistbare Vollendung unseres Lebens hofft, die nicht mit der Optimierung des menschlichen Körpers oder der Konservierung eines bestimmten Zustandes desselben zu verwechseln ist. Verfall und biologischer Tod des menschlichen Körpers stehen nach christlicher Überzeugung zu dieser Hoffnung nicht im Widerspruch, so gewiss auch die Hoffnung auf ewiges Leben in Vorstellungen der Leiblichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Dass wir uns zu uns selbst verhalten müssen, schließt ein ethisch reflektiertes Verhalten zum eigenen Körper, seinem Wohlergehen wie seinen möglichen Beeinträchtigungen und Veränderungsprozessen ein. Das gilt nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch in sozialer Hinsicht. Leibsorge ist eine eminent sozialethische und politische Aufgabe. Eine Phänomenologie der Leiblichkeit bietet jedoch weder philosophisch noch theologisch eine hinreichende ethische Theoriebasis. Das vorliegende Buch schlägt statt dessen eine verantwortungsethische Konzeption vor, in welche sich leibphänomenologische Einsichten integrieren lassen. Problematisch ist es, wenn die einer Ethik zugrunde liegende Anthropologie abstrakt bleibt und das Subjekt des Handelns und der ethischen Reflektion mehr oder weniger unausgesprochen mit einem Erwachsenen auf der Höhe seiner intellektuellen, psychischen und physischen Fähigkeiten gleichsetzt. Eine ethisch relevante Anthropologie muss nicht nur die Bedeutung von Krankheit und Gesundheit, des Wechsels von Wachen und Schlafen berücksichtigen, sondern auch zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit sowie den verschiedenen Lebensstadien des Menschen und ihren historisch wie kulturell und religiös bedingten Bildern unterscheiden. Menschliches Sein im Werden durchläuft die Phasen von vorgeburtlicher Entwicklung, Kindheit, Jugend, Erwachsenendasein und Alter. Aber nicht nur das Menschenbild im Allgemeinen, sondern auch die Sichtweise der einzelnen Lebensphasen unterliegt einem geschichtlichen Wandel, wie vor allem im 8. Kapitel deutlich geworden ist. Innerhalb der Theologie sind bio- und medizinethische Themen heute eine wichtige Schnittstelle zwischen Systematischer und Praktischer Theologie. Generell wird das interdisziplinäre Gespräch zwischen Seelsorge und Ethik seit einiger Zeit wieder intensiver als in der Vergangenheit geführt.6 Auch die bioethischen Erkundungen des vorliegenden Buches zur Leiblichkeit des Menschen verstehen sich als Beitrag zu diesem Dialog. ————— 6

Vgl. U. Körtner, Moral.

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Register

1 Namen Adler, Rolf H. 116 Adorno, Theodor W. 38, 131, 175 Ahn, Gregor 83 Akashe-Böhme, Farideh 92, 115f, 118, 126, 132f, 142, 174 Aksu, Fuat 92 Alban, Susanne 143 Amelung, Eberhard 38, 93, 116, 123 Améry, Jean 165 Anselm, Reiner 77, 189 Arendt, Hannah 61, 63f, 67f, 70 Ariès, Philippe 197–201 Aristoteles 49, 162 Asefaw, Fana 37 Altgeld, Thomas 142 Aus der Au, Christina 20 Bach, Ulrich 128 Backes, Gertrud M. 158 Balck, Friedrich 127 Baltes, Paul B. 158 Barth, Hans-Martin 101 Barth, Karl 50, 81f, 88f, 174f, 185 Bauch, Jost 117, 122, 131 Bayer, Oswald 27, 29 Bayertz, Kurt 205 Beck, Dieter 130 Beck, Ulrich 163 Beck-Gernsheim, Elisabeth 163 Bedford-Strohm, Heinrich 22 Benedetti, Gaetano 84 Benke, Christoph 101 Benner, Patricia 109ff, 154 Benson, Herbert 102 Berger, Peter L. 119 Bernardi, Luciano 102 Bernhardt, Reinhold 58 Berth, Hendrick 127 Beuys, Joseph 195 Bickel, Lis 183 Bieri, Peter 57–60, 151 Bilz, Rudolf 85 Bircher, Johannes 118

Birkenstock, Eva 158, 165 Birnbacher, Dieter 46 Biser, Eugen 123 Blank, Thomas O. 103 Blech, Jörg 119, 127, 132 Blumenberg, Hans 85 Blum-Lehmann, Susanne 166 Böhme, Gernot 17, 92, 115ff, 126, 132f, 142, 174 Boethius 48 Bonhoeffer, Dietrich 13, 19–24, 28, 31, 36, 163, 175f, 178, 199, 203 Bovet, Theodor 155 Brandtstädter, Jochen 172 Brenner, Andreas 17 Brock, Bazon 195 Brunner, Emil 179 Buber, Martin 41, 49 Bucher, Anton A. 99 Bultmann, Rudolf 23f, 70, 72, 205 Calvin, Johannes 186 Canguilhem, George 115 Cassell, Eric J. 116 Cassirer, Ernst 99 Chisholm, Roderick 56ff Clemens, Wolfgang 158 Coren, Stanley 83 Dabrock, Peter 17, 21, 26–29, 41, 54f, 156 Dalferth, Ingolf U. 98 Danz, Christian 94, 99 Davies, Patricia M. 155 Dinkel, Andreas 127 Dörnemann, Michael 123 Dörner, Klaus 144, 171 Drehsen, Volker 101 Dreyfus, Hubert L. 109 Dreyfus, Stuart E. 109 Duden, Barbara 66 Duns Scotus 50 Düwell, Marcus 21, 38 Ebeling, Gerhard 81f Edmondson, Donald 103

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Register

Egler, Gisela 95 Eibach, Ulrich 128, 130, 144 Elias, Norbert 145, 197, 199 Engelhardt Jr., Hugo Tristam 95 Engelhardt, Dietrich v. 115f, 119f, 131 Fenster, Juliane R. 103 Fichte, Johann Gottlieb 49ff, 151 Figal, Günter 23, 27, 76 Filipp, Sigrun-Heide 159f, 169, 171, 173 Fischer, Johannes 55, 64ff, 132 Fischer, Ulrich 192, 194 Forschner, Maximilian 48, 50 Forst, Rainer 148 Foucault, Michel 11, 144 Franck, Georg 146 Freud, Sigmund 102 Freund, Alexandra M. 172 Frey, Christofer 39 Frick, Eckhard 94 Fuchs, Thomas 17 Fuchs, Werner 197 Gadamer, Hans-Georg 114 Gehlen, Arnold 117 Gerhardt, Uta 116 Gerhardt, Volker 54f, 62–66, 71 Gesang, Bernward 43 Gisinger, Christoph 100 Glicksman, Allen 95 Glicksman, Gail Gaisin 95 Gollwitzer, Helmut 132 Gottweis, Herbert 25 Grohmann, Marianne 71, 76 Grond, Erich 139 Gronemeyer, Marianne 197 Grün, Anselm 162 Grund, Alexandra 76 Gugutzer, Robert 11 Habermas, Jürgen 12, 25f, 133 Hagens, Gunther v. 184, 193–197, 201 Hahn, Alois 197 Hahn, Peter 116 Hamann, Johann Georg 27ff Hamer, Ryke Geerd 103 Hannich, Hans-Joachim 156 Härle, Wilfried 153, 185 Harnack, Adolf v. 123 Hartmann, Fritz 131 Hartshorne, Charles 185 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26, 28, 49 Heidegger, Martin 11, 13, 20f, 32, 61, 65, 87, 115 Heidelmeyer, Wolfgang 52 Heim, Edgar 118

Heimbach-Steins, Marianne 74 Heine, Susanne 95, 98, 103 Heinrichs, Johannes 48 Herms, Eilert 50, 164 Höfling, Wolfram 156 Hölderlin, Friedrich 155 Honecker, Martin 28, 42, 137, 205 Hübner, Jürgen 42 Huntington, Samuel 99 Hurrelmann, Klaus 142 Husserl, Edmund 29, 61 Huxel, Kirsten 18 Illhard, Franz-Josef 159 Inwagen, Peter van 57 Jakoby, Bernard 185 Jaspers, Karl 116, 119, 162 Jewett, Robert 18 Jonas, Hans 13, 39 Jones, Hugh O. 62 Jörns, Klaus-Peter 101 Josuttis, Manfred 96f Jüngel, Eberhard 23f, 26, 81f, 185 Kant, Immanuel 12, 27ff, 30f, 35f, 49, 55f, 147, 151f, 187, 189 Käsemann, Ernst 19 Kast, Verena 161 Kautzky, Rudolf 129 Kepel, Gilbert 99 Kierkegaard, Søren 33, 44f, 61, 85f Klein, Andreas 58 Klinnert, Lars 17, 21, 26, 29, 41, 55 Knoepffler, Nikolaus 78 Kobusch, Theo 48 Koch, Traugott 11, 177 Kolip, Petra 142 Kopetzki, Christian 52 Köpf, Ulrich 100f Korsch, Dietrich 164 Körtner, Ulrich H.J. 39f, 43, 50, 58, 60, 72, 74, 77, 79, 85, 89, 91f, 94, 101, 104, 108f, 123, 138, 150, 154, 157, 159, 164, 183, 185, 201, 206 Krieg, Matthias 18, 124 Krist, Horst 70 Krötke, Wolf 82 Krucoff, Mitchell W. 102 Krüger, Oliver 43 Kruse, Andreas 158, 160, 165, 171f, 179 Kübler-Ross, Elisabeth 103 Kuhlmann, Andreas 43 Kulenkampff, Caspar 102 Kunz, Roland 167 Kupatt, Christian 189

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Namen Labisch, Alfons 40, 114, 137 Lanczkowski, Günter 83f Lantermann, Ernst-Dieter 191 Larson, David B. 100 Lau, Friedrich 137 Lauster, Jörg 162 Leininger, Madeleine M. 143 Leinmüller, Renate 127 Lenk, Christian 35 Leriche, René 114 Levinas, Emmanuel 11, 21, 32, 49, 133, 155 Lindemann, Andreas 74 Linden, Michael 172 Linke, Detlef B. 185 Lipp, Wolfgang 134 List, Elisabeth 17 Lödel, Ruth 162 Locke, John 31, 52, 55, 152 Lohff, Brigitte 142 Lowen, Alexander 104 Luckmann, Thomas 119 Luhmann, Niklas 109, 117, 135–138, 149 Luther, Henning 104, 129, 132, 162, 169 Luther, Martin 28, 42, 48, 58ff, 63, 70, 81, 85, 90, 180, 186 Maas, Ineke 172 Mahlmann, Theodor 185 Marquard, Odo 202 Maturana, Humberto R. 137 May, Arnd T. 153 Mayer, Karl Ulrich 158 Mayer-Scheu, Josef 129 McCrae, Robert R. 159 Melzer, David 126 Merleau-Ponty, Maurice 11, 13, 32, 49 Michel, Peter 103 Mildenberger, Friedrich 74 Mills, Mary A. 103 Mittelstraß, Jürgen 158 Mohr, Georg 49 Moltmann, Jürgen 179 Moody, Raymond A. 185 Morris, David B. 114f, 117f, 120, 122, 127, 142, 145ff Mostert, Walter 175 Naurath, Elisabeth 97 Nida-Rümelin, Julian 205 Nietzsche, Friedrich 57, 60 Nydahl, Peter 155 Oduncu, Fuat S. 35 Oetinger, Friedrich Christoph 124 Owen, Adrian M. 155

Pannenberg, Wolfhart 130, 133 Park, Crystal L. 103 Pauen, Michael 151 Paul, Norbert 40, 114, 137 Paulus 18f, 30, 70, 89f, 100, 132, 180f, 196 Pfeiffer, Klaus-Peter 134 Platon 49, 184f Plessner, Helmuth 32 Plüss, David 20 Polak, Regina 98 Pollack, Detlef 98 Pöltner, Günther 33f Prainsack, Barbara 25 Rahner, Karl 24, 87 Rawls, John 17, 148f, 204 Reese-Schäfer, Walter 138 Rehbock, Thea 17 Reich, Jens 53, 72 Reich, Warren T. 133 Reichold, Anne 17 Rendtorff, Trutz 130, 132, 164 Renner, Gerolf 172 Rentsch, Thomas 158, 162, 165 Reynolds, Cheryl L. 143 Rich, Arthur 179 Ricœur, Paul 11, 21, 29 Rieder, Anita 142 Rieger, Hans-Martin 166, 174, 177 Riesebrodt, Martin 99 Ringleben, Joachim 18 Ritschl, Dietrich 29, 62, 93, 118, 121–124 Ropohl, Günter 162 Rosenmayr, Leopold 161 Roser, Traugott 94, 96 Rössler, Dietrich 99, 106, 116, 128, 153, 169 Roth, Gerhard 186 Ruhbach, Gerhard 101 Saner, Hans 61, 64f, 68 Sartre, Jean-Paul 11, 20, 37 Schapp, Wilhelm 29, 61 Schardien, Stefanie 17, 21, 26, 29, 41, 55 Scheer, Peter J. 92 Scheler, Max 199 Schellong, Dieter 129 Schiller, Friedrich 56 Schipperges, Heinrich 129 Schleiermacher, Friedrich 58f, 81f, 106 Schlumbohm, Jürgen 66 Schmid, Wilhelm 162 Schmidt, Kurt W. 95 Schmitt, Eric 160 Schmitt-Pridik, Ursula 161, 168, 180, 182

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Register

Schmitz, Hermann 11, 17, 84ff Schnalke, Thomas 193ff Schneider, Robert 214 Schneider-Flume, Gunda 62f, 128f, 130f, 162f, 174 Schneider-Harpprecht, Christoph 97, 104, 170 Schnell, Martin W. 29 Schöne-Seifert, Bettina 33 Schorlemmer, Friedrich 162 Schreber, Daniel Paul 102 Schroer, Markus 11 Schröm, Oliver 103 Schroth, Ulrich 35 Schwartländer, Johannes 201 Schweitzer, Albert 177ff Schweizer, Eduard 19, 143 Scorniaenchi, Lorenzo 18 Sheldrake, Rupert 97 Singer, Peter 31, 67 Sleight, Peter 102 Sloterdijk, Peter 43 Smith, Richard 128 Sontag, Susan 145, 120, 145 Spaemann, Robert 45, 61, 79, 130 Sparn, Walter 101 Spengler, Oswald 99 Spinoza, Baruch 56 Staudinger, Ursula M. 172 Steins, Georg 74 Storch, Alfred 102 Strawson, Galen J. 57 Strawson, Peter F. 53, 151 Sturma, Dieter 44, 54 Tag, Brigitte 183, 194 Talbot, Davinia 33 Tausch-Flammer, Daniela 183 Thomae, Hans 172

Thomas v. Aquin 49, 186 Thomas, Carmen 183 Tillich, Paul 24, 32f, 50, 99, 185 Timm, Hermann 60f Trillhaas, Wolfgang 204 Uexküll, Thure v. 116 Utzschneider, Helmut 74f, 76 Veit, Patrice 66 Virt, Günter 183 Vossenkuhl, Wilhelm 35 Wagner, Falk 130 Wagner-Simon, Therese 84 Waldenfels, Bernhard 26 Wallner, Jürgen 157 Weber, Max 137, 164 Weder, Hans 18, 70 Wehkamp, Karl-Heinz 118 Weiß, Martin G. 37f, 44 Weizsäcker, Viktor v. 116 Wesiak, Wolfgang 116 Wetz, Franz Josef 183, 188, 194 Whitby, Blay 45 Wieland, Wolfgang 114 Wiggermann, Karl-Friedrich 100 Wildfeuer, Armin G. 52, 54 Wilkening, Friedrich 70 Wilkening, Karin 167 Willi, Jürg 117f Wils, Jean-Pierre 17 Wiplinger, Fridolin 184 Wunn, Ina 93 Zaumseil, Manfred 126 Zieger, Andreas 156f Ziemer, Jürgen 133 Zimmerling, Peter 101 Zimmern, Ron 126 Zwingmann, Christian 99

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2 Sachen Abendmahl 19, 30 Abhängigkeit (schlechthinnige) 39, 58f, 81ff, 106 Adventus 179 Aids 103, 120, 134f, 145f Allokation 143f Altenseelsorge 160, 163, 168, 170, 180 Alter 9, 11, 15, 32, 45, 118, 126, 128, 153, 158–169, 171f, 174, 177, 178–182, 201, 206 alter und neuer Mensch 14, 23, 41, 43 Altern 15, 45, 127f, 158–162, 165, 179f Angst 85ff, 102, 106, 127, 159, 166, 176, 181, 199, 202 Anthropologie 14, 17ff, 23f, 26, 31, 42f, 48f, 62, 73, 79, 81, 132, 184, 204, 206 Anti-Aging-Medizin 128, 159 Antlitz, Gesicht 9, 31, 49, 69, 101, 155, 168 Ästhetik 184, 198 Auferstehung 19, 49, 181, 185f, 188, 192, 197, 203 Aufmerksamkeit 85, 142, 144, 146, 156, 171 Autonomie (am Lebensende, Patientenautonomie) 12, 15, 31, 40, 133, 136, 140, 147, 150, 153f, 157, 166, 174, 202 Barmherzigkeit 42, 105 Behinderung 22, 69, 91, 104, 117, 125f, 129, 133, 141, 174f Bewusstsein 15, 19, 30f, 34, 46f, 51, 53ff, 59, 81, 88, 93, 100, 106, 139, 141, 150, 154f, 159, 184, 188, 197, 200 Bioethik 9, 12, 17, 22, 26, 30, 38, 55, 74, 122, 205 Biographie 9, 15, 45, 62, 121, 124, 155, 163f, 169 Biomedizin 39, 41, 140 causa sui 44, 47f, 56ff Coping 102, 104, 131, 160, 171ff Dankbarkeit 35, 105, 175f Demenz 69, 121, 152, 156f, 167, 179 Disease 115f, 120, 127f Ekstase 11, 86, 104 Embryo 25f, 40, 47, 52, 64f, 69, 74–79, 152 Empfänglichkeit 59, 81, 174 Endlichkeit 15f, 43, 48, 61, 84, 105, 165, 172, 174f, 199f, 203

Enhancement 12, 14, 32–37 Erfahrung 11, 13, 15, 23f, 38, 41, 60, 74f, 84, 89, 95, 100f, 110ff, 114f, 120ff, 127f, 131ff, 143, 146, 151, 158ff, 163ff, 167, 169f, 172, 174, 180f, 185f, 199, 205 Erinnerungsvermögen 31, 51f, 152, 159 Eschatologie 42, 122, 130f, 178f Ethik 9f, 13f, 17ff, 21f, 28, 31f, 37f, 40f, 44, 47f, 51f, 72, 81, 87, 107–113, 130, 132f, 135f, 138f, 149, 153, 162, 164, 177, 189ff, 200, 204ff Ethische Kompetenz 9, 107, 108, 110–113 Euthanasie 12, 22, 40, 160, 203 Evangelium 19, 22, 24, 26, 29f, 59, 72, 109, 130, 160, 179, 181, 197 Existenz 9, 13ff, 18ff, 21, 31, 46, 51, 61, 65, 67–70, 72, 76, 78f, 81, 85f, 89f, 97, 115, 152, 160, 178, 184f, 194, 198f, 205 Fehlschluss (naturalistischer, moralischer) 37f, 79 Fötus 64f, 69, 194 Fragment(haftigkeit) 15, 23, 31, 96, 104, 122, 129, 160, 162f, 169, 178f, 180, 192, 203 Frau 66f, 73, 118, 140, 142f, 155, 159, 171, 194, 197 Freiheit 13, 26ff, 32f, 41, 47f, 56–61, 94, 96, 114, 153, 158, 174ff, 177, 187, 190, 205 Frömmigkeit 95, 100f Fürsorge 61, 133, 136, 140, 156 Futurum 179 Ganzheitlichkeit 14f, 95, 104, 129, 179, 200 Ganztod-Theorie 185f Gebet 91, 102, 165, 168 Gebot 35f, 42, 187, 189 Geburt 39, 46, 61, 63–73, 75f, 79, 88, 90, 92, 127 Geburtlichkeit 9, 14f, 44f, 48, 60–63, 66, 68, 71, 79, 88ff Gehirn 13, 34, 103, 185f Geist 13, 19f, 28ff, 33f, 40f, 44, 47, 49, 56, 69, 80, 91, 97, 100, 105ff, 119, 124f, 174, 177ff, 185 Gender-Medizin 135, 142 Genetik 40, 125f, 142 Genom 72f, 79, 125f Genomik 125f, 142

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Register

Gentest 126f Gerechtigkeit 112, 147ff, 202 Gerontologie 118, 158, 171 Geschichte 9, 28f, 43–46, 48, 50f, 60–63, 65f, 70, 73, 121f, 131, 146, 150, 155f, 173, 180, 184, 197f, 200f, 204f Geschichtlichkeit 15, 28f, 60f Geschöpf Gottes 39, 41, 81f, 89f, 96, 152 Geschöpflichkeit 13f, 41, 48, 81, 89, 162 Gesetz und Evangelium 24, 26, 89, 109 Gesundheit 17f, 34, 36, 43, 54, 91f, 95f, 101ff, 105, 109f, 113–132, 134f, 137, 139, 142ff, 147ff, 200, 206 Gesundheitswesen 93f, 117, 120, 122f, 126, 134, 147ff Glaube 23f, 26, 31f, 39f, 41f, 43, 49, 59f, 70, 74, 82, 89f, 93, 98, 100, 102, 104, 106, 108, 123, 132f, 162ff, 170, 172ff, 176f, 179ff, 186, 188, 192, 198, 201, 203 Gnade 32, 41f, 63, 70, 76, 81f, 84, 103, 105, 108, 162, 177 Gott 14, 18ff, 23f, 28ff, 39, 41–44, 49ff, 56–60, 62ff, 70ff, 76, 81f, 84f, 89f, 97, 100, 102f, 106, 122, 124, 130, 145, 152, 160–163, 168ff, 173–176, 178–181, 185f, 192, 196f, 199, 203, 205 Gottebenbildlichkeit 19, 26, 28f, 41f, 62, 74, 96, 187 Grundpassivität 59, 81f, 86ff, 90, 132 Handeln, Handlung 14, 23, 31, 34, 36, 39, 48, 51, 53, 56ff, 63, 66f, 76, 78, 82–93, 96, 108, 111, 114, 118f, 122, 129f, 137f, 140, 150, 153, 159, 163–166, 169ff, 189–192, 200–203, 206 Heil 14, 24, 26, 42f, 90ff, 104ff, 113, 123f, 130, 154, 174, 181 Heilung 42f, 91f, 97, 102–105, 113, 123f, 129f, 144 Hermeneutik 22f, 70, 109, 143 Heuristik der Furcht 39 Hilfsbedürftigkeit 133, 153f, 166 Hirntod 155, 185 Hoffnung 49, 86, 108, 136, 146, 161, 165, 168ff, 173, 175f, 179–182, 184, 188, 190, 197f, 200, 202f, 206 Hörsinn 68ff Identität 19, 33, 35, 51, 77ff, 121, 152, 162, 164f, 170, 180, 185f Illness 116, 120f, 127 In-der-Welt-Sein 65, 67, 82 In-Vitro-Fertilisation 66, 125 Kind 40, 42, 63, 65ff, 69f, 72ff, 76, 127, 140ff, 171, 180, 194, 205f

Kirche 19, 25, 40, 74, 79, 92f, 100f, 107, 123, 145, 171, 188, 191f Klonen 53, 72f, 142 Kommunikation 15, 19, 29–31, 34, 36, 38, 41, 50f, 54f, 66, 68f, 106f, 116, 131, 138, 144, 147, 152, 154ff Kommunitarismus 27 Kompensation 171, 173 Körper 9, 11f, 15f, 18f, 20, 30, 32–37, 45, 48, 53ff, 65, 69, 72f, 79, 84, 91, 97, 102, 104, 115, 119, 125, 142, 155f, 158ff, 165f, 171, 174, 177, 183–187, 189–196, 200f, 205f Krankenhausseelsorge 9, 92, 94, 96, 107– 110, 112f Krankheit 9, 11, 14f, 17, 33f, 36f, 88, 90ff, 102–105, 110, 114–137, 140–147, 149, 166f, 169, 174–177, 179, 184, 190, 194ff, 199f, 206 Kultur 37, 45, 54, 67f, 85, 91ff, 95, 98f, 107, 115–118, 120f, 123, 131, 134, 142f, 167f, 183, 186f, 192, 197ff, 201, 206 Leben, gelingendes 117, 161f Lebensführung 14, 39, 85, 87, 108, 115, 130, 132f, 163f, 169, 176, 205 Lebensgeschichte 9, 62f, 70, 121, 155f, 180 Lebensqualität 92, 94f, 158, 166, 202 Lebensvollzug 83f, 126 Leichnam 183f, 186–192, 195, 197 Leiden 14f, 40, 42, 86–90, 104, 119ff, 127, 130f, 139, 145ff, 155, 157, 163, 166, 168, 170, 177, 194f, 199, 205 Liebe 19, 24, 29, 40ff, 58, 82, 105, 160, 170, 179, 181f Macht 13, 24, 58, 71, 100, 124, 153f, 173f, 180 Marginalisierung 15, 109, 134ff, 140ff, 144–147, 149 Medikalisierung 125, 127f Medizin 9–15, 17, 32–37, 40, 42f, 62, 67, 78, 91f, 95, 98, 102, 104–107, 110, 113– 120, 122, 125ff, 129f, 133–137, 139– 145, 147, 153f, 157, 159, 187, 190ff, 195–199, 202, 204 í interkulturelle 91, 143 Medizin, prädiktive 125ff Medizinethik 14, 62, 111f, 105, 115, 122, 133, 135, 146, 153 Menschenbild 17f, 55, 74, 91, 147, 204ff Menschlichkeit 16, 202 Menschenrechte 21, 25, 52ff, 140, 187, 191, 204

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624128 — ISBN E-Book: 9783647624129

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Sachen Menschsein 18ff, 29ff, 53, 62, 64–68, 73, 79, 81, 83, 86f, 107f, 125, 151f, 201 Menschwerdung 21, 23, 25, 63, 75, 79 Menschenwürde 15, 17, 21, 26, 29, 31, 38, 41f, 52, 54f, 67, 72ff, 78, 133, 136, 139, 151f, 160, 174, 184, 187ff, 193f, 195, 200 Migrant 92f, 118, 134, 140, 142f, 147 Moral 12f, 17f, 25, 31f, 38f, 41, 43, 47f, 51, 56, 65, 68, 75, 77, 79, 81, 87, 104, 108ff, 112, 117, 122, 135f, 138, 143, 145, 151ff, 176f, 186ff, 201, 205 Nächstenliebe 42, 105, 187, 189 Natur, Natürlichkeit 11f, 26f, 29, 35, 39, 41, 54, 62, 64, 67, 91, 100, 103, 117, 120, 131, 198, 200f, 203 Neurowissenschaften 47, 57 New Age 95, 124 Organ 34ff, 69, 114, 119, 129, 187, 195 Organspende 12, 14, 35f Organtransplantation 35ff, 118, 183, 187, 189 Palliative care 91, 94, 140 Palliativmedizin 91, 94 Passivität 81–84, 88, 128, 175 Patient 15, 31, 35, 46, 62, 66, 91–94, 102, 105–108, 116, 120f, 123f, 127, 133–136, 139ff, 143–157, 173, 185, 195 Patientenverfügung 121, 133, 140, 156f Person 9, 12, 14f, 18, 25, 30ff, 35, 37, 41, 44–71, 74, 76f, 79–84, 91, 93, 95, 105, 109, 113, 116, 121, 124, 136, 138–141, 147f, 150–157, 164, 179, 186–189, 192, 194 Pflege 9, 14, 91ff, 96, 104–107, 109f, 113, 136, 139f, 143f, 150, 153–156 Pflegeethik 9, 91, 109–112, 150, 154 Pflegebedürftigkeit 139, 144f, 154, 159, 170f, 174 Pflegeheim 94, 107, 139, 144, 166f Phänomenologie 9, 11, 14, 17f, 20f, 26, 35ff, 49, 60, 66, 81, 204, 206 Pietät 184, 187–194 Psychoonkologie 103, 125 Recht 12, 21, 25, 36, 43, 46f, 52ff, 68, 72, 87, 94, 105, 108, 125, 132, 135, 137, 147f, 152, 157, 189, 204 Rechtfertigung(slehre) 13, 23f, 26, 28, 32, 40–43, 59, 66, 70, 89f, 108, 130, 170, 174, 179 Religion 14, 25f, 28, 70, 91–96, 98ff, 102ff, 106, 123, 143, 172f, 187, 197, 199, 202

Religiosität 91, 95f, 98–101, 173 Reproduktionsmedizin 73, 125 Resignation 33, 165, 174–178 Säkularisierung 26, 199 Schicksal 32f, 35, 39, 126, 163, 173, 177f, 198, 202, 205 Schlaf 55, 82-87, 90, 152, 206 Schmerz 15, 69, 119f, 122, 154, 166, 168f, 195, 199f Schöpfung 13, 18f, 28, 33, 38f, 41f, 64, 76, 79, 89, 185 Schuld 35, 43, 87, 102, 108, 112, 121, 123, 128, 132, 134, 145, 162f, 170 Seele 11, 13, 18f, 42, 48f, 56, 84, 91, 96f, 124, 181, 184ff Selbstbestimmung 12, 15, 31, 108, 128, 136, 147, 150, 153f, 188 Selbsterhaltung 35f Sozialethik 22, 37, 39f, 137, 164 Spiritual Care 93–97 Spiritualität 14, 91, 93–107 Sprache 14, 18, 22f, 25ff, 29, 49, 69f, 75, 77, 84, 86, 89, 115, 128, 139, 143, 168, 178, 205 Sterben 11, 45, 65, 81, 84, 87–91, 104, 130, 131, 140, 145, 156, 167, 172, 179, 181, 185f, 189, 194, 197–200, 202f Sterblichkeit 16, 45, 61, 66, 88, 174, 191, 195 Stigmatisierung 118, 120, 135, 145f, 149 Story(-konzept) 29, 62, 121f Subjekt 12f, 15, 27, 31, 34, 36, 41, 44, 51f, 54, 56-59, 63, 66f, 81ff, 85f, 88, 96, 100, 127, 129, 135, 139, 147, 150f, 153f, 156f, 164, 179, 206 Subjektivität 41, 67, 151 Sünde 18, 22ff, 32f, 40–43, 45, 60, 70, 89f, 102, 108, 123f, 162 Systemtheorie 135f, 138, 149 Technik 13, 43, 45, 95, 106, 129, 195ff Therapiebegrenzung, -abbruch 65, 133, 157 Tod 9, 11, 16, 39, 61, 63, 66ff, 88ff, 110, 118, 127, 130, 145f, 155, 166, 169, 172f, 175, 178, 181, 183–187, 189, 191–203, 205f í natürlicher 196f, 200–203 Transplantationsmedizin 35f, 183, 187 Traum 84, 167 Trinitätslehre 48, 50, 71 Tun-Ergehen-Zusammenhang 124 Unverfügbarkeit 12, 17, 38f, 96, 105, 108, 153 Utilitarismus 68, 108

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Register

Verantwortung 13, 22, 39ff, 51, 56f, 80, 87, 103, 112, 118, 132, 148, 164f, 171, 177 Verantwortungsethik 13, 22, 38–41, 108, 189, 206 Vergebung 43, 70, 82, 162, 173 Verheißung 42, 179f Verlust 15, 60, 91, 114, 131, 145f, 150, 155, 158f, 160f, 163–166, 169–172, 174, 176, 180, 197 Vernunft 26–32, 34, 38, 42, 47, 49, 52, 55f, 62ff, 69, 81, 151, 153, 155 Vernunftethik 26 Verstehen 15, 22f, 70, 143, 191 Vertrauen 106, 153, 168, 172, 176 Verwirrtheit 139 Verzweiflung 33, 169 Wachen 82, 85ff, 206

Wachkoma (apallisches Syndrom) 15, 31, 46, 55, 141, 150ff, 154–157 Wahrheit 50, 74, 78, 95, 99, 101f, 129, 196, 201 Wahrnehmung 32, 69, 75, 86f, 115, 157 Weisheit 30, 168, 172 Widerstand und Ergebung 163f, 168, 175, 206 Wille 21, 27, 48, 52, 56–60, 68, 84, 98, 121, 140, 156, 173, 177f Willensfreiheit 47, 58ff, 151 Wirklichkeit 14, 22, 28, 47, 74, 99f, 139, 167, 177, 180 Zeugung 44, 53, 64, 66, 71–77, 80, 88, 91 Zukunft 26, 31, 46, 152, 165, 173, 179f Zuspruch (promissio) 42, 70

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 60: Johannes Block/Holger Eschmann (Hg.) Peccatum magnificare

55: Hans Martin Dober Die Zeit ins Gebet nehmen

Zur Wiederentdeckung des evangelischen Sündenverständnisses für die Handlungsfelder der Praktischen Theologie 2010. 283 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62411-1

Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual 2009. 303 Seiten mit 14 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62408-1

59: Ulf Liedke Beziehungsreiches Leben Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung 2009. 652 Seiten mit 3 Graphiken, kartoniert ISBN 978-3-525-62410-4

58: Thomas Micklich Kommunikation des Glaubens Gottesbeziehung als Kategorie praktisch-theologischer Theoriebildung 2009. 357 Seiten mit 21 Graphiken, kartoniert ISBN 978-3-525-62409-8

57: Jochen Arnold Von Gott poetisch-musikalisch reden Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten 2009. 488 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-57124-8

56: Norbert Schwarz »denn wenn ich schwach bin, bin ich stark« Rezeptivität und Produktivität des Glaubenssubjektes in der Homiletik Hans Joachim Iwands 2008. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62406-7

54: Klaus Kohl Christi Wesen am Markt Eine Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche 2007. 323 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62402-9

53: Gerald Kretzschmar Kirchenbindung Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation 2007. 384 Seiten mit 1 Grafik und mehreren Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62398-5

52: Harald Beutel Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780–1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung 2007. 320 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62396-1

51: Jörg Herrmann Medienerfahrung und Religion Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion 2007. 400 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62397-8

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 50: Constanze Thierfelder Durch den Spiegel der Anderen

45: Ralf Günther Seelsorge auf der Schwelle

Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung 2009. 256 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62394-7

Eine linguistische Analyse von Seelsorgegesprächen im Gefängnis 2005. 357 Seiten mit beigelegter Begleit-CD, kartoniert ISBN 978-3-525-62382-4

49: Andrea Grillo Einführung in die liturgische Theologie Zur Theorie des Gottesdienstes und der christlichen Sakramente Übersetzt und eingeleitet von Michael MeyerBlanck. 2006. 252 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62393-0

48: Alexander Deeg Predigt und Derascha Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum 2006. 608 Seiten mit 1 Grafik, 8 Tab. und 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62390-9

47: Eike Kohler Mit Absicht rhetorisch Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche 2006. 320 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62389-3

44: Christian Stäblein Predigen nach dem Holocaust Das jüdische Gegenüber in der evangelischen Predigtlehre nach 1945 2004. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62381-7

43: Barbara Städtler-Mach Kinderseelsorge Seelsorge mit Kindern und ihre pastoralpsychologische Bedeutung 2004. 229 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62378-7

42: Hellmut Santer Persönlichkeit und Gottesbild Religionspsychologische Impulse für eine Praktische Theologie 2003. 336 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62377-0

Band 41 ist vergriffen. 46: Thomas Böttrich Schuld bekennen – Versöhnung feiern Die Beichte im lutherischen Gottesdienst 2008. 319 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62388-6

40: Christoph Schneider-Harpprecht Interkulturelle Seelsorge 2001. 386 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62367-1

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